Das Bild als Lebensraum: Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960 9783839445457

The study proves concepts of ecological pictorial effects in abstract art between 1910 and 1960 and formulates the model

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Das Bild als Lebensraum: Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960
 9783839445457

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie
2. Ökologische Diskurse in Künstlerschriften
3. Bilder als klimatische Farbatmosphären
4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen
5. Bilder als klimatische Luft- und Atemräume
6. Bio- und Naturrhythmen im Bild
7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem
Danksagung
Literatur
Personenregister
Abbildungsnachweise

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Linn Burchert Das Bild als Lebensraum

Image  | Band 143

Linn Burchert (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstund Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war sie Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Beziehungen zwischen Kunst-, Ideenund Wissenschaftsgeschichte in der Moderne sowie Naturkonzepte und Naturzugänge in der Kunst von 1750 an bis in die Gegenwart.

Linn Burchert

Das Bild als Lebensraum Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960

Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung durch: Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und das Exzellenzcluster BildWissen-Gestaltung, Humboldt-Universität zu Berlin Zugl. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2018.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Otto Nebel, »Begebenheiten im Lichtgelb«, 1937, Öl (mit Sand und Ei-Zusätzen) auf Leinen mit Gipsgrund, 63,5 × 58,5 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern, © Otto Nebel-Stiftung, Bern Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4545-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4545-7 https://doi.org/10.14361/9783839445457 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie | 9 1.1 Das Bild als Lebensraum: Revision des Organismusmodells | 11 1.2 Kunst und Biologie nach 1900: Biozentrik, Bioromantik, Biomorphismus | 15 1.3 Historische und neue Konzepte der Bildmacht | 19 1.4 Methodik, Künstlerauswahl, Begriffe | 30

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschriften | 37 2.1 Lebensräumliche Bildkonzepte | 38 2.2 Ökologische Diskurse seit der Antike | 43 2.3 Begriffsdiskussion: Biozönose, Umwelt, Lebensraum, Biosphäre | 48 2.4 Raoul H. Francé, die Bioromantik und die Kunst | 52 2.5 Diskursfelder der Klimatologie, Naturheilkunde, Architektur und Umweltpsychologie | 56

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären | 67 3.1 Heilsam-vitalisierende Lichtluftbäder in der frühen Abstraktion | 68 3.1.1 Das Bild als Villeggiatur: Paul Klee | 68 3.1.2 Vitalisierende Farbatmosphären: František Kupka | 78 3.2 Farbklimata bei Max Burchartz | 86 3.2.1 Das Bild als (Teil des) Lebensraum(es) | 88 3.2.2 »Lebenswellen«: Ludwig Klages’ Ausdruckskunde | 90 3.2.3 Impulse der Farbenlehre Goethes und der modernen Psychophysik | 91 3.2.4 Farben in der Umweltpsychologie | 93 3.2.5 Burchartz als Gestalter von Umwelten | 98 3.3 Ansätze der Chromotherapie bei Wassily Kandinsky und Johannes Itten | 100 3.3.1 Grundlagen und Rezeption der Chromotherapie | 102 3.3.2 Farbenheilkunde als thermodiätetische Naturheilkunde | 109 3.3.3 Thermodiätetische Bilder bei Kandinsky | 111 3.4 Esoterische Wirkmächte bei Wassily Kandinsky | 112

3.5 Wärme und Lichter Italiens: Otto Nebels lufträumige Farben | 116 3.5.1 Klimatische und atmosphärische Lichtfarben | 117 3.5.2 Ökologische Wirkungsmodelle zwischen Physiologie und Esoterik | 124 3.5.3 Nebels klimatische Bilder | 126 3.6 Geistige Farblichter als Lebensstoffe in der Harmonisierungslehre Gertrud Grunows | 130 3.7 Klimatische Wirkkräfte der Natur: Johannes Ittens Jahreszeitenbilder | 139 3.8 Exkurs: Farbe als Lebensquelle – Varianten und Differenzen | 151 3.8.1 Farben als Lebenskräfte: Piet Mondrian | 152 3.8.2 Farben als Nährstoffe: László Moholy-Nagy | 154 3.8.3 Licht als vitale Energie: Otto Piene | 157 3.9 Atmosphärische Energie: Yves Kleins Blau als klimatische Farbe | 158

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen | 167 4.1 Das Bild als Sonne: Robert Delaunay | 170 4.2 Sonnenbäder und Lichtscheiben: František Kupka | 178 4.3 Göttlich-geistige Sonnen: Otto Nebel, Wassily Kandinsky und František Kupka | 183 4.4 Ästhetische und wissenschaftliche Perspektiven auf die Sonne: Wassily Kandinsky | 188 4.5 Ausstieg aus dem Bild? Das Kunstwerk als leuchtende Lebensquelle | 193 4.5.1 Das Kunstwerk als Höhensonne: Nikolaus Braun | 194 4.5.2 Bildkritik und die Lichtbewegung als Lebensprinzip: László Moholy-Nagy | 199 4.6 Energie des reinen Sonnenlichtes: Otto Piene | 206

5. Bilder als klimatische Luft- und Atemräume | 215 5.1 Luft und Atem im Bild | 217 5.1.1 Atmende Farben und schwebende Formen | 217 5.1.2 Atmosphärische Bildwirkungen | 224 5.2 Texte, musikalische Kompositionen und Schriftbilder als Luft- und Atemräume | 227 5.2.1 In Gedichten und Texten atmen: Lebensrhythmus und klare Gedanken | 227 5.2.2 Musik als Luft- und Atemraum | 231 5.2.3 Tuschmalerei, Kalligraphie und Bildschrift als Atemfiguren | 234 5.3 Luft und Gesundheit zwischen Naturheilkunde und Esoterik | 236 5.3.1 Pneuma, Prana, Qi | 236

5.3.2 Luft als Krankheitsauslöserin und Heilmittel | 239 5.3.3 Natürliche und geistige Klimata in Künstlerselbsthistoriographien | 242 5.4 Lebensatem einflößen: Produktionstheorien bei Johannes Itten, František Kupka und Yves Klein | 244 5.5 Vom Bild zur Luftarchitektur: Yves Klein und Werner Ruhnau | 252 5.5.1 Architektur, Bioklimatologie und Technik | 252 5.5.2 Kleins und Ruhnaus Rückkehr zum Paradies | 255 5.5.3 Klimautopie und Rosenkreuzerlehre | 258 5.6 Reizklima und Breathing Space: Mark Rothko | 261 5.6.1 Das Bild als Luft-, Atem- und Lebensraum | 262 5.6.2 Dionysische Kunst: Verbindungslinien zu Friedrich Nietzsche | 267 5.6.3 Breathing Spaces | 270

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild | 275 6.1 Natur- und Lebensrhythmen in den Künstlerkonzepten | 276 6.2 Rhythmen der Natur: Denkmodelle und Heilskonzepte seit der Antike | 283 6.2.1 Die rhythmische Ordnung der Natur | 283 6.2.2 Die Wiedergewinnung des natürlichen Rhythmus durch Bewegung und Kunst | 287 6.3 Einfühlungstheorie und Musik als Modelle für naturrhythmische Bildkonzepte | 292 6.3.1 Einfühlung, Psychophysik und Abstraktion | 293 6.3.2 Natürliche Rhythmen in Musik und abstrakter Malerei | 298 6.4 Lemniskate und Villeggiatur: Paul Klee im Kontext von Rhythmusund Musiktheorien | 305 6.5 Naturrhythmischer Weltbau: Otto Nebel im Kontext von Gertrud Grunow und Raoul H. Francé | 312 6.6 Im Einklang mit den Jahreszeiten: Rhythmik bei Johannes Itten | 317 6.7 Das rhythmische Bild als Biozönose: Max Burchartz | 323 6.8 Biotechnische Rhythmen bei László Moholy-Nagy: Kunstwerke als vitalisierende Systeme | 328 6.8.1 Kinetische Systeme, Wahrnehmungstraining und Zivilisationskritik | 331 6.8.2 Biotechnische Energiesysteme | 335 6.8.3 Rhythmische Systeme im künstlerischen Werk Moholy-Nagys? | 337

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem | 339 7.1 Bildmodell Lebensraum | 339 7.2 Kunst und Ökologie seit den sechziger Jahren | 342 7.2.1 Erweiterter Kunstbegriff: Kunst-, Medien- und Kulturökologie | 342 7.2.2 Kunstwerke als Energiesysteme | 346 7.2.3 Klimaräume in der zeitgenössischen Installationskunst und Architektur | 349 7.3 Ausblick | 353

Danksagung | 355 Literatur | 357 Personenregister | 383 Abbildungsnachweise | 389

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

»Rotorange ist dicht und undurchsichtig, es leuchtet auf, wie von innerer Wärme erfüllt. Der warme Charakter von Rot steigert sich im Rotorange zu feuriger Kraft. Rotoranges Licht fördert pflanzliches Wachstum und steigert die organische Funktion.«1 (Johannes Itten, 1961) »Ich bin jetzt auf dem Lande und arbeite sehr viel, mein letztes Bild ist die Sonne, sie leuchtet immer stärker, je mehr ich daran arbeite […].«2 (Robert Delaunay, 1913) »Any picture which does not provide the environment in which the breath of life can be drawn does not interest me.« 3 (Mark Rothko, ohne Datierung) »[…] daß sie [alle Teile des Kunstwerkes] dazu untereinander in harmonischen Intervallverhältnissen stehen und auf reinen Maßen beruhen: auf naturgegebenen Maßen, die sich in der Musik, im Reiche des Organischen, in allem Lebendigen auf Erden wiederfinden lassen. Unter diesen Bedingungen entsteht in einer Malerei mit Naturnotwendigkeit Rhythmik.« 4 (Otto Nebel, 1931)

Das Kunstwerk als klimatischer, von Sonnenlicht und Luft durchströmter, durch natürliche Rhythmen gegliederter Raum? – Diese Beschreibungen erinnern eher an die zeitgenössische Installationskunst als an die abstrakte Malerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie lassen etwa an ein Werk wie das Weather Project von Ólafur Elíasson (*1967) denken (Abb. 1-2): 2003 schuf der Künstler im Londoner Tate Modern einen Raum, welcher in vielen Aspekten der ›natürlichen‹ Umwelt glich. Elíasson erzeugte eine Licht- und Luftatmosphäre, die sich aus der Strahlung einer künstlichen Sonne und aus einer nebligen Atmosphäre konstituierte. Photographien dokumentieren, dass die Besuchenden sich mitunter wie zum Sonnenbade auf den Boden der Halle legten.

1 | Itten 1961, S. 134. 2 | Brief an August Macke 1913, zit.n. Vriesen 1992 (1967), S. 151f. 3 | Undatierter Briefentwurf an Clyfford Still, in Ross 1990, S. 170. 4 | Nebel 1931, S. 29.

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Das Bild als Lebensraum

Abbildungen 1 und 2: Installationsansichten: Ólafur Elíasson, The Weather Project, 2003, Monofrequenzlichter, Projektionsfolie, Nebelmaschinen, Spiegelfolie, Aluminium und Gerüste, 26,7 × 22,3 × 155,4 m, Turbinenhalle, Tate Modern, London 2003

Einem Sonnenbade gleich beschrieb auch Robert Delaunay seine Kompositionen. Johannes Itten betrachtete die Farben als biochemische Wirkmächte und Mark Rothko sprach gar von einem Lebensatem, der aus seinen Werken gezogen werden könne. Diese Textstellen geben nur einen kleinen Einblick in die Fülle an Analogien, die zwischen den Medien der Malerei, natürlichen Kräften und ökologischen Existenzbedingungen in Bildkonzepten zwischen 1910 und 1960 hergestellt wurden. In ihren Bild- und Wirkungsmodellen antizipierten Künstler somit Leitkategorien und -medien künstlerischer Environments. Dabei ging es ihnen nicht nur darum, das »Publikum sinnlich vielfältig zu affizieren, es über atmosphärische Qualitäten und möglichst viele Wege der Wahrnehmung zu erreichen«,5 wie es häufig Anspruch der zeitgenössischen Installationskunst ist. Vielmehr wollten die Künstler mit ihren abstrakten Werken temporäre Lebensräume schaffen, die etwa bei Otto Nebel den ›natürlichen‹ Lebensrhythmen entsprechen und eine heilsam-vitalisierende Wirkung entfalten sollten. Das Verständnis der künstlerischen Mittel als Äquivalente zu Umwelt- und Lebensbedingungen führt in Gebiete der Ökologie. Ihren Status als wissenschaftliche Disziplin hatte die Ökologie 1866 durch den Zoologen Ernst Haeckel erhalten. Zwar ist die Bedeutung Haeckels für die Kunst um die Jahrhundertwende durch seine Zeichnungen im Band Kunstformen der Natur (1899-1904) immer wieder thematisiert worden, jedoch wurde das eigentliche Erkenntnisinteresse der Ökologie hierbei gar nicht einbezogen.6 Wie Daniela Hahn herausstellt, geht es im 5 | Dickel 2016, S. 5. 6 | Siehe exemplarisch Christoph Kockerbeck, Ernst Haeckels ›Kunstformen der Natur‹ und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M./ Bern/New York 1986. Die Kunstwissenschaftlerin Sabine Bartelsheim schreibt in einem Aufsatz zum Gestalter und bildenden Künstler Max Burchartz, dass die Ökologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »in der Kunstwelt intensiv rezipiert und mit eigenen Theoriemodellen verbunden« wurde (Bartelsheim 2010, S. 231). Obgleich Bartelsheim dies

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

Kunstformen-Band schließlich nicht um Lebensformen »in ihren ökologischen Zusammenhängen mit ihrer Umwelt«, sondern um die »Formenvielfalt und Differenzierung der organischen Formen«.7 Auf eine solche »Ästhetisierung« von Formen, die der »Funktion der mimetischen Darstellung« verhaftet blieb,8 sind künstlerische Auseinandersetzungen mit der Ökologie allerdings nicht zu reduzieren. Dass die natürliche Umwelt ab 1900 in gesellschaftlichen Diskursen, insbesondere im Kontext der Lebensreformbewegung, eine zentrale Rolle einnahm, ist bekannt. Die Bedeutung von Licht, Luft und Klima für die Gesundheit erlangte in Folge der Industrialisierung Relevanz. Zusammenhänge von Kunstgeschichte und Lebensreform sind zwar punktuell gründlich, aber nicht umfassend untersucht worden.9 So sparte die Forschung das Fortbestehen lebensreformerischer Ideen sowie die Hinwendung zu ökologischem Denken in der abstrakten Kunst weitestgehend aus. Obwohl klimatische, lebenspendende Farben, Sonnenlichtäquivalenz, ein Luftgehalt sowie eine naturrhythmische Ordnung von Bildern in Künstlerschriften vielfach zur Sprache kommen, sind diese Aspekte bislang nicht untersucht worden. Ein Grund hierfür ist darin zu suchen, dass sich diese Kategorien nicht in das aktuell in der Forschung dominante Bildmodell der Abstraktion fügen. Hier hat sich das Konzept des Bildes als Organismus durchgesetzt. Für dieses wird im Folgenden eine Erweiterung vorgeschlagen (Kap. 1.1). Diese Erweiterung eröffnet neue Aspekte und ermöglicht so die Ausformulierung des Modells des Bildes als Lebensraum. Dieses Vorhaben wird anschließend im Forschungsstand zum Verhältnis der abstrakten Kunst zu Biologie und Lebensphilosophie (Kap. 1.2) und in den historischen Debatten zur Wirkmacht von Bildern verortet (Kap. 1.3), bevor die Ziele und Methoden der Studie zusammenfassend zur Darstellung kommen (Kap. 1.4).

1.1 D as B ild als L ebensr aum : R e vision des O rganismusmodells Dem Organismusmodell liegt die Vorstellung des Kunstwerkes als Lebewesen zugrunde, das etwa nach den Bildungs- und Funktionsgesetzen von Mensch, Tier und Pflanze oder Teilsystemen eines Gesamtorganismus – z.B. Atmung und Blutmit großer Selbstverständlichkeit formuliert, fehlen aber weitere Erläuterungen, ebenso wie Hinweise auf Studien zu diesem Thema. Burchartz wird in dieser Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen. 7 | Hahn 2015, S. 12. 8 | Ebd., 12f. 9 | Siehe Kai Buchholz (Hg.), Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001 sowie Corona Hepp, Avantgarde: Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987.

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Das Bild als Lebensraum

kreislauf – gestaltet ist.10 In Künstlerschriften, ebenso wie in der Kunstgeschichtsschreibung und in der Kunstphilosophie tauchte der Begriff um und nach 1900 vielfach auf,11 so etwa 1905 in der Publikation Das Kunstwerk als Organismus. Ein aesthetisch-biologischer Versuch des Kunsthistorikers Wilhelm Waetzoldt. Dieses Bildkonzept war allerdings keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern manifestierte sich bereits im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung einer biologischen Auffassung vom Organismus. Waetzoldt bezog sich, wie viele Ästhetiker und Künstler seiner Zeit, auf Johann Wolfgang von Goethe, der die »Gesetze des künstlerischen Auf baues« mit dem Auf bau natürlicher Organismen gleichgesetzt hatte.12 Eine »Neukonstitution des OrganismusDenkens« erfolgte in diesem Sinne weiterhin durch Literaten und Philosophen wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Schelling, Novalis sowie August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel.13 Während das cartesianische Denken den Organismus als »Ansammlung von Teilen, die sinnvoll zusammenwirken, als Einheit« fasste,14 wurden insbesondere bei den Romantikern vitalistische Ideen maßgeblich für das Verständnis von Organismen und die Kategorie des Lebendigen. Anhand von Jacob Burckhardt zeigt der Kunsthistoriker Reinhard Zimmermann auf, wie die Architektur nunmehr als »wirklich Lebendiges, beseeltes, ›Pulsierendes‹« vorgestellt wurde.15 Die sichtbare Ordnung rückte zunehmend in den Hintergrund, in den Fokus traten unsichtbare Lebensfunktionen. Auch in der bildenden Kunst wurde fortan versucht, »sowohl unanschauliche Funktionszusammenhänge im Organismus als auch eine systemische Funktionsweise des Lebens zu visualisieren«.16 In der Forschung seit 2000 deutete sich hier und da an, dass der Organismusbegriff in seiner eng auf das organische Leben bezogenen Auslegung nicht fassen kann, was als konstitutiv für die von abstrakten Künstlern entworfenen Wirkungskonzepte zu erachten ist. Dies zeigt sich in Zimmermanns Beschreibung des Kunstwerkes als »Wirk-Organismus«, dargelegt am Beispiel Wassily Kandinskys. Den Bildelementen komme hier eine »Kraftqualität« zu und das Kunstwerk sei nicht Darstellung eines Lebewesens, sondern sei selbst Lebewesen – »ein Kraft ausstrahlender Wirk-Organismus«.17 Bei Kandinsky gebe es etwa einen »lo10 | Blümle/Schäfer 2007, S. 10. 11 | Vgl. Zimmermann 2005. 12 | Waetzoldt 1905, S. 8. 13 | Zimmermann 2005, S. 247. 14 | Ebd., S. 249. 15 | Ebd., S. 251. 16 | Blümle/Schäfer 2007, S. 11; vgl. Friedrich Weltzien, »Zeuge der Zeugung. Biochemische Körperkonzeptionen und das abstrakte Bild als Lebewesen«, in Olga Moskatova/Sandra Beate Reimann/Kathrin Schönegg (Hg.), Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013, S. 301-319. 17 | Zimmermann 2005, S. 259.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

gischen Konnex zwischen Organizität, Lebendigkeit, Kraft und Abstraktion«.18 So sei das Kunstwerk als »Aktualisierung von Kraft, Energie und Spannung und deren Wirkung nach außen, in die Atmosphäre hinein und zum Betrachter hin« zu verstehen.19 In seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1917) hatte Heinrich Wölfflin ebenfalls Kunst verschiedener Epochen in Analogie zu Organismen beschrieben und stellte dies in Zusammenhang mit der »inneren Notwendigkeit« der Komposition.20 Den Bild- und Organismusbegriff Kandinskys setzt Zimmermann demjenigen Wölfflins jedoch entgegen, bei dem Lebendigkeit lediglich eine »optische Lebendigkeit, ein Oberflächenereignis von bewegter Farbe, Licht und Schatten« sei und keine besondere Wirksamkeit entfalte.21 Bei Zimmermann bleibt allerdings offen, wie die Vorstellung des Bildes als Lebewesen, dessen Wirkmacht in die Atmosphäre dringt, zu verstehen ist – wie sich also die spezifische Öffnung des Bildes nach außen mit dem Organismusmodell vereinbaren lässt. Damit ist die Übertragbarkeit von Energie vom Kunstwerk auf die Rezipierenden angesprochen. Der Kunsthistoriker verweist darauf, dass die von Kandinsky angenommene Wirkmächtigkeit ihre Tradition in den Kraft ausstrahlenden, christlichen Heiligenbildern und Ikonen habe.22 Dementsprechend wäre das Modell des bloß lebendigen Bildorganismus vom heilsamen, belebenden Bild zu unterscheiden. Für das im weitesten Sinne lebenspendende Kunstwerk werden in der vorliegenden Untersuchung das Modell des lebensräumlichen Bildes und das Konzept der ökologischen Bildwirkung vorgeschlagen. Eine energetische Überschreitung der Bildgrenze beschreiben auch Claudia Blümle und Armin Schäfer anhand des tradierten Organismusmodells. Sie argumentieren, dass sich ein Organismus »nicht alleine auf seine Grenze« beziehe, sondern »insgesamt eine Austauschbeziehung mit seinem Außen« unterhalte,23 womit ein genuin ökologischer Gedanke angesprochen ist. Ihre Diskussion bezieht sich auf den Abstraktionsbegriff von Gilles Deleuze, der diesen in Auseinandersetzung mit dem Maler Francis Bacon entwickelte. Die rhythmische Bewegung von Ausdehnung und Zusammenziehung führe zu einer Öffnung des Bildorganismus in den Umraum.24 Nicht nur die »Formwerdung im Bild«, auch die »Beziehung des Bilds zu seinem Außen« wird somit von Deleuze als Wirkungsweise des Rhythmus gefasst.25 Dabei bezieht er sich auf den Philosophen

18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 260. 20 | Wölfflin 1917, S. 133; vgl. auch Zimmermann 2005, S. 253. 21 | Zimmermann 2005, S. 259. 22 | Ebd., S. 260. Zu Kandinskys Rezeption der Ikonenmalerei vgl. Krieger 1998, S. 107120; siehe weiterführend Kap. 1.3, 4.3, 4.6. 23 | Blümle/Schäfer 2007, S. 21. 24 | Ebd., S. 23; vgl. Gilles Deleuze, Francis Bacon – Logique de la sensation, Paris 1981. 25 | Ebd.

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und Kunsthistoriker Henri Maldiney (1912-2013), welcher Rhythmizität in Bildern mit den Begriffen der »Systole« und »Diastole« beschrieben hatte.26 Nicht nur das rhythmische Vor- und Zurückstreben nach Maldiney und Deleuze, auch die von Zimmermann genannten Phänomene der Kraft, Spannung, Energie und Strahlung sprechen für räumliche, rhythmische, ausströmende und ausstrahlende Bildwirkungen. Solche wurden von Künstlern im Rahmen von klimatischen Farb-, Licht- und Luftkonzepten immer wieder behauptet. Doch wie lassen sich Organismus- und Lebensraumbegriff miteinander vereinbaren? Schließlich beschrieben die Künstler ihre Bilder nicht nur als Licht- und Lufträume, sondern vielfach im selben Atemzug als Organismen. Das Verständnis des Organismus als Lebewesen stellt nur eine Dimension des Begriffs dar. Der Kunsthistoriker Wolfgang Kersten weist in einem Artikel über Paul Klee etwa darauf hin, dass dieser seit 1800 »in vielen Wissenschaftsbereichen dazu [diente], den grundsätzlichen Charakter funktioneller Einheiten sinnbildlich zu benennen«.27 Der Organismus in diesem Sinne ist als eine Form der Organisation, als natürliches oder naturanaloges, gar belebtes System in einem weiteren Sinne, zu verstehen. In der Antike dachte man den Kosmos als einen solchen lebendigen Organismus. In Platons Timaios wird die Erde als ein »beseeltes und […] vernunftbegabtes Wesen« beschrieben.28 Diese Auffassungen werden ideengeschichtlich unter dem Begriff des »Organizismus« gefasst.29 Für das Denken des 19. Jahrhunderts war dieses Naturkonzept ebenfalls konstitutiv. Davon zeugt etwa Goethes Vorstellung von der Erde »mit ihrem Dunstkreise […] als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist«.30 Die Schriftstellerin Ricarda Huch (1864-1947), eine zentrale Figur im Zirkel Stefan Georges um 1900,31 stellte dar, dass die Spätromantiker das »beseelte Weltall« als »einzigen Organismus« begriffen, »in dem alle Glieder miteinander verbunden seien, ›wie der Finger des Men26 | Ebd.; weiterführend zu Maldiney siehe Blümle 2011 und Kap. 1.3. 27 | Kersten 2005, S. 250. 28 | Platon 1992 (4. Jhd. v. Chr.), S. 33. 29 | Botar 1998, S. 195f.; siehe auch Botar 1998, S. 196: »Organicism: 1. any theory that explains the universe on the basis of an analogy to a living organism. 2. any theory that explains the universe as the function of a whole causing and coordinating the activities of the parts. Compare with A nimism, H olism, V italism . Opposed to M echanism « (von Botar entnommen aus Peter A. Angeles, The Harper Collins Dictionary of Philosophy, 2New York 1992, S. 216). 30 | Eckermann 1955, S. 308. 31 | Mit dem Kreis um Stefan George waren Wassily Kandinsky, Franz Marc und andere Künstler um den Blauen Reiter eng verbunden (vgl. Schall 1989, S. 7). In diesen Kreis gehörte auch Ludwig Klages und man setzte sich hier gründlich mit Friedrich Nietzsche auseinander (ebd., S. 21). Beide, Klages und Nietzsche, werden in dieser Studie als wichtige Bezugspunkte wiederholt auftreten.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

schen mit seinem Leibe und wiederum wie der Mensch selbst mit der Erde‹«.32 Auch der Psychophysiker Gustav Theodor Fechner, auf den sich etwa Kandinsky bezog, dachte die Erde als beseeltes Lebewesen.33 Zwischen Organismus- und Lebensraumkonzepten eröffnen sich so grundlegende, ideengeschichtliche Verbindungen, die in ökologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts relevant blieben (Kap. 2.1).

1.2 K unst und B iologie nach 1900: B iozentrik , B ioromantik , B iomorphismus Für die abstrakte und ungegenständliche Kunst galt lange Zeit, dass sie keine oder gar eine negative Beziehung zur Natur pflege und sich dezidiert nicht an ihr orientiere.34 So attestiert Gernot Böhme in seiner Ökologischen Naturästhetik (1989) den Avantgarden seit dem 19. Jahrhundert, von den verschiedenen Manifesten bis zur Concept Art, »eine Abkehr von oder ein Verdrängen von Natur«.35 Er orientiert sich an Hans Robert Jauß’ Rede von der »Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne«, die jener anhand von Literaten wie Charles Baudelaire entwickelte.36 Dieses Attest ist allerdings weder für alle avantgardistischen Strömungen gültig, noch pauschal auf die bildenden Künste übertragbar. Das Verhältnis der Kunst des 20. Jahrhunderts zur Natur, zur Biologie und zur Lebensphilosophie wurde etwa im umfangreichen Münchener Ausstellungskatalog Élan Vital oder das Auge des Eros (1994) beleuchtet. Dieser ist von der Feststellung getragen, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das »Verhältnis des Menschen zur Natur« erneute Aktualität erlangt hatte und sich dies in der abstrakten Malerei und Skulptur niederschlug.37 Nachweise werden anhand von Künstlern wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, Hans Arp und Jean Miró erbracht. In Oliver Botars und Isabel Wünsches Band Biocentrism and Modernism (2011) zeigt sich ebenfalls, dass abstrakte Maler in einem zugewandten Verhältnis zur natürlichen Umwelt standen und Formen sowie Funktionsweisen natürlicher Gegebenheiten und Prozesse in ihre Kunstpraxis einfließen ließen. Begriffe wie ›Biozentrik‹, ›Bioromantik‹ und ›Biomorphismus‹ dienen zur Beschreibung der Positionen.

32 | Huch zit.n. Fick 1993, S. 24. Monika Fick zitiert aus Huchs Schrift Die Romantik (1899/1902), nach den Gesammelten Werken, Bd. VI, hg. v. Wilhelm Emrich (Köln 1969, S. 390 und S. 394). 33 | Innerhofer 2015, S. 90; zu Kandinsky und Fechner vgl. Kap. 2.5. 34 | Botar/Wünsche 2011, S. 1. 35 | G. Böhme 1989, S. 20. 36 | Jauß 1989. 37 | Vitali 1994, S. 11.

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Der Begriff ›Biozentrik‹ ist vom Lebensphilosophen Ludwig Klages und dem Botaniker Raoul H. Francé übernommen, die beide von einer Reihe abstrakter Künstler, insbesondere am Bauhaus, rezipiert wurden.38 Auf die Kunst übertrug der Philosoph Herbert Read den Terminus schon 1942 mit Blick auf Surrealismus und Abstraktion.39 Biozentrik ist gemäß Botar und Wünsche definiert durch die Vorrangstellung von Leben und Lebensprozessen, durch die Voraussetzung der Biologie als paradigmatische Wissenschaft der Zeit, durch eine gegen-anthropozentrische Weltsicht sowie ein besonderes Bewusstsein für die Umwelt.40 Biozentrisches Denken zeichne sich durch eine Privilegierung biologischer Diskurse und die Grundannahme der Untrennbarkeit und der Abhängigkeit des Menschen von der Natur aus.41 Eine besondere Linie der modernen Hinwendung zum Leben bildet die ›Bioromantik‹. Vorgeschlagen wurde der Begriff vom ungarischen Kunstkritiker Ernő Kállai. 1932 fasste er sein Konzept in einem gleichnamigen Artikel zusammen. Angetrieben seien die Bioromantiker vom Drang, »den Geist ›zu den Müttern‹, zu den Urquellen und -Trieben des Lebens zu führen«.42 Ihr Denken zeichne sich durch Irrationalität und eine Hinwendung zum Rätselhaften aus.43 Eben dies gilt für andere Formen biozentrischen Denkens nicht, die den positivistisch-biologischen Wissenschaften näher standen, und sich, anders als die Bioromantiker, nicht dem kosmologischen Denken, der Intuition und dem Traum verschrieben.44 Die Bioromantiker strebten danach, die »naturverbundene Leib-Seele-Einheit des Menschen, vom mechanistisch-quantitativen Produktions- und Ordnungsapparat der Zivilisation, grausam in Stücke zerschlagen, […] wiederzufinden«.45 Man ersehnte eine geistige Einfühlung in die »Grundspannungen und Rhytmen [sic!]« der Natur,46 die als beseelt und belebt galt. Der Wunsch nach einer Vereinigung mit der Natur und der Teilhabe an ihren Kräften charakterisierte die Zeit um und nach 1900. Friedrich Nietzsches »Wille zur Macht« als Grundlage des Lebens ist als Vorform des Konzepts des »élan vital« und der »durée« von Henri Bergson zu fassen.47 Mit dem »élan vital« ist eine Lebenskraft gemeint, die sich nicht positivistisch erklären lässt.48 Das vitalis38 | Botar 1998, S. 328. 39 | Botar/Wünsche 2011, S. 8f. 40 | Ebd., S. 2. 41 | Der Bioromantik setzte Kállai die Technoromantik entgegen (vgl. Botar 1998, S. 7). 42 | Kállai 1932, S. 271. 43 | Ebd., vgl. Vitali 1994, S. 11. 44 | Botar 1998, S. 65. 45 | Kállai 1932, S. 274. 46 | Ebd., S. 273. 47 | Botar 1998, S. 13. Bergsons Einführung in die Metaphysik (1909) wurde etwa von Klee und Kandinsky rezipiert (Gaßner 1994, S. 33). 48 | Albert 1995, S. 95.

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tische Denken der Zeit, wie es Nietzsche, Bergson und Klages vertraten, ging somit von Kräften aus, die weder physikalisch noch chemisch nachweisbar waren.49 Botar benennt dieses vitalistische Denken als wichtigen Pfeiler im Denken von Bauhäuslern wie Kandinsky und Klee, die von der romantischen Grundannahme einer die Welt durchwirkenden Lebenskraft ausgingen.50 Nicht die kühle Analyse von außen, sondern die erlebende Einfühlung in die Natur rückte ins Zentrum. Botar behauptet ferner, dass sich das Denken der Künstler nach dem Ersten Weltkrieg versachlicht habe und esoterisches Denken einem positivistischen Naturverständnis gewichen sei.51 So unterstellt er eine gleichsam teleologische Entwicklung hin zu einem »sachlich[en]« Naturverständnis, die sich allerdings in dieser Form außerhalb des Bauhauses bei Künstlern wie Otto Nebel und Yves Klein keineswegs bestätigen lässt. Die Behauptung, dass das esoterische Denken durch eine naturwissenschaftliche Perspektive abgelöst wurde, ist zurückzuweisen, auch wenn sich diese Tendenz in einzelnen Künstlerpositionen feststellen lässt, bei Kandinsky und László Moholy-Nagy etwa. Eine klare Trennung zwischen naturwissenschaftlichen und esoterischen Ansätzen wurde von den Künstlern in vielen Fällen hingegen gar nicht vorgenommen. Wie oben dargestellt wurden Verbindungen von Ökologie und abstrakter Kunst bisher nur punktuell hergestellt.52 Der Bereich der Morphologie, der eng mit der Auffassung des Bildes als Organismus verknüpft ist, dominiert diese Diskurse.53 Die Morphologie ist ein Zweig der Ökologie, der mit den inneren Bildungsgesetzen und äußeren Einflüssen, unter denen organische Formen entstehen, befasst ist.54 Der Begriff ›Biomorphismus‹ als Bezeichnung für einen künstlerischen Stil geht auf den Kunstphilosophen Alfred H. Barr zurück.55 Die Abstraktion von Formen wie Zellen oder Zellteilchen, oft ausgehend von mikroskopischen Bildern, sowie eine Ästhetik der Schwingungen, Kurven und Arabesken charakterisiert 49 | Botar/Wünsche 2011, S. 17. 50 | Botar 1998, S. 328. Bergson war auch für Robert Delaunay und František Kupka interessant, weil er kreatives Handeln als »Leben-bildende[n] Akt« auffasste (Ferus 2002, S. 198). 51 | Botar 1998, S. 329. 52 | Vgl. Kap. 1, 1.1. Nicht nur mit Bezug zur Kunst des Fin de Siècle, auch hinsichtlich der abstrakten Avantgarden werden Haeckels Kunstformen dabei immer wieder angeführt, etwa mit Blick auf den späten Kandinsky (Barnett 1994) und Klee (Schall 1989, S. 88). Eine Auseinandersetzung mit Haeckel ist außerdem für Kupka überliefert (Ferus 2002). 53 | Goethe, auf den sich zahlreiche Künstler im 20. Jahrhundert bezogen, gilt als »Begründer der Morphologie als naturwissenschaftlicher Methode« (Harlan 2002, S. 28, siehe vertiefend ebd., S. 28-49). 54 | Vgl. ebd., S. 28. 55 | Diese Überlegungen stellte der damalige Direktor des Bereichs Moderne Kunst am New Yorker Museum of Modern Art zur Ausstellung Cubism and Abstract Art im Jahr 1936 an, dazu siehe Alfred H. Barr, Cubism and Abstract Art, New York 1974.

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den biomorphen Stil.56 Dies zeigt Vivian Endicott Barnett am Beispiel von Kandinskys Kompositionen der Pariser Zeit: Sie identifiziert etwa Insekten-, Fischund Salamanderembryos sowie Fadenwürmer als Grundlagen der Bildfindung in Blaue Welt (1934).57 In der Erforschung der Bezüge der Kunst zur Biologie steht die Rezeption wissenschaftlicher Bilder durch Künstler im Sinne einer Suche nach bestimmten Grundformen bislang im Vordergrund. Offen bleibt, ob über die formalästhetische Auseinandersetzung mit biologischen Formen und Gestalten hinaus eine Beschäftigung mit ökologischen Prozessen konstitutiv für Bildmodelle war. Dieses Desiderat führt zurück zur Grundfrage dieser Studie: Inwiefern wurden Bilder selbst als ökologisch wirksame Kräfte konzipiert, nicht als Repräsentationen von Lebewesen, sondern als belebende Organisationen – als Lebensräume? Die Tatsache, dass das Kunstwerk von einer Vielzahl abstrakter Künstler als Gleichnis zu einem Lebensraum konzipiert wurde, wirft ein neues Licht auf den viel beschworenen Impetus der Avantgarden, Kunst und Leben zu verbinden.58 Die Frage nach der Ausgestaltung dieser Verbindung wird in der Forschung zunehmend im Rekurs auf Körper- und Wahrnehmungskonzepte beleuchtet, welche die Rezipierenden von Kunst selbst als biologische Organismen in den Fokus rücken. Inge Baxmann bestimmt in diesem Sinne den ›labilen Menschen‹ als »Kulturideal« der zwanziger Jahre.59 Unter der Annahme der generellen »Durchlässigkeit und Rezeptivität« des menschlichen Körpers komme der Kunst in dieser Zeit die Aufgabe zu, sich diese Rezeptivität zunutze zu machen:60 Die »biologisch vorgegebene Sensitivität des menschlichen Organismus« sollte »durch die Kunst mit entsprechenden Mitteln evoziert« werden.61 In Form eines »Wahrnehmungstrainings« wollte etwa Moholy-Nagy mittels Kunst auf den Menschen einwirken und »für die Erfahrung der modernen Lebenswelt sensibilisieren«.62 Dass nicht notwendiger Weise die moderne Lebenswelt im Sinne des urbanen, durch den Menschen hervorgebrachten Lebensraumes vorbildhaft für Wahrnehmungserlebnisse in der Kunstrezeption sein mussten, wird in einem Aufsatz von Karin Leonhard deutlich, der die Idee zu dieser Studie erwachsen ließ. Darin weist sie Kandinskys Bezüge zur Biometeorologie nach. Die Biometeorologie untersuche schließlich gleichermaßen den »Austausch zweier Systeme: des

56 | Botar/Wünsche 2011, S. 3. 57 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Blaue Welt, 1934, verschiedene Medien auf Leinwand, 110 × 120 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York; siehe Barnett 1994. 58 | Vgl. Bürger 1974, S. 67-73. 59 | Baxmann 2006, S. 88. 60 | Ebd. 61 | Ebd., S. 86. 62 | Ebd.

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menschlichen Körpers und des ihn umgebenden Luftraums«.63 Die zahlreichen »atmosphärische[n] Zustandsbeschreibungen«64 in Kandinskys Schriften hielten gemäß Leonhard auch in die »Diskussion um den Einsatz der bildnerischen Mittel« Einzug.65 Analog zu Einwirkungen des atmosphärischen Luft- und Lichtraumes auf den Menschen wäre das Bild so als atmosphärisches Gebilde zu begreifen, welches Einfluss auf Lebensfunktionen nimmt. Verschiedene Modi der Wirkungspotentiale von Kunst wurden in den vergangenen Jahren in der Kunstgeschichte sowie den Bildwissenschaften diskutiert. Die vorliegende Studie gliedert sich in die generelle Frage nach den Wirkungen, Aufgaben und Funktionen von Kunst ein und fokussiert Aspekte, die jedoch sowohl in kunstwissenschaftlichen Publikationen als auch den bildtheoretischen Diskussionen der 2010er Jahre vernachlässigt wurden.

1.3 H istorische und neue K onzep te der B ildmacht Die Annahme der besonderen Wirkmacht von Bildern ist alt und variantenreich. Ihre Geschichte zeichnet sich auch durch eine disziplinäre Vielfalt aus: Programmatiken von Kunstschaffenden bieten ebenso Material wie die Kunstphilosophie, die kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik, die kulturwissenschaftliche Gebrauchs- und Institutionengeschichte sowie neuere Strömungen der Bildwissenschaften. Neben der Vermittlung von Erkenntnis sowie der Gefahr, Ursache von Täuschungen zu sein, wurden Bildern seit jeher seelische, geistige und körperliche Wirkungen zugesprochen.66 Traditionell werden affektive und erkenntnisbezogene Dimensionen differenziert, aber auch in ihrem Zusammenwirken betrachtet.67 Dies berührt die Unterscheidung einer Repräsentationsaufgabe gegenüber dem Ziel, Präsenz und eine direkte Wirkung zu erzeugen. Auch 63 | Leonhard 2006, S. 67; in Kap. 1.3 wird dies vertieft. 64 | Ebd., S. 68. 65 | Ebd., S. 67. 66 | In The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response beschrieb David Freedberg exemplarisch die Spannbreite an Wirkungsweisen: Bilder erregen, beruhigen, Rezipierende können sich selbst oder andere mit ihnen identifizieren, ihnen Heilswirkungen zusprechen und solche an ihnen erfahren (Freedberg 1989). Die Kunst der Abstraktion wird von Freedberg systematisch vernachlässigt. Werner Busch versammelte 1987 Beiträge zum Funktionswandel von Kunst. Dort sind Dimensionen der religiösen, ästhetischen, politischen und ›abbildenden‹ Funktionen in Einzelstudien beschrieben, die mit Modellen der Bildwirksamkeit in Zusammenhang stehen (Busch 1987). 67 | Im Rahmen der Bildwissenschaften wird etwa von Gottfried Boehm die »bildliche Evidenz« und »enárgeia« als Überzeugungskraft der Bilder diskutiert: »Evidenzen versetzen Sachverhalte in die Zeitform der Gegenwart. Sie behaupten Geltung, indem sie Präsenz schaffen. Das Evidente vergegenwärtigt, stellt vor Augen, rückt ins Licht, schaffe Klarheit

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zwischen einer Distanz wahrenden Rezeption und Bildwirkungen, die einer unkontrollierbaren Ansteckung gleichen, ist so zu unterscheiden.68 Das Modell des Bildes als Lebensraum impliziert eben keine intellektuelle, kritisch distanzierte Auseinandersetzung mit Bildern, sondern Effekte der Belebung, der Heilung, der Stärkung und der Reinigung. Diesbezüglich konnten Künstler/-innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an verschiedene Traditionen anknüpfen. Überlieferungen zu heilsamen Bildwirkungen haben ihren Ursprung in der Frühgeschichte von Bildern, etwa im Glauben, dass göttliche Kräfte in Artefakten und Bildwerken Wirksamkeit entfalten können. In bildmagischen Akten sollte sich eine derartige Verbindung von Bild und Person vollziehen, dass »von der Berührung eines Heiligenbildes reale Wirkungen ausgehen oder die Durchbohrung des Bildes eines Feindes diesem wirklichen Schaden« zufüge.69 Eine »göttliche Wirkungsmacht« sprach man der christlichen Ikone zu:70 Ein »Abglanz göttlichimmateriellen Lichtes« sollte sich durch das Bild im Diesseits offenbaren.71 Das von den Ikonen ausgehende »Eigen- oder Innenlicht« hatte die Funktion, »den Menschen des Göttlichen teilhaftig werden« zu lassen.72 Entgegen einer zentralperspektivischen Bildordnung öffne sich die Ikone, wie Heinrich Theissing darlegt, »auf den konkreten Raum, in dem der Gläubige lebt und sich bewegt« hin, durch Aussendung von Licht und die lebendigen, »atmenden, pulsenden« Bewegungen von »Figur und Grund«.73 Dass die Heilkraft des künstlerischen Bildes außerhalb der Ikonentradition eine Geschichte hat, stellt Karin Leonhard für das ausgehende 17. Jahrhundert anhand von Roger de Piles dar, der Gemälden eine »erholende[…] und stärkende[…] Wirkung« zusprach.74 Ähnliches galt in der Tradition der Naturmagie, die mit natürlich-kosmologischen Kräften zu agieren suchte:75

und Durchblick« (Boehm 2008, S. 15). Hier betont Boehm auch, dass sich Evidenz und Affekt nicht ausschließen (ebd., S. 17-20). 68 | Vgl. Fischer-Lichte/Schaub/Suthor 2005. Die Autorinnen beschreiben die potentiell pathogene und kurative, negative und positive Ansteckung als »unfreiwillige Körperlichkeit ästhetischer Aneignungsprozesse«, die sich im Gegensatz zur bloßen Rezeption dadurch auszeichnen, dass die Affizierten keine »Wahl« hätten, sie könnten sich »nicht bewußt für oder gegen das ›Angesteckt‹- ›Fasziniert‹-›Berührt-Werden‹ entscheiden« (S. 9). 69 | Waldenfels 2008, S. 48; siehe weiterhin Kris/Kurz 1995 (1934), S. 100-113; Wolf 2011, S. 66. 70 | Krieger 1998, S. 19. 71 | Ebd., S. 52. 72 | Ebd. 73 | Theissing 1989, S. 196. 74 | Leonhard 2013, S. 229f. 75 | Baader 2005; zum Pneumabegriff siehe Kap. 3.9, 5.3.1.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie »Aus Sicht der magia naturalis […] handelt es sich bei der künstlerischen Fähigkeit des Bilderschaffens um Partizipation an den den Kosmos animierenden pneumatischen Kräften, für die auf der Seite des Betrachters die Korrespondenz einer Physiologie und Psychologie von Perzeption bzw. Imagination vorgestellt wird, welche mit ebensolchen feinstofflichen spiritus operieren.« 76

Dementsprechend lasse der Heilkünstler Energien in die Bilder einfließen, die von den Rezipierenden aufgenommen werden. Auf diesem Feld ist bislang wenig zu etwaigen Übertragungen in künstlerische Konzepte erarbeitet. In der Naturmagie wurden keine Bilder im Sinne der bildenden Kunst verwendet, sondern Schriftzeichen und Objekte wie Amulette und Talismane. Die damit zusammenhängenden religiösen und magischen Ideen wurden im Rahmen des sogenannten ›Primitivismus‹ in der Kunst der Moderne allerdings rezipiert.77 Auch Künstler der Moderne glaubten an die Heilkraft von Bildern. Im ausgehenden 18. Jahrhundert reiften im Kontext einer nunmehr autonomen Kunst Vorstellungen von Kunst als Äquivalent zur Religion.78 Diese wurden von Friedrich Schleiermacher in Über die Religion (1799) nachhaltig geprägt. Demnach biete die Kunst, ähnlich der Religion, einen Zugang zum »Numinosen«79 und diene als »autonome Form der Erfahrung von Transzendenz«.80 Kunst sollte also nicht im Sinne eines magischen Bildwerkes oder einer natürlichen Medizin heilen, sondern den Offenbarungscharakter einer heiligen Schrift annehmen und Erlösung in Aussicht stellen.81 Ein heilender Charakter wurde der romantischen Kunst zugesprochen, insofern sie im Kontext einer Krisis des »wurzellos gewordenen Menschen« die Sehnsucht »nach innerer Sicherheit, Sinnstiftung und Geborgenheit« befriedige.82 Als Zeichen einer Verbindung mit dem großen Ganzen sollte das Bild zum Trostspender werden, Orientierung bieten oder das sinnstiftende Gefühl von Verbundenheit mit dem großen Ganzen ermöglichen. Als ideale Rezeptionshaltung beschrieb Schleiermacher das »Sich-Hingeben und 76 | Wolf 2011, S. 68; vgl. Karl Möseneder, Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009. 77 | Vgl. Wederer 2000: Rolf Wederer weist darauf hin, dass primitive Bilder und Objekte nicht unter rein formalen Gesichtspunkten, sondern mit Blick auf die mit ihnen verbundenen Mythen rezipiert wurden. Der »Bildzauber« wurde sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Literatur des ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt zum Thema, um 1930 setzte sich dann der Begriff der »Bildmagie« durch (Wolf 2011, S. 65). Es fehlen detaillierte Studien zum Zusammenhang von Primitivismus und dem Glauben an die Wirkmacht der Bilder in der modernen Kunst. 78 | Siehe Stephenson 2004. 79 | Detering 2011, S. 12. 80 | Ebd., S. 14f. 81 | Vgl. Auerochs 2011, S. 44f. 82 | Stephenson 2004, S. 26.

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Affiziert-sein-Wollen«.83 In gewisser Weise ging es auch hier um die Verbindung mit einem kosmisch gedachten Lebensraum. Religiöse Bildvorstellungen lebten in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts in verwandelten Formen fort. So beschreibt Katharina Ferus, wie »nach Verlust der christlich-religiösen Bindungen«84 der »quasireligiöse Machtanspruch« der Künstler »gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Seiten der rapide expandierenden okkulten Vereinigungen noch erheblich bestärkt [wurde]. Insbesondere die Wortführer von Theosophie und Rosenkreuzertum erklärten das intuitiv agierende Künstlersubjekt zum metaphysisch legitimierten Rettungsanker in einer instabilen, von politischen, sozialen, technischen und wirtschaftlichen Umbrüchen heimgesuchten Welt.« 85

Demnach ermögliche Kunst vor allem Stabilität und das Gefühl vom Geborgensein in einer Ganzheit. Potentielle Verbindungen dieser Heilskonzepte mit natürlichen Phänomenen oder gar ökologischen Wirkkräften werden von Ferus und anderen allerdings nicht identifiziert.86 Dieses Desiderat betrifft auch den Bereich der Bildwissenschaften. Auseinandersetzungen mit der Macht der Bilder erlebten durch die Bildwissenschaften eine große Blüte. Hervorzuheben ist Horst Bredekamps Bildakttheorie, mit welcher er die »Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […] aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, be-

83 | Schleiermacher zit.n. Kliche 2000, S. 370. 84 | Ferus 2002, S. 7f. 85 | Ebd., S. 8. Zu Konzepten religiöser Kunsterfahrung bei Kandinsky siehe weiterführend Moira Paleari, »Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Ernst Barlach und Wassily Kandinsky«, in Alessandro Costazza/Gérard Laudin/Albert Meier (Hg.), Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800, Bd. 1, Berlin 2011, S. 138-154. 86 | Während ökologisch-lebensräumliche Dimensionen unter dem Aspekt der Bildwirksamkeit noch nicht untersucht wurden, sind spirituelle Hintergründe abstrakter Kunst durchaus erforscht, wenngleich auch hier die Wirkungskonzepte noch detaillierterer Ausarbeitung bedürften. Paradigmatisch für die Untersuchung esoterischer und religiöser Dimensionen avantgardistischer Kunst sind: Sixten Ringbom, »Art in ›The Epoch of the Great Spiritual‹: Occult Elements in Early Theory of Abstract Painting«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes (29/1966), S. 386-418; Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde: religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Schloss Charlottenburg Berlin, Stuttgart u.a. 1980; Judi Freeman/Maurice Tuchman (Hg.), Das Geistige in der Kunst: abstrakte Malerei 1890-1985, Stuttgart 1988; Das Bauhaus und die Esoterik, Ausst.-Kat. Gustav-Lübcke-Museum Hamm 2005-2006/Museum im Kulturspeicher Würzburg 2006, Bielefeld/Leipzig 2005; Christoph Wagner (Hg.), Esoterik am Bauhaus: eine Revision der Moderne?, Regensburg 2008.

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rührenden und auch hörenden Gegenüber« zu erklären sucht.87 Durch die Differenzierung von drei Modi des Bildaktes beschreibt er Bilder als Agenten, die verschiedene Effekte entfalten können. Ausgerechnet die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, die maßgeblich das Ideal der Verbindung von Kunst und Leben formulierten, spielen bei Bredekamp jedoch höchstens eine marginale Rolle.88 Bildwirkungen ergeben sich gemäß der Bildakttheorie unter anderem aus dem Eindruck der Lebendigkeit von Bildern. Die Kraft von Form und Farbe findet darin mit Blick auf die Moderne dennoch wenig Beachtung. Ein für diese Studie interessanter Modernebezug wird durch Bredekamp über Theodor W. Adorno hergestellt. Dieser beschrieb das Kunstwerk in seinen Vorlesungen zur Ästhetik 1958/59 als »ein Kraftfeld«, welches »unter den Augen gewissermaßen lebendig wird«.89 Er erörterte, »daß man das Kunstwerk mitvollzieht, indem man in dem Kunstwerk darin ist, daß man – wie man es ganz schlicht nennen mag – darin lebt«.90 Bredekamp bringt diese Beschreibung mit dem schematischen Bildakt in Verbindung, in dem den Rezipierenden das Äquivalent zu einem anderen Lebewesen gegenüber tritt.91 Ihnen begegnet, folgt man Adorno, jedoch nicht ein von ihnen unterschiedener, lebendiger Körper. Es eröffnet sich ihnen vielmehr ein Körperinneres, das gleich einem Lebensraum einen Einschluss, ein Eintreten ermöglicht, und von Lebensprozessen durchwirkt ist, die zum Mitvollzug animieren (vgl. Kap. 1.1-1.2). So sprach Adorno davon, dass man »in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunstwerks«.92 Das Kunstwerk erscheint zugleich lebendig und lebenspendend. Solche Formen der Verbindung von Bild und Rezipient/-in wird in den Bildwissenschaften als ›Verkörperung‹ bezeichnet.93

87 | Bredekamp 2010, S. 52. 88 | Konzepte von Künstlerinnen und Künstlern finden bei Bredekamp allgemein wenig Beachtung. Bilder im weitesten Sinne werden hier in ihren Gebrauchs- und institutionellen Kontexten betrachtet oder im Fall künstlerischer Werke im Rahmen kunstphilosophischer Diskurse diskutiert. Es stellt sich die Frage, warum Theodor W. Adorno für eine Geschichte der Bildwirkungen für Bildwissenschaftler/-innen heute interessanter ist als solche von Künstlern derselben Zeit. 89 | Adorno zit.n. Bredekamp 2010, S.323; vgl. Adorno 2009 (1959), S. 168f.: Adorno bezieht sich auf Stefan Georges Gedichtzyklus »Der Teppich« (1900). Der harmonisierenden, mit der Umwelt versöhnenden Bildwirkung, die in den hier untersuchten Künstlerpositionen in den Fokus rückt, würde Adorno widersprechen. Dennoch fänden sich sicherlich Anknüpfungspunkte; siehe weiterführend Espen Hammer, Adorno’s Modernism, Cambridge 2015. 90 | Adorno zit.n. Bredekamp 2010, S. 323; Adorno 2009 (1959), S. 169. 91 | Bredekamp 2010, S. 104. 92 | Adorno zit.n. ebd., S. 324; Adorno 2009 (1959), S. 196. 93 | Dazu siehe weiterführend etwa Ulrike Feist/Markus Rath, Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung, Berlin 2012.

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Bevor weitere Referenzen Bredekamps in den Fokus gerückt werden, helfen verwandte Positionen dabei, dieser Studie weiteres kunstphilosophisches Ausgangsmaterial hinzuzufügen, das über das Prinzip der Verkörperung hinausweist. Den Modus des im-Bild-Seins beschrieb in den 1970er Jahren auch der Philosoph und Phänomenologe Henri Maldiney, auf den sich Gilles Deleuze in seinem Konzept des Bildes als Organismus stützte (Kap. 1.1). Maldiney fasste das Bild jedoch nicht im engeren Sinne als Organismus auf, sondern als Ort des Aufenthaltes: »Die Kunst verschafft dem Menschen einen Aufenthalt, das heißt einen Raum, in dem wir einen Ort haben, eine Zeit, in der wir anwesend sind, und ausgehend von denen wir, indem wir ganz zur Gegenwart gelangen, mit den Dingen, den Lebewesen und uns selbst, in der Welt kommunizieren, und das heißt wohnen.« 94

Maldiney bezog sich auf Paul Cézanne, der die Erfahrung des Selbstverlustes in der Umwelt zum ersten »Augenblick der Kunst« erklärte: »Ich komme vor mein Motiv, ich verliere mich darin. […] Wir keimen«,95 äußerte Cézanne im Gespräch mit Joachim Gasquet. Es gebe »keine Distanz zwischen der Welt und dem Menschen« mehr.96 Die Ganzheitserfahrung ist, wie schon in der Romantik, Teil dieser Bildauffassung. Für den von den Betrachtenden eingenommenen Zustand prägte Maldiney den Begriff der »Trans-Passibilität«,97 der eine Auf hebung der »Distanz zum wahrgenommenen Bild […] ins Zentrum« rückt.98 Das In-der-Welt-Sein beschreibt weiterhin Gottfried Boehm als grundlegende Bilderfahrung der Abstraktion. So stellt er fest, dass die Werke Wassily Kandinskys und Kasimir Malewitschs »keinen Blick auf« etwas geben und statt einem »visuellen ›Feststellen‹« ein »anschauliche[s] ›Innesein‹« als Erfahrungsmodus böten.99 Es handle sich um die Erfahrung, »nicht nur gegenüber oder vor der Welt, sondern in ihr zu leben«.100 Das Bild werde zu einem »Feld, das den Betrachter impliziert«.101 Neben Boehm gehört zu den Vorbereitern der kunsthistorischen Beschreibung eines lebensräumlichen Bildmodells Gernot Böhme mit seinen Überlegungen zur Erzeugung von Atmosphären als Aufgabe gestalterisch-ästhetischer Praktiken in seinen Essays zur Atmosphäre (1995). Die Erfüllung des Verspre94 | Maldiney 2007, S. 48. 95 | Cézanne zit.n. ebd., S. 50. 96 | Cézanne zit.n. ebd. 97 | Blümle 2011, S. 259. 98 | Ebd. 99 | Boehm 1990, S. 234. 100 | Ebd., S. 232. 101 | Ebd., S. 229. Mit diesem Modell der »Teilhabe« bezieht sich Boehm auf Adorno (ebd., S. 229f.).

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chens der Aisthesis impliziere, so G. Böhme, den Verlust einer kritischen, beurteilenden Distanz im Sinne der Ästhetik Immanuel Kants.102 An deren Stelle treten eine direkte Affizierung, »Befindlichkeiten«,103 eine Wirkung auf und das heißt auch Macht über »Stimmung« und »Gemüt«:104 »Der Betrachter […] muß seine Selbstmächtigkeit aufgeben, indem er in die Atmosphäre des Kunstwerkes eintritt. Nicht er macht jetzt etwas, sondern es geschieht etwas mit ihm«, so G. Böhme.105 Die Rezeption von im weitesten Sinne gestalteten Artefakten im Sinne der Neuen Ästhetik begreift er demgemäß als eine »Teilnahme an Atmosphären«, die nicht dargestellt werden, sondern gegenwärtig – präsent – sind.106 G. Böhme bezieht sich in seinen Ausführungen unter anderem auf Walter Benjamins Begriff der »Aura«.107 Benjamin hatte sich seinerseits eingehend mit Ludwig Klages und dessen Vorstellung einer »Wirklichkeit des Bildes« auseinandergesetzt.108 Im Kontext seiner Urbildtheorie handelte Klages von einer direkten Wirkmacht des Bildes, wobei er dieses nicht als stillgestelltes Artefakt, sondern als »Strom des Erlebens«109 und als auf die Seele einwirkende Lebensquelle begriff.110 Auch Aby Warburg orientierte sich an Klages. Warburg wiederum dient Bredekamp als wesentliche Referenz.111 Während Klages die Bildwirkung nicht nur negativ als Erleiden, sondern auch positiv als belebende Apperzeption fasste,112 ging es Warburg um eine besorgte Distanznahme zu Bildern: »Du lebst und thust mir nichts« lautete sein Credo – Bredekamp versteht diesen Ausspruch eher als »Beschwörung denn […] 102 | G. Böhme 1995, S. 15. 103 | Ebd., S. 15f. 104 | Ebd., S. 35; vgl. ebd., S. 76. Hier hebt G. Böhme historische Konzepte wie die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben gemäß Johann Wolfgang von Goethe (vgl. Kap. 3.1.1, 3.2.3) sowie die sich an Goethe orientierende Esoterik Rudolf Steiners hervor. 105 | Ebd., S. 152. Böhme lässt hier allerdings zentrale Aspekte der Wirkungsästhetik Kants außer Acht, welche die Wirkung von Bildern auf die »Lebensstimmung« der Betrachtenden betreffen. Dazu: Winfried Menninghaus, »›Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‹. Kants Reformulierung des Topos lebhafter Vorstellung«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich/Berlin 2009, S. 77-94. 106 | G. Böhme 1995, S. 152; vgl. auch ebd., S. 159. 107 | Ebd., S. 26f. 108 | Ebd., S. 29. Der Ausdruck »Wirklichkeit der Bilder« stammt aus Klages’ Vom Kosmogonischen Eros (1922). 109 | Falter 2015, S. 44. 110 | Ebd., S. 52. 111 | Zur »Pathosformel als Distanzmacht« siehe Bredekamp 2010, S. 193-206. Klages’ Ansatz einer vom Bild in Form von »Lebenswellen« ausgehenden Kraft wird mit Bezug zum Künstler Max Burchartz in Kap. 3.2.2 noch dargestellt. 112 | Vgl. Falter 2015, S. 40.

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Gewißheit«: »Warburg war sich bewußt, daß dem immer neu zu formenden und schützenden Ich durch Bilder Unterstützungen, aber auch Verletzungen widerfahren können.«113 Die Bildwirksamkeit ergab sich Warburg zufolge aus psychischen Energien, die den Bildern inne sind.114 In seiner Einleitung zum unvollendeten Mnemosyne-Bildatlas schrieb er von den »Grenzpolen des psychischen Verhaltens« als »Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe«, wobei er die ruhige Schau klar bevorzugte.115 Damit fand eine Abgrenzung von der zeitgleich relevanten Einfühlungstheorie Robert Vischers und Theodor Lipps’ statt, die eine Ästhetik der Nähe und gar Vereinigung mit dem Bild darstellte, welche die Lebendigkeit des Bildes positiv bewertete.116 Eine Abgrenzung muss auch zur modernen psychophysischen Forschung vorgenommen werden, die weder in der Bildakttheorie noch bei G. Böhme Beachtung findet, für Künstler der Zeit aber von großer Relevanz war (Kap. 2.5, 3.2.3, 6.3.1).117 So wie es hier für die Auseinandersetzung mit dem Organismusmodell aufgezeigt wurde, verdecken theoretische Setzungen und ein einseitiger historischer Blick auf die Gegenstände wesentliche Aspekte von Bildkonzepten. Karl Clausberg attestiert ausgehend von Georg Simmel, Klages und Warburg der Ästhetik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Angst vor Nähe und Berührung durch die Objekte, die in einem »auratische[n] Ferngefühl« kulminiere.118 Dies gilt es zu revidieren. Christoph Asendorf zeigt am Beispiel der Architektur auf, dass der Zeitraum von 1910 und 1930 zugleich durch eine »emphatische Bejahung von Distanzüberwindung, Sphärendurchdringung und die Einrichtung entspre113 | Bredekamp 2010, S. 22. 114 | H. Böhme 2006, S. 244. 115 | Aus Warburgs Manuskript »Einleitung zum Bilderatlas«, zit.n. Gombrich 2012, S. 546. Warburg spricht im Kontext von seinem Konzept des Denkraumes vom »bewußte[n] Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt […] als Grundakt menschlicher Zivilisation« (Warburg zit.n. ebd., S. 545); vgl. auch ebd., S. 548. 116 | Bredekamp 2010, S. 302. Das Problem von Nähe und Ferne wird auch in Asendorf 2005 diskutiert; vgl. Papapetros 2012, S. 23, der Warburgs »idea of Distancing« beschreibt: »By turning the ›living‹ object into a lively image, our once empathetic identification with it transitions into a seemingly safe abstraction. […] Warburg’s motto is a defensive response against the animistic properties of the object – a reassuring assertion that seeks to pacify the terror of agency in a category of being that is radically different from our own. Instead of being confronted with real life (das Leben), the subject rejoices in the graceful liveliness (Lebendigkeit) of animated images«. 117 | Die Zentralität einer psychophysiologischen Ästhetik zeigt hingegen der Band Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900, hg. v. Jutta Müller-Tamm/Henning Schmidgen/Tobias Wilke, München 2014, auf. Allerdings gehen die Untersuchungen nicht über die frühen 1920er Jahre hinaus und nehmen ebenfalls keine ausführlichere Analyse der Konzepte von Künstlerinnen und Künstlern vor. 118 | Clausberg 2012, S. 74; zu Simmel vgl. Asendorf 2005, S. 31f.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

chend permeabler Räume« geprägt war.119 Dezidiert ökologische Ansätze in der Architektur werden in der Forschung in diesem Zusammenhang thematisiert, während die Untersuchung ähnlicher Ideen in der bildenden Kunst noch aussteht.120 Erstmals konturiert wurden ökologische Bildwirkungen im 20. Jahrhundert in Leonhards Ausführungen zur Abstraktion im Kontext von Heilskonzepten und Biometeorologie. In »Die Heilkraft der Bilder – Tuberkulose, Krieg und Lichttherapie um 1910« stellt sie Kandinskys und Ernst Ludwig Kirchners Interesse für das »zerstörerische[…] beziehungsweise heilpädagogische[…] Potential ihrer Bilder« dar.121 Dabei seien bei Kandinsky »Zusammenhänge zwischen klimatologischen, lichtdiätetischen und farbtheoretischen Konzepten« unverkennbar, aber »wenig untersucht«.122 Äquivalente »warme[r] oder eisige[r]« Luft sollten sich in Strömungen verwandeln und »in den Betrachterraum dringen […], ja, den Betrachter körperlich affizieren«:123 »Fast scheint es, als wären die geöffneten Bildräume KlimaRäume beziehungsweise Luftkurorte, oder als wirkten sie auf den Betrachter wie eine stimulierende Heliotherapie«.124 Wie Christina Storch aufzeigt, existierten schon in der Frührenaissance – etwa bei Leon Battista Alberti – äquivalente Überlegungen zu einer therapeutischen Wirksamkeit von Farbqualitäten der Feuchtigkeit und Kühle sowie Trockenheit und Wärme in Landschaftsgemälden.125 Zuletzt arbeitete Frances Gage Bezüge zwischen Landschaftsmalerei und Medizin in der

119 | Asendorf 2005, S. 44. 120 | Vgl. ebd., S. 35-53, S. 59-61, S. 108f., S. 133-148 und Kap. 2.5. Die Malerei wird in der Forschung nur als Visualisierung von Prinzipien wie Durchdringung und Simultaneität thematisiert. Erst seit den 1950er Jahren mit der Farbfeldmalerei von Mark Rothko und Barnett Newman sowie Ganzfeld-Experimenten und groß angelegten Rauminstallationen wird der Malerei der konsequente Ausbruch aus der Repräsentation attestiert (ebd., S. 159-167). 121 | Leonhard 2010, S. 226. 122 | Ebd. 123 | Ebd. 124 | Ebd. 125 | Storch 2015, S. 199-204. In der Erforschung der Landschaftsmalerei stellen solche Bezüge noch ein Desiderat dar. Das Bild als Lebensraumäquivalent beschreibt Leonhard anhand des Modells des fruchtbaren Feldes oder Ackers im 16. und 17. Jahrhundert, wobei das »Kultivieren und Fruchtbarmachen« von Picturas Acker als »Erde, Höhle und Uterus« zum Modell für die künstlerische Produktion wurden (Leonhard 2013, S. 3f.). Dieses Modell sei als biotisches Verfahren fassbar (ebd., S. 2) und das Bild als Äquivalent zum »biotopos« (ebd., S. 5). Fruchtbare Ansätze zur Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts finden sich in: Annik Pietsch, Material, Technik, Ästhetik und Wissenschaft der Farbe 1750-1850: Eine produktionsästhetische Studie zur ›Blüte‹ und zum ›Verfall‹ der Malerei in Deutschland am Beispiel Berlin, Berlin u.a. 2014.

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Frühen Neuzeit am Beispiel des italienischen Arztes und Kunstkritikers Giulio Mancini her, die in eine ähnliche Richtung weisen.126 Zuletzt sprach auch Charissa N. Terranova in Art as Organism. Biology and the Evolution of the Digital Image (2016) von ökologischen Wirkzusammenhängen in der Kunst László Moholy-Nagys: »[T]he living corpus is set in relief by flows of light energy that ensconce her. The mind and body are made felt and physically present through luminosity and movement, positioned within an ecological network of relations«.127 Von einer ökologischen Ästhetik ist ferner im Eintrag Karlheinz Barcks in den Ästhetischen Grundbegriffen die Rede: Er stellt die These auf, Friedrich Nietzsche habe in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (entst. 1873, posthum veröffentlicht) einen Begriff von Ästhetik definiert, »den man einen ökologischen nennen könnte«.128 Dies begründet er damit, dass Nietzsche, »keinen Begriff für Determinationszusammenhänge darstellt, ›sondern eine Art Suche nach Abhängigkeiten […], auf die man sich verlassen können muß, um sich in einer Situation halten zu können‹«.129 Barck führt dies nicht weiter aus. Jedoch wird diese Studie zeigen, dass Nietzsche seine literarischen Texte nicht nur auf einer inhaltlich-diskursiven, sondern durchaus auf einer Wirkungsebene als Luft- und Lebensräume begriff, aus denen die Lesenden Kraft und Gesundheit ziehen sollten. Eben dieser Ansatz wurde von Künstlern nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die bildende Kunst übertragen (Kap. 5.2, 5.6). Die Behauptung einer potentiell heilsamen und – als notwendiges Gegenmodell – schädlichen Wirkmacht der Kunst vereinnahmten im 20. Jahrhundert bekanntermaßen die Nationalsozialisten in Deutschland für ihre Zwecke. Tatsächlich stammen diese Ideen aber bereits aus dem 19. Jahrhundert.130 Kampfbegriffe waren die biologischen Termini der ›Entartung‹ und der ›Degeneration‹, mit denen künstlerische Artefakte in gesunde und kranke geschieden wurden.131 Wenn der Literaturwissenschaftler Carl Weitbrecht um 1912 mit Blick auf die deutsche Literatur davon sprach, dass »das junge Geschlecht [der Literaten] […] in der schlimmsten Krankenluft erwachsen war«,132 wird deutlich, wie schon früh unter 126 | F. Gage 2016; siehe insbesondere das dritte Kapitel »From Exercise to Repose«. 127 | Terranova 2016, S. 3. Moholy-Nagys ökologische Wirkungsmodelle werden in dieser Studie in mehreren Einzelkapiteln (Kap. 3.8.2, 4.5.2, 6.8) einbezogen, insbesondere allerdings, um sie von den Konzepten der anderen Künstler abzugrenzen. 128 | Barck 2000, S. 388. 129 | Ebd. Zum ›Zitat im Zitat‹ ist Dirk Baecker (»Der Mensch als Barbar«) angegeben. Als »Ethik ökologischen Zuschnitts« wird auch die Ästhetik Michel Maffesolis (Aux creux des apparences. Pour une ethique de l’esthetique, Paris 1990) bezeichnet (ebd., S. 386). Allerdings bleiben diese Ansatzpunkte unvollständig dargelegt. 130 | Kashapova 2006, S. 62. 131 | Siehe ebd. 132 | Carl Weitbrecht, Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 2 1912, zit.n. ebd., S. 82.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

Rückgriff auf ökologische Wirkungsmodelle gesunde und kranke Kunst verhandelt wurden. So fuhr Weitbrecht fort, dass dem Literatengeschlecht »die eigenen Gesundungskräfte« fehlten, »und im Gefühl davon riß es Türen und Fenster weit auf, um die vermeintlich gesunde Luft des Auslandes hereinzulassen, und merkte nicht, daß diese nur neue Krankheitskeime mitbrachte«.133 Bereits in den Jahrzehnten vor dem Naziregime wurde der Kunst vermehrt eine »symptomatische Bedeutung für die Diagnose der jeweiligen geistigen und ethischen Gesundheitsverhältnisse«134 zugesprochen, die sogenannte ›Judenkunst‹ oder auch die expressionistische Malerei galten als giftige, geradezu schwarzmagische, »gefährliche Zauberei«,135 die drohte »epidemisch zu werden«.136 Der Kunst erkannte man die Potenz zu, den ›Volksgeist‹ entweder zu »kurieren« oder zu »zersetzen«, zu »vergiften« und »funktionsuntüchtig« zu machen.137 Dass solche Wirkungsmodelle von Künstlern bekräftigt wurden, die dem Faschismus nicht zugewandt waren, hat man bislang ausgeblendet (vgl. Kap. 5.3.3). Die skizzierten und herauszuarbeitenden Konzepte gehen nicht in einer Rezeptionsästhetik auf. Diese beschränkt sich schließlich auf »Rezeptionsvorgaben«, welche »dem Betrachter durch die Blicklenkung zur Enthüllung des Bildsinnes« helfen sollen.138 In der Rezeptionsästhetik fänden, so die Kunsthistorikerin Dorothee Lehmann, »das Werk als Wirken« und die Tatsache, dass »das Werk seine Wirklichkeit nur durch sein Wirken entfaltet« keine oder kaum Beachtung.139 Historische Wirkungskonzepte und in besonderem Maße jene der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts changierten zwischen den Polen der Heilkraft und Schädigung, Nähe und Ferne, Infektion und kühlen Distanz sowie Erregung und Beruhigung. In der Annahme einer ökologischen Bildwirkung ist von einer immersiven Kunsterfahrung auszugehen, die seit der Farbfeldmalerei sowie der Installationskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wesentliches Modell ästhetischer Erfahrung darstellt. Entsprechend der Definition von Laura Bieger zeichnet sich diese durch eine »Ästhetik des Eintauchens«, ein »Auflösen von Distanz« sowie

133 | Weitbrecht zit.n. ebd. 134 | Ebd., S. 83. 135 | Ebd., S. 121. 136 | Hans Kahle, »Einiges über Expressionismus, Bolschewismus und Geisteskrankheit« (erschienen in der Weimarischen Landeszeitung Deutschland am 20. Mai 1919), zit.n. Kashapova 2006, S. 142. Kahle (1899-1947) war ein antifaschistischer Journalist, der aber in diesem Punkt mit der Ideologie der Nationalsozialisten offenbar übereinstimmte. 137 | Ebd., S. 172. 138 | Lehmann 1991, S. 13; vgl. Burchert b (in Vorbereitung) zur »Kunst als Übertragung von Energie« am Beispiel Ernst Kurths und Paul Klees; siehe dazu weiterführend Kap. 5.2.2, 6.4. 139 | Lehmann 1991, S. 14.

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Das Bild als Lebensraum

eine »Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum« aus.140 Eben dieses Modell antizipierten Künstler spätestens seit den 1910er Jahren.

1.4 M e thodik , K ünstler auswahl , B egriffe Ziel der folgenden Untersuchungen ist es, ökologische Konzepte in der abstrakten Kunst aufzuzeigen und die Auffassung des Bildes als Äquivalent zu einem Lebensraum als wesentliches Bildmodell im Zeitraum von 1910 bis 1960 herauszuarbeiten. Es geht nicht um die Veranschaulichung ökologischer Prinzipien in Bildern, sondern um die Behauptung der Künstler, dass von den Bildern tatsächlich ökologische Wirkungen ausgehen. Ernst Haeckel definierte die Ökologie folgendermaßen: »Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedingungen‹ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind […] von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen Existenz-Bedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muss, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Electricitäts-Verhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungsmittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenz-Bedingungen betrachten wir die sämmtlichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten entweder zu seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen.«141

Die von Haeckel genannten Beziehungen der Organismen sind für die hier betrachteten Wirkungskonzepte kaum von Interesse.142 Stattdessen bezogen sich die Künstler dezidiert auf anorganische Qualitäten der Umwelt. Die Rezipierenden wurden selbst als Organismen gefasst, auf welche Äquivalente dieser Umweltqualitäten einwirken. Darauf basierte die Behauptung einer lebenspendenden, heilsamen Wirkung von Kunstwerken. In vier großen Einzelkapiteln werden Bilder in dieser Studie als klimatische Farbatmosphären, als Gleichnisse des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen, als klimatische Luft- und Atemräume sowie als Bio- und Naturrhythmen beschrieben. 140 | Bieger 2011, S. 75; siehe weiterführend Alain Alberganti, De l’art de l’installation. La spatialité immersive, Paris 2013. 141 | Haeckel 1866, S. 286. 142 | Dabei ist zu beachten, dass Haeckel gerade die abiotischen Lebensbedingungen zunächst nicht in den Bereich der Ökologie zählte, sondern in den der Chorologie, der Lehre vom Raum, dazu siehe Trommer 2007, S. 315.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

Grundlage der Untersuchung bilden Künstlerschriften und -äußerungen. Ohne davon auszugehen, dass sich die Dimensionen von Kunstwerken in den Selbstaussagen erschöpfen, werden die Publikationen, Briefe, Tage- und Notizbücher als Quellentexte für Bildkonzepte verwendet. Den Einstieg bildet eine Überblicksdarstellung zu lebensräumlichen Bildmodellen, die zugleich die Protagonisten der Studie einführt (Kap. 2.1). Ausgehend davon werden ökologische Diskurse identifiziert, welche die Künstler rezipierten und für ihre Theorien fruchtbar machten (Kap. 2.2, 2.4-2.5). Diese Bezüge reichen von der antiken Naturphilosophie über die Klimatologie seit dem 19. Jahrhundert bis zur psychophysiologischen Forschung, der Bioromantik und der Naturheilkunde im 20. Jahrhundert. Weiterhin wird der ideologisch stark aufgeladene Begriff des Lebensraumes verortet und zu alternativen Termini wie ›Kosmos‹, ›Umwelt‹, ›Ökosystem‹, ›Biotop‹ und ›Biosphäre‹ in Beziehung gesetzt (2.3). Die vier großen Kapitel untergliedern sich nach einzelnen Künstlern oder betrachten ähnliche Positionen unter einem gemeinsamen Aspekt. Dabei treten die meisten Künstler in allen vier Kapiteln auf. Die in der Natur untrennbaren anorganischen Umweltqualitäten des Klimas, des Lichtes, der Luft und der Rhythmik verbanden sich auch in den Bild- und Wirkungskonzepten vielfach. Die Studie ist daher geprägt von Vor- und Rückbezügen, durch welche ein Netz an Verbindungen zwischen den Künstlern und Konzepten ersichtlich wird. Wiederholungen sind nicht immer vermeidbar und unterstützen bei einer selektiven Textlektüre von einzelnen Kapiteln. Exemplarische Werkanalysen stehen in dieser Arbeit unter der Fragestellung, inwiefern sich die Theorien in den Bildern niederschlagen. In erster Linie handelt es sich um eine diskursanalytische Untersuchung die nicht bildimmanent argumentiert, sondern das Verhältnis von Theorie und Bild berührt. Mitunter blieben die Ideen der Künstler derart im Utopischen, dass die fehlende Umsetzbarkeit ins Bild nur noch als Problem formulierbar ist. Einige Künstler äußerten eine dezidierte Bildkritik und wendeten sich einer Erweiterung ihrer Medien zu, so etwa der Sturm-Künstler Nikolaus Braun, Yves Klein und László Moholy-Nagy. Der Schwerpunkt der Studie liegt zwar auf der abstrakten Malerei, punktuell werden aber Objektkunst und architektonische Entwürfe einbezogen, etwa bei Klein, dessen Architekturvisionen aus malerischen Konzepten hervorgingen. Der Untersuchungszeitraum ist breit angelegt, von den Anfängen der ungegenständlichen Malerei bei František Kupka bis zur Entstehungszeit einer ökologisch engagierten Kunst seit den sechziger Jahren, die im Ausblick zu den Ergebnissen dieser Untersuchung ins Verhältnis gesetzt wird (Kap. 7.2). Die Entwicklung künstlerischer Environments ist als Parallelerscheinung seit den zwanziger Jahren mit einem ersten Höhepunkt Ende der fünfziger Jahre als Kontext mitzudenken.143 143 | Als Vorstufen der Installationskunst werden zumeist El Lissitzkys Proun-Raum (1923), Kurt Schwitters Merzbau (1932) und die surrealistische Ausstellung in der Pariser

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Der Untersuchungszeitraum trägt außerdem der Tatsache Rechnung, dass sich die Entwicklung ökologischer Wirkungskonzepte bei Künstlern wie Max Burchartz und Johannes Itten über bis zu fünf Jahrzehnte und die beiden Weltkriege hinaus erstreckte. So sollen als Gegenmodell zu einer Geschichtsschreibung der Brüche ideengeschichtliche Kontinuitäten aufgezeigt werden.144 In der breiten historischen Anlage kommen Schnittpunkte in einem breiten Feld künstlerischer Praktiken und Diskurse zur Darstellung. Waren viele der Künstler zeitweise über Schulen wie das Bauhaus und Gruppierungen wie Sturm oder Zero verbunden, standen andere nur sehr vermittelt oder kaum in Verbindung zueinander. Eine große Spannbreite zeigt sich insbesondere formal, selbst dort, wo sich Künstler einem ähnlichen Problem in der Erzeugung einer klimatischen Farb-, Licht- und Lufthaltigkeit des Bildes widmeten. Anknüpfungen an den Neoimpressionismus bei Robert Delaunay, Paul Klee und Otto Nebel sind ebenso vertreten wie Ansätze gestischer Zeichnung bei Itten, und – dem entgegengesetzt – Praktiken Kleins, Otto Pienes und Mark Rothkos, welche die individuelle Handschrift gänzlich ausschalteten. Die monochromen Werke Pienes und Kleins stehen ferner den kontrastiv-farbenreichen Kompositionen Wassily Kandinskys gegenüber. Weitere naheliegende Positionen, die den Fokus der Arbeit nicht ganz treffen oder ihre Dimensionen sprengen würden, finden punktuell Erwähnung.145 Ziel ist es, das Feld zu öffnen und eine Grundlage für weitere Forschungen zu schafGalerie de Beaux-Arts (1938) gezählt: Siehe dazu Claire Bishop, Installation Art. A Critical History, London 32010, S. 80f., S. 41f. und S. 20-22, S. 54-65. Den Begriff ›Environment‹ prägte der Künstler Allan Kaprow: Siehe Nisbet 2014, S. 13-66 und Frank Popper, Die Kinetische Kunst. Licht und Bewegung, Umweltkunst und Aktion, Köln 1975, S. 90f. 144 | Gerade die Kriegserfahrungen im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg bilden einen wesentlichen Kontext der hier dargestellten Heilskonzepte. Diese Zusammenhänge werden in der Studie an einigen Stellen aufscheinen, aber nicht weiter vertieft. Die Bezüge zwischen Heilskonzepten und Kriegserfahrungen wären eine eigene Untersuchung wert. 145 | Vor allem Künstlerpositionen im Kontext der russischen Avantgarde mussten unberücksichtigt bleiben. Dazu siehe Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avantgarde of the 20th Century, Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln 19992000, Köln 1999. Die Rezeption von Naturphilosophie und Evolutionstheorien, die in einem biomonistischen Kunstmodell kulminierte, stellt Verena Krieger in ihrer Habilitationsschrift am Beispiel Pavel Filonovs heraus, dazu vgl. Krieger 2006, S. 151-184. Das Bild wurde von Filonov nicht als Repräsentation von Kräften, sondern als Lebewesen verstanden. Offenbar entwickelte auch er eine Vorstellung vom Bild als Lebensraum, so heißt es in »Kanon und Gesetz« (1912): »Von nun an werden die Menschen in den Gemälden leben, sprechen und denken […]« (zit.n. ebd., S. 183). Da, wie Krieger schreibt, »[z]u keiner Zeit und in keinem anderen Land der Welt […] der Kunst größere Wirkmacht zugeschrieben worden [ist] als in Russland im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (ebd., S. 17), bietet sie sich als Untersuchungsgegenstand unbedingt an.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

fen. Der Nachweis lebensräumlich-ökologischer Bildkonzepte in der abstrakten Moderne führt neue Aspekte betreffend Farbe, Licht, Atmosphäre und Rhythmus sowie ein neues Bildmodell in die kunsthistorische Forschung zur Abstraktion ein. Dabei stellt sich gerade das verbindende Merkmal der Abstraktion als problematisch heraus, insofern eine Abgrenzung von Begriffen wie ›abstrahierend‹, ›ungegenständlich‹ und ›konkret‹ im Untersuchungskorpus oft nicht sauber zu bewerkstelligen ist und hier nicht in den Vordergrund gerückt werden soll. Vielmehr wird sich zeigen, wie sich das Modell des lebensräumlichen, ökologisch wirksamen Kunstwerkes bei allen Unterschieden als kleinster gemeinsamer Nenner in der nicht-figurativen Kunst konstituierte. Gängige Implikationen des Abstraktionsbegriffs müssen dabei hinterfragt werden. Sabine Flach identifiziert den Impetus der »Dematerialisation« als entscheidendes Merkmal der Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Abstraktion ist Entzug von Sichtbarkeit und sinnlicher Erfahrung und stellt sich durch den makroskopischen und mikroskopischen Blick ein.«146 In der philosophischen Tradition meint Abstraktion zunächst die »Ablösung von Merkmalen sinnlicher Wahrnehmbarkeit oder anschaulicher Vorstellbarkeit«.147 In der Abstraktion als Denkoperation gehe es darum, »vom sinnlich gegebenen Einzelnen zum Allgemeinen [zu] gelangen«.148 Es war jedoch gerade der Anspruch der hier betrachteten Künstler, etwas sinnlich wahrnehmbar zu machen, das als Äquivalent zu klimatischen Umweltreizen und anorganischen Existenzbedingungen wirksam wird und gar nicht zum Repertoire visuell zugänglicher Wirklichkeit gehört – man denke nur an die Wärme und die Feuchtigkeit der Luft. So abstrahierten die Künstler von einer schon immateriellen Wirklichkeit und machten diese sinnlich zugänglich, indem sie ihr eine Materialität verliehen. Da der Naturbezug dabei erhalten bleibt, wird in dieser Studie am Abstraktionsbegriff festgehalten, anstatt den der Ungegenständlichkeit oder Konkretion zu verwenden. Die ausgewählten Künstlerpositionen hält zusammen, dass sie Kraft und Energie nicht zu repräsentieren, sondern als Wirksamkeit präsent zu machen suchten. Daraus ergibt sich das Verständnis von Bildern als ›Kraft ausstrahlenden Wirk-Organismen‹ (Reinhard Zimmermann)149 beziehungsweise Kraft emanierenden oder bewahrenden Lebensräumen. Eine Abgrenzung ist so zum Biomorphismus vorzunehmen, den die Repräsentation unsichtbarer biologischer Prinzipien beziehungsweise mikro- oder makrokosmischer Strukturen kennzeichnet. Die Untersuchung leistet so einen Beitrag zur Ideengeschichte der Wirkmacht von Bildern, bei der Vorstellungen rund um die vitalisierenden Potentiale 146 | Flach 2005, S. 5. 147 | Ebd., S. 2. 148 | Ebd. 149 | Zimmermann 2005, S. 259; vgl. Kap. 1.1.

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von Kunst in den Fokus rücken. Aus dieser ideengeschichtlichen Anlage der Studie erklärt sich zumindest teilweise, warum keine einzige Künstlerin zu Wort kommt: So übernahmen Künstlerinnen der Zeit kaum den Impetus ihrer männlichen Kollegen, Programmatiken zu veröffentlichen. Zudem ist die Utopie der Erschaffung von Leben durch die schöpferische Arbeit ein traditionell männlicher Diskurs.150 Zu klären ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Status dieser die göttliche Schöpfermacht des Künstlers herausbeschwörenden Bildkonzepte, die in dieser Studie zu einem übergeordneten Modell zusammengefasst werden sollen. Die Beschreibungen der Bilder als Klimata, Sonnenäquivalente oder Lufträume können mit einander verwandten Begriffen wie ›Metapher‹ und ›Analogie‹ gefasst werden.151 Wie der Soziologe Tobias Schlechtriemen problematisiert, werden Metaphern jedoch zumeist reduziert auf ihr Verhältnis zu einem realen Gegenstand, der durch ein übertragenes Bild anschaulicher werden solle.152 Schlechtriemen macht entgegen der bloßen Anschaulichkeit qua Vergleich oder Übertragung die Produktivität und epistemische Funktion von Metaphern stark: »Die Bilder (Metaphern) generieren und fokussieren Wissen. Es liegt daher nahe, nach ihrem Modellcharakter zu fragen«.153 Am Beispiel der Metapher der Gesellschaft als Organismus in der Soziologie arbeitet er heraus, wie diese Metapher einen abstrakten Gegenstand, der als ganzer sonst ungreif bar erscheint, zu erklären verspricht.154 Schließlich besteht das Wesen des Modells darin, mittels Abstraktion »relevante Charakteristika« eines Gegenstandes zu definieren.155 Diese implizieren Annahmen über die Funktionsweisen des jeweiligen Gegenstandes, die gerade für die zu untersuchenden Bildkonzepte von größter Relevanz sind.156

150 | Im Kontext ihrer Habilitationsschrift zur Anti-Ästhetik der russischen Moderne trifft Krieger eine ähnliche Diagnose (Krieger 2006, S. 38). Zum Topos des göttlichen Künstlers vgl. Kap. 2.2, 5.4. 151 | Die Analogie ist ein konstitutiver Teil einer jeden Metapher, dazu siehe Coenen 2002, siehe weiterhin: Burdorf u.a. 2007, S. 494f. sowie Nünning 2013, S. 22, S. 517f. und fortführend S. 518-520. 152 | Schlechtriemen 2008, S. 73. 153 | Ebd., S. 80. 154 | Ebd., S. 81. 155 | Ebd. 156 | Vgl. Burchert b (in Vorbereitung): Hier erfolgt exemplarisch eine Betrachtung des Verhältnisses von Metapher und Modell in Anlehnung an Schlechtriemen sowie am Beispiel von Klee und dem Musiktheoretiker Ernst Kurth. Eine Diskussion um die Relevanz der Verwendung von Metaphern in Texten von Künstlerinnen und Künstlern wurde in Anja Zimmermann (Hg.), Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, Berlin 2014 angestoßen und verlangt nach einer systematischen Aufarbeitung.

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

Ob das Metaphorische zur Charakterisierung des Konzepts von der Gesellschaft als Organismus oder auch vom Bild als Lebensraum produktiv ist, scheint fraglich, da es in einem Modus des ›Uneigentlichen‹ verharrt. In dieser Studie wird nicht die Bildhaftigkeit der Vergleiche bildnerischer und ökologischer Wirkpotentiale fokussiert, sondern der Ansatz der Analogiebildung in den Blick gerückt. Dabei wird der Begriff des ›Gleichnisses‹ als Synonym oft zur Anwendung kommen, da dieser in den Schriften etwa von Burchartz, der Bauhauslehrerin Gertrud Grunow und Nebel in diesem Sinne gebraucht wird und keine bloß metaphorische, sondern eine substantielle Beziehung zwischen der Wirkung von anorganischen Umweltphänomenen und Bild zum Ausdruck bringen soll. Aus den Übertragungen der einzelnen Qualitäten und Wirkungen anorganischer Umweltphänomene auf die Medien des Bildes setzt sich in der Zusammenschau das Modell des Bildes als Lebensraum zusammen. Als Lebensraumäquivalente sollten die Bilder eine der anorganischen Umwelt entsprechende Wirksamkeit entfalten. Bei allen Unterschieden zwischen den Künstlerpositionen und den Œuvres konstituiert sich so ein kleinster gemeinsamer Nenner, der ein ökologisches Paradigma in den Wirkungskonzepten der abstrakten Kunst zwischen 1910 und 1960 sichtbar werden lässt. Das ökologische Paradigma speist sich dabei keineswegs nur aus Bezügen der Künstler zu den Wissenschaften der Zeit. In den Bildkonzepten wird der Eklektizismus im Zusammendenken zeitgenössischer und jahrhundertealter Diskurse immer wieder deutlich: Gedankengut der Lebensreform und einer stark esoterisch geprägten Naturphilosophie verbanden sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit sowie historischen Ideen der Philosophie, der Medizin und der Künste. Gesellschaftliche Diskurse, Allgemeinwissen und gründlich Studiertes trafen in den Künstlerschriften häufig zusammen. Die Wissenschaften sollten in diesem Sinne nie als Ausgangspunkt, sondern als Symptom für bestimmte Probleme und Interessen im Rahmen der Kontexte und alltäglichen Diskurse in einem bestimmten Zeitraum betrachtet werden. Insbesondere die Kontinuität klimatheoretischer Konstrukte ist dabei kritisch in den Blick zu nehmen. So zeigen sich in der Definition und Abwertung alles Pathologischen und im Heilsanspruch an die Kunst Parallelen zu biopolitischen Ideologien, die im deutschen Nationalsozialismus folgenreich erstarkten (vgl. Kap. 1.3). Bei den Befunden dieser Arbeit handelt es sich zudem aber auch um Diskurse, die im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nicht nur bekannt, sondern hoch aktuell sind. Denn die Ökologie ist nicht nur aufgrund von Klimawandel und Umweltkatastrophen in aller Munde. Vorstellungen rund um den Zusammenhang von Natürlichkeit und Gesundheit sind seit der Lebensreformbewegung um 1900 nicht verloren gegangen. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen wird auffallen, welche Elemente ökologischen Denkens die Künstler gerade nicht einbezogen, die heute nicht nur aus Umweltdebatten, sondern auch aus einer mit der Ökologie befassten Kunst kaum wegzudenken sind. Dazu gehört die Einsicht in die Rückwirkungen des Menschen auf die natürliche Umwelt, die mit dem vielbe-

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sprochenen Anthropozän in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionen allgegenwärtig ist. Die Lebensräume der hier betrachteten Künstler sind auf sehr problematische Weise hingegen noch ganz unveränderliche Sanatorien und heterotope Energiespender.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschriften In Künstlerschriften und darin formulierten Bildkonzepten finden sich zwischen 1910 und 1960 vielfach Passagen, die auf die Vorstellung des Bildes als Lebensraum hinweisen. Besonders häufig tauchen das Motiv der Weltschöpfung, die Idee einer Bildarchitektur und, damit einhergehend, einer räumlichen Ausdehnung des Bildes auf, die oft mit dem Begriff des Organismus gefasst wurde. Daraus speist sich die Vorstellung, dass die Betrachtenden in die Bilder eintreten können und sich ihnen darin eine zugleich lebendige wie lebenspendende Licht- und Luftatmosphäre eröffnet. Auffallend ist, dass das Element der Erde in diesen Konzepten so gut wie keine Rolle spielte. Dieses war hingegen für den Lebensraumbegriff der Zeit insbesondere im Vorfeld und Kontext des deutschen Nationalsozialismus grundlegend. Der Drang zur Dematerialisierung und die Zuwendung zu immateriellen Kräften in der Abstraktion ließen sich, ebenso wie das Ideal einer geistigen Kunst bei Wassily Kandinsky und Otto Nebel nicht mit dem Erdelement in Einklang bringen, das schließlich mit einem zu überwindenden Materialismus identifiziert wurde.1 In diesem Kapitel werden zunächst die Protagonisten der Arbeit eingeführt, wobei nicht alle Positionen später in gleichem Maße vertieft werden. Umberto Boccioni und Piet Mondrian dienen zur Abgrenzung des Untersuchungskorpus: Boccioni begriff das Bild als Äquivalent zu einer urbanen, technisierten Umwelt. Im 1910 von ihm mit unterzeichneten Manifest der futuristischen Maler war die Rede davon, dass nur jene Kunst »lebensfähig« sei, die »ihre eigenen Elemente in der sie umgebenen Umwelt findet«.2 Es handelte sich dabei nicht um das natürliche Licht, das Klima eines Naturheilortes oder die reine Luft, sondern um das »eiserne[…] Netz der Geschwindigkeit, das die Erde umspannt«.3 Dies steht im 1 | Nach dem Zweiten Weltkrieg bewerteten Otto Piene und die Z ero -Gruppierung das Erdelement ebenfalls negativ und ordneten es dem Krieg sowie dem Schmutzigen, Trüben und Dunklen zu. Zugleich diente es zur Abgrenzung der eigenen Lichtästhetik vom Informel und vom Tachismus (vgl. Piene, »Fragen« (1960), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 113; siehe Kap. 4.6, 7.2.2). 2 | »Manifest der futuristischen Maler« (11.2.1910), in Asholt/Fähnders 1995, S. 12. 3 | Ebd.

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Gegensatz zur Sehnsucht nach einer harmonischen Verbindung mit der Natur, welche die hier in den Fokus gerückten Künstler eint. Zur Bestimmung der zugrundeliegenden Linien ökologischen Denkens folgt auf die Einführung lebensräumlicher Bildkonzepte (Kap. 2.1) ein Einblick in relevante ökologische Diskurse und ihre Rezeption durch die Künstler (Kap. 2.2, 2.4). Der Anspruch, eine licht- und lufthaltige Bildwelt zu schaffen, in welche die Rezipierenden eintreten sollen, beruhte schließlich auf spezifischen Annahmen zum Zusammenhang von Mensch und Umwelt, die auf das Bild übertragen wurden. Die antike Kosmologie konturierte das ökologische Denken der Künstler nach 1900 ebenso wie die Evolutionstheorie, der Haeckel’sche Monismus, der Umweltbegriff Jacob von Uexkülls und die Bioromantik Raoul H. Francés. In diesem Zusammenhang werden Begriffe wie ›Kosmos‹, ›Biozönose‹, ›Ökosystem‹, ›Umwelt‹, ›Lebensraum‹, ›Biosphäre‹ und ›Biotop‹ eingeführt und die Entscheidung für den Begriff des Lebensraumes als übergeordnete Bezeichnung begründet (Kap. 2.3). Ins Detail gehend erfolgt eine Betrachtung wesentlicher Vorstellungen zur Beziehung des Menschen zur Umwelt in den Traditionen der Bioklimatologie – hier vertreten durch Alexander von Humboldt, Friedrich Nietzsche und Willy Hellpach – sowie der Naturheilkunde von Hippokrates bis Arnold Rikli. Weitere Bezüge werden zu ›Gesundheitsarchitekturen‹ seit Leon Battista Alberti und zur Umweltpsychologie in der Folge Gustav Theodor Fechners hergestellt (Kap. 2.5).

2.1 L ebensr äumliche B ildkonzep te Wassily Kandinsky (1866-1944) beschrieb 1938 jedes ›echte‹ Kunstwerk als eigene, »neue, noch nie dagewesene Welt«.4 Schon in seinen Rückblicken erörterte er 1913 seine jahrelange Suche nach einer Möglichkeit »den Beschauer im Bilde ›spazieren‹ zu lassen, ihn zu der selbstvergessenen Auflösung im Bilde zu zwingen«.5 Selbst hatte er diese Erfahrung in den bäuerlichen Holzhäusern seiner russischen Heimat gemacht, die ihn gelehrt habe, sich »im Bilde […] zu bewegen, im Bilde zu leben«.6 In Punkt und Linie zu Fläche schilderte er 1926, dass es möglich sei, »in das Werk zu treten, in ihm aktiv zu werden und seine Pulsierung mit allen Sinnen zu erleben«.7 Das Kunstwerk erscheint so als Architektur, in welche die Rezipierenden eintreten können. Den Bildraum fasste Kandinsky bereits in frühen Jahren als gleichermaßen »lebend« und »lebengebend«.8

4 | Kandinsky, »abstrakt oder konkret?« (1938), in Bill 1963, S. 224. 5 | Kandinsky 1977 (1913), S. 20. 6 | Ebd. 7 | Kandinsky 1973 (1926), S. 13. 8 | Kandinsky, »Heute ist man in der traurigen und glücklichen Lage, über Konstruktion in der Kunst sprechen zu müssen…« (1909/11), in Friedel 2007, S. 350.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

Auch August Macke (1887-1914) konstatierte in den zehner Jahren, dass es ihm darum gehe »[e]in Ding [zu] machen, das lebt, in dem wir leben können«.9 Dieses Zusammendenken von lebendigem Organismus und belebender Umwelt findet sich immer wieder in Künstlerschriften:10 In Über das Geistige in der Kunst bezeichnete Kandinsky das Werk als ein »selbständige[s], geistig atmende[s] Subjekt«,11 das zugleich eine Atmosphäre hervorbringe. Diese Atmosphäre sei »geistig dasselbe wie die Luft«.12 Das Bild wird so als Atemraum vorstellbar, als Phänomen und Qualität der Luft – ein in der »Luft schwebende[s] Wesen« aus Farben und Formen, die »vor- oder zurücktreten und vor- oder zurückstreben«.13 Den Ansatz, »den Betrachter mitten ins Bild«14 zu stellen, äußerte auch Umberto Boccioni (1882-1916) in seiner Programmatik Futuristische Malerei und Plastik von 1914. Das Bild verstand er als »eine ausstrahlende architektonische Konstruktion« sowie eine »emotive architektonische Umgebung, die […] den Betrachter umhüllt«.15 Eine weitere Verbindung zwischen diesen ausgesprochen unterschiedlichen Künstlern gründet im Anspruch, eine atmosphärische Wirkung zu erzeugen. Boccioni sprach von einer »Materialisation des Fluidums, des Ätherischen, des Unwägbaren«.16 So materialisiere sich im Bild etwas eigentlich Immaterielles, Atmosphärisches. Die ätherischen Qualitäten spezifizierte er als »Schwingungen«, »Ausströmungen«, »Dichte«, »Bewegungen« und als »unsichtbares Strahlenfeld«.17 In Boccionis Vision einer zukünftigen Kunst in Form »wirbelnde[r] Architekturen von Tönen und Gerüchen aus farbigen Gasen«18 wird der Ansatz einer künstlerischen Umweltgestaltung evident. Der Vergleich des Bildes mit einer Architektur findet sich bei anderen Künstlern ebenfalls, wenngleich nicht immer so radikal wie bei Boccioni, der einen Ausstieg aus dem Bild vorschlug. Robert Delaunay (1885-1941) sprach mit Bezug auf seine Fensterbilder der zehner Jahre von einer »neuen Bildarchitektur«.19 Otto Nebel (1892-1973) bezeichnete das abstrakte Kunstwerk als »Weltbau im Welt9 | »Notizen August Mackes zur Kunst« (o.J.), zit.n. Vriesen 1957, S. 257 [Herv. d. Verf.]. Alle Hervorhebungen, die nicht mit [Herv. d. Verf.] gekennzeichnet oder anderweitig kommentiert sind, wurden entsprechend aus der zitierten Quelle übernommen. 10 | Zum Verhältnis von Organismus- und Lebensraumbegriff vgl. Kap. 1.1, 1.3. 11 | Kandinsky 1952 (1911), S. 132. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 111. 14 | Boccioni 2002 (1914), S. 153. 15 | Ebd., S. 154. 16 | Ebd., S. 196. 17 | Ebd., S. 197. 18 | Ebd., S. 199. 19 | Delaunay, »Fragments, notes« (1923/24), in Francastel/Habasque 1957, S. 102: »l’architecture nouvelle du tableau«. Alle Übersetzungen der Textstellen aus Francastel/ Habasque 1957 stammen von der Verfasserin.

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bau«.20 František Kupka (1871-1957) beschrieb, wie die Betrachtenden in den »malerischen oder bildhauerischen Organismus […] wie durch eine offene Tür« eindringen.21 Das Bild erscheint hier zugleich als architektonischer Raum und als Organismus. Kupka begriff dabei, ähnlich wie Boccioni und Kandinsky, die Arbeit am Bild als die Erzeugung eines Luftraumes: Die Komposition könne etwa das Gefühl hervorrufen, »keine Luft oder umgekehrt zu viel Luft zu bekommen«.22 Auch Paul Klee (1879-1940) stellte sich Bilder als Lufträume vor. Im Aufsatz »Schöpferische Konfession« beschrieb er 1920 die Kunst als »Villegiatur [sic!]« und Möglichkeit, »die Luft zu wechseln«, um sich »in eine Welt versetzt zu sehen, die ablenkend Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags«.23 Dabei stellte Klee eine Verbindung zur neuzeitlichen Villenarchitektur her.24 Bei ihm erscheinen Bilder als Lebensräume, in welchen die Rezipierenden das Äquivalent zu einem heilsamen »Sommeraufenthalt« (villeggiatura)25 erfahren können. Johannes Itten (1888-1967) erhoffte sich ebenfalls, dass die Betrachtenden seiner und anderer Werke in die Bilder »hineinschreiten«.26 Er hob die »lebenswirkend[e]« Kraft des Bildes hervor, wenn es »ein organisches Ganzes, eine in sich geschlossene, in sich bestehende Welt ist«.27 Die Vorstellung des Organismus als Äquivalent zu einer belebenden (Um-)Welt wird bei ihm evident. Die Betrachtenden sollten sich im Bildorganismus »als Einzelwesen« ganz aufgeben und »als Funktion des Bildes« fühlen.28 Die Auflösung der Grenze zwischen Bild und Betrachter/-in stellt die Voraussetzung für die Erfahrung des Bildes als Lebensraum dar. Der Mensch müsse, so Itten, nicht ins Bild gemalt werden, sondern die Fähigkeit entwickeln, »sich selber hineinzustellen in das Bild oder das Bild als Teilbetrag, als Ergänzung zu sich selbst zu fühlen«.29 Für Max Burchartz (1887-1961) nahm die Erzeugung von Lebensräumen eine besondere Rolle ein. Der Lehrer an der Folkwangschule Essen schrieb 1949: »Die Bauplastik und alle angewandte Malerei, auch die Gestaltung von Gerät jeder Art und der Kleidung, sind Teilaufgaben des Willens, die Umgebung des mensch-

20 | Nebel 1931, S. 14. 21 | Kupka 2001 (1923), S. 154. 22 | Ebd. 23 | Klee 1920, S. 39f. 24 | Moewes 1980, S. 617-729; vgl. Kap. 2.5, 3.1.1. Im selben Text verglich Klee den Betrachtenden mit einem weidenden Tier und stützt so das Verständnis des Bildes als ländlicher Lebensraum (Klee 1920, S. 34). 25 | Moewes 1980, S. 650. 26 | Itten, Tagebucheintrag vom 12.5.1917, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 50. 27 | Itten, »Umwelt und Mensch« (1916), ebd., S. 211. 28 | Itten, Tagebucheintrag vom 16.8.1918, ebd., S. 59. 29 | Ebd.

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lichen Daseins als Lebensraum einzurichten«.30 Hier fällt zum ersten Mal explizit der Begriff des Lebensraumes, allerdings mit Bezug auf die Architektur und die angewandte Kunst, denen sich Burchartz in den Dreißigern und Vierzigern hauptsächlich widmete. Lebensräumliche, insbesondere klimatologische Konzepte waren für seine malerischen Kompositionen in den fünfziger Jahren jedoch gleichermaßen grundlegend. Fern vom Bauhaus und der Folkwangschule beschrieb Yves Klein (1928-1962) seine Kunstwerke als klimatische Atmosphären und Lufträume. Als Ziel seiner künstlerischen Arbeit definierte er die Erzeugung von Klima.31 In seinen späteren Architekturvisionen strebte er gemeinsam mit dem Architekten Werner Ruhnau (1922-2015) die Herstellung eines künstlichen Edens in Form eines idealen, technisch erzeugten Klimaraumes an. Diese Utopie fußte auf seinen zuvor am Bild entwickelten Konzepten. Ähnliches lässt sich über den Zero-Künstler Otto Piene (1928-2014) sagen. Er sprach davon, dass Zeros »Gebilde bevölkert werden« können32 – das Bild entspreche einer »Bleibe«.33 Die Bildbetrachtenden stünden für den Menschen, der »einen Ort hat« und sei so dem »Wandernden, der die großen neuen Räume durchmißt«, entgegenzusetzen.34 Damit deutete Piene den Ausstieg aus dem Bild hin zu umfassenden Environments an. Piene, Klein und Heinz Mack (*1931) diskutierten etwa die Idee eines neuen Museums, das nur aus in Blau oder Silber angestrichenen Räumen bestehen und in ein Schwimmbad verlegt werden sollte: »Das Publikum müßte die Gelegenheit haben, im Museum zu übernachten, zumindest aber ungehindert vor Bildern zu schlafen und […] aufzuwachen«,35 so Piene. In diesem Sinne schrieb auch Günther Uecker (*1930) davon, dass es keinen Sinn ergebe, neue Museen zu errichten, sofern diese nicht »zu einem neuen 30 | Burchartz 1949, S. 67. 31 | Klein, »L’aventure monochrome« (1958), in Semin/Sichère 2003, S. 236: Klein sprach von »climats sensibles«. Alle Übersetzungen der Textstellen aus Semin/Sichère 2003 stammen von der Verfasserin. Von »atmosphere« und »climate« handelte auch Josef Albers (1888-1976), der als einstiger Bauhäusler und späterer Exilant eine wichtige Brücke zwischen Europa und den USA darstellt. Dazu siehe Hans Joachim Albrecht, »Von malerischer Freiheit in konstruktiver Kunst am Beispiel von Josef Albers und Richard Paul Lohse«, in: Christoph Wagner/Gerhard Leistner (Hg.), Vision Farbe. Adolf Hölzel und die Moderne, München 2015, S. 219-243. Jedoch findet sich bei Albers offenbar kein Begriff des Bildes als Lebensraumäquivalent. 32 | Piene, »Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung Mack – Piene – Uecker im Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld, Haus Lange« (1963), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 133. 33 | Piene, »Wege zum Paradies« (1963), in ZERO 3, o.S. 34 | Ebd. 35 | Piene, »Vergangenes – Gegenwärtiges – Zukünftiges« (1960), in Ausst.-Kat. KestnerGesellschaft Hannover 1965, S. 116.

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Lebensraum werden«.36 Es gehe darum, »Projekte zu verwirklichen und bewohnbar zu machen«: »Wir sollten uns aus unseren Gehäusen begeben, um unsere Umwelt zu verwandeln […]«.37 All diese Ideen entstanden aus der Weiterentwicklung lebensräumlicher Bildkonzepte. Gerade in der US-amerikanischen Farbfeldmalerei der fünfziger und sechziger Jahre wurden parallel zu Zero Bild- und Wirkungskonzepte entwickelt, welche das Kunstwerk als Umwelt fassten. So sprach Mark Rothko (1903-1970) von seinen abstrakten Arbeiten als »environment[s]«.38 In einem Artikel beschrieb er 1951, ähnlich wie Itten, den Eintritt in den Bildraum als eine Negation der Grenze zwischen Betrachter/-in und Bild, und als Abgabe von Kontrolle: »[Y]ou are in it [the picture]. It isn’t something you command«.39 Bereits in seinem 1940 entstandenen Manuskript The Artist’s Reality. Philosophies of Art heißt es: »Actually, the artist invites the spectator to take a journey within the realms of the canvas«.40 Aus dem Bild könne ferner Leben gezogen werden, es eröffne ein »environment in which the breath of life can be drawn«.41 Ganz ähnlich wie Kandinsky, Boccioni, Kupka und Klee stellte Rothko sich das Bild als ›atmenden‹ und ›atembaren‹ Luftraum vor. Auch Nebel hatte davon gesprochen, dass Farben einen »Atemraum« und eine »Lufthülle« ausbilden.42 Rothko verwendete 1954 dafür die Begriffe der »breathingness« und »breathability«.43 Nicht nur ein Luftgehalt von Bildern war Teil der ökologischen Konzepte. Delaunay hatte seine Werke als strahlende Sonnenäquivalente bezeichnet44 und der kaum bekannte Sturm-Künstler Nikolaus Braun (1900-1950) behauptete, dass er Höhensonnen in seine Lichtarbeiten eingebaut habe.45 Das Licht als biologische Lebensquelle spielte auch bei allen anderen Künstlern eine wichtige Rolle, besonders bei Kandinsky, Kupka, László Moholy-Nagy (1895-1946) und Piene. Daraus ergibt sich die Differenz zu anderen künstlerischen Ansätzen der Zeit, die Kunst und Leben ineinander aufgehen lassen wollten. So kann die Gestaltung und Veränderung der Umwelt durch künstlerische Mittel im Zeitraum zwischen 36 | Uecker, Notiz von 1959, ebd., S. 163. 37 | Ebd. 38 | Rothko 2004, S. 8. 39 | Rothko, »How to Combine Architecture, Painting, and Sculpture« (1951), in LópezRemiro 2006, S. 74. 40 | Rothko 2004, S. 47. 41 | Rothko in einem undatierten Briefentwurf an Clyfford Still, abgedruckt in Ross 1990, S. 170. 42 | Nebel, »Vom Wesen und Geiste neuer Kunstmalerei« (1936), in Radrizzani 1988, S. 276. 43 | Rothko zit.n. O. Wick 2008, S. 26 (Fußnote). Diese Zitate stammen aus dem unveröffentlichtem Skizzenbuch »The Property of (A. Seltzer & Co., Inc.)«, 1954, MRF Arch. 44 | Delaunay in einem Brief an August Macke 1913, zit.n. Vriesen 1992 (1967), S. 151f. 45 | Braun 1924, S. 113.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

1910 und 1960 zwar nicht ohne Piet Mondrian (1872-1944) und De Stijl (1917-1931) gedacht werden, jedoch ist Mondrians Konzept, ähnlich wie Boccionis, von ökologischen, naturnahen Impulsen anderer Künstler deutlich zu unterscheiden. Moholy-Nagy hat eine Art Scharnierstatus inne: Er stand De Stijl nahe, begriff Kunst aber im Gegensatz zu den Mitgliedern der Gruppe als ein biologisches Mittel, »die Substanz des Lebens [zu] vermitteln«.46 Er strebte eine lebensräumliche Kunst an, die im »Gesamtwerk« kulminieren47 und atmosphärische Umwelten aus Licht und Rhythmus eröffnen sollte. Zugrunde liegt bei ihm und den anderen hier untersuchten Künstlern so die Annahme einer ökologischen Verbindung von Rezipient/-in und Kunstwerk, aus der sich das Modell des Bildes als Lebensraum konstituiert.

2.2 Ö kologische D iskurse seit der A ntike Die Geschichte des ökologischen Denkens beginnt nicht erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Definition der Ökologie als wissenschaftliche Disziplin durch Ernst Haeckel (1834-1919). Der Begriff ›ökologisch‹ war etwa im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert gebräuchlich.48 Gemäß dem Wissenschaftshistoriker Ludwig Trepl ist die Idee des ökologischen Ganzen und des ökologischen Systems sogar bis auf die antike Kosmologie zurückzuführen, denn in der frühen Ökologie habe man versucht, »die Essenz der Kosmosidee zu retten«.49 Der Kosmos als Inbegriff eines wohlgeordneten Ganzen impliziert die Vorstellung einer natürlichen Harmonie und umfasst viel mehr als nur die Umwelt im Sinne von Flora und Fauna, Atmosphäre- und Bodeneigenschaften. In der Logik von Mikro- und Makrokosmos bilde er die ideale, zweckmäßige Ordnung der Natur, die sich im Einzellebewesen und den Taten des Einzelnen ebenso spiegele wie im Universum, und dabei mit einem »Orientierungswissen« sowie Ideen vom guten Leben verbunden sei.50 Politisch-gesellschaftliche und geistig-metaphysische Dimensionen der harmonischen Weltordnung fielen im ökologischen Denken des frühen 20. Jahrhunderts keineswegs weg. So zeigt sich in der Klimatheorie und der Umweltpsychologie, dass Überlegungen zum Einfluss der Umwelt auf den Menschen gesellschaftspolitische Dimensionen einschlossen, die etwa mit sozialdarwinistischen Ideologien in Verbindung standen. Auch Konzepte des guten, friedlichen Zusammenlebens 46 | Moholy-Nagy zit.n. S. Moholy-Nagy 1969 (1950), S. 25. Eine Untersuchung der Nuancen in der Vorstellung von Farbe als Lebenskraft bei Moholy-Nagy, Mondrian und Piene erfolgt in Kap. 3.8. 47 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 15. 48 | Harras/Haß/Strauß 1989, S. 490. 49 | Trepl 1994, S. 81. 50 | Ebd.

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blieben im Rahmen der Lebensreform ein wesentlicher Bestandteil ökologischen Denkens. Die Befassung mit den »Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt« und den »Existenz-Bedingungen« von Organismen nach der Ökologiedefinition Haeckels51 war Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs neu. Wenngleich nicht auf der Grundlage der modernen Chemie und Physik wurden die von Haeckel angeführten, lebensnotwendigen Umweltfaktoren – »die physikalischen und chemischen Eigenschaften [des] Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Electrizitäts-Verhältnisse der Atmosphäre)«52 und dergleichen mehr – bereits in der antiken Elementenlehre verhandelt. Diese brachte auch Farbtheorien hervor, die für die künstlerischen Lebensraumkonzepte eine fruchtbare Tradition darstellten. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert ordnete Empedokles den vier Farben Weiß, Schwarz, Rot und Ockergelb die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde zu.53 Auch Aristoteles entwarf eine solche Ordnung rund ein Jahrhundert später.54 Dabei ging er davon aus, dass die Welt nur existieren könne, »weil eine Mischung (›mixis‹) verschiedener Elemente bzw. auf elementarer Ebene die Verbindung heterogener Qualitäten« bestehe.55 Leon Battista Alberti nahm im 15. Jahrhundert diese antike Tradition auf und teilte die Farben den Elementen folgendermaßen zu: Rot dem Feuer, Azurblau der Luft, Grün dem Wasser, Blei- oder Aschgrau der Erde.56 Zugleich forderte er, »alle Elementarfarben im Bild zu versammeln«, um so »die harmonia mundi der Elementenmischung wider[zu]spiegeln«.57 Die Betrachtung der Farben als elementare, klimatische Qualitäten der Wärme (Feuer), Kälte (Luft), Feuchtigkeit (Wasser) und Trockenheit (Erde) wurde von einigen Künstlern im 20. Jahrhundert aufgegriffen (Kap. 2.5). Die moderne Ökologie rekurrierte noch in anderer Hinsicht auf antike Vorstellungen und stieß unter anderem deshalb auf das Interesse von Künstlern: Die monistische Auffassung einer Einheit allen Lebens sowie in besonderem Maße von Leib und Seele wurde von Haeckel und anderen Naturforschern übernommen.58 Haeckels Anspruch war es, sowohl physikalische – materielle und energetische – als auch psychische Prozesse und Phänomene auf Basis des Monismus 51 | Haeckel 1866, S. 286; ausführlich zitiert in Kap. 1.4. 52 | Ebd. 53 | Nur die Zuordnung von Weiß zu Feuer und Schwarz zu Wasser sollen dabei eindeutig überliefert sein: Lersch 1981, S. 158. 54 | Ebd. In der Alchemie spielten diese Zuordnungen im Zusammenhang mit Lebensund Heilskonzepten eine zentrale Rolle (siehe Leonhard 2013, S. 287-304). 55 | Fehrenbach 2005, S. 15. 56 | Lersch 1981, S. 183. 57 | Fehrenbach 2005, S. 8. Dieses Modell findet sich auch beim italienischen Maler Matteo Zaccolini im 17. Jahrhundert (siehe Leonhard 2013, S. 236). 58 | Mueller 2006, S. 35.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

zu erklären.59 Demzufolge wurden »Geist und Bewusstsein […] als höhere Organisationsformen der Materie eingestuft« und in das System der Natur integriert.60 Haeckel ging von einer Beseelung aller organischen wie anorganischen Dinge aus,61 was ›seinen‹ Monismus anschlussfähig für esoterische Kunstkonzepte machte. Bei Rudolf Steiner (1861-1925), Begründer der Anthroposophie, kam die Haeckel-Rezeption, wie Robert Jütte aufzeigt, etwa im »spirituelle[n] Begreifen der Ganzheit des Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit vor dem Hintergrund eines räumlichen und zeitlichen Eingebundenseins in die rhythmische Dynamik des Kosmos« zum Tragen.62 Ein frühes Bindeglied zwischen Monisten und Künstlerkreisen war auch der Zirkel um Stefan George, Karl Wolfskehl und Stefan Zweig um die Jahrhundertwende.63 In der Idee des Kosmos selbst sind Verbindungen zum Künstlertum seit jeher angelegt. Die Musik als oberste, mathematische Wissenschaft gilt gemäß der pythagoreischen Tradition als Sinnbild der Wohlordnung im Kosmos. Musik war für ökologische Konzepte in der abstrakten Kunst im Rahmen dieser Denktradition von ausgesprochener Relevanz (vgl. Kap. 6.3.2). Auch die Auffassung der natürlichen Ordnung als architectura und fabrica, als wohlkonstruiertes Gebäude,64 bot Anknüpfungspotential. Das antike Naturverständnis war eng mit Ideen des Handwerkes und der kreativen Schöpfung verbunden.65 In Platons Timaios ist es der göttliche Handwerker, der Demiurg, der die Natur als ewige Ordnung eingerichtet hat. Er steht paradigmatisch für die Idee des göttlichen Künstlers.66 Dieses Verständnis des Künstlers als Schöpfer neuer Welten findet sich in der Moderne vielfach:67 Es kam im vorhergehenden Unterkapitel auch im Rekurs auf die Architektur immer wieder zur Geltung – etwa bei Wassily Kandinsky, Johannes Itten, Paul Klee, Otto Nebel und Yves Klein. Auf der antiken Auffassung des Kosmos als harmonisches System fußt weiterhin die Vorstellung vom natürlichen Gleichgewicht, die bis heute geläufig ist. In Carl von Linnés (1707-1778) Ausdruck der Oeconomia naturae verkörpert sich das Idealbild einer harmonisch geordneten Natur.68 Voraussetzung für die Entstehung der modernen Ökologie war dagegen die Einsicht in die Veränderlichkeit 59 | Ebd., S. 44. 60 | Pilick 2006, S. 132. 61 | Vgl. Breidbach/Weber 2006, S. 159. Die Autoren beziehen sich auf Haeckels Kristallseelen, Leipzig 1917. 62 | Jütte 1996, S. 238. 63 | Botar 1998, S. 345; vgl. Kap. 1.1. 64 | Eusterschulte 2002, S. 114. 65 | Graeser 1989, S. 21. 66 | Zum Künstler als gottgleicher Person siehe Kris/Kurz 1995 (1934), 84f. Zur Schöpfungsvorstellung Platons vgl. Platon 1992 (4. Jhd. v. Chr.), S. 29-57. 67 | Vgl. Kap. 2.1 und Krieger 2006, S. 24f. 68 | Vgl. Trepl 1994, S. 81.

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der Natur, die im antiken Denken in dieser Form nicht angelegt war, und die das Streben nach Harmonie und Gleichgewicht umso dringlicher werden ließ. Die Evolutionstheorie, die von Charles Darwin (1809-1882) maßgeblich mitentwickelt wurde, verwandelte das Verständnis der Beziehung von Lebewesen zu ihrer Umwelt grundlegend. Mit der Evolutionslehre geriet im 19. Jahrhundert der Einfluss natürlicher Gegebenheiten auf Organismen in das Interesse der Forschung. Damit wurden, wie Trepl zusammenfasst, »die Lebewesen selbst als Resultate« ihrer Beziehung zur Umwelt begriffen.69 Es waren von Darwins Erkenntnissen abgeleitete Ideologien, die zu einer Popularisierung, Verallgemeinerung sowie Erweiterung des Nachdenkens über Einflüsse der natürlichen und der kulturellen Umwelt auf den Menschen beitrugen. Das evolutionstheoretische Wissen der Künstler speiste sich im 20. Jahrhundert aus verschiedenen Quellen. Gesellschaftsbezogene Evolutionskonzepte finden sich bei Itten im Zusammenhang mit der Mazdaznan-Lehre (Kap. 5.4)70 und bei Klein im Kontext klimatheoretischer sowie rosenkreuzerischer Ideen (Kap. 5.5.3). Die Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien erfolgte so auch über esoterische Schriften wie die Geheimlehre (1888) Helena Blavatskys, welche lange Abhandlungen zu Evolutionstheorien von Darwin bis Haeckel enthält.71 Blavatsky wurde von Itten, Kandinsky und František Kupka rezipiert. In Kandinskys Bibliothek befand sich zudem ein Band der Reihe Die Kultur der Gegenwart: Ihre Entwicklung und ihre Ziele (1914) zum Thema Physiologie und Ökologie, dem er Grundwissen der Botanik seit Linné und Darwin entnehmen konnte.72 Ein naturwissenschaftlich geprägtes Interesse für den Zusammenhang von Organismen und Umwelt wird in Kupkas Die Schöpfung in der bildenden Kunst besonders deutlich. Darin bezog er sich auf den Kampf um Ressourcen und Lebensraum: »Jeder lebendige Organismus, sei er nun einfach oder kompliziert, kann nicht ohne ständige Aufnahme von Nahrung auskommen. Jeder assimiliert auf seine Art Stoffe, die er aus der Umgebung aufnimmt. Die molekulare Erneuerung besteht also in der Eroberung des Raums, in der Besitzergreifung von Teilen der Umwelt. Die Lebensfähigkeit eines jeden Organismus zeigt sich durch eine ständige Bewegung […]. Es ist ein Kampf des Organismus mit der Umwelt, die Feinde gegen ihn ausschickt. […] Die Suche nach Nahrung, die Sorge um Erhaltung, die allen physiologischen Einheiten eigen ist, ist der eigentliche Grund der offensiven wie defensiven Ausrichtung.« 73

69 | Ebd., S. 72f. 70 | Dazu siehe Burchert a. 71 | Vgl. Ferus 2002, S. 86. 72 | Vgl. Kandinsky, undatiertes Typoskript, in Weißbach 2015, S. 524. Siehe außerdem Burchert 2018b. 73 | Kupka 2001 (1923), S. 57.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

Aus dieser Passage spricht ein krisenhaftes Verhältnis zur Natur, das eine gelungene Anpassung an die Umwelt, aber auch ein veränderndes Eingreifen in diese für notwendig erklärt: »Jeder Organismus muß, um die der Umwelt entnommene vitale Kraft nutzen zu können, sie verändern und sich selbst anpassen. Umgekehrt ändert die Umwelt den Organismus und erlaubt ihm, sich nur innerhalb jener Grenzen zu entwickeln, die durch den Kampf dieser beiden Einflüsse festgelegt werden«.74 Der Begriff der Umwelt wurde in seiner modernen Bedeutung vom Zoologen und Biophilosophen Jakob von Uexküll (1864-1944) geprägt. Uexküll vertrat die Ansicht, »dass jede Spezies mit dem Milieu, in dem sie lebt, ein zweckmäßiges Ganzes bildet«.75 Er ging davon aus, dass alle Lebewesen »mit der gleichen Vollkommenheit in ihre Umwelten eingepaßt« seien.76 In Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten bezog er, darauf weist schon der Titel hin, seine Theorien auch auf den Menschen. Später wird noch deutlicher, dass der harmonische Einklang mit der Natur für Kupka und zahlreiche andere Künstler ein grundlegendes Ideal darstellte, das keineswegs selbstverständlich war, sondern an dem es, auch mittels der Kunst, zu arbeiten galt (Kap. 2.4). Eine Uexküll-Rezeption ist bislang insbesondere für Architekten im Sturmund Bauhauskontext nachgewiesen worden.77 Adolf Behne setzte sich in zwei Sturm-Artikeln – »Deutsche Expressionisten« (12/1914) und »Biologie und Kubismus« (9/1915) – mit der Umweltlehre auseinander. Er fasste Uexkülls Gedanken folgendermaßen zusammen: »Jedes Lebewesen hat zwei Welten: eine Merkwelt und eine Wirkungswelt. Die Merkwelt schafft es sich durch die besondere Beschaffenheit seiner Sinnesorgane. Die Wirkungswelt ist bestimmt durch seine Bewegungs- und sonstigen äußeren Organe. Die Wirkungswelt der Tiere ist weit größer als ihre Merkwelt.« 78

Jede Art habe demnach ihre eigene, spezifisch wahrgenommene Umwelt, wirke aber zudem auf die Umwelten anderer Lebewesen. Das Erleben trat in dieser »qualitative[n] Umweltlehre« 79 in den Vordergrund, und damit auch die sinnliche Erfahrung: »So ergibt sich ein Weltbild von einer ungeheuren Beweglichkeit und Vieldeutbarkeit, ein in seiner Fülle herrlicher Kosmos, eine unendliche, in ihren zahlosen [sic!] Funktionen schwin74 | Ebd. 75 | Bernhard 2005, S. 31. 76 | Kriszat/von Uexküll 1970 (1933), S. 12. 77 | So etwa für Mies van der Rohe (Botar 1998, S. 229), Adolf Behne (ebd., S. 232) und László Moholy-Nagy (ebd., S. 328f.). 78 | Behne 1915, S. 70. 79 | Nennen 1991, S. 87.

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Das Bild als Lebensraum gende Welt. An ihr zersplittert jeder Rationalismus und jede Rezeptwissenschaft. Das ist eine Welt, die wir erleben, die unsere Phantasie erregt, wieder zu unseren lebendigen Sinnen spricht und uns von der Kälte registratorenhafter Ueberlegenheit erhebt zur Wärme einer religiösen Bindung.« 80

Der kubistische Künstler verortet sich Behne zufolge »mitten unter den Dingen« – diese »umschließen ihn ringsum, ihre Fülle beglückt ihn, ihr niemals ruhendes, stets bewegtes, rätselhaftes, autonomes Leben ist wie ein Rausch«.81 Die Rede vom Eingeschlossensein sowie das Primat der sinnlichen Wahrnehmung, der Ganzheitserfahrung und einer quasi-religiösen Bindung an die Natur zeugen vom bioromantischen Impetus des Sturm-Kreises in dieser spezifischen Ausdeutung Uexkülls.82 Auch am Bauhaus wurde die Umweltlehre rezipiert. So lud Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) Helmuth Plessner (1892-1985) nach Dessau ein, der dort über Uexkülls Ideen sprach83 und eigene Überlegungen zur Wahl von Begrifflichkeiten wie ›Umwelt‹ und ›Lebensraum‹ anstellte. Sehr präsent war neben Uexküll und Plessner auch der Botaniker Raoul H. Francé in künstlerischen und kunstnahen Diskursen.84 Dieser hatte in den zwanziger Jahren den Terminus der ›Biozönose‹ popularisiert, um Lebensräume zu beschreiben.

2.3 B egriffsdiskussion : B iozönose , U mwelt, L ebensr aum , B iosphäre Bisher kam schon eine ganze Reihe an Begriffen zur Sprache, welche alle die Verortung von Lebewesen in der Natur fassen. Dazu gehören ›Kosmos‹, ›Umwelt‹, ›Lebensraum‹ und ›Biozönose‹. Ergänzen lassen sich ›Biosphäre‹, ›Biotop‹ und ›Ökosystem‹. Es gilt also zu klären, warum gerade der hoch problematische Begriff des Lebensraumes für das hier untersuchte Bildmodell am passendsten erscheint.

80 | Behne 1915, S. 70. 81 | Ebd. 82 | Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Kunstreligion in Kap. 1.3. Zum Zusammenhang von Expressionismus und Religiosität, siehe weiterführend: Wolf-Dieter Dube, »Zeichen des Glaubens – Expressionismus«, in Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde: religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Schloss Charlottenburg Berlin, Stuttgart 1980, S. 101-109 sowie Kristin Eichhorn/Johannes S. Lorenzen, Religion, Reihe Expressionismus 3, Berlin 2016. Zur Bioromantik vgl. Kap. 1.2. 83 | Eggelhöfer 2014, S. 151. 84 | Siehe weiterführend Kap. 2.4.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

Der Begriff des Lebensraumes war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr virulent und eng mit politischen Diskursen verbunden.85 Geopolitische Kampfausdrücke wie ›Volk ohne Raum‹, ›Lebensraum im Osten‹ sowie ›Blut und Boden‹ verknüpften unter diesem Oberbegriff biologische Gesetzmäßigkeiten mit kulturellen Entwicklungen.86 Den alternativen Begriff ›Biozönose‹ übernahm der Haeckel-Schüler Raoul H. Francé vom Zoologen Karl August Möbius (1825-1908). Der Begriff bezeichnet die »Lebensgemeinschaft« der »Pflanzen- und Tiergesellschaft«.87 Da sich die hier untersuchten Künstler hingegen vorrangig für die abiotischen Existenzbedingungen interessierten, erscheint der Begriff ungeeignet. Francés Konzept blendet das Anorganische zwar keineswegs aus, setzt einen großen Schwerpunkt aber auf die Beziehungen von Lebewesen zueinander. Die Idee der Biozönose wird daher als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erforschung von Ökosystemen gehandelt.88 Das Wort ecosystem soll erstmals 1935 vom englischen Geobotaniker Arthur G. Tansley benutzt worden und ausgehend davon ins Deutsche übersetzt worden sein.89 Gebräuchlich wurde es erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Als Ökosysteme werden »Wirkungsgefüge von Lebewesen und ihrer Umwelt« bezeichnet.90 Die erste Linie der Ökosystemforschung fokussiert »Anpassungsmechanismen der Organismen […] an wechselnde rhythmische, aber auch arhythmische Umwelteinflüsse«.91 Die zweite legt ihren Schwerpunkt auf Lebewesen in »einzelnen abgrenzbaren Lebensbereichen« und die »Wechselbeziehungen zwischen Arten und Faktoren im System« im Sinne einer »Systemökologie«.92 Der Begriff des Ökosystems ist streng naturwissenschaftlich geprägt und hebt auf die Analyse natürlicher Systeme ab. Daher legt er andere Dimensionen ökologischen Denkens – Konzepte des guten Lebens, das Zusammenwirken von Körper und 85 | Vgl. Wolter 2003, S. 18. In ihrer Staatsexamensarbeit vollzieht Heike Wolter die Lebensraumvorstellungen in Geopolitik, Literatur und Politik am Beispiel Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers nach. Sehr interessant mit Blick auf die vorliegende Studie ist, dass Haushofer wiederholt vom Lebens- und Atemraum sprach, besonders deutlich wird dies in seinem Artikel »Atemweite. Lebensraum und Gleichberechtigung auf Erden« (1934). Zum Topos des Atems siehe Kap. 5. 86 | Dazu siehe Wolter 2003. 87 | Haß/Harras/Strauß 1989, S. 446. Vgl. den Abschnitt zur ›Biozönose‹ in Francé 1922, S. 11-22. 88 | Botar 2004, S. 528. 89 | Camarasa/Folch 2000, S. 109. Bereits 1928 veröffentlichte allerdings der deutsche Zoologe und Hydrologe Richard Woltereck (1877-1944) die Schrift Über die Spezifität des Lebensraumes, der Nahrung und der Körperformen bei pelagischen Cladoceren und über ›Ökologische Gestaltsysteme‹. 90 | Eisenhardt 2008, S. 10. 91 | Bährmann 2006, S. 99. 92 | Ebd., S. 100f.

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Das Bild als Lebensraum

Seele sowie das sinnliche Erleben – nicht nahe, und erscheint daher unpassend.93 Früh allerdings wurde die Vorstellung ökologischer Systeme auf kulturelle, mediale und seit den sechziger Jahren auch künstlerische ›Umwelten‹ bezogen. In diesem breiten Sinne des wird das Prinzip der Ökologie zur Beschreibung der Bildwirkungen verwendet. ›Umwelt‹ bietet sich als Oberbegriff besonders an, zumal er in der Kunstgeschichte durch den Gattungsbegriff des Environments wenige Jahrzehnte nach dem Untersuchungszeitraum dieser Studie zu einem feststehenden Terminus wurde. Zuvor fand er bereits in Künstlerschriften Verwendung, allerdings noch nicht mit Bezug auf die Kunstwerke.94 In der Uexküll-Rezeption des Sturm-Essayisten Adolf Behne wurde Umwelt sehr allgemein als sinnlicher Erfahrungsraum konturiert.95 Helmuth Plessner hatte den Begriff dahingehend problematisiert, als dass dieser vor allem eine »Außenwelt« bestimme und diese in Gegensatz zur »Innenwelt« setze.96 Er prägte seinerseits in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) den Begriff der »Positionalität«.97 Gemäß Plessner zeichnen sich Lebewesen dadurch aus, dass sie über eine Grenze verfügen, die ihre Beziehung mit der Umwelt fundiert. Diese Beziehung vollziehe sich in Prozessen der Assimilation und Dissimilation, also dem »Stoff- und Energieaustausch mit der umgebenden Natur«. 98 Eben dieses lebensnotwendige Eindringen äußerer Phänomene in das Innere eines Organismus wird im Begriff der Umwelt semantisch nicht abgebildet. Mit der Wahl des Lebensraumbegriffs sollen die Bedingungen des Lebens sowie Aspekte der Belebung und Stärkung durch anorganische Umwelteinflüsse in den Fokus gerückt werden. Plessner schlug Begriffe wie ›Positionsfeld‹ und ›Sphäre‹ vor, wodurch er dezidiert die zeitliche Komponente gegenüber der räumlichen zu betonen suchte:99 »Er [der Lebensraum] umfaßt alles nach Stärke und Qualität, was möglicherweise auf ihn [den Organismus] wirken und von ihm 93 | Dazu siehe Kap. 7.2.1. 94 | 1916 verfasste Johannes Itten einen Artikel mit dem Titel »Umwelt und Mensch«, in dem der Begriff der Umwelt im Sinne der Außenwelt und ihrer Reize verwendet wird (in A. Itten/Rotzler 1972, S. 211). Max Burchartz spricht immer wieder von einer wirksamen Umwelt, wobei er ›Lebensraum‹ und ›Umwelt‹ synonym gebraucht (Burchartz 1949, S. 154), andererseits aber auch mit dem noch allgemeineren Begriff der Umgebung gleichsetzt (Burchartz 1953, S. 92). Auch Kupka benutzte den Begriff der Umwelt (vgl. Kap. 2.2). 95 | Behne 1915, S. 17; vgl. Kap. 2.2. 96 | Plessner 1928, S. 302: Die Innenwelt fasste er als organische und psychische »Welt ›im‹ Leib«. 97 | Ebd., S. 196. 98 | Ebd. 99 | Ebd., S. 200f. Plessners Argumentation erscheint unverständlich, da gerade die Sphäre in der Antike als Kugelform vorgestellt wurde und eng mit räumlichen Vorstellungen verbunden ist.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

Gegenwirkung empfangen kann«.100 Das, was mit »Lebensraum« oder »Sphäre des Lebens« bezeichnet werde, habe gar »keinen räumlichen Charakter«, sondern zeichne sich vorrangig durch ein »zeitliches Moment« aus.101 Obgleich die zeitlichen Dimensionen für die Künstler von großer Relevanz waren, erscheinen ›Positionsfeld‹ und ›Sphäre‹ als Begriffe nicht umfassend und aussagekräftig genug. Die Prozessualität und Zeitlichkeit ist im Wort ›Leben‹ schließlich mit enthalten. Diese Semantik liefert der Umweltbegriff nicht, während ›Lebensraum‹ impliziert, dass Lebewesen in Räumen beziehungsweise unter den in Räumen herrschenden Bedingungen leben – in klimatischen, rhythmisch organisierten Licht- und Lufträumen, wie sie die hier untersuchten Künstler mit ihren Werken erschaffen wollten. Wenngleich der Begriff des Lebensraumes mit Bezug auf das Bild in den Künstlerschriften vor 1960 kaum auftaucht,102 drückt er das Gemeinte doch am umfassendsten aus. Er findet sich darüber hinaus in nahestehenden architektonischen Positionen.103 Diese schwingen mit, wenn in den Konzepten wiederholt die Rede von Bildarchitekturen ist. Ernő Kállai verwendete den Begriff zudem zur Beschreibung bioromantischer Kunst. So attestierte er Paul Klee ein Verständnis von »Lebensraum«, das von der »Natur als Landschaft mit Staffage oder als Umwelt für den Herrscher Mensch« zu unterscheiden und als »Vermählung von Geist und Stoff« zu verstehen sei.104 Die Tierplastiken Ewald Matarés (1887-1965) seien ganz »in sich gekehrt, in einem Lebensraum völliger Abgeschiedenheit, der unbewußten Natur hörig«.105 Der Lebensraumbegriff wurde in der Kunstkritik Kállais sowohl zur Charakterisierung eines bestimmten Naturverständnisses wie auch als eine dem Kunstwerk inhärente Qualität beschrieben. Darin findet sich

100 | Ebd., S. 200. 101 | Ebd. 102 | Zum Darmstädter Gespräch im Jahr 1950 unter dem Thema »Das Menschenbild in unserer Zeit«, auf welchem auch Johannes Itten anwesend war, äußerte der Schweizer Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka rückblickend, dass Kunst immer ein »Lebensgleichnis« sei und »daß ein Bildraum immer auch gleichnishaft einen Lebensraum« gebe (Jedlicka zit.n. Evers 1951, S. 236). 103 | Er fand Verwendung durch László Moholy-Nagy (»Der Mensch und sein Haus«, 1929, in Passuth 1987, S. 327 und »Die Erziehung und das Bauhaus«, 1938, ebd., S. 358 sowie Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 199) und Max Burchartz (Burchartz 1949, S. 67 und S. 196; Burchartz 1962, S. 68). Werner Ruhnau schrieb 1960 im Zusammenhang einer Ausstellung Yves Kleins in der Galerie Rive Droite von Lebensräumen im Sinne »klimatisierte[r] Großräume« (Ruhnau in Stachelhaus 1976, S. 54). Richard Neutra sprach von »environment«, »surroundings« und »living space«, wobei letztgenannter Begriff als ›Lebensraum‹ in die deutsche Übersetzung übertragen wurde (vgl. Survival through Design, Oxford 1954). 104 | Kállai 1932, S. 271; vgl. Kap. 1.2. 105 | Ebd., S. 274.

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Das Bild als Lebensraum

ein Echo der Plessner’schen Kritik am Umweltbegriff betreffend der Trennung von Natur und Mensch. Synonym fanden in den Naturwissenschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Termini ›Biosphäre‹ und ›Biotop‹ Verwendung.106 Der Biosphärebegriff soll vom österreichischen Geologen Eduard Suess (1831-1914) stammen und definiert den schmalen Bereich zwischen der Lithosphäre und der Mesosphäre, in welchem Leben möglich ist.107 Insofern Max Burchartz, Wassily Kandinsky und František Kupka einen Mangel an Atemluft in Bildern attestieren (Kap. 5.1), wird deutlich, wie grundlegend das Konzept der Biosphäre für die Künstler war. Ein Vorteil in der Verwendung dieses Terminus könnte darin liegen, dass er nicht derart ideologisch besetzt ist, zugleich aber eine recht exakte Übersetzung des Lebensraumbegriffs darstellt. Mit ›Biotopos‹ hingegen wird eher eine genaue Verortung im Sinne eines Standortes und dessen Eigenschaften betont. Beide Begriffe rufen allerdings, ähnlich wie ›Ökosystem‹ – zu stark rein naturwissenschaftliche Diskurse auf, die andere Aspekte ökologischen Denkens verdecken. Unter dem Lebensraumbegriff werden im Folgenden Aspekte verschiedener historischer Konzepte – vom ›Kosmos‹, über ›Umwelt‹ bis zu frühen Ansätzen zum ›Ökosystem‹ – subsumiert. In diesen Komplex gehört auch Francés Naturkonzept. Dieses verortet sich zwischen Kosmos- und modernem Umweltbegriff und bezieht zugleich das menschliche Schöpfertum ein. Francé steht er für ein bioromantisches Naturverständnis, das viele Künstler am Bauhaus und darüber hinaus auch unabhängig von einer direkten Francé-Rezeption vertraten.

2.4 R aoul H. F r ancé , die B ioromantik und die K unst Der österreich-ungarische Botaniker Raoul H. Francé (1874-1943) ging vom Ideal einer harmonischen Natur aus. Er fasste diese als Kosmos und »durch Gesetze regierte, lebende Einheit«,108 die er auch »Bios« nannte.109 Francé zufolge ist alles Leben auf einen gemeinsamen Stoff zurückzuführen, der die Allverbundenheit ebenso wie die Durchwirkung der gesamten Natur durch eine metaphysische Lebenskraft sichert. Die Trennung in »Arten und Gattungen und Familien und

106 | Harras/Haß/Strauß 1989, S. 446. 107 | Camarasa/Folch 2000, S. 106. Im Folgenden wurde der Begriff in den Wissenschaften weiter popularisiert, etwa durch Vladimir Ivanovich Vernadskys The Biosphere (1926), dazu siehe ebd., S. 107-113. Interessant ist, dass das Konzept der Noosphäre als geistige Sphäre vom französischen Philosophen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) vom Begriff der Biosphäre abgeleitet wurde und sich etwa auch Henri Bergson für die geochemische und Biosphärenforschung begeisterte (ebd., S. 107). 108 | Francé 1923, S. 22. 109 | Ebd.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

Tier- und Pflanzengruppen« lehnte der Monist ab: Es gebe nur »ein vieltausendfach sich anpassendes einheitliches Leben auf Erden«.110 Die Auflösung der Grenzen und des »unheilvolle[n] Zwiespalt[s] zwischen Natur und Mensch, zwischen Innen und Außen, zwischen Gott und Welt«111 war Francés zentrales Anliegen. Damit verbunden war eine Ethik der menschlichen Verortung innerhalb der Natur. Der Mensch habe die Wahl, in »Einklang mit dem Weltgesetz« zu treten oder in Dissonanz: »Nur der Einklang sichert die Unvergänglichkeit und das singuläre Weiterfließen im großen Strom des Weltgeschehens. Dauer schließt auf diese Weise auch die Harmonie in sich, die Disharmonie daher notwendigerweise den Untergang und damit die Vergänglichkeit.«112 Wie Oliver Botar herausstellt, entwickelte Francé ein normatives Konzept des natürlichen Ökosystems.113 Der Mensch könne nur »ein gesunder, schaffensfroher und schöpferischer Vollmensch sein, der reichlich geistige oder leibliche ›Nachkommen‹ hinterläßt«, wenn er sich »in Harmonie mit seiner Umwelt […] zu setzen weiß«, heißt es dementsprechend.114 Francé stützte sich auf Friedrich Nietzsche, der schließlich einer solchen »biologische[n] Ethik« den Boden geebnet habe.115 Wie Gottfried Küenzlen zusammenfasst, war für Nietzsche das »Eingebundensein des Menschen in die ›Erde‹« zentral für die schöpferische Arbeit.116 Natürliche Prozesse standen auch für Francé, wie bei anderen ökologischen Denkern der Zeit,117 nicht im Gegensatz zu kulturellen: Menschliches Denken und Handeln galten als Teile des Bios. Dies bedeute, so Francé, dass »Natur und Kultur […] unter dieselben Gesetzmäßigkeiten fallen«.118 Wie Nietzsche hob Francé die Kunst hervor und sprach sich gegen die Autonomie der Kunst von der Natur aus: »[N]och nie ist ein Kunstwerk zustande gekommen, wenn es nicht auf das Genaueste den Weltgesetzen gemäß erschaffen wurde und ihnen entsprach. […] In jedem Kunstwerk wird eine Welt aufgebaut; entweder, indem man versucht, Abbilder der ›wirklichen‹, d.h. der Welt der Sinneseindrücke in Wort, Formen, Farben oder Tönen zu schaffen oder aber das Abbild

110 | Francé 1927, S. 189f. [Herv. i.O. in Sperrschrift]. Dieses einheitliche Leben bezeichnete Francé als »Geschöpf«, also Organismus, und als »Plasma« (ebd.). 111 | Francé 1923, S. 21. 112 | Ebd., S. 40. 113 | Botar 1998, S. 179f. 114 | Francé 1923, S. 154. 115 | Ebd., S. 20. 116 | Küenzlen 1994, S. 131f. Die Bedeutung Nietzsches wird in den folgenden Untersuchungen noch herausgestellt (Kap. 5.2.1-5.2.2, 5.6). 117 | Vergleichbar ist Francés Konzept der Biotechnik mit der Tektologie Alexander Bogadanovs, die später anhand von László Moholy-Nagy eingehendere Betrachtung erfährt (Kap. 6.8.2). 118 | Francé 1923, S. 30.

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Das Bild als Lebensraum einer vorgestellten, inneren Welt. Stets ist die Schöpfung ein komplexes System, kann daher der Gesetze dieser Systeme nicht entraten.«119

Natürliches und Gemachtes sind hier nicht einander entgegengesetzt. Ganz im Gegenteil interessierte sich Francé für die Idee der Biotechnik, der zufolge natürliche Gesetzmäßigkeiten und technisch-kulturelle Erfindungen als mit der Natur im Einklang stehend betrachtet werden konnten.120 Als László Moholy-Nagy 1923 ans Bauhaus kam, arbeitete Francé gerade an seinem Buch Plasmatik. Wissenschaft der Zukunft, das im selben Jahr erschien; auf diese und andere Schriften bezog sich der Künstler später in den eigenen Texten.121 Die Schriften Die Pflanze als Erfinder (1920) und Bios. Die Gesetze der Natur (1921) waren einschlägig. Allerdings muss eine direkte Rezeption nicht stattgefunden haben. Schließlich findet sich bei Francé ein Konglomerat antiker und romantischer Ideen, die das bioromantische Denken der Moderne konstituierten. In Wassily Kandinskys Unterrichtsnotizen sind einige Vermerke zum Streben nach einer Einheit und einem Einklang mit der Natur zu finden, die mit dem Denken des Botanikers korrelieren. 1929 schrieb er: »die organische verbindung mit der landschaft ist durch lebendige verbindung des inneren menschen mit der natur (schliesslich kosmos) zu erklären, die die europäer verloren haben […], die aber schon heute wieder […] gesucht wird (bau, astrologie, malerei usw.)«.122 So attestierte Kandinsky den Künsten das Potential, an einer erneuten Einigung von Natur und Mensch mitzuwirken. 1910/11 schrieb er, »daß der Künstler als Mensch an die Natur gebunden ist, daß er nur von ihr Stoff für seine Werke bekommen kann und daß er deswegen, wie eine aus dem Boden gerissene Pflanze, bald vertrocknet, d.h. als Künstler stirbt, wenn er die Natur verläßt«.123 Dabei ging es ihm dezidiert nicht um eine Natur, die sich aus »Bäumen, Menschen, Gras, Vieh, Vögeln« zusammensetzt, sondern die »noch und im wichtigsten Teil aus dem inneren Leben dieser Formen« bestehe.124 Kandinsky interessierte sich für die inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur, für ihre unsichtbaren Energien. Ähnliche Gedanken finden sich bei František Kupka. Parallelen ergeben sich bei ihm sicher nicht aus einer direkten Bezugnahme auf Francé. So formulierte er seine Ansätze bereits vor den zwanziger Jahren. Wie Francé verband Kupka sein ökologisches Konzept mit einem ethischen: »Wenn der Mensch sich in einer Übereinstimmung mit seiner Umgebung befindet, so kann er Wunder bewirken, 119 | Ebd., S. 180. 120 | Vgl. ebd., S. 245. 121 | Botar 1998, S. 436; siehe Kap. 6.8.2. Ebenfalls 1923 besuchte Francé zusammen mit Walter Gropius die Bauhausausstellung, die Moholy-Nagy koordinierte. 122 | Kandinsky, »IV. Semester – 1929 – Stunde 8«, in Weißbach 2015, S. 362. 123 | Kandinsky, »Jede Kunst hat 2 Möglichkeiten: 1) auf die physischen Sinne zu wirken und 2) auf die Seele selbst…« (1910/11), in Friedel 2007, S. 413. 124 | Ebd.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

er wird aber vernichtet oder im Kampf erschöpft, wenn er sich gegen die Gesetze der ihn umgebenden Natur auflehnt«.125 Die Notwendigkeit einer einklänglichen Verbindung mit der Natur wird so als Lebensgrundlage hervorgehoben. Kupka hatte in den 1890er Jahren an der Sorbonne Université Vorlesungen zu Physik, Biologie und Physiologie besucht und interessierte sich auch später noch für naturwissenschaftliche Forschungen. So verlangte er in Die Schöpfung in der bildenden Kunst, dass der Künstler eine »Erweiterung« seines Wissens über die kunsthistorischen Traditionen hinaus anstreben müsse, etwa auf die Polytechnik und Medizin hin.126 Kupka setzte sich intensiv mit Funktionsweisen und Lebensbedingungen von Organismen auseinander.127 Max Burchartz, der zwischen 1920 und 1924 in Weimar lebte und viele Gedanken in seine Schriften aufnahm, die Kandinsky, Paul Klee und Johannes Itten am Bauhaus vertraten, bezog sich in Gleichnis der Harmonie (1949) als Einziger der hier betrachteten Künstler neben Moholy-Nagy offen auf Francé. Dort referierte er zur Funktionalität der Natur und zum »Gesetz des kleinsten Kraftmaßes«.128 1962 rekurrierte er in Schule des Schauens auf Francés Bios. Die Gesetze der Natur und konkret auf die »Biozönose des Waldes«.129 So führte er einen längeren Abschnitt Francés an, in dem der Wald als »stetes Spiel und Widerspiel von Ausgleichserscheinungen«130 dargestellt wurde. Burchartz beschrieb daraufhin den Wald als Organismus und regte an, in der Malerei »das Erlebnis der gesetzlichen Einheit des Waldorganismus gleichnishaft schaubar zu machen«.131 Dies sah er in Klees Triebkraft des Waldes (1917) verwirklicht (Kap. 6.7: Abb. 42). So machte er seine Auffassung vom Bild als Äquivalent zu einem Lebensraum sehr explizit. Die Wiederherstellung der Harmonie zwischen Mensch und Natur offenbart sich so als prägende Sehnsucht über mehrere Jahrzehnte und mindestens zwei Generationen abstrakter Künstler. Auch in Otto Nebels Kunstkonzept finden sich in dieser Hinsicht Perspektiven, die mit Francé korrespondieren (Kap. 6.5). Mittels Kunst zum Einklang mit der Natur beizutragen, formulierte Otto Piene ähnlich wie Kandinsky als wesentliches Ziel. Die künstlerische Programmatik von Zero beschrieb er rückblickend als »Reharmonisierung zwischen Mensch und Natur«.132 Die bislang beschriebenen Konzepte hoben jeweils auf das große Ganze der Natur ab, auf den Lebensraum, in welchen sich der einzelne Organismus ein125 | Kupka 2001 (1923), S. 63. 126 | Ebd., S. 28. 127 | Vgl. ebd., S. 57. 128 | Burchartz 1949, S. 34 und S. 179. Siehe zu Burchartz’ Bezügen zu Francé weiterhin Kap. 3.2.4, 6.7. 129 | Ebd., S. 186. 130 | Francé zit.n. ebd. 131 | Burchartz 1962, S. 186. 132 | Zit. aus Piene, »Über Z ero « (1972), in Wißmann 2011, S. 75.

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Das Bild als Lebensraum

ordnet. Für eine Betrachtung des Lebensraumes sowie der Lebensbedingungen von Organismen gilt es jedoch, die einzelnen Umweltfaktoren in den Blick zu nehmen. Dazu zählen das Klima und, damit verbunden, Elemente wie Luft, Licht und ihre verschiedenen Qualitäten und Wirkungen, zu denen die Künstler mit ihren Mitteln Äquivalente zu schaffen suchten.

2.5 D iskursfelder der K limatologie , N aturheilkunde , A rchitek tur und U mweltpsychologie Licht, Luft und andere Umwelteinflüsse wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Disziplinen wie der Bioklimatologie und -Meteorologie, der Naturheilkunde und der Umweltpsychologie erforscht und waren Gegenstände eines breiten gesellschaftlichen Interesses. Die geopsychischen Erscheinungen: Wetter und Klima, Boden und Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelenleben (Ersterscheinung 1911) von Willy Hellpach (1877-1955) war wohl die prominenteste Publikation der Zeit zu diesem breiten Themenspektrum.133 Ähnlich dem ökologischen Denken sind Ansätze der Klimatologie bis in die Antike rückverfolgbar. Dass die Qualitäten der Umwelt auf die leibliche und geistige Gesundheit sowie allgemeine Verfassung des Menschen einwirken, galt im fünften vorchristlichen Jahrhundert als bekannt.134 Ökologische Zusammenhänge beschrieb Hippokrates in Über Lüfte, Gewässer und Bodenverhältnisse. Ihm zufolge stand der Mensch »im Zusammenhang mit der gesamten Natur«.135 Die Qualitäten der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde mussten sich im Menschen im Gleichgewicht befinden, war dies nicht der Fall, so erkrankte er.136 Hier war bereits die Annahme implizit, dass Menschen etwa trockenere oder feuchtere Orte aufzusuchen hatten, um krankhafte Störungen zu heilen und dem Mangel an bestimmten Qualitäten entgegenzuwirken. Die moderne Naturheilkunde stützte sich auf die antike Medizin, die den Körper als »Mikrokosmos« fasste, der nach denselben Gesetzmäßigkeiten wie der »Makrokosmos« geordnet sei und wirke.137 Im griechischen Denken hingen der Makrokosmos des Universums und 133 | Der 1911 ersterschienene Text erfuhr 1950 bereits seine sechste Auflage und hatte eine breite Wirkung, ab der vierten Auflage 1935 trug er den Kurztitel Geopsyche. Die späteren Auflagen stellten zumeist Kürzungen dar, zum Teil wurden auch Ergänzungen vorgenommen. Der Umfang der Ersterscheinung wurde aber nicht noch einmal erreicht. Eine Untersuchung der Fokusverschiebungen wäre gerade unter einem politischen Blickwinkel von Interesse. 134 | Bergdolt 1999, S. 30. 135 | Dieckhöfer 1990, S. 49; der Originaltitel der Schrift des Hippokrates lautet: Peri aeron hydaton topon. 136 | Bergdolt 1999, S. 50. 137 | Ebd., S. 31.

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschrif ten

der Mikrokosmos des Körpers eng zusammen, sodass »körperliche Harmonie, Gesundheit und Schönheit letztendlich Vollendung und Ordnung des Kosmos widerspiegeln« sollten.138 In diesen Denkmodellen wurden nicht ausschließlich und oftmals nicht einmal vorrangig ein Einfluss der Natur auf die organische Gesundheit, sondern Einwirkungen auf die Psyche, auf das Denkvermögen und auf die schöpferischen Hervorbringungen des Individuums oder einer ganzen Gesellschaft fokussiert (Kap.5.2.1, 5.3.3). Durch den Arzt Galen wurde seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. die hippokratische Medizin weiter tradiert und mit Konzepten der vorsokratischen Naturphilosophie verbunden. In der Schrift Der Arzt und die Heilkunst in der deutschen Vergangenheit (1900), die sich in Wassily Kandinskys Bibliothek befand, wurde die hippokratisch-galenische Lehre als Naturheilkunde erläutert.139 Galen ging davon aus, dass »die Kräfte der Seele den Mischungen des Körpers folgen«.140 Er begriff Gesundheit als die »maßvolle Mischung des Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten«,141 die er als »Elementarqualitäten« fasste.142 Diese entsprachen den vier »Kardinalsäfte[n] des Menschen: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle«.143 Die Elementarqualitäten sollten auf Körper und Seele, Stimmung und Gemüt einwirken. Auf der Elementenlehre basierende Gesundheitskonzepte konnten Künstler fruchtbar mit Farbkonzepten verbinden.144 Wirkungen der Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchte wollte etwa Johannes Itten in seine Bilder einbringen (Kap. 3.7). Auf einer Konstitution des Körpers aus Farbäquivalenten fußte zudem die von Künstlern wie Itten und Kandinsky rezipierte Chromotherapie (Kap. 3.3). Von »Säften« als Lebenskräften der Seele, die vom Bild auf die Rezipierenden übergehen können, sprachen entsprechend der Säftelehre Galens Paul Klee und Otto Nebel (Kap. 3.1.1, 5.3.1). Im modernen Klimaverständnis sind die Elementareigenschaften als zentrale Konstituenten weiterhin enthalten. Alexander von Humboldt verband bioklimatologisches und kosmologisches Denken in seinem unvollendeten Großprojekt Kos-

138 | Ebd.; dazu vgl. auch Baader 2005 und Kap. 2.2. 139 | Peters 1900, S. 17. 140 | Falter 2006, S. 37. 141 | Galen zit.n. Bergdolt 1999, S. 105. 142 | Ebd., S. 107. 143 | Peters 1900, S. 17. 144 | Karin Leonhard weist darauf hin, dass der griechische Begriff pharmakon ein weites Bedeutungsspektrum abdeckt, das neben »Heilmittel« und »Gift« auch »Malerei« und »Farbe« einschließt. Dies lege den Gedanken nahe, »das Gemälde selbst agiere als pharmakon« (Leonhard 2013, S. 180f.). Im 16. Jahrhundert verknüpfte Giovanni Paolo Lomazzo »Elementen- und Temperamentenfarben«, siehe Lersch 1981, S. 197.

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mos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845-posthum 1862) und brachte weitere Qualitäten in seine Klimadefinition ein:145 »Das Wort Klima umfasst in seinem allgemeinsten Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre, die unsere Organe merklich affizieren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des barometrischen Druckes, den ruhigen Luftzustand oder die Wirkung ungleichnamiger Winde, die Größe der elektrischen Spannung, die Reinheit der Atmosphäre oder die Vermengung mit mehr oder minder schädlichen Exhalationen, endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und Heiterkeit des Himmels, welcher nicht bloß wichtig ist für die vermehrte Wärmestrahlung des Bodens, die organische Entwicklung der Gewächse und die Reife der Früchte, sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung der Menschen.«146

Luftdruck, elektrische Spannung, die Qualität der Atmosphäre und weitere klimatische Phänomene wirken demnach im Zusammenhang mit Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchte auf den Menschen, organisch wie seelisch, ein. Der Faktor Zeit ist besonders zentral für den Klimabegriff. Hellpach definierte Klima in diesem Sinne als »Witterungscharakter für jede Gegend auf Erden«.147 Es konstituiere sich aus der Beobachtung des Wetters »über längere Zeiträume« sowie auf dessen »Regelmäßigkeit« hin:148 »Da das Klima nichts anderes ist als die charakteristische Witterung einer Zone, so kehren alle Wetterelemente als klimatische Elemente wieder. Auch vom Klima her kann nichts anderes leibseelisch wirken als Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck, Luftbern, Licht, Wind, vielleicht Zusammensetzung der Luft und irgendwelche Bodenfaktoren […].«149

Als Beispiel für klimatische Phänomene nannte Hellpach zudem den Ablauf der Jahreszeiten und des Tag-Nacht-Wechsels,150 natürliche Rhythmen also, die sich in einer bestimmten Zone in spezifischer Weise vollziehen und nicht einfach unter dem Wetter subsumiert werden können. »In jedem Klima wird ein Reiz, der im Wetter nur gelegentlich auftritt, dauernd oder jedenfalls für lange Dauer verabreicht, und überdies wechseln ganze Phasen einer Reizekombination mit Phasen einer völlig anderen Reizekombination ab«.151 145 | Um 1817 erstellte Humboldt seine berühmte Isothermenkarte, auf der er auf Grundlage von Messungen die verschiedenen Klimazonen der Erde differenzierte: vgl. Schneider 2012, S. 176. 146 | Humboldt 1845, S. 340. 147 | Hellpach 1935, S. 100. 148 | Ebd. 149 | Ebd., S. 126. Mit »Luftbern« wird die Luftelektrizität bezeichnet, vgl. ebd., S. 66. 150 | Ebd., S. 100. 151 | Ebd., S. 126.

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Im Sinne einer Bioklimatologie ging es schon Humboldt um Einwirkungen dieser langfristigen Umwelteinflüsse auf den menschlichen Organismus und auf die menschliche Psyche: »So hängen Volkscharakter, düstere oder heitere Stimmung der Menschheit, größtentheils von klimatischen Verhältnissen ab […]. Die Dichterwerke der Griechen und die rauheren Gesänge der nordischen Urvölker verdankten größtenteils ihren eigentümlichen Charakter der Gestalt der Pflanzen und Tiere, der Gebirgstäler, die den Dichter umgaben und der Luft, der ihn umwehte […]. Der Einfluß der physischen Welt auf die moralische, dies geheimnisvolle Ineinander-Wirken des Sinnlichen und Außersinnlichen, gibt dem Naturstudium […] einen eigenen, noch zu wenig gekannten Reiz.«152

Hellpach hatte ähnliche Phänomene unter dem Begriff der ›geopsychischen Erscheinungen‹ subsumiert. Verwandte Gedanken finden sich in Klimatheorien seit der Antike. Dezidiert klimatische Einflüsse auf den Menschen wurden verstärkt zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert von einflussreichen Denkern verhandelt. In diesem Kontext verorteten sich Klimatheorien, zu deren bekanntesten Vertretern Jean Bodin im 16., Charles-Louis de Secondat (Montesquieu) und Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert zählten.153 Insbesondere Friedrich Nietzsches Nachdenken über die Klimaeinflüsse auf den Menschen dürfte auf künstlerische Konzepte ausgestrahlt haben: »Wasser, Luft, Bodengestalt, Elektrizität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen«, so schrieb dieser im Jahre 1881.154 Seine Schriften sind von Bezügen zur Naturheilkunde und Betrachtungen zum Einfluss des Klimas auf den Menschen durchzogen.155 Eine naheliegende Quelle für die Künstler war seine Schrift Ecce Homo, die 1908 von Henry van de Velde in Jena herausgegeben wurde.156 Nietzsche verband hier, wie in anderen Schriften auch, bioklimatologisches Denken mit Konzepten des Schöpfertums, so heißt es etwa: »[D]as Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel, – das heißt durch rapiden Stoffwechsel«.157 Zusammenhänge von natürlichen wie geistigen Atmosphären, Gesundheit und Künstlertum wurden in den untersuchten Künstlerpositionen in ähnlicher Weise verhandelt (Kap. 5.3.3).

152 | Humboldt zit.n. Falter 2006, S. 139. Das Zitat stammt aus Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (1806). 153 | Zur variantenreichen Geschichte der Annahme einer Prägung von Kultur durch Natur seit der Antike, vgl. Falter 2006, zur Einführung siehe Leonhard 2010, S. 244-247. 154 | Nietzsche zit.n. Riedel 1998, S. 194, vgl. auch Friedrich Nietzsche. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 9, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1980, S. 525. Zum Vergleich von Mensch und Pflanze siehe Burchert 2018b. 155 | Volz 1990, S. 57f., siehe auch Kap. 5.2.1-5.2.2, 5.3.3, 5.6.2. 156 | Ebd., S. 71. 157 | Nietzsche 1908, S. 34.

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Die Erkenntnis, dass schlechte Luft in urbanen und industriellen Gebieten »chronisches Siechtum zur Folge« haben könne,158 war ein wichtiger Faktor mit Blick auf die Relevanz der Naturheilkunde seit dem 19. Jahrhundert. Hier wurde reflektiert, »wie die veränderten Lebensbedingungen und Verhaltensweisen unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Zivilisation den menschlichen Organismus schädigten«.159 Folgen der Industrialisierung gerieten in England mit dem »Wear and Tear Syndrome« um 1850 in den Fokus: Der Mangel an frischer Luft in verrauchten Industriegebieten wurde als Auslöser dieser Schwächekrankheit betrachtet.160 Wurden Umwelteinflüsse so einerseits als Ursachen von Krankheiten betrachtet, galt es zugleich, spezifische Umweltfaktoren für die naturheilkundliche Therapie fruchtbar zu machen. Dazu gehörten »die Luft, das Sonnenlicht, der Wind, die Schwankungen des Klimas und der Wechsel von Tag zu Nacht«: »Diesen Einflüssen mussten sich die Menschen wieder aussetzen, wenn sie gesund werden wollten. Es galt, zu einem Teil der natürlichen Ordnung zu werden, um sich so den urwüchsigen Bedingungen anzupassen.«161 Mit der Naturheilkunde war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Utopie einer »Rückkehr zu einer naturgemäßen Lebensweise« verbunden, aus der zugleich »ein neues Menschengeschlecht erwachsen« sollte, »das sich durch vollständige Gesundheit, Friedfertigkeit und Glück auszeichnete«.162 Wie bereits in der Antike strebte man nicht nur die leibliche Gesundheit an, sondern suchte weitaus umfassender nach einem ›guten Leben‹. Das Ideal einer paradiesischen Natur sowie die Verbindung physischer und geistiger Gesundheit finden sich etwa in der Utopie einer Klimaarchitektur bei Yves Klein und Werner Ruhnau (Kap. 5.5). Auch bei Nikolaus Braun und Kandinsky zeigt sich die Vorstellung einer geheilten, friedfertigen Gesellschaft, hervorgerufen durch künstlerisch erzeugte Atmosphären und Klimata (Kap. 4.5.1, 3.4). Im Kontext der Lebensreformbewegung wurden zahlreiche Sanatorien und utopische Refugien wie etwa der Monte Verità bei Ascona gegründet.163 Viele Künstler/-innen hielten sich dort in den zwanziger Jahren auf: so etwa Klee um 1920, László Moholy-Nagy im Jahr 1927, Kandinsky im selben Jahr und Nebel um 1927/28.164 Die Tuberkulose als Epochenkrankheit und ihre Behandlung in Luftheilanstalten wie Davos sorgte für eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit 158 | Heyll 2006, S. 93. 159 | Ebd., S. 59. 160 | Asendorf 1989, S. 74. 161 | Heyll 2006, S. 12. 162 | Ebd., S. 137. 163 | Dazu siehe Monte Verità: Berg der Wahrheit: Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Ausst.-Kat. Villa Stuck Locarno, Mailand 1980. 164 | Vgl. Schlemmer, Brief an Otto Meyer Amden aus Ascona vom 18.9.1927, in Hüneke 1990, S. 177 und Kneubühler 1980, S. 170-173.

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der Notwendigkeit gesunder, reiner Luft.165 Zu den prominentesten Naturheilanwendungen gehörten um die Jahrhundertwende die Lichtluftbäder des Schweizer Naturheilers Arnold Rikli. In seinen Schriften stellte Rikli die »regelrechte Stoffbewegung« als Voraussetzung für Gesundheit im Gegensatz zu einer »gestörte[n] Stoff bewegung« als Verursacherin von Krankheiten dar. In der Rede vom »Säftekreislauf« zeigt sich die Kontinuität zur antiken Säfte- und Elementenlehre. Rikli betonte die Rolle der »seelische[n] Lebenskraft« sowie des »Nerven- und Gefäßsystem[s]«, die er als die »Hauptwerkzeuge« der Seele bezeichnete.166 Dementsprechend gebe es gar keine Heilmittel im eigentlichen Sinne, sondern »nur Beruhigungs-, Dämpfungs-, Unterdrückungs- oder Aufregungsmittel der organischen Thätigkeit«.167 Zu diesen gehörten Rikli zufolge »Licht, Luft, Dampf, Wasser, Bewegung, Ruhe, Magnetismus, Elektricität und veränderte Nahrung«.168 Die Stärkung von Nervensystem und Seele wurden hier zusammengedacht. Die Auseinandersetzung mit dem Klima und dem Einfluss sichtbarer und unsichtbarer Umwelteinflüsse auf die Seele des Menschen wurde auch von Hellpach in Die geopsychischen Erscheinungen behandelt. Er verband die entstehende Umweltpsychologie mit der Meteorologie und der Klimatologie. Hellpach war Psychologe und (DDP-)Politiker, der sich nicht von der NS-Rassen- und Erblehre vereinnahmen ließ,169 wenngleich er während der Zeit des Nationalsozialismus weiterhin wissenschaftlich tätig war und auf einem für eine solche Vereinnahmung prädestinierten Gebiet forschte. Hellpach interessierte sich nicht für die Konstitution einer »Volkseele« und verwandte Konstrukte,170 sondern für das Individuum und die Möglichkeiten, dieses durch temporäre Kuraufenthalte zu behandeln.171 Eine direkte Hellpach-Rezeption lässt sich bei den hier betrachteten Künstlern bei Max Burchartz nachweisen.172 Ähnlich wie Raoul H. Francé fasste Hellpach jedoch Annahmen und Erkenntnisse zusammen, die zu der Zeit ohnehin diskutiert wurden.173 165 | Vgl. Kap. 5.3.2. 166 | Rikli 1890, S. 10. 167 | Ebd. 168 | Ebd. Weiterhin heißt es: »Ebenso heilsam wirkt und ist daher ein verändertes Gemüthsleben durch Unterhaltung, Zerstreuung, Musik, Tanz, Ausflüge, Schiffahrt, Genuß von Naturschönheiten […]; auch diese Lebensreize erzeugen neue belebende Bewegung im Nervencentrum und dessen Ausstrahlungen« (ebd., S. 11). 169 | Falter 2006, S. 425 und S. 428f. Dazu siehe etwa Hellpach 1935, S. 2 und S. 148. 170 | Falter 2006, S. 429, vgl. zu anderen Konzepten auch S. 194 und S. 205. 171 | Ebd., S. 433. 172 | Burchartz 1962, S. 86; siehe weiterführend Kap. 3.2. 173 | Hellpach ist als Quelle auch deshalb interessant, weil er die Unsicherheit der Thesen und Beobachtungen sowie ›Volksglauben‹ und gängige Irrtümer thematisierte – dazu gehört etwa der Einfluss des Mondes auf das Wetter. Zugleich bestätigte er gängige Thesen (siehe exemplarisch Hellpach 1935, S. 152).

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In seiner Hauptschrift behandelte Hellpach den Einfluss von »Wetter, Klima, Boden, Landschaft« auf »Leib und Seele«.174 Er führte dabei Melancholie, Ermattung, Unruhe und Müdigkeit auf Gewitter oder bestimmte Winde zurück. Über das Wetter hinausgehend betrachtete er die Wirkung des Klimas zwischen »Lebenserhöhung« und »Lebensherabstimmung«175 durch Lichtzufuhr, Luftzusammensetzung und Temperatur.176 Dabei handelte Hellpach auch von sichtbaren Umwelteinflüssen, die von Wirkweisen der unsichtbaren oder auch gar nicht mit den Sinnen wahrnehmbaren Faktoren zu unterscheiden seien: Er differenzierte die »eindrucksmäßigen sinnliche[n] (sensuelle[n])« und die »einflußmäßigen tonische[n] Wirkungen«.177 Die Betonung der sinnlich-visuellen Eindrücke machte seine Überlegungen für Künstlerkonzepte anschlussfähig. Hellpach stellte fest, »daß die Natur in ihrer Färbung vorwiegend gemütsberuhigend einwirkt« durch die dominanten Farben Grün, Grau, Gelb und Blau.178 Doch auch mit der Tonik ist ein Prinzip angesprochen, das in Künstlerkonzepten, insbesondere bei Kandinsky, August Macke, Itten, Klee, Nebel und Burchartz als Phänomen der ›Spannung‹ verhandelt wurde (Kap. 6.1). Die tonischen Phänomene wirken gemäß Hellpach auf Körper und Seele ein, ohne dass sie als sinnliche Reize wahrgenommen werden. Es handelt sich um unsichtbare und unbewusst wirksame Phänomene, die bildende Künstler im 20. Jahrhundert in ihren Werken umzusetzen suchten. Hellpachs Ruf nach der Erzeugung künstlicher Klimata, einer »Klimaschöpfung« zur Steigerung von Wohlergehen und Leistungsfähigkeit des Menschen,179 174 | Hellpach 1935, S. 4. 175 | Ebd., S. 104. 176 | Ebd., S. 103f. 177 | Ebd., S. 5f. 178 | Ebd., S. 205. 179 | Ebd., S. 248: An dieser Stelle thematisiert Hellpach den schädlichen Einfluss des Menschen auf das Klima: »Das Feuer, das der Primitive sich mit viel Mühsal in einer Höhle oder einem Zelt zurichtet, ist die früheste Form der Herstellung einer künstlichen Atmosphäre – und noch in der raffiniertesten Zivilisation bildet die Heizung den Mittelpunkt aller menschlichen Klimaschöpfung, im Nützlichen wie im Schädlichen. Im Nützlichen, denn um die technische Erwärmung unzureichend warmer Luft kreist das Bedürfnis nach Klimaverbesserung, die Flucht vor allzu natürlicher Witterung; im Schädlichen, denn es ist wiederum die Unzahl von Heizungen, welche das Rauchdunstklima der Fabrikstädte erzeugen. Wir wissen heute, daß wesentlicher für dieses Klima […] die Astrillionen von winzigen Rußteilchen dieses Rauchodems sind, an denen die Vervielfachung schwerer Ionen zuungunsten der leichten und damit die Entstehung von Kondensationskernen für Nebel-, Regen- und Gewitterbildung sich abspielt. Ist aber das Klima von Menschenhand verschlechtert worden, so hat das Menschenhirn auch die Kraft, es wieder verbessern. Planende Klimaschöpfung zugunsten menschlichen Wohlbefindens und Leistenkönnens wird ein kommendes Hauptstück wirklicher Gëurgie sein«.

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bietet gleichermaßen Anknüpfungspotential für künstlerische Ansätze zur Schaffung künstlicher Lebens- und Klimaräume. Im 21. Jahrhundert hat dieses Denken vor dem Hintergrund des Climate- und Geo-engineerings größere Aktualität denn je erreicht: »Man begreift, daß die selbsterschaffene Umwelt für uns Menschen eine ganz besonders hohe Bedeutung hat, sind wir doch das ›technische‹ Lebewesen der Erde, ›Homo Faber‹.«180 Bereits Herder hatte das Ziel formuliert, auf natürliche Umwelteinflüsse durch die kulturelle und technische Veränderung der Natur zu reagieren.181 Unter anderem am Bauhaus wurden diese Traditionen aufgegriffen. Der Bauhäusler Siegfried Ebeling stützte sich in Der Raum als Membran von 1926 explizit auf Hellpach. Ebeling war 1923 als Schüler an das Bauhaus in Weimar gekommen und studierte dort bei Kandinsky und Marcel Breuer.182 In seinem drei Jahre später in Dessau veröffentlichten Buch entwarf er ein utopisches Architektur- und Raumkonzept. Es ging darin um die Entwicklung von Wohnräumen, welche die positiven Einwirkungen der Umwelt einlassen, während schädliche Einflüsse, wie etwa die »feineren Intensitätsschwankungen der Luftstrahlung (besonders bei Gewittern, bei Schneeluft, Föhn oder Sirocco)«, abgehalten werden sollten.183 Seine Abhandlung fußte auf biochemischem sowie -klimatologischem Wissen. Die Lichtzufuhr war ein zentrales Thema für Ebeling, gerade unter dem Aspekt der Wirkung der Ultraviolettstrahlung auf den Organismus.184 Dies lässt sich als Weiterführung der Idee des befreiten Wohnens bei Ludwig Mies van der Rohe und der Forderung Sigfried Giedions nach »Licht, Luft, Bewegung, Öffnung«185 lesen. Darauf bezog sich später Ruhnau in seiner gemeinsam mit Klein entwickelten Architekturutopie (Kap. 5.5). Ruhnau rekurrierte zudem auf Richard Neutra, der paradigmatisch für das ökologische Bauen seit den zwanziger Jahren in den USA im Kontext der Umweltpsychologie steht.186 In der Architektur gab es vergleichbare ökologische Ansätze schon in der Renaissance: In seinen zehn Büchern über die Baukunst (Della architettura) handelte Leon Battista Alberti von dem Einfluss von Klima, Luft, Ort und Windlage auf den Menschen. Der ideale Ort für Villen außerhalb der Stadt sei das florentinische Umland mit seiner »kristallklare[n] Luft«.187 Das Klima sollte gemäßigt sein: Extreme Temperaturen galt es zu vermeiden, die Luft solle klar, nicht nebelig sein, der Wind dürfe nicht zu stark wehen und es müsse ausreichend Lichtzufluss 180 | Ebd., S. 2. 181 | Müller 2005, S. 29. 182 | Es gibt bislang wenig Forschungsliteratur zu Ebeling (1894-1963). Für eine Kurzbiographie siehe Tech/Völkel 2010, S. 73. 183 | Ebeling 1926, S. 8f. 184 | Ebd., S. 9. 185 | Dazu siehe weiterführend Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, Zürich 1929. 186 | Siehe insbesondere Neutra 1956 sowie dessen Bauen und die Sinneswelt (1977). 187 | Bergdolt 1999, S. 183.

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geben.188 Auch Andrea Palladio definierte im 16. Jahrhundert die »Gesundheit der Bewohner« als Ziel von Architektur: In seiner Schrift La fabbrica del duomo di Padova beschrieb er eine Villenarchitektur, die in der Lage sei, »das menschliche Leben zu verlängern«.189 Dies gelinge durch die Kombination von »trockene[n] und warme[n] wie frische[n] und kühle[n] Räume[n], ohne Öfen, mit wenig Heizung nur und ohne Feuchtigkeit und Durchzug«.190 Klee nahm mit seinem Konzept der Kunst als Villeggiatur auf diese Tradition Bezug (Kap. 2.1, 3.1.1). Während mittels Architektur immer schon Lebensräume mit einer spezifischen Licht- und Luftatmosphäre hergestellt werden konnten, bleibt die Malerei jedoch an Malgrund, Pigment, Bindemittel, kurz: an materielle Grundlagen gebunden. Es erscheint höchst fraglich, wie durch Bilder Äquivalente zu Sonnenstrahlen, Luft, Temperatur und anderen Umweltphänomenen Wirksamkeit entfalten sollten. Bei allen Versuchen der Grenzüberschreitung und in den Künstlerschriften formulierten Idealen blieb die Kunst im Zeitraum von 1910 bis 1960 größtenteils doch auf die Reizung der Augen durch reflektiertes, farbiges Licht beschränkt. Durchdringendes, chemisches Licht sowie temperierte Luft sind zwar denkbare Medien künstlerischer Installationen, aber keine der Malerei.191 Besonders fruchtbar für die Konzeption visueller Lebensräume in der Malerei waren vor diesem Problemhintergrund Forschungsergebnisse aus der Psychophysik, in denen Wirkungen optischer Phänomene auf Nervensystem und Organismus nachgewiesen wurden. Die Psychophysik kann als Vorbereiterin der modernen Umweltpsychologie betrachtet werden, die sich in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts institutionell konstituierte, aber bereits mit Hellpach seit den dreißiger Jahren eine Grundlegung erfahren hatte.192 Die Psychophysik, auf die zahlreiche Künstler seit dem 19. Jahrhundert Bezug nahmen, beschäftigte sich nicht mit atmosphärischen Einflüssen der Natur auf den Körper. Sie fokussierte hingegen im Rahmen von Laborexperimenten gestaltete und künstliche Umwelteinflüsse. Diese Experimente wurden von Künstlern breit rezipiert und mit ästhetischen Überlegungen verknüpft.193 Gustav Theodor Fechner (1801-1887), Hermann von Helmholtz (1821-1894) und Wilhelm Wundt (1832-1920) untersuchten als Stammväter der Psychophysik und 188 | Ebd. 189 | Palladio zit.n. ebd., S. 207. 190 | Palladio zit.n. ebd. 191 | Installative Ansätze in diesem Sinne finden sich etwa bei Nikolaus Braun, László Moholy-Nagy und anderen frühen Licht- und Installationskünstlern sowie in der zeitgenössischen Kunst (Kap. 4.5, 7.2). Siehe Ulrike Gärtner/Kai-Uwe Hemken/Kai Uwe Schierz (Hg.), Kunst Licht Spiele. Lichtästhetik der klassischen Avantgarde, Bielefeld/Leipzig 2009. 192 | Eisenhardt 2008, S. 30-32. 193 | Dazu siehe Brain 2015, der allerdings die abstrakte Moderne nur ganz zum Schluss streift (S. 201-225). Siehe weiterhin: Jutta Müller-Tamm/Henning Schmidgen/Tobias Wilke, Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900, München 2014.

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einer experimentellen psychophysischen Ästhetik194 die Wirkungen von Umweltreizen wie Licht, Geräuschen, Farben,195 aber auch Linien, Formen, Rhythmen und Bewegung.196 Die Psychophysik wendete sich, so Fechner, den Beziehungen zwischen »äusseren körperlichen Anregungen und innern [sic!] psychischen Folgen« zu.197 Physische und psychische Prozesse galten, wie auch in der Bioklimatologie und der Naturheilkunde, als ähnlich oder gar gleich ablaufend.198 In Franz Freudenbergs 1908 veröffentlichten Schrift Ueber Spaltung der Persönlichkeit und verwandte psychische Fragen werden Grundlagen der Psychophysik behandelt. Auf diese Schrift bezog sich Kandinsky in seinem Aufsatz »Farbensprache« von 1908/09.199 Durch Sinneseindrücke, so referierte Freudenberg Fechner, werde eine »stoffliche Vibration« im Nervensystem ausgelöst, welche die Grundlage für die geistige Verarbeitung derselben bilde und die Wahrnehmung der Umwelt bestimme.200 Nach Freudenberg galt es, »störende Einwirkungen der Aussenwelt« zu vermeiden, da sie »Unwohlsein, Unruhe, Ermattung, Schläfrigkeit etc.« herbeiführen und die Seele lähmen konnten.201 Im Rahmen von Experimenten wurden durch Wundt und seine Schüler die Wirkung von Farbe und Licht auf Puls und Atmung nachgewiesen.202 Bildenden Künstlern bot dies ein wesentliches Argument für die Annahme einer besonderen Macht der Kunst auf das Leben der Betrachtenden.203 Wie in der Naturheilkunde Riklis und in der Geopsychologie Hellpachs ging es in der Psychophysik wesentlich um Wirkungen der Erregung und Beruhigung. Es wurde die Wirkmacht optischer Phänomene untersucht, die mit der Wirkung unsichtbarer Umwelteinflüsse wie Temperatur und Luftdichte vergleichbar war. Der Glaube an das wirkmächtige Eindringen des Visuellen in den Körper wird bei Kandinsky besonders deutlich, der um 1911 die Wirkung der Kunst mit den Begriffen Fechners beschrieb. Dabei zeigt sich, wie sich psychophysisches und esoterisches Denken im 20. Jahrhundert miteinander verquickten. Kandinsky definierte das Bild als harmonisch geordneten Lebensraum für die Seele, der diese am Leben erhalten und ihre Lebendigkeit mehren könne:

194 | Vgl. Allesch 1987, S. 352-375. 195 | Eisenhardt 2008, S. 30. 196 | Brain 2015, S. xv; siehe weiterführend Kap. 3.2, 3.3. 197 | Fechner 1871, S. 557. 198 | Siehe Innerhofer 2015, S. 89-91. 199 | Freudenberg 1908, S. 4. 200 | Ebd. 201 | Ebd., S. 14. 202 | Allesch 1987, S. 375. Zu den Techniken und Methoden, siehe Brain 2015, S. 5-32 [sic!]. Burchartz nahm explizit Bezug auf die Experimente des Wundt-Schülers Florian Ștefănescu-Goangă, dazu siehe Kap. 3.2.3. 203 | Vgl. Brain 2015, S. xxvif. und Kap. 6.

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Das Bild als Lebensraum »Die Seele aber wächst, ebenso wie der Körper, durch Übung. Sie wächst, wie auch der Körper, durch Bewegung. Bewegung ist Leben. Leben ist Bewegung. Eben hier zeigt sich die Bedeutung, der Sinn und das Ziel der Kunst. Die ganze Natur, die ganze Welt wirken ständig auf die Seele ein. So wachsen einzelne Menschen und ganze Völker. Keine Erscheinung geht spurlos am Menschen vorbei, sie berührt die Saiten seiner Seele. Diese Saiten vibrieren und klingen, wie die Saiten eines Instruments. Und wie ein Instrument immer feiner und vollkommener wird, je mehr und je öfter seine Saiten in Bewegung, in Schwingung versetzt werden […], so auch die Seele. Doch die Naturerscheinungen, die sich in zufälligen Tönen, Farbflecken und Linien ausdrücken (alles in der Welt klingt als Ton, als Farbe und als Linie), rufen ein planloses, amorphes, ungefüges Echo im Menschen hervor. Diese Erscheinungen ähneln der Ansammlung von Wörtern im Lexikon. Es ist unbedingt eine Kraft nötig, die diese zufälligen Weltenklänge in geordnete Zusammenhänge bringt, damit sie geordnet auf die Seele wirken können. Diese Kraft ist die Kunst. Das ordnende Zusammenfügen getrennter Elemente, d.h. ein Zusammenfügen, das möglichst genau einem vorgegebenen Ziel entspricht, ist Schönheit.« 204

Kandinsky sprach der Kunst das Potential zu, eine geordnete, wohl komponierte Welt zu schöpfen, die zielgerichtet durch Töne, Farbe und Linie die Seele in Schwingung versetze. Bewegungen in Form von Wellen und Vibrationen waren in der Esoterik ebenso wie in der Psychophysik grundlegend. Die folgenden Kapitel legen dar, wie Künstler sich verschiedener, oft mit esoterischem Denken unterlegter Diskursbereiche der Klimatologie, Naturheilkunde, Gesundheitsarchitektur und Umweltpsychologie bedienten, um ihre lebensräumlichen Bildkonzepte zu untermauern und in Worte zu fassen.

204 | Kandinsky, »Wohin geht die ›Neue‹ Kunst« (1911), in Friedel 2007, S. 425 [Herv. i.O. unterstrichen].

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären Paul Klee, František Kupka, Yves Klein und Otto Nebel entwickelten ihre Farbkonzepte in bestimmten, zumeist südeuropäischen Klima- und Naturräumen. Ihre Überlegungen zur Bildwirksamkeit leiteten sich aus eben diesen Bezugnahmen ab. So wurden atmosphärische Naturphänomene als lebenspendende Kräfte für die Bildfindungen vorbildhaft. Vielfach knüpften Künstler bis in die 1960er Jahre hinein an den Impressionismus und den Neoimpressionismus an, insofern sie die malerische Erzeugung einer Licht- und Luftatmosphäre anstrebten. So zeigen sich in Klees abstrakten Landschaften, Johannes Ittens Jahreszeiten- und Nebels Monatsbildern Kontinuitäten zum Impressionismus (Kap. 3.1.1, 3.5.3, 3.7). Ging es Claude Monet, Georges Seurat, Paul Signac und Anderen vornehmlich darum, momentane Licht- und Luftatmosphären darzustellen, stellten sich nachfolgende Generationen die Aufgabe, ein Klima zur Präsenz zu bringen. Nicht die Atmosphäre in einem bestimmten Moment, sondern jene eines Monats, einer Jahreszeit, eines Ortes oder einer Region wurde zum Bildinhalt. Die Abstraktion als Praxis der Verallgemeinerung greift in diesem Kontext in besonderer Weise, denn Klima selbst ist eine Abstraktion:1 Es ist an sich nicht wahrnehmbar, sondern ein Produkt von Messungen und Durchschnittswerten, die in Tabellen zusammengetragen und in Diagrammen dargestellt werden.2 Auch in den hier untersuchten Künstlerpositionen ging es nicht um eine momenthafte Impression, sondern um eine Verdichtung des Ungleichzeitigen, das mit einer Intensivierung der Bildkräfte einhergehen sollte. Die Künstler interessierten sich für Klimafaktoren der Wärme oder Milde, denen der Organismus über lange Zeit ausgesetzt ist, mitunter – wie bei Wassily Kandinsky und Max Burchartz – ohne Bezugnahme auf konkrete Klimaräume (Kap. 3.2-3.4). Eine wesentliche Gemeinsamkeit zum Neoimpressionismus lag im Verständnis von Farbe als Licht und dem Anspruch, Licht im Bild nicht nur zu repräsentie1 | Vgl. Kap. 1.4 zum Abstraktionsbegriff und Kap. 2.5 zum Klimabegriff. 2 | Knebusch 2008, S. 245. Die Methode der Isothermendarstellung nach Alexander von Humboldt ist dabei bedeutsam. Siehe hierzu Hans-Günther Körber, Über Alexander von Humboldts Arbeiten zur Meteorologie und Klimatologie, Berlin 1959 und Schneider 2012; vgl. Kap. 2.5.

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Das Bild als Lebensraum

ren, sondern präsent und wirksam zu machen. Während die Neoimpressionisten die optische Mischung ausgehend von den Lehren Hermann von Helmholtz’ und Ogden N. Roods anwendeten, um Licht durch die Gesetze der additiven Mischung von ihren Bildern ausstrahlen zu lassen, stützten sich Klee, Kupka, Kandinsky, Itten, Nebel und Burchartz auf andere Verfahren und theoretische Grundlagen, um einen ähnlichen Anspruch zu erfüllen. Neben dem Licht sollten Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit, Reinheit, Trübe sowie sogar Elektrizität und Magnetismus durch die Bilder wirksam werden – Qualitäten also, die Alexander von Humboldt in seine Klimadefinition einbezogen hatte.3 Doch auch Bezüge zu älteren Klimabegriffen finden sich in den Bildmodellen – man denke etwa an Kleins Pneuma (Kap. 3.9). Ansätze der Farbenlehre Johann Wolfgang von Goethes (Kap. 3.1-3.3, 3.5-3.7, 3.9), des Simultankontrasts nach Michel Eugène Chevreul (Kap. 3.7), der Naturheilkunde (Kap. 3.1-3.3, 3.7), der modernen Psychophysik (Kap. 3.2.3), der Chromotherapie (Kap. 3.3) und der Esoterik (Kap. 3.3-3.5) stützten die künstlerischen Konzepte. Vom Glauben an die heilsame Wirkung von Farben und von einem ökologischen Wirkungsmodell am Bauhaus zeugt die bislang vernachlässigte Harmonisierungslehre Gertrud Grunows, welche in dieser Studie eine nähere Betrachtung und Einordnung erfährt (Kap. 3.6, 6.5). Eine exemplarische Abgrenzung klimatischer Farbkonzepte von anderen Vorstellungen von Farbe als Lebenskraft wird anhand von Piet Mondrian, László Moholy-Nagy und Otto Piene vorgenommen (Kap. 3.8).

3.1 H eilsam - vitalisierende L ichtluf tbäder in der frühen A bstr ak tion Paul Klees und František Kupkas künstlerische Ansätze entstanden unabhängig voneinander. Sie entwickelten diese maßgeblich aus der Beobachtung von Farben in der natürlichen Atmosphäre und betrachteten sie unter naturheilkundlichen Gesichtspunkten. Beide verglichen ihre Farbgestaltungen mit Lichtluftbädern und träumten von einer chemisch wirksamen Malerei auf Basis unsichtbarer Farben.

3.1.1 Das Bild als Villeggiatur: Paul Klee Gemeinsam mit August Macke und Louis Moillet reiste Klee 1914 nach Tunis. Diese Reise bezeichnete er als Geburtsstunde seines künstlerischen Umgangs mit den Farben. Zum 16. April 1914 notierte er in seinem Tagebuch folgende, viel zitierte Passage: 3 | Humboldt 1845, S. 345. Zur Tradition der Verbindung von Farbe und klimatischen Qualitäten in der antiken Elementenlehre vgl. Kap. 2.2, 2.5.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären »Früh vor der Stadt gemalt, leicht zerstreutes/Licht, mild und klar zugleich. Kein Nebel. Dan[n] drin gezeichnet. […] Die Sonne dringt durch, und wie! […] Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in/mich hinein, ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss./Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen./Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen/Stunde Sin[n]: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.« 4

Solche Beschreibungen der Durchdringung mit klimatischen Lichtatmosphären, in denen die Farben der Atmosphäre den Farben der Malerei gleichgesetzt werden, finden sich wiederholt in Äußerungen Klees. Im November 1924 schilderte er in einem Brief an Lily Klee, er sei »noch so voll von Sicilien«5 und »noch ganz aufgeheizt von den sicilianischen Eindrücken«: »[I]ch denke nur daran, rein landschaftlich – abstract, und es beginnt jetzt einiges davon zum Vorschein zu kommen, das heißt, ich male seit zwei Tagen wieder«.6 Er fuhr fort: »Ich erlebe nichts, will auch gar nichts erleben, ich trage die Berge Siciliens in mir und jene Sonne. Alles andere ist fad«.7 Klee isolierte sich von seiner Umgebung in Dessau und lebte ganz in den Erinnerungen an das sizilianische Klima. Diese Erinnerungen sind neben den landschaftlichen Eindrücken mit thermischen Empfindungen und der spezifischen Lichtatmosphäre des Landes verbunden. Sein Erinnern bezeichnete Klee als »abstract«: Abstraktion bezieht sich zum einen auf die Landschaft, die er sich nicht naturalistisch, sondern abstrahierend ins Gedächtnis rief. Zum anderen weist der Abstraktionsbegriff auf eine Verallgemeinerung der klimatischen Gegebenheiten wie Licht und Temperatur hin. Diese Eindrücke gestaltete er etwa in seinem Aquarell Klang aus Sizilien (1924) mit zarten, transparenten Farben innerhalb einer Bergsilhouette, die nach oben durch einen hellblauen Horizont abgeschlossen wird (Abb. 3). Dabei dominieren warme Gelb-, Orange- und Rottöne, die als frei gestaltete Rechtecke und Tupfer auf einem orangefarbenen, wässrig aufgetragenen Grund flimmern. Akzente sind sparsam mit Blau und Grün gesetzt.

4 | Klee, Tagebucheintrag vom 16.4.1914, in Kersten 1988, S. 350; Transkription übernommen entsprechend Kersten. Bei dieser Passage handelt es sich wohl um eine nachträgliche Einfügung, dazu siehe Wagner 2002, S. 13. Dies stärkt auch den programmatischen Charakter der Aussage: Es handelte sich nicht um einen spontanen Ausspruch des Künstlers, sondern um eine wohl bedachte Grundlegung seines Kunstkonzepts. 5 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 1.11.1924, in F. Klee 1979, S. 995. 6 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 6.11.1924, ebd. 7 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 11.11.1924, ebd., S. 997.

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Abbildung 3: Paul Klee, Klang aus Sizilien, 1924, Aquarell auf Papier, 17,2 × 22,2 cm, Museum Ludwig, Köln

Eine klimatisch abstrahierte Naturerfahrung beschrieb Klee bereits 1918 in anderer Form in einem Brief an L. Klee aus Gersthofen: »Gestern Nachmittag machte ich einen schönen Spaziergang. Die Landschaft war in ein schwefliges Gelb getaucht, nur das Wasser war türkisblau bis zum tiefsten Ultramarin. Die Weiden beginnen schon saftig zu werden. Es gibt gelbe, karminrote und violette Zweige. […] Plötzlich überraschte mich dichtester Nebel. Und ich machte mich schleunigst auf, da ich der Gegend ohnehin nicht ganz traue. […] Hier war, abseits vom Lech, der Nebel weniger dicht, und zart wärmliche Töne drangen durch, auf kalten Gründen schwebend. […] Ein Schnupfen erlangte Abends seinen Höhepunkt. Aber das Luftbad hatte mir gut getan, und ich schlief sehr gut und fühle mich heute besser.« 8

Den Übergang von einem warmen Nachmittag zu einer feuchten Vernebelung der Luft bis zu einer erneuten Aufklärung und Abkühlung am Abend ästhetisierte Klee als Farbverlauf von einer gelben und warmen über eine getrübte zu einer erneut klaren, aber abgekühlten und dennoch milden Atmosphäre. Der geschilderte Spaziergang, so war Klee überzeugt, habe seine Erkältung rasch gebessert. 8 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 28.1.1918, ebd., S. 901.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Die Heilsamkeit von Luftbädern und die Wirkung des Klimas auf die Gesundheit sind in seinen autobiographischen Schriften sowie Briefen sehr präsent und werden dort mit Farbverläufen und -qualitäten in Beziehung gesetzt.9 Klee kam auch aus familiären Gründen mit Naturheilkunde und Klimatherapie in Kontakt. Sein Sohn Felix Klee war in jungen Jahren viel krank und unterzog sich zahlreichen Kuren. In Briefen an seine Frau reflektierte Klee den Einfluss der Witterung und des Klimas auf dessen Genesung. Noch 1927 schrieb er an den nun zwanzigjährigen Sohn, der gerade eine Kur auf der Mittelmeerinsel Porquerolles begonnen hatte: »Jetzt bist Du im Süden, den ich so liebe, das ist recht. Jetzt mußt Du Dich aber gründlich ausruhn und ein Naturleben führen, damit auch dem Körper das Seine wird, nicht nur immer dem Geiste«.10 Wenige Tage später verband er in einem Brief an L. Klee Maltätigkeit, Farbgebung und Naturheilung miteinander: »Ich haue noch ein paar Aquarelle hin, die von der eingetretenen Intensivierung der Farbe mit ergriffen sind, und eine Hoffnung bedeuten, daß das Mittelmeer diesmal directer sich auswirken wird, als letztes Mal auf Elba«.11 Mit der »Intensivierung der Farbe« bezog sich Klee auf den ungewöhnlich schönen Dessauer Sommer, der offenbar fast an das Mittelmeerklima heranreichte. Einige Wochen später besuchte Klee seinen Sohn auf Porquerolles. Dort gefiel es ihm »außerordentlich gut, was Klima und was Farbigkeit betrifft«: »Das Klima ist gleichmäßig, meist luftig oder windig. Die Hitze ist wohl groß, aber nicht sehr empfindlich. Die Landschaft ist abwechselnd, Wald (Pinien), Busch und etwas Weinkultur. […] In mancher Hinsicht könnte man sagen Elba en miniatüre [sic!]. Was mich fesselt, ist das Kolorit, und ich kann hier wieder einiges an Klängen gewinnen.«12

9 | Die Differenzierung warmer und kalter Farben wurde im Kontext der Malerei im 17. Jahrhundert theoretisiert (J. Gage 2008, S. 93). Allerdings hatte sie keinen zentralen Stellenwert. Der erste Farbenkreis, der diese Unterscheidung veranschaulichte, stammt John Gage zufolge von Charles Hayter aus dem Jahr 1813 (ebd., S. 94). Die Systematik wurde im 19. Jahrhundert in der Kunst- und Farbtheorie popularisiert, bevor sie seit dem Ende des Jahrhunderts in die psychophysischen Wissenschaften Einzug hielt (ebd., S. 99). Besonders intensiv setzte sich Josef Albers mit warmen und kalten Farben auseinander. Er orientierte sich an den Lehren Franz von Stucks, der auch Lehrer Wassily Kandinskys und Klees war, und den Farben »verschiedene räumliche Qualitäten« zusprach. Die Farben treten gemäß von Stuck je nach ihrer thermischen Qualität vor oder zurück: »Lichtfarben seien kalt und träten zurück, Schattenfarben wirkten warm und drängten nach vorne« (Häring 2005, S. 87). 10 | Klee in einem Brief an Felix Klee am 8.7.1927, in F. Klee 1979, S. 1048. 11 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 16.7.1927, ebd., S. 1053. 12 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 29.7.1927, ebd., S. 1055f.

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Klee betonte die Farbigkeit und ihr Zusammenspiel in landschaftlichen Klängen, die diese Naturheillandschaft prägen. Auch das durch Wind und Luftigkeit nicht unangenehm heiße Klima hob er hervor. Der Künstler sammelte so über längere Zeit und an verschiedenen Orten auf der Insel Farbklänge, um das Typische dieser Region bildlich einzufangen. Warme, milde Klimabedingungen standen, so scheint es zunächst, für Klee im Vordergrund. In der Klimatherapie galt damals ebenfalls: »Je schonungs-, erholungs-, ausspannungs-, genesungsbedürftiger ein Organismus ist, desto reizmilder hat auch die Klimawechselzumutung zu sein, die an ihn gestellt werden darf«.13 Das Schonklima steht im Gegensatz zum Reizklima, das später am Beispiel Mark Rothkos und Friedrich Nietzsches thematisiert wird (Kap. 5.6). Ansatzweise kann das Konzept des Reizklimas aber auch bei Klee vorgefunden werden (Kap. 6.4). In sein Interesse an Heilkunde und Kurorten fügt sich Klees Gleichsetzung der Kunst mit einer »Villegiatur [sic!]«, einem sommerlichen Landaufenthalt, welcher es vermöge, die »hungernden Nerven« der Seele »zu nähren, ihre erschlaffenden Gefäße mit neuem Saft zu füllen«.14 Kunst könne demnach in ein anderes Klima führen und eine Kräftigung bewirken. Diese Formulierung fand Klee 1918, im selben Jahr, in dem er das heilsame Luftbad in Gersthofen beschrieb. Die Durchdringung mit klimatischen Farben südlicher Orte und Landschaften nahm für die Entwicklung seiner Kunstpraxis und -theorie eine wesentliche Rolle ein. Noch 1932 schrieb Klee in einem Brief von einer südlichen »Heillandschaft«15 – sein Interesse für die Naturheilkunde beschränkte sich also nicht auf die frühen Jahre. Zwischen 1921 und 1931 entwickelte Klee im Rahmen seiner Tätigkeit am Bauhaus eine elementare Formen- und Farbenlehre.16 In seinen Unterrichtsnotizen von 1922 traf er etwa die Feststellung, dass die Farbwahl »erkältend« oder »zu heiss« sein könne.17 Dabei ging er von der Relativität der Farbempfindungen aus: »Ist es zu heiss sehnt man sich nach grün-blau, ist es zu kalt, sehnt man sich nach gelbrot«,18 erläuterte er. Ein wesentliches Anliegen Klees war es, »von keiner Farbe zu viel oder zu wenig zu nehmen und keine falsche Farbe zu erwischen«.19 In dem Ölgemälde Feuer am Abend gestaltete er 1929 eine eher dunkle, kühle, durch waagerechte Streifen geprägte Komposition, die im Bildzentrum etwas nach rechts versetzt durch ein ungemein leuchtendes, ›heißes‹ Rot kontrastiert wird.20 13 | Hellpach 1935, S. 133. 14 | Klee 1920, S. 39f.; vgl. Kap. 2.1. 15 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 5.12.1932, in F. Klee 1979, S. 1206. 16 | Düchting 1996, S. 65. 17 | Klee, »Bildnerische Formenlehre« (BF/151, 26.6.1922), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 18 | Ebd. (BF/152, 26.6.1922). 19 | Ebd. (BF/175, 12.12.1922). 20 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, Feuer am Abend, 1929, Öl auf Karton, 33,8 × 33,3 cm, Museum of Modern Art, New York.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Klee orientierte sich maßgeblich an Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre (1810), in der Gelb, Rotgelb und Gelbrot die sogenannte »Plusseite« der Farben darstellen: »Sie stimmen regsam, lebhaft, strebend«.21 Dieser warmen, aktivierenden Wirkung setzte Goethe die »Minusseite« der Farben entgegen, zu denen Blau, Rotblau und Blaurot gehören.22 Das Blau sei »als Farbe eine Energie«, deren Wirkung zwischen »Reiz und Ruhe« changiere, es scheine zurückzuweichen und ziehe die Betrachtenden zugleich an.23 Zudem gebe es »ein Gefühl von Kälte« und könne traurig stimmen.24 Neben Wärme und Kälte war die Unterscheidung von klaren und trüben Farben für Klee relevant. Die sogenannten »reinen Farben« situierte er »im irdischkosmischen Zwischenreich der Athmosphaere«.25 Diese entsprachen nicht den Pigmentfarben, sondern atmosphärischen Lichtphänomenen, die vom Gegenständlichen losgelöst sein sollten. Auch hier bot Goethes Farbenlehre einen wichtigen Anhaltspunkt. Farben wurden von Goethe zuallererst als atmosphärische »Naturerscheinungen« gefasst,26 schließlich stand die Entwicklung der Farbenlehre in enger Verbindung mit seiner Italienreise.27 In eben dieser Tradition bewegte sich Klee, der seinen Tunisaufenthalt als Erweckungserlebnis für seine Farbverwendung dargestellt hatte. Wie Jacques Le Rider feststellt, liest sich die Farbenlehre Goethes stellenweise wie das »Notizbuch eines ›impressionistischen‹ Pleinairisten«.28 Goethe beschrieb die Qualitäten und die sinnlich-sittliche Wirkung29 der Farben klimatisch-atmosphärisch: So mache etwa das gelbe Licht »einen durchaus warmen und behaglichen Eindruck«: »Diesen erwärmenden Effekt kann man am lebhaftesten bemerken, wenn man durch ein gelbes Glas, besonders in grauen Wintertagen, eine Landschaft ansieht. Das Auge wird erfreut, das Herz ausgedehnt, das Gemüt erheitert, eine unmittelbare Wärme scheint uns anzuwehen«.30 Farben haben bei Goethe nicht nur eine Temperatur und bewirken spezifische Stimmungen, sie implizieren als atmosphärische Phänomene auch eine bestimmte Luftdichte. Gemäß der Dichte des Mediums – etwa »reinere atmosphärische Luft, mit Dünsten angefüllte, Wasser, Glas […]«31 – würden durch die jeweilige Licht21 | Goethe 1953 (1810), S. 326. 22 | Ebd., S. 329. 23 | Ebd. 24 | Ebd. 25 | Klee, »Bildnerische Formenlehre« (BF/156-157, Wintersemester 1922/23), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 26 | Goethe 1953 (1810), S. 325. 27 | Vgl. Le Rider 1997, S. 83. 28 | Ebd., S. 90. 29 | Goethe 1953 (1810), S. 325. 30 | Ebd., S. 327. 31 | Ebd., S. 237.

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brechung verschiedene Farben erzeugt. Durch das trübe Medium erscheine das Licht bei zunehmender Dichte gelb, gelbrot und gar rubinrot,32 verdunkelt sich also. Blau werde bei ansteigender Trübe hingegen heller, besonders dunkles Königsblau lasse sich daher in der Höhe in besonders reiner Luft erfahren.33 Solche Phänomene beschrieb Klee anhand seines Gerstenhofener Spaziergangs. Sie tauchen in seinem Œuvre immer wieder auf. Aquarelle wie Scheidung Abends (1922) oder auch Eros (1923) und Doppelzelt (1923) sind paradigmatisch für Klees atmosphärische Farbauffassung (Abb. 4).34 Abbildung 4: Paul Klee, Scheidung Abends, 1922, Aquarell und Bleistift auf Papier, oben und unten Randstreifen mit Aquarell und Feder, auf Karton, 33,5 × 23,2 cm, Paul Klee-Stiftung, Bern

Sie haben einen Studien- und diagrammatischen Charakter. An Goethe erinnernd gebrauchte Klee Blau und Gelb beziehungsweise Orange sowie deren Abstufungen, wobei diese allerdings nicht über eine Verdichtung zu Purpur verlaufen wie es Goethes Farbenlehre entsprechen würde. Durch die Steigerung und Abschwächung der Farbintensität treten mehrere Stufen der Wärme und Kälte, 32 | Ebd., S. 212. 33 | Ebd., S. 211. 34 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, Eros, 1923, Aquarell auf Papier auf Karton, 33,3 × 24,5 cm, Museum Sammlung Rosengart, Luzern. Paul Klee, Doppelzelt, 1923, Aquarell auf Bütten auf Karton, 50,5 × 31,8 cm, Museum Sammlung Rosengart, Luzern.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Aufklarung und Eintrübung, Lichthaltigkeit und Dunkelheit in Erscheinung. Neben der Assoziierung mit Tageszeiten, Temperaturen und Luftdichten, ist hier das Konzept der komplementären Farben von Bedeutung. Schließlich ging Goethe von einem natürlichen »Bedürfniß nach Totalität« des Auges aus:35 »Die Totalität nebeneinander zu sehen macht einen harmonischen Eindruck aufs Auge«.36 Das Ergebnis ist demnach ein gemäßigtes Farbklima, ein Ausgleich von Wärme (Gelb, Orange) und Kälte (Blau, Grün), Erregendem und Beruhigendem sowie Reinheit und Trübe. In den drei Studien arbeitete Klee mit lasierender Aquarelltechnik, die ihm die feinen Farbabstufungen ermöglichte. Diese sind einerseits durch die Übergänglichkeit und den Eindruck der Wandelbarkeit der verschiedenen Qualitäten geprägt, andererseits sind klare Grenzen markiert. Die Aquarellierung sorgt zudem für den transparenten Eindruck der Farben, die so als atmosphärische Lichtqualitäten erscheinen können. Weiß, Gelb und Orange erhalten im Kontrast zum Dunklen und Trüben eine besondere Leuchtintensität. Klee war mit den Möglichkeiten der Malerei, eine klimatische Licht- und Luftatmosphäre auf die Leinwand zu bringen, allerdings keineswegs zufrieden. Dies geht mit einer generellen Kritik des Augensinns einher. Denn sogar der Regenbogen, den er als Vorbild für die Farben bezeichnete, vermittle die reinen Farben nur mangelhaft und unvollständig. So sei dessen Erscheinung auf die für das Menschenauge sichtbaren Farben in der Atmosphäre begrenzt.37 In seinen Notizen bezog sich Klee auf das infrarote und das ultraviolette Licht. So stellte er fest, dass »über das rote Ende hinaus noch etwas sein soll, was als Wärme wirkt, und dass auch das blaue Ende sein Geheimnis haben soll, das sich mit chemischer Wirkung äussert«.38 Das wirksamste Licht sei für die Augen nicht sichtbar und könne mit den Mitteln der Kunst schon gar nicht dargestellt werden, beziehungsweise nur mangelhaft durch warm und kalt wirkende Farben. Auch der Grad an Reinheit der Regenbogenfarben sei mit dem Pigment auf der Leinwand nicht zu erreichen. Das Problem der »Mangelhaftigkeit« der malerischen Mittel in der Annäherung an die reinen Farben war somit konstitutiv für Klees Farbverständnis. Er dachte darüber nach, wie ein »ideelle[r] Malkasten« aussehen könnte und formulierte in diesem Zusammenhang das Malen mit den Farben des Lichtes, den Spektralfarben oder gar der Strahlung jenseits des sichtbaren

35 | Goethe 1953 (1810), S. 332f.: »Gelb fordert Rotblau[,] Blau fordert Rotgelb[,] Purpur fordert Grün und umgekehrt«. 36 | Ebd., S. 314. 37 | Klee, »Bildnerische Formenlehre« (BF/158, 28.11.1922), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 38 | Ebd.

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Spektrums als unerreichbares Ideal.39 Dies erinnert an Philipp Otto Runges Konzeption der unsichtbaren Farbenkugel, die rein aus Licht bestehen sollte.40 Eine zentrale Quelle für Künstler seit dem Neoimpressionismus war Ogden N. Roods Die moderne Farbenlehre mit Hinweisung auf ihre Benutzungen in Malerei und Kunstgewerbe (1880), in denen der Physiker wissenschaftliche Erkenntnisse zu Farbe und Licht seit Newton darlegte. Vor allem für eine Begründung der Lichtqualität der Farbe auf der Leinwand wurde seine Schrift herangezogen. Rood unterschied grundlegend das reflektierte und das durchdringende Licht, postulierte aber auch, dass nicht nur die Natur, sondern auch der Maler mit Licht male, wobei allerdings »das dem Maler zur Verfügung stehende Lichtmaterial« beschränkt sei.41 Die Farbe auf der Leinwand wird als reflektiertes Licht in Form von »Undulationen, Schwingungen oder Wellen« beschrieben.42 In der Malerei könne jedoch, dieser Auffassung war auch Klee, niemals die Intensität des farbigen Lichtes des Spektrums erreicht werden. So reflektiere jede farbige Fläche zu einem großen Anteil weißes Licht, während eine Spektralfarbe kein weißes Licht enthalte, sondern reines, intensiv strahlendes Licht einer bestimmten Tönung.43 Einerseits wurde so eine Minderung der Lichthaltigkeit und Intensität der malerischen Farbe postuliert, andererseits wird Farbe trotzdem als Lichterscheinung auf Grundlage der Reflexion begründet. Bei der Erzeugung eines Bildklimas ging es nicht allein um die Erzeugung von Licht. So problematisierte Klee gar, dass ein Übermaß an Licht »Störungen« hervorrufen könne: »So arbeiten wir denn nicht nur mit heller Energie gegen gegebenes Dunkel, sondern auch mit schwarzer Energie gegen gegebenes Hell«.44 Nicht einen statischen Ausgleich, sondern einen dynamischen Wechsel von Hell und Dunkel gelte es zu gestalten. Das Bild soll als »herüber und hinüber wogendes Kampfspiel organisiert werden, wobei wir uns von beiden Polen [Hell und Dunkel] her energisch zu bedienen haben«.45 Der energische Einsatz von Kontrasten fügt sich allerdings nicht in das zuvor postulierte Ideal eines milden Mittelmeerklimas. Die Lichtwirkung in seinen Bildern intensivierte Klee mitunter durch starke Kontraste. Qualitäten wie Helligkeit und Dunkelheit, Klarheit und Trübe sowie Wärme und Kälte treten deutlich hervor. Neben diesem Verfahren finden sich bei Klee Werke, die – wie Klang aus Sizilien – durch sanfte Farbkontraste geprägt sind. In diesem Sinne lassen sich zwei entgegengesetzte klimatische Bildmodelle identifizieren: Einerseits wird durch helle, sanfte Farben und schwache Kontraste ein mil39 | Ebd. 40 | Matile 1979, S. 170f. 41 | Rood 1880, S. 8. 42 | Ebd., S. 3. 43 | Ebd., S. 26f. 44 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/85, 8.1.1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 45 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/86, 8.1.1924), ebd.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

des Klima erzeugt, das eine schonende Wirkung entfalten soll. Andererseits werden den intensiven Farben und starken Kontrasten ein erregender und belebender Effekt zugesprochen. Das erste Modell wird in diesem Teil anhand von Polyphonie, das zweite später am Beispiel von Blühendes betrachtet (Kap. 6.4: Abb. 41). Abbildung 5: Paul Klee, Polyphonie, 1932, ungefirnisste Tempera auf Leinwand, 66,5 × 106 cm, Öffentliche Kunstsammlung, Basel

Mit Polyphonie (1932) schuf Klee auf für ihn relativ großem Format eine Art Rasterbild, das wie ein Flickenteppich in unterschiedlich große Rechtecke untergliedert ist (Abb. 5). Helle, wässrig wirkende Orange-, Grün-, Blau- sowie Grautöne dominieren in verschiedenen Mischungen und Abstufungen. Akzente bilden dunklere Ocker- und Blautöne. Über die Grundierung ist ein Netz von kontrastierenden Punkten gelegt, die durch gesättigte Farben umkreist und somit abgesetzt sind. Zum Teil werden die Farben des Grundes in der Punktrasterung sowie Umrahmung in stärkerer Sättigung wiederholt, in anderen Bereichen werden WarmKalt- und andere Kontraste gestaltet. Diese Technik, die an das neoimpressionistische Pointillieren erinnert, wendete Klee nach 1930 häufiger an.46 Dadurch erhält das Bild eine atmosphärische Qualität. Diese Wirkung wird auf Grundlage neoimpressionistischer Verfahren, jedoch nicht in Form der optischen Mischung, sondern durch die Kombination flächiger und punktierter Elemente im Kontrast zwischen Hinter- und Vordergrund erzeugt. Das Bild erhält so eine bewegte, vibrierende Erscheinung. Warme und kalte Töne stehen in einem ausgeglichenen Verhältnis, sodass die Idee eines milden Bildklimas umgesetzt scheint. Dem Gemälde ist eine sommerliche Leichtig- und Luftigkeit inne, die mit dem Modell der 46 | Vgl. Düchting 1996, S. 77.

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Villeggiatur im Einklang steht. Allerdings findet sich bei Klee an keiner Stelle eine explizite Anwendung dieses Begriffs auf konkrete Werke. In der Zeit um und nach 1932 experimentierte Klee wiederholt mit diesem Bildtypus, in dem mit Öl oder Wasserfarben Punktmuster auf geometrisch untergliederten Grundflächen ausgeführt sind. Dabei entsteht z.B. in das licht und die schärfen (1935) jeweils eine besondere Transparenz, Bewegtheit und Lichthaltigkeit.47 Und das ovale Ölgemälde Ranke (1932) erscheint als von farbigen Lebenskräften und atmosphärischen Partikeln durchwirkt, die von einer in der oberen Bildhälfte zentrierten Sonne ausgehen und das Wachstum einer Ranke befördern.48 Ähnlich wie Otto Nebel und Johannes Itten setzte sich Klee in seinem Frühlingsbild (1932) mit einem Jahreszeitenthema auseinander: Zart-warme Roséund Orangetöne kontrastieren hier dunkles, feuchtes Blau.49 Für Klees Verhältnisse großformatige Bilder wie Polyphonie exemplifizieren den Übertritt des Bildes in den Umraum mittels Strahlung und Räumlichkeit, sodass ein Umfangen und eine Durchdringung der Rezipierenden durch eine milde, warme und leichte sowie transparente Farbatmosphäre plausibel werden. Vergleiche bieten sich zu Nebel an, der Techniken des Neoimpressionismus abwandelte, um Lichtwirkungen zu gestalten, aber auch zu Otto Pienes Rasterbildern (Kap. 3.5, 4.6). Während Nebel und Piene ihre Bild- und Kunstkonzepte sehr ausführlich in verschiedenen Schriften darlegten und gesonderter Betrachtung bedürfen, soll nun neben Klee mit Kupka ein weiterer, eher wortarmer Künstler eingeführt werden, der Farbkonzepte und heilsame Klimaräume zusammendachte.

3.1.2 Vitalisierende Farbatmosphären: František Kupka Kupka legte seine Ideen in der zu seinen Lebzeiten gänzlich unbekannt gebliebenen Schrift Die Schöpfung in der bildenden Kunst nieder. Diese verfasste er zwischen 1907 und 1913,50 während er seine ersten abstrakten Bilder schuf. Abgesehen von dieser Programmatik sind nur vereinzelt Artikel und Äußerungen überliefert. Für diese Studie sind nicht Kupkas spätere, konstruktivistische, son47 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, das licht und die schärfen, 1935, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 32 × 48 cm, Zentrum Paul Klee, Bern. 48 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, Ranke, 1932, Ölfarbe und Sand auf Holz, 38 × 32 cm, Zentrum Paul Klee, Bern. Weitere Beispiele sind Emacht, 1932, Ölfarbe auf Baumwolle, 50 × 64 cm, Kunstmuseum Bern und durch ein Fenster, 1932, Ölfarbe auf Gaze auf Karton, 30 × 51,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern. 49 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, Frühlingsbild, 1932, Aquarell und Feder auf Papier auf Karton, 26,7 × 47,8 cm, Privatbesitz, Schweiz. Vgl. Kap. 3.7 zu Ittens Konzept der trockenen und feuchten, jahreszeitlichen Farbklimata. 50 | Veröffentlicht wurde sie allerdings erst zehn Jahre später um 1923 auf Tschechisch. Übersetzungen auf Französisch und in anderen Sprachen erfolgten seit Ende der 1980er Jahre.

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dern seine frühen abstrakten Werke der zehner Jahre und die damit verbundenen lebensreformerischen Konzepte von Interesse. Über den Lebensreformer Karl Diefenbach und den Künstler Fidus51 unterhielt Kupka spätestens seit den 1890er Jahren enge Bande zur Lebensreform- und Naturheilkundebewegung. In seiner Wiener Zeit um 1894 war er Schüler bei Diefenbach und lebte in dessen Kommune Hütteldorf bis zum Sommer 1895. Als Anhänger der Nacktkulturbewegung lautete Diefenbachs Kernforderung: »[D]ie Haut will Licht trinken und Luft atmen – nehmt Lichtluftbäder!«.52 Wenngleich Kupka Diefenbach als Person später skeptisch gegenüberstand, blieben naturheilkundliche Aspekte für ihn bedeutsam.53 In Wien war Kupkas Werk noch stark vom Jugendstil und Symbolismus geprägt. Anschließend zog es ihn nach Paris, wo er seine abstrakte Formensprache entwickelte. Hier, anders als beim späteren, konstruktivistischen Kupka, konnte von einer Naturabwendung im Zuge der Abstraktion keine Rede sein. Wie Katharina Ferus darstellt, barg Kupkas »Abschied von der Mimesis […] ein permanentes Spannungsverhältnis von Autonomiebekundung und Naturverpflichtung in sich«,54 das in Die Schöpfung in der bildenden Kunst immer wieder thematisiert wird. Kupkas Ansatz habe darin bestanden die »Natur zu erschaffen, ohne sie so zu erschaffen, wie sie ist«.55 Anstatt diesen Konflikt auszudiskutieren, sollen jene Äußerungen herausgestellt werden, die die enge Verbindung von Kunst und natürlichen Prinzipien bei Kupka zeigen. Er wird bis heute vornehmlich als esoterischer Künstler betrachtet,56 wodurch seine Zuwendung zu Biologie und Physik nur allzu oft aus dem Blick gerät. Davon, dass er mehr als es die bisherige Forschung suggeriert, dem rein metaphysischen Denken kritisch gegenüberstand, zeugt etwa ein Brief aus dem Jahr 1897. Darin schrieb Kupka an den Kunstkritiker Arthur Roessler (1877-1955), er wolle aus dem »transzendentalen Labyrinth aus[…]brechen« und sich ganz auf seine »Sinnesorgane […] beschränken«.57 So wolle er sich nicht mehr an den »end- wie sinnlosen meta-

51 | Zu Karl Diefenbach (1851-1913) und Fidus (1868-1948) sowie Kupkas Verhältnis zu ihnen siehe Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872-1972, Ausst.-Kat. Schirn-Kunsthalle Frankfurt a.M./Nationalgalerie Prag, Köln 2015 (wie Kort 2015). 52 | Tavenrath 2000, S. 25. 53 | Kort 2015, S. 92. 54 | Ferus 2002, S. 198. 55 | Ebd., S. 202. 56 | So wird er vorrangig in Publikationen wie den folgenden besprochen: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Ausst.-Kat. Schirn-Kunsthalle Frankfurt a.M., Ostfildern-Ruit 1995; Judi Freeman/Maurice Tuchmann, Das Geistige in der Kunst. Abstrakte Malerei 1890-1985, Stuttgart 1988. 57 | Kupka zit.n. Baetcke/Blum 1997, S. 22.

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physischen Spekulationen beteiligen«.58 Das Leiblich-Sinnliche stellte er so früh in das Zentrum seiner Überlegungen. Jedoch verbannte er keineswegs okkultes Gedankengut, sondern suchte, wie viele Künstler der Zeit, nach einer Verbindung von Sinnlichem und Übersinnlichem. Kupka attestierte der Farbe eine therapeutische Wirkung, insofern »eine frische Energie ausstrahlende Farbe im Künstler eine Autosuggestion hervorrufen und zu seiner eigenen Kraft und Gesundheit beitragen« könne.59 Die Lichtfarben in der Atmosphäre waren für sein Farbkonzept ebenso maßgebend wie für Klees, und auch das Prinzip der Durchdringung findet sich in diesem Zusammenhang wieder: »Ich selbst begegnete wunderbarer Farbigkeit, die lediglich durch die Pflege der eigenen Hygiene erzeugt wurde. Nach einer morgendlichen Dusche turne ich im Winter wie im Sommer völlig nackt im Garten. […] Gleichzeitig ist es auch eine Art Abhärtung. Ich führe die Übungen wie ein Gebet aus, indem ich mich an die aufgehende Sonne wende, an dieses großartige Feuerwerk, das in der schönen Jahreszeit vom Vogelgezwitscher begleitet wird. Den ganzen Körper vom Duft und Licht durchdrungen, erlebe ich dabei herrliche Augenblicke, durchtränkt von Farbtönen, die der titanischen Farbklaviatur entstammen.« 60

Der bewusste Aufenthalt an der Luft und im natürlichen Licht war offenbar ein Ritual des Künstlers, das für seine Kunstpraxis Bedeutung erlangte. Das reine Licht der Sonne spielte dabei eine besondere Rolle, wie später anhand der Serie Disques de Newton und der großen Komposition Amorpha. Fugue à deux couleurs diskutiert wird (Kap. 4.2: Abb. 24). Auf einer sehr allgemeinen Ebene postulierte Kupka eine Abhängigkeit der Farbwahrnehmung vom Klima, mit welcher er einen spezifischen Bedarf an Farben in bestimmten Kulturen beziehungsweise klimatisch-geographischen Regionen begründete: »Im Norden ist die Farbe Schwarz verpönt; Grau und Braun sind dort düstere Farben. Man sehnt sich nach Sonne, Glanz und lebendigen Farben. Umgekehrt liebt man in Ländern der Wärme und der Sonne die Farbe Schwarz als Erholung und schattigen Ort, hier sind die der Sonne ausgesetzten Farben Grau und Schwarz von Leben durchdrungen, was den Bewohnern nördlicher Landstriche unbekannt ist.« 61

Leuchtende, lebendige Farben dienten auch Klee als heilsame Umweltfaktoren im Kontrast zum mitunter grauen Dessau: Kupka und Klee bezogen ideale Farblichtumwelten auf ihre Bildfindungen und erstrebten, mit ihren Bildern einen Kontrast zum trüben Wetter in Nordwesteuropa zu schaffen und die klimatischen 58 | Kupka zit.n. ebd. 59 | Kupka 2001 (1923), S. 70. 60 | Ebd., S. 71. 61 | Ebd., S. 74.

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Gegebenheiten durch künstlerische Gestaltung zu substituieren.62 Eine Harmonisierung mit dem eigenen Lebensraum war für Kupka und andere Künstler in dieser Epoche ein zentrales Anliegen. Gemäß Kupka müsse der Mensch als Teil der Natur seinen »Nervenmechanismus« und seine »Gehirntätigkeit« in Einklang mit den jahreszeitlich bedingten Veränderungen bringen, um produktiv sein zu können.63 Ihn interessierten nicht so sehr die flüchtigen Licht- und Luftatmosphären, sondern die allgemeinen jahreszeitlich-klimatischen Gegebenheiten. Ähnlich wie Klee bemängelte Kupka in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der Malerei: Eine der Farbatmosphäre der Natur ähnliche, durchdringende Wirkung in der Kunst zu realisieren, stelle eine besondere Herausforderung dar: »[W]ie kann Helligkeit und Intensität erreicht werden? Sollen wir alle Glasmaler werden, weil die Farbstoffe, die uns zur Verfügung stehen, nur entfernte Anklänge an die von der Herrlichkeit des Lichts erfüllten Klänge sind?«.64 Ferner stellte er fest, dass »Werke der Elektrotechniker […] das farbige Licht manchmal besser als die Maler« artikulieren könnten.65 Kupka formulierte so eine grundsätzliche Bildkritik. Das Bildlicht sei stets nur reflektiertes Licht und stelle keine durchdringende Licht- und Luftqualität her, wie sie Kupka als lebenspendend und heilsam in der Natur erlebte: »[D]ie Ausstrahlung vitaler Energie, die der Natur und auch uns eigen ist, geschieht durch vibrierende, verschieden gefärbte Wellen«, so Kupka.66 Diese Utopie einer möglichst immateriellen Farbe zieht sich durch die abstrakte Moderne. Kupka träumte von einer Kunst, für welche der oder die Rezipient/-in »vielleicht nicht einmal die Augen gebrauchen müsse[…], da er [bzw. sie] mit dem Bild in eine unmittelbare Verbindung tritt«.67 Dieser Gedanke steht im Kontext der damals virulenten Telepathie. Allerdings geht Kupkas Konzept nicht in diesem Bezug auf, schließlich handelte er immer wieder von klimatischen Farbwirkungen. Die farbigen Lichtwellen in der Natur verstand Kupka als Trägerinnen von Lebensenergie. Dabei galt: je intensiver die Farbigkeit, desto energetischer. Damit hing die Idee einer belebenden Wirkung des Bildes zusammen, die allerdings eher als Utopie formuliert ist. Farben wirken gemäß Kupka durch »Wellen«68, die sie in Form »atmosphärische[r] Strahlung« emittieren.69 »Lichteinwirkungen« haben ihm zufolge einen Einfluss auf die »Seelenzustände«: »[V]iele Seelenzustände – de62 | Bei Max Burchartz und Otto Piene werden sich ähnliche Gedanken zeigen: Kap. 3.2, 4.6. 63 | Kupka 2001 (1923), S. 63. Solche Forderungen formulierte auch Johannes Itten: Kap. 3.7, 6.6. Vgl. zum Aspekt des Einklangs mit der Umwelt Kap. 2.2, 2.4. 64 | Ebd., S. 80. 65 | Ebd., S. 111. 66 | Ebd., S. 74. 67 | Ebd., S. 133. 68 | Ebd., S. 62. 69 | Ebd., S. 63.

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ren Ursache nur schwer auszumachen« sei, würden »durch unterschiedliche Lichteinwirkungen hervorgerufen«.70 Diese seelischen Zustände seien zugleich »physiologische Zustände«.71 Die Formulierung, nach der die farbigen Lichter in der Atmosphäre eine Autosuggestion hervorrufen können, die zur Gesundung beitrage, impliziert die Annahme der Einwirkung optischer Reize auf die Psyche, die psychosomatisch auf den physiologischen Organismus zurückwirken. Kupka unterschied somit nicht zwischen Körper und Seele, sondern betrachtete sie als zusammenhängende Einheit. Auch verglich er die atmosphärischen Naturerscheinungen und die Gedankenwelt des Menschen mit Farbwechseln. So würden sich »ebenso wie unsere Gedanken […] ständig auch die Farbe der uns umgebenden Dinge« verändern.72 Gedanken erscheinen bei Kupka somit als Atmosphären. Dies zeugt von seinem esoterischen Denken, das sich hier mit ökologischen Ideen verbindet.73 Die »Brechung des Lichts« und den »Luftdruck« betrachtete Kupka als wirkmächtige Einflüsse auf den menschlichen Organismus.74 Zudem sprach er, wie Klee auch, von »Gefühle[n] von Wärme und Kälte, die den Farben zugeschrieben werden«.75 Die verschiedenen »Tagesstunden und Jahreszeiten« seien durch unterschiedliche Farben geprägt.76 Er schrieb ferner von der »chemische[n] Entstehung von blau-violetten und von warmen orange-gelben Strahlen«.77 Vitalisierende Effekte attestierte Kupka den warmen Farben – Gelb, Gold und Rot –, die ihm zufolge zu einer Pulssteigerung führen.78 In diesen Ausführungen erschöpft sich sein Farbkonzept. Im Vergleich zu Klee, Max Burchartz und Johannes Itten (Kap. 3.3.1, 3.2, 3.7), die Farbwirkungen umfangreich ausformulierten, blieb Kupka ungenau. Zudem gibt er keine Hinweise, inwiefern er seine Konzepte ins Bild übertrug. In Kupkas Œuvre wird eine besondere Auseinandersetzung mit thermischen Farbqualitäten hingegen durchaus deutlich. In diesem Zusammenhang kommt sein architektonisch-atmosphärisches Bildmodell zum Tragen: Schließlich sollten die Rezipierenden »wie durch eine offene Tür« in das Werk eindringen.79 Kirchenarchitekturen stellten den Ausgangspunkt zur Umsetzung dieses Bildmodells dar und wurden zur Folie von Kupkas lebensräumlichem Bildkonzept: In Amorpha, Chromatique chaude (1912) gestaltete der Künstler eine Struktur, die an die Kreuzgewölbe gotischer Kirchen erinnert (Abb. 6). Die ›warme Chroma70 | Ebd., S. 62. 71 | Ebd. 72 | Ebd. 73 | Vgl. Kap. 3.4-3.6 zu ähnlichen Verbindungen bei Wassily Kandinsky und Otto Nebel. Zu kulturellen und geistigen Klimata in den Künstlerhistoriographien vgl. Kap. 5.3.3. 74 | Kupka 2001 (1923), S. 64. 75 | Ebd. 76 | Ebd., S. 62. 77 | Ebd. 78 | Ebd., S. 68. 79 | Ebd., S. 154; vgl. Kap. 2.1.

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tik‹ entsteht in der Zusammenstellung von gelben, orangen und violetten Farbtönen, wobei Orange klar dominiert. Eine Lichtwirkung wird durch den Kontrast großflächiger trüber, dunkler Farbfelder und kleinerer reiner, heller Farbfelder hergestellt. Versammelt Kupka hier nur warme Farben, die er als pulssteigernd betrachtete, treffen im zwischen 1920 und 1923 entstandenen Plans verticaux et diagonaux, Réminiscences hivernales warme und kalte Farben aufeinander (Abb. 7). Zu sehen ist von unten nach oben ein Farbverlauf von Warm nach Kalt, der in Erinnerung an den Winter das Klima des beginnenden Frühlings repräsentiert. In einer Aufwärtsbewegung schieben sich warme, gelbe und rote Formen über weiß-blaue, die in ihrer kristallinen Form an Eis und Kälte denken lassen. Eine Lichtwirkung wird durch Hell-Dunkel-Kontraste erzeugt. Mit der Verschachtelung der Formen erhält das Bild eine Räumlichkeit, die Kupkas Anspruch, die Betrachtenden in das Bild hineinzuziehen, einlöst. Abbildung 6: František Kupka, Amorpha, Chromatique chaude, 1911/12, Öl auf Leinwand, 108 × 108 cm, Museum Kampa, Prag

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Abbildung 7: František Kupka, Plans verticaux et diagonaux, Réminiscences hivernales, 1920-23, Öl auf Leinwand, 180 × 150 cm, Nationalgalerie, Prag

Das Thema der Jahreszeiten behandelte Kupka in zwei weiteren Werken mit dem Titel Printemps cosmique, die er vermutlich zwischen 1911 und 1914 schuf.80 Das erste, Printemps cosmique I, lebt von einer intensiven, gesättigten Farbenvielfalt (Abb. 8), während das zweite vorrangig durch kalte Farben geprägt ist, wobei die weiß-bläulichen Partien in der Bildmitte mit den schwarzen Partien zur Linken kontrastieren. Die Gestaltung legt nahe, dass Printemps cosmique I als Entwicklungsstadium des Frühlings nach Printemps cosmique II folgt. So wird, ähnlich wie in den Réminiscences hivernales, eine Entwicklung vom Dunklen und Kühlen mit allmählicher Erwärmung und zaghaftem Wachstum zu einem Explodieren des Wachstums inszeniert. In beiden Gemälden sind Strahlen gestaltet, die sich von links oben nach vorn unten ausbreiten. Vor diesen Strahlen dehnen sich mal 80 | Nicht abgedruckt: František Kupka, Printemps cosmique II, 1911, Öl auf Leinwand, 115 × 125 cm, Nationalgalerie, Prag. Zu beiden Frühlingsbildern vgl. Spate 1979, S. 117-119. Die Datierungen variieren. Sie sind hier dem aktuellsten Catalogue Raisonnée entnommen: František Kupka. Catalogue raisonné des huiles, hg. v. Vladimír Lekeš, London/Prag 2016.

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kristalline, mal amorph-wolkenartige Formen aus. Das Bild entfaltet durch die zahlreichen Überlagerungen und den Wechsel kalter und warmer sowie dunkler und heller Farben eine Räumlichkeit, die, gemeinsam mit der Dynamik der Formen, Kupkas lebensräumliches Bildmodell stützt. Dabei bleibt Kupka jedoch größtenteils auf einer repräsentativen Ebene: Das Bild selbst emaniert eben keine chemischen Strahlen, die die Betrachtenden beleben, sondern es zeigt energetische und Wachstumsprozesse. Abbildung 8: František Kupka, Printemps cosmique I, 19111914, Öl auf Leinwand, 115 × 125 cm, Nationalgalerie, Prag

Kupka formulierte das Ideal eines atmosphärisch wirksamen Kunstwerkes, welches sich durch klimatische Qualitäten der Wärme und Kälte sowie Leuchtkraft auszeichne und eine Übertragung von Lebensenergien ermögliche. Werden mit Kupkas Bildern zunächst, wie auch bei Klee, visuelle Klimata geschaffen, zielen beide Konzepte auf unsichtbare, reine Farben ab, die nicht mehr über den Augensinn, nicht einmal mehr als Leuchten, sondern in Form einer chemischen oder rein innerlichen Wirkung direkt auf die Seele der Betrachtenden einwirken. Diese Überlegungen stellte Kupka am Beginn seines Gangs in die Abstraktion an. Standen klimatische Konzepte am Anfang der Abstraktion bei Kupka, Klee und auch Nebel, wurden ähnliche Ansätze von anderen Künstlern – dazu gehören Burchartz und Itten – erst in den sechziger Jahren im Rahmen des Spätwerkes voll entwickelt. Burchartz bündelte wesentliche Farb- und Lichtkonzepte, die für die Künstlergeneration vor ihm prägend waren. Dabei stützte er sich wiederholt auf Klee.

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3.2 F arbklimata bei M a x B urchart z Mit dem vitalisierenden Charakter der Farben, den schon Paul Klee und František Kupka beschworen hatten, setzte sich Max Burchartz über zwei Jahrzehnte später ebenfalls theoretisch und praktisch auseinander. Sein malerisches Werk ist kaum bekannt und befindet sich leider ausschließlich in Privatbesitz. 2010 fand in Dessau eine Werkschau statt, in deren Rahmen die bisher einzige umfangreiche Monographie entstand: Max Burchartz 1887-1961. Künstler, Typograf, Pädagoge.81 Der Titel verweist auf Burchartz’ breites Tätigkeitsfeld. Burchartz studierte zwischen 1907 und 1910 an der Kunstakademie in Düsseldorf mit Schwerpunkt Malerei. Er baute nach seinem Dienst im Ersten Weltkrieg 1918/19 Kontakte zum Berliner Sturm und zur Dresdner Sezession sowie der Novembergruppe auf. Zwischen 1920 und 1924 lebte er in Weimar. Weder als Schüler noch als Lehrer direkt ans Bauhaus angebunden, unterhielt er dennoch enge Beziehungen zu Oskar Schlemmer, Klee,82 László Moholy-Nagy83 und Theo van Doesburg.84 Auch mit Johannes Ittens Lehre kam er in Berührung.85 In Weimar näherte er sich allerdings vor allem dem Konstruktivismus und De Stijl an.86 Ab 1927 wirkte er als Professor für Typographie an der Folkwangschule in Essen, von 1933 bis 1939 arbeitete er, seinem Amt enthoben, als freier Gebrauchsgrafiker. Bereits 1933 war er, wenngleich selbst als entarteter Künstler eingestuft, NS-Organisationen sowie im Jahr darauf der NSDAP beigetreten.87 1949 erfolgte eine Wiederberufung an die Folkwangschule. Im selben Jahr veröffentlichte Burchartz seine programmatische Schrift Gleichnis der Harmonie. Gesetz und Gestaltung der bildenden Künste. Hatte er sich in den Jahrzehnten zuvor vorrangig dem Design im Bereich der Typographie, Werbung und Innenraumgestaltung gewidmet, wendete er sich nun verstärkt der bildenden Kunst zu. Dabei nahm er, so Joachim Driller, Abstand vom »Primat[…] kompromissloser Zweckbestimmung und Rationalisierung in der Gestaltung« und suchte, »nach 81 | Gerda Breuer (Hg.), Max Burchartz 1887-1961. Künstler, Typograf, Pädagoge, Berlin 2010. Der Band entstand im Rahmen der Doppelausstellung Es Kommt der Neue Ingenieur! Werner Graeff und Max Burchartz am Bauhaus, die im Frühjahr 2010 in den Meisterhäusern von Paul Klee und Wassily Kandinsky in Dessau stattfand. 82 | Breuer 2010b, S. 55. 83 | Vgl. Burchartz 1949, S. 9. 84 | In späteren Jahren distanzierte sich Burchartz jedoch: »Flächengestaltungen von Mondrian und Doesburg sind eindrucksvoll, aber der Gedanke, alle Maler würden, wie es die Stifter dieser Lehre forderten, in gleicher Art nur noch malen, ist quälend« (Burchartz 1949, S. 172). 85 | Zeising 2007, S. 20. Seine Vorlehre an der Folkwangschule in den fünfziger Jahren orientierte sich daran, siehe Kap. 5.4. 86 | Breuer 2010b, S. 55-68. 87 | Breuer 2010c, S. 169.

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einer übergeordneten, vom Gebot der Ökonomie unabhängigen Harmonie«.88 Burchartz trennte in seinen Theorien Malerei, Plastik, Design und Innenraumgestaltung nicht voneinander, sondern formulierte ihnen gemeinsame Gesetze. Ganz im Geiste des Bauhauses sollten sich die »verschiedenen Gebiete des künstlerischen Bildens« vereinigen, so heißt es in seiner Gestaltungslehre (1953).89 Malerei solle »wieder Wandmalerei werden«, postulierte er dort.90 In diesem Zusammenhang verwendete er den Begriff der »Lebensvergänzlichung«.91 Er vertrat die Ansicht, dass die Kunst dem Leben zu dienen habe92 und in letzter Konsequenz ein »Gleichnis des Weltganzen« sei, wenn sie sich in der Verbindung von Architektur und Malerei zu einer »echt dreidimensional gestaltete[n] Raumeinheit« zusammenschließe.93 In Gleichnis der Harmonie versammelte Burchartz universale Harmoniegesetze für Architekten, Plastiker, Maler und Gestalter. In seiner Gestaltungslehre fasste er seine Ansichten nochmals zusammen und ergänzte sie hier und da durch Beispiele. In allen seinen Schriften liegen die Schwerpunkte auf Farbe und Licht, der Raum- und Flächengestaltung sowie dem Rhythmus. Dabei äußerte er sich nur selten zu den eigenen Werken. Burchartz schöpfte aus dem großen Fundus der Bild- und Kunstgeschichte seit der Antike, so etwa in Schule des Schauens (posthum 1962). Die Kunst des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Informel, stellte einen Schwerpunkt dar.94 Burchartz’ Perspektive auf die Werke seiner Zeitgenossen ist im Zusammenhang dieser Studie besonders interessant.95 In der modernen Kunst sah Burchartz den »Energiewert der Farbe als Lichterlebnis«96 verwirklicht. Dabei dienten ihm Mark Rothko, Yves Klein und Otto Piene als Beispiele für den Übertritt der »Farbe als Wirklichkeit« in den »echten Raum«, wo die »Strahlkraft nach allen Seiten und gegen den Beschauer« zu erleben sei.97 Künstler wie Piet Mondrian, Theo van Doesburg, aber auch Klein, Piene und Rothko, welche die Idee einer künstlerischen Umweltgestaltung verfolgten, fanden so bei Burchartz am meisten Beachtung und waren vorbildhaft für die eigenen künstlerischen Ansätze. Die Abs-

88 | Driller 2010, S. 215. 89 | Burchartz 1953, S. 22. 90 | Ebd. 91 | Ebd., S. 23. 92 | Ebd., S. 29. 93 | Ebd., S. 106. 94 | Vgl. Burchartz 1962, S. 225-231: Die Beispiele stammen von Gérard Schneider, Loïs Federick, Pierre Soulage, Emil Schumacher, Don Fink, Hans Hartung und Franz Kline. 95 | Ebd., S. 191. 96 | Ebd., S. 233. 97 | Ebd.

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traktion bot ihm, so argumentiert Sabine Bartelsheim, die Möglichkeit, »›Leben‹ […] unmittelbar und unvermittelt« darzustellen.98

3.2.1 Das Bild als (Teil des) Lebensraum(es) Anders als Klee und Kupka ging Burchartz in seinem lebensräumlichen Bildkonzept nicht von spezifischen Regionen und natürlichen Räumen aus. Auf einer sehr allgemeinen Ebene parallelisierte er die visuell gestaltete Umwelt des Menschen mit dem natürlichen Klima, das dieser zum Überleben benötigt: »Wie wir Menschen nur in gemäßigten Temperaturverhältnissen zu leben vermögen und der Qual oder der Vernichtung verfallen, wenn die uns gesetzten Grenzen überschritten werden, so fühlen wir uns auch in der farbigen Umwelt nur wohl, wenn die ›Temperaturverhältnisse‹ uns gemäß sind. Als gemäß erscheint uns ein mittleres Anteilverhältnis von bunter und unbunter Farbe unserer Umgebung.« 99

Farben haben Burchartz zufolge thermische Qualitäten. Diese hängen nicht nur mit dem Buntton, sondern auch mit der Sättigung zusammen, die er als das »Mischungsverhältnis von reinbunten und unbunten Farbanteilen«100 beschrieb. Dabei ging er wie Klee vom Ideal eines Klimas aus, das weder zu kalt, noch zu heiß ist.101 Der ausgeglichene Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit spielte für Burchartz eine zentrale Rolle. In Schule des Schauens heißt es: »Helle wirkt als tätige Kraft gegenüber duldendem Dunkel. Helligkeit steigert die vitalen Funktionen, Dunkelheit mindert sie«,102 und an früherer Stelle: »Angemessen mild steigert das Licht Freude und Kräfte des Handelns, mindert das Dunkel die Unrast und verdichtet die Sammlung der Seele«.103 Insofern sind Helligkeit und Dunkelheit beide notwendig für den Menschen. In Gleichnis der Harmonie formulierte Burchartz dementsprechend: »Die Menschen ertragen auf längere Dauer nur eine mittlere Helligkeit des Lichtes, außerdem bedürfen sie eines rhythmischen Wechsels von Dunkel und Licht. In zu lang währender Dauer machen Licht wie Dunkel die Menschen krank. Dunkel und Licht erweisen eine merkbare Eindruckskraft auf die Seele. Dem Licht eignet eine aktive belebende Wirkung. Es steigert zu erhobener Stimmung. […] Licht ist Ausdruck tätigen Lebens. Das Dunkel fördert die Sammlung der Seele wie im gedämpften Lichte der Dome, doch zieht es das Gemüt 98 | Bartelsheim 2010, S. 234. 99 | Burchartz 1962, S. 92. 100 | Ebd., S. 87. 101 | Ebd., S. 186f. 102 | Ebd., S. 85. 103 | Ebd.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären leicht auch in Melancholie, es mindert die lebendige Regung, schenkt jedoch darum auch die wohlige Mühe und fördert die Ruhe des Schlafes. Selbst in der beschränkten Skala der Farben des Malers zeigen sich diese Kräfte noch wirksam.«104

Burchartz stellte so einen direkten Bezug zur Malerei her, während er zugleich die Beschränkung ihrer Mittel betonte. Die biologischen Gesetze des notwendigen Wechsels von Licht und Dunkel sollten in ihr dennoch Anwendung finden. Wie Klee und Kupka fasste Burchartz Lichterscheinungen als potentiell lebenund energiespendende Faktoren, die insbesondere auf die Seele, also auf Gemüt und Stimmung des Menschen einwirken sollten. Harmonie und Ruhe standen bei Burchartz im Vordergrund. Allerdings waren diese Zustände für ihn nicht durch Monotonie zu erreichen. Wesentlich waren Spannungsverhältnisse, die sich in »polaren Spannungskontrasten« verwirklichen sollten,105 ganz ähnlich wie bei Klee. Dieses universale Lebensprinzip wird im Folgenden eingeordnet und beschrieben, zunächst gilt es aber, Burchartz’ Farbverständnis vor dem Hintergrund seines lebensräumlichen Kunstkonzepts zu beleuchten. Gestaltungsmedien wie Farbe, Form und Rhythmus begriff er als »Wirk-Kräfte […] der Natur, in die die Künstler vordringen«.106 Für die Beschreibung der thermischen Wirkqualitäten stützte sich Burchartz auf Ergebnisse der Schule Wilhelm Wundts. Ausgehend davon stellte er fest, dass experimentell gewonnene Ergebnisse der Psychophysik »im Ganzen mit Goethes Beschreibung« der Farbwirkungen übereinstimmen: »Rot, Orange, Gelb und Purpur wirkten in allen Fällen erregend, Grün, Blau, Indigo und Violett bei der großen Mehrzahl beruhigend«.107 In Schule des Schauens ergänzte er im Zusammenhang mit der Psychophysik und den thermischen Eigenschaften der Farbe Willy Hellpachs Die geopsychischen Erscheinungen sowie Raoul H. Francé als Bezugspunkte. Verbindungen zur modernen Umweltpsychologie und zum biozentrischen Denken waren so ebenfalls gegeben.108 Eine Basis für sein Kunstkonzept stellte auch die biozentrische Lebensphilosophie Ludwig Klages’ dar.109 Die genannten Bereiche konstituieren Burchartz’ ökologisches Verständnis der Farben und Farbwirkungen.

104 | Burchartz 1949, S. 30. 105 | Burchartz 1962, S. 93. Diesen Kraftcharakter entwickelte er nicht nur in seinem Farb-, sondern auch seinem Rhythmuskonzept (Kap. 6.7). 106 | Burchartz 1953, S. 25. 107 | Burchartz 1949, S. 34. 108 | Burchartz 1962, S. 88. 109 | Zu Klages’ Bildkonzept sowie seinem biozentrischen Denken vgl. Kap. 1.2-1.3. Klages formulierte zudem ein biologisches Rhythmusverständnis, das im 20. Jahrhundert und insbesondere für die hier betrachteten Künstler maßgebend war (Kap. 6).

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3.2.2 »Lebenswellen«: Ludwig Klages’ Ausdruckskunde Das Nachdenken über die menschlichen Lebensbedingungen und den harmonischen Ausgleich mit der Umgebung bildeten das Zentrum von Burchartz’ Kunsttheorie. Ihm zufolge gingen von Werken der bildenden Kunst Lebenskräfte aus. Mit Klages bezeichnete er diese Kräfte als »Lebenswelle[n]«: »In höherem Maße als Bilder von Handschriften vermögen Werke der bildenden Kunst uns ›Lebenswellen‹ zu spenden, weil sie über stärkere Mittel und Kräfte verfügen als die Handschrift«, so Burchartz in Gleichnis der Harmonie.110 Den Begriff der Lebenswelle entnahm er Klages’ Schrift Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft (1913).111 Klages hatte in Leipzig Chemie und Psychologie studiert und war hier etwa mit Wilhelm Ostwald, Wilhelm Wundt und Theodor Lipps in Austausch getreten.112 Klages war ferner von neoromantischen und biozentrischen Ideen in der Folge Friedrich Nietzsches geprägt.113 Auch an Johann Wolfgang von Goethe orientierte er sich.114 Für den Begriff der Lebenswelle findet sich weder bei Klages noch bei Burchartz eine klare Definition. Er ist verortet in Klages’ Graphologie im Zusammenhang mit der Annahme einer natürlichen, rhythmisch wogenden Bewegung der Seele, welche sich laufend vollziehe und durch erregende Eindrücke in ihrer Intensität und Rhythmik verändern könne.115 Klages beschrieb die sogenannte »Ausdrucksbewegung« als »gegenständliche Verwirklichung der dem Lebenszustande innewohnenden Antriebsform«: »Vermöge des Ausdrucksbildes wandert die Lebenswelle auf jeden Empfänger des Bildes über. Die Wahrnehmung fremder Seelenzustände gründet also im bloß erlebten Eindruck ihrer Erscheinung […]«.116 Ausdrucksbilder seien »Erscheinung lebendiger Seelen«, die vom Menschen als eine Art »Pulsschlag«117 empfangen werden und in unterschiedlicher Form mehr oder minder stark auf die Seelenbewegung der Empfangenden einwirken.118 Burchartz ging es allerdings nicht nur um seelische Bewegungen.119 110 | Burchartz 1949, S. 12. 111 | In Der Geist als Widersacher der Seele (1929) sowie im Vortrag »Vom Wesen des Rhythmus« (1934) verwendet Klages den Begriff ebenso. 112 | Vgl. Botar 1998, S. 230. 113 | Ebd. 114 | Siehe exemplarisch Klages 1934, S. 59. 115 | Klages 1923 (1913), S. 42. 116 | Ebd., S. 28. 117 | Ebd., S. 122. 118 | Ebd., S. 122f. Diese Übertragung psychischer Energien als Modell für die Wirkkraft von Bildern wurde am Beispiel Aby Warburgs und anderer bereits eingeführt (Kap. 1.3). 119 | Klages sprach von Gefühlen wie »Sorge und Kummer, Trauer und Gram, Verehrung und Anbetung, Abneigung und Haß, Zuneigung und Liebe, Ärger und Wut, Seligkeit und Verzücktheit« (ebd., S. 34).

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Auch wenn ihn Aspekte der Psychographie durchaus interessierten,120 schien er die Lebenswelle vorrangig als ein allgemeines, physiologisch-biologisches Lebensprinzip zu begreifen.121 Klages’ Begriff der Lebenswelle war für Burchartz insofern grundlegend, als dass sich mit ihm eine besondere Wirkung von Bildern auf die Betrachtenden fassen ließ. Die »Fähigkeit« der Seele, »wenigstens augenblicksweise zusammenzuschmelzen mit der Seele des Bildes« erhob Klages zum Ideal der Bildrezeption.122 Diesen Ansatz der Verschmelzung formulierte Burchartz im Gegensatz von »Sehen« und »Schauen« in Gleichnis der Harmonie: Entgegen der einfachen Wahrnehmung von Gegenständen oder ihrer kritischen Analyse sei das »Schauen« ein »Sich-Versenken in die Gleichniskraft der auf die Sinne wirkenden Kräfte der Farben und Formen«.123 Farben bezeichnete er zwar nicht direkt als ›Lebenswellen‹. In seiner Beschreibung von Farben als Kräften und in der Herausstellung der besonderen Potentiale der bildenden Kunst im Aussenden von Lebenswellen wird aber deutlich, dass Farben als Lebenswellen mitgedacht waren. Die Wirkkraft von Farben führte Burchartz schließlich auf die Unterscheidung belebender und beruhigender Farben zurück. Klages handelte von der Färbung bestimmter Gefühle und sprach von Ton und Sättigung.124 Dabei rekurrierte Klages auf verschiedene Linien der Auseinandersetzung mit den physiologischen wie psychischen Wahrnehmungen und Wirkungen von Farben. Während Burchartz den Begriff der »Lebenswelle« von Klages übernahm, argumentierte er ausgehend davon jedoch vorrangig mit der modernen Psychophysik, welche Klages hingegen ablehnte.125

3.2.3 Impulse der Farbenlehre Goethes und der modernen Psychophysik Mit seiner Auffassung von Farben als aktivierenden oder beruhigenden Kräften nahm Burchartz direkt und indirekt immer wieder Bezug auf Goethes Farbenlehre.126 Die intensive Auseinandersetzung mit der Farbenlehre in Künstlerkreisen seit 1910 stellt eine Parallelerscheinung zur Rezeption der Wahrnehmungspsychologie dar,127 auf die Burchartz ebenfalls rekurrierte. Goethe untersuchte die »sinnlich-sittliche Wirkung der Farben« – anders als die modernen positiven Wis-

120 | Burchartz schrieb vom Ausdruck von »Zorn« und »Freude« (Burchartz 1949, S. 12). 121 | Solche Bezüge werden bei Klages später auch noch deutlich (Kap. 6.2.1). 122 | Klages 1923 (1913), S. 125. 123 | Burchartz 1949, S. 13. 124 | Klages 1923 (1913), S. 34-36. 125 | Ebd., S. 13 und S. 16. 126 | Burchartz 1949, S. 34 und Burchartz 1953, S. 270. 127 | Hentschel 2000, S. 60.

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senschaften – nicht mit statistischen Methoden und Messungen, sondern phänomenologisch (vgl. Kap. 3.1.1). Goethes polares, auf der Unterscheidung einer Plus- und Minusseite beruhendes Farbsystem, findet sich bei Burchartz’ wieder. Dessen Harmoniebegriff generierte sich aus dem Prinzip der Spannung zwischen Komplementär- sowie Hell-Dunkel- und Warm-Kalt-Kontrasten: »Harmonische Wirkungen können nur zustande kommen bei einer sichtbaren Gegenüberstellung kontrastierender Kräfte, nicht durch die Vermischung der Gegensätze. Ein Schwarz kann mit einem Weiß zusammen einen harmonischen Zusammenklang bilden, die Vermischung dieser Gegensätze aber zeigt nur ein ausdrucksloses Grau. Auch ein Rot kann im Spannungsverhältnis zu einem Grün zum vollendeten Klang werden. In der Vermischung zeigen aber auch diese Gegenkräfte nur ein reizloses Grau ohne Leben eines Gegenspiels.«128

Ein harmonischer Ausgleich sollte durch das kontrastive Zusammentreffen von Qualitäten der Wärme und Kälte sowie der Helligkeit und Dunkelheit erreicht werden. Die Unterscheidung der Farben in erregende (Rot, Orange, Gelb, Purpur) und beruhigende (Grün, Blau, Indigo, Violett) war für Burchartz von besonderem Interesse.129 Diese glich er schließlich mit den Erkenntnissen der Psychophysik ab. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Rahmen von Laborexperimenten »Wahrnehmung und Einflüsse von Umweltreizen« wie etwa Licht und Geräuschen untersucht und so Grundlagen für die Umweltpsychologie der siebziger Jahre gelegt.130 Im Rahmen von Messungen physiologischer Prozesse wie Blutdruck und Atmung erforschte man Reaktionen auf verschiedene Reize. Dies sollte auch eine Aussage über psychische Wirkungen liefern. Zugrunde lag, so verdeutlichen Herbert Bruhn und Helmut Rösing, »meist ein einfaches Reiz-Reaktions-Modell«: Es wurde angenommen, »daß physikalische Reize isomorph in der Psyche des Menschen abgebildet werden«.131 Im Rahmen von Experimenten, so fasste Burchartz zusammen, wurde »festgestellt, daß kalten Farben Puls und Atmung beschleunigen, kalte sie mindern«.132 Die kalten Farben führen zu einer »Verengung der Blutgefäße«, die eine »beruhigend-passive Wirkung« mit sich bringe.133 Er bezog sich direkt auf die Ergebnisse der Leipziger psychophysischen Schule, genauer auf die Experimente des

128 | Burchartz 1949, S. 198. 129 | Ebd., S. 34. 130 | Eisenhardt 2008, S. 30. 131 | Bruhn/Rösing 1993, S. 22. 132 | Burchartz 1962, S. 86. 133 | Ebd. Über diese Farbwirkungen schrieb Burchartz schon dreizehn Jahre zuvor: Burchartz 1949, S. 34.

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Wundt-Schülers Florian Ștefănescu-Goangă.134 In Laborversuchen setzte der Wissenschaftler seine Probandinnen und Probanden möglichst reinen, homogenen Farben aus, indem er farbige Gelatineplatten mit elektrischen Projektionslampen in einem verdunkelten Zimmer beleuchtete.135 Die Untersuchung bestand zum einen aus der Befragung der Teilnehmer/-innen, die Aussagen darüber treffen sollten, welche Gefühle verschiedene Farben in ihnen auslösen. Zum anderen wurden Atmung und Puls vermessen. Hinsichtlich der Farbwirkungen stellte Ștefănescu-Goangă fest, dass Rot »als stark erregend, erwärmend, belebend angegeben«, Orange als »anregend, lebhaft, heiter erregend, warm, freudig«, Gelb als »erregend, warm, heiter«, Grün als »beruhigend, sanft, freundlich, ruhig, heiter«, Blau als »beruhigend, etwas deprimierend, friedlich, ruhig-ernsthaft«, Violett als »deprimierend, niederdrückend, sehnsüchtig, traurig, sehr melancholisch« und Purpur als »aufregend, warm, würdig, stolzerregend« erlebt wurden.136 Ein großer Unterschied zu Goethe bestand neben dem Messverfahren darin, dass Farblichtwirkungen hier nicht in der Natur, sondern in dunklen Räumen und unter Laborbedingungen festgestellt wurden. Farben wurden so nicht als natürliche Lichterscheinungen der Atmosphäre, sondern aus jeglichem natürlichen Kontext befreit, untersucht. Ausgehend von den Ergebnissen lässt sich ein Bezug zum Klages’schen Konzept der Lebenswelle herstellen. Als Lebenswellen können schließlich auch die in der Psychophysik gemessenen, rhythmischen, wellenförmigen Lebensprozesse wie Atem und Puls bezeichnet werden. Mit der Psychophysik wurde den Farben ein messbarer Einfluss auf Lebensprozesse zugeschrieben, auf Organismus und Psyche gleichermaßen. Burchartz stützte sich allerdings nicht allein auf diese Experimente, sondern stellte immer wieder Bezüge zu klimatischen und natürlichen Erscheinungen her, die er durch entsprechende Quellen aus der Umweltpsychologie und der Biologie unterfütterte.

3.2.4 Farben in der Umweltpsychologie Die Auseinandersetzung mit atmosphärischen Farbphänomenen verfolgte Burchartz anhand der Umweltpsychologie Hellpachs. Mit Hellpach ließen sich die Wirkpotentiale optischer Eindrücke und somit auch das Konzept des klimatischlebensräumlichen Bildes begründen. In Die geopsychischen Erscheinungen hob Hellpach »die optische Sphäre« als »Schauplatz sensutonischer Wirkungen« hervor: »Vom sensuellen Erlebnis her wird elementar der gesamte Lebenstonus mitergriffen«.137 Nicht nur das chemisch wirkende Licht des unsichtbaren Spektrums, sondern auch das sichtbare Licht habe Einfluss auf das Empfinden. Es ver134 | Burchartz 1949, S. 34. 135 | Ștefănescu-Goangă 1911, S. 11. 136 | Ebd., S. 22-32. 137 | Hellpach 1935, S. 55.

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leihe »dem Wetter seinen wesentlichen Charakter (›trübe‹, ›es klärt auf‹, Sonnenschein, dunstig usw.)«.138 Die Wirkung der verschiedenen Strahlungsarten auf den Organismus unterschied er gemäß ihrer Wellenlänge. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte die Unterscheidung in drei Gruppen von Lichtstrahlen – »die langwelligen, teilweise unsichtbaren Wärmestrahlen des roten Endes, die kurzwelligen, ebenfalls teilweise unsichtbaren chemisch wirksamen Strahlen des violetten Endes und die dazwischen liegenden Lichtstrahlen«.139 Auf dieses Wissen hatten sich auch Klee, Kupka und Wassily Kandinsky bezogen (Kap. 3.1, 4.2, 4.4). Hellpach ging von einer erregenden Wirkung der langwelligen »Hauptfarben der ›warmen‹ Regenbogenhälfte […], Rot und Gelb« aus: »Die innige Assoziation des Blutes mit den Lebenskräften und der ›Seele‹ gründet zu einem Teil darin, daß Blutrot wie alles leuchtende Rot unmittelbar eine vitale Erregung erzeugt«.140 Das Gelb hingegen verglich er mit dem Sonnenlicht, das »desto lebhafter« wirke, »je ausgesprochen gelber (›goldener‹) es auftritt«.141 Gelb bezeichnete er als »anregende Farbe« und brachte es mit dem »Südlandsrausch[…] der Nordländer« in Verbindung.142 Dem entgegen stehe die »beruhigende Wirkung von Blau und Grün auf den Organismus durchs Auge«.143 Eine besondere Wirkkraft werde durch die Bestrahlung mit Licht erzeugt, sodass etwa »die gesamte Haut, den Blau- oder Grünstrahlen ausgesetzt […] mit einer Beruhigung des Nervensystems« reagiere.144 So plädierte Hellpach für eine Äquivalenz der Wirkung von Oberflächenfarben und farbiger Strahlung, wenngleich das farbige Licht stets einen stärkeren Effekt habe. Burchartz fasste Hellpachs Thesen folgendermaßen zusammen: »Im Rotfeld des Spektrums beginnen die Wärmestrahlen, die Temperatur steigt an. Wir empfinden die Wärmeenergie der langwelligen Farben unmittelbar. Es handelt sich dabei um echte thermische Synästhesie der optischen Empfindung«.145 Dementsprechend phantasierte Burchartz nicht von unsichtbaren Energien, die von seinen Bildern ausgehen sollten, sondern blieb bewusst im Bereich des Sichtbaren – im Unterschied zu Klee und Kupka, die bevorzugt immaterielle, unsichtbare Wirkkräfte in ihre Werke eingebracht hätten. Hellpach thematisierte eben solche Diskrepanzen zwischen visuellen und chemischen Wirkungen, die auf unsichtbare, nicht mit den Sinnen wahrnehm-

138 | Ebd., S. 55f. 139 | Ingold 2015, S. 29. 140 | Hellpach 1935, S. 206. 141 | Ebd., S. 207. 142 | Ebd. 143 | Ebd., S. 205. 144 | Ebd. 145 | Burchartz 1962, S. 86.

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bare Qualitäten des Lichtes zurückzuführen sind. Damit bestärkte er zugleich die Rolle sichtbarer Einflüsse auf den Organismus: »Wie kommt es, daß gerade die bläulichen oder grünlichen Lichtsorten für uns etwas Kaltes, Lähmendes haben, obwohl sie die chemisch wirksamen Strahlensorten in viel größerem Anteil enthalten, als die gelblichen und rötlichen, die chemisch indifferent sind und trotzdem die psychisch erregenden sind? Wodurch wirkt Blaulicht beruhigend, wenn es gleichzeitig den Chemotonus des Organismus am stärksten ändert?«146

Dieser Umstand hänge »wahrscheinlich […] gar nicht mit dem Licht als solchem, sondern mit dem Wärmecharakter der verschiedenen Lichtsorten zusammen«, dafür spreche die »Tatsache […], daß es gerade die Maler sind, die für die langwelligen Rot-Gelb-Sorten die Bezeichnung als ›warme Töne‹, für die kurzwelligen Blausorten die Bezeichnung als ›kalte Töne‹ aufgebracht haben und instinktiv nutzen«.147 Als Paradox formulierte er, dass das »heißeste Sonnenlicht […] am weißesten« und »je weniger Wärmekraft« die Sonne habe, ihr Licht »gelber oder röter« erscheine.148 Chemisch wirkende Strahlen und die rein optische Wirkung von Farben sind demnach gegensätzlich. Hellpach stellte dazu noch eine weitere Überlegung an, die mit Blick auf Burchartz’ Harmoniebegriff interessant ist: »Vielleicht handelt es sich bei der Bevorzugung gelbgetönten Lichtes als Dauerumgebung um eine Instinktreaktion, die etwas objektiv Zweckmäßiges, ja Lebensnotwendiges betätigt [sic!], ohne daß wir wissen […], was eigentlich auf solche Weise von uns instinktiv geschützt oder verhütet wird«.149 Die Bevorzugung einer nicht allzu heißen Farbe entspräche so der Präferenz eines gemäßigten Klimas, wie auch von Burchartz postuliert. Immer wieder stellte Burchartz Bezüge zu klimatischen Lebensräumen her. Seine gründliche Lektüre von Die geopsychischen Erscheinungen ist in seinen Schriften an vielen Stellen präsent, auch ohne, dass er den Text jedes Mal direkt zitierte. So nahm er unter der Überschrift »Raumdichten und Raumgrößen« in Schule des Schauens auf die Biosphäre Bezug: »Wie zwischen Eiseskälte und Hochofenhitze als Polen der Wärmegrade, ist auch in den Bezirken der Dichte menschliches Leben nur in einem schmalen Bereich der Mitte möglich. In den Grenzbereichen sind künstliche Schutzvorrichtungen nicht zu entbehren. Nur in mittlerer Lage zwischen den Polen unserer Empfindungen liegt der angemessene Lebensraum.«150

146 | Hellpach 1935, S. 57. 147 | Ebd., S. 57f. 148 | Ebd., S. 58. 149 | Ebd. 150 | Burchartz 1962, S. 89. Zum Biosphärebegriff vgl. Kap. 2.3.

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So dachte der Künstler über den Luftgehalt von Bildern nach und über die Gestaltung von Luftqualitäten wie Temperatur und Dichte (vgl. Kap. 5.1). Den Einfluss des Klimas auf den Menschen behandelte Burchartz auch mit Blick auf die moderne Architektur. In Gleichnis der Harmonie äußerte er sich zu einem Bauentwurf von Walter Gropius aus dem Jahr 1933: »Der moderne Architekt baut für die Bedürfnisse des Menschen. Sonnenschein und Luft, Grünflächen und freier Blick aus den Fenstern sollen allen zuteil werden«.151 Ebenso verwies Burchartz auf Siegfried Ebelings Schrift Der Raum als Membran bezüglich moderner Möglichkeiten der Klimatisierung von Räumen sowie der Abschirmung von zu grellem Licht und anderen schädlichen Umwelteinflüssen.152 In diesem Zusammenhang dachte er über die Farbgestaltung von Innenräumen unter klimatologischem Blickwinkel nach: »Örtliche Raum- und Lichtverhältnisse bedingen eine verschiedenartige Haltung der Farbgebung. So erfordern etwa die Sonnenlichtverhältnisse in Nordeuropa eine belebend aktive Wärme der farbigen Haltung der Innenräume. Die zart bläulichen und seegrünen Raumanstriche, wie sie sich häufig in den Landschaften des Mittelmeeres finden, geben im Lichte des dort strahlenden Sonnenscheins eine erfreuend harmonische Wirkung, in den Bezirken des Nordens aber erzeugen die gleichen Farben leicht ein unerfreuliches Frösteln und eine melancholische Müde [sic!], es sei denn, man verwendet sie in Räumen, die vorwiegend abends bei heller künstlicher Beleuchtung zum Aufenthalt dienen.«153

Die Farbgestaltung müsse also dem jeweiligen Klima angepasst werden. Ähnliches hatte Kupka formuliert (Kap. 3.1.2). Burchartz handelte nicht nur von der architektonischen und innenarchitektonischen Herstellung und Gestaltung von Räumen, sondern stellte seit den späten vierziger Jahren dezidiert Überlegungen zur Malerei an, während er parallel ungegenständliche Bilder schuf. Kunstwerke fasste er als »Gleichnisse der kosmischen Harmonie«.154 Der Künstler erzeuge harmonische Bilder »aus dem Erleben der Natur«.155 Hier deckt sich Burchartz’ Ansatz mit dem Francés, auf den er an anderer Stelle einging.156 Francé hatte postuliert, dass Kunstwerke den kosmo-

151 | Burchartz 1949, o.S. (Bildteil); vgl. auch ebd., S. 181-185: »Jeder Bewohner der Großstadt muß über eine luftige Wohnung mit ausreichender Sonnenbestrahlung verfügen. Die Wohnung muß groß genug, gut zu heizen und schalldicht sein […]« (ebd., S. 181). Hier bezieht sich Burchartz auf Le Corbusier. 152 | Ebd., S. 184; vgl. Kap. 2.5 zu Ebeling. 153 | Burchartz 1949, S. 184. 154 | Ebd., S. 15. 155 | Ebd., S. 16. 156 | Ebd., S. 34.

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logischen »Weltgesetzen« zu entsprechen haben und stellte ein einklängliches Verhältnis mit der Natur in das Zentrum seiner Umweltethik.157 Auch für sein Farbkonzept griff Burchartz auf Francé zurück und zitierte dessen Beschreibung der »Schönheit des prachtvollen Rot« als »die Herzensfarbe der Sexualtriebe im gesamten Lebensbereich«:158 »Er [Francé] vermutet die Ursache in inneren Erregungszuständen, in den erotisierenden Hormonen der Sexualtriebe der Organismen«.159 Die Biologie nahm so bei Burchartz im Zusammenhang mit der künstlerischen Gestaltung eine wesentliche Rolle ein. Gerade Rot als erregende, lebenswirksame Farbe findet sich in seinen Kompositionen immer wieder. Abbildung 9: Max Burchartz, Komposition II, 1954, Öl auf Leinwand, 100 × 80 cm, Privatbesitz

157 | Francé 1923, S. 180; vgl. Kap. 2.4. Von diesem Ideal gingen auch Otto Nebel und László Moholy-Nagy aus (Kap. 6.5, 6.8). Der Bezug von Burchartz zu Francé wird in Kap. 6.7 weiterverfolgt. 158 | Burchartz 1949, S. 34. 159 | Ebd.

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3.2.5 Burchartz als Gestalter von Umwelten Komposition II (1954) ist in zwei gleich große Bildhälften unterteilt: Links befindet sich eine hellblaue, unregelmäßig gestaltete Fläche, rechts eine rote (Abb. 9). Innerhalb der Flächen befinden sich zwei sichelartige Formen, die je von einer weißen und einer schwarzen Doppellinie konturiert werden. Beide haben eine Einlassung auf gleicher Höhe oben links, die blaue Form jedoch ist nach links hin bauchig und auf der anderen Seite eher gerade, bei der rechten ist es umgekehrt. Die linke Figur tritt in einem dunkleren Grau-Blau in Erscheinung, die rechte in einem rötlichen Grau-Braun. Dieses Grau-Braun wiederholt sich am linken Bildrand. So sind die blaue und die rote Fläche noch einmal von hellen grau-bläulichen Flächen an je drei Seiten umrahmt, während die graue Fläche rechts die gesamte restliche Bildhälfte ausfüllt. In der Komposition kommen die Grundfarben Blau und Rot in verschiedenen Ausprägungen vor. Warm und Kalt, Hell und Dunkel, Rein und Trüb werden als Kontraste einander gegenübergestellt. Dominiert wird die linke Bildhälfte durch ein kühles Blau in drei unterschiedlichen Tönungen, während auf der rechten ein reines Rot strahlt, das vom trüben, dunklen Braunton und dem Rahmen kontrastiert wird. Jedoch scheint das darunterliegende, reine Rot aus der fleckigen Gestalt rechts teilweise hindurch zu schimmern. Rein quantitativ dominieren kalte Töne in der Komposition. Allerdings wird das Strahlen des Rot dadurch noch verstärkt, was den quantitativen Unterschied qualitativ ausgleicht. Um ein Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen zu erreichen, nahm Burchartz die warmen und dunklen Farben mengenmäßig zurück. Dementsprechend sind die Formen auf der rechten, warmen Bildhälfte auch schmaler und länglicher gestaltet. Auf der linken Seite hingegen sind sie voluminöser. Die Komposition erzeugt eine räumliche Wirkung: Streben die bläulichen Farbflächen optisch zurück, dringt das kräftige Rot nach vorn. Burchartz setzte in dieser Komposition entsprechend seinen theoretischen Überlegungen einen Ausgleich von Warm und Kalt, Hell und Dunkel, Bunt und Unbunt um. Das Bild kann so als gemäßigter Klimaraum gelesen werden: Durch das Gleichgewicht der Elemente wird ein Ausgleich zwischen Erregung und Beruhigung geschaffen.160 Wenngleich formal ganz anders gelöst, kann eine Verbindung zu Klees Prinzip der Polarität hergestellt werden (Kap. 3.1.1, 6.4). Das allgemeine Lebensprinzip des Wechsels von Umweltreizen löste Burchartz ein, insofern die Rezeption das Hin- und Herpendeln zwischen den Bildhälften anregt und somit eine Aushandlung zwischen linker und rechter Bildhälfte herstellt, in denen je unterschiedliche Prinzipien vorherrschen. Daraus speiste sich Burchartz’ Selbstverständnis als bildender Künstler. Der ›Bildner‹ sei »ausgleichende Kraft, er ist 160 | Aspekte der Dichte und des Drucks, die in Kap. 5 noch eine Rolle spielen werden, kommen in der Komposition nur bedingt zum Tragen: So wirkt auch der helle, grau-blaue Grund eher opak und nicht luftig gelockert.

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im Kern ›Wahrer der Mitte‹, Bekenner konservativer Treue gegenüber dem Leben«.161 Sein Ziel sollte es sein, durch Harmonisierung zur Erhaltung des Lebens beizutragen. Burchartz bezeichnete in seiner Gestaltungslehre die Bilder seines Spätwerkes als »Kraftfelder von Farbe und Material«.162 Dabei bezog er sich in derselben Schrift auf Michael Faradays Feldbegriff, nach dem das Feld als »eigentümlicher Spannungszustand des Raumes« gefasst wird, »der eine gewisse Energie besitzt und auf geeignete Körperkräfte ausüben kann«.163 Gemäß Stefanie Lieb war Burchartz »bemüht, diese Energiefelder als Erscheinung von Naturkräften und losgelöst von den Traditionen der Gegenständlichkeit darzustellen«.164 Er betonte die Notwendigkeit, die Kräfte der verschiedenen Raumfelder genau abzuwägen und abzustimmen: »Jede einzelne sinnlich wirkende Erscheinungsgegebenheit steht in Wechselwirkung zu den Kräften aller Felder ihrer Umgebung. Der bildende Künstler bemüht sich, dieses Wirken der Feldkräfte tiefer zu erkennen, zu ›überpersönlichen Kraftfeldern‹ vorzudringen«.165 Andere Kompositionen wie Architektonisch geordnet (1953), Komposition VII (1954) und Komposition VIII (1954) sind ebenfalls als Zusammenschluss von Qualitäten wie Wärme und Kälte, Trübe und Helle sowie Bunt und Unbunt gestaltet.166 Nie sind die Kompositionen streng geometrisch konstruiert. Ein Ausgleich wird hier ebenfalls nicht so sehr über eine gleichmäßige Quantität, sondern über die Farbintensität hergestellt. Somit wirken die Bilder nicht nach einem bestimmten Harmonierezept hergestellt. Zwischen Klee und Kupka auf der einen und Burchartz auf der anderen Seite besteht trotz vieler Gemeinsamkeiten ein wesentlicher Unterschied. Klee und Kupka hinterfragten die Wirkmacht der Kunst, weil sie im Bereich des Sichtbaren bleiben musste. Bei Burchartz findet sich das Konzept eines rein visuellen Klimas, das nicht als defizitär beschrieben ist, sondern als Modell für die Umweltgestaltung durch den Zusammenschluss von Architektur, Raumgestaltung und Malerei verwirklicht werden sollte. Die Mittel der Malerei wurden zwar von Burchartz in ihrer Beschränktheit reflektiert und auch er nahm Bezug zu unsichtbaren Wirkkräften in der natürlichen Umwelt. Doch sein Gestaltungskonzept hob auf die Schöpfung von künstlerischen Umwelten mit allen Mitteln der visuellen

161 | Burchartz 1962, S. 111. 162 | Burchartz 1953, S. 24. 163 | Ebd. 164 | Lieb 2010, S. 247. 165 | Burchartz 1953, S. 25. 166 | Nicht abgedruckt: Max Burchartz, Architektonisch geordnet, 1953, Mischtechnik auf Leinwand, 80 × 65 cm, Standort unbekannt; Komposition VIII, 1954, Mischtechnik auf Leinwand, 80 × 65 cm, Privatbesitz; Komposition VII, 1954, Öl auf Leinwand, 80 × 60 cm, Privatbesitz.

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Gestaltung ab. Esoterisches Denken lag Burchartz im Gegensatz zu Kupka dabei gänzlich fern. In dieser Studie zeigt sich bereits eine gewisse Breite an Positionen und Herangehensweisen, die durch die Annahme von Farben als klimatischen Lebenskräften zusammengehalten werden. Bei Burchartz steht diese Auffassung im Zeichen eines ausgeglichenen, milden Klimas, das über ausgesendete Lebenswellen wirken sollte. Das kontrastive Prinzip, das schon für Klee eine besondere Rolle spielte, erweist sich bei Burchartz als maßgebend. Spannungsvolle Wechsel, die einander qualitativ ausgleichen, galten ihm als allgemeines Lebensprinzip. Hinsichtlich der Annahme heilsamer und vitalisierender Kräfte von Farben darf ein weiterer Bereich nicht vergessen werden, der sich auf der Schnittstelle von Heilkunde, Psychophysik und Esoterik bewegt: die Chromotherapie. Auch sie lieferte Ansätze, die dabei halfen, visuelle Klimata in der Kunst als Wirkmächte auf den Organismus zu fundieren.

3.3 A nsät ze der C hromother apie bei W assily K andinsk y und J ohannes I t ten Zur Begründung einer belebenden oder ausgleichenden Kraft der Farben bezogen sich unter anderen Wassily Kandinsky und Johannes Itten auf die Chromotherapie. Mit der Rezeption farbtherapeutischer Lehren in der Kunst wurden Fragen nach der physischen und psychischen Wirkung von Farben berührt, die auch in der Psychophysik und der Umweltpsychologie verhandelt wurden. Dabei war die Farbtherapie diskursiv und praktisch mit der Naturheilkunde, insbesondere der Thermodiätetik, verbunden. Diese Bezüge werden zunächst dargestellt und abschließend am Beispiel von Kandinskys Werk der späten zwanziger Jahre diskutiert.167 Die Entwicklung chromotherapeutischer Verfahren erfolgte im 19. Jahrhundert. Ende der 1930er Jahre war sie auf dem europäischen Kontinent eine gängige Praxis.168 Ihre Grundlage bildete die Annahme, dass das farbige Licht Vibrationen und Schwingungen aussende, die eine heilsame Wirkung entfalten können.169 In der Chromotherapie galten Farben als Lebensstoffe, die über das Umweltlicht oder das von einem Gegenstand reflektierte Licht aufgenommen wurden und deren Äquivalente sich im Körper in einer bestimmten Zusammensetzung befinden. In diesem Sinne ordnete der Chromotherapeut Andrew Osborne-Eaves den 167 | Für Itten erfolgt die Vertiefung in einem eigenen Kapitel (Kap. 3.7). 168 | Howat 1938, S. 3. Jonathan Gage bezeichnet die Zeit um den Ersten Weltkrieg als Hochzeit der Chromotherapie (vgl. J. Gage 2006, S. 81). Gemäß Monnica Hackl war dies auch in den USA der Fall (vgl. Hackl 1998, S. 15). Die theoretischen Grundlagen stammen vorrangig aus Frankreich, vgl. J. Gage 1993, S. 207. 169 | Zum Begriff der Vibration vgl. Brain 2015, siehe auch Kap. 3.4.

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Grundfarben chemische Elemente zu: »Die drei wichtigsten Farben, Rot, Gelb und Blau repräsentieren die drei Hauptelemente Wasserstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff, aus denen die Welt zum größten Teile besteht«.170 Vereint seien diese Farben und Stoffe im lebenspendenden Sonnenlicht.171 Diese Systematik war ein allgemeiner Bestandteil farbtherapeutischer Theorien: Monnica Hackl stellt in ihrer Publikation Farben-Chromotherapie nach Dinshah. Farbentherapie als Naturheilverfahren (1998) den indischen Arzt Dinshah Ghadiali (1873-1966) als »Entdecker und Erfinder einer differenzierten Farbmedizin« dar.172 Auch bei Dinshah erfolgte eine Zuordnung der Farben zu chemischen Stoffen, die derjenigen von Osbornes-Eaves entsprach.173 Der Titel der Publikation weist zudem auf das Verständnis der Chromotherapie als Naturheilkunde hin. Thermische Wirkungen spielten in der Farbenheilkunde eine besondere Rolle.174 Die »wirksamsten Farben« seien, so Osborne-Eaves, Rot und Blau, denen folgende Anwendungsgebiete zugeordnet waren: »Rote Belichtung ist angebracht bei Abmagerung, bei einem Mangel an Lebenskräften oder an Lebenswärme, z.B. bei Personen, deren Haut bei kalter Temperatur eine bläuliche Färbung annimmt, auch bei mangelnder Ernährung, Schlafsucht, Lähmungen usw. Blau ist anzuwenden bei Entzündungen, Fieberzuständen, Blutungen und nervösen Reizungen. Seine Wirkung ist kühlend, stillend, zusammenziehend, beruhigend und hemmend.«175

Wärme und Kälte sowie Ausdehnung und Zusammenziehung sind Kategorien, die Itten Ende der zwanziger Jahre mit naturheilkundlichen Aspekten in Verbindung brachte und in seine Farbenlehre aufnahm: »Durch Kälte und Wärme (Eisblaugrün und Zinnober-Orange) wird intensives Leben erzeugt. (Kompressen mit kochendem Wasser und nachherige Behandlung mit Eis erheben eine parallele Wirkung im Menschen.)«.176 Der Kombination warmer und kalter Farben sprach er so eine belebende Wirkung zu. Das Interesse der Künstler für die Chromotherapie könnte auch auf den Formen der Durchführung der Behandlungen beruhen. Die Zuführung der Farbmedizin erfolgte durch Glasscheiben in Rot, Dunkelblau, Gelb, Purpur oder Grün für zirka zwanzig bis sechzig Minuten. Die Maße der Scheiben betrugen 25 × 30 cm. Osborne-Eaves empfahl, die Scheiben »in Bilderrahmen fassen zu lassen und 170 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 5. Die genauen Lebensdaten von Osborne-Eaves sind unbekannt. 171 | Ebd. 172 | Hackl 1998, S. 15. 173 | Ebd., S. 95. 174 | Zu Dinshah siehe ebd., S. 35-43. 175 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 7. 176 | Itten, Tagebucheintrag 1927/28 (eine genauere Datierung fehlt), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 76.

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[…] an einem Faden an das Fenster zu hängen«.177 Nicht nur wurde in der Therapie das genuin künstlerische Mittel der Farbe fruchtbar gemacht, auch nutzte man einen bildartigen Träger und schrieb eine Einwirkzeit vor, die einer flüchtigen Rezeption widersprach. Mit der Dematerialisierung der Farbe zu Licht ist zudem eine wichtige Utopie der abstrakten Moderne berührt. So hatte František Kupka schließlich gefragt: »Sollen wir alle Glasmaler werden, weil die Farbstoffe, die uns zur Verfügung stehen, nur entfernte Anklänge an die von der Herrlichkeit des Lichts erfüllten Klänge sind?«.178 Im Zuge der malerischen Abstraktion fand eine Aktualisierung der Tradition des Fensterbildes statt. Kupka und Otto Nebel bedienten sich der Ästhetik von Glasfenstern gotischer Kathedralen, Robert Delaunay schuf seit 1910 die Fenêtres.179 Neben dem (Fenster-)Glas stellten die Tapete und die Wandgestaltung weitere farbtherapeutische Medien dar. Anders als beim Glas ist die Übersetzungsleistung von der Wandgestaltung in die Malerei nicht so hoch, da hier auf reflektiertes und nicht auf durchdringendes Licht zurückgegriffen und dennoch eine direkte Wirkung beobachtet wurde. Bei Max Burchartz zeigte sich der Transfer von klimatologischem Wissen zu Innenraumgestaltung und Malerei. Auch Kandinsky und Itten interessierten sich für die warmen oder kalten Wandfarben in Krankenhäusern, Sanatorien und Wohnräumen in ihren Schriften unter dem Aspekt therapeutischer Farbwirkungen.

3.3.1 Grundlagen und Rezeption der Chromotherapie In seinen Notizbüchern schrieb Kandinsky bereits zwischen 1909 und 1911 von »Beispiele[n], wo der nervöse Mensch immer mehr Opfer seiner Nervosität wurde, solange ihm nicht vorgeschrieben wurde, statt roter Tapete sich dem Eindruck einer grünen unterziehen zu lassen«.180 Die von Kandinsky mehrfach angesprochenen Nervenkrankheiten verweisen auf psychophysische Störungen, die schon vor 1900 als Neurasthenie beschrieben und maßgeblich mit Umwelteinflüssen in Verbindung gebracht wurden (Kap. 6.2). Zwischen den Ansätzen der Farbenheilkunde und denen der Psychophysik bestand durch die zusammenhängende Betrachtung von Körper und Psyche im Nervensystem eine enge Verwandtschaft.

177 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 7. 178 | Kupka 2001 (1923), S. 80; vgl. Kap. 3.1.2. 179 | Dazu siehe Fre[]sh Wi[]dow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Ostfildern-Ruit 2012. Zu Nebels Kathedralenbildern siehe: Otto Nebel 1892-1973: Maler und Dichter, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern 20122013, Bielefeld 2013, S. 134-145 (Abbildungsteil). 180 | Kandinsky, »Man spricht viel davon…« (1910/11), in Friedel 2007, S. 417.

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Die Kräfte der Farben (1906) von Osborne-Eaves befand sich in der Bibliothek Kandinskys.181 Davon, dass Kandinsky deren Grundlagen eingehender studiert hatte, zeugen verschiedene Passagen in seinen Schriften und (Unterrichts-)Notizen, insbesondere aber eine Bemerkung in Über das Geistige in der Kunst: »Wer von Chromotherapie gehört hat, weiß, daß das farbige Licht eine ganz besondere Wirkung auf den Körper verursachen kann. Es wurde verschiedentlich versucht, diese Kraft der Farbe auszunützen und bei verschiedenen Nervenkrankheiten anzuwenden, wobei man wieder bemerkte, daß das rote Licht belebend, aufregend und auch auf das Herz wirkt, das blaue dagegen zu zeitlicher Paralyse führen kann.«182

Dies beweise »daß die Farbe eine wenig untersuchte, aber enorme Kraft in sich birgt, die den ganzen menschlichen Körper, als physischen Organismus, beeinflussen kann«.183 Die Betonung einer Wirkung auf den Körper fällt umso mehr auf, da der frühe abstrakte Kandinsky sich bekanntlich eher mit seelisch-geistigen Farbwirkungen beschäftigt hatte. Kandinsky war unsicher darüber, wie Farbwirkungen genau zu erklären sind: »Ob diese zweite (die psychische) Wirkung tatsächlich eine direkte ist […] oder ob sie durch Assoziation erreicht wird, bleibt vielleicht eine Frage. Da die Seele im allgemeinen [sic!] fest mit dem Körper verbunden ist, so ist es möglich, daß eine psychische Erschütterung eine andere, ihr entsprechende durch Assoziation hervorruft. Z.B. die rote Farbe kann eine der Flamme ähnliche seelische Vibration verursachen, da das Rot die Farbe der Flamme ist. Das warme Rot wirkt aufregend, dieses Rot kann bis zu einer schmerzlichen Peinlichkeit steigen, vielleicht auch durch Ähnlichkeit mit fließendem Blut. Hier erweckt also diese Farbe eine Erinnerung an ein anderes physisches Agens, welches unbedingt eine peinliche Wirkung auf die Seele ausübt.«184

Eine direkte physische Wirkung der Farben stellte Kandinsky in seiner Schrift zugleich als weniger nachhaltig dar.185 Doch auch für die länger anhaltenden, psychischen Wirkungen war der Körper ausschlaggebend. Die Wirkung der Farben beruhte, so die Überlegung Kandinskys, möglicherweise auf Assoziationen zu physischen Erfahrungen, die ausgehend davon zu seelischen Empfindungen der

181 | Der Band mit dem entsprechenden Besitzvermerk befindet sich in der Bibliothek Gabriele Münters im Münchner Nachlass (Zimmermann 2005, S. 47). 182 | Kandinsky 1952 (1911), S. 64. 183 | Ebd. 184 | Ebd., S. 61. 185 | Ebd., S. 59.

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Wärme oder Erregung führen konnten.186 Die Wellenlängen der Farben führte er erst in späteren Jahren zur Begründung auf. Fast drei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Über das Geistige in der Kunst betonte Kandinsky verstärkt die physiologischen Wirkungen nicht nur der Malerei, sondern auch der Musik: »Sie haben das Gefühl von eisiger Luft, wie sie im Winter durch ein offenes Fenster hereindringt. Und ihr ganzer Körper ist unzufrieden. Plötzlich aber wird Ihnen heiß – weil der Maler oder der Komponist durch die richtige Anwendung von warmen Tönen und Klängen ›warme‹ Werke geschaffen hat. Es brennt Sie direkt. Verzeihen Sie mir, aber es sind wirklich Malerei und Musik, welche Ihnen (selten immerhin) Leibweh machen können.«187

So sprach Kandinsky der Kunst nun eine direkte Wirkung auf den Leib zu, die sich hier aus Wärme- und Kälteempfindungen ergibt. Dabei fällt auf, dass Kandinsky an dieser Stelle negative Wirkungen – wenngleich als Ausnahme – in den Vordergrund rückte. An diesem Zitat zeigt sich exemplarisch, dass physiologische Aspekte für den späteren Kandinsky an Bedeutung gewannen (vgl. Kap. 4.4). Auch Willi Baumeister (1889-1955) nannte die »Heilung durch Farben« in seiner Schrift Das Unbekannte in der Kunst von 1947. Ihm zufolge wirken die Farben sich »nicht nur auf die Psyche, sondern sogar auf das physische Befinden« aus.188 Während die warmen Farben aktivierend seien, wirken die kühlen Farben beruhigend.189 Der wenig bekannte Künstler Nikolaus Braun bezog sich 1924 in der Zeitschrift Der Sturm in einer Glosse unter dem Titel »Erlösung im Licht« gleichermaßen auf die beruhigende Wirkung des blauen Lichtes im Zusammenhang mit Heilsansprüchen seiner Kunst.190 Eine Rezeption der Farbenheilkunde durch Künstler spätestens um 1910 und – mit Itten – bis in die 1960er Jahre hinein wird so offenkundig. In seinem Unterricht am Bauhaus führte Kandinsky ab dem Ende der zwanziger Jahre die verschiedenen »Wellenlängen des Lichts« an und brachte sie mit psychophysischen, therapeutischen Wirkungen in Verbindung.191 Zu dieser Zeit 186 | Willy Hellpach ging genau umgekehrt davon aus, dass nicht Assoziationen, sondern objektive physiologische Wirkungen bestimmte Farbwirkungen herbeiführen, wenn er schrieb, dass die »innige Assoziation des Blutes mit den Lebenskräften und der ›Seele‹ […] zu einem Teil darin [gründet], daß Blutrot wie alles leuchtende Rot unmittelbar eine vitale Erregung erzeugt« (Hellpach 1935, S. 206; vgl. Kap. 3.2.4). 187 | Kandinsky, »Konkrete Kunst« (1938), in Bill 1963, S. 219. Zu den Bezügen von abstrakter Malerei und Musik siehe Kap. 5.2, 6.3.2. 188 | Baumeister 1988 (1947), S. 37. 189 | Ebd. 190 | Braun 1924, S. 113; siehe Kap. 4.5.1. 191 | Poling 1982, S. 32.

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unterrichtete er neben den Klassen für »Abstrakte Formelemente« und »Analytisches Zeichnen« auch »Wandmalerei«: »nervenkranke: manie – beruhigung durch b[lau] u. h[ell]b[lau] licht, anstrich melancholie – aufmunterung durch r[ot], r[ot]g[elb] deutsche sanatorien längst – g[elb] als aufmunterung (gelbliche scheiben, vorhänge) krankenhäuser – zimmer bläulich, gänge gelblich […].«192

Ähnlich wie Burchartz stützte sich Kandinsky nicht allein auf die Tradition Johann Wolfgang von Goethes und auf die Chromotherapie, sondern auch auf die psychophysische Schule Wilhelm Wundts.193 Seine Beschäftigung mit der Heilsamkeit der Farben beschränkte sich keineswegs auf die zehner Jahre. Der psychophysikalischen Forschung entnahm Kandinsky die erregende Wirkung warmer Farben und die niederdrückende Wirkung kalter Farben194 und ordnete diesen ein bestimmtes (musikalisches) Tempo, einen Pulsschlag und eine Temperatur zu: »gelb/weiß: Tempo: presto, Pulsschlag: 135, Temperatur: warm; rot/grau: Tempo: moderato, Pulsschlag: 75, Temperatur: warm-kalt blau/schwarz: Tempo: adagio, Pulsschlag: 50, Temperatur: kalt«195

Die Einteilung gibt nur eine grobe Orientierung. Weitere Farben wie Orange etwa können in den Zwischenbereichen verortet werden. Dabei entfalten, wie Kandinsky ergänzte, die kurzen Wellen, allen voran die violetten, eine »unangenehm[e]« Wirkung.196 Insofern konnte durch Farben ein mehr oder weniger warmes oder kaltes Klima gestaltet werden, das auf die biorhythmischen Lebensfunktionen der Rezipierenden Einfluss nahm (Kap. 6). Wie bereits angesprochen beschäftigte sich auch Itten mit der heilsamen Wirkung von Farben und brachte diese durch den Bezug zur Naturheilkunde in noch größere Nähe zu klimatischen Wirkungen. Farben fasste er in diesem Sinne in Die Kunst der Farbe 1961 als »Strahlungskräfte, Energien«, die »in positiver oder negativer Art« wirksam werden können.197 Er begriff Farbe nicht als bloßen Seheindruck auf der Leinwand, sondern als ein ausstrahlendes, in die Beschauer/innen eindringendes Medium. Wie Kandinsky und Baumeister verwies er direkt auf die Chromotherapie: »Wo in den Spitälern Farbentherapie angewandt wird, spielen die Eigenschaften der kalten und der warmen Farben eine sehr große 192 | Kandinsky, undatierte Notizen (nach 1929), in Weißbach 2015, S. 506. 193 | Vgl. ebd., S. 508. 194 | Kandinsky, »1. Semester, o.J., zu Stunde 5-7«, ebd., S. 194. 195 | Kandinsky, »1. Semester, o.J., zu Stunde 9«, ebd., S. 204. 196 | Kandinsky, undatierte Notizen (nach 1929), ebd., S. 506. 197 | Itten 1961, S. 16.

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Rolle«.198 Es gebe Experimente, die zeigen, dass »in zwei Arbeitsräumen, von denen der eine blaugrün und der andere rotorange gestrichen war, die Empfindung für Kälte oder Wärme um drei bis vier Grad differierte«.199 Dies bedeute, »wissenschaftlich untersucht, daß Blaugrün den Impuls der Zirkulation dämpft, während Rotorange zu deren Aktivierung anregt«.200 Dies deckt sich mit den Aussagen Kandinskys und mit den Ansätzen der Farbentherapie: Während Rot den Blutdruck erhöhe, führe Grün zu einer Beruhigung und vor allem Blau zu einer Senkung von Puls und Blutdruck.201 Dem violetten Licht wurde, auch das findet sich bei Kandinsky, eine negative Wirkung zugesprochen, da es Depressionen, Melancholie und Kopfschmerzen hervorrufe.202 Diese Annahmen beruhten auf dem spezifischen Farb- und Lichtverständnis der Chromotherapie und dem damit zusammenhängenden Konzept des menschlichen Organismus und der Seele als Empfängern von Schwingungen. Die Farbenheilkunde gründete sich auf dem Verständnis des farbigen Lichtes als elektro-magnetisches Wellenphänomen.203 Auch eine Übernahme von Konzepten aus dem Mesmerismus fand statt. Theorien rund um den (Elektro-) Magnetismus waren seit dem 19. Jahrhundert in medizinischen, esoterischen, medienphilosophischen, technischen und breiten gesellschaftlichen Diskursen von großem Interesse. Kandinsky und Itten bezogen sich mal mehr, mal weniger direkt darauf. Für Kandinsky postuliert Reinhard Zimmermann: »Zwar finden sich bei Kandinsky direkte oder indirekte Hinweise auf Magnetismus oder Mesmerismus nur vereinzelt, aber der energetische Charakter der Farbe, ihr fluidales, feinstoffliches Wesen und die vom Magnetismus abgeleitete polare Organisation ihrer Elemente und ihrer energetischen Dimension (Anziehung und Abstoßung) sind Grundcharaktere seiner Farbästhetik.« 204

Auf dem Magnetismus gründeten Prinzipien der Anziehung und Abstoßung, Beruhigung und Erregung, die – nicht nur durch Kandinsky, sondern auch Itten,

198 | Ebd., S. 64. 199 | Ebd. 200 | Ebd. 201 | Howat 1938, S. 24. 202 | Ebd., S. 23f. 203 | James Clerk Maxwell (1831-1979) hatte das Verständnis von »Lichtwellen als Oszillationen von elektrischen und magnetischen Feldern« geprägt, dazu siehe Fischer/Silvestrini/Stromer 1998, S. 69. Auf Maxwell sowie auf Heinrich Hertz (1857-1894) bezog sich auch Douglas R. Howat in seiner frühen historischen Abhandlung zur Farbenheilkunde (Howat 1938, S. 6). 204 | Zimmermann 2002, S. 332.

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Burchartz, Kupka, Paul Klee und Braun – auf die Farben bezogen wurden. Das Prinzip der Spannung, die zwischen den Polen entsteht, ist dabei wesentlich.205 Die Elektrizität wurde im Kontext des Mesmerismus als »Lebenskraft« verstanden, die einen direkten Einfluss auf die Nerven ausüben konnte.206 Nervenstörungen wurden, so Christoph Asendorf, »schon früh mit unkontrollierten, überschnellen Schwingungen in Verbindung gebracht«.207 Zudem wurde die Elektrizität nicht nur mit den Nerven, sondern weitaus früher, aber nachhaltend bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein im Zusammenhang mit der Seele betrachtet. Goethe sprach etwa von der Elektrizität als Manifestation der »Weltseele«.208 Die Elektrizität als göttliches Phänomen hat eine bis in das 17. Jahrhundert zurückreichende Tradition,209 die das Verständnis der Elektrizität als Lebenskraft im frühen 20. Jahrhundert bestärkte und damit die Auffassung des farbigen Lichtes als eine solche elektromagnetische Lebenskraft begründete.210 Für die Chromotherapie war der Elektromagnetismus grundlegend. Da der Mensch auf Basis einer bestimmten Schwingungsebene existiere, war man hier der Ansicht, dass Veränderungen der Vibrationen Krankheiten hervorrufen oder sich positiv auswirken konnten. So fasste Douglas R. Howat in seiner Schrift zur Chromotherapie 1938 zusammen: »The electro-magnetic waves, which we refer to in general as light, are the natural means of inducing and maintaining the normal vibratory value of the living organism«.211 Dementsprechend könne durch die Zufuhr spezifischer Farblichter ein gestörtes Gleichgewicht im Organismus beseitigt werden. Die Chromotherapeuten gingen davon aus, dass sich im Menschen Farblichtäquivalente in Form von Vibrationen in Gleich- oder Ungleichgewicht befinden. Die Verabreichung der Farbenmedizin sollte über Vibrationen direkt auf die Nerven einwirken und so Körper und Psyche heilen. 205 | Das Prinzip der Spannung wird in Kap. 6 beleuchtet, siehe v.a. Kap. 6.1. 206 | Hinsichtlich des Wirkens des Elektromagnetismus spricht Christoph Asendorf von einer »Energie […], die als Strom oder Strahlung den Menschen beeinflusse. Sie wurde insbesondere angewendet als Beruhigungsmittel, das überstarke Erregungen (Hysterien) dämpfte. Die ruhige ›ätherische‹ Musik von Äolsharfe und Glasharmonika wurde zur Unterstützung der magnetischen Therapien eingesetzt, da man ihr die Fähigkeit zuschrieb, überstarke Strömungen gleichsam zu kanalisieren, die Erregungsschwingungen auszupendeln« (Asendorf 1984, S. 111). Dies ist auch mit Blick auf die Bezüge der abstrakten Künstler zur Musik interessant (Kap. 5.2, 6.3.2). 207 | Ebd. 208 | Goethe, »Versuch einer Witterungslehre« (1825), zit.n. ebd., S. 110. 209 | Weiterführend siehe Ernst Benz, Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 1970. 210 | Howat 1938, S. 11. Ähnliche Ansätze lassen sich bei Gertrud Grunow und Otto Nebel finden (Kap. 3.5-3.6). 211 | Ebd.

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John Gage zog treffend eine Verbindung zwischen der Idee des komplementären Ausgleichs nach Goethe und farbtherapeutischen Postulaten. In der Chromotherapie werde Goethes Vorstellung, dass das Auge durch eine bestimmte Farbe überstimuliert werden könne und somit sein Komplement verlange, auf den gesamten Organismus bezogen.212 In diesem Sinne fasste Osborne-Eaves Krankheit als »Mangel an Harmonie im Organismus oder in andern Worten ein Mangel an einer bestimmten Farbe« auf.213 Damit verwendete er die grundlegende Definition von Gesundheit als »Harmonie« und »richtige[…] Mischung aller Teile, […] ›Eukrasie‹ – der Kräfte, der Säfte oder welcher Komponenten auch immer«.214 Dieses Gesundheitskonzept verband die Farbenheilkunde mit dem breiteren Strang naturheilkundlicher Verfahren. Den Ansatz eines Ausgleiches oder einer Nährung mit Kräften in der Rezeption von Kunst nahm Kandinsky in sein Wirkungskonzept auf. Bereits 1909/10 formulierte er: »Die Seele jedes Beschauers hat einen eigenen Hunger, der auf die für diesen Beschauer richtige Art vom lebendigen Werk gestillt wird. Jeder nimmt sich hauptsächlich aus dem Werk, was seine Seele braucht«.215 Dieser Ansatz sieht vor, dass die Betrachtenden dem Bild je das entnehmen, was sie benötigen. Eine solche individuelle Auffassung von Kunstrezeption entwickelte auch Itten. Dieser handelte in Kunst der Farbe von der Entstehung subjektiver Farbklänge im Menschen als Resultat von »elektromagnetischen Schwingungen in der psychophysischen Sphäre des Menschen«.216 Er nahm an, dass jeder Person bestimmte Farben sowie Harmonievorstellungen eigen seien, die das Wesen dieser Person ausmachen. Itten ging von »optischen, elektromagnetischen und chemischen Prozessen [aus], die in unserem Auge und Gehirn beim Anschauen von Farben ausgelöst werden«.217 Eine Auseinandersetzung mit dem Elektromagnetismus lässt sich bei ihm vor allem ausgehend von seiner intensiven Beschäftigung mit der Atemund Gesundheitslehre Mazdaznan feststellen.218 In Otoman Zar-Adusht Ha’nishs Schrift Mazdaznan. Atem- und Gesundheitslehre (1954) findet sich eine Zusammenfassung der therapeutischen Prinzipien des Elektromagnetismus. Dort heißt es: »Hat das Blut nicht die richtige Wärme, dann überwiegen die magnetischen Strömungen. Überwiegen die elektrischen Strömungen, dann ist das Blut erhitzt und fiebrig«.219 Die magnetische Kraft entziehe dem Blut und somit dem gesam212 | J. Gage 2006, S. 78. 213 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 6. 214 | Putscher 1974, S. 8. 215 | Kandinsky, »Kompositionselemente« (1912/14), in Friedel 2007, S. 616. 216 | Itten 1961, S. 31. 217 | Ebd., S. 130. 218 | Zu den Mazdaznanbezügen Ittens siehe Kap. 5.4, 6.6 sowie vertiefend Burchert a (in Vorbereitung). 219 | Ha’nish 2003 (1954), S. 120.

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ten Körper durch Anziehung Wärme. Daher bezeichnete Ha’nish den Magnetismus als »abstoßende Kraft« und die Elektrizität als »anziehende«, die erwärmend auf das Blut wirke.220 Die Elektrizität ordnete Ha’nish dem Nervenzentrum zu und sprach von einer Speicherung der elektrischen Kraft in den Nerven, analog zu Batterien.221 Als ideal wurde auch in der Mazdaznan-Lehre ein ausgeglichenes Verhältnis von elektrischen und magnetischen Kräften im Körper angesehen: »Je stärker sich Elektrismus und Magnetismus ausgleichen, umso mehr strahlen wir aus und umso mehr wirken wir belebend auf unsere Umgebung«.222 Itten verband dieses Wissen mit jahreszeitlichen Zyklen und ging von im Winter vorherrschenden magnetischen Kräften aus (Kap. 3.7). Festzuhalten ist, dass die Theorie des Elektromagnetismus den hier immer wieder vorgefundenen Zuordnungen entspricht: elektrifizierendes Rot und Gelb gelten als belebend und erwärmend, magnetisches Blau als beruhigend und kühlend.

3.3.2 Farbenheilkunde als thermodiätetische Naturheilkunde Behandlungen auf Basis von Temperaturveränderungen wurden um 1900 im Rahmen eines gesteigerten Interesses an der Naturheilkunde populär. Bereits bei den Pythagoreern kamen Wärme und Kälte zu therapeutischen Zwecken zur Anwendung.223 So konnte ein »Übermaß von Hitze oder von Kälte«, ein Ungleichgewicht also, den Ausbruch von Krankheiten herbeiführen.224 Diese Auffassung hatte sich bei Klee als zentral herausgestellt. In der Chromotherapie galten diese Prinzipien gleichermaßen. Eine Verbindung zu Naturheilverfahren wurde von Osborne-Eaves gleich zu Beginn seiner Schrift betont, hier stellte er die Chromotherapie in eine Reihe mit Licht- und Luftbädern.225 Die Thermodiätetik ist untrennbar mit dem Namen Arnold Rikli verbunden.226 In zahlreichen, immer wieder überarbeiteten, aktualisierten Publikationen legte der Schweizer Naturheiler Grundlinien der Therapie dar. Er verordnete Luft- und Lichtbäder, bei denen nicht nur Helligkeit und ultraviolette Strahlung therapeutische Wirkungen entfalten sollten. Vielmehr ging Rikli davon aus, »dass in der

220 | Ebd., S. 124 [Herv. i.O. fett]. 221 | Ebd. 222 | Ebd., S. 121. Dieses Wirkungsmodell einer Ausstrahlung an die Umgebung wird im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit esoterischen Konzepten sowie später am Beispiel Yves Kleins weiter vertieft (Kap. 3.9). 223 | Dieckhöfer 1990, S. 47. 224 | Ebd., S. 48. 225 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 3f. Diese Gleichsetzung findet sich auch in Hackls Publikation zu Dinshah. 226 | Jütte 1996, S. 136; vgl. Kap. 2.5.

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sonnendurchfluteten Atmosphäre eine Vielzahl unterschiedlicher physikalischer Kräfte auf den Menschen einwirkte«:227 »Jeder Temperaturwechsel, als wesentlich durch Sonnenlicht, Schatten, Wind, Regen, Nebel bedingt, provocirt eine electrische Strömung in unserem peripherischen Nervennetz, bis sich die Hauttemperatur aufs Niveau der atmosphärischen Temperatur gesetzt hat, welche wir Thermoelectrizität heißen.« 228

Rikli verstand seine thermodiätetische Kur daher als atmosphärische Kur. Ihre Mittel waren Licht, Luft und Wasser. Diese Kräfte seien vornehmlich vom Sonnenlicht bestimmt, welches die relevanten Faktoren wie »Reinheit«, »Temperatur«, »Luftströmungen« und »Feuchtigkeitsgehalte« regle.229 Gemeinsam mit der Elektrizität fasste Rikli den Magnetismus als »Lebenselemente« der Atmosphäre.230 Dass Wärme eine ausdehnende Wirkung im Körper habe, während Kälte zusammenziehe, stellte die Basis der Thermodiätetik dar.231 So konnten gemäß Rikli verschiedene Temperaturen direkt das Nerven- und Gefäßsystem des Menschen affizieren. Dieses System galt es zur Gewährleistung der Gesundheit flexibel zu halten.232 Flexibilität war deshalb wesentlich, weil Rikli Krankheit als »gestörte Stoffbewegung« verstand.233 Auch er bezog sich damit auf das schon angeführte Gesundheitskonzept, das seinen Ausgangspunkt in der Elementen- und Säftelehre genommen hatte (vgl. Kap. 2.2, 2.5). Ziel der naturheilkundlichen Therapie nach Rikli war die »Kräftigung des Nervensystems« qua »Uebung […] der Zusammenziehung und Ausdehnung durch naturgemäße Einflussnahmen«.234 Dies galt als Voraussetzung für die Wiederherstellung und Erhaltung eines ungestörten Stoffkreislaufes.235 Itten, Kandinsky, aber auch Klee, Kupka und Burchartz interessierten sich besonders für die Wirkung von Wärme und Kälte auf den Organismus. Die Farbentherapie stellte einen wesentlichen Ansatzpunkt für die Konzeption des Bildes als Klimaraum dar und stützte die Idee, in Form von visuellen Medien Äquivalente zu klimatischen Einflüssen gestalten zu können, da die Farben hier als atmosphärisch wirksame, elektromagnetische Lebensstoffe gefasst wurden. Auf direk227 | Heyll 2006, S. 84f. 228 | Rikli 1871, S. 8. 229 | Rikli 1895, S. 23. 230 | Rikli 1890, S. 10. 231 | Ebd., S. 6. 232 | Vgl. Rikli 1895, S. 23f. 233 | Rikli 1890, S. 9. 234 | Ebd., S. 11. 235 | Diese Aspekte werden später noch mit Bezug zu Rhythmuskonzepten unter anderem am Beispiel Klees und Ittens thematisiert (Kap. 3.7, 6.2, 6.4, 6.6).

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te Naturheilorte oder überhaupt spezifische Licht- und Luftatmosphären gingen allerdings Kandinsky, Itten und Burchartz gar nicht ein, anders als Klee, Kupka, Nebel und Yves Klein.

3.3.3 Thermodiätetische Bilder bei Kandinsky Kandinsky verband Farbentherapie, Ansätze der Psychophysik, biologisches Wissen und esoterisches Denken zur Begründung seines ökologisch-heilkundlichen Bildkonzeptes. Insbesondere ab Ende der zwanziger Jahre häuften sich in seinen Unterrichtsnotizen Bezüge zur Biologie. Schon in den zehner Jahren hatte er sich – parallel zu seiner Auseinandersetzung mit der Chromotherapie und der Esoterik – auf Experimente mit farbigem Licht gestützt, die sowohl an Pflanzen zum beschleunigten Wachstum wie auch an Menschen vollzogen wurden. In Wilhelm Bezolds populärer Farbenlehre von 1874 findet sich ein Verweis auf ein Experiment, das zeigte, dass »Pflanzen hinter farbigen Gläsern […], welche nur […] rothes Licht auf dieselben fallen liessen«, besonders gediehen.236 Ausgehend davon argumentierte Kandinsky, dass das farbige Licht einen »Einfluß auf alles Lebende« habe und besonders auch auf »den ganzen Menschen wirkt, d.h. auf seinen Körper, sein Gemüt und seine Seele«.237 Dieses Wissen fand bei Kandinsky über Jahrzehnte hinweg unter Verweis auf verschiedene Quellen immer wieder Aktualisierungen.238 Seit Ende der zwanziger Jahre schuf Kandinsky eine Reihe an eher kleinformatigen Werken, deren Erscheinung und Bildtitel sich auf Temperaturen und andere atmosphärische Qualitäten beziehen. Dazu gehören Kühle Energie (1926), Kühl (1926), Trübung (1927), Dunkle Kühle (1927), Aufleuchten (1927), Warm-Kühl (1927), Scharfes Heiss (1927), Manches Kühl (1927), Milder Vorgang (1928), Verschleiertes Glühen (1928), Kalt (1929), Kühle Verdichtung (1930), Kühle Entfernung (1932) und Lichte Bildung (1933). Hitze, milde Wärme, Kühle und Kälte, Strahlung und Trübe werden in dieser Werkgruppe präsent gemacht.239 In Dunkle Kühle wird ein Ultramarinblau gelben und roten Farbpartien entgegengesetzt, die, von der kühlen Atmosphäre umrahmt, umso mehr ausstrahlen und eine besondere Lichtqualität erhalten.240 Milder Vorgang ist weniger kontrastiv: Größtenteils gelb-goldene Farbflächen sind von einem milden, luftigen Blau umfangen. Mit eingezeichneten 236 | Bezold 1874, S. 37f. 237 | Kandinsky, »Man spricht viel davon…« (1910/11), in Friedel 2007, S. 417 [Herv. i.O. unterstrichen]. 238 | Unter ökologischem Blickwinkel setzte sich Kandinsky mit dem reinen Sonnenlicht als Lebenskraft auseinander, siehe Kap. 4.4. 239 | Siehe Hans K. Roethel/Jean K. Benjamin, Kandinsky. Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. II: 1916-1944, München 1984. 240 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Dunkle Kühle, 1927, Öl auf Tafel, 26 × 20 cm, Centre Georges Pompidou, Paris.

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Pfeilen und Linien scheinen Luftbewegungen und Temperaturveränderungen angedeutet, ähnlich wie in den diagrammatischen Bildern Klees (Kap. 3.1.1: Abb. 4).241 Insgesamt erscheint das Bild wie ein von Sonne durchdrungener, milder Luftraum. In beiden Werken wird ein spezifisches Bildklima gegeben, wiederum ähnlich wie bei Klee einmal eher als Reizklima, einmal als schonend-mildes. Klima wurde hier von Kandinsky als ein ideales, abstraktes, nicht an einen bestimmten Ort gebundenes Phänomen gefasst. Die gleichzeitige, mehr oder minder kontrastive Aufnahme kalter und warmer, dunkler und strahlender, zusammenziehender und ausdehnender Farben findet sich in seinen Werken immer wieder. Dadurch sind auch die generellen, polaren Lebensprinzipien der Thermodiätetik in künstlerische Gestaltungsprinzipien überführt. In den geschilderten psychophysischen Experimenten und in farbheilkundlichen Anwendungen wurde in Verbindung mit naturheilkundlichen Prinzipien eine atmosphärische Wirkung in die Umwelt hinein als Modell der Verbindung der Betrachtenden mit dem Bild deutlich. Auch die Esoterik, die in diesem Kapitel bereits immer wieder aufschien, lieferte Kandinsky und anderen Begründungselemente für ihre ökologischen Bildmodelle.

3.4 E soterische W irkmächte bei W assily K andinsk y Bei Wassily Kandinsky, Otto Nebel und František Kupka verbanden sich ökologisches und esoterisches Denken.242 Dies entspricht dem Impetus der Theosophie um 1900, verschiedene Ordnungen des Wissens und Glaubens – Philosophie, Religion und aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse – zu synthetisieren, um zu umfassenden Erkenntnissen zu gelangen. Vor allem Erkenntnisse zum Einfluss der atmosphärisch-immateriellen Qualitäten von Licht und Luft auf den Menschen boten Anknüpfungspotential.243 Meteorologische und klimatologische Beschreibungen finden sich fortlaufend in theosophischen Schriften. Allerdings ist es keinesfalls so, dass ökologisches Denken erst im 20. Jahrhundert in die Esoterik Eingang fand. Vielmehr war sie seit jeher durch im weitesten Sinne ökologische Ideen geprägt, welche ihre Grundlage in naturphilosophischen Traditionen seit der Antike haben. Dazu gehörten das Prinzip der Analogie von Mikro- und Makrokosmos, die auch die Analogie von Physikalischem und Geistigem betraf, sowie die Annahme, dass die Erde ein lebendiger und beseelter Organismus 241 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Milder Vorgang, 1928, Öl auf Pappe, 39 × 68 cm, Centre Georges Pompidou, Paris. 242 | Siehe weiterführend Kap. 3.5-3.6, 4.2-4.3. 243 | In der Literatur wird jedoch bisher stets die Entdeckung der Existenz unsichtbarer Schwingungen in der Atmosphäre – d.h. Röntgenstrahlung und Radiowellen – als Begründungsmomente esoterischer Praktiken wie Telepathie und der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen fokussiert. Siehe exemplarisch Dalrymple Henderson 1995.

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sei.244 Die Weltseele wurde etwa als inneres Feuer vorgestellt, also als Wärme und Licht.245 Äquivalente zu klimatischen Qualitäten durchziehen die übersinnlichen Dimensionen der Esoterik. Die Verbindung des Menschen mit den unsichtbaren Kräften in der Umwelt ist wesentlicher Bestandteil der Lehren und atmosphärische Qualitäten wie Licht sowie Wärme wurden auf seelische und geistige Phänomene übertragen. Daraus resultiert ein erweitertes Umweltverständnis. Kandinskys Auffassung von Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel ist in eben diesem Kontext zu verorten. Er fasste das Wesen der Gesellschaft als geistige Atmosphäre auf, die sich aus »Taten, Gedanken, Gefühle[n]« von Individuen konstituiere.246 Auch stellte er eine Analogie zur natürlichen Atmosphäre über Vorstellungen der Reinheit und der Trübe her: So könne menschliches Denken, Fühlen und Handeln »die geistige Luft verklären oder verpesten«.247 Dem Kunstwerk sprach Kandinsky Mitwirkung an der Schöpfung der geistigen Atmosphäre zu.248 Auch ging es dabei nicht allein um das einzelne Bild als Lebensraumäquivalent, sondern um die Akkumulation positiv oder negativ auf die Umwelt einwirkender Werke: »Das Wiederholen derselben Klänge, die Aufhäufung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle (auch der feinsten Substanz), so wie zum Reifen verschiedener Früchte die verdichtete Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist.« 249

Kunst erscheint hier als Wärmegeneratorin und als Beschleunigerin von seelischen Lebensprozessen. Wärme als Lebensfaktor und Therapeutikum erhielt im esoterischen Denken Kandinskys Dimensionen, die über das naturwissenschaftliche und -heilkundliche Denken hinausgingen. Reinheit und Wärme als Qualitäten, die auch den Farben zugesprochen wurden, standen in Analogie zu Gedanken, Gefühlen und Taten, die sich zu Atmosphären verdichten, reifen und Teil der Umwelt werden. Farbklänge begriff Kandinsky als Lebenskräfte, die zu Wachstum und Gedeihen des Geistigen beitragen. Konstituieren sollten sich solche positiven geistigen Atmosphären aus »Selbstopfer[n], Hilfe, reine[n] hohe[n] Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude anderer Glück, Humanität, Gerechtigkeit« im Gegensatz zu »Selbstmorde[n], Morde[n], Gewalttaten, unwürdige[n], niede-

244 | Katz 2005, S. 15; vgl. Kap. 1.1, 2.2. 245 | Ebd. 246 | Kandinsky 1952 (1911), S. 154; zum Postulat der Lufthaltigkeit von Bildern bei Kandinsky und anderen siehe Kap. 5.1. 247 | Ebd. 248 | Ebd., S. 132. 249 | Ebd., S. 106.

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re[n] Gedanken, Haß, Feindseligkeit, Egoismus, Neid, ›Patriotismus‹, Parteilichkeit«.250 In Über das Geistige in der Kunst schrieb Kandinsky, dass in der »Seele« der Zeit ein Sprung sei.251 Peg Weiss stellte bereits ausgehend vom Blauen Reiter-Almanach Kandinskys Verständnis der Kunst »als erneuernde und verwandelnde Kraft« heraus.252 Als »Arzt-Maler« habe er danach gestrebt, mit seiner »geistige[n] Medizin« die Gesellschaft zu heilen.253 Kunst löse gemäß Kandinsky spezifische Seelenvibrationen aus, die als immaterielle Kräfte in die Materialität des Kunstwerkes überführt wurden und so Wirkungen auf die Seele der Betrachtenden entfalten sollten.254 Farbigen Atmosphären, die durch Gedanken, Gefühle und Handlungen gebildet werden, widmeten sich die von Kandinsky und zahlreichen anderen Künstlern rezipierten Schriften Der sichtbare und der unsichtbare Mensch (1902) von Charles W. Leadbeater sowie Gedankenformen (1901), die dieser gemeinsam mit Annie Besant herausgegeben hatte.255 Grundlage bildete die Annahme, dass sogenannte Astral- und Mentalwolken vom Menschen abgegeben werden, die »das spirituelle Leitmotiv […] [ihrer] Befindlichkeit veranschaulichen«.256 Diese entstehen also, weil »Veränderungen im Gefühlsleben eine Farbenveränderung in der Aura […] hervorrufen«.257 Die Aura selbst sei eine »wolkenartige[…], eiförmige[…] Hülle, die alle lebenden Wesen umgibt«.258 Auch wenn die Gedankenformen als Atmosphären auf ihre Umwelt Einfluss nehmen konnten, wurde gemäß dem esoterischen Denken nur der hellsichtige Mensch als fähig erachtet, sich solche übersinnlichen Phänomene ins Bewusstsein zu rufen. Nach Leadbeater versetzt ein Gedanke zunächst die mentale, gedankliche Ebene in Bewegung, welche dann in die astrale, seelische Ebene übertragen und ausgehend von dieser in Form von Vibrationen in die ätherische Dimension gelange.259 Dem Hellsichtigen erscheine der Gedanke als farbige Wolke oder farbiger Nebel. Alle Dimensionen der Natur würden durch solche unsichtbaren Farblich250 | Ebd., S. 107. 251 | Ebd., S. 22. 252 | Weiss 1982, S. 75. 253 | Ebd. 254 | Kandinsky, »Inhalt und Form« (1910), in Friedel 2007, S. 404. 255 | Grundlegend entwickelt wurden diese Ideen durch Max Heindel in seiner Rosenkreuzer-Schrift (Kap. 5.5.3) und durch den Mystiker Emanuel Swedenborg (1688-1772), dazu siehe Zimmermann 2002, S. 273-275, S. 340 und S. 366. 256 | Wyss 1996, S. 161. Als Exempel der Auseinandersetzung mit der Theosophie analysiert Beat Wyss Kandinskys Dame in Moskau (1912, Öl auf Leinwand, 108,8 × 108,8 cm, Galerie im Lenbachhaus, München). 257 | Besant/Leadbeater 1908, S. 5. 258 | Ebd. 259 | Leadbeater 1908, S. 20.

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ter konstituiert: »[D]och je höher man emporsteigt, desto feiner und leuchtender werden sie, so daß man sehr wohl annehmen darf, es seien höhere Oktaven der Farbenskala«.260 Diese Annahme besonders reiner Farben im Unsichtbaren zeigte sich bei Paul Klee und Kupka, wobei letzterer explizit auf die seelischen Farben eingegangen war (Kap. 3.1). Leadbeater ging davon aus, dass jeder Mensch in eine »astrale[…] Wolke« eingehüllt sei – eine »Aura«, die durch seine »Instinkt-, Trieb-, Wunsch-, Leidenschaftswelt« gebildet wird.261 Wie ein bestimmter Luftdruck und eine spezifische Luftzusammensetzung Wetterfühligen Probleme bereiten oder ihnen wohltun können, so sollen auch die von Menschen ausgestrahlten Auren einen eher positiven oder negativen Einfluss auf das Innenleben der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung entfalten. Da es Kandinsky um das Gemüt und den Geist einer ganzen Epoche ging, standen für ihn allerdings nicht flüchtige Gefühle und Gedanken im Vordergrund. Vielmehr erstrebte er eine nachhaltige Einwirkung auf die gesamte Gesellschaft, welche er als Aufgabe der Kunst definierte. Die Fähigkeit, »Ströme« auszustrahlen und so Einfluss auf die Umwelt und die Mitmenschen zu nehmen, behandelte auch Rudolf Steiner in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05).262 Der Mensch agiere, so Steiner, als Schöpfer geistiger Atmosphären, »durch sein eigenes Wesen in der höheren Welt«.263 Diese Fähigkeit sprach Kandinsky dem Künstler in besonderem Maße zu. Ein Modell von Kunst als ätherische Ausstrahlung entwickelte weiterhin Yves Klein (Kap. 3.9). Kandinsky und Klein formulierten, ähnlich wie Umberto Boccioni und Kupka, den Traum einer immateriellen Kunst. Der Kunsthistoriker und spätere Lebensgefährte Gabriele Münters, Johannes Eichner (1886-1958), schrieb 1957 in diesem Sinne von Kandinskys Erwartung einer Kunst, »die nicht Farbentuben und Pinsel brauche« und welche »die Vorstellung des Künstlers ohne materielle Vermittlung in den Raum ausstrahle«.264 Da Kandinsky jeder menschlichen Handlung einen Einfluss auf die geistige Atmosphäre der Zeit und der Gesellschaft zuerkannte, so musste dies auch für die Schöpfung von Kunstwerken gelten. Der Künstler bringe seine Seele, seine Gefühle und seine Gedanken in das Werk ein, das somit von einem bestimmten Geist geschaffen ist, der diesem inhärent bleibt beziehungsweise sich laufend aus diesem entäußert. Jedes Bild erzeuge so über das Sichtbare hinaus eine spezifische ätherische Umwelt. Die farbige Gestaltung ist gleichermaßen Ausdruck eines Geistes 260 | Ebd., S. 27. 261 | Ebd., S. 159. 262 | Steiner 1955 (1904/05), S. 147f. 263 | Ebd., S. 144. 264 | Eichner 1957, S. 19. Zurecht warf Reinhard Zimmermann folgende Frage auf: »Worauf kann sich eine Kunst, in der es ausdrücklich um Nichtmaterielles, nämlich um das Geistige, gehen soll, die aber selbst im Medium des Materiellen arbeitet, beziehen?« (Zimmermann 2005, S. 48).

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und sollte so entsprechend der zuvor dargestellten Farbkonzepte auf die Seele einwirken. Die Analogie zur physikalischen Atmosphäre ist dabei grundlegend. Das Atmosphärische erscheint bei Kandinsky von Beschreibungen konkreter, natürlicher Atmosphären an bestimmten Orten oder in bestimmten Regionen allerdings weit entfernt. Dies verbindet ihn mit Max Burchartz. Klimatische Aspekte der Wärme und Kälte, Erregung und Beruhigung sind abstrakte Faktoren in ihren Kunstkonzepten. Anders verhielt es sich mit einem bislang wenig bekannten Wegbegleiter Kandinskys: Nebel. Ähnlich wie Kandinsky ging Nebel davon aus, mit dem Bild die eigenen Kräfte und einen bestimmten Geist auf die Beschauer/-innen übergehen lassen zu können: So sei die »Farbform ein Seelwert […], der durch das Innenleben [des Künstlers] gespeist wurde mit der vollen Leuchtkraft und Lebenswärme aus dem Menschen. Diese Lebensleuchtkraft wirkt auf die heilen, beseelten Sinne des Mitmenschen unmittelbar«.265 Dabei entwickelte Nebel im Gegensatz zu Kandinsky ein deutlich aus der natürlichen Atmosphäre abgeleitetes Farbkonzept.

3.5 W ärme und L ichter I taliens : O t to N ebels luf tr äumige F arben Otto Nebel war nicht nur Maler, sondern auch Dichter. Zwischen 1920 und 1924 arbeitete er bei der Kunstzeitschrift Der Sturm in Berlin. Erste malerische Arbeiten entstanden ab 1922. 1924/25 wohnte er in Weimar. Obwohl nicht direkt an das Bauhaus angebunden, stand er doch in engem Kontakt zu Wassily Kandinsky und Paul Klee. 1933 emigrierte er in die Schweiz und lebte bis zu seinem Tod 1973 in Bern. Obwohl sich Kandinsky sehr für Nebel eingesetzt hat 266 und im Jahr 2012 eine Gedächtnisausstellung in Bern stattfand, ist der Künstler kaum bekannt. Nebels Œuvre umfasst rund 2000 Gemälde und 4000 Zeichnungen.267 Auch verfasste er mehrere umfangreiche Schriften, die sein Kunstverständnis darlegen.268 Im Unterschied zu Kandinsky entwickelte Nebel seine theoretischen Schriften häufig unter Bezugnahme auf konkrete eigene Werke. In der ohnehin noch sehr schlanken Forschungsliteratur steht Nebels esoterisches Denken im Vordergrund, ähnlich wie bei František Kupka, ohne dass die damit untrennbar verbundenen ökologischen Ansätze Beachtung finden. Ein Hang zum Esoterischen ist bei Nebel immer stärker in den fünfziger Jahren zu 265 | Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), in Radrizzani 1988, S. 51. 266 | Biffiger 2012, S. 58f. und Bhattacharya-Stettler/Biffiger/Braun 2012, S. 9. Kandinsky hatte sich in den Dreißigern dafür eingesetzt, einen Teil von Nebels Werk im Guggenheim-Museum in New York unterzubringen. 267 | Bhattacharya-Stettler/Biffiger/Braun 2012, S. 9. 268 | Einen thematischen Überblick über die Schriften gibt die Einleitung in Radrizzani 1988.

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finden. Seine frühen abstrakten Kompositionen der Zwanziger sowie seine Arbeiten und Schriften bis in die Vierziger hinein enthielten aber neben rein spirituellen Ideen auch Impulse aus einer besonderen Verbundenheit mit der natürlichen Umwelt. Bei Nebel zeigt sich in besonderem Maße, wie beide Bereiche, Ökologie und Esoterik, zusammengedacht wurden.

3.5.1 Klimatische und atmosphärische Lichtfarben Grundlage für Nebels ökologisches Bildmodell war die Auseinandersetzung mit Farbe als Licht und als atmosphärische Erscheinung. 1930 schrieb Nebel in einem Brief an den Sturm-Mitarbeiter Kurt Liebermann von Malereien, die er mit Wasserfarben in einer »sehr mühsam[en] Federstrichtechnik« angefertigt hatte, »um den Schein zum Widerschein und Vorschein zu bringen, auf dass er weiterschwinge im Beschauer«.269 Dass dieses Licht ein Spezifisches war, machte er ebenfalls deutlich: »Das Licht dieses atlantischen Südens ist anders nicht zu fangen. Seiner Intensität entspricht allein und überhaupt erst eine letztmögliche Erarbeitung einer Intensivierungsfaktur der Bildfläche, welche über das Gebiet eines jeden Quadratzentimeters ein 10- bis 20faches Strichgeflecht legt«.270 Das Licht des atlantischen Südens wollte Nebel in all seiner Intensität zur Präsenz bringen. Es sollte im Bild wider- und vorscheinen und so unmittelbar auf die Betrachtenden wirken. Noch in den fünfziger Jahren beschrieb Nebel »jedes farbige Werk« als »ein bekrönendes und fruchtbringendes Zweckgebilde aus echtem Urempfinden des Verwurzeltseins mit dem Schönen auf Erden«, das das »Licht- und Lufträumige[…] der Landschaften und ihrer Sichtkreise […] aus dem fühlbaren Kraftwalten ihrer Eigenarten« sichtbar mache.271 Die Verwurzelung in der Natur war für sein Kunstkonzept grundlegend, wobei er Licht- und Luftatmosphären über seine gesamte Schaffenszeit als krafttragend und -spendend auffasste und so in seine Werke zu übertragen suchte. Der Künstler hielt sich nicht nur zwischen 1926 und 1928 längere Zeit in der Naturheillandschaft Ascona auf dem Monte Verità auf. Sondern er orientierte sich auch, ganz ähnlich wie Klee, in der Entwicklung seiner Farbensprache an der Licht- und Luftatmosphäre des Südens. Besonders prägend waren seine Besuche in Italien 1918 und 1927 sowie sein erster längerer Italienaufenthalt zwischen Oktober und Dezember 1931. Dort entwickelte er das Vorhaben, einen »Farbenatlas« des Landes anzufertigen, um »eine planmässige Aufnahme der Farben Italiens

269 | Nebel in einem Brief an Kurt Liebermann am 3.8.1930, zit.n. Bhattacharya-Stettler 1982, S. 50. 270 | Nebel in einem Brief an Kurt Liebermann am 3.8.1930, zit.n. ebd. Von welchem Bild Nebel hier spricht, ist noch nicht rekonstruiert. 271 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 192.

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vorzunehmen«.272 Er fasste dieses Projekt als Untersuchung der »Lichtwelt« Italiens, aus der er sich zudem ein besseres Verständnis des Landes versprach: »Wenn ich das Licht festhalten kann, aus dem doch die grossen Taten und Schöpfungen in jedem Lande kommen, so erfasse ich den entscheidenden Grundzug und das Urwesen des betreffenden Landes und seiner Gesittung tausendmal tiefer und besser als wenn ich etwa die grossen Kunstwerke geschichtlich beröche oder sie nachzuschaffen versuchte.« 273

Die Lichtatmosphäre Italiens stellte für Nebel den wesentlichen Zugang zum Land und zu dessen Kultur dar. Seine Annahme, dass er über die Kultur aus der Lichtnatur mehr lernen könne als aus den Kunstwerken und anderen kulturellen Erzeugnissen, dokumentiert ein Denken in der Logik der Klimatheorie, der zufolge die klimatischen Bedingungen des Landes dessen Gesellschaftsordnung und Kultur determinieren (Kap. 2.5, 5.3.3). Der Farbenatlas besteht aus 24 Tafeln und damit aus »rund 1300 Farben und Lichter[n], Klänge[n] und Tönungen der italienischen Landschaft und ihres Luftraumes«,274 die Nebel »[m]it dem nassen Pinsel und mit reinen Wasserfarben« ausführte (Abb. 10).275 Nicht nur die Farben der Luftatmosphäre sind somit Gegenstände im Atlas, auch die gestaltete Umgebung, die Farben der Wände und Mauern etwa (Blatt VII) und die Landschaftsfarben in Verona, Florenz, Siena, Bologna und Rom sind in den Farbanordnungen zusammengestellt (Blatt III). Die Farben der Atmosphäre unter bestimmten meteorologischen Bedingungen, bedecktem Himmel und Nordwind etwa (Blatt IV), bilden ebenso Inhalte der Blätter wie verschiedene, strahlende Ockertöne in Rom (Blatt VI). Oberflächen- und atmosphärische Farben sind so gleichwertig vereint. Die Farben aus dem Atlas, allen voran Ocker-, Orange- und Gelbtöne, ebenso wie Grün- und Grautöne charakterisieren Nebels malerisches Œuvre. Der Atlas ist keine reine Katalogisierung,276 sondern stellt eine Bestätigung und Basis für 272 | Nebel, Tagebucheintrag am 26.10.1931, zit.n. Bhattacharya-Stettler 2012, S. 177. 273 | Nebel, Tagebucheintrag am 27.10.1931, zit.n. ebd., S. 179. 274 | Nebel, Einleitung zum Farbenatlas (1931), zit.n. ebd., S. 185. 275 | Nebel, »Das kunstgemäße Wägen und Werten der Farben« (1929-33), in Radrizzani 1988, S. 106. 276 | Für einen Überblick über historische Farbatlanten siehe Kuehni/Schwarz 2008, S. 24f., S. 56-59, S. 160f., S. 245-247: Die Autoren betonen die Systematik und den Vollständigkeitscharakter von Farbatlanten und nennen als zentrale Beispiele des 20. Jahrhunderts das Munsell- und das Ostwald-Farbsystem. Nebel hingegen erstellte keine vollständige Farbsystematik, sein Ansatz lässt sich eher mit dem Versuch eines Farbensystems (1772) von Ignaz Schiffermüller vergleichen, in dem eine Aufstellung und Benennung der Farben von Insekten vorgenommen wurde. Ausgangspunkt beider waren spezifische Naturerscheinungen in einem begrenzten Feld. Allerdings fehlt in Nebels Atlas jeglicher über die gewöhnlichen Bezeichnungen hinausgehende Anspruch der exakten Benennung

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Nebels Farbverwendung dar. Noch in den fünfziger Jahren bezog er sich darauf.277 Dies verbindet Nebel mit Klee, der in Tunesien, auf Sizilien und in anderen südlichen Ländern Farbklänge gesammelt hatte. Die Anordnung der Farben im Atlas beschrieb Nebel folgendermaßen: »Die unterschiedlichen Größen der Farb-Gevierte, Rechtecke und sonstigen Flächenformen deuten dabei jeweils die Mengen-Vorkommen an und sind als Gewichte zu werten, weil sie erkennen lassen, in welchen Verhältnissen die einzelnen Farben oder Lichter auf jeder Tafel mengenmäßig zueinander stehen, und in welcher Weise sich dem wägenden Betrachter einer bestimmten Landschaft oder Stadt deren kennzeichnende Tönungen eingeprägt haben.« 278

Abbildung 10: Otto Nebel, Blatt VI des Farben-Atlas von Italien, 1931, Otto NebelStiftung, Bern

Die Farben sind von ihren gegenständlichen Bezügen los- und in reine Töne sowie Klänge aufgelöst. Klee überführte Landschaft und Klima der Orte, an denen und Definition von Farben. So lässt sich Nebels Farbenatlas als eine Form der Kartierung einer Region mit ihren verschiedenen Aspekten sowie ihrer Licht- und Luftlandschaft begreifen. In diesem Rahmen verfolgte er doch den Vollständigkeitsanspruch eines Atlanten (vgl. Bhattacharya-Stettler 2012, S. 177f.). 277 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 198. 278 | Nebel, »Das kunstgemäße Wägen und Werten der Farben« (1929-33), ebd., S. 102.

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er sich aufhielt, auch in annähernd geometrische Formen, allerdings ohne einen Farbenatlas zu erstellen.279 Das Verständnis von Farbe als Licht findet sich bei Nebel schon vor seinem Atlasprojekt. 1929 und 1930 hielt er sich in Paris auf. Ab 1930 begann er eine Reihe von Kathedralenbildern, die er bis in die fünfziger Jahre hinein immer wieder ergänzte. Hier könnte ein Austausch mit Kupka stattgefunden haben, der bislang nicht nachgewiesen ist. Beide wendeten sich farbigen Glasfenstern und deren Leuchtqualität zu. 1932 notierte Nebel in seinem Tagebuch, wie wichtig es für den Künstler sei, sich mit dem farbigen Licht zu beschäftigen, mit dessen »Empfindungswerten und Klängen«.280 1931 formulierte er in Worte zur rhythmischen Malerei, dass »durch das Auge, durch das Blut, durch die Sinne und die Seele, durch den Lebensleib […] der Maler mit dem unendlich vielfältigen Außen in unlösbarem Verbundensein« bleibe.281 Mit dieser Aussage manifestierte Nebel die Diesseitigkeit seines Kunstund Farbkonzepts sowie die Gebundenheit des Menschen und des Malers im Besonderen an die natürliche Umwelt. Diese Verbundenheit mit der Natur zeigte sich auch in seiner Rede von der Verwurzelung mit der Landschaft.282 Auge, Blut und die Sinne sind die physiologischen Bedingungen, die den Menschen an die Natur binden. Zugleich postulierte Nebel eine tiefe Beziehung zwischen Natur und Seele. Hierfür ist seine klimatische Farbauffassung grundlegend. In seinem Farbverständnis orientierte Nebel sich grob an der Ordnung der zwölf Töne der Bauhauslehrerin Gertrud Grunow,283 die sich ihrerseits auf Johann Wolfgang von Goethe stützte, und der das anschließende Unterkapitel gewidmet ist. 1937 formulierte Nebel Kategorien zur Beschreibung von Farben und Lichtern. Diese lauten: »beleuchtet, belichtet, beschattet oder verdunkelt […], […] ›warm‹ oder ›kalt‹, lufträumig oder dicht, stark oder schwach, rein oder gemischt«.284 Nebel verwendete weiterhin Begriffe wie »Licht- und Schattengrade, Wärmegrade, Kühlegrade«.285 Farben besitzen demnach eine Temperatur und einen Lichtgehalt. Wie 279 | Den Vergleich von Nebel und Klee stellt auch Bhattacharya-Stettler 2012, S. 178 her; vgl. Kap. 3.1.1. 280 | Aus Nebels »Die Wertung der Farben« (1929-1932, unveröffentlicht), zit.n. Bhattacharya-Stettler 2012, S. 189. 281 | Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), in Radrizzani 1988, S. 33. 282 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), ebd., S. 192. 283 | Nebel, »Kunstwürdige Wertungen« (1942-44), ebd., S. 329-348. Er zählt Schwarz, Blau, Gelb, Rot, Grün, Braun, Grau, Blauviolett/Veilblau, Rotviolett/Veilrot und Weiß auf, also zehn Farben, wobei er entsprechend dem Farbkreis von Gertrud Grunow Grün in ein warmes und ein kaltes sowie Blau in Hell und Dunkel unterteilt und so auf zwölf Farben kommt, die allerdings nicht ganz denen Grunows entsprechen: Es fehlt Gelbrot, dafür fügte Nebel einen weiteren Blauton hinzu; vgl. Kap. 3.6. 284 | Nebel, »Forte dei Marmi« (1937), ebd., S. 216. 285 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), ebd., S. 168.

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schon Kupka, Klee und Kandinsky fasste er die Farben als Qualitäten der Licht- und Luftatmosphäre. Reinheit und Trübe, Wärme und Kälte sowie Licht und Dunkelheit waren für ihn zentrale Farbqualitäten. 1942 notierte er noch expliziter klimatische Farbwirkungen: Gelb sei ein schwebender und strahlender »Wärmespender« und auch Rot »durchwärmt nicht allein die benachbarten Bildformen, sondern auch den Umraum«.286 Braun und Rotviolett seien warme Farben,287 während Blau kühlend wirke. Weiß als das »hellste Licht in vollkommener Reinheit« hingegen könne sowohl »kühl« bleiben als auch »bis zur Siedehitze und Weißglut gesteigert werden im Bilde«.288 Blau ist, wie bei Goethe, dem Medium der Luft zugeordnet: »Der Grund des Bildes hat den hellveilblauen Ton ferner Bergesdünste an Föhntagen ausklingenden Winters«, beschreibt Nebel anhand eines Bildes.289 Auch beim Grau sprach Nebel von »Luftigkeiten«.290 Atmosphärische Beschreibungen dienten so zur Begründung der Wirkkraft der Farben. Schwarz verhalf in diesem Sinne, die Strahlkraft der anderen Farben kontrastiv zu steigern.291 Nebel war der Auffassung, dass die »Kraftgrade des Lichtes, die wohlgestuften Farbklänge, die Formbeziehungen, Festigkeiten, Maße« und dergleichen mehr bewirken, dass das »Trägheitsgefühl im Beschauer allzurasch aufgehoben wird«.292 Das Bild vermöge es somit, den Körper und das Gemüt der Rezipierenden anzuregen und zu beleben. Dies erinnert an Max Burchartz’ Modell der Lebenswelle sowie an Überlegungen zu erregenden Farben in der Farbenlehre Goethes, der Farbenheilkunde und der Psychophysik. Die Auffassung der idealen Farbe als atmosphärisches Phänomen ist auch in Nebels Werksystematik abgebildet: 1934 nahm er eine Ordnung seiner Arbeiten in verschiedene Gruppen nach formalen und inhaltlichen Kriterien vor. Eine davon trägt den Titel »lufträumige Lichtfarbe«.293 Diese Kategorie bezog er in der Beschreibung eigener Arbeiten auch auf figurative Werke der späten zwanziger Jahre. Über die Bilder der Mappe Aus Paris mitgebracht von 1929 schrieb er: »Es ist ein Gleichnis für das Nachglühen und Ausklingen eines Sommers, für dessen Fortwirken im Besinnen des zeugerischen Geistes. Und wohl viel von der warmgoldenen Nach286 | Nebel, »Kunstwürdige Wertungen« (1942-44), ebd., S. 332f. 287 | Ebd., S. 334 und S. 337. 288 | Ebd., S. 337. 289 | Ebd., S. 333. 290 | Ebd., S. 335. 291 | Ebd., S. 329. 292 | Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), ebd., S. 49. 293 | Nebel, »Schauen und Lauschen« (1929-33), ebd., S. 101. Die ersten vier Kategorien lauten: »Kunstgerechte Sinngefüge aus der Zone des Ungegenständlich-Fließenden«, »Kunstgerechte Sinngefüge aus der Zone des Ungegenständlich-Maßbetonten und Formstrengen«, »Kunstwürdige Sinngefüge aus der Zone des Malerisch-Gegenständlichen«, »Kunstwürdige Sinngefüge aus der Zone des Bauwerklich-Gegenständlichen« (ebd., S. 92f.).

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Das Bild als Lebensraum mittagsgüte des Lichtes und des Lebens ist klingend geworden und fühlbar geblieben in der Farbenfülle der Bilderreihen: – auch der Bernsteinschmelz der Freude, auch das honiggelbe Glück beschenkter Sinne, auch die rote, heile Schaffensflamme.« 294

Besagtes Mappenwerk enthält dreißig Blätter. Es handelt sich um figurative Arbeiten, die sich mit dem Leben in Paris auseinandersetzen. Den Bildern allen gemein ist gemäß Nebel ein frühherbstliches, farbenfrohes und warmes Nachmittagslicht. Die Orientierung an bestimmten meteorologischen und klimatischen Gegebenheiten findet sich in den Beschreibungen fortlaufend. Die Bilder seien geprägt vom »weichen Licht, dem Morgenhauch« und dem »Silbergrau der sommerhellen Stadt Paris«.295 Alles werde »Luftraumton und malt und singt«.296 Der Anspruch, das spätsommerliche Licht zur Präsenz zu bringen, wird in Nebels Beschreibung des Werkes Warmes Wetter aus derselben Mappe deutlich: »Eine Lichtfülle ohnegleichen: heißestes Gelbrot mit sattgelben Helligkeiten, feierliches Rostrot und nachglühendes Braun. Taktvolle, wohltuende Betonungen in Veilgrau, die durch ihre verhältnismäßig niedrigen Wärmegrade und ihre weiche, feinfühlige Schmiegsamkeit das Sonnige der Malerei eher steigern als mindern.« 297

Nebel vertrat die Auffassung, dass das Bild einen wärmenden Lichtraum gegenwärtig machen könne. Gerade im Vergleich zu Klees Polyphonie fällt die grelle Intensität des Orange und Rotorange auf, die Nebel mit sparsam eingesetzten grauen Partien kontrastierte (Kap. 3.1.1: Abb. 5). Diese Intensität durchzieht allerdings nicht das gesamte Mappenwerk. Im Wechsel der Orte treten den Betrachtenden auch mildere Atmosphären entgegen. Deutlich wird so, dass der Künstler in dieser Werkphase Ende der zwanziger Jahre eher momentane, impressionistische Erscheinungen im Einzelbild gestaltete, wenngleich er sich hier schon zum Ziel setzte, das spätsommerliche Klima in Paris in Form des Seriellen wiederzugeben. Dabei stellte er sich die Aufgabe, Architektur, Menschen und Leben in der Stadt darzustellen. Repräsentation in diesem Sinne wird im späteren Œuvre zugunsten der Erzeugung von Präsenz durch abstrakte Farbkompositionen zurückgenommen. Den Ansatz, die Beschauer/-innen mit Bildlicht zu durchdringen, formulierte Nebel explizit erstmals um 1930. Von einem »Strichgeflecht« und einer »Intensivierungsfaktur«,298 wie er sie hier beschrieb, ist im Mappenwerk von 1929 allerdings nicht zu sprechen. Eine Technik des Strichelns und des Punktens zeigt 294 | Nebel, »Drei Mappenwerke« (1932), ebd., S. 59. 295 | Ebd., S. 60. 296 | Ebd. 297 | Ebd., S. 72; nicht abgedruckt: Otto Nebel, Warmes Wetter, 1929, Farbstift auf Papier, 49,8 × 35,2 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern. 298 | Nebel in einem Brief an Kurt Liebermann am 3.8.1930, zit.n. Bhattacharya-Stettler 1982, S. 50.

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sich etwa einige Jahre später in der kleinformatigen Gouache Vom Mittelmeer (Meridionale) (1935) (Abb. 11). Hier ist in Anlehnung an neoimpressionistische Verfahren eine durch das feine Geflecht an Punkten sowie kurzen Strichen und Farbkontrasten erzeugte, flirrende, vibrierende Bildwirkung angelegt. Nebel verwendete dazu die additiven Grundfarben Blau, Rot und Grün. Die Farbe erscheint zu einer atmosphärischen Wirkung und Qualität des Lichtes dematerialisiert. Dieser Effekt entspricht ganz Nebels Konzept der Farbe als Lichterscheinung in der Atmosphäre. Andererseits werden größere Flächen durch Linien und Farbgebung voneinander abgetrennt. Aus der kontrastiven Zusammenstellung dunkler und heller, trüber und reiner Tönungen resultiert zugleich ein belebtes Vor- und Zurückstreben von Farbflächen im Raum. Mit Meridionale wird, allgemeiner als im Pariser Mappenwerk, ein bestimmter, nämlich südlicher Klimaraum gestaltet. Ohne eine gegenständliche Ausstattung sollte im Bild das Licht als klimatisches, südländisches Licht in Erscheinung treten. Wie noch deutlich wird, bediente sich Nebel in späteren, großformatigeren Werken anderer Techniken, um eine besondere Strahlkraft und eine atmosphärische Qualität von Bildern zu erreichen. Abbildung 11: Otto Nebel, Vom Mittelmeer (Meridionale), 1935, Gouache auf Papier, 37 × 28,9 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern

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3.5.2 Ökologische Wirkungsmodelle zwischen Physiologie und Esoterik Das farbige Licht, welches in den Betrachtenden weiterschwingen sollte, hatte für Nebel verschiedene Dimensionen, in welchen sich physiologische Prinzipien und esoterische Ansätze verbanden. Allgemein bestimmte er das Licht als physiologische Lebenskraft und Lebensprinzip. 1931 formulierte Nebel: »Daß das Leben Licht ist, das ist keine ›dichterische Phantasie‹ oder dergleichen, sondern ein physiologisches Faktum«.299 Das Bild, so heißt es im selben Text, sei Aussender solchen Lichtes, so vermöge das Kunstwerk »bestimmte Lichtsignale und Lebenswinke, Lebenszeichen zu geben, ihm [dem Betrachter] Unaussprechliches schweigend zu übermitteln, seiner feinsten Unterscheidungsgabe sogar recht intime und geheimnisvolle Mitteilungen zu machen«.300 Mitteilungen sind hier nicht als ›Bedeutungen‹ zu verstehen, sondern, so stellt René Radrizzani dar, als ein »Erfahren der in uns wirkenden, inneren Kräfte«.301 Eine physiologische Wirkung ging bei Nebel in den dreißiger Jahre noch allen weiteren seelisch-geistigen Wirkungen voraus. So sprach er von einer »Einverleibung« des Lichtes und in Klammern heißt es: »[E]s ist der Leib, der das Licht wertet, – zunächst jedenfalls ist er es«.302 Das Eindringen des Lichtes durch die »gesunden Sinne« stelle demnach die Voraussetzung für die Entfaltung der Bildwirksamkeit dar.303 Nebel verband das Umweltlicht allerdings in späteren Jahren immer stärker mit übersinnlichen Dimensionen. Hier traten Farben als geistige Kräfte in den Vordergrund, wenn er etwa 1953 vom »schönen, klaren, weißlichen Abendhimmel Italiens über Meer und Land« schrieb, »aus denen das seidige Leuchten herniederschweigt und alle Dinge vergeistigt«: »[S]ie mehren das Gedankenreich des Sinnenden und schenken ihm beglückendes Übersinnliches«.304 Die psychophysische Wirkung des Klimas wurde bereits als wesentlicher Pfeiler in Nebels Denken identifiziert. Darüber hinaus ging er – wie Kandinsky und Kupka – von einer Existenz übersinnlich wirksamer, innerer Lichter aus, die bei ihm eng mit klimatischen Atmosphären verbunden waren. Nebel formulierte drei Wertstufen von Farbe, in der die bereits erwähnte »lufträumige Farbe«, die höchste Stufe darstellt: »Ihr [der lufträumigen Farbe] folgt an zweiter Stelle die Wertstufe des Innewerdens des seelischen Gehaltes einer bestimmten Farbe.

299 | Nebel 1931, S. 38. 300 | Ebd., S. 40. 301 | René Radrizzani, »Geleitwort«, in Radrizzani 1988, S. 13. 302 | Nebel, »Forte dei Marmi« (1937), ebd., S. 216. 303 | Ebd. 304 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-1953), ebd., S. 192f.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären Der Farbe in dieser Höhenlage fehlt noch das Lufträumige, die Schwebung, die völlige Schwerelosigkeit. Sie hat Wirkspannung und feinen Eigenklang, doch sie erzeugt damit noch keinen Atemraum aus sich, keine Lufthülle, keinen vorbildenden Raum. Sie bleibt flächen-haftsam. Der Farbe in ihrer Grundlage nun, in der untersten Staffel, fehlt sowohl das Lufträumige, als auch die feinere Abtönung. Sie bleibt sinnlich, […] körperhaft, stoffgebunden, irdisch. Auch sie vermag aus sich urhaft zu klingen, denn sie hat Wirkspannung, Bewegkraft und Eigenlicht, jedoch sie bleibt schwer; sie ist als Schwere noch nicht gehoben und hat noch nicht die Weihe einer seelischen Umstimmung empfangen.« 305

Eine lufträumige Schwerelosigkeit, der seelische Gehalt und die Ungebundenheit an einen Gegenstand machen die Farbe in der höchsten Form als Lichtqualität aus. Obwohl es sich bei dieser Potenz der Farbe um eine seelisch-geistig wirksame Erscheinung handelt, war ihr Medium der Luftraum, in welchem schließlich die Loslösung der Farbe vom Gegenstand und vom Feststofflichen in der Malerei besonders greifbar wird. Mit dem Lufträumigen meinte Nebel einen durch Seele und Geist erfühl- und bewohnbaren Raum, in Anlehnung an Kandinskys Konzept der geistigen Kunst.306 Er betonte dabei die Entsprechung der sichtbaren Welt mit der »unsichtbaren, aus der sie stammt und durch die sie bewirkt bleibt und besteht«.307 Wie bereits Kandinsky wollte Nebel etwas Übersinnliches über das Medium des Sichtbaren bewirken: »Die Künste wenden sich letztlich nicht an die Sinne, sondern sie gebrauchen diese, um sich an die Menschenseele zu wenden«,308 so Nebel Anfang der fünfziger Jahre. Gerade die Entsprechung der höheren geistigen Welt und einer atmosphärischen Lufträumigkeit ist hier von Bedeutung. Das Gasförmige sollte eine Brücke von der sichtbaren Welt zur unsichtbaren darstellen: »Die Zunahme des geistigen Wirkgutes in den Entsprechungsfarben macht sie [die Farbe] leichter und lichter«.309 Die Farbe sollte eine durchdringende Wirkung entfalten, wie die Lichtstrahlung und die Luftfeuchtigkeit in der physikalischen Atmosphäre. In ganz ähnlicher Weise verglich Kandinsky die geistige Wärme oder Liebe mit der lebensnotwendigen Umweltwärme. Diesen Ansatz vertrat auch Johannes Itten (Kap. 3.7). Wie Klee, Kupka und Kandinsky formulierte Nebel die Utopie einer geistig wirksamen Kunst, allerdings ohne die Möglichkeiten der Malerei fundamental zu kriti-

305 | Nebel, »Vom Wesen und Geiste neuer Kunstmalerei« (1936), ebd., S. 276. Die Dreistufigkeit der Farben beschrieb Nebel zudem im Sinne einer Unterscheidung des »Festen«, »Flüssigen« und »Gasförmigen« (Nebel, »Vom Sinnwirken im Schönen« (1940-45), ebd., S. 156). 306 | Nebel, »Lebenserfahrungen über Erziehung im höheren Sinne« (1936), ebd., S. 208; vgl. Kap. 3.4. 307 | Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), ebd., S. 36. 308 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-1953), ebd., S. 161. 309 | Nebel, »Vom Sinnwirken im Schönen« (1940-45), ebd., S. 156.

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sieren. Eine Lufträumigkeit der Farbe und die damit verbundene Wirkmacht waren ihm zufolge in der Malerei durchaus realisierbar. Nebel sprach um 1930 von einer »aufgespeicherte[n] Lebenskraft«, die die geistigen Künste enthalten.310 Die Aufnahme der Bildkräfte fasste er als »Einverleibung«:311 Geistige und physiologische Prinzipien wurden durch den Künstler stets eng verknüpft. Zwischen 1940 und 1945 schrieb er in seiner Textsammlung Vom Sinnwirken im Schönen: »So wahr der diesseitige Mensch einen Blutkreislauf hat und atmet, so wahr ist es, daß im All ein Lichtkreislauf geschieht, in den der Mensch einbezogen bleibt, weil er beseelt und das geistige Zeugegut seines Lebens unzerstörbar ist«.312 Blut- und Lichtkreislauf werden so in Analogie gesetzt. Der Mensch sei einerseits in der physikalischen Welt verankert, er habe einen Blutkreislauf und atme die ihn umgebende Luft. Zugleich habe er Teil an einem kosmischen Lichtkreislauf, mit dem er durch seine Seele und seinen Geist verbunden ist. Das kosmische, übersinnliche Licht stellt jene höchste Potenz dar, die auf Seele und Geist wirkt.313 So ist die lufträumige Lichtfarbe bei Nebel sowohl als Äquivalent zu einem klimatischen als auch zu einem übersinnlichen Licht zu begreifen. Deutlich wurde zwar, dass Nebel in den vierziger und fünfziger Jahren das Geistige stärker betonte als das Leibliche. Doch auch später interessierte ihn der gesunde Körper. Nun drehte er das Verhältnis von Körper und Geist jedoch genau um: So sei es der »gesunde geistige Leib«, welcher »den gesunden stofflichen Körper schafft«.314 Der innere Mensch als »Lichtempfänger«, der »den geistigen, also unsterblichen Leib« bildet, fasste er fortan als »Erhalter des stofflichen Körpers«.315 Die Grundlage für die heilsame, zunächst geistige und dann körperliche Wirkung der Kunst bildete neben der Farbsystematik Grunows der eigens angefertigte Farbenatlas Italiens, deren warme, leuchtende Farben in seinen Werken und Werkanalysen im Vordergrund standen.

3.5.3 Nebels klimatische Bilder Ab den späten dreißiger sowie in den vierziger Jahren wendete sich Nebel saisonalen und Jahreszeitenthemen zu, ähnlich wie Itten in den fünfziger und sechziger Jahren.316 Es entstanden Werke wie Herbstfeier (1936), Winterliches Sinngefüge (1940) und Herbst-Hymnus oder Loblied auf den Herbst (1942), die sich den 310 | Nebel, »Schauen und Lauschen« (1929-33), in Radrizzani 1988, S. 32. 311 | S.o.; Nebel, »Forte dei Marmi« (1937), ebd., S. 216. 312 | Ebd., S. 157. 313 | Damit zusammenhängende Lichtkonzepte werden im folgenden Unterkapitel mit Bezug zur Harmonisierungslehre Grunows sowie im vierten Kapitel weiter vertieft (Kap. 4.3). 314 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-1953), in Radrizzani 1988, S. 162. 315 | Ebd. 316 | Ob es zwischen beiden einen Austausch gab, ist nicht bekannt. Zu Itten siehe Kap. 3.7.

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Charakteristika der Jahreszeiten durch Farbe, abstrakte Formen und Rhythmik widmeten.317 Werke wie März-Ode (1941) und Juni-Bild (1946) stellen Auseinandersetzungen mit Frühlings- und Sommermonaten dar. Neben Jahreszeiten- und Monatsbildern finden sich außerdem abstraktere Bildthemen wie Begebenheiten im Lichtgelb (1937) und Con fuoco (Mit Feuer) (1938), in denen Licht und Wärme zum Bildinhalt werden. In dieser Werkauswahl wird besonders deutlich, wie Nebels Auseinandersetzung mit Wärme und Licht als Lebenskraft sich in seinem Œuvre niederschlug. März-Ode ist mit den Maßen 120,5 × 55,5 cm eines der großformatigen Ölgemälde Nebels (Abb. 12). Auf gelbem Grund ist eine Punktstruktur angelegt, die sich über die gesamte Fläche erstreckt und je nach Grundfarbe in unterschiedlichen Farben und Farbkombinationen gestaltet ist. Auf der hochformatigen, schmalen Fläche befindet sich im Zentrum, wenngleich nicht genau zentriert, eine länglich-ovale Form in einem bräunlichen Ton, die in zwei Schichten von einem leuchtenden, nicht scharf umgrenzten Orange und einem trüberen, bräunlichen Ton umgeben ist. In der ovalen Form befinden sich verschiedene andere Elemente, die mehrere, mitunter schiefe Ebenen erzeugen: Ganz unten liegt ein aus zwei Rechtecken geformtes Kreuz, darüber schweben zwei Dreiecke sowie ein Trapez. Umwunden und durchkreuzt werden die Formen von einer schwarzen, organisch geschwungenen Linie. Das große Oval wird zudem durch weitere, angedeutete Bogenformen geschnitten. Unter, über und neben dem Oval befinden sich eine Reihe organischer und, kontrastierend, einige geometrische Figuren.318 Entsprechend Nebels Verständnis der Farbe als Licht- und Lufterscheinung in der Atmosphäre wirkt die Farbe in diesem Gemälde mitunter von der Fläche gelöst. Der Eindruck der Immaterialität realisiert sich in der optischen Transparenz der Farbformen: Dort, wo Elemente einander überschneiden, mischen sich die Farbwerte. Die Form dahinter bleibt jeweils sichtbar, allerdings durch die andere Farbe getrübt. Das Bild erhält so eine dreidimensionale, (luft-)räumliche und transparente Anmutung. Wie in Nebels Beschreibung des Bildes Warmes Wetter entsteht eine Wärmewirkung durch Gelbrot und Gelb. Besonders auffällig ist das strahlende Orange. Kontraste bilden das trübe Braun, das Nebel am Beispiel des Mappenbildes als »nachglühend[…]« bezeichnet hatte.319 Als trübe Farbe betont das Braun das Leuchten des Gelbs umso mehr. Die Lichtwirkung wird durch die Punktierung weiter verstärkt. In anderen Bildern arbeitete Nebel mit Einritzungen, um leuchtende Farben zum Erscheinen zu bringen, so etwa in Begebenheiten im Lichtgelb (1937) (Abb. 13). Die Mehrschichtigkeit und die Tatsache, dass Farbformen nie ohne Binnendifferenzierungen auftreten, tragen auch hier zu der atmosphärischen, transparenten und leuchtenden Wirkung bei. Hell-Dunkel- und Warm317 | Die Werke befinden sich alle im Besitz der Otto Nebel-Stiftung. 318 | Die Bildanalyse wird in folgenden Kapiteln ergänzt und vertieft (Kap. 5.1, 6.5). 319 | Nebel, »Drei Mappenwerke« (1932), in Radrizzani 1988, S. 72.

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Kalt-Kontraste werden bei Nebel häufig kombiniert, aus dunklen Gründen heben sich warme, helle Lichtfarben hervor, die eine Belebung bewirken sollen. Abbildung 12: Otto Nebel, März-Ode, 1941, Öl auf Leinwand, 120,5 × 55,5 cm, Otto NebelStiftung, Bern

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Abbildung 13: Otto Nebel, Begebenheiten im Lichtgelb, 1937, Öl (mit Sand und Ei-Zusätzen) auf Leinen mit Gipsgrund, 63,5 × 58,5 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern

Bei aller Ungegenständlichkeit wird in März-Ode ein ikonographisches Element ersichtlich, das den Gesundheitsaspekt symbolisch zum Thema macht: Ein Apothekerstab verweist auf Pharmazie und Heilkunst. Er befindet sich sehr klein auf der linken Seite. Der Äskulapstab rekurriert auf Äskulap oder Asklepios, gemäß der griechischen Mythologie Sohn Apollons, der »Sonnenstrahlen als Vermittler göttlicher Wohltat […] zur Heilung von Krankheiten einsetzt«.320 Auf diese apollinische und pharmazeutische Tradition nahm Nebel so direkt Bezug. Kunst bedeutete für ihn gleichermaßen die Aussendung heilsamer, belebender Strahlen.321 Ein ähnlicher Bezug lässt sich bei Kandinsky feststellen: Peg Weiss identifiziert die Figur im Holzschnitt Bogenschütze (1909) auf dem Frontispiz einer Sonderausgabe des Blauer Reiter-Almanach als den Lichtgott Apoll, der »den Menschen

320 | Leonhard 2013, S. 284; vgl. Brian P. Copenhaver (Hg.), Hermetica. The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a new English translation, with notes and introduction, Cambridge 2000, S. 58-61. 321 | Diese heilsame Wirkung des reinen Lichtes wird später noch vertieft (Kap. 4.3).

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die Kunst des Heilens lehrte« und dessen Bogen »häufig mit Lichtstrahlen verglichen« wurde.322 Klimatisch-atmosphärische Farberscheinungen und -wirkungen galten Nebel nicht als rein sinnlich-physiologisch wirksame Kräfte. Die sinnliche Wahrnehmung und die Physiologie dienten ihm als Modelle, um geistig und seelisch wirkende, heilsame Bildmittel fassbar zu machen und zu begründen. Nebels Farblichtkonzept orientierte sich maßgeblich am Harmonisierungsunterricht der Bauhauslehrerin Grunow, die nachfolgend, wenngleich knapper, auch in ihren Bezügen zu Klee und Itten vorgestellt wird. Die weitere Erläuterung der Wirkungstheorie Nebels vor dem Hintergrund der Lehre Grunows wird am Anfang und im Vordergrund stehen.

3.6 G eistige F arblichter als L ebensstoffe in der H armonisierungslehre G ertrud G runows Noch vor seiner ersten großen Italienreise kam Otto Nebel mit einer Lehre in Kontakt, die für seine Konzeption von Farbe, Licht und Bildrezeption prägend wurde. 1924 lernte er in Weimar seine spätere Ehefrau Hildegard Heitmeyer kennen, die seit 1920 Assistentin bei Gertrud Grunow (1870-1944) war.323 Nebel nahm selbst am Unterricht bei Heitmeyer teil und erwähnte die Lehre in seinen Schriften wiederholt als wichtige Grundlage für sein künstlerisches Schaffen. Grunow hatte eine synästhetische Musik- und Farbpädagogik entwickelt, die sie zunächst Gleichgewichts- und Harmonielehre nannte. Die Umbenennung in ›Harmonisierungslehre‹ regte Oskar Schlemmer erst im Jahr 1922 an.324 Zwischen Ende 1919 und 1924 wirkte Grunow am Bauhaus in Weimar. Zuvor hatte sie seit 1899 als Gesangslehrerin im Rheinland gearbeitet. 1924 bis 1933 war sie am Philosophischen Institut der Universität Hamburg tätig und kooperierte insbesondere mit dem Psychologen Heinz Werner im Bereich der psychologischen Forschung zur Synästhesie.325 322 | Weiss 1982, S. 73. Heiliger Georg und Apoll werden bei Kandinsky verknüpft. 323 | Teile der Beschreibung der Lehre Gertrud Grunows lege ich in anderem Wortlaut in Burchert 2018a und b (in Vorbereitung) sowie ausführlicher in Burchert a (in Vorbereitung) auf Englisch dar. 2019 wird im Rahmen des Bauhausjubiläums in Kooperation mit der Kunstpädagogin Gabriele Fecher eine Webseite veröffentlicht, die über Grunows Leben, Wirken sowie ihren kulturhistorischen Kontext umfangreich informiert sowie dokumentarische und künstlerische Auseinandersetzungen mit ihr präsentiert: www.gertrud-grunow. de. 324 | Wahl 2001, S. 201. 325 | Zur Synästhesieforschung in Hamburg siehe: Gruß 2017, S. 203-214 und zu Grunow am Bauhaus ebd., S. 249-251. Es soll eine ganze Reihe an Filmen existiert haben, die Grunow beim Unterrichten in Hamburg zeigen, welche allerdings allesamt im Krieg zerstört

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Grunow ist im Kontext dieser Studie von so großer Relevanz, weil sie Farben als Kräfte fasste, die gleich Naturkräften direkt auf Körper und Seele des Menschen einwirken. Dabei entwickelte sie zwar kein klimatisches Farbkonzept,326 bediente sich aber biologischer Metaphern, die gleichermaßen ein ökologisches Wirkungsmodell konstituieren, und die sich sehr ähnlich nicht nur bei Nebel, sondern auch bei Johannes Itten und Paul Klee finden. Von der Bedeutung ihres Harmonisierungsunterrichts am Bauhaus zeugen vornehmlich die Erinnerungen Lothar Schreyers, bis 1923 Leiter der Bühnenklasse. In seinen Erinnerungen an Sturm und Bauhaus schrieb er, dass Grunows »Harmonisierungslehre der immer quellende Jungbrunnen der ganzen Bauhausarbeit« gewesen sei.327 Im Rahmen ihrer Übungen habe sie versucht, die Menschen am Bauhaus innerlich wie äußerlich »ins Gleichgewicht« zu bringen.328 Dennoch ist sie wenig bekannt und erforscht. Die Aufarbeitung des Grunow’schen Lehrsystems wird durch die unzureichende Quellenlage erschwert. Zwar existiert eine mittlerweile vergriffene Publikation mit dem Titel Der Gleichgewichtskreis: ein Bauhausdokument, das unter Angabe von Grunow als Autorin 2001 von Achim Preiß herausgegeben wurde. Der Text stammt allerdings nur in Teilen von ihr. Grunow hatte seit Anfang der dreißiger Jahre bis zu ihrem Tod 1944 an einer Niederschrift ihrer Lehre gearbeitet und das unvollendete Manuskript dem ehemaligen Bauhausschüler Gerhard Schunke hinterlassen. Dieser lernte seit 1921 in der Architekturklasse und der graphischen Druckerei. In den dreißiger Jahren ging er in die Schweiz und machte sich als Naturheiler selbstständig. Er bot Farbmedizin und sonnenbestrahltes Wasser zur Krebstherapie an.329 Schunke hatte versprochen, Grunows unvollendetes Manuskript unter dem Titel Schöpferisches Sehen zu veröffentlichen. Dies tat er allerdings nie, sondern versah ihre Texte mit eigenen Ideen und gab sie unter seinem Namen heraus, um seine therapeutischen Methoden und Produkte zu verkaufen.330

wurden. Ferner ist nicht klar, in welcher Form von Anstellungsverhältnis sich Grunow befand, da sie im Hamburger Universitätsarchiv nicht auffindbar ist. Ähnlich wie am Bauhaus war sie vermutlich freiberuflich tätig. Zur Vita siehe »Chronologie von Gertrud Grunow«, in Radrizzani 2004, S. 169-172. 326 | Dazu vgl. den Exkurs unter Kap. 3.8, wo allgemeinere Lebensenergiekonzepte dargestellt werden. 327 | Schreyer 1956, S. 186. 328 | Ebd., S. 187. 329 | René Radrizzani, »Geleitwort«, in Radrizzani 2004, S. 19f. Dabei führte er verschiedene, erfundene Titel und Namen wie Prof. Dr. Gerhard Schunke von Mannstedt, von Mansfeld und von Manstein. Sein Künstlername, unter dem er Landschaftsgemälde in Öl schuf, lautete Gio Gino. 330 | Davon zeugen Briefe von Hildegard Nebel-Heitmeyer, die sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern befinden sowie Briefe aus dem Nachlass von Erich Parnitzke im Uni-

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Das von Preiß veröffentlichte Manuskript enthält nur Versatzstücke aus Grunows eigenen Texten und stellte Schunkes Vorbereitung einer größeren Publikation sowie eine Grundlage für eigene Artikel und öffentliche Vorträge dar.331 Im zugrundeliegenden Original befinden sich zahlreiche handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen durch Schunke. So steht auf Manuskriptseite 3 noch mit Maschinenschrift: »Gertrud Grunow entdeckte im Jahre 1910 den Gleichgewichtskreis«.332 Handschriftlich ist der erste Teil durchgestrichen und ersetzt durch »Wir entdeckten im Jahre 1910 den Gleichgewichtskreis«. Preiß übernahm lediglich die handschriftliche Fassung, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Text nicht von Grunow stammen konnte. Es lässt sich mangels des Ursprungsmanuskripts Grunows nicht rekonstruieren, welche Details von Schunke hinzugefügt wurden.333 Vergleiche lassen sich nur zu den rund sechzehn kurzen Artikeln Grunows zwischen 1909 und 1941 ziehen, von denen einige in der Zeitschrift Kunst und Jugend erschienen, die allerdings weitaus weniger ins Detail gehen als Der Gleichgewichtskreis. Die von Preiß herausgegebene Publikation wird hier nur in kommentierten Ausnahmefällen als Quelle verwendet.334 In den frühen zehner Jahren hatte Grunow mit dem Entwurf eines Farbkreises aus zwölf Farben begonnen (Abb. 14). Diesen Farbkreis fasste sie als »Urphänomen« und »Symbol des menschlichen Gleichgewichts«.335 Er beinhaltet Weiß, Gelb, Braun, Blauviolett, Grau, Rot, Silber, Grün, Blaugrün, Rotviolett, Blau und Terrakotta.336 Dem voraus ging ihr Zwölftonkreis, ausgehend von dem sie den zwölf musikalischen Tönen je eine Farbe zuordnete. Jeder Farbe und jedem Ton sprach sie die Erwirkung einer unmittelbaren Reaktion der Wahrnehmenden zu – eine bestimmte Körperhaltung und eine damit einhergehende Atmung soversitätsarchiv der Weimarer Bauhausuniversität. Über die genaueren Zusammenhänge informiert die Webseite www.gertrud-grunow.de. 331 | Dies hat der Kunsthistoriker Cornelius Steckner in bislang unveröffentlichten Analysen herausgearbeitet, die er für diese Arbeit zur Verfügung stellte. Das Manuskript konnte die Verfasserin bei Familie Wagner in Weimar sichten, die mit der Frau Schunkes in verwandtschaftlicher Beziehung steht und das Manuskript an Preiß weitergegeben hatte. Dieses entbehrt eines Deckblattes, der Publikationstitel Der Gleichgewichtskreis ist diesem nicht zu entnehmen. 332 | Unveröffentlichtes Manuskript, s.o. [Herv. i.O. gesperrt]. 333 | Das Manuskript Grunows soll vermodert sein: »Chronologie von Gertrud Grunow«, in Radrizzani 2004, S. 172. 334 | Dabei ist zu bedenken, dass Grunow sehr eng mit Schunke zusammengearbeitet hatte, wie Briefe zeigen zum Unverständnis des Ehepaares Nebel, das zu Schunke nach Grunows Tode kein gutes Verhältnis hatte. Die Briefe sind im Otto Nebel-Bestand des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern einsehbar. 335 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), in Radrizzani 2004, S. 71. 336 | Grunow, »Farben und klingender Ton und Statiken« (1937), ebd., S. 98.

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wie einen bestimmten psychischen Zustand.337 Diese Farbwirkung war gemäß Grunow bedingt durch die »bei jeder Farbe spezifisch verlaufenden psycho-physischen Vorgänge«, welche bei allen Menschen gleich seien.338 Grunow kritisierte, dass es bisher nicht gelungen sei, die Wirkung von Ton und Farbe auf den menschlichen Organismus zu erklären, »weder den Physikern durch Messung der Wellenlängen, noch den Psychologen«.339 Insofern formulierte sie ihre Überlegungen in Opposition zur psychophysischen Schule Wilhelm Wundts und verfolgte eine gänzlich andere Argumentationslinie als etwa Max Burchartz.340 Abbildung 14: Alfred Arndt, Farbkreis aus dem Unterricht von Gertrud Grunow, um 1921, Aquarell, Tusche, Bleistift und Silberpapier collagiert auf bräunlichem Bütten, 46,7 × 46 cm, Bauhaus-Archiv, Berlin

337 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), ebd., S. 76 und Grunow, »Die neue Auffassung des Wesens der Farbe in ihrer psychisch-physischen Wirkung auf den Gesamtorganismus« (etwa 1937), ebd., S. 94f. 338 | Grunow, »Ein neuer Farbkreis« (1937), ebd., S. 99. 339 | Grunow, »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton« (1923), ebd., S. 77. 340 | Vgl. Kap. 3.2.3. Ähnliches wurde bei Nebel bereits deutlich, der im Unterschied zu Wassily Kandinsky, Itten und Burchartz keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Begründung seiner Konzepte anführte (Kap. 3.5).

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Grunow orientierte sich allerdings ebenfalls an Johann Wolfgang von Goethes Konzept der sinnlich-sittlichen Wirkung von Farben.341 Um die Wirkung von Ton und Farbe auf den Menschen zu fassen, folgte sie nach eigener Aussage nicht im Voraus gestellten Hypothesen, die im Labor nachgeprüft werden konnten, sondern den eigenen Empfindungen. Auf diese Weise sei sie auf nichts Geringeres gestoßen als »den Auf bau der gesamten realen Welt, wie er sich vom menschlichen Organismus und vom menschlichen Geiste aus biologisch-historisch entwickelt« habe.342 Dieses Wissen vom Auf bau der Welt und des Menschen nutzte sie zu heilpädagogischen Zwecken. Oberstes Ziel war es, Seele und Körper ins Gleichgewicht zu bringen, also »ein psychisch-physisches Gleichgewicht« herzustellen.343 Ähnlich wie in Nebels Vorstellung einer Einverleibung und eines Weiterschwingens des farbigen Lichtes im Organismus in der Bildrezeption, findet sich bei Grunow ein ökologisches Wirkungsmodell, das die Einverleibung von farbigen Lichtern als Aufnahme von Lebenskräften fasst. Der Ansatz Grunows erinnert an Prinzipien der Chromotherapie, der zufolge Äquivalente zu Farben im Menschen enthalten sind, deren Zufuhr bei einem Mangel an einer bestimmten Farbe therapeutisch zugeführt werden. Grunow arbeitete nicht nur beziehungsweise nicht einmal vorrangig mit Farben in Form optischer Reize.344 Vielmehr sollten sich die Schüler/-innen im Unterricht vorstellen, in einer »von farbigem Licht erfüllten Atmosphäre zu sein«.345 Überliefert sind Anweisungen wie: »Nehmen Sie die Farbe auf, lassen Sie die Farbe zu sich aufsteigen, erfüllen Sie sich mit der Farbe«.346 Dabei verwendete sie ökologische Metaphern wie: »Sie stehen auf einem farbigen (z.B. blauvioletten) Ort. Lassen Sie die Farbe (wie den Saft in einem Baum) aufsteigen«.347 Farben wurden so als Äquivalente zu Nährstoffen beschrieben, zum Saft, den die Pflanzen aus der Erde ziehen oder zur Sonnenenergie, die sie aus der Atmosphäre aufnehmen: »Wie die organische Bewegung im Pflanzenleben dem Lichte folgt, das zu ihm dringt, und wie überhaupt alle geschaffene Kreatur diesem Gesetze, dem Lichte zu folgen, untertan ist, 341 | Grunow, »Von der Wirkung der Farbe auf das sehende Auge« (1935), in Radrizzani 2004, S. 83. 342 | Grunow, »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton« (1923), ebd., S. 77. 343 | Grunow, »Die neue Auffassung des Wesens der Farbe in ihrer psychisch-physischen Wirkung auf den Gesamtorganismus« (etwa 1937), ebd., S. 94. 344 | Siehe Grunow, »Farbformen« (1936), ebd., S. 90-92. 345 | Grunow, »Psyche« (1936), ebd., S. 92. 346 | Réne Radrizzani, »Die Grunow-Lehre im Aufriß«, ebd., S. 26. Radrizzani entnahm seine Informationen den »Lern- und Lehrerfahrungen« der Grunow-Schülerin Hildegard NebelHeitmeyer, welche Grunow selbst vor ihrem Tode durchgesehen hatte, vgl. »Chronologie von Gertrud Grunow«, ebd., S. 172. 347 | Radrizzani, »Die Grunow-Lehre im Aufriß«, ebd., S. 28.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären so entwickeln sich Richtung und Form der menschlichen Bewegung je nach dem Einfluß der Lichterscheinung, die auf Körper und Vorstellungswelt einwirkt.« 348

Das farbige Licht begriff Grunow als »lebendige Kraft«.349 Eine biologische und damit einhergehend physiologische Wirkung von Farbe verband sie, wie auch Nebel, mit Wirkungen im Bereich des Seelischen. Der geschwächte Mensch, dem es an etwas mangelt, konnte gemäß der Lehre erneut ins Gleichgewicht gebracht werden, dem gesunden Menschen wurde die Möglichkeit weiterer Stärkung und Kräftigung gegeben, nicht nur körperlich, sondern auch durch eine seelische Weiterentwicklung.350 Nebel übernahm die Ansicht Grunows, dass der Mensch selbst ein »Lichtwesen« sei, dessen »seelische Lichtkräfte« aus den zwölf Farben bestünden.351 In seiner Auseinandersetzung mit ihrer Lehre sprach er von der Existenz »lebenspendende[r] Farbformen« in der Innenwelt des Menschen, die »als tätige Innerungen, die Lebensäußerungen in Einklang bringen mit dem Allsinn der SeinsOrdnung«.352 Er handelte ferner von einer »lebenweckende[n] Eigenkraft« und einer »lebenerhaltende[n] Eigenwirkung« sowie einer »seelisch-geistige[n] Verwandlungs- und Erneuerungsmacht« der Farblichter.353 Sein Lichtkonzept verband Nebel bereits in einem Aufsatz um 1934 mit der Utopie eines »Neuen Menschen«, welchen er als »ein einhelliges, erlöstes weil erleuchtetes Selbst« fasste, »dessen innere Ordnung eine Himmelsgabe ist: – das Urbild des Menschen, der wieder im Lichtkreise der Gotteskräfte atmet, im Allkreise des Werdens, in einer hellen, reinen, vollkommenen Welt!«.354 Der Einklang mit dieser göttlichen Lichtordnung sichere die Harmonie im Menschen. Farbformen im Bild werden so belebende und harmonisierende Funktionen zugesprochen, durch welche die seelischen Kräfte des Menschen entsprechend dieser Ordnung erneuert, angereichert und angeregt werden. Die Sinne dienten Nebel dabei als Vermittler zwischen Außen- und seelisch-geistiger Innenwelt. Das über das Auge wahrgenommene farbige Licht sollte ausgehend von den Bildern in den »höheren Gleichgewichtssinn« des Menschen eintreten:355 »Der Grunow’sche Farb- und Kräftekreis ist ein 348 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), ebd., S. 71. 349 | Grunow, »Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton« (1923), ebd., S. 77. 350 | Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Gesundheitskonzept Grunows am Bauhaus vgl. Burchert a (in Vorbereitung). 351 | Vgl. Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), ebd., S. 71 und Nebel 1979, S. 68. 352 | Nebel, »Vom Sinnwirken im Schönen« (1940-45), in Radrizzani 1988, S. 131. 353 | Ebd. 354 | Nebel, »Schauen und Lauschen« (1929-33), ebd., S. 32. 355 | Nebel 1931, S. 24.

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somatischer Gleichgewichts-, ein aus dem Gesamtorganismus hervorgehender Kreis. Er ist die Entsprechung der Kräfte, wie sie als Farben, in Spannung und Schweren im harmonischen Gleichgewichts-Ausgleich in uns ruhen«.356 Zwar interessierte sich Nebel für den Ansatz, Farben und Töne rein innerlich vorzustellen, er begründete mit der Grunow’schen Lehre allerdings eine Kunst, die weiterhin auf optischen Reizen basierte, wenngleich sein Konzept der lufträumigen Farbe eine Dematerialisierung von Farbe zu Atmosphäre postulierte. Die farbigen Kräfte sollten aus dem Kunstwerk heraus in die menschliche Seele per »Einsaugen und Aufnehmen« eindringen.357 So schrieb Nebel um 1940, dass der Mensch sich »dem Einströmen dieser Kräfte« öffnen müsse, wodurch die Kräfte »rings in der Richtung auf das empfangsbereite seelisch-geistige Selbst an geheimer Lichtwirkung und Wärme« zunehmen würden.358 Licht und Wärme sind, wie zuvor gesehen, bei Nebel eng mit klimatischen Vorstellungen verbunden (Kap. 3.5): Dies passt sich in Grunows Anweisungen ein, Farben ähnlich einer Pflanze wie Nährstoffe aus Boden und Atmosphäre in sich aufzunehmen. Farbräume erscheinen so als Lebensräume im Sinne lebenspendender Orte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es sich bei Grunows Farbkonzept nicht um ein dezidiert klimatisches handelte. Für ein solches spräche eine Auflistung in Der Gleichgewichtskreis, von der allerdings nicht sicher festgestellt werden kann, ob sie von Grunow oder Schunke stammt oder von beiden gemeinsam entwickelt wurde. Denkbar wäre auch, dass Schunke Teile der Systematik von Nebel übernahm. In einem eigenen Abschnitt werden den Farben »Nuance[n] von Trockenheit und Feuchtigkeit« zugeschrieben, ebenso ist die Rede von Reinheit und Trübe je nach Leichtigkeit oder Schwere des Farbtons oder Klanges.359 Die Beschreibungen einzelner Farbwirkungen decken sich vielfach mit denen Nebels, sind aber ausführlicher: Gelb etwa sei »erhitzend in trockener Atmosphäre«,360 Braun wird als »brennend, zündend, angezündet« beschrieben, Rotviolett sei wie »feuchte, schwüle Wärme« und »Treibhausluft«.361 Blau wird identifiziert mit »Kälte, Schattenhaftigkeit, Unbeweglichkeit, Starre, Erstarrung, Trübheit und Schwere«.362 Es stehe »allem Lebendigen gegenüber in magnetisch saugender

356 | Nebel zit.n. Denaro 2012, S. 246 aus dem Manuskript des Vortrages »Vom Wesen und Geiste neuer Kunstmalerei«, Bern 1936. Dieses Zitat ist in der Fassung in Radrizzani 1988, S. 258-279 allerdings nicht abgedruckt. Dort spricht Nebel von einem »eingekörperte[n] Gleichgewichts-, ein aus dem Vollwesen hervorgehender Kreis« (vgl. ebd., S. 271). 357 | Nebel, »Vom Sinnwirken im Schönen« (1940-45), in Radrizzani 1988, S. 125. 358 | Ebd. 359 | Preiß 2001, S. 63f. 360 | Ebd., S. 77; vgl. Kap. 3.5. 361 | Ebd. 362 | Ebd., S. 76.

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Weise« und entfalte »unersättliches, jedoch vergebliches Verlangen nach Wärme«.363 Solche Beschreibungen weisen auffällige Parallelen zu Klee und Itten auf. Über die konkrete Zusammenarbeit Grunows mit ihren Kolleginnen und Kollegen, eine Übernahme von Elementen der Künstlerlehren durch Grunow sowie umgekehrt die Aufnahme von Elementen der Grunow-Lehre in die künstlerische Ausbildung, Praxis und Theorie ist bislang wenig bekannt. Wurde ihre Lehre im Strukturdiagramm des Bauhauses von 1923 noch als Basis des gesamten Unterrichts abgebildet,364 urteilten sechs von acht Meistern in einer Versammlung im Oktober 1923, gut ein halbes Jahr nach Ausscheiden Ittens, »daß eine bestimmt erkennbare Wirkung dieser Lehre im Rahmen der Bauhaus-Bestrebungen in den 3 Jahren nicht festzustellen sei«.365 Schließlich wurde ihr Vertrag zum Frühjahr 1924 nicht verlängert.366 Laut Schreyer arbeitete Itten in »enger Fühlung« mit Grunow zusammen367 und Klee bezeichnete sie 1921 gar als »Schutzengel Ittens«.368 Dies erstaunt ob der Tatsache, dass Grunow in den veröffentlichten Aufzeichnungen Ittens nur selten auftaucht, wobei zu beachten ist, dass gerade die Publikation der Tagebücher aus der Bauhauszeit erst unzureichend erfolgt ist. In seinem von 1948 stammenden, autobiographischen Text »Jugend- und Studienjahre« schrieb Itten allerdings, dass er Grunow theoretische Überlegungen anvertraute, die er anderen vorenthielt, »denn sie war eine sehr sensible, hellsichtige und ehrliche Person«.369 Jedoch arbeiteten die beiden später nicht weiter zusammen und standen nach der gemeinsamen Zeit am Bauhaus offenbar nur noch in losem Briefkontakt.370 Im November 1919 erwähnte Itten Grunow in einem Brief an Josef Matthias Hauer noch etwas skeptisch: »Sie [Grunow] sagt: ›Klang und Farbe lösen im Menschen Bewegungen aus, und zwar in ganz bestimmten Zentren, für ganz bestimmte Töne und Farben‹. So hat sie ein System von übereinstimmenden Tönen und Farben gefunden durch das Mittel der Bewegungskonsequenzen«.371 Ittens Verbindung zu Hauer war zu jener Zeit weitaus enger als die zu Grunow. Auch Hauer entwickelte ausgehend von der Zwölftonmusik ein eigenes Farb-Intervall363 | Ebd. 364 | Nicht abgedruckt: Abbildung aus Karl Nierendorf (Hg.), Staatliches Bauhaus 19191923, Weimar/München 1923, S. 10. 365 | Wahl 2001, S. 314. 366 | Ebd., S. 333. 367 | Schreyer 1956, S. 186. 368 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 16.1.1921, in F. Klee 1979, S. 971. 369 | Itten, »Jugend- und Studienjahre« (um 1948), in A. Itten/Rotzler 1972, 28. 370 | Im Nachlass des Kunstpädagogen Erich Parnitzke (1893-1974), der zahlreiche Artikel Grunows in Kunst und Jugend veröffentlicht hatte, finden sich Postkarten und Briefe, die einen Kontakt mit Itten in den frühen vierziger Jahren bezeugen. Der Nachlass gehört dem Archiv der Bauhausuniversität Weimar. 371 | Itten in einem Brief an Hauer am 5.11.1919, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 68.

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System. Itten hätte seinen Freund zu diesem Zeitpunkt lieber am Bauhaus gesehen als Grunow, sodass sich auch aus diesem Umstand eine mögliche Distanz zwischen beiden ergab.372 Wer Grunow ans Bauhaus berufen hat, ob es Itten war oder ob die Initiative von Walter Gropius ausging, ist ebenfalls nicht ganz geklärt. Hajo Düchting spricht davon, dass Itten sie »nach anfänglicher Skepsis ans Bauhaus geholt« habe und »von ihren Lehrmethoden und Anschauungen bald so überzeugt [war], daß er die Studenten seines Vorkurses in ihre Obhut gab«.373 Durchaus lassen sich einige Verbindungen zwischen Grunow und Itten identifizieren. Von einer »Harmonisierung des Körpers und des Geistes durch ganz bestimmte Formen«374 sprach Itten bereits im Sommer 1918, noch bevor er Grunow kennengelernt hatte. Ittens und Grunows Lehrpraxis ähneln sich in vielen Teilen, was sich aus dem gemeinsamen Hintergrund der Reformpädagogik und Körperkultur ergab (Kap. 6.2.2, 6.3.2). Grunows Berufung ans Bauhaus war deutlich ein Symptom der frühen Ausrichtung des Bauhauses. In ihrer Lehre bündeln sich Verbindungen von Esoterik und Bioromantik sowie ein Harmonieideal, das Ästhetik und Gesundheit sowie Geist und Körper zusammendachte. In diesem Zusammenhang wäre die Beziehung zwischen Klee und Grunow von Interesse. Allerdings äußerte sich Klee nicht weiter zu ihrer Lehre. In einem Brief an seine Frau schrieb er im November 1921: »Die Übung am Montag war ganz interessant gewesen. Grunow kam abends noch herunter, findet Beweise für ihre Sache in meinen Darlegungen«.375 Austausch über gemeinsame Schüler/innen hinsichtlich ihrer Eignung zur Aufnahme am Bauhaus und in bestimmten Klassen fand auch zwischen Grunow und Klee statt.376 Zudem wohnten Klee und Grunow in der Weimarer Zeit im selben Haus. Möglicherweise hatte sich Grunow an Klees und Nebels klimatischem Farbkonzept orientiert oder Ideen mit ihnen gemeinsam diskutiert und entwickelt. Die Farbräume, die bei Grunow innerlich vorgestellt wurden, erscheinen als Lebensräume, die Körper und Seele stärken und in Einklang bringen. Ihre Präsenz am Bauhaus zeugt von der Relevanz naturheilkundlicher und chromotherapeutischer Ansätze in den Anfangsjahren der Schule. Das Prinzip der Äquivalenz von Bildraum und natürlichem Lebensraum, wie sie von Nebel in seinen Monatsund Jahreszeitenbildern und in Klees Villeggiaturas gestaltet wurden, fand in der Grunow-Lehre eine praktische Anwendung. Jahreszeitlich-lebensräumliche Bildthemen bearbeitete auch Itten in späteren Jahren. Die klimatischen Farbbeschrei372 | Zum Bezug zu Hauer siehe ferner Kap. 6.3.2. An Hauer schrieb Itten weiter: »Die Dame [Grunow] hat ein gutes Urteil, aber ich glaube, daß vieles falsch ist, was sie tut, und ich werde ihr scharf auf die Finger sehen. Ich hoffe nur, daß sie die Schüler so hören lehrt […]. Es ist so schade, daß Sie nicht jetzt hier sind« (ebd.). 373 | Düchting 1996, S. 41. 374 | Itten, Tagebucheintrag vom 22.8.1918, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 60. 375 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 23.11.1921, in F. Klee 1979, S. 981. 376 | Wahl 2001, S. 302f. Hierzu vgl. auch Burchert a (in Vorbereitung).

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bungen der Publikation Der Gleichgewichtskreis decken sich markant mit denen Ittens.

3.7 K limatische W irkkr äf te der N atur : J ohannes I t tens J ahreszeitenbilder Als Ausgangspunkt seiner künstlerischen Tätigkeit bezeichnete Johannes Itten rückwirkend seine Jugend auf dem Land: »Schön – sehr schön waren die Berge in der Morgensonne oder Abendsonne und ganz besonders bei Föhnwetter. Unbeschreiblich herrliche Föhnstimmungen brachten mein Gemüt in Aufruhr, und ich machte meine ersten Malversuche«.377 Sein autobiographischer Text fährt in diesem Impetus fort: Als er 1913 nach Stuttgart ging, habe er »zuerst, noch am gleichen Morgen« ein Zimmer gesucht: »Nicht unten in der Stadt, die im Talkessel liegt, auf der Höhe wollte ich wohnen, wo Himmel und Wolken, wo Wind und Wetter um mich waren«.378 Wenngleich Itten als Künstler gilt, der sich vorrangig für Geistiges und Übersinnliches interessierte, nahm die Natur eine wesentliche Rolle in seiner späten Selbsthistoriographie wie auch seiner künstlerischen Praxis ein. Dies zeigt sich besonders in seinem Spätwerk. 1963 führte Itten einen vierteiligen Jahreszeitenzyklus aus. Als Vorarbeit zu diesem ist in Kunst der Farbe (1961) eine ebenfalls vierteilige Jahreszeitenstudie aus dem Jahr 1958 abgedruckt, die in Aquarell ausgeführt wurde.379 In dieser Schrift fasste Itten seine Farbkonzepte zusammen und besprach die Studie dabei ausführlich. In den Jahreszeitenbildern wird Ittens klimatisches Farbverständnis sehr deutlich. Seit Ende der fünfziger Jahre schuf er zahlreiche Werke, die sich mit Farb- und Lichterscheinungen in der Natur auseinandersetzten:380 Das relativ frühe Konzeptbild Farben einer Landschaft (1946) kann als Vorüberlegung für eine Reihe folgender abstrakter Bilder gelten. Es erinnert an Paul Klees Klang aus Sizilien und Otto Nebels Farbenatlas, da es Farbwerte von der Landschaft abstrahiert.381 Zu den Werken, die sich mit den Jahreszeiten befassen, gehören Herbstklang (1962), Sommerklang (1963), Felder im Frühling (1964), Zeichen im Frühling (1965), Sommerlicht (1963), Österlich (1966) und Vorfrühling (1966). Zugleich fällt auf, dass Itten sich in diesem Zusammenhang intensiv mit Licht auseinander377 | Itten, »Jugend- und Studienjahre« (um 1948), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 16. 378 | Ebd., S. 24. 379 | Nicht abgedruckt. Die Maße der im Berliner Bauhausarchiv befindlichen Aquarelle betragen: Frühling: 23,3 × 33,3 cm; Sommer: 23,5 × 34 cm; Herbst: 23,3 × 33,5 cm; Winter: 21,1 × 32,9 cm. 380 | Dazu siehe weiterführend Johannes Itten – Die Jahreszeiten, Ausst.-Kat. Kunsthalle Nürnberg/Kunstmuseum Winterthur, Nürnberg 1972. 381 | Nicht abgedruckt: Johannes Itten, Farben einer Landschaft, 1946, Aquarell, 34 × 24 cm, private Sammlung, Zürich. Vgl. Kap. 3.1.1: Abb. 3 und Kap. 3.5.1: Abb. 10.

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setzte. Die Bildtitel Abendlicht (ohne Datum), Blaues Leuchten (1952), Leuchtendes Rot (1955), Licht (1957), Lichtkomposition (1959), Im Gegenlicht (1961), Lichtbahnen (1965), Festliches Licht (1962), Licht leuchtet (1962), Gütiges Licht (1963), Simultanes Leuchten (1964), Licht (1965) und Überall Lichter (1965) bezeugen dies.382 Die Arbeiten fallen in jene Zeit, in der Itten all seine Ämter als Lehrer aufgegeben hatte. Insofern sind sie, auch wenn Jahreszeitenstudien schon zuvor Teil der Lehrpraxis Ittens waren, als eigenständige Werkphase zu betrachten und sprechen für die grundlegende Rolle, welche diese Themen für den späten Itten einnahmen. Dabei lassen sich allerdings viele Kontinuitäten zu früheren Überlegungen Ittens finden. Der Rhythmus der Jahreszeiten war für Itten Vorbild für das menschliche Leben. »Lehrpläne müssen den temperamentalen Anlagen der Schüler und deren Begabung sowie den Jahreszeiten angeglichen werden«,383 forderte er schon 1938. In den frühen sechziger Jahren erhielt seine Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt eine kulturkritische Dimension, die zuvor zwar implizit, aber nie so explizit zum Ausdruck gekommen war. Ende 1963 schrieb er in sein Tagebuch: »Wir leben nur noch für den Beruf und im Beruf. Wir haben kein kosmisch geistiges Ziel und keine Heimstadt mehr. Höhlenbewohner, Hirte und Bauer sind durch Erde, Jagd, Sonne und Regen und Schnee und Gewitter an das kosmisch-terrestrische Geschehen gebunden. Sie leben mit ihm, in ihm. Die heutige Technisierung und Chemikalisierung der Landwirtschaft nimmt dem Bauern den kosmischen Sinngehalt. Der verstädterte Mensch hat ihn sowieso verloren. […] In der Natur und aus Form- und Farbgesetzen erlebte ich die Welt als einheitlichen Kosmos und ließ und lasse mich von Eingebungen treiben und leiten.« 384

Itten beklagte den Verlust der Einbindung des Menschen in die kosmisch-terrestrischen Vorgänge und in die natürlichen Zyklen. Er sehnte sich offenbar nach einer ursprünglichen Natur und einem ursprünglichen, kosmischen Naturbezug, den er durch die Kunst wiederzufinden oder zu substituieren hoffte. Der Verlust von Natürlichkeit erscheint auch als geistiger Verlust. Insbesondere der 382 | Zu den Werkbeispielen siehe A. Itten/Rotzler 1972. Leider sind die meisten Werke Ittens weder im Original zu besichtigen, noch in guter Qualität in Katalogen abgedruckt. Die Herausgabe eines Werkkatalogs durch Marion Lichardus-Itten und Christoph Wagner ist für 2019 in Planung. Eine Analyse von Vorfrühling nehme ich in Burchert 2017b (Webseite) vor. 383 | Itten, »Zwölf Thesen zu meinem Unterricht« (1938), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 243. Dieser Gedanke war zu dieser Zeit durchaus gängig. Er findet sich auch bei Willy Hellpach, der den Einbezug geopsychologischen Wissens in die Unterrichtsplanung forderte. Es sei etwa davon abzusehen, Prüfungen in das »Hochsommertief[…] körperlicher und geistiger Leistungen« zu legen (Hellpach 1935, S. 244). 384 | Itten, Tagebucheintrag vom 12.12.1963, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 99.

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Wunsch, sich als Teil des großen Ganzen zu fühlen, wird evident.385 Eine Sehnsucht nach der Verbindung mit kosmischen Lebenskräften bestimmte schon früh Ittens Bildkonzept und formte so über Jahre sein lebensräumliches Bildmodell. Gemäß Christoph Wagner entwickelte Itten das Jahreszeitenthema seit 1932, wobei er allerdings schon ab 1920 am Bauhaus die Systematik von Frühling, Sommer, Herbst und Winter für eine Ordnung der Farben in Betracht zog.386 Bereits 1917 in Wien gab er das Thema des Frühlings als Hell-Dunkel-Übung auf.387 Wagner stellt die Jahreszeiten vor allem mit Ittens Farbtyplehre und den subjektiven Farbkontrasten in Verbindung.388 Jedoch birgt die Auseinandersetzung mit dem natürlichen Zyklus weitere Aspekte. 1917 beschrieb Itten das Kunstwerk als Symbol für »Lebendiges«, »Bewegtes« und »Erregendes«, das zu einem »organische[n] Ganze[n]«, zu einem »Lebewesen« werde.389 Zur Beschreibung dieser Lebendigkeit führte er verschiedene Naturerscheinungen an, etwa die »weite waagerechte Wirkung wogender Felder oder die vibrierenden Farben des Sommermorgennebels, die aufgewühlte Wildheit des Meeres, […] die Nähe des Frühlings«.390 Er ergänzte: »Dem Bewegenden, dem Erregenden Gestalt geben heisst, ein Werk schaffen; und wenn das Werk aus sich selber lebendig ist, so ist es ein Kunstwerk. Also ein Perpetuum mobile in rein geistigem Sinn«.391 Nicht das Sichtbare solle der Künstler darstellen, sondern er habe auf jene Sinne zurückzugreifen, »die in fast unbekannten Tiefen der Seele Wirkungen der Aussenwelt auf die Innenwelt vermitteln und aufzeichnen«.392 Dabei bediene sich der Künstler der »schaffende[n] Macht einer lebendigen Kraft, einer geistigen Kraft, einer göttlichen Kraft«, um schließlich »Leben zu erschaffen«.393 »Die vollbrachte Menschentat, die das Lebendige, das Bewegende, das Erregende in einem Form- und Farblebewesen realisiert, ist ein Kunstwerk«.394 Itten begriff die Natur so als belebten, beseelten Kosmos. Von seiner Kunst wollte er gottgleich Kräfte ausgehen lassen, die jenen in der Natur entsprechen. Schon im Zusammenhang mit der Farbentherapie wurde aufgezeigt, dass Itten Farben als »Strahlungskräfte« und »Energien« verstand, die »in positiver oder 385 | Dazu vgl. den Abschnitt zur Kunstreligion unter Kap. 1.3 sowie Kap. 2.2, 2.4 zum Fortleben des Kosmosbegriffs in der Ökologie und im bioromantischen Denken. 386 | Wagner 2002, S. 252; vgl. Itten in einer Notiz vom Februar 1922, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 73. 387 | Itten, Tagebucheintrag vom 10.11.1917, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 51. 388 | Wagner 2002, S. 250. 389 | Itten, Vortragsmanuskript vom 21.5.1917 und 6.6.1917, in Badura-Triska 1990, S. 225. 390 | Ebd. 391 | Ebd. 392 | Ebd., S. 227. 393 | Ebd. 394 | Ebd.

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negativer Art« wirksam werden können.395 Zur weiteren Beschreibung des Charakters und der Wirkweisen von Farben führte er in Kunst der Farbe lebensräumlich-atmosphärisches und klimatologisches Vokabular an, um den »Charakter der kalten und warmen Farben« zu definieren. Als Attribute nannte er »schattig – sonnig, durchsichtig – undurchsichtig, beruhigend – erregend, dünn – dicht, luftig – erdig, fern – nah, leicht – schwer, feucht – trocken«.396 Die Begriffe ließen sich ebenso zur Beschreibung von Lufträumen und der natürlichen Umgebung verwenden. Einige fanden sich bereits bei Nebel und im Gleichgewichtskreis-Text (Kap. 3.5-3.6). Itten bezog sich um 1919 auf Gertrud Grunows Annahme des »Schwingungsvermögen[s] des Menschen«.397 Dieses Schwingungsvermögen war eine Voraussetzung für die Wirksamkeit von Tönen und Farben und zugleich für Ittens lebensräumliches Bildmodell. Wenn er schon um 1918 davon sprach, dass der Mensch sich in der Bildbetrachtung »völlig und ganz aufgibt als Einzelwesen«, so sollte er sich als »Teilbetrag jener Emanation des Einen Geistes mitschwingen« lassen »als Atom unter Atomen. Nicht hier Bild – da Mensch, sondern hier und da verkörperter Geist, geformte Kraft, sinnliche Schwingung«.398 Auch die Farben begriff Itten so als Emanationen eines göttlichen, schöpferischen Urgrundes, in denen die Rezipierenden mitschwingen sollten. Den Impetus des Aufgehens in einem Ganzen, die Teilhaftigkeit am Kosmos, machte Itten schließlich in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit der Naturerfahrung stark. Die im selben Zeitraum entstandenen Jahreszeiten- und Naturbilder ordnen sich hier ein: »Alles pflanzliche Wachstum bedarf der Wärme und des Lichtes, ebenso der Mensch der Liebe und des Wissens. Wie die Natur in Sommer und Winter, in Tag und Nacht den lebendigen Rhythmus der zwei Kräfte entschleiert und beider bedarf zu gutem Gedeihen, so bedarf der Mensch der Liebe und Weisheit, der dunklen Herzenswärme und der hellen Gehirneskälte. In der Natur lesen wir, daß für jede Neuschöpfung eine Wärme die Grundlage bilde, dann aber zur Weiterbildung und Vollendung der Geschöpfe das Licht sich zugesellen muß.« 399

Wärme und Licht als Lebensprinzipien werden hier gleichgesetzt mit Liebe und Weisheit. Wie bei Wassily Kandinsky und Nebel konstituieren gemäß Itten geistige Prinzipien die Lebenswelt und wirken wie Licht- und Luftqualitäten gleichsam ökologisch auf den Menschen ein. Ittens Zuwendung zum Jahreszeitenthema 395 | Itten 1961, S. 16; vgl. Kap. 3.3.1. 396 | Ebd., S. 64. 397 | Itten in einem Brief an Josef Matthias Hauer am 5.11.1919, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 68. 398 | Itten, Tagebucheintrag vom 16.8.1918, ebd., S. 59f. 399 | Itten, »Einleitung zum Tagebuch« (1930), ebd., S. 234.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

eröffnet Aspekte des natürlichen Kreislaufes von Werden und Vergehen im Zusammenhang mit Wärme und Kälte, Licht und Dunkelheit sowie weiteren klimatischen Qualitäten. In Kunst der Farbe beleuchtete Itten sein Verständnis der Farben als lebensräumliche Kräfte anhand der abgedruckten Jahreszeitenstudien. Jede Studie ist querformatig und gleichmäßig in zwölf mal acht Quadrate aufgeteilt, deren Farbigkeit das Charakteristische der jeweiligen Jahreszeit darstellen soll.400 Die Frühlingsstudie, so Itten, habe die größte Strahlkraft: »Das jugendlich helle, strahlende Werden der Natur im Frühling wird durch lichtvolle Farben zum Ausdruck gebracht«.401 Die hellen, leuchtenden, transparenten Farben definierte er als Farben des Wachsens und Lebens. Gelb, Rosa und Lila entsprächen den »Keimspitzen der Pflanzen«, die auf die Frühlingsblüte hindeuten.402 Insofern wird zum einen das Licht der Jahreszeit zur Präsenz gebracht, zum anderen von der typischen Farbe der Flora abstrahiert. Den größten Kontrast zur Studie des Frühlings stelle die des Herbstes dar, denn hier »stirbt die grüne Vegetation ab, sie wird zersetzt und zerfällt in stumpfes Braun und Violett«.403 Allerdings wird nicht nur ein Verwelken und Altern der Vegetation in der Farbgebung der Studie manifest, es geht nicht um eine reine Repräsentation des Absterbens von Leben. Die Farben im Bild sind gemäß Itten zugleich eine trockene, flackernde Wärmequelle, denn »[w]enn man das Orange zu Dunkelbraun vertieft, so flackert das rote Feuer wie trockene Wärme«.404 Die Farben Grün und Blau in der Frühlingsstudie ließen sich dementsprechend als feucht beschreiben – eine Kategorie, die Itten zwar verwendete, hier aber nicht explizit nannte. Thermische Veränderungen sowie Veränderungen in der Temperatur und Humidität sollen nicht repräsentiert, sondern präsent gemacht werden. Farben sind als Kräfte konzipiert, die klimatische Veränderungen tatsächlich empfinden lassen. Für die Sommerstudie wählte Itten besonders kräftige, gesättigte Farben und sprach von einer zu »maximaler Form- und Farbkraft gesteigerte[n] Natur«, die »ihre größte Dichte und plastisch lebendige Kraftfülle« erreicht habe:405 Das Grün diene der Steigerung des Rot,406 sodass mittels Komplementärkontrast eine maximale Farbkraft gegeben ist. Grün sei zugleich die »Farbe der Pflanzenwelt, des geheimnisvollen, sich durch Photosynthese bildenden Chlorophylls«.407 Somit brachte Itten die Farben mit chemischen Prozessen und Stoffen in Verbindung, in 400 | Itten 1961, 131f. 401 | Ebd, S. 131. 402 | Ebd. 403 | Ebd. 404 | Ebd., S. 134. 405 | Ebd., S. 131f. 406 | Ebd., S. 132. 407 | Ebd., S. 136.

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denen natürliche Lebenskräfte zum Wirken kommen: »Wenn Licht auf die Erde trifft und Wasser und Luft die Elemente lösen, dann treibt die inkarnierte Kraft des Grün empor«.408 Das Blatt erscheint so als Gemisch aus Wärme und Licht (Rot, Orange, Gelb), Wasser und Luft (Blau), die Leben (Grün) schöpfen. Alle Farben sollten sich vereinigen zu einem wirksamen Bildorganismus, der Licht, Farben und Kraft des Sommers zur Präsenz bringt. Gemäß Itten habe die Farbe Orange eine »sonnenhafte Leuchtkraft« an sich,409 und Rot und Orange seien zusammen »wie starke Morgensonne auf reifendem Ährenfeld«.410 So gehen ihm zufolge sonnengleiche Kräfte vom Bild aus. Itten rekurrierte immer wieder auf ökologisches Wissen und bezog dieses auf die Wirkpotenz der Farbe. So heißt es an anderer Stelle, dass das »[r]otorange Licht […] pflanzliches Wachstum« fördere und die »organische Funktion« steigere.411 Sie stelle das »Maximum an warmer, aktiver Energie« dar.412 All diese Bezugnahmen dienten dazu, die Bildwirksamkeit zu begründen auf Grundlage einer ökologischen Auffassung von Farben als »Strahlungskräften« und »Energien«.413 Zugleich stützte sich Itten auf die Erkenntnisse der Psychophysik und auf die Praxis der Chromotherapie, und ging etwa davon aus, dass Rotorange den »Impuls der Zirkulation« anrege.414 Entspricht die Farbigkeit der Studie Sommer einem großen Energiereservoir, ist Herbst allem voran Wärmespender und Frühling eine sanfte Ausstrahlung transparenter, milder Farben. Im Kontrast zu einer aktivierenden Wirkweise beschrieb Itten ferner passive, beruhigende Farben. In seiner Winterstudie diene die »magnetische[…] Einwärtsbewegung der Erdkräfte« als Ausdruck der »Passivität in der Natur«.415 Daher habe er Farben gewählt, die »in-sich-ziehend, kalt und nach innerer Tiefe strahlend, durchsichtig, vergeistigend sind«.416 Besonders dominant ist das Blau, welches Itten als »Naturkraft« darstellte, »in der alles in Dunkel und Stille verborgen keimt und wächst«.417 Blau sei »ungreif bares Nichts und doch gegenwärtig wie die durchsichtige Atmosphäre«.418 Hier bezog sich Itten deutlich auf Johann Wolfgang von Goethe, der Blau als »ein reizendes Nichts« bezeichnet hatte.419 Blau erscheint als atmosphärische Kraft, als das »Ätherisch-Seelische, Durch408 | Ebd. 409 | Ebd. 410 | Ebd., S. 133. 411 | Ebd., S. 134. 412 | Ebd., S. 136. 413 | Ebd., S. 16. 414 | Ebd., S. 64. 415 | Ebd., S. 132. 416 | Ebd. 417 | Ebd., S. 135. 418 | Ebd. 419 | Goethe 1953 (1810), S. 329.

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sichtig-Luftige«.420 Das Bild wurde von Itten so nicht nur als geistiger Raum der Ruhe, sondern zugleich auch als transparenter, kühler Luftraum gefasst. Dies entspricht der von Itten angesprochenen, die Zirkulation dämpfenden Wirkung des Blaugrüns.421 Für die weitere Analyse wird nun der ausgeführte, große Jahreszeitenzyklus von 1963 herangezogen (Abb. 15-18). Die Einzelbilder sind in neun mal neun rechteckige Farbfelder unterteilt und unterschiedlich rhythmisiert.422 Farblich schließt Frühling an Winter an. Beide sind durch weniger gesättigte, kühlere, milde, transparente Farben gekennzeichnet. So ergibt sich ein durch Übergänglichkeit geprägter Kreislauf. Das in Frühling dominierende Gelb taucht in Sommer ebenfalls auf, so auch das Grün und das Rot, nun in einem erhöhten Sättigungsgrad. Das Grün in Sommer findet sich in Herbst stark eingetrübt, Rottöne dominieren dort, sind aber ebenfalls trüb und gehen ins Bräunliche. Diese Brauntöne tauchen ausschließlich in Winter, wenngleich abgedunkelt, nochmals auf. Violett-, Pink- und Rosétöne in Herbst erscheinen aufgehellt in Winter sowie vereinzelt in Frühling wieder. So ergibt sich zum einen eine formale Verbindung, zum anderen aber auch eine klare Differenzierung der Jahreszeiten.

420 | Itten 1961, S. 135. 421 | Ebd., S. 64. 422 | Die Rhythmik wird in Kap. 6.6 analysiert.

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Abbildung 15: Johannes Itten, Frühling, 1963, Öl auf Leinwand, 100 × 150 cm, Museum Würth, Künzelsau

Abbildung 16: Johannes Itten, Sommer, 1963, Öl auf Leinwand, 100 × 150 cm, Museum Würth, Künzelsau

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Abbildung 17: Johannes Itten, Herbst, 1963, Öl auf Leinwand, 100 × 150 cm, Museum Würth, Künzelsau

Abbildung 18: Johannes Itten, Winter, 1963, Öl auf Leinwand, 100 × 150 cm, Museum Würth, Künzelsau

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Im Zyklus wird eine graduelle Bewegung von Feucht-Warm oder gar Heiß (Sommer), Abkühlend-Warm und Trocken (Herbst), Kalt und Klar (Winter) zu Mild und Feucht (Frühling) vollzogen. Diese geht einher mit einer Zunahme der Dichte und Schwere in Sommer und Herbst, und geringer Dichte in Winter und Frühling. In Herbst ist die ›Luft‹ als trüb und dicht beschreibbar, in Winter als klar und dünn. Sind Sommer und Herbst durch die Vorstellung einer Aussendung von Licht- und Wärmeenergie geprägt, betonte Itten für Winter zwar ebenfalls ein Strahlen, welches allerdings nach Innen, in die Ferne führt und so magnetisch in die Tiefe des Bildes zieht. Das Licht ist heller, durchlässiger und transparenter, zugleich aber auch kühler. Dem entgegen steht die ausstrahlende Qualität der warmen Farben.423 Der Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung, Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, Verdichtung und Transparenz ist grundlegend für die von Itten konzipierte Wirkung. Mit Bezug zu natürlichen Rhythmen im Bild werden diese Aspekte noch vertieft, auch im Hinblick auf das I-Ging, welches Itten spätestens Anfang der fünfziger Jahre las.424 So stellte er in seinen Jahreszeiten einen Lebenszyklus dar, der ganz im Sinne der Philosophie des I-Ging das ständige Werden und Vergehen als Erneuerung des Lebens zur Anschauung bringt. Jedem Bild beziehungsweise jeder Jahreszeit liegen bestimmte produktive Lebenskräfte inne, die nur ihnen eigen sind und zum Leben gehören. Mit dem Zyklus von 1963 treten die Betrachtenden großen, breiten Bildflächen entgegen, deren Maße die Wirkmacht der Farbe sicherlich erhöhen sollten und Ittens Vorstellung, mit den Bildenergien mitzuschwingen sowie die Betrachtenden zu umfangen, stützten. 1930 beschrieb Itten farbige Flächen dementsprechend als »Kraftfelder«.425 Obgleich es ihm ganz wesentlich um eine Lichtaussendung ging, verwendete er – anders als Klee oder Nebel – keine neoimpressionistisch geprägte Technik des Pointillierens oder ähnliche Methoden. Die einzelnen Farbflächen sind nur in Frühling kleinteilig untergliedert. Schon 1917 formulierte Itten, dass »im Bild Beengungen entstehen« könnten, »wenn sich ein Farbfleck oder Lichtfleck nicht ausleben kann, wenn alle Variationen zu eng an ihm liegen«.426 Die Farbe brauche demnach ausreichend Fläche, um Wirkkraft zu entfalten. Itten orientierte sich an der Lehre vom Simultankontrast und bezog sich auf den Chemiker Michel Eugène Chevreul. Chevreul ging davon aus, dass Farben durch eine günstige Zusammenstellung an »Glanz, Lebhaftigkeit und Reinheit« gewinnen können.427 Dies betrifft insbesondere die Komplementärfarben, die sich ihm zufolge in ihrer 423 | Dies entspricht wiederum den Postulaten Goethes; vgl. Kap. 3.1.1, 3.2.3. 424 | Itten in einem Brief an Anneliese Itten am 2.11.1951, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 93; siehe auch Kap. 6.6. 425 | Itten, Tagebucheintrag 1930 (eine genauere Datierung fehlt), ebd., S. 78. 426 | Itten, Tagebucheintrag vom 9.1.1917, ebd., S. 49. 427 | Chevreul 1840, S. 18.

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Intensität gegenseitig steigern.428 Auch Chevreuls Feststellung, dass nebeneinander liegende Farbtöne im Simultankontrast stets möglichst unterschiedlich erscheinen, war für Itten wesentlich.429 Itten ging es darum, mittels Kontrasten eine möglichst starke Leuchtkraft zu erringen: »Sie [die Farben] scheinen nur Farbe zu reflektieren aus dem äußeren Licht. Sobald aber der Simultan-Kontrast wirksam wird, scheint die Farbe wie von einem inneren Licht erleuchtet, sie wird erweckt, und diese Bewegtheit, dieses Strömen und Strahlen und Perlmutterglänzen der Farbatome bringt unser inneres Wesen in lebhafte Schwingung. Wir sind wie von Unfaßbarem berührt.« 430

In Frühling entsteht der Kontrast durch den Gelbton, der neben trüberem Gelb sowie Gelbgrün an Reinheit und Strahlkraft gewinnt. Auch durch das Nebeneinandersetzen heller Rosa- und Blautöne neben dunklerem Grün verstärkt sich die Leuchtkraft. Eine intensive Farbwirkung ergibt sich ferner aus der Durchsetzung mit weißen Akzenten.431 In Sommer hingegen arbeitete Itten stärker mit den Komplementärpaaren Rot und Grün sowie Blau und Orange. Violett als Komplement zum vielfach auftretenden Gelb fehlt jedoch. Dafür sind die drei Grundfarben gegeben und treffen, wenn auch in unterschiedlicher Sättigung und Helligkeit, an einigen Stellen aufeinander. In Herbst resultiert die Lichtwirkung aus dem Zusammentreffen trüber und reiner Töne, wodurch das Gelb an Strahlkraft gewinnt. Die Lichtwirkung in Winter beruht vornehmlich auf dem Hell-DunkelKontrast, insofern stark aufgehellte Blau- und Gelbtöne neben dunkles Schwarz und Braun treten. Zudem sind hier Abstufungen ähnlicher Töne nebeneinandergesetzt. Allerdings sind die Farben so schwach, dass ihre Strahlkraft verhalten bleibt und ins Innere des Bildes zu führen scheint. Neben einer Verlebendigung des Bildfeldes durch die Lichtqualität der Farbe versuchte Itten, eine vibrierende Lebendigkeit durch Warm-Kalt-Kontraste zu realisieren: »Durch Kälte und Wärme (Eisblaugrün und Zinnober-Orange) wird intensives Leben erzeugt. (Kompressen mit kochendem Wasser und nachherige Behandlung mit Eis erheben eine parallele Wirkung im Menschen.)«.432 Die Bewegung von Warm nach Kalt und Kalt nach Warm ist nicht nur im Zyklus als Ge428 | Ebd., S. 13. Anhand von Robert Delaunay wird dies später noch vertieft (Kap. 4.1). 429 | Ebd. 430 | Itten, Tagebucheintrag 1927/28 (eine genauere Datierung fehlt), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 76. 1913/14 erfolgte eine erste intensive Auseinandersetzung Ittens mit dem Simultankontrast. Hier spricht er davon, durch simultane Kontraste »›Licht‹ zu erhalten« (Itten, Tagebucheintrag 1913/14, ohne genauere Datierung, in Badura-Triska 1990, S. 58). 431 | Vgl. dazu Chevreul 1840, S. 22f. 432 | Itten, Tagebucheintrag 1927/28 (eine genauere Datierung fehlt), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 76; vgl. Kap. 3.3.1.

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samtheit gegeben, wodurch sich eine Verbindung mit der Thermotherapie nach Arnold Rikli herstellen lässt. In den Einzelbildern treten solche Kontraste ebenfalls auf. In allen vier Werken finden sich Varianten von Blau-Rot-Kontrasten, am intensivsten in Sommer und Herbst. Sowohl der individuellen als auch der sukzessiven Rezeption der Bilder könnte so mit Rikli eine flexibilisierende Wirkung zugesprochen werden. Durch ausdehnende Wärme und zusammenziehende Kälte sowie Trockenheit und Feuchtigkeit als Wirkkräfte der Bilder würde so direkt das Nervensystem der Betrachtenden angesprochen und durch die hervorgerufenen Bewegungen heilsam trainiert (Kap. 3.3, 6.6). Zum Zyklus von 1963 schrieb Itten, dass es ihm nicht darum gegangen sei, »einzelne Stimmungen des Winters oder des Frühlings« wiederzugeben, sondern darum, »das Wesentliche und das sich Unterscheidende jeder Jahreszeit herauszuarbeiten«: »Der Frühling war mir die Zeit des keimenden und blühenden neuen Lebens der Natur, der Sommer war mir die äußerste Kraftentfaltung des positiven Wachstums und Reifens. Der Herbst die Zeit des Zerfalls des Organischen und des Sterbens. Der Winter ist für mich die Zeit der Ruhe und der inneren Konzentration«. 433

Die Jahreszeiten sind so als bildliche Auseinandersetzung mit dem natürlichen Klima zu verstehen. Sie stellen eine Abstraktion atmosphärischer Vorgänge und Phänomene über längere Zeiträume dar, die mit Willy Hellpach als klimatische »Reizekombination[en]« bezeichnet werden können.434 Damit werden allgemeine Lebensgesetze und -verläufe zum Ausdruck gebracht, die eine zeitliche Dimension eröffnen. Die Jahreszeiten repräsentieren einen Lebenszyklus, der durch farbige Rhythmen unmittelbar belebend auf die Betrachtenden einwirken sollte. 1965 schrieb Itten: »Die Natur ist selbst der größte Schöpfer und Zerstörer des Geschaffenen. Im Frühling und im Sommer herrscht schöpferischer Wille, im Herbst und im Winter Zersetzung und Tod. Der Herbst ist ungeheuer produktiv in der Bakterienwelt, die wieder den Neubau vorbereitet. Ich bin an einem fruchtbaren Anfang! Auf und ab, ein und aus, Geburt und Tod, einatmen und ausatmen.« 435

433 | Itten, Notizen zu einer Rede im Mai 1965 in Baden-Baden, ebd., S. 101. 434 | Hellpach 1935, S. 126; vgl. Kap. 2.5. 435 | Itten, Tagebucheintrag vom 9.11.1965, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 103. Auf die Bedeutung dieser generellen Lebensprozesse bei Itten wird später auch u.a. in Zusammenhang mit dem Motiv des Atmens und der Lufträumigkeit eingegangen (Kap. 5.1, 5.2.3, 5.4, 6.6).

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Unter Einbezug biologischen und naturheilkundlichen Wissens wollte Itten den Rezipierenden eine Art belebendes Wechselbad von Wärme und Kälte, Trockenheit und Feuchte, Licht und Dunkel, Ausdehnung und Zusammenziehung verabreichen. In diese Bilder sollten sie sich ganz vertiefen, sie als ihre temporären Lebensräume annehmen, in diesen mitschwingen und sie so ganz auf sich wirken lassen.436 Itten nahm somit weitaus konkreter auf die natürliche Umwelt Bezug als Kandinsky und Max Burchartz, die natürliche Wirkkräfte so weit abstrahierten, dass eine Unterscheidung zwischen natürlichem und artifiziellem Klima nicht mehr relevant schien. Das Bild als Aussendung von Lebenskräften erinnerte dort, anders als bei Itten, nicht mehr an Erfahrungen in der freien Natur. Trotzdem begriffen auch Kandinsky und Burchartz Farben als Klima- und ihre Bilder als Lebensraumäquivalente.

3.8 E xkurs : F arbe als L ebensquelle – V arianten und D ifferenzen Die Idee, mittels Kunst Lebensräume einzurichten, verkörperte die niederländische Gruppe De Stijl in besonderer Weise (Kap. 2.1). Piet Mondrians malerische Kompositionen stellten schließlich die Vorbereitung für eine zukünftige architektonische Umweltgestaltung dar und waren mit Vorstellungen eines neuen Lebens verbunden. Max Burchartz orientierte sich in den frühen zwanziger Jahren stark an De Stijl. In folgendem Exkurs wird Mondrians Kunstkonzept von den hier fokussierten klimatischen Farbkonzepten abgegrenzt. Zugleich wird sein Verständnis von Farbe als Lebenskraft mit den Ansätzen László Moholy-Nagys und Otto Pienes verglichen, deren Naturbezug und Nähe zu den zuvor dargestellten Positionen ausgeprägter war. Beide vertraten jedoch kein dezidiert klimatisches Farbverständnis. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine stärkere Konturierung des Konzepts der klimatischen Farbe.

436 | Eine ähnliche Sichtweise regt Leonhard 2013 für die Stillebenmalerei des 17. Jahrhunderts an: »Der barocken Kunst- und Naturtheorie zufolge zielt Mimesis jedenfalls kaum darauf, tote Kopien der Natur zu entwerfen, vielmehr geht es darum, durch die getreue Wiederholung natürlicher Formen an den Prozessen von Werden und Vergehen, Wachstum und Verfall und somit an einem vitalen Prinzip teilzuhaben. Vielleicht kann man sogar soweit gehen zu sagen, dass der Malerei auf diese Weise eine belebende Kraft zukommen kann, die sie der Natur analog werden lässt« (S. 3).

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3.8.1 Farben als Lebenskräfte: Piet Mondrian Mondrian fügt sich mit seinem Anspruch einer konsequenten Vereinigung von Kunst und Leben in die Reihe avantgardistischer Utopien ein, die Kunst als Quelle von Lebenskraft fassten. Damit eröffnete er im Vergleich zu den hier besprochenen Künstlerpositionen eine neue Ebene der Abstraktion, indem er eine andere Position zur sinnlichen Welt und insbesondere zur Natur einnahm. In seinen Texten zur Neuen Gestaltung und zum Neoplastizismus postulierte er, dass die Malerei und die Skulptur ganz in Architektur aufgehen und die äußere Umwelt des Menschen völlig gemäß der neuen Ästhetik gestaltet werden sollen.437 Dies verband er mit der Idee, dass von den Gestaltungen Lebenskräfte ausgehen. So formulierte er 1919/20: »Just as line must be open and straight in order to express expansion determinately, color must be open, pure and clear. When it is, then it radiates the life force; but when it is closed and unclear, then it resists the life force and predominantly expresses limitation, the tragic«.438 Die Ausstrahlung der Farbe auf die Betrachtenden war ihm offenbar ähnlich wichtig, wie den zuvor behandelten Künstlern. Wiederholt sprach Mondrian davon, dass die Schönheit der rein abstrakten Kunst die Lebensenergie des Menschen errege.439 Diese begriff er als »conscious radiation of the universal«.440 Dieses Universale stellte ihm zufolge ein geistiges Prinzip dar, »it is expressed as wisdom rather than joyfulness, but it is actually both in one«.441 Schönheit, Geist, Freude und Wahrheit dachte er als Zusammenhang. Es ging Mondrian gerade nicht um die »sinnlich wahrnehmbare, die phänomenale Wirklichkeit«,442 sondern um die ihr zugrunde liegenden universalen Gesetze. Das Schöne sei schön, weil es wahr ist. Mondrians Theorie war geprägt von seiner Rezeption der mathematischen Lehre Mathieu H. J. Schoenmaekers (1875-1944), welche auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Philosophie basierte. Verbunden waren Mondrian und Schoenmaeker in der Annahme universaler Gesetze, einer mathematisch-mystischen Weltordnung, die nicht sinnlich erfassbar und als absolute, objektive Realität von allem Zufälligen befreit ist.443

437 | Aufsätze von Piet Mondrian, die zwischen 1920 und 1923 entstanden waren, wurden 1925 in der »bauhausbücher«-Reihe auf Deutsch veröffentlicht. Die Mehrzahl seiner Schriften ist allerdings nur auf Englisch übersetzt worden. Hier wird vorrangig aus der englischsprachigen Kompilation Holtzman/James 1993 zitiert. 438 | Mondrian, »Natural Reality and Abstract Reality)« (1919/20), in Holtzman/James 1993, S. 119. 439 | Ebd., S. 119 und S. 123; Mondrian, »Purely Abstract Art« (1926), ebd., S. 199. 440 | Mondrian, »Natural Reality and Abstract Reality« (1919/20), ebd., S. 123. 441 | Ebd. 442 | Wismer 1985, S. 33. 443 | Ebd.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Während es den anderen Künstlern um Ausschnitte, bestimmte Aspekte wirkmächtiger Phänomene ging, etwa Licht und Wärme oder um einen bestimmten klimatischen Raum zu einer bestimmten Zeit, zielte Mondrian auf das Absolute ab. Dabei wollte er dezidiert weg von der sinnlich erfahrbaren Natur, hin zu einer rein architektonischen und vor allem ›sauberen‹ Umwelt: »The truly evolved human will no longer attempt to bring beauty, health, or shelter to the city’s streets and parks by means of trees and flowers«.444 Mondrian strebte eine Denaturalisierung der Umwelt an.445 Schließlich setzte er den Farben der Natur die drei reinen Grundfarben Gelb, Rot und Blau sowie die Nichtfarben Schwarz, Weiß und Grau entgegen. Diese entsprachen nicht klimatischen Phänomenen, wurden also nicht als Entsprechungen von Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit gefasst wie etwa durch Johannes Itten. Sie standen hingegen für Prinzipien der Horizontalität (Blau), Vertikalität (Gelb) und die Verbindung beider Prinzipien (Rot).446 Mondrian hob auf einen Ausgleich aller Gegensätze ab, dazu gehörte auch der Gegensatz von Natur und Geist.447 Dabei weist alles daraufhin, dass Natur vornehmlich vergeistigt werden sollte und er einen völlig anderen Naturbegriff vertrat als beispielsweise Paul Klee und Itten. So schrieb Mondrian 1936: »It must be obvious that if one evokes in the spectator the sensation of, say, the sunlight or moonlight, of joy or sadness, or any other determinate sensation, one has not succeeded in establishing universal beauty«.448 Damit formulierte er deutlich eine Position gegen die bisher diskutierten Ansätze. Seine Ablehnung der Natur äußerte er auch mit Bezug zum Rhythmus: »Man has a rhythm and creates his own environment – in opposition to nature«.449 Während natürliche Rhythmik von Klee, Otto Nebel, Itten und Burchartz als Energiespenderin und harmonisierendes Phänomen gefasst wurde, wollte Mondrian eine der sinnlich wahrnehmbaren Natur entgegengesetzte Rhythmik in der Malerei und Umweltgestaltung etablieren.450 Bei allen Unterschieden ergibt sich jedoch eine Verbindungslinie über Mondrians Anspruch, durch Gestaltung zu heilen. Körperliches und geistiges Wohlbefinden als Voraussetzung für Gesundheit waren zentrale Ziele: »Physical and spiritual happiness – prerequisites for health – will be furthered by equili-

444 | Mondrian, »Home–Street–City« (1926), in Holtzman/James 1993, S. 207. 445 | Ebd., S. 211. 446 | Wismer 1985, S. 48. Hier lässt sich zudem ein Bezug zu Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre herstellen, wo sich Gelb und Blau zu Rot (Purpur) verdichten. Schoenmaeker sprach dementsprechend von den abstrakten Prinzipien des Zurückweichens, Strahlens und Schwebens (Jaffé 1965, S. 71). 447 | Vgl. Mondrian, »Home–Street–City« (1926), in Holtzman/James 1993, S. 211. 448 | Mondrian, »Plastic Art and Pure Plastic Art« (1936), ebd., S. 296. 449 | Mondrian, »Jazz and Neo-Plastic«, ebd., S. 219. 450 | Mondrian 1974 (1925), S. 51. Zu Konzepten der natürlichen Rhythmik siehe Kap. 6.

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brated oppositions of relationships of proportion and color, matter and space«.451 Sein Gesundheitsbegriff fußte gleichermaßen auf der (Wieder-)Herstellung von Gleichgewicht.

3.8.2 Farben als Nährstoffe: László Moholy-Nag y Auch Moholy-Nagy beschäftigte sich mit der Farbe und anderen künstlerischen Mitteln als Lebensenergien, anders als Mondrian allerdings dezidiert mit Bezug zur Biologie. »Farbe aufzunehmen, Farbe zu erarbeiten ist für den Menschen eine elementare, biologische Notwendigkeit«, so Moholy-Nagy 1925.452 Als Ziel der Kunst definierte er die biologische ›Nährung‹ des Menschen.453 Ähnlich wie Klee, Nebel und Gertrud Grunow ging er vom Potential von Farben aus, die Betrachtenden mit Lebenskräften zu versorgen. Als »Gabe« der Künstler bezeichnete Moholy-Nagy, dass sie »Lebens- und Bildungskraft durch Licht, Farbe, Form […] übertragen« und so »die Substanz des Lebens vermitteln« können.454 Die Gestaltung farbiger Harmonien erfolge aus »Lebenserhaltungsgründen«.455 Dies steht im Zusammenhang mit seinem Konzept des Gesamtwerks,456 bei dem Kunstwerk und Lebensraum nicht mehr voneinander zu trennen sind. 1929 schrieb Moholy-Nagy, es gehe in der Kunst um »die wiedergewinnung der biologischen grundlagen«.457 Zu einer Rückkehr zu biologischen Prinzipien hätten »die großen geistigen vorstöße in kunst, literatur, teater, film unserer zeit, die verschiedenen erziehungs- und jugendbewegungen« beigetragen, »ebenso die körper- und atemgymnastiker sowie die naturheilärzte«.458 Die Kunst stellte er in eine Reihe mit diesen hygienischen, pädagogischen und medizinischen Bereichen. Ihr komme, so formulierte Moholy-Nagy bereits 1925, die Aufgabe zu, die »Funktionsapparate – die Zellen ebenso wie die kompliziertesten Organe – bis 451 | Mondrian, »Home–Street–City« (1926), in Holtzman/James 1993, S. 211. Es wäre zu überprüfen, ob sich nicht bei den Vertretern der De Stijl-Gruppe Konzepte finden, die dem Fokus dieser Studie eher entsprechen. Wie Mondrian kamen schließlich viele aus dem Kontext des Neoimpressionismus und könnten Sonnenkult und Lebensreform in die Prinzipien ihrer abstrakten Arbeit übertragen haben. 452 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 11. 453 | Moholy-Nagy 1947a, S. 51, auf Englisch: »building up the biological ›nourishment‹ of man«. 454 | Moholy-Nagy zit.n. S. Moholy-Nagy 1969 (1950), S. 25. 455 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 14. 456 | Ebd., S. 15; vgl. Kap. 4.5.2. Daher spricht Moholy-Nagy dezidiert nicht vom Gesamtkunstwerk. Der Begriff markiert in Abgrenzung zu Richard Wagners Begriff die konsequente Grenzauflösung zwischen Kunst und Leben. 457 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 13. Die Publikation ist gänzlich in Kleinschreibung gehalten. 458 | Ebd., S. 13.

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zu der Grenze ihrer biologischen Leistungsfähigkeit« anzusprechen und so die »Vollkommenheit des Funktionierens« dieser Apparate zu ermöglichen.459 Dies geschehe dadurch, dass Kunst in der Konfrontation mit »unbekannten optischen, akustischen und andern funktionellen Erscheinungen weitgehendste neue Beziehungen« herstelle und die Rezipierenden mit diesen konfrontiere.460 Solche biologischen und organischen Prinzipien sucht man bei Mondrian vergeblich. Ganz im Gegensatz zu diesem kritisierte Moholy-Nagy die damaligen Lebensräume als »treeless barracks«461 und machte immer wieder seine Leidenschaft für die moderne Licht- und Luftarchitektur deutlich.462 Anders als Mondrian handelte Moholy-Nagy nicht vornehmlich vom geistigen, sondern vom biologischen Menschen, den er auch als ›totalen Menschen‹ bezeichnete.463 Bei dem, was er als »biological ›bill of rights‹« in Vision in Motion formulierte, hob er erklärtermaßen auf den Menschen als intellektuelles und emotionales Wesen ab, dessen psychologisches Wohlbefinden und körperliche Gesundheit gleichermaßen zur Disposition standen und zusammengedacht werden mussten.464 Fasste Mondrian die Grundfarben in ihrer Universalität als Lebensprinzipien auf, die von der sinnlich erfahrbaren Natur soweit wie nur möglich entfernt sind und Moholy-Nagy Farben, Formen und Licht als biologisch wirksame und vitalisierende Kräfte, so einte beide die Abwesenheit eines klimatischen Farbverständnisses. Als Farbqualitäten führte Moholy-Nagy sehr allgemein die »Komplementärfarben, zentrische und exzentrische, zentrifugale und zentripetale Anordnungsmöglichkeiten der Farben, Helligkeits- und Dunkelheitswerte – Weiß- und Schwarzgehalt –, Warm und Kalt der Farben, Nah- und Fernbewegung, Leicht und Schwer der Farben« auf.465 In keiner seiner veröffentlichten Schriften ging er 459 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 28. 460 | Ebd. 461 | Diese Kritik formulierte er in The New Vision, einer Schrift, die er 1928 erstmals auf Deutsch herausgegeben und 1947 erneut überarbeitet und in englischer Sprache herausgegeben hatte: Moholy-Nagy 1947a, S. 15. Zu Moholy-Nagys Konzept einer »biologisch entwickelten Wohnungsform des Menschen« [Herv. i.O. fett] siehe Moholy-Nagy, »Der Mensch und sein Haus« (1929), zit.n. Passuth 1987, S. 326f. 462 | Moholy-Nagy bezieht sich hier u.a. auf Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Richard Neutra: vgl. Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 211, Moholy-Nagy 1947b, S. 100f. sowie Moholy-Nagy, »Raum – Zeit und der Fotograf« (1934), in Passuth 1987, S. 363f. 463 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 18: »[…] der totale mensch. der mensch, der von seiner biologischen mitte her allen dingen des lebens gegenüber wieder mit instinktiver sicherheit stellung nehmen kann; der sich heute genau so wenig von industrie, eiltempo, äußerlichkeiten einer oft mißverstandenen ›maschinenkultur‹ überrumpeln läßt, wie der mensch der antike die sicherheit hatte, sich den naturgewalten gegenüber zu behaupten«. 464 | Moholy-Nagy 1947b, o.S. (Vorwort). 465 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 11. Vgl. dazu seine ähnliche Aufstellung in MoholyNagy 1947b, S. 155.

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über diese Kategorien hinaus. Sein Konzept der belebenden Farben basierte nicht auf einer Parallelisierung dieser mit klimatischen Phänomenen, so wurden etwa thermische Qualitäten von ihm keineswegs in den Vordergrund gerückt. Moholy-Nagy behauptete, dass »[d]ie biologischen Funktionen der Farbe, ihre psychofysische [sic!] Wirksamkeit […] noch kaum untersucht« seien.466 Dies schrieb er 1925 zu einer Zeit, in der sehr wohl psychophysisches Wissen zur Farbwirksamkeit existierte und kursierte, auf das sich andere Künstler sogar eifrig stützten (Kap. 3.2.3, 3.3.1). Diese These einer mangelhaften Erforschtheit wiederholte er noch in den Dreißigern.467 1929 in Von Material zu Architektur nannte er allerdings durchaus auch die »z. t. messbaren fysischen und psychischen energien (wärme, kälte, nah- und fernwirkung, leicht und schwer der farben, luxwert usw.)«.468 Dennoch finden sich in den folgenden Jahren keine Bemühungen um eine konkrete Farbsystematik, die psychophysische Wirkungen theoretisiert. Schließlich problematisierte Moholy-Nagy die Annahme allgemeiner und universeller Wirkungsgesetze, da die Kombinationsmöglichkeiten so vielfach seien, die Wiederholung eines Reizes zu »abstumpfung« führen und die »menschliche disposition zu gewissen reaktionserscheinungen« sich ändern könne.469 Der Unterschied zu Mondrian und De Stijl könnte kaum größer sein. So forderte MoholyNagy eine Kunst, die immer neue, unerwartete Wahrnehmungen ermöglicht, die eben dadurch vitalisierend und nährend ist, weil sie Neues zu erfahren gibt (Kap. 6.8). Dies lässt sich mit der Naturheilkunde nach Arnold Rikli in Verbindung stellen, die schließlich durch wechselnde Umwelteinflüsse die Flexibilisierung und Beweglichkeit des Nervensystems erzielen wollte.470 Allerdings orientierte sich Moholy-Nagy nicht am klimatischen Wechsel von Hell und Dunkel, Warm und Kalt, Trocken und Feucht oder dergleichen. In Vision in Motion verdeutlicht Moholy-Nagy, dass der Künstler nicht rational, sondern intuitiv ans Werk gehen solle, um der Gefahr einer ›Rezeptkunst‹ entschieden entgegenzutreten, die sich sklavisch an wissenschaftliche Erkenntnisse hält. Es gebe solche Künstler, die über »the power of color« verfügen und es so schaffen, mittels einer »visual vitality« eine Art von »vigor of color«, also eine farbige Lebenskraft freizusetzen, und solche, die nicht über diese Macht verfügten.471 Wie später weiter erörtert und an Werkbeispielen diskutiert wird, interessierte sich Moholy-Nagy besonders für das Licht als Lebenskraft. Bereits Anfang der zwanziger Jahre versuchte er, das Medium des Bildes zugunsten einer Kunst

466 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 11. 467 | Moholy-Nagy, »vom pigment zum licht« (1936), in Passuth 1987, S. 430. 468 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 86. 469 | Ebd., S. 190. 470 | Für weitere Rikli-Bezüge siehe Kap. 2.5, 3.3.2, 3.7, 5.3.1-5.3.2, 6.2.1, 6.4, 6.6, 6.8.1. 471 | Moholy-Nagy 1947b, S. 134.

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mit elektrischem Licht abzulösen, was ihm jedoch nie ganz konsequent gelang.472 Dennoch wirkte er gerade mit seinen elektrotechnischen Kunstutopien auf die nachfolgende Künstlergeneration, etwa auf Piene.

3.8.3 Licht als vitale Energie: Otto Piene Piene rekurrierte seinerseits auf die Tradition der Bildmagie, als er 1961 formulierte: »Die Energie des Lichts verwandelt sich auf rätselhafte Weise über dem Felde des Bildes in vitale Energie des Sehenden«.473 Die ästhetische Erfahrung der Farben beschrieb er als »Kontinuum des Flutens, des rhythmischen Hin- und Herströmens zwischen Bild und Betrachter, das unter bestimmten formalen Bedingungen zum zwingenden Pulsschlag, zu einer totalen Vibration wird«.474 Explizit verfasste er so ein ökologisches Wirkungsmodell, das an Wassily Kandinskys und Ittens Konzepte erinnert. Piene selbst bezog sich 1958 auf Robert Delaunay und die Futuristen, welche die Farbe »als Licht, als Energie« verstanden hatten.475 Die elementaren Kräfte, insbesondere Sonne und Luft waren für Pienes künstlerische Arbeit zentral. Das Licht als »Lebenselement des Menschen und des Bildes« hing hier mit der Vorstellung des reinen Lichtes in Analogie zur Sonnenstrahlung zusammen.476 Zugleich wurde im Rahmen und in der Nachfolge von Zero eine Kunst mit den Elementen Feuer, Wasser, Licht und Luft außerhalb des Bildmediums entwickelt. 1973 definierte Piene die Aufgabe des Künstlers, an der physischen Umwelt des Menschen zu arbeiten.477 Er ging, ähnlich wie Moholy-Nagy, von einer physiologischen Wirkung der Kunst auf den Organismus aus. Weder bei Piene, noch bei Moholy-Nagy findet sich eine Farbsystematik, die die Wirkungen bestimmter Farben psychophysiologisch begründet. Klimatische Qualitäten spielten bei Piene keine Rolle, er konzentrierte sich besonders auf den Gegensatz von Licht und Dunkel, der später im Kontext der Auffassung des Bildes als Sonnenäquivalent diskutiert wird (Kap. 4.6). Ein anderer Künstler im Umkreis der Zero-Gruppierung vertrat hingegen sehr deutlich die Auffassung, dass Farbe wie das Klima Lebenskraft zu spenden vermag: Yves Klein. 1957 besuchte Piene erstmals eine Ausstellung Kleins in der Galerie Schmela in Düsseldorf und fand darin Impulse für die eigene künstleri472 | Siehe weiterführend Kap. 4.5.2. Diese Tendenz zur Immaterialisierung, zur Transparenz und Durchdringung ist nur eine Seite seiner Lehr- und Kunstpraxis: So ist Moholy-Nagy auch für seine starke Hinwendung zur Materialästhetik und zum Haptischen bekannt; vgl. exemplarisch Moholy-Nagy 1947a, S. 24. 473 | Piene, »Die Reinheit des Lichtes« (1960), in ZERO 2, S. 27. 474 | Ebd. 475 | Piene, »Die Farbe in unterschiedlichen Wertbereichen« (1958), in ZERO 1, S. 19, siehe weiterführend Kap. 4, 4.6. 476 | Piene, »Über die Reinheit des Lichts« (1960), in ZERO 2, S. 27. 477 | Piene 2004 (1973), o.S.

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sche Arbeit.478 Klein stand in engem Kontakt zu Mitgliedern von Zero, insbesondere mit Piene verband ihn eine enge Freundschaft.479 Seine künstlerische Position grenzte er dezidiert gegenüber Mondrian und auch Kasimir Malewitsch ab.480

3.9 A tmosphärische E nergie : Y ves K leins B l au als klimatische F arbe 1957 rief Yves Klein mit seiner Mailänder Ausstellung Die monochromen Vorschläge, blaue Epoche (Proposte monocrome, epoca blu) seine sogenannte Blaue Periode aus.481 Das International Klein Blue (IKB) als eine klimatisch-atmosphärische Farbe stand im Zentrum seiner Arbeit in den späten fünfziger Jahren. Das Ultramarinblau identifizierte er mit dem Himmel über Nizza. In einem autobiographischen Text von 1960 heißt es, er habe diesen Himmel als sein größtes und schönstes Werk signiert: »Als Erwachsener schrieb ich eines Tages meinen Namen auf den Rücken des Himmels in einer phantastischen realistisch-imaginären Reise, ausgestreckt auf dem Strand in Nizza«.482 Zur Beschreibung der Dimensionen des Blaus und zur Darstellung der für ihn damit verbundenen relevanten Aspekte zitierte Klein wiederholt aus Gaston Bachelards Publikation L’air et les songes: essai sur l’imagination du mouvement von 1943, in welcher der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker sich phänomenologisch dem Medium der Luft widmete.483 Klein führte daraus den Abschnitt »Der blaue Himmel« in ganzer Länge in einem Text von 1960 an. Hier differenzierte Bachelard drei verschiedene Blicke auf und in den blauen Himmel: Der erste nimmt den Himmel als verfestigtes Blau, als »gemaltes Gewölbe« (»voûte peinte«) wahr, der zweite umfasst den unbeweglichen Himmel als Fließen, das durch die vorbeiziehenden Wolken entstehe und der dritte erblickt die luftige,

478 | Vgl. Bosbach 1998, S. 257. 479 | Zur Beziehung von Klein und Piene siehe Glibota 2011b, S. 31-33. 480 | Vgl. Klein, »L’aventure monochrome« (1958), in Semin/Sichère 2003, S. 258. 481 | Vgl. Burchert 2017a, wo anhand der Mailänder Ausstellung Proposte monochrome, epoca blu (1957) der Ansatz einer unterschiedlichen energetischen Aufladung optisch fast identisch erscheinender blauer Monochrome und Kleins Konzept der pikturalen Sensibilität diskutiert werden. 482 | Klein, »Yves le monochrome 1960. Le vrai devient réalité« (1960), Semin/Sichère 2003, S. 280: »Adolescent, je suis allé signer mon nom au dos du ciel dans un fantastique voyage réalistico-imaginaire un jour où j’étais allongé sur une plage à Nice […]«. 483 | Bachelard veröffentlichte im Rahmen seiner poetischen Bildtheorien weiterhin zu den Elementen Feuer, zum Wasser, und zur Erde. Zur Einführung in Gaston Bachelards Bildbegriff siehe Pravica 2011.

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atmosphärische Natur des himmlischen Blaus.484 Bachelard diskreditierte den wolkenbehangenen Himmel und die Vögel, die er als Verschmutzung des reinen Blaus erachtete.485 Den Himmel als ›gemaltes Gewölbe‹ und als ›Luftatmosphäre‹ übernahm Klein in seine Konzeption der blauen Monochrome. Zur Beschreibung von Farben verwendete er explizit den Begriff des Klimas486 und damit einen Begriff, der in der Geschichte der Malerei keineswegs etabliert war und nach den Rechercheergebnissen zu dieser Arbeit im Zeitraum bis 1960 explizit bezogen auf Farben in Kunstwerken nur bei Josef Albers gefallen ist.487 Jede Farbe, so heißt es bei Klein, sei eine »lebendige Welt« (»un monde vivant«).488 Seine Monochrome stellten für ihn so gleichermaßen lebendige Welten dar, die je eine spezifische Atmosphäre erzeugen sollten. Das Blau spielte eine herausragende Rolle für den Künstler.489 Er bestimmte Blau als abstrakteste und immateriellste Farbe, die selbst optische Unebenheiten beseitige.490 Während andere Farben Assoziationen an Gegenstände erwecken, sei Blau frei davon: Zum einen garantiere es eine gewisse Uniformität und Glätte der Bildfläche, zum anderen stelle es eine Tiefe und Weite her, welche die optische Überwindung des materiellen Trägers mit sich bringe.491 Es ist eine atmosphärische Grenzenlosigkeit, die Klein am Blau schätzte.492 Besonders interessierte er sich für den energetischen Charakter der Farbe, den auch Johann Wolfgang von Goethe in seiner Farbenlehre beschrieben hatte:

484 | Vgl. Bachelard zit. durch Klein, »L’aventure monochrome« (1958), in Semin/Sichère 2003, S. 249. 485 | Bachelard zit. ebd. 486 | Vgl. exemplarisch ebd., S. 236. 487 | Vgl. Kap. 2.1. 488 | Klein, »Texte de présentation de l’exposition Yves Peintures aux Éditions Lacoste, 15 octobre 1955«, ebd., S. 40. 489 | Wenngleich Klein einige Monochrome mit Goldfarbe und aus Magenta herstellte, äußerte er sich konzeptionell zu diesen so gut wie gar nicht, sondern hob stets das Blau hervor. Seegers führt Kleins Farbwahl auf die Alchemie zurück, das Magenta symbolisiere den alchemistischen Prozess der Rubedo (Rötung), welche »der Vollendung des opus magnum, der Erschaffung des ›Steins der Weisen‹ resp. des ›Goldes‹ unmittelbar vorausgeht« (Seegers 2003, S. 124). Das Blau deutet sie als Vergeistigung der Materie (ebd., S. 125). 490 | Klein, »Réalisation à Gelsenkirchen« (um 1958), in Semin/Sichère 2003, S. 78. 491 | Klein, »Discours à la Commission du théâtre de Gelsenkirchen« (um 1958), ebd., S. 74. 492 | Klein, »Conférence à la Sorbonne« (1959), ebd., S. 138: »Le bleu n’a pas de dimensions. Il est hors de dimensions, tandis que les autres couleurs elles, en ont«.

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Das Bild als Lebensraum »Blau, diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie […] und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick.« 493

Wurden dem Blau im Kontext der Farbentherapie und bei Goethe kühlende, zusammenziehende Wirkungen zugeschrieben, fokussierte Klein sich auf andere Qualitäten dieser Farbe – ihre Nicht-Fassbarkeit, Immaterialität, Reinheit und Energie. Er betonte immer wieder, dass das Wesentliche seiner Kunst nicht die bemalte Fläche sei: Die Gemälde seien nur die Asche (»cendres«) seiner Kunst,494 das Eigentliche sei gar nicht sichtbar. Dieses Eigentliche bezeichnete Klein als ›kosmische‹ oder ›pikturale Sensibilität‹: »Die authentische Qualität der Leinwand, ihr Eigenes, findet sich, einmal erzeugt, jenseits des Sichtbaren, als pikturale Sensibilität der Urmaterie«.495 Diese Sensibilität stellt eine Art Aura dar, die eine Überwindung des Materiellen herbeiführt. Klein bestimmte sie als Eigenschaft bzw. Medium von Farbe: Farbe bade in »kosmischer Sensibilität« (»sensibilité cosmique«), die Sensibilität habe keine Risse und Winkel, sie sei wie die »Feuchtigkeit in der Luft« (»l’humidité dans l’air«).496 Insofern beschrieb er die ›kosmische Sensibilität‹ als klimatisches Phänomen. Das Bild sollte aufhören, Bild zu sein, um sich als rein atmosphärische Energie mit der Umgebung zu verbinden.497 Bereits seit 1957 schuf Klein eine Reihe von Werken mit Naturschwämmen, darunter auch Skulpturen. Schwämme hatte er schon früher als Werkzeuge zur Herstellung seiner Monochrome benutzt. In der Arbeit mit dem Medium des Schwammes lernte er dessen Fähigkeit schätzen, Flüssigkeiten zu absorbieren. Die auf seine monochromen Leinwände angebrachten Schwämme bezeichnete er als »Portraits der ›Leser‹« seiner Monochrome.498 Die Wirkung seiner Kunst hob auf eben diese absorbierenden und imprägnierten Betrachtenden ab, die Schwämmen gleich die Energien der Arbeiten in sich aufnahmen: So beschrieb Klein, dass die Betrachtenden nach ihrer ›Reise‹ durch die blauen Bilder wie Schwämme von Sensibilität imprägniert seien.499 Die Auflösung der Distanz zwischen Rezipient/-in und Bild wird dabei metaphorisch mitreflektiert.

493 | Goethe 1953 (1810), S. 329; vgl. Kap. 3.2.3. 494 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959) in Semin/Sichère 2003, S. 82. 495 | Ebd., S. 83: »L’authentique qualité du tableau, son ›être‹ même, une fois créé, se trouve au-delà du visible, dans la sensibilité picturale à l’état matière première«. 496 | Klein, »Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur« (1958), ebd., S. 49. 497 | Vgl. Wember 1972, S. 14. 498 | Klein, »Remarques sur quelques œuvres exposée chez Colette Allendy« (um 1956), in Semin/Sichère 2003, S. 54: »portraits des lecteurs de mes monochromes«. 499 | Ebd.; vgl. Burchert 2017a, 201f.

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Die Dimensionen der blauen Monochrome in den fünfziger Jahren variieren, von kleinen Arbeiten in den Maßen 24 × 19 cm, zu etwas größeren von 92 × 73 cm bis zu den riesigen monochromen Relief bildern für das Musiktheater Gelsenkirchen (1959), von denen eines 7 × 20 m und das andere 5 × 10 m misst. Weniger um das Großformatige ging es Klein jedoch, sondern vielmehr um die Aussendung einer Energie, die der Künstler in sie hineingab. Dies war ihm zufolge nicht ein Problem des Formats, sondern eines des Grades an Immaterialität und der künstlerischen Energiezufuhr ins Bild (Kap. 5.4). Neben der Analogie zur Luftfeuchtigkeit rekurrierte Klein auf die Lichtqualität der Farbe. So bezeichnete er das Grundprinzip seiner Kunst als »Ausstrahlung« (»rayonnement«)500 und suchte nach einem Verfahren zur Steigerung der Strahlkraft der Farbe. Gemeinsam mit dem Farbenhändler Edouard Adam hatte er ein spezielles Bindemittel entwickelt. Dieses bestand aus dem Ultramarin-Pigment 13111, Rhodopas und Polyvinylacetat und ermöglichte die Konservierung einer besonderen, ungetrübten Leuchtkraft des reinen Pigments auf der Leinwand.501 Strahlung und Imprägnierung durch die klimatisch verstandene Farbe Blau bestimmten die erwünschte Bildwirkung. Wie bei Johannes Itten, František Kupka und Max Burchartz hing Kleins Bildmodell mit Konzepten der Lebensenergie und der Wirkung auf Lebensprozesse zusammen, die er als ›kosmische Sensibilität‹ fasste. Von jedem Bild sollte etwas ausgehen, das über die bloße Erscheinung der Bildfläche, ihr Gemaltsein, hinausgeht.502 Hier zeigt sich Kleins Affinität zur Esoterik, die sich etwa in seiner gründlichen Lektüre von Max Heindels Die Kosmogonie der Rosenkreuzer (1909) manifestierte (Kap. 5.5.3). So definierte Klein die ›Sensibilität‹ als »Währung des Universums«, mit der man »Leben im Zustand der Urmaterie« erwerben könne.503 Die Sensibilität fasste er als eine universelle Lebenskraft, die das ganze Universum durchdringt und Voraussetzung des Lebens darstellt. Klein nahm für sich in Anspruch, Schöpfer von Leben zu sein:504

500 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 84. 501 | François/Perlein 2012, S. 29. Siehe hierzu auch Klein, »Remarques sur quelques œuvres exposée chez Colette Allendy« (um 1956), in Semin/Sichère 2003, S. 53. 502 | Klein, »L’évolution de l’art vers l’immatériel. Conférence à la Sorbonne« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 138. 503 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), ebd., S. 103: »La sensibilité est la monnaie de l’univers, de l’espace, de la grande nature qui nous permet d’acheter de la vie à l’état matière première!«. 504 | Klein, »L’aventure monochrome« (1958), ebd., S. 237: »[…] c’est la vie elle-même qu’ils [les artistes] créent«. Diesen Impetus vertraten auch Itten und László Moholy-Nagy (Kap. 3.7, 3.8.2).

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Malerei begriff er als »ätherischen Leim« (»colle éthérique«),505 imprägniert durch »ausstrahlendes Leben« (»vie rayonnante«).506 Klein ist in die Tradition von Malern einzuordnen, welche die Farbe im Kontext des sich auch in der Moderne fortgeführten disegno-colore-Disputs als »Seele der Kunst« aufgewertet wissen wollten.507 Jedoch vermied er den vor allem durch Eugène Delacroix verwendeten Begriff der Seele. Er ersetzte ihn durch »Sensibilität« (»sensibilité«) und »reine Energie« (»énergie pure«).508 Dementsprechend beschrieb der Kunstkritiker und Klein-Wegbegleiter Pierre Restany die »kosmische Sensibilität« als ein »vitalistisches Prinzip«,509 eine »kosmische[…] Energie, die die eigentliche Essenz des Lebens« darstelle.510 Sie sei als »reine Energie« zu verstehen511 und bezeichne einen Stoff, der ohnehin im Kosmos enthalten ist, aber sich in der Kunst Kleins in besonderer Konzentration findet. Seine konsequente Weiterentwicklung erhielt dieses Prinzip in der Pneumatischen Periode, die Klein auf seine Blaue Periode folgen ließ. Der Terminus des Pneumas gibt Aufschluss über das Lebenskraftkonzept Kleins und dessen Verbindung mit dem Klimabegriff. Das sogenannte pneuma hagion bezeichnet im Griechischen den göttlichen Lebenskeim.512 Gemäß den Stoikern werde das Pneuma »mit der Luft eingeatmet, mischt sich dem Blute bei, verteilt sich in die Adern und damit in verschiedene Ströme, welche, vom Herzen den verschiedenen Organen zugeführt, die entsprechenden Funktionen ausüben«.513 Es ist jenes Lebensprinzip, welches das gesamte Universum durchzieht. Nicht nur als Atemspender, auch als Transporteur von Wärme fungiert das Pneuma.514 Es könne als der »pantheistische und vitalistische Zwilling des physikalischen ›Äther‹« beschrieben werden, so Jürgen Stöhr: »Als ›Weltgeist‹, ›spiritus mundi‹ oder ›materia prima‹ durchdringe das feinstofflich-belebte Pneuma die Welt. Pneuma durchzieht alles Seiende als warmer Hauch«.515 Für Klein war das Pneuma nicht so sehr mit dem Prinzip der Wärme, doch aber mit dem Leben verbunden. Streng genommen hat das Pneuma bei Klein keine spezifischen klimatischen Qualitäten in einem modernen Sinne: Zentral war für ihn die Immaterialität des Blaus, die als Äquivalent zu Luftfeuchtigkeit und Strahlung eine energetisierende Wirkung ausüben konnte. Er bezog sich 505 | Ebd., S. 248. 506 | Ebd. 507 | Dazu vgl. Krieger 2006. 508 | Klein, »L’aventure monochrome« (1958), in Semin/Sichère 2003, S. 234. 509 | Restany 1982, S. 8. 510 | Ebd., S. 39. 511 | Seegers 2003, S. 113. 512 | Steinaecker 2000, S. 21. Siehe weiterführend Kap. 5.3.1. 513 | Putscher 1974, S. 17; vgl. Charlet 2000, S. 89. 514 | Siehe exemplarisch Putscher 1974, S. 8 und S. 12. 515 | Stöhr 2008, S. 163.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

vornehmlich auf antike und (neo-)vitalistische Ideen, jedoch wird später anhand seiner architektonischen Entwürfe deutlich, dass er sich durchaus zeitgleich in einem modernen Sinne mit dem Klima auseinandersetzte und klimatologisches Wissen mit esoterischen Konzepten verband.516 Der Übergang von der Blauen zur Pneumatischen Periode lässt sich in der Pariser Ausstellung Le Vide an der Galerie Iris Clert im Jahr 1958 ablesen. Der volle Titel lautete Die Spezialisierung der Sensibilität im Zustand der Urmaterie als dauerhafte malerische Sensibilität, die Leere.517 Entsprechend unternahm Klein eine radikale Dematerialisierung des Blaus: Er hängte nun keine Monochrome mehr, sondern weißte die Wände des etwa 20m² großen Galerieraumes. Lediglich der Eingangsbereich war blau gestrichen, am Hauseingang hing ein blauer Baldachin. Beim Betreten der Ausstellung wurde den Besuchenden ein blauer Cocktail gereicht. Klein beschrieb sein Projekt folgendermaßen: »Alles soll weiß sein, um das pikturale Klima der blauen, immateriellen Sensibilität aufzunehmen«.518 Die Übermalung der Wände mit neutralem Weiß verstand sich auch als Reinigung. Das Ziel war die Verfeinerung der Atmosphäre der Galerie. Auf diese Weise sollte ein »autonomes und stabiles pikturales Klima«519 hergestellt werden. Restany berichtete zudem, dass der Raum von einem bläulichen Licht »temperiert[…]« wurde.520 So war das Glas des zur Straße gewendeten Galeriefensters blau gestrichen.521 Wiederholt fällt bei Klein der Begriff des Klimas. An anderer Stelle beschrieb er das Projekt als »die Erzeugung einer Umwelt, eines realen pikturalen Klimas, welches daher unsichtbar ist«.522 Obwohl Klein ein Environment schuf, wendete er sich nicht ganz vom Bild ab, sondern sprach selbst noch von einem Gemälde. Es gehe nicht mehr darum, die Farbe zu sehen, sondern sie wahrzunehmen: »Gegenwärtig sind meine Gemälde unsichtbar«.523 Insofern stellte Klein seine Ausstellung in eine Kontinuität zu seinen Monochromen. Das, was im Galerie516 | Zum Vitalismus vgl. Kap. 1.2; zu Kleins und Werner Ruhnaus Klimautopie siehe Kap. 5.5. 517 | Frz.: La spécialisation de la sensibilité à l’état de matière première en sensibilité picturale stabilisée, Le Vide. 518 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 89: »Tout sera blanc pour recevoir le climat pictural de la sensibilité du bleu immatérialisé«. 519 | Ebd., S. 88: »climat pictural […] autonome et stabilisé«. 520 | Restany 1982, S. 49. 521 | Banai 2004, S. 23. 522 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 84: »[…] création d’une ambiance, d’un climat pictural réel et à cause de cela même invisible« [Herv. d. Verf.]. 523 | Klein, »Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur« (1958), ebd., S. 51: »[…] à présent mes tableaux sont invisibles«.

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Das Bild als Lebensraum

raum spürbar werden sollte, war dieselbe kosmische Sensibilität, die Klein durch seine Bilder zu erzeugen suchte. Wie das Klima sollte das Bild gar nicht mehr vorrangig über den Gesichtssinn wahrgenommen werden: Die Asche (»cendres«) seiner Kunst, die materielle Farbe, war nun selbst nicht mehr sichtbar, Farbe konnte als atmosphärisches Phänomen über andere Sinne spürbar werden.524 Kunst solle nicht mehr Funktion des Auges, sondern Funktion des Lebens sein.525 Ziel seiner Ausstellung bei Iris Clert war also die Herstellung eines Klimas, in das die Besucher/-innen eintreten und welches diese durchdringen sollte. Dabei behandelte Klein seinen Klimaraum als eine Art Kurort und zu schützenden Naturraum: Der Eintritt für die nicht geladenen Gäste betrug 1.500 Francs. Die Begründung liest sich folgendermaßen: »[D]ie Besucher könnten, ob bewusst oder unbewusst und allen meinen Versuchen und Kraftanstrengungen, die Ausstellung in Stand zu halten, zum Trotz mich durch Imprägnation des Grades an Intensität berauben«.526 Das Klima bleibe demnach vom Strom der Besucher/-innen nicht unbeeinflusst: Der Stoff – die Sensibilität der Luft – scheint begrenzt. Er drohte aufgebraucht oder verschmutzt zu werden, und musste durch Interventionen und Regularien durch den Künstler geschützt werden. Im Ausstellungsraum vollziehen sich demzufolge gemäß Klein Stoffwechselprozesse, die das Raumklima verändern. Damit entwarf er ein ökologisches und zugleich kapitalistisches Kunstmodell, das über die bislang dargestellten Bildkonzepte hinausgeht. Schließlich blieb es nicht bei einer einseitigen Rezeption: Klein postulierte eine Rückwirkung der Rezipierenden in den Raum. So wird der Kunstraum als veränderlicher Lebensraum fassbar. Später, um 1961, verkaufte Klein nicht gegen Geld, sondern gegen Gold auch außerhalb des Ausstellungskontexts sogenannte Zonen pikturaler, immaterieller Sensibilität.527 Sprach Klein selbst von der Reinigung der Atmosphäre des Galerieraumes in Le Vide, ging Restany in seiner Deutung noch weiter. Er bestimmte den Ausstellungsbesuch bei Iris Clert als »äußerst wohltuende Kur asthenischer Stille« für all die »von der Maschine und der Großstadt Vergifteten, […] frenetischen Liebhaber[…] des Rhythmus und […] Masturbanten des Realen«.528 Das Blau hatte Klein schließlich mit dem Kurort Nizza verbunden, der gleichermaßen als Refugium und ländlicher Heilort gilt. Dieser zeichnet sich aus bioklimatologischer Sicht durch eine »geschützte Lage«, mildes Klima,529 sowie durch die »Reinheit, 524 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), ebd., S. 82. 525 | Ebd., S. 80. 526 | Ebd., S. 86: »[…] les visiteurs […] pourront, malgré moi, bien que je retiendrai de toutes mes forces l’ensemble de l’Exposition en place, m’en dérober par imprégnation, consciemment ou non, quelque degré d’intensité«. 527 | Frz.: Zones de Sensibilité Picturale Immatérielle. Dieser Verkauf oder Tausch wurde als Ritual inszeniert, dazu siehe Seegers 2003, S. 119-123. 528 | Selbstzitat in Restany 1982, S. 23. 529 | Sigmund 1859, S. 65.

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären

Sonnenhelle und Trockenheit der Luft« aus.530 Klein selbst stellte Verbindungen dieser spezifischen Qualitäten zu seinen pikturalen Klimata nicht explizit her. Die Zuschreibungen Restanys sind sicherlich mit Vorsicht zu genießen, doch zeigen sie auf, in welche Richtung die Deutungen der Zeit gingen. Davon zeugt auch eine Überlegung Otto Pienes zur künstlerischen Produktion und Farbwahl in eher heißen Klimaräumen. Ihm zufolge könne ein Ultramarinblau dort eine abkühlende und daher wohltuende Wirkung entfalten (Kap. 4.6). Kleins Klimakonzept fußt auf einer Farbe, der traditionell eine kühlend-beruhigende, zugleich energetische, immaterielle und reinigende Qualität zugeschrieben wird. Nizza als milder Kurort fügt sich in dieses Konzept gut ein. Auch in der Werkgruppe der Kosmogonien wendete sich Klein natürlichen Kräften zu. Rotraut Klein-Moquay stellt in einem Interview dar, dass es Klein hier um die Erfassung der »uns umgebenden Energieströme im kosmischen Kreislauf« gegangen sei.531 Die Arbeiten entstanden dadurch, dass mit Pigmentpuder eingefärbtes Papier Wind und Wetter ausgesetzt wurden. Sie sind als Spurenbilder zu verstehen, als Ergebnisse der Einwirkung natürlicher Kräfte. Eine direkte Wirkmacht wird diesen Bildern selbst, im Gegensatz zu den Monochromen, allerdings nicht zugesprochen. Sie zeugen vielmehr von Kleins Interesse für Umweltenergien. Klein reflektierte 1958 die lebensräumliche Wirkung, die er mit seiner Kunst erreichen und die er später mit Werner Ruhnau als technisches Eden umsetzen wollte: »Natürlich werde ich dem Weg zu meinem Sujet weiter folgen, nämlich dem Raum, dem reinen Geist, welcher jedoch die selbe Natur hat wie die Landschaft oder die Küste, die von unseren wahren Künstlern der Vergangenheit geliebt wurden; dort werde ich ein immenses immaterielles Gemälde einer unvergleichlichen und strahlenden Stabilität und echten Bewegtheit erzeugen.« 532

Klein stellte so eine Verbindung zwischen der repräsentierten Natur der Landschaftsmaler vorangegangener Epochen und seinen eigenen monochromen Arbeiten her. Allerdings verglich er seine geplanten Werke nicht mit historischen Gemälden, sondern mit der Natur selbst. Damit formulierte er deutlich die Idee der Schöpfung eines natürlichen Lebensraumes durch die Kunst.

530 | Ebd., S. 81. 531 | Klein-Moquay zit.n. Seegers 2003, S. 127. 532 | Klein, »L’aventure monochrome« (1958), in Semin/Sichère 2003, S. 264: »Évidemment, j’irai dans ma promenade à un motif qui sera l’espace, l’esprit pur, mais c’est la même nature que la campagne, ou la plage merveilleuse qu’aimaient nos vrais peintres d’avant; là, alors, je créerai un tableau immense, immatériel, d’une staticité stabile inégalable et rayonnante de mouvement réel«.

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Das Bild als Lebensraum

Aus Kleins esoterisch-vitalistischem Verständnis einer alles durchdringenden Lebenskraft ergeben sich Parallelen zu Wassily Kandinsky, Otto Nebel, Itten und Piene. Eine Verbundenheit aller Künstler ergibt sich aus der Tatsache, dass sie Farbe als atmosphärische, ausstrahlende Wirkmacht verstanden. In sehr unterschiedlichem Maße integrierten sie die klimatischen Qualitäten der Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit sowie des Elektromagnetismus in ihre Farbkonzepte. Klein, der als einziger konkret von seinen Werken als Klimata sprach, fällt paradoxer Weise durch seine Ableitung des Klimabegriffs aus der antiken Pneumalehre am meisten heraus. Durch die zentralen Ziele der Stabilisierung, also auch der relativen Beständigkeit der Erscheinungen im Vergleich zum Wetter, sowie die zusätzlich hergestellten Bezüge zu klimatischen Umweltqualitäten rekurrierte Klein aber auch auf zentrale Charakteristika von Klima in einem naturwissenschaftlichen Sinne. Als einziger der bislang behandelten Künstler arbeitete Klein monochrom. Im folgenden Kapitel werden Aspekte einer Reduktion der Farbpalette bis hin zu den fast monochromen Werken Pienes zur Erzeugung von Bildern als Sonnenäquivalenten erneut eine Rolle spielen.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Neben dem Klima diente das Sonnenlicht im 20. Jahrhundert als wesentliches Modell für künstlerische Farb- und Lichtkonzepte. Während Johannes Itten sich mit den Qualitäten der Jahreszeiten und ihren farbigen Energien auseinandersetzte, fokussierten andere Künstler dezidiert das reine Licht als Wirkkraft, die reinigen, stärken und harmonisieren konnte. Dabei traten nicht bestimmte Farben und ihre Qualitäten innerhalb einer spezifischen Atmosphäre in den Vordergrund. Stattdessen wollten Robert Delaunay und František Kupka die Farben des Spektrums zu einer reinen Lichtgestalt zusammenschließen und vom Bild ausstrahlen lassen (Kap. 4.1-4.2). Von den Werken sollte ein der Sonne äquivalentes, intensives Leuchten ausgehen – unabhängig von Phänomenen wie atmosphärischer Dichte, Temperatur und Feuchtigkeit. Das reine, alles durchdringende Licht der Sonne erhoben Maler und Philosophen schon vor dem 20. Jahrhundert zu einem unerreichbaren Ideal. August Wilhelm Schlegel problematisierte in seiner Kunstlehre um 1800, dass der Künstler »kein wahres Licht« habe, »um es von der Palette auf die Leinwand zu übertragen, sondern bloß Pigmente«.1 So könne der Künstler nur mit »schwachen Mitteln ausgerüstet« den Kampf »gegen die Allmacht der Sonne« antreten.2 Der Philosoph Otto Friedrich Gruppe erörterte in seinem Aufsatz »Ueber malerische Illusion« (1829), dass der Maler »den Pinsel nicht auch ein wenig in’s Licht tauchen« könne und der Farbstoff »mit dem Licht etwas ganz Incommensurables« sei.3 Die Utopie des Bildlichtes als Äquivalent zum Sonnenlicht wurde unter anderem von Paul Gauguin Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert: »Die Farbe in Sonnenlicht verwandeln… Was käme dem gleich? Der reinen Farbe, ihr muss man alles opfern«.4 Paul Cézanne formulierte ebenfalls den Anspruch, mittels Farbe ein Gleichnis 1 | Schlegel zit.n. Pietsch 2008, S. 26f. Bei der Kunstlehre handelt es sich um die sog. Jenaer Vorlesungen von 1798/99. 2 | Ebd. 3 | Gruppe zit.n. ebd., S. 27. 4 | Gauguin zit.n. Charlet 2000, S. 193.

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Das Bild als Lebensraum

des Sonnenlichtes herzustellen: »[A]ber ich war zufrieden mit mir, da ich herausfand, dass sich die Sonne beispielsweise nicht reproduzieren lässt, man sie aber durch andere Mittel repräsentieren kann«.5 Während Vincent van Gogh etwa in Werken wie De zaaier (Der Sämann) ein intensives Strahlen der Sonne fast monochrom mit intensivem Gelb zu erzeugen suchte,6 war die Herstellung von Leuchtintensität durch das Zusammenwirken vieler Farben grundlegend für den Neoimpressionismus. Gemäß Paul Signac kämen hier lediglich die »reinen Farben« zur Anwendung, also jene Farben, die dem »Sonnenspektrum[…] am nächsten kommen«, um »den höchst möglichen Grad an Leuchtkraft, an Farbenglanz und an Harmonie zu erreichen«.7 So heißt es bei Signac weiter: »Die ganze Bildfläche strahlt von Sonne. Wir fühlen die Luft schwingen. Die Formen werden vom Licht umhüllt, geliebkost und umstrahlt, überall dringt es durch […]«.8 In Deutschland wurde der Neoimpressionismus um 1900 maßgeblich durch den Sammler Harry Graf Kessler gefördert. In einer Verteidigung der neoimpressionistischen Kunst hob dieser im Jahr 1903 hervor, dass hier »die Farben zu schimmerndem Licht erweckt« und das »Licht des Bildes zum Lichtschmuck des umgebenden Raumes erweitert« würden.9 Licht werde hier nicht repräsentiert, sondern in Form »physiologische[r] Wirkungen im Auge« als »Lichteffekt« hervorgerufen.10 Alexandre Kostka arbeitet heraus, dass Kessler im Rekurs auf Friedrich Nietzsche die Farbflecke der neoimpressionistischen Gemälde als »Energiepartikel« auffasste, »die den Betrachter energetisch aufladen können«.11 Kostka beschreibt in diesem Zusammenhang die Annahme einer heilenden Bildwirkung durch den Lebensreformanhänger Kessler: Die von Nervosität und Unausgeglichenheit geprägte Psyche des Menschen sollte – analog zu den einzelnen Farbpartikeln im Bild – sich neu und in harmonischer Weise zusammenschließen und zu einer Ganzheit erwachsen.12 Eben diese Wirkung wurde dem Sonnenlicht in der Lebensreformbewegung zugeschrieben. In der abstrakten Kunst seit 1910 wurden Äquivalente des reinen (Sonnen-) Lichtes mitunter zum einzigen Bildinhalt. Um dieses wirkmächtig werden zu 5 | Cézanne zit.n. Hautecœur 1963, S. 257: »[M]ais j’ai été content de moi, lorsque j’ai découvert que le soleil par exemple ne se pouvait pas reproduire, mais qu’il fallait le représenter par autre chose«. 6 | Nicht abgedruckt: Vincent van Gogh, De zaaier (Der Sämann), 1888, Öl auf Leinwand, 64 × 80,5 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo. Vgl. Schöne 1989, S. 197f. Dieser Ansatz wird anhand von Otto Piene weiterverfolgt (Kap. 4.6). 7 | Signac zit.n. Witte 1996, S. 219. 8 | Signac 1910, S. 52. 9 | Kessler zit.n. Kostka 1996, S. 205. 10 | Kessler zit.n. ebd. 11 | Ebd., S. 209. 12 | Ebd.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

lassen, galt es, das Bild als Medium der Ausstrahlung auf die Betrachtenden hin zu öffnen. Nicht nur die Untersuchungen des Sonnenlichts durch Isaac Newton wurden hier relevant, sondern auch weitaus ältere, religiöse Traditionen der Ikone, durch die das göttliche Licht sonnengleich präsent werden sollte (Kap. 1.3, 4.3, 4.6). Die Sonne als Symbol des künstlerischen Fortschritts und die Strahlung im weitesten Sinne als Bildmotiv waren in anderer Form auch im Futurismus von Bedeutung.13 Daniela Mondini und Felix Studinka erläutern die zentrale Differenz zwischen dem futuristischen Sonnenverständnis und dem jener Avantgardisten, die der Naturheilkunde nahestanden. Das Licht der Futuristen sei »nicht jenes der Lebensfreude spendenden Mittelmeersonne, sondern des brutalen künstlichen Lichts: Die prometheische Poesie der Futuristen nährte sich vom elektrischen, mithin vom Menschen geschaffenen Licht, das der Welt den Weg ins Zeitalter der Kommunikation und der Geschwindigkeit erhellte«.14 Beim frühen Delaunay, Paul Klee und Otto Nebel waren es die Sonne und die Lichtatmosphäre im Mittelmeerraum und bei Kupka die Sonne in seinem eigenen Garten in Puteaux, die Vorbildcharakter einnahmen. Die Futuristen hingegen wendeten sich nicht der Sonne als Licht- und Energiequelle zu, wie sie von den ›naturnahen‹ Lebensreformern verehrt wurde, sondern feierten die Elektrizität und die Geschwindigkeit. Die Elektrizität konstituierte jedoch nicht nur die Lichtutopien der Futuristen, sie spielte auch in der modernen Naturheilkunde eine Rolle und wurde in diesem heilkundlichen Sinne vom Sturm-Künstler Nikolaus Braun sowie von László Moholy‑Nagy aufgegriffen. Es zeigen sich, ähnlich wie im vorherigen Kapitel, mitunter bildkritische Ansätze und Entwicklungen, die vom Tafelbild wegführen, und neue Medien und Potentiale von Kunst erproben (Kap. 4.5). Eine Vielzahl der künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Kraft der Sonne bediente sich naturwissenschaftlicher und daraus abgeleiteter naturheilkundlicher, ebenso wie esoterischer Ansätze. Bei Kupka wird die Verbindung der drei Linien besonders deutlich, während anhand von Wassily Kandinsky das in der ersten Jahrhunderthälfte kursierende biologische Wissen zur heilsamen Wirkkraft des Sonnenlichtes evident wird (Kap. 4.4). Bei Otto Piene sucht man hingegen vergeblich nach wissenschaftlichen Referenzen und findet eine sehr allgemeine Übertragung der Sonnen- als Lebenskraft auf das Bild vor (Kap. 4.6). 13 | Im am 11.4.1910 von Boccioni und anderen unterzeichneten »Technischen Manifest« der futuristischen Malerei heißt es: »Außerhalb der Atmosphäre, in der wir leben, ist nur Finsternis. Wir Futuristen steigen zu den höchsten und leuchtendsten Gipfeln auf, und wir rufen uns als die Herren des Lichts aus, denn wir trinken schon aus den Quellwassern der Sonne« (in Asholt/Fähnders 1995, S. 16). 14 | Mondini/Studinka 1996, S. 342. Dazu vgl. das von zahlreichen Futuristen unterschriebene »Manifest gegen das passatistische Venedig«, wo die Rede von der Heraufkunft des »Reich[es] des göttlichen elektrischen Lichtes« ist, das »Venedig von seinem käuflichen Mondschein der möblierten Zimmer […] befreien« sollte (in Asholt/Fähnders 1995, S. 16).

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Das Bild als Lebensraum

Die durch Kessler angesprochenen Aspekte einer Harmonisierung und Energetisierung durch das Licht erweisen sich als zentral. Formal zeigt sich dabei eine Spannbreite zwischen vielfarbigen Sonnenäquivalenten und monochromen Ansätzen.

4.1 D as B ild als S onne : R obert D el aunay Robert Delaunay war wichtiger Impulsgeber für viele Künstler seiner Zeit und stand in Kontakt zu zahlreichen Kollegen in Deutschland, so etwa zu Wassily Kandinsky, Paul Klee und August Macke. Ähnlich wie bei Klee und František Kupka nahm die Beobachtung der farbigen Lichter in der Natur gerade für sein Frühwerk einen zentralen Stellenwert ein. In einem Brief im Jahr 1912 an Macke betonte Delaunay, dass er nur durch die Beobachtung der Natur und ihres leuchtenden Wesens die Gesetze des Komplementärkontrastes und der Simultaneität erkannt habe.15 Der Künstler hob so hervor, dass er keine theoriebasierte Auseinandersetzung mit den optischen Gesetzen vornahm, wie sie in der Forschungsliteratur unter Verweis auf die Farbgesetze des Chemikers Michel Eugène Chevreul häufig anklingt. Den Ansatz, die Lichtatmosphäre direkt in der Natur zu untersuchen, bekräftigte Delaunay in einem weiteren Brief an Macke aus demselben Jahr: »Die größte Bedeutung aber messe ich der Beobachtung der Bewegung der Farben zu. […] Hier finde ich das Wesentliche zur Darstellung – das nicht aus einem System oder einer vorgefertigten Theorie entstammt«.16 Die Rede von dem Wesen der Bewegungen der Farben im Licht weist auf die Operation der Abstraktion von der Natur hin, die darauf zielte, natürliche Gesetzmäßigkeiten aus der Anschauung heraus abzuleiten. Die Aufenthalte von Robert und Sonia Delaunay in Portugal und Spanien Anfang der zehner Jahre werden, wie die Tunisreise Klees, in den Selbstaussagen zum Ausgangspunkt für die Farbkonzepte des Künstlerpaares erklärt.17 In einem Briefentwurf Delaunays heißt es 1912: »Im kalten und transparenten Licht Madrids folgte eine Reihe an Bildern, Studien, die unter den Strahlen der Sonne angefertigt wurden, die humaner […] waren als jene in Portugal«.18 Das Licht Spa15 | Delaunay in einem Brief an Macke (1912), in Francastel/Habasque 1957, S. 186. 16 | Ebd.: »Mais où j’attache une grande importance, c’est à l’observation du mouvement des couleurs. […] Là, je trouve l’essence représentative – qui ne naît pas d’un système ou d’une théorie à priori«. 17 | Bei Sonia Delaunay lässt sich kein dezidiert ökologisches Bildmodell identifizieren, auch wenn sie ihre Farbverwendung gleichermaßen auf Beobachtungen des natürlichen Lichtes gründete, vgl. den letzten Abschnitt dieses Unterkapitels. 18 | Delaunay in einem Briefentwurf an Nicolas Maximovitsch Minsky (1912), ebd., S. 127: »À la lumière froide et transparente de Madrid succède une série de tableaux, études faites sous les rayons de soleil plus humains, plus proches du Portugal«.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

niens beschrieb er wiederholt als besonders durchsichtig, klar, ohne Trübung, was die Beobachtung des reinen Sonnenlichtes in besonderer Weise ermöglichte.19 In Notizen von 1923 und 1924 erinnerte Delaunay sich wiederholt an seine Arbeit unter der Sonne Spaniens und betonte die Notwendigkeit für den Maler, zu reisen – »um in seiner ganzen Person und Kraft, als Mensch in der Natur, eine Art Nährung zu erfahren: Horizonte, Räume, Lichter in sich aufzunehmen«.20 Wie aufgeladen von den Sonnenstrahlen und der Licht- und Farbenergie zehrte er, ähnlich wie Klee es ausdrückte, noch in den folgenden Jahren von den dort gewonnenen Eindrücken. Ausgehend davon entwickelte er seine Soleils und den Anspruch, mit diesen eine Bildwirksamkeit in Analogie zur Sonne zu erzeugen. Neben einer phänomenologischen Herangehensweise, die am ehesten Klee, Otto Nebel und die Tradition Johann Wolfgang von Goethes ins Gedächtnis ruft, widmete sich Delaunay noch einem weiteren, konträren Ansatz. So erinnerte sich der Schriftsteller Blaise Cendrars daran, dass sein Freund das Licht der Sonnenstrahlen über Monate durch einen schmalen Spalt in einem abgedunkelten Raum studiert, diesen Spalt später vergrößert und das dadurch entstehende, schimmernde Farbenspiel malerisch auf Glas festgehalten hatte.21 Die analytische Vorgehensweise entspricht Isaac Newtons Methode der Analyse des Spektrums des reinen, weißen Lichtes. Insofern bediente sich Delaunay offenbar auch des physikalischen Lichtverständnisses Newtons, nach dem sich das weiße Licht aus Spektralfarben zusammensetzt. Damit knüpfte er an die prismatische Aufgliederung der Bildfläche im Neoimpressionismus an. Delaunay hatte den Band D’Eugène Delacroix au néo-impressionnisme (1899) von Paul Signac studiert;22 von den Neoimpressionisten übernahm er den Anspruch, eine Lichtwirkung in den Augen der Betrachtenden zu erzeugen. In seinen Sonnenbildern, die seit Winter 1912 entstanden, sind Erinnerungen und Andeutungen an Gegenstände völlig aufgegeben. Die Soleils, von denen er mindestens sieben anfertigte, zeichnen sich durch die Zusammenstellung von Farbkontrasten in zirkulären Anordnungen und facettierten, unregelmäßigen Formen aus (Abb. 19).23 Aus dem Zusammenklang und dem Vibrieren der Farben sollte sich die Lichtwirkung entfalten. Neben den reinen Soleils schuf Delaunay drei Mond- sowie mindestens drei Sonnen- und Mondbilder (Abb. 21) sowie Werke, die als Formes Circulaires betitelt wurden, um 1930 entstanden und die 19 | Ebd. 20 | Delaunay, »Fragments, notes« (1923/24), ebd., S. 105: »[…] de se reprendre dans toute sa personnalité et force, en homme devant la nature – sorte de nourriture: manger des horizons, des espaces, des lumières«. 21 | Cendrars, »The Eiffel Tower« (1924), in Cohen 1978, S. 173 (in Francastel/Habasque 1957 nicht abgedruckt). 22 | Düchting 1983, S. 14. 23 | Siehe exemplarisch Delaunay, »Notes historiques sur la peinture« (1914), in Francastel/Habasque 1957, S. 117.

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Sonnen- und Mondikonographie aufgriffen.24 Eine ähnliche Formensprache ist weiterhin in den rund vierzig bis fünfzig Rhythmusbildern erkenntlich, die Delaunay ebenfalls seit 1930 anfertigte.25 1913 schrieb Delaunay in einem Brief an Macke: »Ich bin jetzt auf dem Lande und arbeite sehr viel, mein letztes Bild ist die Sonne, sie leuchtet immer stärker, je mehr ich daran arbeite […]«.26 Das Bildlicht ist Sonnenlichtäquivalent, aber nicht Abbildung oder Repräsentation des natürlichen Sonnenlichtes. Delaunay war wohl der erste Künstler, der seine Werke so explizit als wirkmächtige Sonnengleichnisse bezeichnete. Allerdings schuf Kupka bereits seit 1911 die Studienserie Disques de Newton, die sich mit der Erzeugung reinen Lichtes aus den Spektralfarben und dessen Übertragung auf die Leinwand auseinandersetzte (Kap. 4.2). Anders als Kupka ging es Delaunay jedoch nicht darum, das farblose, reine Strahlen der Sonne auf die Leinwand zu bringen, sondern die energetische Wirkung des Lichtes durch komplexe Farbzusammenstellungen zu evozieren, die er als Synchromien bezeichnete. Delaunay ging davon aus, dass die Lichtenergie des Bildes in Analogie zur realen Sonne zur Lebensspenderin wird: Denn je mehr ein Bild ausstrahle, desto mehr Leben enthalte es und eine umso stärkere Präsenz entfalte es.27 Licht nimmt bei Delaunay demnach, so fasst Virginia Spate zusammen, die Funktion eines die gesamte Natur durchwirkenden Lebensprinzips ein.28 Zugleich ist das Licht ein harmonisierendes Phänomen, das auf die Seele der Menschen einwirkt. So paraphrasierte Guillaume Apollinaire Delaunays Lichtkonzept: »Unsere Seele erhält ihr Leben in der Harmonie und die Harmonie erhält sie nur aus der Simultaneität beziehungsweise den Maßen und Proportionen, mit denen das Licht durch unsere Augen hindurch in die Seele eintritt«.29 Die Wirkung des Lichtes wird, ähnlich wie bei Nebel, vornehmlich als Kraft gefasst, die auf die Seele und somit auf die Vitalität der Betrachtenden einwirkt. 24 | Nicht abgedruckt: Robert Delaunay, Formes circulaires, 1930, Öl auf Leinwand, 128,9 × 194,9 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. 25 | Vgl. den Werkkatalog Francastel/Habasque 1957, S. 293-306. 26 | Vgl. Kap. 1; Brief an August Macke 1913, zit.n. Vriesen 1992 (1967), S. 151f. 27 | Delaunay, »L’art et l’état. Projet d’une musée inobjectif« (ohne Datum), in Francastel/ Habasque 1957, S. 238: »[…] [L]’art d’un peintre […] évolue comme toute chose vivante. J’ai parlé plus haute du rayonnement. Pour faire une comparaison, plus une peinture rayonne, plus elle contient de vie en elle, plus sa conception, sa création, assure sa présence et l’impose«. 28 | Spate 1979, S. 193. Spate arbeitet heraus, dass das Licht bei Delaunay als »essence of being« konzeptualisiert wird (ebd., S. 161). 29 | Apollinaire, »Le commencement du Cubisme: Réalité, peinture pure« (1912), in Francastel/Habasque 1957, S. 156: »Par conséquent, notre âme tient sa Vie dans l’Harmonie, et l’harmonie ne s’engrendre que de la simultanéité où les mesures et proportions de la Lumière arrivent à l’âme, sens suprême, par nos yeux«.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Die Annahme einer harmonisierenden, alles in Einklang zusammenschließenden Sonnenkraft war für die Naturheilbewegung im 20. Jahrhundert zentral. Ohne dass direkte Quellenbezüge hergestellt werden können, entsprachen Delaunays Überlegungen heilkundlichen Konzepten der Zeit. Die Auseinandersetzung mit der therapeutischen Kraft der Sonne war damals besonders mit der Ordnungstherapie des Schweizer Arztes Maximilian Bircher‑Benner (1867-1939) verbunden. Uwe Heyll stellt dar, dass dem »kosmischen Strom des Sonnenlichts« bei Bircher-Benner eine ordnende und eine alles verbindende Funktion zugesprochen wurde, insofern »die Übertragung der Lichtenergie eine Harmonisierung der energetischen Schwingungen« bewirken sollte.30 Die Musik spielte dabei als Modell eine zentrale Rolle. In Fragen des Lebens und der Gesundheit (1937) beschrieb Bircher-Benner die Natur in diesem Sinne als »in riesigen Akkorden aufgebautes Kunstwerk der Schöpfung, als eine grandiose Symphonie«.31 Musikalische Kompositionen und der Harmoniebegriff in der Musik waren für Delaunays Kompositionen gleichermaßen vorbildhaft. Analog zur musikalischen »Symphonie« bezeichnete er seine Werke als »Synchromien«.32 Die heilsame, belebende und ausgleichende Wirkung der Kunst wurde von Delaunay immer wieder angesprochen. So schrieb er von seiner Suche nach »der Harmonie einer neuen und gesunden Kunst, die sich nicht den Deformationen des Kranken annimmt«33 und bestimmte die Kunst als »eine der größten menschlichen Kräfte«.34 Anders als Kandinsky etwa, bezog er sich dabei nicht auf wissenschaftliche Quellen zur ökologischen Bedeutung des Sonnenlichtes (Kap. 4.4). Vielmehr formulierte er ein sehr allgemeines Verständnis der Sonne als Lebensspenderin. Insofern Delaunay vom physikalischen Licht als Lebensquelle ausging, erklärte er die Wirkung desselben nicht chemisch. Licht bleibt eine rein optische Erscheinung, die als solche auf die Seele der Beschauer/-innen einwirken sollte. Otto Piene vertrat einen ähnlichen Ansatz, wobei sich dieser formal nicht im Syn- bzw. Polychromen, sondern im Monochromen äußerte (Kap. 4.6).

30 | Heyll 2006, S. 199. 31 | Bircher-Benner 1937, S. 17. Bircher-Benner orientierte sich, wie er selbst darlegte, an der Veda, dem Buddhismus, Lehren Zarathustras sowie platonischen Traditionen (ebd., S. 7-10). 32 | Siehe exemplarisch Delaunay, »Notes historiques sur la peinture« (1914), in Francastel/Habasque 1957, S. 117, vgl. weiterhin ebd., S. 111. Die Korrespondenz natürlicher, musikalischer und bildend-künstlerischer Gesetzmäßigkeiten stellte für die abstrakten Künstler dieser Zeit vielfach einen wichtigen Begründungszusammenhang dar (Kap. 6.3.2). 33 | Delaunay, »Constructionnisme et Néo-Classicisme« (1924), ebd., S. 55: »[…] d’equilibre d’un art neuf et sain […] qui ne se prête pas à des déformations de démence […]«. 34 | Delaunay, »L’art et l’état. Projet d’une musée inobjectif« (ohne Datum), ebd., S. 237: »L’Art est une des plus grandes forces humaines […]«.

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Das Bild als Lebensraum

Abbildung 19: Robert Delaunay, Formes circulaires, soleil, 1912/13, Öl auf Leinwand, 75 × 61 cm, Museum Folkwang, Essen

Es sind verschiedene Formen des Simultankontrasts und der Farbharmonien, die sich Delaunay für seine Soleils zu eigen machte. Mit diesen experimentierte er, um – wie Johannes Itten – eine möglichst intensive Leuchtwirkung zu erzielen (Kap. 3.7). Das Essener Bild Formes circulaires, soleil (1912/13) ist durch eine kleine, facettierte Kreisform in der oberen Bildhälfte bestimmt (Abb. 19). Diese ist mit Dunkelgrün, einem helleren Grün, Gelb, Hellblau, Rosa, Rot, Dunkelrot und Orange in acht, etwa gleichgroße Kreissegmente unterteilt. Ausgehend von diesem Gebilde entfalten sich weitere, freier geformte Farbflächen und -ringe. Die Farben im Zentrum werden in Abstufungen in der Gesamtkomposition wiederholt, so als würden sie ausgehend von dort weiterstrahlen. Dadurch entsteht im Zusammenspiel wiederkehrender Formen und Farben eine Rhythmisierung der Bildfläche, die durch Hell-Dunkel- sowie Warm-Kalt-Kontraste räumliche Dimensionen des Vor- und Zurückstrebens entfaltet. Die dynamische Bewegtheit dieses und anderer Bilder ergibt sich auch daraus, dass die Farbformen nicht monochrom ausgefüllt und nicht immer klar voneinander abgetrennt sind: In einem Segment finden wir mitunter verschiedene Schattierungen eines Farbtons vor.35

35 | Am Original ist zu beobachten, dass sich die dynamische Kreisbewegung der Sonnen in der Betrachtung vor allem aus größerer Ferne (etwa drei bis vier Meter) ergeben, von einem leicht schrägen, also nicht frontalen Blickwinkel aus.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Das Zusammenstoßen von Weiß und Schwarz im Bildzentrum erzeugt einen maximalen Hell-Dunkel-Kontrast. Chevreul beschrieb, wie in einer solchen Kombination die dunklere Farbe »weißes Licht zu verlieren […], während die andere dessen mehr auszustrahlen« scheine.36 Das Auftreten scharfer Kontraste wie der von reinem Blau und reinem Rot in der oberen linken Bildhälfte steht der Kombination von Farbtönen verschiedener Tonhöhen gegenüber, etwa unten rechts im angedeuteten Komplementärkontrast eines hellen Grüns mit einem satten Rot. Das Rot wird in seiner Strahlkraft gesteigert, während das Grün, das schließlich zugleich nach oben an Schwarz grenzt, erblasst. Chevreul empfahl, »eine der Farben durch Schwächung […] [zu opfern], um die andere in um so glänzenderem Lichte zu zeigen«.37 So intensivieren blasse und trübe Farbtöne, insbesondere am Bildrand, die gesättigten Farbflächen. Auffallend ist, dass nur sparsam Komplementärkontraste aufeinandertreffen, nämlich Blau und Orange in der linken unteren sowie Rot und Grün in der rechten Bildhälfte. Komplementärkontraste zeichnen sich gemäß Chevreul dadurch aus, keine Bunttonverschiebung zuzulassen, sondern einander rein in der Intensität und Leuchtkraft zu steigern. Diese Kontraste beschrieb er daher als besonders lebhaft.38 Dagegen findet sich bei Delaunay vielfach die Kombination von Farben benachbarter oder einander naheliegender Tonleitern, etwa Rot und Gelb-Orange oder Blau und Grün, die hier durch Bunttonverschiebung an Reinheit verlieren müssten.39 Dieses Problem löst er dadurch, dass ihnen jeweils der Ton, dem sie sich annähern würden, angrenzt, sodass der negative Effekt ausbleibt. Hier zeigt sich, wie Delaunay ungewollte Intensitätsminderungen umschiffte, um zugleich eine große Farbenvielfalt und Leuchtkraft ins Bild zu bringen. So erscheint die Komposition als ein komplexes Experimentierfeld von Farbkombinationen. Dabei hielt sich der Künstler keineswegs sklavisch an Chevreul. In der Essener Soleil finden sich zum Beispiel Farbnebeneinanderstellungen, die Chevreul explizit für ungünstig befunden hatte, etwa Gelb und Orange, Gelb und Grün, Rot und Veilchenblau (Violett), Rot und Orange, Blau und Grün.40 Auch an Newton orientierte sich Delaunay nur grob. Newton legte die sogenannten Spektralfarben auf Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett, Rot und Orange fest. Durchaus beinhaltet das Essener Bild neben einigen anderen die Spektralfarben nach Newton, jedoch nicht im entsprechenden Farbton oder Mengenverhältnis. So nimmt Orange bei Delaunay stets einen größeren Teil der Kompositionen ein, während es in Newtons Farbenrad, veröffentlicht in Opticks (1704), den geringsten Anteil hat (Abb. 20).

36 | Chevreul 1840, S. 13. 37 | Ebd., S. 80 [Herv. d. Verf.]. 38 | Ebd., S. 19. 39 | Vgl. ebd., S. 29f. 40 | Ebd., S. 103.

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Das Bild als Lebensraum

Abbildung 20: Sir Isaac Newton, Farbenrad, aus Opticks (1704)

Verschiedene Farbgebungen resultierten bei Delaunay zudem aus dem Hinzunehmen des Mondmotivs, das er in mindestens drei Kompositionen mit den Soleils verband, so etwa im kreisförmigen Formes circulaires, soleil, lune (1912/13) und in Formes circulaires (1930), das spätere Formen einer stärkeren Geometrisierung dieses Bildmodells veranschaulicht (Abb. 21). Durch das Zusammentreffen von Sonne und Mond sind Tag und Nacht zugleich auf die Leinwand gebracht. Der Mond ist farblich stets blasser gefasst, ferner weist er weniger Facetten auf und wird vorrangig durch ovale Formen gebildet. Abbildung 21: Robert Delaunay, Formes circulaires, soleil, lune, 1912/13, Öl auf Leinwand, Durchmesser: 135,5 cm, Museum of Modern Art, New York

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Die Monde sind weniger dynamisch, während die Sonnen gerade im Kontrast zu diesen ruhigeren Bildpartien umso bewegter erscheinen. In Formes circulaires, soleil, lune im New Yorker Museum of Modern Art scheinen das intensive Rot und Orange sich vom Zentrum nach vorne wie eine Art Sonnenwind auszubreiten. Durch die Kontraste warmer und kalter Farben streben diese Partien in den Raum der Betrachtenden. Im Vergleich zu den ersten Bildern, die sich nur der Sonne widmeten, sind diese späteren Werke großformatiger und erzielen so eine besondere Präsenz und Leuchtkraft. Hajo Düchting beschrieb Delaunays Bilder – er bezog sich dabei auf die ›Fenster-Bilder‹ – als »Psychotope«: Diese böten »die Möglichkeit identitätsstiftender Wahrnehmung in der Unrast einer schnelllebigen Zeit; sie sind Sinnbild dieser Zeit, aber auch Psychotop (Ort, wo die Seele ausspannen kann) im Fluß der Veränderung«.41 Sie hätten demnach eine beruhigende und harmonisierende Wirkung, während sie zugleich Energiequelle sind. Eine ähnliche Wirkung hatte Harry Graf Kessler schließlich der neoimpressionistischen Kunst attestiert und lässt sich auf die Soleils Delaunays übertragen. Gerade die Sonnen- und Mondbilder verwirklichen ein Changieren zwischen Ruhe und Erregung. Ganz ähnlich wie Nebel und Itten formulierte Delaunay die Harmonisierung und Belebung der Betrachtenden als Aufgabe seiner Kunst. Der Zusammenschluss zu einem untrennbaren Ganzen, das er als »Synchromie«, aber auch als »Organismus« (»organisme«) fasste, ist dabei zentral.42 Die Sonne als natürliche Lebenskraft war das grundlegende Modell für den zugleich harmonisierenden wie nährend-energetisierenden Zusammenschluss verschiedener Farben auf der Leinwand. Zu einer potentiell heilsamen Kraft des Mondes äußerte sich Delaunay hingegen nicht. Delaunay war kein naturromantischer Lebensreformer, sondern Advokat der Technik und der Urbanisierung. Nicht nur der natürliche Schein von Sonne und Mond fanden Einzug in seine Bildwelten, auch Gas und Elektrizität waren Phänomene, denen er eine Präsenz in Form leuchtender Ausstrahlung zu geben suchte.43 Noch deutlicher als er widmete sich Sonia Delaunay dem Thema der Elektrizität mit ihren Prismes électriques um 1913/14. Sonnenbilder und Bezüge zur Naturheilkunde finden sich bei ihr nicht. Das künstliche Licht wurde jedoch seit Anbeginn dieser Techniken mit der Sonne verglichen44 und galt als Lebenskraft. Bei der Utopie, ›die Nacht zum Tag zu machen‹, ging es schließlich darum, die Sonne zu substituieren. Bevor jedoch die Bedeutung des elektrischen Lichtes anhand von László Moholy-Nagy und Nikolaus Braun vertieft wird, widmet sich

41 | Düchting 1983, S. 16. 42 | Delaunay, »L’art et l’état. Projet d’une musée inobjectif« (ohne Datum), in Francastel/ Habasque 1957, S. 238. 43 | Delaunay in einem Briefentwurf an Nicolas Maximovitsch Minsky (1912/18), ebd., S. 63. 44 | Vgl. Schivelbusch 2004, S. 45 und S. 58.

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Das Bild als Lebensraum

das folgende Unterkapitel erneut Kupka, der parallel zu Delaunay die Auffassung des Bildes als Sonnenäquivalent entwickelte.

4.2 S onnenbäder und L ichtscheiben : F r antišek K upk a Ähnlich wie Robert Delaunay interessierte sich František Kupka sehr für die lebenspendende Kraft des Sonnenlichtes.45 Er verband dabei in seinen Überlegungen ästhetische, wissenschaftliche und esoterische Dimensionen des Lichtes miteinander. Die dem »Sonnenlicht entstammende Energie« halte, so Kupka, die lebenswichtigen »Vorgänge am Leben« und ermögliche als »Mutter des Lebens« die »Existenz eines jeden Organismus«.46 Er bezeichnete die Sonne als »die wichtigste Kraft« in der Natur.47 Wie Paul Klee bezog Kupka sich auf die naturheilkundlich-hygienische Praxis des Sonnenbadens.48 Mit der Beschreibung des Lichtes als »titanische[…] Farbklaviatur« rekurrierte er zudem auf eine göttliche Kraft und Herkunft des Lichtes.49 Ebenso führte er die Rolle der Sonne im Alten Ägypten an, wo sie als »Wohltäter und Beschützer des menschlichen Lebens betrachtet« und in Ritualen geehrt wurde.50 Sonnenkult und naturwissenschaftliche Erkenntnisse stellten für ihn gleichberechtigte Bezugspunkte dar. Neben der Wellentheorie bezog er sich auf das physikalische Lichtverständnis Isaac Newtons. Das weiße Sonnenlicht beschrieb der Künstler als »Bündel von nicht gebrochenen Strahlen«.51 »[C]hemische Strahlen« und »Wärmestrahlen« in der Atmosphäre erwähnte er ebenfalls.52 Das natürliche Sonnenlicht ins Bild zu bringen, stellte jedoch – wie eingangs problematisiert – eine unerreichte Utopie der Malerei dar. Programmatisch ist in diesem Zusammenhang Kupkas Frage, wie in der Malerei eine den »Strahlen der Sonne« äquivalente »Helligkeit und Intensität erreicht werden« könne.53 Das 45 | Kupka 2001 (1923), S. 56. 46 | Ebd., S. 72. 47 | Ebd., S. 33. 48 | »Ich selbst begegnete wunderbarer Farbigkeit, die lediglich durch die Pflege der eigenen Hygiene erzeugt wurde. Nach einer morgendlichen Dusche turne ich im Winter wie im Sommer völlig nackt im Garten. […] Gleichzeitig ist es auch eine Art Abhärtung. Ich führe die Übungen wie ein Gebet aus, indem ich mich an die aufgehende Sonne wende, an dieses großartige Feuerwerk, das in der schönen Jahreszeit vom Vogelgezwitscher begleitet wird. Den ganzen Körper vom Duft und Licht durchdrungen, erlebe ich dabei herrliche Augenblicke, durchtränkt von Farbtönen, die der titanischen Farbklaviatur entstammen.« (Ebd., S. 71) 49 | Ebd. 50 | Ebd., S. 20f. 51 | Ebd., S. 71. 52 | Ebd. 53 | Ebd., S. 80; vgl. Kap. 3.1.2.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Ideal der Glasmalerei und die im Vergleich zum Pigment höhere Leuchtkraft des elektrischen Lichtes hob er ebenfalls hervor.54 Den Einschränkungen der Malerei zum Trotz versuchte Kupka Licht auf der Bildfläche zur Präsenz zu bringen. Dabei begriff er die Lichterscheinung im Bild in Analogie zum Licht der Sonne als Energie: Denn die Farbformen konstituieren sich gemäß Kupka aus »Lichtwellen«.55 Er sprach von den »sich gegenseitig durchdringenden ›planes‹ und mit Energie geladenen, malerischen Strukturen«.56 Kupka fasste das Bild als Energiequelle auf, nicht nur als Repräsentation energetischer Prinzipien. Zwar könne ein Kunstwerk nur »Lichteindrücke« geben, jedoch erhalte die Komposition durch die richtige Anordnung »Puls« und »Leben«.57 In den Jahren 1911 und 1912 führte der Künstler zwei Studien mit dem Titel Disques de Newton aus, in denen er sich programmatisch mit dem Problem des Lichtes auseinandersetzte. Sie entstanden zeitlich vor Delaunays Soleils.58 Auf der ersten Studie entfalten sich ausgehend von einem roten Kreis im oberen Bilddrittel Ringsegmente in Gelb, Grün, Blau, Rot und Violett (Abb. 22). Hinzu treten ein größeres graues Segment und ein großer angeschnittener, weißer, dunkelgrau umrahmter Kreis in der unteren Bildhälfte. Ausgefüllt ist der untere Bildgrund durch zwei schwarze und zwei blaue Flächen. Das zweite Scheibenbild ist durch übereinandergelegte, einander durchdringende, sich dynamisch ausdehnende Farbfacetten geprägt, die eine räumliche Dimension entfalten (Abb. 23). Diese Komposition ist weitaus bewegter und zudem mehr als doppelt so groß als die andere. Ausgehend von einem roten Zentrum in der oberen Bildmitte entfalten sich facettierte Ringe aus Magenta, Grün, Gelb, Weiß, Orange, Violett, Blau und Schwarz. Die Farben sind in Helligkeit und Ton abgestuft sowie, für Kupka typisch, durch weiße oder farbige Pinselstriche rhythmisiert. So werden grüne Segmente etwa durch dunklere und gelbe Strichelungen strukturiert. Neben den sieben Grundfarben nach Newton kommen Weiß und Schwarz hinzu (Kap. 4.1: Abb. 20). Grau ist nicht vertreten.

54 | Ebd., S. 111. 55 | Ebd., S. 155. 56 | Ebd. 57 | Ebd., S. 92. 58 | Rowell 1976, S. 49. Kupka lebte seit 1896 in Paris, 1906 zog er in das etwas außerhalb von Paris gelegene Puteaux. Seine Beziehung zu Delaunay ist nicht ganz geklärt. Sie hatten gemeinsame Freunde und trafen sowohl in Puteaux als auch in Paris aufeinander.

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Abbildung 22: František Kupka, Disques de Newton (Studie für Fugue à deux couleurs), 1911/12, Öl auf Leinwand, 49,5 × 65 cm, Centre Georges Pompidou, Paris Abbildung 23: František Kupka, Disques de Newton (Studie für Fugue à deux couleurs), 1912, Öl auf Leinwand, 100,3 × 73,7 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia

Kupka ging davon aus, dass eine »Fläche, die sich ausschließlich aus Grund- oder Spektralfarben zusammensetzt […] durch den Dynamismus der unterschiedlichen Vibration des Lichtes eine leuchtende Vielfalt« erzeuge.59 Margit Rowell stellt dar, dass Kupka sich an den Tabellen und Graphiken in Ogdon N. Roods Die moderne Farbenlehre orientiert habe.60 Hier wurden die Wellenlängen sowie der Anteil der Farben im Normalspektrum angegeben. Demgemäß, so Rowell, finde sich bei Kupka eine Bewegung von Rot zu Violett, also von lang- zu kurzwelligen Farben.61 Die Tabellen in Roods Publikation zeigen auch, dass nun nicht mehr wie bei Newton von sieben Spektralfarben, sondern von zwölf ausgegangen wurde. Zwar wird ein Verlauf dem Spektrum zufolge von innen nach außen in Kupkas Scheibenbildern angedeutet, jedoch nicht ganz konsequent durchgehalten. Der Verlauf müsste nach der spektralen Ordnung von Rot über Orangerot, Orange, Orangegelb, Gelb, Vollgrün, Grün, Cyanblau, Blau und Violettblau zu Violett führen. Allerdings wird dieser klare Verlauf immer wieder durchbrochen. Im ersten Scheibenbild folgt auf Rotorange ein gelber Streifen, Orange hingegen findet sich in einem anderen, vorgelagerten Segment. Auch entsprechen Farbwahl und -aufteilung im Bild nicht den Tönen und deren Quantitäten im physikalischen Spektrum. Schließlich kommen Schwarz, Weiß und Grau als Nichtfarben hinzu, die einen Kontrast erzeugen und die untere Bildhälfte bestimmen. Kupka entschied 59 | Kupka 2001 (1923), S. 107. 60 | Rowell 1976, S. 47. 61 | Ebd.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

sich für eine Herangehensweise an die Farb- und Lichtprobleme, die nicht mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften übereinstimmte.62 Mit diesen Bildern bezog sich Kupka jedoch zugleich deutlich auf die Experimente mit Drehscheiben bei Newton,63 Michel Eugène Chevreul sowie James Clerk Maxwell, die in Roods Publikation gleichermaßen genannt werden.64 Durch die Rotation von Scheiben verschiedenfarbiger Segmente wurden optische Mischungen erstellt. Sie dienten unter anderem dem Nachweis, dass alle Farben in einem bestimmten Verhältnis zusammen Weiß oder Grau ergeben und Farben unterschiedlicher Wellenlängen im reinen Licht enthalten sind.65 Insofern sollten auch bei Kupka alle Farben des Spektrums von der Leinwand reflektiert werden, um eine maximale Leuchtkraft zu erreichen. Gerade in der zweiten Ausführung wirkt es, als entstünde in der schnellen Bewegung der Farben bereits weißes Licht. Allerdings bleibt dies im Modus der Vorführung, in der Repräsentation eines optischen Effektes. So erscheinen die Disques de Newton vorrangig als Konzeptbilder, die Kupkas Wunsch, das reine Licht von seinen Bildern ausstrahlen zu lassen, illustrieren. Beide Scheibenbilder wurden von Kupka als Vorarbeiten für ein anderes Werk bezeichnet: Amorpha, Fugue à deux couleurs von 1912 (Abb. 24).66 Es entsprach der Arbeitsweise des Künstlers, die Arbeit an konsekutiven Werken als Weiterentwicklung und Arbeit an der Lösung spezifischer Probleme zu verwenden. Amorpha, Fugue à deux couleurs kann dementsprechend unter anderem als eine Auseinandersetzung mit dem Problem des Lichtes betrachtet werden. Die Farbpalette hat Kupka hier auf Rot und Blau, Schwarz und Weiß-Beige sowie Grau limitiert. Das 211 × 220 cm messende Gemälde ist durch zwei große, helle Kreisfragmente geprägt. Die Farbe ist nicht ganz weiß, sondern geht ins Beige. Das Segment in der rechten Bildhälfte ist durch eine graue und eine schwarze Linie von dem dahinter liegenden Kreisfragment getrennt. Der restliche Bildgrund ist mit Schwarz ausgefüllt. Davor entfaltet sich ein dynamisch-geschwungenes, amorphes rotblaues Gebilde.

62 | Kupka 2001 (1923), S. 65 und S. 84. 63 | Dies wird durch Spate 1979, S. 126 ebenfalls herausgestellt, allerdings nennt sie die modernen Scheibenexperimente nicht. 64 | Rood 1880, S. 29. 65 | Zur ausführlichen Beschreibung der Experimente siehe ebd., S. 135-142. 66 | Das Bild ist das zweite der Amorpha-Serie, zu der auch das bereits besprochene Chromatique chaude gehört (Kap. 3.1.2: Abb. 6), dazu vgl. Spate 1979, S. 125f.

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Das Bild als Lebensraum

Abbildung 24: František Kupka, Amorpha, Fugue à deux couleurs, 1912, Öl auf Leinwand, 211 × 220 cm, Nationalgalerie, Prag

Licht wird hier ganz anders als in den zuvor besprochenen Disques ins Bild gebracht. Anstatt alle Farben des Spektrums einzubringen, arbeitete Kupka mit einem Hell-Dunkel-Kontrast. In Die Schöpfung in der bildenden Kunst heißt es passend dazu: »Tragen Sie Grau neben Weiß auf, dann scheint dieses nicht weiß zu sein, nur neben einem satten Schwarz, strahlt es weiß. Den Japanern gelang es, das weiße Antlitz des Mondes zu erzielen, ohne die ganze Fläche des Himmels mit dem üblichen Graublau zu überziehen. Warum und wie? Weil sie ihn in einen schwarzen Kreis einfassen, der stufenweise in ein immer helleres Grau übergeht.« 67

In diesem Sinne dachte Kupka darüber nach, wie eine intensive Strahlungswirkung des Bildes erzeugt werden kann. Er entschied sich nicht für eine naturwissenschaftlich geprägte, sondern eine ästhetische Lösung, die sich an japanischer Tuschemalerei orientierte, aber das geschilderte Prinzip nicht in seiner Gänze übernahm. Sind die Disques de Newton kleinformatig, ähnlich wie die ersten Sonnenbilder Delaunays, setzte Kupka in seinen ausgereifteren Kompositionen auf Größe. Durch Lichtemanationen wollte er schließlich Energie und Leben spenden; den

67 | Kupka 2001 (1923), S. 82. Eine kontrastive Vorgehensweise findet sich bereits im ersten Scheibenbild.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Bildern sollte ein Puls inne sein.68 Dementsprechend ist die Komposition nicht auf eine weiße und eine schwarze Scheibe reduziert. Die amorphen Bänder in Rot und Blau erzeugen Bewegt- und Belebtheit, die möglicherweise als Resultate des Lichtes als Lebensquelle zu betrachten sind. Es handelt sich um Bewegungsfiguren, die den Blick animieren und eine optische Erweiterung der räumlichen Dimensionen zur Folge haben. Zugleich veranschaulichen sie das Prinzip der Aussendung von Energie aus den hellen Flächen. Im Vergleich zu Delaunays Soleils fehlt bei Kupka ein direkter Bezug zum Sonnenlicht etwa durch die Titel, allerdings wird sowohl in den Disques de Newton wie auch in Amorpha eine je verschiedene Auseinandersetzung mit dem Problem der Strahlkraft des Bildes in Analogie zum Sonnenlicht deutlich. Kupka haderte mit den Möglichkeiten der Malerei, reines Licht von den Bildern ausstrahlen zu lassen. In Amorpha wird der Anklang an die Sonne durch die runden Scheibenformen aufgerufen, wobei diese – wie im Zitat zur japanischen Tuschmalerei anklingt – gleichermaßen als Monde lesbar wären, oder – wie bei Delaunay – als Sonnen- und Mondfigur. Andererseits äußerte sich Kupka ausführlich nur zur Kraft des Sonnenlichtes.69 Wie Delaunay strebte Kupka nie an, Sonne oder Mond als Gegenstände darzustellen, sondern ein ihnen entsprechendes, belebendes Leuchten vom Bild ausgehen zu lassen. Dieses ist in Kupkas Amorpha nicht gleißend und blendend, sondern eher mild – im Unterschied zu den Sonnen, aber ähnlich den Monden Delaunays. Wie sich dies mit dem Ideal des reinen Lichtes der Sonne vereinbaren lässt, ist fraglich. So wird deutlich, dass Kupkas Praktiken und Theorien stärker differierten.

4.3 G öt tlich - geistige S onnen : O t to N ebel , W assily K andinsk y und F r antišek K upk a Die Sonne wurde von František Kupka nicht nur als Lebensquelle in einem physikalischen, chemischen, auf den Körper bezogenen Sinn reflektiert. Er rekurrierte auf die Tradition der Sonnenkraft als geistige und seelische Macht, die gleichermaßen auf die geistige wie seelische Gesundheit Einfluss nehmen konnte. Otto Nebel und Wassily Kandinsky bedienten sich maßgeblich solcher esoterischer Traditionen in ihren Überlegungen zum Sonnenlicht. Jenseitiges und diesseitiges Licht wurden nicht als konträre, völlig wesensverschiedene Phänomene betrachtet, sondern als Entsprechungen in verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit.

68 | Ebd., S. 92. 69 | Eine weitere Verbindung zwischen beiden Künstlern lässt sich im Rekurs auf die Musik ausmachen, deren Kraft in Analogie zum Licht in der Natur gefasst wurde: Bei Delaunay dient die Symphonie als Modell, bei Kupka die Fuge (Kap. 6.3.2).

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Das Bild als Lebensraum

In der Gleichsetzung von Gott und Licht ist angelegt, dass alles geschaffene Licht, auch das der Sonne von Gott gegeben sei und göttliche Kräfte aussende.70 Gemäß theosophischen Lehren gilt die Seele als Sonnenäquivalent: Diese lebe und äußere sich, so Annie Besant und Charles W. Leadbeater, in Wellenform, sodass sie mit der »Natur des Lichtes« eng verwandt erscheint.71 Diese Ansicht übernahm auch Nebel: »Da das unzerstörbare Zeugegut der menschlichen Seele Licht vom Lichte aus der Strahlen-Allmacht der geistigen Sonne ist, und da den unterschiedlichen Erleuchtungsgraden zwischen dem hellsten Lichte und der tiefsten Finsternis unterschiedliche helle und dunkle Farben entsprechen, so entsprechen auch bestimmten Erleuchtungsgraden der menschlichen Seele bestimmte Farben; – mit anderen Worten: Die Lebenskräfte des Menschen sind, als Entsprechungsgrade des lebenserhaltenden geistigen Lichtes im Lebensleibe, selber Lichtkräfte.« 72

Alle Farben zusammengenommen konstituieren demnach die menschliche Seele. Nebel sprach von der »ganzheitliche[n] Durchsonnung des aufgerichteten Menschen vom Innersten her«.73 Dabei bezog er sich nicht auf die Spektralfarben nach Isaac Newton, sondern die Farbsystematik Gertrud Grunows (Kap. 3.6). Auch Kupka ging von einer mit »Sonnenstrahlen durchtränkten Seele« aus: »Denn die Seele, dieses Lebensprinzip, ist unsere Sonne mit ihrer orangen, grünen und purpurroten Farbigkeit und all deren Abstufungen«.74 Im mystischen Denken, auf das die Künstler rekurrierten, gilt die Seele als »Lichtphänomen, das sich […] mit dem göttlichen Licht trifft und vermischt«.75 Nebel beschrieb seinerseits die eigenen Bilder als »Gleichnisse des fortdauernden Auf- und Ablebens im Belebten infolge des Einströmens göttlicher Kräfte aus dem allmählichen Sonnensein in das gesegnete Dasein, in die bewegliche und menschliche Seele«.76 In diesem Zusammenhang sprach er von »Heilswirkungen« des Lichtes und definierte die »Gesundheit […] des Geistes und des Leibes« als »Einklang aller Lebenskräfte«.77 Das aus den Bildern entsendete Licht stellte für ihn demnach ein Äquivalent zum göttlichen Licht dar, das sich im Bild ähnlich materialisiert, wie es sich in der Natur als Sonnenstrahlung manifestiert.78 70 | Vgl. Theissing 1989, S. 187. 71 | Besant/Leadbeater 1908, S. 4. 72 | Nebel, »Kunstwürdige Wertungen« (1942-44), in Radrizzani 1988, S. 329. 73 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), ebd., S. 162. 74 | Kupka 2001 (1923), S. 75. 75 | Wandhoff 2008, S. 29. 76 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 170 und S. 174. 77 | Ebd., S. 162. 78 | Vgl. dazu Theissing 1989, S. 193.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Das reine Licht als »Epiphanie des Göttlichen«79 hat eine lange Tradition, die sich etwa in der Ikonenmalerei ausdrückt. Zwar ist die »initiale göttliche Illumination, ein metaphysisches Seinslicht« vom »Licht der Himmelkörper« und damit vom geschaffenen, »irdischen Leuchten« zu trennen.80 Dennoch, so legt Heinrich Theissing dar, hat alles, was Licht hat oder aussendet, »teil am göttlichen Sein«.81 Die Lichterscheinungen sind hier mit dem Prinzip des Guten verbunden. In der platonischen Tradition hat schließlich die »höchste Idee, die Idee des Guten« auch die größte und reinste Leuchtkraft.82 Die Reinigung vom Dunklen und im weitesten Sinne Unreinen ist seit der Antike ein zentraler Bestandteil von Lichtkonzepten.83 Entsprechend dieser Logik war für Nebel das »Entnachten des innersten Menschen« notwendig.84 Das Dunkle und Trübe sollte auch durch die Kunst ausgetrieben werden. Die Verknüpfung der Erwirkung seelischer Reinheit und Güte durch das Licht mit einem modernen Lichtverständnis wird bei Kandinsky besonders deutlich: »Selbstopfer, Hilfe, reine hohe Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude anderer Glück, Humanität, Gerechtigkeit sind eben solche Wesen, die […], wie die Sonne die Mikroben, töten und reine Atmosphäre herstellen«, heißt es in Über das Geistige in der Kunst.85 Als Verschmutzungen der Atmosphäre begriff Kandinsky »Selbstmorde, […] unwürdige, niedere Gedanken, Haß, […], Neid, ›Patriotismus‹, Parteilichkeit«.86 Er bezog die reinigende Wirkung des realen Sonnenlichtes modellhaft auf die geistige Atmosphäre der Zeit. Zwar wurde der Sonne seit der Antike eine reinigende Wirkung zugesprochen,87 jedoch stellte er durch die Nennung von Mikroben explizit einen modernen, wissenschaftlichen Bezug her. In Verbindung mit göttlichen und geistig-seelischen Dimensionen wird das Sonnenlicht so zugleich als eine chemische Wirkkraft fassbar. Die Theorie von den Mikroben in der Atmosphäre konnte Kandinsky jedoch gleichermaßen aus einer theosophischen Quelle übernommen haben: Max Heindels Schrift zur Weltanschauung der Rosenkreuzer widmet sich unter anderem dem Zusammenhang von Licht und Gesundheit. Gesundheit sollte sich an den Atmosphären abzeichnen, die der Mensch ausstrahlt: Bei Schwächung seien die »Strahlen des Lebensfluidums […] gekrümmt und gebogen«.88 In diesen Aus79 | Wandhoff 2008, S. 15. 80 | Ebd., S. 16. 81 | Theissing 1989, S. 187. 82 | Thieme 2008, S. 44. 83 | Ebd. 84 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 162. 85 | Kandinsky 1952 (1911), S. 107. 86 | Ebd. 87 | J. Gage 1993, S. 26. 88 | Heindel 1991 (1909), S. 64. Diese Schrift wird mit Bezug zu Yves Klein später noch näher beleuchtet (Kap. 5.5.3).

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strahlungen könnten sich »Keime und Mikroben« befinden, »die für die Gesundheit des physischen Körpers schädlich sind. Ist die Lebenskraft durch Krankheit geschwächt, können Krankheitskeime durch diese Ausstrahlungen nicht ausgestoßen werden. Deshalb ist die Ansteckungsgefahr bei Minderung der Lebenskräfte größer als bei guter Gesundheit«.89 Das menschliche Immunsystem wird hier als eine sonnenäquivalente Lichtatmosphäre gefasst, die Krankheitskeime in der Umgebungsluft abwehren kann. Diese Vorstellung hatten Besant und Leadbeater aus Heindels Schriften übernommen. Die sogenannte »Gesundheitsaura« des Menschen beschrieb Leadbeater als einen violett-grauen Nebel, der sich an den Grenzen des Körpers manifestiere.90 Diese Aura fasst man im esoterischen Denken als »Verteidigungssystem« auf.91 Dieser ätherische Stoff hat eine Doppelfunktion inne: Zum einen vermittelt er zwischen physischem und astralem Körper, zum anderen dient er als Vehikel für die Aufnahme der »Lebenskraft« aus der Atmosphäre.92 Diese Kraft geht gemäß Leadbeater von der Sonne aus. Die Sonne sei dementsprechend »Quelle des Lebens, wie sie es auch schon durch Licht und Wärme in der uns umgebenden Welt ist«:93 »Die ganze Atmosphäre der Erde ist von dieser Lebenskraft angefüllt doch ist sie besonders tätig beim vollen Sonnenscheine. Unsere physischen Körper existieren nur dadurch, daß sie die Fähigkeit haben, diese Kraft in sich aufzunehmen«.94 Die Lebenskraft bestehe aus kleinsten Partikeln, die vom Körper über die Sonne aufgenommen werden. Diese »durchziehen den ganzen Menschen, indem sie längs den Nerven hinströmen, so wie Blutkörper durch Adern und Venen fließen«.95 Zugleich wird diese Lebenskraft in Form der Gesundheitsaura entäußert. Diese sei »von sehr blassem, bläulichem Weiß, beinahe farblos und erscheint uns gestreift, d.h. sie besteht aus einer unendlichen Menge feiner Strahlen, die von den Poren des Körpers nach allen Seiten ausströmen. Bei völliger Gesundheit erscheinen diese Streifen regelrecht parallel, je nach ihrer Stellung zum Körper; doch sobald Krankheit eintritt, erfolgt sofort eine Veränderung, die Strahlen in der Nähe des kranken Teiles liegen in Unordnung, kreuzen sich untereinander und senken sich herab«. 96

Die aufgenommene Lebenskraft und die mit ihr einhergehende Gesundheit und Vitalität könne, so heißt es bei Leadbeater weiter, an die Umwelt abgegeben 89 | Ebd. 90 | Leadbeater 1908, S. 130. 91 | Ebd. 92 | Ebd., S. 126. 93 | Ebd. 94 | Ebd., S. 126f. 95 | Ebd., S. 127. 96 | Ebd., S. 129.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

werden:97 Kranke beziehungsweise schwache Menschen, die nicht über ausreichend Lebenskraft verfügen, absorbieren die Lebensenergie. Sie seien »wie ein Schwamm«.98 Dies erinnert an Yves Klein, der die Rezipierenden seiner Werke als Schwämme bezeichnete und sich sorgte, dass der Energiegehalt seiner Kunst durch diese schwinden könne (Kap. 3.9). Dem gesunden Menschen wurde durch Leadbeater eine heilende Wirkung eingeräumt, die sich auch Klein und andere Künstlerpersönlichkeiten selbst zusprachen (Kap. 5.4): »In einem gesunden Menschen arbeitet die Milz so gründlich, daß die angeeignete Lebenskraft in großer Menge vorhanden ist und stetig, nach allen Seiten hin vom Körper ausstrahlt«.99 Das Sonnenlicht als Lebensspender ist somit in der Theosophie in einer doppelten Weise – als äußeres, physikalisches, chemisch wirksames Licht und als inneres, seelisches Licht – zu denken. Die heilenden und belebenden Wirkungen sind analog gesetzt, als Reinigung und Kräftigung von Körper und Seele, die eng zusammenhängen. Rudolf Steiners Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/5) handelt davon, dass die auf die Umwelt einwirkenden, positiven »Seelenregungen« dazu führen, dass »die eigene Seele wächst und wachsend sich gliedert, wie die Pflanze gedeiht im Sonnenlichte«.100 Die Gleichsetzung der Wirkprinzipien des seelischen und des physikalischen Lichtes ist in den Künstlerschriften wie auch in der Esoterik der Zeit gleichermaßen gängig. Dabei bediente man sich physiologischer Modelle zur Beschreibung seelischer Wirkungen. Auch dort, wo – wie bei Nebel und Kandinsky – keine Kompositionen entstanden, die dezidiert Sonnenlicht zur Präsenz bringen sollten, wurde das Sonnenlicht als Lebenskraft grundlegend für Vorstellungen rund um klimatische Farben und für den Versuch, reines Licht von den Bildern ausstrahlen zu lassen, um das Trübe und Krankhafte zu bekämpfen. Die Werke Nebels können als lichtaussendende Bilder in diesem Sinne gefasst werden, die jedoch nicht nur Reinheit und Helligkeit, sondern auch klimatische Wirkungen der Wärme entfalten sollten (vgl. Kap. 3.5.3: Abb. 12-13). Für Kandinsky werden im folgenden Unterkapitel Beispiele gegeben, die von der wesentlichen Rolle der Farbe Weiß in seinem Œuvre und deren Zuordnung zum Sonnenlicht zeugen. Gerade bei Kandinsky werden in verschiedenen Schaffensphasen sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Sonnenlicht deutlich. Ästhetische und wissenschaftliche Dimensionen spielten parallel zur Auseinandersetzung mit der Theosophie eine Rolle, während das esoterische Denken für Kandinsky – anders als bei Nebel – später an Bedeutung verlor.

97 | Ebd., S. 128. 98 | Ebd. 99 | Ebd. 100 | Steiner 1955 (1904/5), S. 93.

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4.4 Ä sthe tische und wissenschaf tliche P erspek tiven auf die S onne : W assily K andinsk y Im Rekurs auf die Chromotherapie, die Psychophysik und die Esoterik hatte Wassily Kandinsky einzelnen Farben sowie dem Licht besondere, etwa belebende und heilsame Wirkungen auf den menschlichen Organismus und die menschliche Seele zugemessen (Kap. 3.3-3.4, 4.3). Insbesondere das reine, weiße Sonnenlicht nahm auf mehreren Ebenen in der Entwicklung seiner abstrakten Malerei eine wichtige Rolle ein. Schon im Vorfeld der Abstraktion dachte er über das ästhetische Potential des Bildlichtes nach. Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre beschäftigte sich Kandinsky hingegen verstärkt mit der chemischen Wirkung des Sonnenlichtes. Er integrierte ökologisches Wissen in seine Lehre, wobei fraglich bleibt, wie es in der Malerei Anwendung finden sollte.101 Nach seiner Begegnung mit den Bildern Édouard Manets in der Modernen Galerie Thannhauser um 1910 schrieb Kandinsky: »Sofort fesselte etwas meinen Blick und erschütterte mich innerlich. Die ganze Luft schien von der Ausstrahlung eines strebenden, fanatischen übermenschlichen Naturtalents durchdrungen. […] Es hat mich so ergriffen, wie eine gewaltige Naturerscheinung einen Menschen ergreifen kann«.102 Das Bild trat gemäß Kandinsky in den umgebenden Luft- beziehungsweise Galerieraum ein – strahlte in die Umgebung aus. In Kandinskys Schriften ist das Sonnenlicht als ästhetisches Phänomen ein wiederkehrendes Thema. In einem seiner Briefe für die Münchner Berichte beschrieb er schon 1899 das »bedrückende[…] Gefühl«, das die schottische Malerei bei ihm hinterließ. Sie sei von einer »ermüdenden Gleichförmigkeit des nebligen Schleiers« gekennzeichnet.103 Um die Jahrhundertwende vollzog sich Kandinsky zufolge eine deutliche Veränderung in der Malerei: »Klares und starkes Licht, die Reinheit ungemischter Farben beginnen hier und da als starke Flecken zwischen den vielen, nach alter Art düster nebelhaften Bildern zu erglühen«.104 So nahm Kandinsky eine atmosphärische Veränderung im ›Klima‹ der Ausstellungen wahr, die sich in einem Wandel der Farbigkeit und Leuchtkraft niederschlug: »Hier und da scheint eine kraftvolle Sonne, jene spezifischen Stimmungen von Dämmerung, denen noch vor kurzem der Ehrenplatz unter den Motiven gebührte, werden nun auf andere Weise behandelt; die Reinheit und Kraft der Farben zeigen sich schüchtern sogar bei trübem Wetter«.105 Die Beschreibung einer Klarheit und Reinheit, einer durchbrechenden Sonne und einer besonderen Stärke, ja 101 | Vgl. zu diesem Abschnitt Burchert 2018b, wo ausführlicher Bezugnahmen von Kandinsky und anderen auf ökologisches Wissen zum Pflanzenwachstum hergestellt werden. 102 | Kandinsky, »Briefe aus München (V)« (1910), in Friedel 2007, S. 372. 103 | Kandinsky, »Sezession« (1899), ebd., S. 208. 104 | Ebd. 105 | Ebd.

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»Glut«, des Lichtes taucht bei Kandinsky wiederholt auf, gerade auch mit Blick auf seine Überlegungen zur Entwicklung der Abstraktion. In »Mein Werdegang« räumte er der Kraft der Sonne eine für sein künstlerisches Schaffen zentrale Funktion ein: »Der für Deutschland ungewohnt heiße Sommer von 1911 dauerte verzweifelt lange. Jeden Morgen sah ich beim Erwachen aus dem Fenster den glühenden, blauen Himmel. […] Ich hatte das Gefühl, dass ein Schwerkranker zum Schwitzen gebracht werden muss, und dass alle Mittel versagen […]. Die Haut reißt. Der Atem vergeht. Plötzlich kam mir die Natur weiß vor. Das Weiß (das große Schweigen – voll Möglichkeiten) zeigte sich an allen Stellen und verbreitete sich sichtbar. An dieses Gefühl habe ich mich später erinnert, als ich eine besondere Rolle und Pflege des Weiß auf meinen Bildern beobachtete. Seitdem weiß ich, welche ungeahnten Möglichkeiten diese Urfarbe in sich birgt. […] Diese Entdeckung stellte die ganze Malerei auf den Kopf und öffnete vor ihr ein Reich, an das man früher nicht glauben konnte.«106

Karin Leonhard erörtert anhand dieser Passage, dass Kandinsky die Hitze des Sommers zu einer »heliotherapeutischen Erfahrung« erklärt habe.107 Diese Schwitzkur führte als Krisis zu neuen künstlerischen Erkenntnissen, einer Eröffnung neuer Möglichkeiten. Doch nicht nur die Erfahrung der Hitze, die in den Bereich klimatischer Wirkungen gehört, ist hier von Bedeutung: Es war die Verbreitung eines reinen, weißen Lichtes, das ihm »ein Reich des Lichts und der Anwesenheit aller Farben in unio« eröffnete.108 Die Entwicklung der Kunst dieser Zeit und seiner eigenen Kunst führte Kandinsky ganz maßgeblich auf das Sonnenlicht zurück. Das Erscheinen eines klaren, reinen Lichtes hatte er schließlich schon um die Jahrhundertwende mit einer Erneuerung der Kunst verbunden. Das Sonnenlicht blieb in späteren Jahren für Kandinsky ein wichtiges Thema. In seinen Unterrichtsnotizen finden sich zahlreiche Quellen, Bemerkungen und Auflistungen, mit und in denen er sich nun der biologischen Bedeutung der Sonne zuwendete. In welcher Form dieses Wissen auf die Malerei angewendet werden sollte, klärte er nicht. Zwar rückten die ästhetischen Dimensionen zugunsten einer Betrachtung der Funktionen des Sonnenlichtes scheinbar in den Hintergrund, allerdings blieben zuvor angesprochene Aspekte der Reinheit und Trübe sowie der Belebung und Ermüdung wesentlich. In seinen Unterlagen zum Bauhausunterricht gab Kandinsky Band 3 von Kultur der Gegenwart zum Thema Physiologie und Ökologie, ebenso wie Anton H. Blaauws Schrift Die Perzeption des Lichts als Quellen an.109 Von Blaauw übernahm 106 | Kandinsky 2004 (1914), S. 56. 107 | Leonhard 2010, S. 231. 108 | Ebd. 109 | Kandinsky, »bewegungen der pflanzen« (ohne Datierung), in Weißbach 2015, S. 518.

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Kandinsky in jedem Fall, davon zeugen seine Notizen, die »lichtintensitätsverteilung im spektrum«, nach der »langwellige strahlen […] immer zusammengedrängt« seien, »was zu grösserer energie führt«.110 Blaauw stellte weiterhin eine direkte Verbindung zwischen der Lichtaufnahme der Pflanzen und jener des Menschen her und betonte, wie gängig solche Analogien waren.111 Ende des 19. Jahrhunderts wurde durch den Arzt Niels Ryberg Finsen die blutbildende Wirkung des Sonnenlichtes erforscht,112 wodurch, in Analogie zur Pflanze, eine »Beschleunigung oder Verzögerung im Stoffwechselprozesse« in Abhängigkeit vom Sonnenlicht festzustellen war.113 Mit den Begriffen »Phototropismus« und »Heliotropismus« hatte Blaauw zuvor die direkten Reaktionen von Pflanzen auf die Sonneneinstrahlung mit ihrem »photochemische[n] System« beschrieben.114 Dieses System registriere den Lichtreiz und absorbiere diesen als Energie.115 Der Energiezustrom führe zu einer Hinwendung der Pflanze zur Sonne, um einen optimalen Zugang zur Sonnenenergie zu erhalten.116 Auf dieses Prinzip hatte sich auch Gertrud Grunow in ihren Übungen bezogen (Kap. 3.6). In Physiologie und Ökologie stellte Friedrich Czapek Lebensprozesse im Sinne der Biophysik und Biochemie dar, die in Blaauws Schrift gleichermaßen erörtert wurden. Jeder »Einfluß von außen« führe in der Pflanze zu »einer Gegenaktion, Re-Aktion«.117 Diese Grundeigenschaft von Lebewesen führte Czapek als Prinzip der »Selbstregulation«118 ein. Das Vermögen der gesunden Pflanzen- wie auch Tierzellen liege darin, in Reaktion auf Umwelteinflüsse stets den lebensnotwendigen Gleichgewichtszustand herzustellen, der sich durch die Aufnahme von Stoffen, deren Umwandlung und deren Abstoßung vollziehe.119 In einer weiteren Quelle Kandinskys, Matthew Luckieshs Licht und Arbeit von 1926,120 wird die »keimtötende« Wirkung der Sonne angeführt.121 Mit Julius Wiesners botanischen Schrift Die heliotropischen Erscheinungen im Pflanzenreiche unterschied Kandinsky in diesem Sinne die chemisch-reinigende heliotropische (violett, ultraviolett) und die thermotropische (rot, ultrarot) Wirkung von Licht-

110 | Ebd. 111 | Blaauw 1909, S. 250. 112 | Ingold 2015, S. 43. 113 | Blaauw 1909, S. 365. 114 | Ebd., S. 335. 115 | Ebd. 116 | Ebd. Dies wird unter der Bezeichnung der »phototropischen Krümmungen« gefasst. 117 | Czapek 1917a, S. 6. 118 | Ebd. 119 | Ebd. 120 | Kandinsky, undatiertes Typoskript (nach 1926), in Weißbach 2015, S. 512. 121 | Luckiesh 1926, S. 6.

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strahlen.122 Diesen doppelten Bezug zum chemisch wirksamen und zum wärmenden Licht stellten auch Paul Klee und František Kupka her (Kap. 3.1). In der Biometeorologie, die sich im 19. Jahrhundert herausbildete, erforschte man die Folgen des Lichtmangels in Städten.123 Durch die Trübe der Luft wurde die Intensität an UV-Strahlung abgeschwächt.124 Die Entdeckung des Vitamin D erfolgte 1922 in den USA und konnte Ende der zwanziger Jahre als Allgemeinwissen im westlichen Bürgertum vorausgesetzt werden.125 Doch bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Erkrankungen auf Lichtmangel zurückgeführt. Die keimabtötende Wirkung findet sich implizit auch in Heilkraft der Farben von Andrew Osborne-Eaves, der das reine Sonnenlicht gegen die englische Krankheit empfahl.126 Und in der Esoterik wurde die das Immunsystem stärkende Wirkung des Sonnenlichtes ebenfalls mit bedacht (Kap. 4.3). Luckiesh ging nicht nur auf die »heilbringende Wirkung der Sonnenbäder« ein, sondern erwähnte zudem, dass diese dazu geführt hätten, »künstliche[…] Lichtbäder« zu entwickeln.127 Als Alternative zum direkten Sonnenlicht, so schrieb auch Czapek, könne elektrisches Bogenlicht genutzt werden, um bei Pflanzen die »Ernährungstätigkeit der Blätter aufrechtzuerhalten«.128 Eine technische Substituierung des natürlichen Sonnenlichtes spielte in der Zeit eine zunehmende Rolle. Dies wird anhand der Lichtreliefs von Nikolaus Braun noch ausgeführt (Kap. 4.5.1). Für die Malerei jedoch bleiben diese Unterscheidungen ohne praktisch umsetzbare Bedeutung. Während die Wirkung von Farben auf Psyche und Körper auf Basis optischer Reize durch die Psychophysik erklärt wurden, ist fraglich, wie eine den unsichtbaren Strahlen äquivalente, chemische Wirkung in der Malerei erreicht werden sollte. Kandinsky hatte, das wird in seinen Beschreibungen deutlich, in früheren Jahren die neue, leuchtende, sonnengleich strahlende Qualität von Bildern um die Jahrhundertwende begrüßt. Er fasste sie als Teil einer wesentlichen Erneue122 | Kandinsky, »bewegungen der pflanze« (ohne Datierung), in Weißbach 2015, S. 518. 123 | Ingold 2015, S. 159; vgl. Hellpach 1935, S. 56: »Jedes Licht in seiner natürlichen Erscheinungsform, also als strahlendes oder zerstreutes (diffuses) oder gespiegeltes Sonnenlicht wirkt auf den Organismus erregend, dasselbe gilt für jede Lichtvermehrung, sei es der Menge, sei es der Stärke nach (Stärke: Sonnenschein gegenüber bedecktem Himmel, Schneeflächen gegenüber Wiesen, Wasserspiegel gegenüber Moor oder Heide; Menge: Sommertage gegenüber Wintertagen, Polarnächte, das ›Freie‹ gegenüber Straßen). Jedes Dunkel, überhaupt jede Lichtentziehung, wirkt lähmend. Dabei können die zarteren Erregungsgrade wiederum als ›anregend‹, die zarteren Lähmungsgrade als ›beruhigend‹ empfunden werden. Helligkeit steigert jedenfalls die vitalen Funktionen, Dunkelheit setzt sie herab«. 124 | Ingold 2015, S. 163. 125 | Ebd., S. 154. 126 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 10f.; vgl. Kap. 3.3.1. 127 | Luckiesh 1926, S. 10. 128 | Czapek 1917b, S. 56.

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rung der Kunst. In keinem Bild Kandinskys wird das Sonnenlicht jedoch in direkter Weise zum unmittelbaren Bildinhalt gemacht. Auffallend sind hingegen die zahlreichen weißen Gründe und warmen, weiß-gelblich leuchtenden, atmosphärischen Gebilde in seinen Werken, die er besonders häufig zwischen 1919 und 1921 gestaltete. Die intensive Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur biologischen Bedeutung des Sonnenlichtes erfolgte erst später. Das Weiß stellte bereits die Grundlage seines ersten abstrakten Aquarells von 1910/1913 dar, das paradigmatisch für die Erneuerung und Immaterialisierung der Malerei steht.129 In den folgenden Jahren diente Weiß – oft in Verbindung mit Gelb – etwa als atmosphärischer Stoff, in dem sich die Formen der Komposition verorten, als strahlendes, die eigentliche Farbkomposition ›beherbergendes‹ Gebilde in dunkler Umrahmung oder auch als zentrales Bildelement.130 Eine Strahlkraft des Weiß wird häufig kontrastiv erzeugt, durch das Gegeneinandersetzen von Hell und Dunkel, Reinheit und Trübe. Weiß als Grundlage von Kompositionen findet sich auch in späteren Jahren, etwa in Zwei grüne Punkte von 1935 und in Wechselseitiger Gleichklang von 1942.131 In anderer Weise ruft auch das Ölgemälde Auf Spitzen (1928) Assoziationen an eine erwärmte und wärmende Sonnenatmosphäre auf, gleichermaßen an Milder Vorgang erinnernd (Kap. 3.3.3).132 Insofern lässt sich ein Streben nach Helligkeit und Leuchtkraft der Malerei bei Kandinsky durchaus feststellen. In den naturwissenschaftlichen Quellen, auf die er sich später bezog, wurde jedoch immer wieder auf die Möglichkeit der Substituierung des Sonnenlichtes durch elektrische Lampen hingewiesen. Während dies in Kandinskys künstlerischer Praxis keine größere Rolle spielte, wurde die Elektrizität als künstlerisches Medium in die Objekt- und frühe Installationskunst seit den zwanziger Jahren einbezogen. Inwiefern solche Vorstellungen mit der Idee des Kunstwerkes als Gleichnis zur Sonne zusammenhingen, wird nun anhand von Braun und László Moholy-Nagy erörtert.

129 | Vgl. Kandinsky 1952 (1911), S. 96; nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Ohne Titel (»Erstes abstraktes Aquarell«), Studie für Komposition VII, 1910 (vermutlich vordatiert von 1913), Bleistift, Aquarell und Tusche, 49,6 × 64,8 cm, Centre George Pompidou, Paris. 130 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Violetter Keil, 1919, Öl auf Leinwand, 60 × 67 cm, Regionales Kunstmuseum, Tula; Weisses Oval, 1919, Öl auf Leinwand, 80 × 93 cm, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau; Weisses Zentrum, 1921, Öl auf Leinwand, 118,7 × 136,5 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. 131 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Zwei Grüne Punkte, 1935, Öl auf Leinwand, 115 × 162,5 cm, Centre Georges Pompidou, Paris; Wechselseitiger Gleichklang, 1942, Mischtechnik auf Leinwand, 114 × 146 cm, Centre Georges Pompidou, Paris. 132 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Auf Spitzen, 1928, Öl auf Leinwand, 140 × 140 cm, Centre Georges Pompidou, Paris.

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4.5 A usstieg aus dem B ild? D as K unst werk als leuchtende L ebensquelle Die Sonne galt in den betrachteten Künstlerschriften zum einen als physikalischer und biologischer Faktor, der das Leben der Organismen auf der Erde ermöglicht. Andererseits erschien die Sonne als metaphysisches Prinzip, das höhere seelische und geistige Kräfte mobilisiert. Die fehlende Leuchtkraft und Reinheit der Pigmente führten František Kupka und Paul Klee zu einer Bildkritik. Auch bei Wassily Kandinsky wurde nicht deutlich, in welcher Weise die von ihm studierten, chemisch-ökologischen Wirkungen vom Bild ausgehen sollten. In den Zwanzigern begannen Künstler, elektrische Kästen, Reliefs und kinetische Objekte mit Licht zu erstellen.133 Dazu gehörten der weitestgehend unbekannte Künstler Nikolaus Braun und László Moholy-Nagy, die beide eine direkte Beeinflussung der Lebensfunktionen der Betrachtenden durch das Licht erreichen wollten. Über den Sturm-Umkreis bewegten sie sich in einem gemeinsamen Kontext mit Klee, Otto Nebel sowie Robert Delaunay. Zu Braun ist wenig überliefert. Er war ein Schüler Arthur Segals (1875-1944), einem Mitbegründer und Maler der Neuen Secession in Berlin. Beide waren Mitglieder der Novembergruppe. Max Bronstein, alias Mordecai Ardon, ebenfalls Segal-Schüler, erinnerte sich an Braun folgendermaßen: »Er hat etwas Geniales gehabt an sich, denn heute macht man die Mobiles – damit hat er begonnen, mit der Lichtkinetik, was jetzt nach so vielen Jahren modern ist«.134 Bronstein bezeichnete ihn somit als Vorreiter auf diesem Gebiet. Braun soll jedoch vor seiner Emigration nach Budapest 1938 alle seine Werke zerstört haben und beging 1950 in New York Selbstmord.135 Moholy-Nagy erwähnte und reproduzierte eine Lichtplastik Brauns aus dem Jahr 1923 in Von Material zu Architektur. Hier deutete er an, dass Braun nicht konsequent genug sei: »wenn ein maler-plastiker etwas ähnliches wie ›lichtplastik‹ versucht, muß sein wollen bald an grenzen stoßen«, steht unter der Abbildung.136 Gemäß Moholy-Nagy ist hier der Versuch eines Übergangs vom Bild zur installativen Lichtkunst unternommen worden, der nicht geglückt sei oder gar nicht glücken konnte. Ausgehend von seinem und Alfréd Keménys Konzept eines dynamisch-konstruktiven Kraftsystems von 1922 realisierte Moholy-Nagy 1930 den Licht-Raum-Modulator (Lichtrequisit einer elektrischen Bühne). Während Braun seine Lichtreliefs mit der Sonne gleichsetzte, fasste Moholy-Nagy das Licht eher 133 | Jansen/Weibel 2006, S. 27. Zahlreiche, mitunter relativ unbekannte Beispiele finden sich im Ausstellungskatalog licht kunst aus kunst licht. Licht als Medium im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Lichtkunst in der Weimarer Republik vgl. Hoormann 2003. 134 | Ardon im Interview mit Wulf Herzogenrath in Herzogenrath 1987, S. 124. 135 | Ebd. 136 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 171. Moholy-Nagy war mit Segal befreundet (Botar 2006, S. 106).

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allgemein als vitale Kraft und interessierte sich für die biologischen Funktionen wechselnder – reflektierter oder elektrischer – Lichteindrücke. Das Postulat eines Ausstiegs aus dem Bild bleibt in diesem Kapitel darum mit einem Fragezeichen versehen, weil Moholy-Nagy Ende der dreißiger Jahre ganz zum Bild zurückkehrte. Er integrierte reflektierende oder transparente Materialien wie etwa Stahl, Aluminium und Plexiglas in Tafelbilder und erweiterte so das Medium. Auch wenn Moholy-Nagy seine Werke selbst nie als Sonnenäquivalente bezeichnete, so ist er als Kommentator des künstlerischen Ansatzes von Braun sowie als Bindeglied zum historisch Folgenden im Rahmen dieser Studie unverzichtbar. Er war für die Gruppierung Zero, ebenso wie für die spätere Environmental Art wegweisend (Kap. 4.6, 7.2). Wie bislang für keinen Künstler seiner Schaffenszeit, wurden zudem in den vergangenen Jahren anhand von Moholy-Nagy Bezüge zu Ökologen und Biologen wie Raoul H. Francé, Alexander Bogdanov und anderen ausgearbeitet (Kap. 6.8.2). Die Orientierung an natürlichen Kräften blieb bei ihm implizit. Zugunsten einer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Kunst stellte er diese nie in den Fokus. Festzustellen ist auch, dass Moholy-Nagy aus Quellen, auf die sich Nebel, Klee und Johannes Itten bezogen, andere Konsequenzen für sein Kunstkonzept zog, woraus sich ein besonders eigenständiger Ansatz einer ökologischen Bildwirkung ergab.

4.5.1 Das Kunstwerk als Höhensonne: Nikolaus Braun Einige Jahre nach den Lichtscheiben Kupkas und den ersten Soleils Delaunays erdachte Braun eine andere Form, Sonnenlichtäquivalentes in der Kunst präsent zu machen. In der Zeitschrift Der Sturm verfasste er 1924 eine Glosse mit dem Titel »Erlösung im Licht«: »Ich fertige Bilder für Sanatorien an mit eingebauter Höhensonne. Davor werden die Ausstellungs- und Sanatoriumsbesucher kaffeebraun und fahren nach 10 Minuten Betrachten aus der Haut. Weiterhin schaffe ich Bilder mit Blaulicht – ebenfalls für Heil- und Unheilzwecke. Von meinen neuesten Bildern gehen die Strahlen des großen englischen Physikers H. Rindell-Matthews [sic!] aus, die sogar einem Magneten das Anziehen und Abstoßen abgewöhnen. Der Betrachter dieser Bilder fühlt sich im Nirvana-Zustand selig erlöst. – In Parlamenten und Kaffeehäusern aufgehängt, verhindern diese meine Arbeiten wirksamst jeden Krieg. Im übrigen können Sie das alles ebenso erleben, wenn Sie sich an das Wasser begeben und daselbst geruhsam das Spiel des Lichtes betrachtend sich hineinziehen lassen in das unendliche Hüpfen und Kreisen der Reflexe und Sonnenabbilder.«137

137 | Braun 1924, S. 113. Braun schreibt fälschlich Rindell, der Name lautet korrekt: Harry Grindell-Matthews.

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Die Wirkung seiner Arbeiten verglich Braun mit der Therapie in einer Sonnenheilanstalt. Eine bräunende und, durch das Blaulicht, beruhigende Wirkung attestierte er den Werken ebenso wie die Emission mysteriöser Strahlen. In seinem kurzen Artikel »Das konkrete Licht«, der nur ein Jahr nach der Sturm-Glosse in Segals Büchlein Das Lichtproblem in der Malerei erschien, schrieb Braun: »Von der Idee ausgehend, den in der konstruktivistischen Plastik konkret gewordenen Form- und Farbelementen der Materie als drittes das Licht hinzuzufügen, gestalte ich meine Plastiken und Lichtreliefs, denen ich als Konkretum das elektrische Licht einfüge, so diesen Gebilden zu einer realen und eigenen Lichtgebung verhelfend.«138

Hier sprach er nun nicht mehr von Höhensonnen, sondern von einfachem, elektrischem Licht. Brauns Lehrer Segal formulierte gleichermaßen das Ziel, vom Bild Licht ausstrahlen zu lassen. Bei ihm finden sich allerdings gar keine Hinweise auf eine therapeutische Bildwirkung durch Farbe und Licht. Er sprach von »prismatischen Ausstrahlungen der Formen und Farben an ihren Rändern« und bezeichnete dieses Phänomen als »Lichtorganik«.139 Wie Braun in seinem Aufsatz verdeutlichte, antwortete er auf dieses von seinem Lehrer aufgeworfene Problem. Mit technischen Mitteln verhelfe er der Plastik zu »einer realen und eigenen Lichtgebung«, die im Medium der Malerei so nicht möglich sei.140 Eine grundlegende Erforschung von Brauns Schaffen wird es aufgrund der fehlenden Überlieferungen und Werke wohl nie geben können.141 In seinem Artikel »Licht und Schatten: zu den wechselnden Lichtbildern von Nikolaus Braun« widmete sich jedoch Rudolf Blümner 1926 im Sturm etwas ausführlicher den Werken des Künstlers. Hier problematisierte er, dass die 1924 in der Zeitschrift veröffentlichen Reproduktionen »vom Wesentlichen [der Objekte] überhaupt keine Vorstellung« geben konnten142 und lieferte eine Beschreibung der Werke, in denen allerdings wichtige Angaben, etwa zu den Maßen, fehlen (vgl. Abb. 25, 26). Braun, so Blümner, arbeite an »selbstleuchtenden Gebilden, an der leuchtenden Plastik, dem leuchtenden Relief, die sich selbst ihren Schatten setzen, weil sie selbst Licht setzen«.143 Die Werke bestünden aus Rahmen, in denen sich Reliefs

138 | Braun, »Das konkrete Licht«, in Segal 1925, o.S. 139 | Segal, »Das Lichtproblem in der Malerei«, ebd. 140 | Braun, »Das konkrete Licht«, ebd. 141 | An der Berlinischen Galerie wurde zwischen 2015 und 2017 ein Forschungsprojekt zur Novembergruppe realisiert. Die Stipendiatin Dr. Janina Nentwig bestätigte, dass auch sie zu Nikolaus Braun keine weiteren Hinweise finden konnte. Die Berlinische Galerie verfügt über Brauns Gemälde Berliner Straßenszene (1921). 142 | Blümner 1926, S. 129. 143 | Ebd., S. 131.

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aus Holz oder Metall befinden.144 In diesen Kästen seien elektrische Birnen verborgen eingesetzt. Als weiteres Element der Kompositionen bezeichnete Blümner den »Lichtwechsel«.145 Diesen problematisierte er insofern, als dass die Bilder je nur zwei Phasen aufweisen. Jedoch würde erst »eine grössere Reihe von Lichtwechseln […] zu einem Licht-Schattenspiel besonderer Art führen«: »Der Uebergang selbst, der einmalige, kann keinen Rhythmus erzeugen, so wenig wie ein einziges Intervall eine Melodie erzeugt«.146 Auch Mordecai Ardon hatte davon gesprochen, dass die Lichter bei Braun sich nicht dynamisch bewegten.147 Abbildung 25: Nikolaus Braun, Wechselndes Lichtbild Phase 1, ohne weitere Daten, abgedruckt in: Der Sturm 3, 1924

144 | Ebd. 145 | Ebd., S. 132. 146 | Ebd. 147 | Ardon im Interview mit Wulf Herzogenrath in Herzogenrath 1987, S. 124.

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Abbildung 26: Nikolaus Braun, Wechselndes Lichtbild Phase 2, ohne weitere Daten, abgedruckt in: Der Sturm 3, 1924

Einen Kunstcharakter sprach Blümner den Lichtreliefs Brauns ab, da sie eher technischer denn künstlerischer Art seien. Er empfahl sie für »Schaufenster«, »Anzeige« und »Reklame«.148 Auch erwähnte er eine mögliche Verwendung in der Architektur sowie die Tatsache, dass Braun einige seiner Lichtreliefs für Bühnenbilder entworfen habe.149 Dies verbindet Braun mit Moholy-Nagy und mit dessen Lichtrequisit einer elektrischen Bühne. Für das Konzept der Lichtreliefs als Sonnenäquivalent sind Blümners Ausführungen nicht aufschlussreich. Ob Braun tatsächlich Höhensonnen in seine Plastiken eingefügt hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts existierten »elektrische Lichtbäder«, sogenannte Glühlichtbäder, die durch Wärme eine heilsame Wirkung entfalten soll148 | Blümner 1926, S. 135. 149 | Ebd.

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ten. Dabei handelte es sich um lebensgroße Kästen mit etwa fünfzig Glühbirnen, in welche die Patientinnen und Patienten sich hineinsetzten, wobei der Kopf und teilweise auch die Brust oben herausragten.150 Bei Braun finden wir diese Kastenform en miniature wieder.151 Das Bogenlicht wirkte erwärmend oder gar erhitzend, und wurde im Rahmen von Schwitzkuren zur Schmerztherapie bei Rheuma und anderen Erkrankungen eingesetzt.152 Eine solche Schwitztherapie war auch bei Kandinsky zur Sprache gekommen (Kap. 4.4). Die spätere Höhensonnentherapie erfolgte nicht in Kästen, sondern über scheinwerferartige Lampen. Die erste Höhensonne entstand 1904. Durch die Emission von ultravioletter Strahlung führen Höhensonnen zur Bildung von Vitamin D und entfalten so eine heilsame Wirkung.153 Hippolyt Meles, der 1906 die Hanauer Quarzlampen-Gesellschaft gegründet hatte, sprach davon, dass von der »Quecksilberdampflampe ähnliche Wirkungen ausgingen wie von der Sonne im Gebirge« und man sie daher »für allgemeine Kräftigung und Rehabilitation für die Therapie von Krankheiten […] verwenden konnte«.154 Durch diesen Apparat sollte die »Naturerscheinung Sonnenlicht in reproduzierter Form jederzeit verfügbar, dosierbar, kontrollierbar und berechenbar gemacht werden«, so Meles.155 Unklarer ist, welchen Hintergrund die von Braun angesprochenen unheilvollen Wirkungen haben, das aus-der-Haut-Fahren nach längerer Betrachtung und die Erwähnung der Harry-Grindell-Matthews-Strahlen. Durch seine Behauptung, er habe Todesstrahlen entwickelt, erregte Grindell-Matthews um 1924 in Europa und Amerika Aufmerksamkeit. Noch vor der Erkenntnis der schädlichen Wirkung radioaktiver Strahlung und der Furcht vor der Nuklearkatastrophe seit den Fünfzigern existierte bei aller Faszination für das Unsichtbare und Immaterielle bereits eine Form der Strahlenangst. Die Existenz unsichtbarer Strahlen, die über Konduktivität, Elektrizität und Hitze im Krieg gegen Maschinen und Menschen eingesetzt werden konnten,156 wurde seit den 1870er Jahren diskutiert.157 Auch eine Verbindung zu Therapien mit Sonne oder elektrischem Licht lässt sich herstellen: So können zu lange Sonnenbäder sowie Therapien mit elektrischen Glühbirnen starke Verbrennungen der Haut herbeiführen. Wenngleich die potentiell schädliche Wirkung des ultravioletten Lichtes erst in den 1970ern und ab 1985 im Kontext der Entdeckung des Ozonloches und schädlicher UVB-Strahlung in 150 | Tavenrath 2000, S. 34. 151 | Wie bereits erwähnt, fehlt jegliche Maßangabe zu den Werken Brauns. Wären sie sonderlich groß gewesen, wäre dies sicherlich bei Blümner zur Sprache gekommen. 152 | Ingold 2015, S. 63. 153 | Zur Entstehung, Wirkung und Geschichte der Quarzlampe, vgl. Tavenrath 2000, S. 31-38; vgl. Kap. 4.4. 154 | Meles zit.n. ebd., S. 35. 155 | Ebd., S. 31. 156 | Fanning 2015, S. 60f. 157 | Ebd., S. 9.

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Wissenschaft und Gesellschaft zum Thema wurde,158 stellte man Verbrennungen durch Bogenlicht schon Anfang des 20. Jahrhunderts fest und suchte nach milderen Anwendungen.159 Obwohl es ein paar Anhaltspunkte gibt, muss die Ausdeutung des Sturm-Textes Brauns ungewiss bleiben, zumal der kurze Abschnitt als ›Glosse‹ deklariert und auch ironisch lesbar ist. Brauns Text zeugt in jedem Fall von der Präsenz therapeutischer, künstlerischer Wirkungskonzepte zu dieser Zeit: Zum einen sprach er die chemischen Wirkungen des Lichtes und der Wärme an, die Kupka, Klee und Kandinsky ebenfalls in ihre Überlegungen einbezogen (Kap. 3.1, 4.4). Zu den chemischen und thermodiätischen Aspekten trat zusätzlich die pazifizierende Wirkung des Lichtes, die sich in Gesellschaft und Politik niederschlagen sollte. Diesen Glauben an einen Wandel der Gesellschaft durch das Licht wurde bei Kandinsky gleichermaßen deutlich. Mit Brauns Nennung des blauen, beruhigenden Lichtes wird zudem ein Bezug zur Chromotherapie deutlich (Kap. 3.3). Die Auseinandersetzung mit dem Licht verfolgte Braun sehr ernsthaft: Sie führte ihn weg vom Tafelbild, hin zu einer Licht- und Objektkunst. Mit dem Einbau einer Höhensonne in seine Reliefs wäre die Utopie des Kunstwerkes als Sonne besonders plakativ und tatsächlich wirksam umgesetzt worden. Auch in anderer Weise suchte Braun, die Plastiken als Äquivalente zu Naturkräften zu behaupten: Die Wirkung seiner Arbeiten beschrieb er in Analogie zu einem Naturschauspiel, als »unendliches Hüpfen und Kreisen der Reflexe und Sonnenabbilder«,160 was allerdings dem Urteil Blümners völlig widerspricht. Schließlich blieben die Werke statisch und wechselten nur zwischen zwei Zuständen. Gegen diese Statik setzte Moholy-Nagy seinen Licht-Raum-Modulator sowie theoretische Überlegungen zu einer dynamischen und vitalisierenden Kunst mit Licht.

4.5.2 Bildkritik und die Lichtbewegung als Lebensprinzip: László Moholy-Nag y Anhand von Moholy-Nagys Bemerkung zu Brauns Lichtreliefs zeichnete sich die grundlegende Bildkritik ab, die ihn zu einer Erweiterung des Bildmediums sowie dem Ideal einer direkten, freien Arbeit mit Licht führte. Ende der Zwanziger bestimmte er »projektion, licht, bewegung, durchdringung« als zentrale Probleme und Ziele der Kunst.161 Auch er wollte weg von der Farbe als Pigment: »heutige bemühungen zielen dahin, selbst den farbstoff (das pigment) zu überwinden oder ihn wenigstens soweit zu sublimieren, um aus dem elementaren material der

158 | Ingold 2015, S. 222f. 159 | Ebd., S. 62. 160 | Braun 1924, S. 113. 161 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 90.

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optischen gestaltung, aus dem direkten licht, den ausdruck zu realisieren«.162 Mit dem Licht als Lebensgrundlage setzte sich Moholy-Nagy schon Ende der zehner Jahre auseinander. Die Sonne beschrieb er 1917 in einem Gedicht als »die Kraft, die zeugt«.163 Das von Moholy-Nagy um 1919 behauptete Potential des Malers, »Lebens- und Bildungskraft durch Licht, Farbe, Form zu übertragen« und so »die Substanz des Lebens [zu] vermitteln«,164 fügt sich hier ein. In The New Vision bestimmte er schließlich die biologische ›Nährung‹ als Ziel seiner künstlerischen Praxis.165 Dieses Prinzip der Nährung durch Farben und Lichter fand sich gleichermaßen bei Delaunay und Klee. Sibyl Moholy-Nagy machte den lebensreformerischen Hintergrund ihres Mannes in der biographischen Schrift László Moholy-Nagy, ein Totalexperiment sehr stark – insbesondere die Verbindungen zur Heildoktrin Mazdaznan, der Johannes Itten und dessen Vertraute am Bauhaus anhingen, sowie allgemeinhin zur Lebensreform noch vor seiner Zeit am Bauhaus.166 Für Moholy-Nagys Arbeit mit dem Licht sei ein Aufenthalt in Griechenland besonders wichtig gewesen: »Sein ganzes Leben hatte Moholy versucht, in seinen Bildern die unfaßbare Qualität des Lichtes auszudrücken. Farbe und Pigment waren unwesentlich in dieser Lichtsprache, die nirgends überzeugender war als in Griechenland. Nur das wird uns offenbar in unserer Umgebung, was sich in uns vorbereitet hat. Für Moholy war Licht das griechische Phänomen.«167

Solche direkten Bezüge zum Sonnenlicht in einer bestimmten Region stellte Moholy-Nagy in den eigenen kunsttheoretischen Schriften jedoch nicht her. Insofern sind S. Moholy-Nagys Aussagen mit großer Vorsicht zu genießen. Für sein Farb- und Lichtkonzept wählte der Künstler dezidiert keine Bezüge zu bestimmten Klimaräumen, im Unterschied zu Klee, Nebel sowie Delaunay. So gut wie nie ist die Rede vom Sonnenlicht, schon gar nicht nach 1920, wenngleich damit zusammenhängende biologische Prinzipien stets grundlegend blieben. Den Bezug zum Licht bewahrte er sich als wesentliches Element für sein Konzept einer auf das Leben einwirkenden Kunst. Vergleichbar ist Moholy-Nagy mit Kupka, der atmosphärische Lichterscheinungen sowie Postulate der Lebensreform am Beginn 162 | Ebd., S. 88f. 163 | Moholy-Nagy zit.n. S. Moholy-Nagy 1969 (1950), S. 24. 164 | Moholy-Nagy zit.n. ebd., S. 25. 165 | Moholy-Nagy 1947a, S. 51; vgl. Kap. 3.8.2. 166 | S. Moholy-Nagy 1969 (1950), S. 32. Oliver Botar zeigte 1998 die zahlreichen Bezüge Moholy-Nagys und anderer Avantgarde-Künstler zu breiten ökologischen Denkströmungen auf. 2006 wies er diese Stränge nochmals dezidiert am Frühwerk Moholy-Nagys nach. Allerdings bleiben diese Bezüge im Ungefähren, weder anhand der Schriften, noch anhand der Werke lässt sich die Bedeutung von Esoterik und Mazdaznan nachweisen. Zu Mazdaznan siehe Kap. 5.4. 167 | S. Moholy-Nagy 1969 (1950), S. 88.

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seiner Entwicklung einer abstrakten Kunst stark gemacht hatte, diese später aber in den Hintergrund rücken ließ.168 Grundlegend für Moholy-Nagys Lichtkonzept war Wilhelm Ostwalds Energetik, welche die Welt als ein »systemisches Zusammenspiel von Energien anstatt von Materie« fasste.169 Ostwald betonte dabei die energetisierende und lebensdienliche Bedeutung der Sonne: Der »Vorrat freier Energie, auf dessen Kosten alle Lebewesen ihr Dasein fristen«, werde schließlich »beständig von der Sonne geliefert und ergänzt«.170 Moholy-Nagy strebte an, solchen das Leben erhaltenden und stärkenden Prinzipien in seiner Kunst zur Wirkung zu verhelfen. So bemängelte er das fehlende Wissen zu Grundlagen der Farbgestaltung und -wirkung und formulierte 1936 ausgehend davon folgende Fragen: »[…] was ist farbe (pigment)? was sind die zwischenmedien, durch die die farbe leben gewinnt? was ist farbenintensität? chemie der farbe und der lichtwirksamkeit? […] biologische funktionen? fysiologische reaktionen? […]«171

Die Umwandlung von Farbe in Licht, die Intensivierung der Farbe und ihrer biologisch-physiologisch wirksamen Qualitäten interessierten Moholy-Nagy besonders. Farbe begriff er als ein biologisch wirksames und dementsprechend auch nach biologischen Gesetzmäßigkeiten einsetzbares Medium, wobei er in seinen Schriften diesbezüglich nie sonderlich konkret wurde. In seinem Œuvre lassen sich allerdings eine Reihe verschiedener Modi identifizieren, lichtähnliche Phänomene oder Licht selbst präsent zu machen. Seit den frühen zwanziger Jahren versuchte Moholy-Nagy, Farbräume in der Malerei zu erzeugen, die durch die Konstruktion von transparent scheinenden Flächen im virtuellen Bildraum eine Qualität der Licht- und Lufträumigkeit erzeugen. Es handelt sich um oftmals großflächige Formate wie die Komposition Z VIII von 1924 (Abb. 27). Durch das Prinzip der Transparenz sollte eine Dematerialisierung vollzogen werden. Transparenz wurde auch in den Photogrammen, wenngleich in weitaus kleineren Formaten, noch konsequenter umgesetzt. In diesen seit 1922 entstandenen Arbeiten wurden auf photosensiblem Papier, ohne Kamera, nur durch die unterschiedlich starke Exposition mit Licht verschiedene Schichten der Lichtintensität und Grauschattierungen erzeugt, die einander überlagern – mal sanft ineinander übergehend, mal durch starke Kontraste von168 | Vgl. Kap. 3.1.2; zur Wandlung des Lichtverständnisses von Moholy-Nagy siehe Hoormann 2003, S. 54-56. 169 | Botar 2008, S. 82; vgl. Hoormann 2003, S. 123. 170 | Ostwald 1908, S. 133. 171 | Moholy-Nagy, »vom pigment zum licht« (1936), in Passuth 1987, S. 430.

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einander abgegrenzt. Gerade das Ineinander-Übergehen, das Fließen, beschrieb Moholy-Nagy als eine ganz neue Qualität der Bilder, die in der Malerei so nicht erreichbar sei.172 Zwar entstanden diese Arbeiten durch die direkte Berührung mit Licht, jedoch wurde das lichtempfindliche Medium, für das sich der Künstler eigentlich interessierte – der Mensch – hier wie auch in Z VIII nicht direkt bestrahlt oder durchleuchtet. Abbildung 27: László Moholy-Nagy, Z VIII, 1924, Tempera und Graphit auf Leinwand, 114 × 132 cm, Nationalgalerie, Staatliche Museen, Berlin

Seit Ende der dreißiger Jahre arbeitete Moholy-Nagy verstärkt mit reflektierenden Materialien: Lichtaussendung und Schattenerzeugung wurden plastisch durch die Nutzung von Plexiglas umgesetzt. Zudem nahm er lineare und flächige Einritzungen in das Material vor, die dann mit Farbe gefüllt wurden. Die Formen erscheinen von jeglichem Grund enthoben zu schweben. Zudem wurde das Plexiglas mitunter durch Erhitzung deformiert und weist Blasen und Unregelmäßigkeiten auf, die das Licht einfangen und reflektieren, während zusätzlich mehrere Lichtstrahler auf die Objekte gerichtet wurden.173 Diese Werke bezeichnete Moholy-Nagy als Space Modulators. Sie bezogen sich direkt auf sein Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, das er alternativ Licht-Raum-Modulator nannte. In seinem Guggenheimer Space Modulator reduziert sich die Palette auf die Grundfarben Rot, Blau und Gelb sowie Schwarz, Grau und Weiß (Abb. 28). Andere Werke aus der Reihe und dem früheren malerischen Œuvre sind durch geringeren Farbenreichtum geprägt. Typisch sind Hell-Dunkel-Kontraste sowie ein goldenes Gelb, das eine Assoziation zur Sonne nahelegt. 172 | Moholy-Nagy, »fotogramm und grenzgebiete« (1929), ebd., S. 323. 173 | Moholy-Nagy 1947a, S. 86; vgl. Barten/Pénichon/Stringari 2016, S. 199-201.

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Abbildung 28: László Moholy-Nagy, Space Modulator, 1939-45, Öl und Einschnitte auf/ in Plexiglas, 58,7 × 66,7 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York

Die Bilder sind an sich statisch. Sie schließen die Betrachtenden keineswegs in ein Environment ein, sondern haben eher etwas Abweisendes. Wie Florian M. Neusüss und Renate Heyne darstellen, »entfaltete das Bild seine Wirksamkeit erst, wenn der Betrachter sich bewegte«.174 Dadurch ergibt sich ein direkter Kontakt mit dem Werk über das reflektierte Licht, das je nach Bewegung der Betrachtenden immer anders ins Auge fällt und neue Wahrnehmungen der Objektoberflächen ermöglicht. Die Fläche sollte, so Moholy-Nagy, schließlich »zu einem teil der atmosfäre, des atmosfärischen grundes [werden], indem sie die außer ihr existierenden lichterscheinungen aufsaugt«.175 Er sprach weiter davon, dass »durch spiegelung und reflexe […] die umgebung in die bildebene« eindringe.176 Anders als bei Braun sollte also nicht eine Erweiterung des Bildes in den Umraum, sondern umgekehrt ein Einschluss der Umwelt in das Bild erfolgen. Eine letzte, für Moholy-Nagys theoretische Überlegungen zentrale, aber kaum konsequent ausgeführte Form, Licht präsent zu machen, war die Arbeit mit elektrischem Licht. Um 1930 baute er sein Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, das im 20e Salon des artistes décorateur im Pariser Grand Palais zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurde (Abb. 29).177 In diesem Objekt versuchte Moholy-Nagy jene 174 | Heyne/Neusüss 1995, S. 138. 175 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 90. 176 | Ebd. 177 | Das Original von 1930 befindet sich heute im Busch-Reisinger-Museum in Cambridge. Es gibt zudem zwei Rekonstruktionen, eine davon ist seit 1972/73 im Bauhaus-Museum Berlin.

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Punkte, die er an Brauns Lichtkästen kritisiert hatte, zu umgehen, und eine dynamische Wirkung zu erzeugen. Die Apparatur setzt sich aus drei in sich beweglichen und aus Gittern, Stäben und Kugeln bestehenden Sektoren zusammen,178 die sich auf einer runden Platte, angetrieben von einem elektrischen Motor, bewegen. Abbildung 29: László Moholy-Nagy, Licht-RaumModulator (Lichtrequisit einer elektrischen Bühne), 1930, mobile Konstruktion aus verschiedenen Metallen, Kunststoff, Holz und Elektromotor (Replik von 1970), 151 × 70 × 70 cm, Bauhaus-Archiv, Berlin

178 | Moholy-Nagy, »Lichtrequisit einer elektrischen Bühne« (1930), in Passuth 1982, S. 328, weiter heißt es: »Das Bewegungsspiel des ersten Sektors: drei Stäbe bewegen sich schaukelnd […] auf einer endlosen Bahn. Auf den drei Stäben sind verschiedene Materialien, durchscheinender Siebstoff, parallele Horizontalstäbe und Maschendraht montiert. Das Bewegungsspiel des zweiten Sektors: in drei hintereinanderliegenden Ebenen befindet sich eine große Aluminiumscheibe unbeweglich: davor eine kleinere vernickelte und polierte Messingscheibe, durchlöchert, die sich auf- und abbewegt; währenddessen wird zwischen den beiden eine kleine Kugel auf eine Achterbahn geschleudert. Das Bewegungsspiel des dritten Sektors: ein Glassstab, worauf eine Glasspirale aufgewickelt ist. Diese beschreibt eine der großen Scheibe entgegengesetzte Kegelbewegung. Die Spitze des Kegels berührt den Boden, der aus einer schräggestellten sektorförmigen Glasscheibe besteht. Diese schwebt über einer spiegelnden kreisrunden Platte«.

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Auch wenn das Lichtrequisit und seine Reproduktionen heute zumeist freistehend präsentiert werden, stand der Apparat ursprünglich in einem Kasten mit den Maßen 120 × 120 cm, der an zwei Seiten kreisförmige Öffnungen aufweist. Es handelt sich nicht um eine eigenständige Skulptur, sondern um eine Apparatur zur Erzeugung von Atmosphären. Die Beleuchtung erfolgt durch gelb-, grün-, blau-, rot- und weißfarbige Glühbirnen, 70 Illuminationsbirnen (17 Watt) und fünf Scheinwerferbirnen (100 Watt), die an zwei Innenseiten des Kastens angebracht sind. So sind sowohl die additiven als auch die subtraktiven Grundfarben enthalten. Diese leuchten, so Moholy-Nagy, »auf Grund eines vorbestimmten Planes an verschiedenen Öffnungen auf«.179 Diese Lichter werden in verschiedenen Formen und Farben von den bewegten Metallformen reflektiert und so aus dem Kasten heraus in die Umgebung gestrahlt sowie auf die umliegenden Wände projiziert. Wie schon verdeutlicht, findet sich bei Moholy-Nagy keine Farbsystematik, die bestimmte Farbkombinationen und ihre Wirkungen aufschlüsselt. Eine Gleichsetzung des reflektierten oder ausgestrahlten Lichtes mit der Sonne sucht man vergeblich. Von einer Verwendung ultravioletten Lichtes ist bei ihm nur im Kontext der Filmproduktion die Rede. Für seinen Film Lichtspiel, schwarz, weiß, grau (1930) verwendete Moholy-Nagy das Lichtrequisit, das nun auf Licht und Schatten, Hell und Dunkel, also Nuancen zwischen Weiß und Schwarz reduziert wurde.180 Licht wurde von Moholy-Nagy allgemein als chemische, biologische und physiologische Lebensenergie aufgefasst, die im Kontext der Lebensreformbewegung, der Naturheilkunde sowie der biologisch-ökologischen Diskurse der Zeit auch in Form elektrischer Substitute relevant wurde. Zugleich bleiben konkretere Begründungen biologischer Lichtwirkungen in den Schriften des Künstlers aus. Es waren dynamische, unerwartete Eindrücke, die durch die rhythmischen Wechsel der Lichter, Schatten und Formen zu einer Vitalisierung führen sollten. So ging es Moholy-Nagy um ein energetisches Prinzip der Bewegung, das von natürlichen Systemen und Kräften abgeleitet ist (Kap. 6.8). Seine Space Modulators dienten in diesem Sinne einer Animation nicht nur des Blickes, sondern auch der Bewegung des Körpers durch den Raum, wodurch sich der Rezeptionsraum erweiterte. Tatsächlich ist aber eine besondere Dynamisierung oder Lichtwirkung selbst am Original nicht festzustellen. Letztlich konnte Moholy-Nagy die an Braun geübte Kritik nicht in ein konsequent ausgeführtes Gegenmodell überführen. Von einem Ausstieg aus dem Bild ist bei ihm nicht zu sprechen, so sind eine Vielzahl seiner theoretischen Überlegungen und Vorstellungen nicht umgesetzt worden.181 Moholy-Nagy hatte zahlreiche weitere utopische Ideen zu 179 | Ebd. 180 | Formen der Kolorierung, die Ähnlichkeiten zu den Farblichtspielen Ludwig HirschfeldMacks aufweisen würde, vermied Moholy-Nagy hier. Zur Lichtkunst von Hirschfeld-Mack siehe einführend Hoormann 2003, S. 81 sowie zu seiner Farbverwendung weiterführend ebd., S. 117-121 und S. 159-166. 181 | Vgl. Passuth 1987, S. 59 (Einleitung).

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Lichtarchitekturen, -fresken und -spielen formuliert, für die noch der »bauherr« fehle, und so schloss er im Jahr 1934, dass unter diesen Umständen weiterhin am Tafelbild festgehalten werden müsse.182 Die Erweiterung des Bildes durch reflektierende Kunststoffe sowie seine technischen Utopien wurden von der Gruppe Zero gut fünfzehn Jahre später aufgenommen. In ihrer Anknüpfung an die Lichtexperimente seit den Zwanzigern dachten Künstler wie Otto Piene die bei Moholy-Nagy immer wieder betonte Verbindung ästhetischer Gestaltung und energetischer Wirkung weiter.

4.6 E nergie des reinen S onnenlichtes : O t to P iene Otto Piene ist insbesondere für seine Lichtballette bekannt, die seit 1959 entstanden und die gleich den Lichtobjekten László Moholy-Nagys und Nikolaus Brauns einen Ausstieg aus dem Bild markierten. Parallel zu diesen schuf Piene Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre Rasterbilder, mit denen er sich dem reinen Licht zuwendete und die er mitunter explizit als Sonnenäquivalente bezeichnete.183 Dabei verstand Piene die Kunst als Spenderin von Lebensenergie (Kap. 3.8.3). Verbindungen lassen sich nicht nur zu Yves Klein herstellen, auch knüpfte Piene an die Bauhaustradition an. Mit dem Bauhaus setzte er sich bereits Ende der vierziger Jahre auseinander, als er an privaten Kunstschulen in München beim Franz von Stuck-Schüler Willy Geiger lernte. An der Kunstakademie Düsseldorf schloss er schließlich um 1950 Bekanntschaft mit den später ökologisch engagierten Künstlern Heinz Mack und Joseph Beuys.184 Piene stellte sich in eigenen Aussagen weiterhin in eine Nachfolge zu Robert Delaunay sowie zu den Futuristen. Erst sie hätten die »Farbe als Farbe, als Licht, als Energie« fassbar gemacht.185 Eine weitere Schnittstelle zwischen der französischen Tradition und Piene bildet die Philosophie Henri Bergsons und dessen Konzept des élan vital. Der élan vital, so Piene, sei in der Malerei durch die Kunst des Informel wiedergegeben worden.186 Das Informel hatte

182 | »ich träume von lichtapparaten, mit denen man handwerklich oder automatischmechanisch lichtvisionen in die luft, in große räume und auf schirme von ungewöhnlicher beschaffenheit, auf nebel, gas und wolken schleudern kann.« – Dieses Zitat könnte von Piene stammen, wurde jedoch von Moholy-Nagy um 1934, in einem Brief an František Kalivoda (1934) formuliert, ebd., S. 337. 183 | Noch um 2009 schuf er etwa sogenannte Rastersonnen, kreisrunde Keramikformen mit leuchtenden Punkten bespickt. 184 | Zu Mack siehe Kap. 5.5 und zu Beuys siehe Kap. 7.2.1. 185 | Piene, »Die Farbe in unterschiedlichen Wertbereichen« (1958), in ZERO 1, S. 19, vgl. Einleitung zu diesem Kapitel. 186 | Piene, »Über die Reinheit des Lichts« (1960), in ZERO 2, S. 24. Er nennt Wols und Jackson Pollock; zum élan vital vgl. Kap. 1.2.

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er allerdings paradoxer Weise andernorts als zu erdgebunden, negativ und dunkel abgelehnt.187 Sein Ideal des belebten und belebenden Bildes ordnete Piene in verschiedene Traditionen ein. Dabei unterschied er nicht zwischen den metaphysischen Vorstellungen Bergsons, dem physikalischen Lichtkonzept Delaunays und den elektrischen Utopien der Futuristen. Eine Positionierung war für Piene in der Allgemeinheit seiner Vorstellungen nicht nötig. Auch arbeitete er selbst mit jenem elektrischen Licht, das Delaunay verehrte und auch die Futuristen, unter anderen Vorzeichen, vergöttert hatten. Das reine Sonnenlicht war für Piene, ähnlich wie für Delaunay, ein grundlegendes Modell für die Bildwirkung. Im Gegensatz zu den Futuristen bezog er sich positiv auf die Natur. So erachtete Piene die »Reharmonisierung zwischen Mensch und Natur« als eine der wichtigsten Aufgaben der Zero-Kunst.188 Ende 1957 konstituierte sich Zero, 1958 erschien die erste von drei Ausgaben des gleichnamigen Magazins. Konzepte und Phänomene der Energie, der Vibration, des Rhythmus und des Lichtes standen von Anfang an im Fokus der Gruppe. Für diese Studie wären weitere Künstlerpositionen in diesem Umkreis interessant, würden allerdings den Rahmen sprengen.189 Piene wird erwählt, da aus seinen Schriften wie seinem künstlerischen Schaffen ein ökologisches Kunstmodell in besonderem Maße evident wird und er dieses, ähnlich wie Klein, ausgehend von der Malerei entwickelte.190 In einem mit »Zero« betitelten Text aus dem Jahr 1963 von Mack, Piene und Günther Uecker heißt es neben vielen anderen Zuschreibungen: »Die Sonne ist Zero«.191 Das Modell des Bildes als Sonnenäquivalent wurde von Piene in seinem in Zero 3 veröffentlichten Text »Wege zum Paradies« (1961) ausformuliert. Dort heißt es, der Mensch brauche »ein Medium […], das die Kraft der Sonne aus einem Strom transformiert zu einem Leuchten, das ihm angemessen ist, zu einem Strom, dessen Wellen wie der Puls des Herzens sind«.192 Noch 1972 sprach 187 | Piene, »Fragen« (1960), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 113; vgl. Kap. 2. 188 | Zit. aus Piene, »Über Z ero « (1972), in Wißmann 2011, S. 75; vgl. Kap. 2.4. Der Ansatz von Z ero bestand dezidiert in der Verbindung von Natur beziehungsweise Natürlichkeit und Technik. Dieser Impetus wird ausführlicher noch anhand von László Moholy-Nagy und dessen Biotechnikkonzept diskutiert (Kap. 6.8) Er wird auch bei Klein und Werner Ruhnau deutlich (Kap. 5.5). 189 | Dies gilt gleichermaßen für die niederländische Gruppe nul sowie die italienischen gruppo n und gruppo t. 190 | Dass Piene weitaus mehr programmatische Texte veröffentlichte als seine Kollegen thematisierte er auch selbst: Piene, »Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung Mack – Piene – Uecker im Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld, Haus Lange« (1963), in Ausst.-Kat. KestnerGesellschaft Hannover 1965, S. 133. 191 | Mack/Piene/Uecker, »Z ero « (1963), in ebd., S. 29. 192 | Piene, »Wege zum Paradies« (1963), in ZERO 3, o.S.

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er davon, dass die Natur in seine Bilder nicht »als Objekt« eintrat, »sondern als Kraft; Natur nicht als Objektwelt, sondern als Energiewelt«.193 In seinen monochromen Arbeiten wählte er helle Farben wie Weiß, Gelb und reflektierende Medien wie Aluminium, Bronze, Silber und Gold, die nach eigener Aussage einen besonders hohen Licht- beziehungsweise Energiewert aufweisen194 und, wie Piene in der ersten Ausgabe von Zero schrieb, ein »Vibrieren, Gleißen, Strahlen« erzeugen.195 Auf diese Weise erreichte er eine Erweiterung des Bildes in den Umraum hinein. Im selben Artikel wird gleichwohl deutlich, dass der Lichtwirkung des Bildes Grenzen gesetzt sind. Das Bild sei »nach wie vor keine physikalische Energiequelle«, so Piene.196 Dennoch sprach er von einer »optische[n] Energie«, die vom Bild ausgehe.197 Die Idee, dass die Malerei eine physikalische Energiequelle sein könnte, ist hier angelegt, wird aber zugleich negiert. Konzepte der Vibration und der Schwingung fanden sich in den untersuchten Künstlerpositionen vielfach, es scheint, als wenn Piene diese bündelte und – insbesondere in der formalen Umsetzung – erweiterte.198 Neben der energetischen Qualität des Lichtes war außerdem die Reinheit des Lichtes wesentlich. Reinheit und Helligkeit sollten der Trübe entgegenwirken, da diese einen negativen Einfluss entfalten konnte: »Die Trübheit der Farbe ist Ausdruck der Trübheit des Menschen, der Trübheit seines Bewußtseins im weitesten Sinne, und sie empfiehlt dem Beschauer ebenfalls den Zustand der Trübheit«.199 Hier zeigt sich das gleiche neoplatonische Denken, das bereits anhand von Otto Nebel, František Kupka und Wassily Kandinsky besprochen wurde (Kap. 4.3). Reinheit ist hier mit psychischer Gesundheit und Erhebung gleichgesetzt. Dem Leuchten sprach Piene eine energetisierende, erhellende, reinigende Kraft zu. Im Aufsatz »Was ist ein Bild?« beschrieb er das Bild als »Kraftfeld« qua »Bewegungen der Farbe«, die in die »Kapillaren der offenen Seele des Betrachters« geleitet würden.200 In der Seele befinden sich nach Pienes Vorstellung Äquivalente zu Blutgefäßen, die von der Bildenergie direkt angeregt werden. 193 | Piene 1973, S. 135. 194 | Perucchi-Petri 2011, S. 266. 195 | Piene, »Die Farbe in unterschiedlichen Wertbereichen« (1958), in ZERO 1, S. 18. 196 | Ebd. 197 | Ebd. [Herv. i.O. in einfachen Anführungszeichen]. 198 | Piene legte dabei, anders als Wassily Kandinsky durch seine Unterrichtsnotizen, die studierten Quellen nicht offen. Eine Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen oder esoterischen Diskursen thematisierte er nicht. Abgesehen von seinem intensiven Studium der Philosophie lässt sich insbesondere hinsichtlich seines Frühwerkes wenig über konkrete Beziehungen zu anderen Wissens- und Diskursgebieten sagen, während er später, seit 1968, die Naturwissenschaften, insbesondere die Wellen- und Lichtforschung am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als wesentliche Basis seiner Arbeit angab (Piene 1973, S. 135). 199 | Piene, »Über die Reinheit des Lichts« (1958), in ZERO 2, S. 27. 200 | Piene, »Was ist ein Bild?« (1959), in Glibota 2011a, S. 109.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

Dass Seele und Sonne traditionell eng verknüpft wurden, zeigte sich schon anhand von Kandinsky, Kupka und Nebel. Die Auffassung, dass die Seele aus Gefäßen bestehe, die durch Kunst mit neuen Säften und Kräften gefüllt werden können, hatten Paul Klee und Nebel ebenfalls formuliert (Kap. 3.1.1, 5.1.2). Piene verglich die Lichtkunst der siebziger Jahre auch mit einer Lichttherapie, ähnlich wie Braun: »Light art has much to do with that therapy in which light enters through the eyes into man’s spirit. The application of a dose of light art may help restrict the use of drugs«.201 Wenngleich Piene zunächst betonte, dass durch das Bild die Seele angesprochen werde, spielte auch der Leib eine wesentliche Rolle für sein Wirkungsmodell. In »Wege zum Paradies« wird deutlich, dass gemäß Piene Geist beziehungsweise Seele und Körper zusammenzudenken sind und durch die Kunst auf beide gleichermaßen eingewirkt werde: »Der Geist, der wirklich ein Körper ist, und der Körper, der wirklich einen Geist belebt, sie wollen es nicht zulassen, daß man sie getrennt behandelt. Ich glaube, dass die Malerei den Menschen dann erhebt, wenn sie seine Physis anspricht. Ich glaube, dass es Gegenbilder des menschlichen Organismus gibt, die ›sein Herz höher schlagen lassen‹, daß es gemalte Volumen gibt, die so real sind, daß sie seine Lunge tiefer atmen lassen, daß sie einen Pulsschlag machen, der dem Menschen Kraft und Ruhe, Gelassenheit und Flügel gibt.« 202

Piene zufolge spricht das Bild zunächst den Körper an, berührt den Puls und die Atmung, und wirkt dadurch auf den Geist. Insofern nahm er deutlich Bezug auf die Psychophysik. »Der intakte Mensch, dessen Herz, Lunge und Geist eine komplexe Person ausmachen, wird durch eine sinnliche, d.h. dem Auge angemessene Kunst komplex betroffen, als Körper und als Seele«, schrieb er andernorts.203 Konzentrierten sich die bisherigen Äußerungen auf Figuren des Atmens mit Bezug auf den erweiterten Bildraum als Luft- und Atemraum (Kap. 5), äußerte sich Piene in analoger Weise immer wieder zur spezifischen Wirkung des Lichtes in der Kunst – in Zero 2 etwa folgendermaßen: »Die Reinheit des Lichts, die die reine Farbe schafft, die wiederum Ausdruck der Reinheit des Lichts ist, erfaßt den ganzen Menschen mit ihrem Kontinuum des Flutens, des rhythmischen Hin- und Herströmens zwischen Bild und Betrachter, das unter bestimmten formalen Bedingungen zum zwingenden Pulsschlag, zu einer totalen Vibration wird. […] Die Energie des Lichts verwandelt sich auf rätselhafte Weise über dem Felde des Bildes in vitale Energie des Sehenden.« 204

201 | Piene 1973, S. 124. 202 | Piene, »Wege zum Paradies« (1961), in ZERO 3, o.S. 203 | Piene, »Leib und Seele« (1961), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 122. 204 | Piene, »Über die Reinheit des Lichts« (1958), in ZERO 2, S. 27.

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Die Farbe sei »Lebenselement des Menschen und des Bildes«.205 Das Licht erscheint hier als Medium, das eine Verbindung zwischen Betrachter/-in und Bild herzustellen vermag.206 Puls und Atem sind nicht nur Metaphern, sie sollten tatsächlich durch die Bildbetrachtung beeinflusst werden. Die Vibration fasste Piene als »Vehikel der Frequenzen, das Blut der Farbe, […] Puls des Lichts, die reine Emotion, die Reinheit des Bildes, die reine Energie«.207 Hier wird das Bild zugleich zum Organismus erklärt, der sich durch einen Kräftestrom, einem Blutund Stoff kreislauf ähnlich, konstituiert und dessen Vibrationen die Betrachtenden erfassen.208 Das Licht galt Piene so als »Inbegriff des Lebens selbst«.209 Dabei nahm er keine klare Unterscheidung zwischen dem Licht beziehungsweise der Energie der Sonne und anderen Leuchtquellen vor. Wesentlich war lediglich die Reinheit des Lichtes, die Piene häufig in Gelb- und Goldtönen zu geben suchte. Im Zusammenhang mit seelischen Wirkkräften fungierte das reine Licht bei Piene sehr deutlich als ein Gegenmodell zur Dunkelheit und – wie bei Braun – zum Krieg. Das Bildlicht und die Lichtinstallationen waren Teil einer umfassenden Utopie, eine andere Umgebung zu erzeugen, die sich durch Frieden und Freiheit auszeichnet. So assoziierte Piene das Element der Erde mit den Schützengräben und die Dunkelheit mit Luftschutzbunkern. Dem wollte er zusammen mit seinen Zero-Kollegen etwas entgegensetzen: »Uns interessiert das Licht, uns interessieren die Elemente, Feuer, Luftströmungen, die unbeschränkten Möglichkeiten, eine bessere, eine hellere Welt zu entwerfen«.210 Daran wird deutlich, wie das Bild, und in einem sehr viel allgemeineren Sinne die Lichtkunst, Teil des Lebensraumes werden sollte: »Daher also unser Bemühen, aus dem Dreck, dem Schutt, dem aufgezwungenen Drama herauszukommen in eine reinere heilere Welt«.211 Solch paradiesische Utopien werden später anhand von Kleins und Werner Ruhnaus Klimaarchitektur diskutiert (Kap. 5.5). Piene wollte gleichermaßen nicht nur eine friedliche, sondern auch eine angenehm klimatisierte Welt mittels der Kunst erschaffen. So erklärte er 1972 die enge Verbindung dieses Ansatzes mit dem deutschen Klima: Auf den Künstler Arman Bezug nehmend schrieb er, dass man in Nizza »dem Licht kaum zu huldigen braucht und auch die Wärme oder Hitze oder Intensität der Temperatur eigentlich kaum anbetet, weil es sowieso heiß ist und hell«.212 Dieser Gedanke ist mit Blick auf Kleins blaue Monochrome besonders interessant (Kap. 3.9). Piene fügte hinzu, 205 | Ebd., S. 26. 206 | Vgl. ebd., S. 27. 207 | Piene, »Was ist ein Bild?« (1959), in Glibota 2011a, S. 109. 208 | Ebd. 209 | Piene, »Die Dunkelheit und die Helligkeit« (1960), in Ausst.-Kat. KestnerGesellschaft Hannover 1965, S. 104. 210 | Piene zit.n. Schmied 1965, S. 8. 211 | Piene 1973, S. 134. 212 | Ebd., S. 131.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

»dass in nördlichen Gefilden das Licht mehr eine magische Kraft ist, etwas, das man sich wünscht, schöner, heller wünscht, weil bei uns das Wetter nicht so gut ist«.213 Dabei führte er eine Linie von Matthias Grünewald zu Caspar David Friedrich, Edvard Munch und dem Expressionismus an: »Man hat das Gefühl, hier sind Luft und Landschaft aus Farben gemischt von einer Palette, auf der dauernd eine dicke Tube Schwarz ausgedrückt wird. Nur so kann ich es erklären, daß das Licht für mich und für uns, […] damit meine ich besonders meine Zero-Freunde, so entscheidend wurde für das, was wir weiter machten.« 214

Dem lichtkargen deutschen und nordeuropäischen Klima setzten Piene und seine Kollegen eine lichthaltig-klimatisierte Kunst entgegen.215 Mit SolOeil – Gelbes Rasterbild (1958) bezog sich Piene direkt auf das Sonnenlicht (Abb. 30). Das querformatige Bild ist in kräftigen Gelbtönen mit Leimfarbe auf Leinwand gemalt und von einem feinen, ungleichmäßigen Raster übersäht – kleinen Punkten, die sich von der Bildfläche abheben, Licht reflektieren und Schatten werfen. Diese sind durch selbst gebaute Raster aus Metall hindurch aufgetragen,216 die Piene ab 1958 auch für seine Lichtballette verwendete.217 Abbildung 30: Otto Piene, SolOeil – Gelbes Rasterbild, 1958, Leimfarbe auf Leinwand, 80 × 130 cm, Nationalgalerie, Staatliche Museen, Berlin

213 | Ebd., S. 131f. 214 | Ebd., S. 132. 215 | Dieser Gedanke fand sich ähnlich auch bei Kupka, siehe Kupka 2001 (1923), S. 74; vgl. Kap. 3.1.2. 216 | Vgl. Bosbach 1998, S. 256f. 217 | Schneckenburger 2011, S. 87.

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Das Bild als Lebensraum

Im Zentrum von SolOeil befindet sich eine hellere, mitunter durch dunkleres gelb konturierte Form. Die nicht ganz runde, nicht ganz deckend mit weiß gefüllte Kreisform wird von einer ungleichmäßig ovalen, weiß schattierten Form umkreist. Diese Kreisformen in der Bildmitte werden durch die Rasterung des Bildes optisch weitergeführt. Die Rasterpunkte bewegen sich wie Strudel unregelmäßig, aber in oval-runden Bahnen um das Zentrum herum. Einige Bereiche bleiben frei und glatt. Im linken und rechten Bilddrittel wird je ein neuer, unabgeschlossener Rasterkreis angedeutet. Das Gebilde in der Mitte erscheint als eine Art Energiezentrum, von dem aus durch das Raster erzeugte Vibrationen emittiert werden. Die punktförmigen Rasterelemente heben sich von der Bildfläche ab und werfen so kleine Schatten, die die Dreidimensionalität der Komposition sichtbar machen. Durch die Rasterstrukturen links und rechts wird die potentielle Weiterführung und -wirkung des Bildes in den Umraum suggeriert. Insgesamt entsteht der Eindruck eines energetisierten, vibrierenden und rhythmischen Energiefeldes, das eine potentiell unbegrenzte Ausdehnung hat. Der direkte Bezug zum Sonnenlicht und dem Bild als Sonne wird über den Titel SolOeil aufgerufen, der aus der Wortverbindung soleil (Sonne) und œil (Auge) zusammengesetzt ist. Dies erinnert an Johann Wolfgang von Goethes Ausspruch: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken«.218 Direkte Bezüge zum Sonnenlicht finden sich auch in anderen Bildern, etwa Gelbe Sonne aus demselben Jahr.219 Andere Rasterbilder erstellte Piene bereits Ende der fünfziger Jahre mit glänzendem Material wie Gold-, Aluminium- und Bronzefarben. Durch verschiedene Höhen und Brechungswinkel der Farbtupfer wird das Licht reflektiert, sodass vom Bild durch die Faktur tatsächlich Licht und Glanz ausgehen. Wie Nicola Bosbach darstellt, mündete die »bezweckte Bildwirkung […] in eine säkularisierte Form des antiken beziehungsweise christlichen Emanationsgedanken, wonach die göttliche Kraft im Licht ihre Entsprechung findet«.220 Sie stellt Pienes Rasterbilder in eine Traditionslinie mit Ikonen:221 Diese senden ein Eigenlicht aus und strahlen so in den Raum der Betrachtenden hinein. Dabei gehe es nicht um die Repräsentation eines Prinzips oder einer Kraft, »sondern die Bilder besitzen für ihn eine Wirkkraft, die nicht weiter aufzulösen oder rational zu durchdringen ist«.222 Bei Piene ist diese Kraft als sonnenäquivalente Energetisierung und Heil218 | »Zahme Xenien« (1923), nachzulesen in Goethes sämtliche Werke, Bd. 36, hg. v. Curt Moch, Berlin 1927, S. 17-25, hier S. 22. 219 | Nicht abgedruckt: Otto Piene, Gelbe Sonne, 1958, Öl auf Leinwand, 68 × 97 cm, Private Sammlung, Deutschland. Andere Werke sind, gleichsam synonym zum Sonnenlicht, betitelt mit Reines Licht (1958, 100 × 80 cm, Private Sammlung, Pittsburg, PA., USA) oder La Force Pure (1958, 100 × 80 cm, Öl auf Leinwand, Museum of Modern Art, New York). 220 | Bosbach 1998, S. 261. 221 | Ebd.; siehe auch Kap. 1.3, 4.3. 222 | Ebd., S. 262.

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen

kraft zu begreifen, die Körper und Seele gleichermaßen direkt ansprechen sollte. Die Reinheit des Lichtes – ohne Verunreinigung und somit weitestgehend monochrom – war hierfür grundlegend. Mit seinen Konzepten ist Piene klar in die hier dargestellten Traditionen einzuordnen und doch zu differenzieren: Wie Moholy-Nagy ließ er von seinen Werken Licht reflektieren, das er als Energie begriff und in seinen Lichtballetten schließlich in eine dynamisch-fließende Bewegung, analog zum Lichtrequisit, versetzte. Damit wollte er, wie Moholy-Nagy, biologisch-physiologische, aber auch seelische Wirkungen erzielen. Das Wirkpotential hatte sich auch bei den anderen Künstlern als Maßnahme gegen die körperliche Schwächung sowie die geistige Trüb- und Unreinheit offenbart. Dem Dunklen, Ermüdenden wurde durch die Sonnenäquivalente eine Belebung und Reinigung entgegengesetzt. Zugleich wurden dem reinen Licht harmonisierende Kräfte zugeschrieben, die eine seelische Ausgeglichenheit und ein friedliches Zusammenleben herbeiführen und sichern sollten. Kupka hatte sich, Piene sehr ähnlich, »nach Sonne, Glanz und lebendigen Farben« gesehnt.223 Von sehr farbenfrohen Versuchen kam er in Amorpha. Fugue à deux couleurs (Kap. 4.2: Abb. 24), anders als Delaunay (Kap. 4.1: Abb. 19), schließlich zu einer reduzierten Palette, ging aber nie in die Monochromie. Kupka bediente sich des Hell-Dunkel-Kontrasts, der sich bei Piene nur als Licht- und Schattenwurf und weitaus kleinteiliger wiederfindet. So lässt sich ferner ein Bezug zwischen den Rasterstrukturen in Klees Polyphonie und den Rasterbildern Pienes herstellen (Kap. 3.1.1: Abb. 5). Polyphonie erreicht eine ähnlich räumliche Wirkung, ohne aber tatsächliche Fakturen aufzuweisen oder gar reflektierendes Material zu verwenden. Klee wollte kein Sonnenäquivalent, sondern ein mildes Klima gestalten, woraus sich schließlich der Kontrast zu den strahlenden Sonnen Vincent van Goghs und Pienes ergibt (vgl. Einleitung Kap. 4). Pienes und van Goghs Sonnen sind weitestgehend monochrom, setzen auf die Leuchtwirkung einer einzigen Farbe – ähnlich wie bei Klein. Es wäre noch zu prüfen, ob nicht auch Klein seine goldenen Monochrome als Sonnenäquivalente fasste: In seinem bislang unveröffentlichten Journal schrieb er von einer »Strahlung« in der Kunst, »die einen Widerschein in der Morgensonne findet«.224 Auch die Arbeit mit den Elementen Feuer, Wasser und Luft im Zusammenhang mit der grundlegenden Idee einer klimatischen Umweltkunst, verband Piene und Klein.225 Eine ähnliche Beziehung ließe sich zu Gotthard 223 | Kupka 2001 (1923), S. 74. 224 | Aus Kleins unveröffentlichtem Journal im Archiv Yves Klein in Paris, zit.n. Ribettes 2004, S. 154. Siehe etwa: Yves Klein, Resonance, 1960, Blattgold auf Gips auf Holz, 199 × 153 cm, Stedelijk Museum, Amsterdam. 225 | Beide, Klein und Piene, arbeiteten mit Feuer, das sie als Lebens- und Erneuerungsprinzip begriffen. Wenngleich es als Wärmequelle auch ein klimatisches Element darstellt, wird es in dieser Studie zugunsten anderer Aspekte nicht behandelt. Siehe einleitend zu Kleins

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Graubner (1930-2013) herstellen. Dessen Werk ming gelb (1960) evoziert gleichermaßen einen mit Sonnenlicht und Luft durchströmten Raum.226 Klein, Graubner und Piene einte zudem, dass sie sich intensiv dem Medium der Luft widmeten. In der Pneumatic Art, die Piene wesentlich mitbegründete, wurden seit Ende der sechziger Jahre mit Luft gefüllte Objekte beziehungsweise Skulpturen aus Polyäthylen als atmende Organismen im Rahmen sogenannter Sky Art Events in die Luft geschickt.227 Neben der ästhetischen Anmutung als atmenden Organismen spielten eine Lufthaltigkeit und eine Atembarkeit von Kunstwerken in den Bildvorstellungen der ersten Jahrhunderthälfte eine zentrale Rolle, die sich im Zero-Umkreis zur Utopie einer Klimatisierung der natürlichen Umwelt erweiterte. So hatte Piene von Volumen gesprochen, welche »die Lunge tiefer atmen lassen«.228 Die Betonung der Reinheit der Bildmittel bezog sich nicht allein auf die Farb- und Lichtqualität, sondern zudem auf eine reine Luft, die Bildern inhärent sein und von ihnen ausgehen sollte.

Arbeit mit Feuer als Lebensprinzip Seegers 2003, S. 128f. und zu Piene: Udo Kultermann, »Feuer im Werk von Otto Piene – Das Elementare und die neue Sensibilität«, in: Otto Piene. Retrospektive 1952-1996, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Köln 1996, S. 25-31. 226 | Nicht abgedruckt: Gotthard Graubner, ming gelb, 1960, Öl auf Leinwand, 150 × 120 cm, Privatbesitz. 227 | Einleitend dazu siehe Glibota 2011b, S. 41f. und S. 44-56. 228 | Piene, »Wege zum Paradies« (1961), in ZERO 3, o.S.

5. Bilder als klimatische Luft- und Atemräume Die Farben und Lichter, die als klimatische Wirkkräfte oder reine Strahlung wirksam werden sollten, verorteten sich gemäß den hier betrachteten Künstlern in einem mehr oder weniger getrübten Luftmedium – in einer spezifischen Atmosphäre also. Die Vorstellung eines atmosphärischen Charakters von Bildern und Farben wurde in Otto Nebels Kategorie der lufträumigen Lichtfarbe besonders deutlich. Ideen zum Luftgehalt von Kunstwerken wurden zwar weitaus weniger umfangreich formuliert als jene zu Farbe und Licht, waren mit diesen über Aspekte der Reinheit und Trübe allerdings eng verzahnt. Auch wurde die durch Bilder erzeugte Luftatmosphäre als Transporteurin der bereits besprochenen Qualitäten der Wärme und Kälte sowie Feuchtigkeit und Trockenheit in den Raum der Betrachtenden hinein verstanden. Die Konzepte werden daher mit Ausnahme von zwei Einzelstudien überblicksartig dargestellt und eingeordnet (Kap. 5.1). Die Vorstellung einer Lufthaltigkeit der Kunst kursierte medienübergreifend in literarischen, musiktheoretischen sowie philosophisch-ästhetischen Diskursen (Kap. 5.2). Friedrich Nietzsche ist hier hervorzuheben. Die Künstler rekurrierten jedoch nicht nur auf diese kunstimmanenten und ästhetischen Traditionen, sondern auch auf Naturphilosophie, Esoterik, östliche Philosophie und Naturheilkunde, um eine heilsame Wirkung ihrer für lufthaltig befundenen Bilder zu begründen (Kap. 5.3). Dabei spielten Probleme des Luftmangels und der Luftqualität in der modernen Industriegesellschaft und der kritische Blick auf ›kulturelle Atmosphären‹ ebenso eine Rolle wie westlich-antike und östliche Konzepte rund um die Lebenskräfte Pneuma, Prana und Qi. Die Einflößung von Luft und Lebensatem in Kunstwerke wurde mitunter auf produktionstheoretische Konzepte gegründet, womit die Wirkung von Kunst in Abhängigkeit von Körper und Geist der Kunstschaffenden geriet (Kap. 5.4). Der Anspruch einer ökologischen Bildwirkung wird besonders evident in der Figur des Atems als kontinuierlichem Prozess der Verinnerlichung, Umwandlung und Veräußerlichung von Umweltstoffen. Yves Kleins und Werner Ruhnaus Utopie eines technischen Edens zeigt eine Tendenz hin zur Erzeugung realer Lebens- und Atemräume (Kap. 5.5), während Mark Rothko im Rekurs auf Nietzsche zur selben Zeit am Medium des Bildes festhielt und seine Werke als atembare Atmosphären konzipierte (Kap. 5.6).

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Das Bild als Lebensraum

2017 erschien die schmale Monographie Pneumatology. An Inquiry into the Representation of Wind, Air and Breath des Architekturhistorikers Vlad Ionescu, in der in einem knappen Abriss von der Neuzeit bis in die Gegenwart unter anderem die Frage aufgeworfen wird, wie Repräsentationen des Pneumas bzw. des Windes als Figuren des Affektiven den Status des Bildes verändert haben.1 Die abstrakte Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und künstlerische Wirkungskonzepte bilden bei Iconescu allerdings keinen Schwerpunkt. Zudem konzentriert er sich nicht auf die Luft als Lebensstoff, sondern auf den Zusammenhang von atmosphärischen Kräften und Emotionen. Die bisher einzige Studie, welche die Rolle des Atems in der modernen bildenden Kunst im hier fokussierten, heilsam-therapeutischen Sinne direkter thematisiert, ist The Living Line. Modern Art and the Economy of Energy (2015) der Kunsthistorikerin Robin Veder (Kap. 5.4). Sie widmet sich der figurativen Malerei von Arthur B. Davies (1863-1928), dessen Credo lautet: »[A]ll art should breathe with the ›lift of inhalation‹.«2 Die Darstellung kontinuierlicher Tanzbewegungen nach griechisch-antikem Vorbild sollte einem bewussten Atemrhythmus gleichen.3 In diesem Sinne wird mit der Betrachtung des Luftmediums zugleich das sechste Kapitel vorbereitet, das sich den Bio- und Naturrhythmen in Bildern widmet.

1 | Ionescu 2017. Diesem Themenkomplex widmete sich zuvor Ionescus Kollegin Barbara Baert mit Fokus auf Mittelalter und Frühe Neuzeit in: Pneuma and the Visual Medium in the Middle Ages and Early Modernity. Essays on Wind, Ruach, Incarnation, Odour, Stains, Movement, Kairos, Web and Silence, Leuven 2016. 2 | Veder 2015, S. 41. Darstellungen von Luft- und Wetterräumen in der Landschafts- und Wolkenmalerei sind zwar zentraler Bestandteil der kunsthistorischen Forschung. Das Bild als Luftraum wurde hier jedoch bislang vorrangig als emotionaler bzw. als Stimmungs- und nicht als Lebensraum bestimmt. Siehe exemplarisch Storch 2015, 199-204, die in diesem Bereich Konzepte einer klimatischen Bildwirkung andeutet, denen weiter nachzugehen wäre (vgl. Kap. 1.3). Siehe weiterhin die Überlegungen zur intermodalen Wahrnehmung in Annik Pietsch, Material, Technik, Ästhetik und Wissenschaft der Farbe 1750-1850: Eine produktionsästhetische Studie zur ›Blüte‹ und zum ›Verfall‹ der Malerei in Deutschland am Beispiel Berlin, Berlin u.a. 2014. 3 | Veder 2015, S. 47-54. Bei Davies zeigen sich Verbindungen zwischen bildender Kunst und der modernen Tanz- und Rhythmusbewegung; vgl. dazu Kap. 6.3.1. Nicht abgedruckt: Arthur B. Davies, Maya. Mirror of Illusions, ca. 1910, Öl auf Leinwand, 66,4 × 101,9 cm, Art Institute, Chicago.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

5.1 L uf t und A tem im B ild Adolf Behne formulierte 1915 die Aufgabe der Kunst, für »Aufhellung, bessere Luft, freieres Atmen« zu sorgen und ergänzte, dass dies »wie alles, was auf dem Wege zur inneren Befreiung […] auch von ethischer Bedeutung« sei.4 Die Aussage zeugt von der Komplexität der Vorstellungen zum Luftgehalt des Bildes, die eben nicht rein metaphorisch, sondern substantiell zu fassen sind. Die Verknüpfung formaler Probleme der Kunst mit naturheilkundlichen, esoterischen und politischen Dimensionen finden sich bei Wassily Kandinsky, Johannes Itten, František Kupka, Otto Nebel, Yves Klein und Otto Piene. Bevor verschiedene Dimensionen der Bildwirksamkeit zur Sprache kommen wird zunächst die Lufträumigkeit als formales Problem der Komposition behandelt.

5.1.1 Atmende Farben und schwebende Formen In Rückblicke schrieb Kandinsky zu seiner Komposition VI (1913), dass hier »die rosa und weiße Farbe in der Luft schwebend […] wie von Dampf umgeben« wirke: »Solche Abwesenheit der Fläche und die Unbestimmtheit der Entfernung kann man z.B. im russischen Dampf bad beobachten. Der in dem Dampf stehende Mensch ist weder nahe, noch weit; er ist irgendwo. Dieses ›Irgendwo‹ des Hauptzentrums bestimmt den inneren Klang des ganzen Bildes«.5 Kandinsky bestärkte so die Idee einer Lebensräumlichkeit des Bildes: Die Formen seien wie von einem Nebel oder einem Dampf umhüllt und lösen sich darin auf. Wie Marion Ackermann aufzeigt, prägten die Praxis des »Ineinandermischen[s] einer Vielzahl von Farben, die Verunklärung durch ›unscharfe‹, nebelhafte Partien im Bild, die starke Dynamik, welche den Betrachter in einer Art Strudel in das Bild hineinzieht, und die […] damit verbundene Steigerung der Wahrnehmungszeit« das Werk Kandinskys vor 1914.6 Das Bild erscheint als dreidimensionaler Raum aus Lüften und Dünsten, der als immaterieller Luftraum vorstellbar und erfahrbar werden sollte.7 Kandinsky attestierte nicht nur den eigenen Werken eine Lufthaltigkeit. Noch später, in seiner Malklasse 1933 verglich er Edouard Manets Nana (1877) mit einem Gemälde von Jacques-Louis David, das er Mädchen in Weiß nennt. Gemeint ist ein Portrait, das aus dem Kreis um David stammt: Portrait d’une jeune femme en blanc (1798). Während das David zugeordnete Gemälde »luftlos« und

4 | Behne 1915, S. 10. 5 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Komposition VI, 1913, Öl auf Leinwand, 195 × 300 cm, Eremitage, Sankt Petersburg. Kandinsky 1977 (1913), S. 41. 6 | Ackermann 2014, S. 29. 7 | Die Fläche »als dreidimensionalen Raum auszunützen« ist schließlich das selbsterklärte Ziel Kandinskys (Kandinsky 1952 (1911), S. 111).

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ohne »Vibration« wirke, sei bei Manet »alles durch luft in vibration gebracht«.8 Diese Formulierungen erinnern an Beschreibungen Paul Signacs, in welchen er von sonnendurchstrahlten Bildern sprach, welche die Betrachtenden die Schwingungen der Luft fühlen lassen.9 Schwingungen und Vibrationen charakterisieren Kandinskys Ideal eines lebendigen, mit Luft erfüllten Bildraumes. 1933 schrieb Kandinsky an Will Grohmann von der Möglichkeit, die Elemente des Bildes »von der materiellen Fläche ganz zu befreien, teils vor ihr, teils hinter ihr […] ›schweben‹« zu lassen, um so »eine unmaterielle Welt zu schaffen«, und dies nicht in Form einer »Vortäuschung«, sondern als »reale Wirklichkeit«.10 Es ging ihm, entgegen einer bloßen Repräsentation von Luft mit abstrakten Mitteln, darum, ein Äquivalent der Luft tatsächlich zur Präsenz zu bringen. Die Frage, wie dem Bild »eine Art Luft« sowie die »Möglichkeit des Atmens in die Farbe« eingegeben werden könne,11 beschäftigte ihn bereits um 1911. Ganz ähnlich träumte Umberto Boccioni früh von einem erweiterten Bildraum durch Immaterialisierung. 1914 formulierte er: »Die Werke der Maler werden vielleicht wirbelnde Architekturen von Tönen und Gerüchen aus farbigen Gasen sein […]«.12 Gas sollte als Träger von Farben fungieren. Diese Idee findet, wie eingangs aufgezeigt, in den Environments Ólafur Elíassons sowie in zahlreichen anderen Installationen seit den sechziger Jahren eine Realisierung (Kap. 1:​ Abb. 1-2). Itten wählte zur Bestimmung der Qualitäten der Farben gleichermaßen Kategorien, die mit der Luft zusammenhängen: »dünn« – »dicht«, »luftig« – »erdig«, »trüb« und »rein«.13 Blau hob er dabei als atmosphärische Kraft, als das »Ätherisch-Seelische, Durchsichtig-Luftige« hervor.14 Insbesondere sein Bild Winter im Jahreszeitenzyklus zeichnet sich durch transparente Blautöne und eine luftige Anmutung aus, die zugleich dem Erdigen (Braun) entgegengesetzt ist (Kap. 3.7: Abb. 18). Itten trennte Äther und Luft keineswegs streng voneinander, sondern verband esoterische und exoterische Wirkkräfte miteinander (Kap. 5.4). Im Rahmen seiner Farb-Form-Analysen anhand zahlreicher Werke der Kunstgeschichte sprach Itten dezidiert vom Atem: Das gotische Glasfenster Maria mit Christuskind in Chartes atme »im gleichen Rhythmus wie die Sonne«. Dabei bezieht sich der Atembegriff zum einen auf die Abhängigkeit des Glasmediums von den Ver8 | Nicht abgedruckt: Edouard Manet, Nana, Öl auf Leinwand, 154 × 115 cm, Hamburger Kunsthalle; Umkreis von Jacques-Louis David, Portrait d’une jeune femme en blanc, ca. 1798, Öl auf Leinwand, 125,5 × 95 cm, National Gallery of Art, Washington. Kandinsky, »malk[la] sse Freitag 6.1.33«, in Weißbach 2015, S. 478; Tippfehler im Typoskript Kandinskys. 9 | Signac 1910, S. 52; vgl. Kap. 4 (Einleitung). 10 | Kandinsky zit.n. Poling 1982, S. 262. 11 | Kandinsky 1952 (1911), S. 99. 12 | Boccioni 2002 (1914), S. 199. 13 | Itten 1961, S. 64; vgl. Kap. 3.7. 14 | Ebd., S. 135.

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änderungen im Licht- und Luftraum außerhalb der Kirche – auf den atmenden Wechsel von Hell und Dunkel –, zum anderen auf den Kalt-Warm-Kontrast von »Eisblau« und »Rot« im Glas selbst.15 Auch in Auguste Renoirs Bal du moulin de la Galette (1876) glaube man Itten zufolge, »in einer verzauberten Welt zu atmen«.16 Die Wirkung ergebe sich wiederum aus der Kalt-Warm-Modulation,17 also der Bewegung, dem Pulsieren der Komposition. Dem Bild Renoirs sprach Itten einen ganz besonderen »Wohlklang« zu: »Das ganze Bild ist aus hellem und dunklem Blau, Grün, wenig Gelb und Rosa gemalt. Eine süße durchsichtige Leichtigkeit durchströmt die Atmosphäre des Bildes«.18 Ähnlich wie Kandinsky orientierte er sich auch an Werken verschiedener Epochen, um schließlich in den eigenen Bildern einen Luftgehalt und eine Atembarkeit zu realisieren. Das Konzept des Bildes als atembarer Luftraum zeigt sich gleichermaßen, wenn Paul Klee 1930 aus Dessau an seine Frau schreibt, dass er ein paar Bilder fertiggestellt habe, indem er »ein wenig über Erreichtes hin[ge]blasen« und »zu harten Gerüsten einige Dämpfe« beigefügt habe.19 1932 schrieb Klee aller Wahrscheinlichkeit nach über sein Gemälde Polyphonie, dass hier die »Polyphonie zwischen Untergrund und Atmosphäre […] so locker wie möglich gehalten« sei (Kap. 3.1.1: Abb. 5).20 Eine Luftigkeit ist durch die flirrend-vibrierende, transparente Anmutung und die optische Ablösung der Farbformen vom Grund gegeben. Eine weitere Form der Lufträumigkeit wird im sechsten Kapitel anhand des Fugenbildes Blühendes herausgestellt, das durch ein rhythmisch-atmendes Vor- und Zurückstreben gekennzeichnet ist (Kap. 6.4: Abb. 41). Klee hatte 1921 am Bauhaus eine Spraytechnik eingeführt, die er etwa in Horizont, Gipfelpunkt und Atmosphäre (1925) anwendete und durch die er eine transparente, ›luftige‹ Ästhetik erreichte.21 So konnte er mithilfe von Schablonen verschiedene Dichtegrade in seinen Werken realisieren, die nicht auf den Druck von Malerhand und Pinsel zurückzuführen sind. Kandinsky bediente sich dieser Technik in einer Reihe von Werken wie etwa Aus kühlen Tiefen (1928). Darin gestaltete er einen Temperaturverlauf gleich einer Luftbewegung und -erwärmung. László Moholy-Nagy verwendete die Spraymethode ebenfalls, beispielsweise in P27 (1927), in dem sich die Formen gleichermaßen in einem Luftraum zu ver15 | Ebd., S. 68. 16 | Ebd., S. 72; nicht abgedruckt: Auguste Renoir, Bal du moulin de la Galette, 1876, Öl auf Leinwand, 131 × 175 cm, Musée d’Orsay, Paris. 17 | Ebd. 18 | Ebd. 19 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 20.6.1930, in F. Klee 1979, S. 1129. 20 | Klee in einem Brief an Lily Klee am 17.4.1932, ebd., S. 1187. 21 | Barten/Pénichon/Stringari 2006, S. 191. Zur Spraytechnik am Bauhaus siehe Barnett 2015; nicht abgedruckt: Paul Klee, Horizont, Gipfelpunkt und Atmosphäre, 1925, Wasserfarbe und Graphit auf Papier, 38,4 × 27,6 cm (Blattgröße), The Solomon R. Guggenheim Museum, New York.

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orten scheinen.22 Allerdings thematisierte Moholy-Nagy das Medium der Luft nie explizit in seinen Schriften und theoretischen Überlegungen. Abbildung 31: Otto Nebel, Rondo con brio, 1940, Tempera auf Papier, 70,5 × 50,3 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern

Auch im Werk Nebels kommt die Spraytechnik vor, so etwa in seiner späten Komposition Sinniges Gleichnis (1971).23 Zu dieser schrieb er: »Die rote Rasterbildung im Bilde, das feine Gitter, das wir vorher als Hintergrund deuteten, tritt bei nähe22 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Aus kühlen Tiefen, 1928, Aquarell auf Papier durch Airbrush aufgetragen, 48,3 × 32,1 cm, Norton Simon Museum, Pasadena; László Moholy-Nagy, P27, 1927, Collage, Gouache, Wasserfarbe, Tinte und gesprayte Tinte auf Papier, 65,1 × 48,9 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. 23 | Nicht abgedruckt: Otto Nebel, Sinniges Gleichnis, 1971, Ei- und aufgesprühte Wasserfarben auf Papier mit Zinkweißgrundanstrich, 58,6 × 48 cm, Privatbesitz, Bern.

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rem Betrachten seltsamerweise in den Vordergrund. Das bedeutet, daß das Bild atmet«.24 Nebels Aussage, dass stets zu prüfen sei, wie die »einzelnen Farbwerte aufeinander Rücksicht nehmen, einander Atem geben oder Atem lassen«,25 weist Parallelen zu Kandinsky, Itten und Klee auf. Ferner sprach Nebel von Farben, die »noch keinen Atemraum aus sich, keine Lufthülle, keinen vorbildenden Raum« erzeugen, also »flächen-haftsam« bleiben.26 Dementsprechend suchte er, Kompositionen als Atemräume zu gestalten. Werke wie Rondo con brio (Rondo mit Schwung, 1940) sind durch eine transparente Ästhetik, Überlagerungen mehrerer Ebenen sowie ein Vor- und Zurückstreben von Farbformen geprägt (Abb. 31). In März-Ode erscheinen die grauen, gelben, roten und blauen Punktierungen wie Licht- und Luftpartikel, Kleinstteile, die die Atmosphäre konstituieren und durchwirken (Kap. 3.5.3: Abb. 12). Die Farbe Grau hatte Nebel dementsprechend dezidiert mit dem Luftmedium, »dem Morgenhauch« und »Luftraumton«, in Verbindung gebracht.27 In der Chromotherapie wurden die drei Grundfarben Gelb, Rot und Blau mit Wasserstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff identifiziert. Ausgehend von seiner Beschäftigung mit den Spektralfarben nahm Kupka eine Zuordnung der Farben zu chemischen Stoffen vor, ähnlich, wie sie sich bei Andrew Osborne-Eaves und Dinshah fand, allerdings ohne das Element Wasserstoff: Kohlengase seien gelbgrün, Sauerstoff blau und das Licht rot.28 Dass diese Farben in Kupkas Werken häufig gemeinsam auftreten, lässt sich nicht sagen. Es ging ihm schließlich vordergründig um die thermischen und leuchtenden Qualitäten der Farben. Ähnlich wie Nebel arbeitete er dabei mit Transparenzeffekten, die den Eindruck einer Lufträumigkeit qua Lichtausstrahlung evozieren konnten, etwa in Amorpha, Chromatique chaude (Kap. 3.1.2: Abb. 6). Max Burchartz schlug mit Blick auf den Luftgehalt von Bildern die Verwendung von »Punkt-, Strich- und andere[n] Schraffurstrukturen« vor, mit der formale Äquivalente zu verschiedenen Dichtegraden geschaffen werden sollten,29 sodass das Bild mal mehr, mal weniger lufthaltig erscheine. Diese Überlegungen betreffen weniger seine malerischen Kompositionen als seine Siebdrucke (Abb. 32).30 Probleme der Dichte wurden von ihm aus klimatologischen Ansätzen zur Luftqualität heraus entwickelt, die in der bildenden Kunst lediglich »optisch wahrnehmbar« seien.31 Gerade diese Beschränkung auf das Optische hatte Kupka zur Vision eines Kunstwerkes geführt, für das der Betrachter »nicht einmal die Augen gebrauchen müsse, da er 24 | Nebel, »Sinniges Gleichnis« (1971), in Radrizzani 1988, S. 358. 25 | Nebel, »Kunstwürdige Wertungen« (1941-44), ebd., S. 347. 26 | Nebel, »Vom Wesen und Geiste neuer Kunstmalerei« (1936), ebd., S. 276. 27 | Nebel, »Drei Mappenwerke« (1932), ebd., S. 60. 28 | Kupka 2001 (1923), S. 71; vgl. Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 5 und Kap. 3.3. 29 | Burchartz 1962, S. 89. 30 | Ebd. 31 | Ebd.

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mit dem Bild in eine unmittelbare Verbindung tritt«.32 Das Bild als absolute Präsenz, die nicht sichtbar, sondern nur spürbar oder gar atembar ist und in welche die Rezipierenden eintreten, fand über zwanzig Jahre später bei Klein eine Manifestation und war bereits bei Boccioni ein Thema gewesen. Abbildung 32: Max Burchartz, Illustration Blatt VI, 1956-57, Siebdruck, 70 × 50 cm, Privatbesitz

Die Vorstellung einer unsichtbaren Atmosphäre des Bildes, die mit Stoffen und Energien erfüllt ist, vertrat Klein besonders deutlich. Nicht nur fasste er das Blau und die kosmische Sensibilität als Äquivalente zur Luftfeuchtigkeit.33 Für die dritte Ausgabe der Zeitschrift Zero schlug er einen gemalten, blauen Einband vor, der »wie ein reiner, reiner, reiner Himmel ohne die allergeringste Störung oder sonst irgendetwas« erscheinen sollte.34 Er setzte das Blau des Himmels über Nizza mit dem Ultramarin gleich und strebte eine immer radikalere Immaterialisie32 | Kupka 2001 (1923), S. 133. 33 | Klein, »Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur« (1958), in Semin/ Sichère 2003, S. 49; vgl. Kap. 3.9. 34 | Klein zit.n. Guibert 2007, S. 161.

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rung der Farbe bis hin zur Farblosigkeit an. Die Ausstellung Le Vide in der Galerie Iris Clert im Jahr 1958 ließ die Besucher/-innen in einen solchen reinen, farblosen Luftraum eintreten. All dies kulminierte in einer gemeinsam mit Werner Ruhnau konzipierten Luftarchitektur, deren Ansatz in besonderer Weise einen Ausstieg aus dem Bild und ein Aufgehen der Kunst in das Leben zelebrierte. Dieser Ansatz findet sich auch bei Boccioni, Kupka sowie Moholy-Nagy, während andere Künstler – Kandinsky, Itten, Nebel und Klee – an der Möglichkeit einer Lufthaltigkeit von Bildern festhielten. Noch Anfang der sechziger Jahre, vor der Entwicklung seiner Objekt- und Installationskunst, formulierte Piene die Idee, »Volumen von Kraft« zu erzeugen, die »bewegt von Atem« seien.35 Luft und Atem spielten für ihn im Zusammenhang mit dem Licht eine zentrale Rolle. Später schuf Piene Luftplastiken und pneumatische Skulpturen. 1963 im Rahmen einer Ausstellung in Düsseldorf berichtete er von den »Tendenzen« der Zero-Kunst der vergangenen Jahre, »die Leere zu erfüllen«.36 Es sei dabei um die Entwicklung von »Volumen« aus der Erweiterung des Punktes gegangen, sodass der Punkt »zum atmenden Gebilde« avanciere, »sofern ihm Atem eingeblasen wird, d.h. […] er lebendig wird«.37 Ein solches gemaltes Volumen lässt sich in SolOeil – Gelbes Rasterbild identifizieren, das ausgehend vom Zentrum eine vibrierende Räumlichkeit entfaltet, die gemäß Piene selber atmet und so auch auf den Atem der Betrachtenden einwirken soll (Kap. 4.6: Abb. 30). Schließlich hatte Piene davon gesprochen, dass die Rezipierenden in den Bildern »freien Atem und einen sicheren Puls finden«.38 Ähnlich fasste Gotthard Graubner seine Gemälde als atmosphärisches Gebilde.39 Er schuf zudem 1968/69 begehbare »Nebelräume«: Temporär füllte er leere Galerien mit Nebel.40 Kunst wurde hier konsequent dematerialisiert und tatsächlich atembar.41 Nebel in pastelligen Farben scheinen auch in Gaubners Malerei wie eine milde Luft von der Leinwand in den Umraum zu schweben und die Betrachtenden sanft pulsierend in sich einzuschließen. Rothko gebrauchte seinerseits um 1954 die Begriffe der »breathingness« (Durchatmetheit) und »breathability« (Atembarkeit) für Bildkomposition und -re35 | Piene, »Wege zum Paradies« (1961), in ZERO 3, S. 63. 36 | Piene im Katalog der Galerie Schmela (1963), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 143. 37 | Ebd. 38 | Piene, »Licht« (1961), ebd., S. 123. 39 | Nicht abgedruckt: Gotthard Graubner, ometra, 1962, Öl und Kasein auf Leinwand, 104 × 85 cm, Privatbesitz. Zu Graubner vgl. Kap. 4.6; siehe weiterhin Kap. 6.1. 40 | Helms 2001. Leider gibt es keine photographische Dokumentation dieser Aktionen. 41 | 2018/19 fand im Arp-Museum in Rolandsbeck die Sonderausstellung »Gotthard Graubner. Mit den Bildern atmen« statt, die eben diese Qualität des Atmens und der Atembarkeit der Bilder Graubners fokussierte: Siehe Gotthard Graubner. Mit den Bildern atmen. Ausst.Kat. Museum Wiesbaden 2001-2002, Düsseldorf 2001.

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zeption.42 Die von Boccioni, Kupka und Klein formulierte Utopie des Bildes als pure Präsenz findet sich bei ihm gleichermaßen.43 Die Vorstellung des atembaren Kunstwerkes wurde mit Bezug auf Rothko in die Kunstkritik der fünfziger Jahre übernommen: Clement Greenberg sprach in Bezug auf Barnett Newman, Rothko und Clyfford Still davon, dass die Bilder Farbe ausatmen und ausströmen (»exhale«), dass sie die Betrachtenden einschließen und so ein »environment« eröffnen.44 Elaine de Kooning attestierte den Bildern Rothkos eine »atmospheric pressure«, einen Luftdruck, dessen Wirkung sie unter anderem als »breathing, expanding, approaching, threatening« charakterisierte.45 Demnach scheinen die Bildelemente in den Raum der Betrachtenden auszuströmen. Bei Kupka hingegen sollten die Rezipierenden wie durch eine Tür in das gleichermaßen mit einem Luftstoff gefüllte Werk eintreten können:46 In der Produktion könne dem Künstler schließlich das Gefühl entstehen, »keine Luft oder umgekehrt zu viel Luft zu bekommen«.47 Dementsprechend sei die Komposition zu korrigieren, bis der Luftgehalt das perfekte Maß erreicht hat. Damit sind, nicht nur bei Kupka und Rothko, Konzepte einer wohltuenden oder schädlichen Wirkung des Bildes verbunden.

5.1.2 Atmosphärische Bildwirkungen Das Medium der Luft galt den Künstlern nicht nur als formale, atmosphärischimmaterielle Qualität, sondern verkörperte Eigenschaften, welche die ›Bildluft‹ als Lebensspenderin fassbar macht. Ähnlich wie Kupka handelte Kandinsky von der angemessenen Quantität an Luft im Bild: So sprach er 1928/29 in seinem Unterricht vom Verhältnis »mensch – raum« und stellte die Kategorien mangelnder, ausreichender und überschüssiger Luft auf. Hier schrieb er vom »mangel innerer ›luft‹ seelisch?« und vom »überschuss in[nerer] ›luft‹«.48 Bei Kandinsky findet sich weiterhin die ebenfalls von Boccioni angesprochene Olfaktorik: »[M]anche Farben duften – duftige Malerei; hell blaugrün riecht wie frische Luft«, so schrieb er 1909, und fuhr fort:49 »Ganzhellblau« habe eine »ruhige, kalte Frische«, Hellblaugrün gebe eine »Frische (frische reine Luft)« und Hellrosa ent42 | Rothko zit.n. O. Wick 2008, S. 26 (Fußnote). Diese Zitate stammen aus einem unveröffentlichtem Skizzenbuch (»The Property of (A. Seltzer & Co., Inc.)«, 1954, MRF Arch.); siehe weiterführend Kap. 5.6. 43 | Breslin 1993, S. 275. 44 | Greenberg 1965 (1961), S. 226. 45 | De Kooning zit.n. Breslin 1993, S. 388. 46 | Kupka 2001 (1923), S. 154; vgl. Kap. 2.1. 47 | Ebd., S. 109. 48 | Kandinsky, »4. Semester – [1928/29] zu Stunde 1«, in Weißbach 2015, S. 334 [Erg. durch Weißbach]. 49 | Kandinsky, »Definieren der Farben« (1909), in Friedel 2007, S. 251.

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spreche »duftende[r] Luft«.50 1910 sprach er von der kühlenden Wirkung »eine[r] Art Höhenluft«, wenn das Hauptgewicht des Bildes unter die Mittellinie falle.51 Mit der Höhenluft ist zugleich ein zentraler Wirkfaktor der Naturheilkunde angesprochen (Kap. 5.2-5.3). Das Nachdenken über die für das Leben notwendige Menge an Luft zeigt sich bei Burchartz gleichermaßen. In seiner Gestaltungslehre setzte er sich – ebenso wie in Schule des Schauens – mit der Luftdichte auseinander. Der Mensch könne »nur in einem schmalen Bereich der Mitte« zwischen Unter- und Überdruck überleben: »Unsere Lungen empfinden die lastende Dichte des Nebels gegenüber der trockenen Luft in der Nähe der Erde, die zehnmal dichter ist als der Luftdruck der Stratosphäre«.52 Trockenheit und Feuchtigkeit werden so als klimatische Qualitäten mitgedacht. Faktoren wie Luftwärme, Luftfeuchtigkeit und Luftbewegtheit wurden in diesem Sinne auch von Willy Hellpach behandelt. Analog zu Burchartz findet sich bei diesem die Feststellung, dass es sich in kühler Luft leichter atmen lasse, während heiße, feuchte Luft das Atmen erschwere.53 Dabei thematisierte Burchartz allerdings, dass die Anwendbarkeit dieses Wissens auf das Bild sehr eingeschränkt sei und verschiedene Dichten nur durch Schraffuren und dergleichen dargestellt werden könnten. Mit Bezug zur Bildrhythmik wird später noch eine Anwendung des Prinzips der Lufthaltigkeit im malerischen Werk von Burchartz vorgeschlagen (Kap. 6.7). Anders als Kupka, der explizit von der Erfahrung sprach, vor dem Kunstwerk »keine Luft oder umgekehrt zu viel Luft zu bekommen«,54 blieb Burchartz eher unspezifisch. Die nährende, lebenserhaltende Wirkung einer lufträumigen Kunst wurde von Klee in der Bezeichnung der Kunst als Villeggiatur 55 evident. So sprach dieser von der Möglichkeit, in der Rezeption des Bildes, »die Luft zu wechseln« und eine Art stärkenden Kuraufenthalt zu erleben.56 Im durch die Kunst ermöglichten Luftwechsel konnten nach Klee die »hungernden Nerven« der Seele und ihre »erschlaffenden Gefäße mit neuem Saft« gefüllt werden.57 Nebel formulierte einen ähnlichen Gedanken: Zu einem heute leider unauffindbaren graphischen Blatt aus dem Jahr 1952 mit dem Titel Im Kraftfelde der Frühwinde notierte er: »Diese leichten, unsagbaren unsichtbaren doch fühlbaren Einflüsse der bewegten Lüfte auf die Gefäße der Seele […]!«.58 Die Bewegtheit des Bildes setzte er mit einer be50 | Ebd., S. 257 [Herv. i.O. unterstrichen]. 51 | Kandinsky, »In jedem Bild ist eine Hauptgewichtsform…« (nach 1910), ebd., S. 382. Allerdings nennt er dafür keine konkreten Beispiele. 52 | Burchartz 1962, S. 88. 53 | Hellpach 1935, S. 44f. 54 | Kupka 2001 (1923), S. 109. 55 | Zum Begriff der Villeggiatur vgl. Kap. 2.1, 3.1.1. 56 | Klee 1920, S. 39f. 57 | Ebd., S. 40. 58 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 202.

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wegten, belebenden Luft gleich. Der Begriff der Seele wurde von Kandinsky, Klee, Itten und Nebel dabei mit dem Luftmedium eng verknüpft (Kap. 3.4-3.6, 5.3). Eine seelisch nährende Wirkung von Bildern beschrieb Kandinsky in den frühen zehner Jahren: »Die Seele jedes Beschauers hat einen eigenen Hunger, der auf die für diesen Beschauer richtige Art vom lebendigen Werk gestillt wird. Jeder nimmt sich hauptsächlich aus dem Werk, was seine Seele braucht.«59 Weiterhin heißt es: »Die Luft der Kunst ist die seelische Atmosphäre, ohne die jedes Werk stumm ist. […] So ist andererseits jedes Werk (›Wirkung‹ durch seelische Atmosphäre bedingt) ein Organismus, der sich der Seele ›episch‹ mitteilt.«60 Bei Kandinsky findet sich die Auffassung des Bildes als Produzent einer Atmosphäre wiederholt: Dem Kunstwerk sprach er in Über das Geistige in der Kunst die Fähigkeit zu, an der Produktion der »geistigen Atmosphäre« mitzuwirken.61 So könne es »die geistige Luft verklären oder verpesten«.62 Der Vergleich zwischen der geistigen und der physikalischen Atmosphäre war für sein frühes Abstraktionskonzept konstitutiv: »Die geistige Atmosphäre ist der physikalischen ähnlich. Wie die physikalische wird auch sie durch bestimmte Elemente gesättigt, deren geistiges Einatmen geistiges Leben schafft, die Seele ›einstimmt‹, die Seelen all derer, die in immer größerer Zahl auf demselben Weg zum selben Ziel streben. Dieser unser heutiger Weg ist der Weg des Geistes. Und unser Ziel ist die Verfeinerung der Seele, ihr Wachstum.« 63

So wie die irdische Licht- und Luftatmosphäre das Leben des Menschen ermöglicht, so diente gemäß Kandinsky die in ihrer Zusammensetzung reine, geistige Atmosphäre dem Leben und der Nährung von Seele und Geist (Kap. 4.3). Die Kunst galt ihm als Medium, das zu einer lebensförderlichen Atmosphäre beitragen kann. Die Lufträumigkeit des Bildes war auch bei Rothko mit der Vorstellung verbunden, dass Kunst am Leben teilhabe und zum ›Stimulans des Lebens‹ (Friedrich Nietzsche) werden könne (Kap. 5.6.2). Das Luftmedium wurde immer wieder mit weitreichenden gesellschaftlichen Utopien verbunden. Piene forderte eine Expansion des Bildraumes gegen die »Verengung des Blickes« hin zu einer »allseitige[n] Expansion […] in den Raum, wo freier Atem ist«.64 Den »Luftraum« bezeichnete er als den einzigen Raum, »der dem Menschen fast unbegrenzte Freiheit bietet« und als »Paradies auf Er-

59 | Kandinsky, »Kompositionselemente« (1912/14), in Friedel 2007, S. 616; vgl. Kap. 3.3.1. 60 | Ebd., S. 611. 61 | Kandinsky 1952 (1911), S. 133f. 62 | Ebd., S. 136. 63 | Kandinsky, »Wohin geht die ›Neue‹ Kunst« (1911), in Friedel 2007, S. 425. 64 | Piene, »Wege zum Paradies« (1961), in ZERO 3, o.S.

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den«.65 Die Vorstellungen vom Paradies und der Freiheit decken sich mit denen Kleins und zeugen so neben einer nährenden Funktion von Luft auch von weiteren, ethischen Dimensionen des Mediums (Kap. 5.5). Die Ideen eines Luftgehalts, eines lebendigen Atems und einer Atembarkeit von Bildern waren im breiten Zeitraum von 1910 bis 1960 äußerst virulent. Vielfach begründeten sie dezidiert die seelische Wirkung von Kunst. Dem Bild als Luftraum wurden dabei entsprechend der physikalischen Atmosphäre neben einer Temperatur auch ein bestimmter Atemluftgehalt, ein Geruch, eine Dichte, ein Luftdruck und vor allem die generelle Potenz zur Nährung und Energetisierung der Rezipierenden zugesprochen. Damit in Zusammenhang steht das Ideal eines immateriellen, unmittelbar wirkenden Kunstwerkes.

5.2 Te x te , musik alische K ompositionen und S chrif tbilder als L uf t - und A temr äume Luft und Atem galten im Zeitraum von 1910 bis 1960 sowie in weiter zurückliegenden Traditionen keineswegs nur oder vorrangig als Qualitäten der Malerei. In der Dichtung, der Musiktheorie, der Philosophie sowie der Kalligraphie finden sich solche Ideen gleichermaßen. Dabei handelt es sich um Traditionen, die die hier untersuchten Künstler gut kannten. Der folgende, medienübergreifende Blick widmet sich den Dimensionen der Luft- und Atemräumigkeit in ihrer medienübergreifenden Geltung, um die bisherigen Ergebnisse zu konturieren und in ihrem weiteren Kontext zu verorten.

5.2.1 In Gedichten und Texten atmen: Lebensrhythmus und klare Gedanken »Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren allmähliches Licht ich bin […]« 66

In diesen Versen aus Rainer Maria Rilkes Sonett an Orpheus (1923) wird eine Gleichsetzung von Atmung und Lektüre hergestellt: Das Gedicht erscheint als ein Lebens- und Atemraum, in dem sich das lyrische Ich, das zugleich mit den Lesenden identifiziert wird, als Individuum auflöst und widerstandslos mit dem

65 | Ebd. 66 | Rilke 1927, S. 341.

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Rhythmus beziehungsweise dem Atem der Verse bewegt wird. Lebensfunktion und Lektüre werden so miteinander verknüpft.67 Die Literaturwissenschaftlerin Dorothea R. Schönsee erörtert in Kunst und Pneuma. Von Hofmannsthals Lyrik des Hauches zur Atemperformance (2013) den Prozess des Lesens am Beispiel der Lyrik Hugo von Hofmannsthals (1874-1929) als »Erfahrung des ›Mit-Atmens‹«.68 Die Poesie erzeuge hier »einen synthetischen Atemraum«.69 Dabei spielt, wie bei Rilke, das Rhythmische eine zentrale Rolle: »Im Zuge der Eingliederung der Poetik in ein System von Druck und Gegendruck wird der Rezipient aufgefordert, den eigenen Lebensrhythmus im Verbund mit den poetischen Texträumen pulsieren zu lassen«.70 Auch Friedrich Nietzsche bezog das Prinzip der Atmung auf das Textmedium: Er äußerte wiederholt die Idee, dass man in seinen und mit seinen Texten atmen könne. So heißt es im Vorwort zu Ecce Homo: »Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muß für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten«.71 Ist man für diese geschaffen, so sei einem ein freies Atmen vergönnt.72 Die Höhenluft, die ja auch von Wassily Kandinsky mit Bezug zur Bildkomposition genannt wurde, rief Nietzsche immer wieder auf. Das freie Atmen hatte Otto Piene gleichermaßen betont. Bei Mark Rothko findet sich dieses Bedürfnis nach dem freien Durchatmen ebenfalls (Kap. 5.6.1). In seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft (1882) formulierte Nietzsche, dass das Buch »in der Sprache des Tauwinds geschrieben« sei, »es ist Übermut, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so daß man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muß, vielleicht schon gekommen ist … Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste [sic!] geschehn sei […] – denn die Genesung war dieses Unerwartetste.« 73

67 | Dieses Motiv ist für Rilke äußerst typisch, siehe dazu Asendorf 1984, S. 134f., der an verschiedenen Textstellen die Verschmelzung des Ich mit Luft-, Atem- und Windraum herausarbeitet. Ähnliches wird später unter dem Aspekt der Einfühlungstheorie verhandelt (Kap. 6.3.1). Siehe zu den Zusammenhängen von Poesie und Atmung im weiteren Verlaufe des 20. Jahrhunderts Ionescu 2017, S. 36f. 68 | Schönsee 2013, S. 30. 69 | Ebd., S. 100f. 70 | Ebd., S. 99. 71 | Nietzsche 1908, S. 8. 72 | Ebd. 73 | Nietzsche 1990 (1887), S. 7.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Das Werk sei aus der Krankheit heraus entstanden und habe mit Genesung geendet. Hier verbinden sich Produktions- und Wirkungsebene, denn tatsächlich erlebte Nietzsche nach eigener Aussage durch das Schreiben der Fröhlichen Wissenschaft eine Gesundung. Er äußerte schließlich die Idee, dass die Philosophie überhaupt »nur eine Auslegung des Leibes und ein Mißverständnis des Leibes« sei und verlangte nach einem »philosophische[n] Arzt«, der zeigen könne, dass es in der Philosophie »bisher gar nicht um ›Wahrheit‹, sondern […] um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben« ging.74 Dieser Ansatz ist im hier dargelegten Bildmodell, mit dem die Kunst als heilsame Naturkraft gefasst wird, gleichermaßen enthalten. Weiterhin spielte die Luft für das klare Denken bei Nietzsche eine zentrale Rolle. 1872 schrieb er im Angesichte seiner gescheiterten Italienreise an seine Schwester von einer Umkehr zum Ideal des »Lebens in klarer Gebirgsluft«: »Meine Reise war, im allerweltsmännlichen Sinne, sehr verunglückt, in meinem männlichen Sinne unvergleichlich geglückt. Zu erzählen ist nichts – Höhenluft, Hochalpenluft, Zentralalpenluft«.75 Manfred Riedel stellt dar, dass eben jene Höhenluft »die Atmosphäre seiner Gedankenwelt« bestimmt habe.76 Die reine Luft war für Nietzsche ein Erkenntnismedium, wie er in Schopenhauer als Erzieher (1874) emphatisch ausrief: »So hoch zu steigen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- und Eisluft hinein, dorthin wo es kein Vernebeln und Verschleiern mehr gibt und wo die Grundbeschaffenheit der Dinge sich rauh und starr, aber mit unvermeidlicher Verständlichkeit ausdrückt!«.77 Das Motiv der geistigen Klarheit im Sinne eines Zusammenhangs von Luft, Atmung und Denken war Anfang des 20. Jahrhunderts wesentlich. Christoph Asendorf attestiert: »Denken ist hier eine Frage des Pleinairismus – das freie Atmen übernimmt dessen Funktion«.78 Der österreichische Schriftsteller Rudolf Kaßner, der mit Rilke und Hofmannsthal in Kontakt stand sowie Nietzsche gründlich rezipierte, schrieb in »Moral der Musik« (1922): »Meine Gedanken sind nicht im Atelier gedacht. Meine Gedanken müssen einem das Gefühl von Licht und Luft geben. Die französischen Moralisten sind sehr geistreich, aber wenn ich sie lese, atme ich nicht frei genug. Ihre Gedanken ersticken in sich, im luftleeren Raum der Vernunft. Gedanken müssen auf mich physisch wirken wie Bilder, wie Menschen, wie Bäume, wie Blumen, wie ein sonniger Tag … Im freien Licht denken – das ist Kunst.« 79

74 | Ebd., S. 10. 75 | Nietzsche zit.n. Riedel 1998, S. 156, vgl. Friedrich Nietzsche. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1980, S. 203. 76 | Riedel 1998, S. 156. 77 | Nietzsche zit.n. ebd., S. 185. 78 | Asendorf 1984, S. 142. 79 | Kaßner zit.n. ebd. [Ausl. i.O.].

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Das Bild als Lebensraum

Der geistige Inhalt der Kunst soll nicht irgendwie vermittelt werden, sondern leiblich ergreifen. Dabei scheint es sich um eine typische Denkfigur zu handeln, auf die Kunstschaffende, Philosophen und Schriftsteller über Gattungsgrenzen hinweg rekurrierten. Die Angst, zu ersticken wird hier mit einer wenig anregenden geistigen Atmosphäre in Verbindung gebracht. Die Verortung in einer bestimmten Luft erweist sich in den Selbsthistoriographien vieler Künstler der Zeit in diesem Sinne als zentraler Faktor der schöpferischen Arbeit (Kap. 5.3.3). Zu Beginn der Studie wurde Ähnliches anhand des Literaturwissenschaftlers Carl Weitbrecht und dessen Überlegungen zur schädlichen Luft der ausländischen Literatur angeführt (Kap. 1.3). Der Bezug zu Nietzsche durch Künstler/-innen der Moderne, gerade im Weimarer Umkreis, ist offenkundig: Kandinsky, Itten, Paul Klee, František Kupka, Otto Nebel und Max Burchartz setzten sich mit Nietzsche auseinander.80 Dass eine Rezeptionslinie über Ideen der Lufträumigkeit und Atembarkeit von Kunstwerken lief, wurde bisher nicht aufgearbeitet. Bei Nietzsche findet sich aber ein Hinweis auf eine der Herkünfte dieser Vorstellungen. So schrieb dieser in Ecce Homo: »[A]ber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft… Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit…«.81 Die Dithyramben gehen auf den Bacchus-Kult zurück. In der für Nietzsche zeitgenössischen Zeitschrift für Hypnotismus (2,1893/94) wurden Dithyramben folgendermaßen beschrieben: »Den Bacchantischen wurden venerische und bacchische Wollust athmende, glühende Dithyramben zur Lectüre gegeben. Indem sie sie lasen und so bacchische und venerische Lust in ihrer Phantasie nochmals lebhaft durchkosteten, wurden sie gesund«.82 Bei Nietzsche ist das belebende, reinigende Prinzip der Dithyramben auf den Prozess der Atmung bezogen und stand mit der Lebenswirksamkeit der dionysischen Kunst in Verbindung (Kap. 5.6.2). Beim Anthroposophen Rudolf Steiner taucht die Idee, dass Sprache im weitesten Sinne von Luft beziehungsweise einem luftähnlichen Äther durchströmt sei, ebenfalls auf. In seinen Vorträgen zur Eurythmie bezog er sich in den zwanziger Jahren auf Dichtung und Gesang, für die der Atem konstituierend war, und die in die eurythmischen Bewegungspraktiken einbezogen wurden. Beim Gesang werde ein »Abbild der Geste […] dem Luftstrom anvertraut«.83 Dieser Luftstrom, 80 | Siehe exemplarisch zu Kandinsky: Kandinsky 1952 (1911), S. 43; zu Itten: Streit 2015, S. 24; zu Klee: Klee, Tagebucheintrag 1898 (ohne weitere Datierung), in Kersten 1988, S. 34, zu Kupka: Spate 1979, S. 90f., Baetcke/Blum 1997, S. 21, Ferus 2002, S. 20 und S. 133f.; zu Nebel: Nebel (Forte dei Marmi, 1937/»Daten zu Leben und Werk«), in Radrizzani 1988, S. 217 und S. 368; zu Burchartz: Breuer 2010a, S. 16. 81 | Nietzsche 1908, S. 27f. [… i.O.]. 82 | Jonas Großmann (Rezensent) zit.n. Gödde 2009, S. 79. 83 | Steiner 1955 (1920), S. 36.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

der im Gesang wie im Sprechen entstehe, vibriere »aus dem menschlichen Organismus nach außen«.84 Sprache bezeichnete Steiner in diesem Sinne als »ein unsichtbares Sich-Bewegen«, insofern »wir durch unsere Sprachorgane die Luft in Bewegung bringen«.85 Auch die Realisation dichterischer Kunstwerke wurde so – wie schon anhand von Rilke gesehen – zum Ausatmen von Luft erklärt. Steiners Frau Marie Steiner sprach davon, dass man gerade im russischen Gedicht das Gefühl habe, dass »weder die Rezitation, noch die Deklamation sich eignet, es will ausgeatmet, ausgehaucht werden. Die Sprache […] verfließt in Wellenbewegungen […]. Wird einem das Gedicht vorgelesen, so wirkt es wie ein Hauch, der sich durch die Form nicht einfangen lassen will«.86 In den eurythmischen Übungen und Aufführungen sollten unter anderem Atmosphären, Temperaturen sowie Erscheinungen wie Wind und Sonne empfunden und zum Ausdruck gebracht werden.87 Dabei ging es gemäß Steiner um ein »gesetzmäßiges, harmonisches Einfügen von Menschen in ein Ganzes«.88 Die Anwendung dieser Prinzipien auf die bildende Kunst blieb bei ihm aus. Gerade die Auffassung des Gesanges als bewegte Luft bot aber Anknüpfungspunkte für bildende Künstler, welche schließlich zur Musik als Medium reiner Schwingungen in der Luft vielfach Bezug nahmen.

5.2.2 Musik als Luft- und Atemraum Dass musikalische Werke selbst als klimatische Atmosphären gefasst wurden, zeigt sich eindrücklich in Nietzsches Beschreibung der Oper Carmen von George Bizet. Die Oper beschrieb er in »Der Fall Wagner« als Erlösung. Mit Bizets Carmen nehme man »Abschied vom feuchten Norden, von allem Wasserdampf des Wagnerischen Ideals. Schon die Handlung erlöst davon. Sie hat von Mérimée noch die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die harte Notwendigkeit; sie hat vor Allem [sic!], was zur heißen Zone gehört, die Trockenheit der Luft, die limpidezza in der Luft. Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert. Hier redet eine andre Sinnlichkeit, eine andre Sensibilität, eine andre Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch […]. Ich beneide Bizet darum, daß er den Mut zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europas bisher noch keine Sprache hatte, – zu 84 | Ebd., S. 37. 85 | Ebd., S. 9. 86 | M. Steiner, »Über die Anfänge der eurythmischen Arbeit« (Nachlass) in Froböse/ Froböse 1998, S. 101. 87 | R. Steiner, »Erster Kurs. Das dionysische Element« (Bottmingen, 16. bis 24. September 1912), ebd., S. 21-23. 88 | R. Steiner, »›Das Innere hat gesiegt‹/›Das Äußere hat gesiegt‹« (Dornach, 28. Juni 1914), ebd., S. 56.

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Das Bild als Lebensraum dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität… Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohltun!« 89

Das Kunsterlebnis erscheint hier als eine Befreiung und trocknende Reinigung von der hohen Luftfeuchte und dem Dampf der nordischen Wagner-Opern, die er mit dem schweißtreibenden »Scirocco« verglich.90 Dem entgegen gesetzt wird eine warme, gar heiße, aber klare und helle südliche Luft, die eine glücklich-heitere Stimmung mit sich bringe. So schloss Nietzsche: »Il faut méditerraniser la musique!«.91 Dies bringe eine »Rückkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit, Jugend, Tugend!« mit sich.92 Solche Beschreibungen einer Lufthaltigkeit sowie einer spezifischen Luftqualität der Musik finden sich nicht allein bei Nietzsche. Anhand von Anton Webern (1883-1945) zeigt Angelika Abel die besondere Rolle des Alpenklimas auf.93 So werde bei ihm eine »Beziehung zwischen Bergwelt und musikalischem Raum« evident.94 1904 notierte Webern zu Ludwig van Beethovens Eroica-Symphonie (1802/03): »Ich sehne mich nach einem Künstler in der Musik, wie es Segantini in der Malerei war. Das müßte eine Musik sein, die der Mann einsam, fern allen Weltgetriebes, im Anblick der Gletscher, des ewigen Eises und Schnees, der finsteren Bergriesen schreibt, so müßte sie sein wie Segantinis Bilder. Das Brechen des Alpensturmes, die Wucht der Berge, das Leuchten der Sommersonne auf den Blumenwiesen, das alles müßte in der Musik sein – eine unmittelbare Geburt der Alpeneinsamkeit. Der Mann wäre dann der Beethoven unserer Tage. […].« 95

Die Musik sollte wie die Malerei des österreichischen Malers Giovanni Segantinis (1858-1899) Wind, Sonne und Alpenklima spürbar machen. Die Rhetorik Weberns erinnert stark an Nietzsche. Webern erhob die, allerdings figurative, Malerei zum Vorbild. Abel spricht weiter von der »Auffassung Weberns, daß Malerei und Musik Gleiches«, nämlich »die Wirkungen der Natur darzustellen suchen«: »Problematisch war nur das ›Wie‹, da es sich um eine Nachahmung programmusikalischer Art nicht handeln konnte«.96 Ein ähnliches Problem stellte sich der abstrakten Malerei, die weg von der Repräsentation, hin zur Erzeugung von Erfahrung und direkter Wirkung strebte. Kandinsky selbst schrieb schließlich, dass 89 | Nietzsche 1994 (1888), S. 241f. 90 | Ebd., S. 240. 91 | Ebd., S. 243. 92 | Ebd. 93 | Abel 1982, S. 187. Webern bezog sich in Briefen etwa auf den schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg und den schwedischen Schriftsteller August Strindberg. 94 | Ebd., S. 187f. 95 | Webern zit.n. ebd., S. 229. 96 | Ebd.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

sowohl Maler als auch Komponisten die Rezipierenden mit »eisiger Luft« oder warmer, heißer Luft konfrontieren können.97 Das Ideal der Lufthaltigkeit in der abstrakten Malerei war mithin an der genuinen Lufträumigkeit der Musik orientiert, deren Töne sich schließlich tatsächlich im Luftmedium verbreiten.98 Beim Schweizer Musikwissenschaftler Ernst Kurth (1886-1946) wird die Vorstellung einer Lufthaltigkeit von Musik besonders deutlich. Kandinsky, Itten und Klee rezipierten Kurths Theorien.99 In seinen Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie (1917) bestimmte dieser das Wesen der Bach’schen Kompositionen als Atembewegungen. Er beschrieb das Phänomen des An- und Abschwellens der musikalischen Linien als fließendes Ein- oder Ausatmen.100 In seiner zweibändigen Monographie zu Anton Bruckner formulierte er: »Bruckners Formrhythmus verläuft nicht über gezirkelte Bogen sondern stürmt und weitet sich zum freigestalteten Kräfteverlauf; es ist der Rhythmus des Hochgebirges und des Meeres, der Luft und des Feuers«.101 In Romantische Harmonik (1920) schrieb Kurth von einem »starke[n] Atem«, der als Melodie ausströme.102 So sprach er vom »schweren Atem der Polyphonie«103 und davon, dass die Klänge »der hauchartige Niederschlag« seien, »den der eigentliche Lebensatem der Musik im Aufsteigen an die Tagessphäre findet«.104 Das Erleben von Musik fasste Kurth als Immersion in einen meteorologischen Raum: Die »gesamte Atmosphäre erschwingt unter dem Drucke von unsichtbaren Kraftwellen, die einander durchstreichen und sich zu Entladungen ballen«.105 Weiterhin handelte er mit Bezug auf Beethoven von der »schweratmige[n] Atmosphäre […] der schwülen Nacht«106 und der »Verdunkelung der Atmosphäre vor großer Entladung«.107 Die Musik erscheint somit als ein mit Energien geladener, atmend rhythmisierter Luftraum – eine Naturmacht, von der Energien vergleichbar dem Bergson’schen élan vital ausgehen.

97 | Kandinsky, »Konkrete Kunst« (1938), in Bill 1963, S. 219; vgl. Kap. 3.3.1. 98 | Vgl. Burchert b (in Vorbereitung, Abschnitt »Atem als Metapher und Modell in Kunstund Musiktheorie«) sowie Kap. 6.4. 99 | Siehe Bonnefoit 2008, S. 127; Kandinsky, »II. Semester – [1932] – [zu Stunde 7]«, in Weißbach 2015, S. 425; Kandinsky 1973 (1926), S. 45; Itten, Tagebucheintrag vom 30.7.1918, in Badura-Triska 1990, S. 308; Hoffmann-Erbrecht 1987, S. 334f. 100 | Kurth 1956 (1917), S. 21; vgl. Kap. 6.3.2, 6.4. 101 | Kurth 1971 (1925), S. 371. 102 | Kurth 1923 (1920), S. 372. 103 | Kurth 1956 (1917), S. 174. 104 | Kurth 1923 (1920), S. 1. 105 | Ebd., S. 32f. 106 | Ebd., S. 87. 107 | Ebd., S. 155.

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Das Bild als Lebensraum

5.2.3 Tuschmalerei, Kalligraphie und Bildschrift als Atemfiguren Neben der Dichtung und der Musik zeigen sich verwandte Vorstellungen in weiteren, der bildenden Kunst durch ihre Visualität nahestehenden Bereichen, die hier nur kurz als Ergänzung genannt werden, ohne sie weiter zu vertiefen. Eine Verknüpfung von Atem und Zeichnung findet sich etwa in der asiatischen Tuschmalerei: Henri Maldiney beschrieb den Zusammenhang von Komposition und Atem am Beispiel der schöpferischen Prinzipien des chinesischen Malers Sie-Ho aus dem sechsten Jahrhundert. Zu diesen gehöre, als erstes Prinzip, die Widerspiegelung des lebendigen Atems zur Hervorbringung von Bewegung.108 Die chinesische Tuschmalerei verfüge über zwei Bewegungsfiguren: »Sie vereint die Expansion des Lebensatems und des Gerüstes. Sie ist in jeder Singularität eine Ganzheit ohne Grenzen, Artikulation des kosmischen Atems in der einzigen Raum-Zeit-Einheit der konkreten Welt«.109 Am Beispiel Ittens und Kupkas wird sich zeigen, dass die ostasiatische Tuschmalerei beziehungsweise -zeichnung als Ausdruck und Hervorbringung von Atem produktionstheoretisch in künstlerische Überlegungen einbezogen wurde.110 Dabei spielte die rhythmische Atmung gemäß der Zeichenbewegung eine wesentliche Rolle. An der Berliner Itten-Schule lehrte in den Dreißigern der japanische Tuschezeichner Yumeji Takehisa.111 Wichtige Anhaltspunkte lieferte zudem Ernst Grosses Publikation Die ostasiatische Tuschmalerei, die von asienaffinen Künstlern in den Zwanzigern gelesen wurde112 und Aspekte verdeutlicht, die von Maldiney ebenfalls angesprochen wurden. Grosse beschrieb darin die ›asiatischen‹ Schriftzeichen als Atemfigurationen: »Die Linien der europäischen Schrift, die durchweg fast in derselben Breite und in demselben Tone verlaufen, erscheinen dürr und tot neben den schwellenden, atmenden ostasia-

108 | Maldiney 2007, S. 69f.; zu Maldiney vgl. Kap. 1.1, 1.3. 109 | Ebd., S. 70. Mit dem Gerüst ist bei Maldiney die Komposition im Sinne der technischen Ausführung gemeint. Zum Zusammenhang von chinesischer Tuschmalerei und Atem siehe auch Ionescu 2017, S. 23f. Dieser verweist zudem auf: Francois Cheng, Souffe-Esprit. Textes théoretiques chinois sur l’art pictural, Paris 1989. 110 | Vgl. Burchert 2017b (Webseite) und Kap. 5.4. 111 | Streit 2015, S. 191-193, siehe weiterhin Hidetsugo Yamano, »Johannes Itten und Japan«, in: Dolores Denaro (Hg.), Johannes Itten. Wege zur Kunst, Ostfildern-Ruit 2002, S. 294-307. 112 | Vgl. Burchert 2018a; siehe exemplarisch Güse 1980, S. 19 und weiterführend Osamu Okuda, »Paul Klees Beschäftigung mit fernöstlicher Kunst«, in: Vom Japonismus zu Zen. Paul Klee und der Ferne Osten, Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee Bern 2013/Museum für Ostasiatische Kunst Köln 2014-15, Köln 2012, S. 14-99.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume tischen Zügen, deren Breite und Intensität ebenso mannigfaltig, zart und kräftig wechselt wie ihre Richtung, so daß sich […] ›in jedem einzelnen ein ganzes Leben darstellt‹.«113

Die kalligraphische Linie erscheint bei Grosse als eine lebendige, sich atmend ausdehnende und zusammenziehende Linie, als fließender, organischer Rhythmus. Auch bei Nebel findet sich zumindest ein kleiner Hinweis auf die japanische Tuschmalerei.114 Darüber hinausgehend entwickelte er ein eigenes System von Atemfiguren. Bei ihm zeigt sich, dass und wie eine unmittelbare Verbindung von Schriftbild und Atem im Rekurs auf westliche Traditionen erfolgen konnte. Auf der Schnittstelle von Dichtkunst und Bild entwarf er eine Runenkunst, die er als Ursprache begriff, die nicht nur visuell, auditiv und kognitiv wahrgenommen, sondern mit möglichst vielen Sinnen erfühlt werden sollte. Es handelt sich bei diesen Runen um verschiedenfarbig ausgemalte Rechtecke und Kreise, mal monochrom, mal zweifarbig, und je unterschiedlich gegliedert. Nebel sprach von »der vermehrten Atem-Kraft in den […] Eff-Runen«, die »wie Pfeifen oder Luftröhren« aussehen.115 Diese sind grau-blau, während das ›V‹ zum Beispiel eine matt-rotorange Färbung hat: »Gegenüber dem scharfen ›F‹ hat das ›V‹ einen mehr weichen Wesenszug. ›F‹ ist Dur-Atem, ›V‹ ist Moll-Hauch« und »[d]as ›W‹ ist das Doppel-›V‹, die Anreicherung des ›V‹. Das Doppelgewicht, das zweimal atmende, wuchtige, windstarke, wogenhafte Werden«.116 Farbqualitäten, Musik, Klang und Atem sind hier engstens miteinander verknüpft, da die Zeichen bei der ›Lektüre‹ umfassend erfühlt und eratmet werden sollten. Es ließen sich noch weitere Bereiche sowie Beispiele aufführen, die zeigen, dass verschiedene Kunstformen schon in vergangenen Jahrhunderten, verstärkt aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Luft- und Atemräume gefasst wurden. In den Beispielen zeigte sich, dass Aspekte der Lebendigkeit und Gesundheit eng mit diesen verknüpft waren und die Verbindung von Lebensfunktionen und Kunst dabei wesentlich war. Dies widerspricht einer bislang in der kunsthistorischen Lebendigkeitsdebatte recht dominanten, historischen Argumentationslinie, nach der die lebendige Kunst die Rezipierenden durch ihre Lebendigkeit so erstaunt, dass sie erstarren und somit dezidiert nicht in ihrer Vitalität gestärkt werden (Kap. 5.4). Bevor der Aspekt einer Einflößung von Leben in das Kunstwerk und deren Übertragung auf die Rezipierenden näher betrachtet wird, werden die Hintergründe der herausgearbeiteten Luftkonzepte in einen 113 | Grosse 1922, S. 26. 114 | Nebel, »Aufzeichnungen zu einem Lehrgange« (1932), in Radrizzani 1988, S. 322. Es handelt sich um Notizen von Unterrichtsstunden, die er abgehalten hat: »In der ›japanischen‹ Haltung werden alsdann Augen-, Nasen- und Mundformen getuscht. Darauf, zum Schlusse: Gesichter, – erst mehr zeichnerisch – einfarbig, dann solche in flächig-farbiger Art«; vgl. Kap. 5.4. 115 | Nebel, »Neue Schwarz-Weiß Kunst des Schnittmessers« (1948), ebd., S. 282. 116 | Ebd. [Herv. i.O. fett].

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Das Bild als Lebensraum

breiteren kulturhistorischen Zusammenhang gestellt und die Künstlerpositionen und Heilskonzepte darin verortet.

5.3 L uf t und G esundheit z wischen N aturheilkunde und E soterik Die Annahme einer Wirksamkeit luft- und atemhaltiger Kunstwerke speiste sich aus verschiedenen Quellen und Traditionen. Konzepte geistig-seelischer Luft überlagerten sich dabei häufig mit Konzepten der physikalischen Atmosphäre. Künstler bedienten sich den Diskursen eklektizistisch und entnahmen unterschiedlichsten Bereichen häufig ähnliche Ideen, um ihren Wirkungskonzepten eine Sprache zu verleihen und sie mit Argumenten zu unterfüttern.

5.3.1 Pneuma, Prana, Qi Das Medium der Luft war in der Antike eng mit dem Konzept des Pneumas verbunden. Pneuma hagion bezeichnet im Griechischen den göttlichen Lebenskeim,117 Pneuma ist als ›Wind‹ und ›Atem‹ zu übersetzen118 und meint zudem ein kosmologisches Prinzip, das der pythagoreischen Idee eines lebendigen, atmenden Universums entspricht.119 Der antike Philosoph Anaximenes von Milet erläuterte: »Wie uns die Seele, die aus Luft besteht, zusammenhält, umgeben Atem und Luft das ganze Universum«.120 Yves Klein bezeichnete dementsprechend seine auf die Blaue Periode folgende Schaffenszeit als Pneumatische Periode (Kap. 3.9). Johannes Itten verwendete den Begriff des Odems im Sinne des göttlichen Atems, der Teil der erleuchteten menschlichen Seele sei.121 Das Wort ›Atem‹ stammt vom Althochdeutschen atum und bedeutet ›Heiliger Geist‹; atmám lässt sich als ›Seele‹, ›Hauch‹ und ›Geist‹ übersetzen.122 Odem, Pneuma, Seele und Atem stehen somit semantisch in enger Verbindung. Vom ›Odem‹ sprach Otto Nebel einleitend in Anmut und Segen der Sendung (1950-53).123 Noch häufiger verwendete er aber den Begriff des

117 | Steinaecker 2000, S. 21 118 | Libbrecht 1990, S. 50. 119 | Ebd., S. 51. 120 | Anaximenes von Milet zit.n. Bergdolt 1999, S. 34. 121 | Itten 1921, o.S. 122 | Sung-Kie 1979, S. 104. 123 | »Der Odem immerwährenden Werdens wird atembar für den andächtigen Sinnsucher, der den Zustand schwerelosen Bewußtseins erreicht im zeugerischen Müssen, im geistwerklichen Schaffen« (Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 160).

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Hauches.124 Dies fügt sich in Ittens, Nebels und Kleins Übernahme des Impetus eines gottgleichen Künstlers, der in sein Werk Leben eingibt und dadurch auf das Leben der Rezipierenden einwirkt (Kap. 5.4). Das Pneuma, auf das vor allem Klein rekurrierte, gilt als omnipräsenter Lebensstoff in der Umwelt: »Das Pneuma atmen wir aus der Luft ein, in der wir verwurzelt sind wie die ›Wasserschere‹ […] im Wasser«, so Hippokrates.125 Auch der stoischen Philosophie zufolge wird das Pneuma »mit der Luft eingeatmet, mischt sich dem Blute bei, verteilt sich in die Adern und damit in verschiedene Ströme, welche, vom Herzen den verschiedenen Organen zugeführt, die entsprechenden Funktionen ausüben«.126 Gemäß der Heilkunde des Hippokrates regelt das Pneuma den Stoffumlauf im Körper. In dessen Schrift »Über den Luftumlauf im Körper« heißt es entsprechend, »daß wenn das Pneuma im Organismus ›im Flusse‹ ist, Gesundheit besteht, wenn dagegen Stockungen eintreten, Krankheit«.127 Leben und Gesundheit beruhen demnach auf dieser direkten Verbindung mit der Umwelt.128 Daher sprechen Gernot und Hartmut Böhme von einem »ökologische[n] Medizinkonzept« bei Hippokrates.129 Andere Kulturen sowie verschiedene Religionen, mit denen sich Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingehend auseinandersetzten, boten verschiedene Äquivalente zum griechisch-antiken Konzept des Pneumas. In der buddhistischen Literatur indischer Tradition ist es das Prana.130 Prana kann mit »Atem, Atmung, Leben, Vitalität, Wind, Energie, Kraft« übersetzt werden und gilt gleichermaßen als Seelenstoff.131 Prana als »Lebensprinzip« wurde etwa in Helena Blavatskys Geheimlehre im Kontext der »siebenteilige[n] Natur des Menschen« genannt.132 Kandinsky, Nebel und František Kupka, die sich mit der Theosophie auseinandersetzten oder selbst fernöstliche Körper- oder Zeichenpraktiken für sich entdeckt hatten, mussten mit dem Konzept vertraut sein. Itten schrieb 1919 in seinem Tagebuch vom Prana als »Lebenswasser[…]« und »Lebenskraft«.133 Das Prana gilt allgemein als »vital breath of nature«, der Monsunregen und Gewitter-

124 | Siehe exemplarisch ebd., S. 59-64. 125 | Hippokrates zit.n. Steinaecker 2000, S. 28. 126 | Putscher 1974, S. 17. 127 | Hippokrates zit.n. Steinaecker 2000, S. 28. 128 | Vgl. Böhme/Böhme 1996, S. 166; vgl. auch Baader 2005. 129 | Ebd., S. 169; siehe außerdem ebd., S. 170. 130 | Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Konzepte von Prana, Pneuma und Qi siehe Libbrecht 1990. 131 | Kubny 1995, S. 241. 132 | Blavatsky, »Der Schlüssel zur Theosophie« (1889), in Auszügen bei Botheroyd 1995, S. 266. 133 | Itten, Tagebucheintrag im März 1919 (eine genauere Datierung fehlt), in A. Itten/ Rotzler 1972, S. 63.

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stürme bringt sowie den Pflanzen und Tieren Leben schenkt.134 Es wird so als die ganze Natur durchwirkender Atem und als generelles Lebensprinzip gefasst, das, ähnlich dem Pneuma, den atmosphärischen Lebensraum erfüllt. Das chinesische Prinzip Qi war den Künstlern ebenfalls über die synthetischen esoterischen Lehren und über die chinesische Kunst bekannt. Itten und Nebel beschäftigten sich zum Beispiel mit dem chinesischen I-Ging (Kap. 6.6). Das Qi umfasst unter anderem ›Atem‹, ›Dampf‹, ›Wolke‹ und ›Nahrung‹, und ist als Lebenskraft ebenfalls mit klimatischen und meteorologischen Eigenschaften und Beschreibungen belegt. So wird das Qi mit der »Bildung von Wolken und Dunst am Himmel« assoziiert.135 Es stellt sowohl ein inneres als auch ein äußeres Prinzip dar: Einerseits bezeichnet es dem menschlichen Körper inhärente Feinstoffe und andererseits klimatische Qualitäten in der Umwelt, die von außen auf den menschlichen Körper einwirken – etwa Wind, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Kälte.136 Diese Elemente finden sich im Pneumabegriff gleichermaßen. Auf dem Prinzip des Pneumas baute der spätantike Arzt Galen seine Säftelehre auf (Kap. 2.5). Auch hier sind Mensch und Makrokosmos eng miteinander verbunden: »Das Pneuma nährt sich aus dem Blut, hat in ihm sein körperliches Substrat, ›ist‹ das Blut und wird durch dessen Aufdampfung und Aufdünstung ständig erneuert. Es ist nicht nur im Herzen, sondern bewegt sich ständig in sämtlichen Blutgefäßen des ganzen Körpers. Beobachtete Strömung und gefühlte Strömung sind eines, und so ist das Atmen ein willkürlich-unwillkürliches Tun, Wahrnehmen und Sprechen als Organfunktion wie Seelentätigkeit sind eins, und dasselbe ist auch die Weitergabe eines Teiles des eigenen Anteils am Weltpneuma – eines Teiles, der doch ein Ganzes ist, wie der Mensch selber und seine Seele ein Ganzes ist.«137

Organfunktion und Seele werden gemäß Galen vom universalen Pneuma genährt. Sowohl Kandinsky,138 Paul Klee als auch Nebel sprachen in diesem Sinne von einer Füllung der Seele durch ein Luftmedium – analog zur Anreicherung des Herzens und der Gefäße mit Blut beziehungsweise der Lunge sowie des Blutes mit Sauerstoff. Nebel verwendete sogar explizit den Begriff des Gefäßes,139

134 | Libbrecht 1990, S. 43. 135 | Kubny 1995, S. 5. 136 | Ebd., S. 6. 137 | Putscher 1974, S. 17. 138 | Kandinsky, »Kompositionselemente« (1912/14), in Friedel 2007, S. 616; vgl. Kap. 3.3.1. 139 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 202; vgl. Kap. 5.1.2.

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und auch Klee hatte von der Potenz der Kunst gesprochen, die »erschlaffenden Gefäße« der Seele »mit neuem Saft zu füllen«.140 Luft hält jedoch nicht nur am Leben, auch die Ausbreitung von Krankheiten wurde seit der Antike auf das Element der Luft zurückgeführt. In Hippokrates’ Schrift Die Winde heißt es: »So leben alle sterblichen Wesen mit der Luft im symbiotischen Verhältnis: im Ein- und Ausatmen strömt Leben, dringt aber auch Krankheit in uns ein […]«.141 So ging er davon aus, dass sogenannte ›Miasmen‹, »unstofflich gedachte Ausdünstungen aus dem Boden, aber auch aus dem Körper von Mensch und Tier«, sich über die Luft ausbreiten und zu Erkrankungen führen konnten, indem sie das Gleichgewicht der Säfte störten.142 Weiterhin handelte er vom Einfluss der klimatischen Luftqualität auf den menschlichen Organismus: »So hat die Trockenheit oder Feuchtigkeit der Luft eine leichtere oder schwerere Atmung, eine Erschlaffung oder Anspannung des Leibes zur Folge«.143 Diese Beobachtung wurde in der Naturheilkunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiter tradiert, so etwa durch Arnold Rikli, der selbst noch altertümlich von Miasmen sprach.144

5.3.2 Luft als Krankheitsauslöserin und Heilmittel Die Naturheilkunde sah sich in der Moderne mit dem Problem schädlicher Stoffe in der Luft konfrontiert.145 Solche Schadstoffe konnten sich in Industriegebieten, aber auch in geschlossenen Räumen konzentrieren, in denen sich etwa menschliche Ausdünstungen ansammelten.146 Dem entgegen stand die reine Höhenluft, die für Friedrich Nietzsche eine so wesentliche Rolle einnahm, von Kandinsky im Zusammenhang mit der Wirkpotenz von Bildern erwähnt wurde und wesentlicher Bestandteil der Tuberkulosetherapie war. Wie Willy Hellpach darstellte, galt das Höhenklima als das »gesündeste auf Erden«.147 Ende des 19. Jahrhunderts hatte Robert Koch entdeckt, dass die Tuberkulose durch Bakterien verursacht wird. In diesem Kontext degenerierte diese diskursiv von einer Krankheit, die als romantisierte Schwäche der weiblichen Oberschicht oder des Künstlerdaseins galt, zu einer »lower-class disease of filth«.148 Anhand der Beschreibung eines Tuberkulosefalls in seiner Klasse reflektierte Itten Fragen der Ästhetik und des Kunstschaffens im Zusammenhang mit kör-

140 | Klee 1920, S. 40; vgl. Kap. 5.1.2; vertieft wird dies in Kap. 6.4. 141 | Hippokrates, »Die Winde«, zit.n. Böhme/Böhme 1996, S. 170. 142 | Winau 2005, S. 61. 143 | Falter 2006, S. 35. 144 | Rikli 1895, S. 38. 145 | Heyll 2006, S. 60; vgl. auch Hellpach 1935, S. 51. 146 | Heyll 2006, S. 93. 147 | Hellpach 1935, S. 120. 148 | Hirsh 2004, S. 144-153.

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perlicher Gesundheit. Er berichtete davon, dass eine Schülerin eine Arbeit, die sie einige Tage zuvor erstellt hatte, an einem der darauffolgenden Tage zerstört habe: »Übrig blieb auf ihrer Leinwand, nach einer Stunde aufregender Arbeit, eine blutig wirkende Malmaterie, die aussah wie zersetztes Gewebe. Die Schülerin verließ plötzlich die Klasse und fehlte in den nächsten Tagen. Als ich mich nach ihr erkundigte, bekam ich von den Mitschülern die Antwort: ›Der Arzt hat sie nach Davos in ein Sanatorium geschickt.‹ Nach acht Tagen kam die Nachricht von ihrem Tod. In ihrer letzten Malerei hatte sie ihr fiebriges, zerstörtes Lungengewebe reflektiert.«149

Es wird noch gezeigt, dass Gesundheit und Kunstpraxis bei Itten eng aneinandergeknüpft waren. Er ging davon aus, dass die Pathologie der Schülerin – ihre zerstörten Atemorgane – im künstlerischen Ausdruck sichtbar wurden und so eine ›kranke‹ Kunst zur Folge hatten, die Itten deutlich abwertete (Kap. 5.4, 6.2.2). An die Stelle eines dekadenten Körpers von nobler und moralischer Schwäche im urbanen Kontext trat, so stellt Sharon Hirsh dar, nun das Ideal des gesunden, starken Körpers in der freien Natur – in jenen Landschaften, die auch Neurasthenieund Tuberkulosepatientinnen und -patienten als Kurorte verschrieben wurden.150 Die Tuberkulose galt als Krankheit, die durch ein schlechtes Klima begünstigt und durch einen Luftwechsel bekämpft werden konnte.151 Die Angst vor verunreinigter Luft war prägend für die Zeit um und nach 1900.152 In diesem Kontext erlangte die reinigende Wirkung des Sonnenlichtes besondere Bedeutung (Kap. 4.4). Bei Rikli heißt es, dass die Sonne die Luft »hinsichtlich ihrer Reinheit, Temperatur, Luftströmungen, endlich ihrem Feuchtigkeitsgehalte« beherrsche und die Luft »ohne Besonnung« verderbe.153 Der Naturheiler begriff den Menschen als »Lichtluftgeschöpf« in Analogie zu einer Pflanze, deren idealer Lebensort das »Lichtluftmeer« sei.154 Die Füllung und Kräftigung der Gefäße, wie sie Nebel und Klee im Luftraum des Bildes vollzogen wissen wollten, entspricht dem Anspruch Riklis, »dass alle Straßen und Wege (Nerven- und Blutbahnen) rein, wegsam und belebt gehalten werden, damit der Lebenssaft regelrecht überallhin ströme«.155 Insofern hatten Licht und Luft als naturheilkundliche Faktoren gemeinsam, einen ausgeglichenen Stoff kreislauf und somit Gesundheit herbeizuführen. Wechsel von Wärme und Kälte wurden als besonders wirksam angesehen (Kap. 3.3, 6.2.1). Die Wirkung auf das Nervensystem mittels der Naturmedizin und damit einhergehend auf die Psyche nahm bei Rikli eine zentrale Rolle ein (Kap. 2.4). Die nerv149 | Itten 1961, S. 31. 150 | Hirsh 2004, S. 156. 151 | Sontag 1977, S. 54. 152 | Tavenrath 2000, S. 17. 153 | Rikli 1890, S. 10. 154 | Ebd., S. 20. 155 | Ebd., S. 5.

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liche und psychische Gesundheit waren insbesondere im Tuberkulosediskurs von eminenter Bedeutung. Tuberkulose ist nicht allein als Erkrankung des Körpers verstanden worden, sondern wurde vor psychischen, sozialen und kulturellen Hintergründen betrachtet. In Thomas Manns Der Zauberberg (1924) werden solche Verknüpfungen deutlich. Gemäß Susan Sontag sah man die Tuberkulose lange Zeit als Krankheit der Säfte im Körper an, die zu einer physischen wie psychischen Trägheit führe.156 Diese Krankheit der oberen Körperhälfte setzte man mit dem oberen, geistigen Körper in Verbindung.157 Tuberkulose erscheint so als Krankheit des Geistes und der Seele. Hellpach verfasste 1927 einen Artikel mit dem Titel »Die ›Zauberberg‹Krankheit« für die Zeitschrift Die medizinische Welt. Darin bezeichnete er Manns Roman als ein »sozial-pathologische[s] Kolossalgemälde« und setzte es mit seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten zur Sozialpathologie in Beziehung:158 »Wie alle diese, im ›Berghof‹ umherwimmelnden Lungentuberkulösen oder der Lungentuberkulose verdächtigten Menschen durch ihr Zusammenleben, durch dieses Milieu in bezug [sic!] auf ihre Krankheit und im eigenen Verhältnis zu ihrer Krankheit werden, das ist der Inhalt des ›Zauberberg‹«.159 Dies entspricht Hellpachs weiteren Überlegungen, nach denen »Krankheitsanlagen, -keime, -latenzen durch die Einflüsse der mitmenschlichen Umwelt entbunden, manifestiert, quantitativ oder qualitativ beeinflußt, auf bestimmte Art gesteigert, ausgerichtet, gestaltet werden«,160 wodurch psychische Faktoren eine besondere Rolle einnehmen. So schloss er: »Es ist nicht die rein physische Lungentuberkulose; es ist jene seelische Komponente, die, vielleicht mit jeder tuberkulösen Disposition oder Primärinfektion verbunden, durch die Sanatoriumsatmosphäre zu üppiger Fülle entfaltet und nun ihrerseits zu einem leisen, aber unermüdlichen psychophysischen Antriebsmotor des körperlichen Krankbleibens, des Kränkerwerdens, zu einer immer unübersteiglicheren Barrikade vor der Genesung wird.«161

Der Krankheitsverlauf sei abhängig von Faktoren, die außerhalb der physischen Ursachen liegen, in einer nicht ganz greif baren gesellschaftlichen, geistigen Atmosphäre. So wird das Verständnis von Atmosphäre erweitert auf im weitesten Sinne soziale Bereiche. Solche Konzepte wurden auch von Nietzsche stark gemacht und in die Selbsthistoriographien der hier betrachteten Künstler einbezogen, die oft mit Bedacht sowohl ihre physischen als auch die sozialen und geistigen Lebensräume wählten. 156 | Sontag 1977, S. 13. 157 | Ebd., S. 17. 158 | Hellpach 1927, S. 1426. 159 | Ebd., S. 1426f. 160 | Ebd., S. 1426. 161 | Ebd., S. 1427.

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5.3.3 Natürliche und geistige Klimata in Künstlerselbsthistoriographien In der Aphorismensammlung Der Wanderer und sein Schatten (1880) sprach Nietzsche davon, dass jede Kultur nicht nur aus einem physischen, sondern auch einem geistigen Klima bestehe: »Die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist«.162 Nietzsche selbst hatte sowohl den eigenen Texten als auch der Musik jeweils ein Klima und dementsprechend eine heilsame oder eine schädliche Wirkung zugeschrieben (Kap. 5.2.1-5.2.2). Er ging zugleich davon aus, dass das natürliche Klima auf die Schöpfungen des Menschen einwirkt: »[D]as Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel, – das heißt durch rapiden Stoffwechsel«.163 Nietzsche zufolge konnten bestimmte kulturelle und schöpferische Leistungen nur in einem spezifischen Klima erreicht werden. Die Verortung ihrer Tätigkeit in spezifischen künstlerischen, kulturellen sowie physikalischen Atmosphären nahm für Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle ein. Im Kontext des Blauen Reiters sprach Franz Marc gegenüber Kandinsky 1912 von der »wirklich künstlerischen Luft« in München164 und schon 1910 charakterisierte er in einem Brief an Maria Franck sein erstes Zusammentreffen mit Helmuth Macke und Bernhard Koehler unter Verwendung der Luftmetapher: »Jedenfalls weht in diesem kleinen Kreis eine andere Luft«.165 Kupka hingegen beklagte sich 1895 in einem Brief an Arthur Roessler, dass die Wiener Luft nicht »gut für einen Maler«, zu »dekadent« gewesen sei.166 Ebenfalls an Roessler schrieb er 1897, er sei nun »geistig bereits von der Pariser Luft infiziert, die einen zwinge, sehr pragmatisch zu sein, und von der Innenschau wegführt«.167 Luft erscheint hier je als Qualität, welche die kulturelle und geistige Umgebung, das Denken an einem Ort näher bestimmt, also entsprechend den Atmosphären der Esoterik die Gedanken und Gefühle prägt, und so auf Umwelt und Leben der Menschen einwirkt. Rudolf Steiner sprach von der »astrale[n] Luft«, die in einer Handelsstadt anders sei, als an einem Universitätsstandort. Auch Orte mit »zum großen Teile […] niedrig gesinnten Menschen« oder »hochgesinnte[n] Personen« oder verschiedene Lokalitäten wie Krankenhäuser oder Tanzsäle weisen demnach je eine ganz eigene »geistige Atmosphäre« auf.168 Zudem wurden die Entwicklungen der Kunst selbst mit Luft- und Klimaveränderungen verglichen und der Kunst ein Einfluss auf das geistige beziehungsweise ge162 | Nietzsche 1919 (1880), S. 112 (Aphorismus 188), vgl. dazu weiterhin Moore 2004, S. 82. 163 | Nietzsche 1908, S. 34. 164 | Marc zit.n. Lankheit 1965, S. 264. 165 | Marc in einem Brief 1910 an Maria Franck in Meißner 1989, S. 29. 166 | Kupka zit.n. Baetcke/Blum 1997, S. 21. 167 | Kupka zit.n. ebd., S. 22. 168 | Steiner 1955 (1904/5), S. 160.

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sellschaftliche Klima zugesprochen. So schrieb Kandinsky um 1911, dass die Kunst die »Atmosphäre« bilde, die die Künstler »einatmen«.169 Dementsprechend müssten »gute Verhältni[nisse]« geschaffen werden, um große Künstler hervorzubringen.170 Gerade in seiner Auseinandersetzung mit dem materialistischen 19. Jahrhundert statuierte Kandinsky, dass sich hier die »Finsternis verdichtet[…]« habe und die Luft »stickig« geworden sei.171 Die Folge seien »Gewalt, Kränkung, Krieg, Mord und Selbstmord« gewesen.172 Die Gefahr einer Ansteckung durch negative Umwelteinflüsse wurde in diesem Zusammenhang reflektiert. Der Luft kann man sich schließlich nicht entziehen, sie durchdringt alles. Der heute noch geläufige Ausdruck, dass etwas in der Luft liege, war damals ebenso gängig wie die Rede von geistigen und künstlerischen Atmosphären. Dieses Denken spiegelt sich auch in einer Tagebuchnotiz Klees wieder, in der es heißt: »Viele Paradoxa, Nietzsche in der Luft«.173 In den Künstlerschriften fällt besonders die Differenzierung von infizierter, verschmutzter Luft auf der einen und reiner Luft auf der anderen Seite ins Auge, wobei letztere für die körperliche Gesundheit ebenso zentral war wie für die Seelen- und Gedankenhygiene. Eine Beschreibung der verpesteten Luft konnte wie bei Kandinsky dazu dienen, die von einem Bild abgegebene Atmosphäre zu charakterisieren.174 Sie konnte aber auch als Polemik gegen bestimmte Denker und Gedanken dienen, die ›in der Luft lagen‹. In einem Brief formulierte Itten: »Eine Atmosphäre, die durch Ostwaldschen Geist verpestet ist, ist meiner Gesundheit unzuträglich«.175 Bereits erwähnt wurde Ittens Entscheidung, sich in Stuttgart zuerst ein Zimmer zu suchen, das nicht »im Talkessel« lag, sondern »auf der Höhe […], wo Himmel und Wolken, wo Wind und Wetter […] waren«.176 Dieses Umfeld sollte, so hoffte Itten, seiner künstlerischen Entwicklung sowie seiner Lebensqualität zuträglich sein. Der Rückzug auf Berge oder auch in abgelegene Orte hat nicht zuletzt viel mit dem Pathos Nietzsches zu tun, der unter anderem im Ecce Homo seine Sehnsucht nach freier Luft und Reinheit verlautbarte.177 Reinheit meint dabei zugleich die Freiheit von fremden Gedanken, die die eigenen kontaminieren könnten: »Der ›deutsche Geist‹ ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt-gewordnen Unsauberkeit […]«, so Nietzsche.178 169 | Kandinsky, »Ein tragisches rätselhaftes Verhängnis…« (1911), in Friedel 2007, S. 434. 170 | Ebd. [Erg. durch Friedel]. 171 | Kandinsky, »Wohin geht die ›Neue‹ Kunst« (1911), ebd., S. 423. 172 | Kandinsky, »Wohin geht die ›Neue‹ Kunst« (1911), ebd. 173 | Klee, Tagebucheintrag 1898 (ohne weitere Datierung), in Kersten 1988, S. 34. 174 | Kandinsky 1952 (1911), S. 133f.; S. 136; vgl. Kap. 5.1.2. 175 | Itten in einem Brief an Dr. Hans Hildebrandt am 1.7.1920, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 72. 176 | Itten, »Jugend- und Studienjahre« (um 1948), ebd., S. 24; vgl. Kap. 3.7. 177 | Nietzsche 1908, S. 27f. 178 | Ebd., S. 112.

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1902 formulierte Kandinsky mit Bezug zur Münchner Secession: »Ganz allmählich, von Jahr zu Jahr in stärkerem Maße, staute sich hier eine ausschließlich lokale Secessionsluft an, die Luft der ›neuen Akademie‹«.179 Richard Wagner und Auguste Rodin bezeichnete er als »Boten der Morgenröte«, mit denen sich »die Wendung« ankündigt habe, »die jetzt schon jeder in der gesamten geistigen Atmosphäre beobachten kann«.180 Gemäß Kandinsky brachte nicht nur das einzelne Bild oder Kunstwerk eine geistige Atmosphäre hervor, Kunst als solche sei Teil der kulturellen Atmosphäre und der Künstler vergleichbar mit einem »Apparat der drahtlosen Telegraphie, welcher Wellen in die Luft schickt«.181 Ähnlich fasste Klein nicht nur die Wirkung seiner Werke, sondern auch seine eigene Rolle als Künstler (Kap. 3.9, 5.4). Kunstschaffende differenzierten Anfang des 20. Jahrhunderts also vielfach zwischen gesunder und kranker, belebender und schwächender Kunst sowie Kultur. Sie stellten diese Unterscheidungen mit dem Medium der Luft in Verbindung, das sie zugleich als Bestandteil und Wirkkraft ihrer Werke fassten. Dabei wurde zwischen physikalischer und seelisch-geistiger Lüften kaum differenziert – sie wurden in engen Zusammenhang gestellt und in ihren Wirkungen analog gefasst.

5.4 L ebensatem einflössen : P roduk tionstheorien bei J ohannes I t ten , F r antišek K upk a und Y ves K lein Der künstlerische Anspruch, eine belebende, heilsame Luft in das Bild eintreten und aus diesem wieder austreten und auf die Rezipierenden übergehen zu lassen, war mitunter an produktionstheoretische Überlegungen gebunden.182 Das Motiv der Belebung des Kunstwerkes hat eine lange Geschichte. Diese handelt vom Mythos um den Künstlergott, der es vermag, einem »Lehmgebilde Atem und Leben« einzuhauchen.183 Der Pygmalion-Tradition liegt die Vorstellung der Beseelbarkeit des Kunstwerkes zugrunde.184 Dargestellt wird eine solche Belebungs- und Beseelungsszene etwa in Dosso Dossis Giove pittore di farfalle (Zeus als Weltenmaler, 1523/24).185 Darin erschafft der göttliche Künstler malerisch Schmetterlinge, 179 | Kandinsky, »Korrespondenz aus München« (1902), in Friedel 2007, S. 224. 180 | Kandinsky, »Wohin geht die ›Neue‹ Kunst« (1911), ebd., S. 424. 181 | Kandinsky, »Farbensprache« (1902), ebd., S. 292f.; vgl. Kap. 3.4. 182 | Produktionstheorien sind im Bereich der frühen Abstraktion ein Desiderat; siehe hierzu ergänzend Burchert 2018a, insbesondere den Abschnitt »Modi künstlerischer Arbeit«. Im Artikel werden die Produktionstheorien Paul Klees, Gertrud Grunows, Johannes Ittens, Adolf Hölzels sowie František Kupkas unter dem Aspekt ihrer biorhythmischen Kunstpraxis dargestellt. Weiterführend zu Aspekten natürlicher Rhythmik siehe Kap. 6. 183 | Kris/Kurz 1995 (1934), S. 113. 184 | Ebd., S. 101. 185 | Nicht abgedruckt: Dosso Dossi, Giove pittore di farfalle, Mercurio e la Virtù, 1523/24, Öl auf Leinwand, 111,3 × 150 cm, Wawel, Krakau.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

die zum Leben erwachen. Gemäß Giancarlo Fiorenza wird hier die göttliche und künstlerische Kontrolle über Natur, Zeit und Jahreszeiten sichtbar gemacht:186 Das Bild stehe so paradigmatisch für die Macht der Kunst, die Natur zu übertreffen.187 Übertragen auf den Fokus dieser Studie wäre von der Macht des Künstlers zu sprechen, eine zweite Natur, einen künstlichen Lebensraum zu schaffen, in welchem die Betrachtenden temporär leben, sich stärken und ins Gleichgewicht bringen lassen können. In der Kunstgeschichtsschreibung zum neuzeitlichen Bild dominiert eine geradezu gegenläufige Deutung. Der Effekt lebendiger Bilder wird häufig darin gesehen, ihrem Publikum Lebendigkeit zu entziehen, anstatt sie zu spenden.188 Diese Vorstellung ist für das 20. Jahrhundert, möglicherweise aber auch für andere historische Kontexte zu revidieren. Robin Veder führt die Betrachtung des Bildes als Atemraum in der US-amerikanischen Tradition auf psychophysische Untersuchungen und Theorien zurück, so etwa auf die Schriftstellerin Vernon Lee (1856-1935), die sich an William James, Theodor Lipps und Karl Groos orientierte. Lee warf 1897 die Frage auf: »Do we perceive form through cardiac-respiratory movements, or do cardiac-respiratory movements result from the action of whatever perceives form?«.189 Wie Veder herausarbeitet, nahm Lee an, dass Kunst für ein besseres Atmen und eine bessere Herzbewegung sorge und so zu Gesundheit und Vitalität beitrage.190 Edna Potter, Modell und Muse des Künstlers Arthur B. Davies, stellte eine Verbindung zwischen den Ebenen der Produktion und der Rezeption von Kunst über die Atmung her: Der von Davies beschriebene »lift of inhalation« in der Kunst finde sich gemäß Potter auf beiden Ebenen. Ihr zufolge gilt: »The how of art is the How of the Corporeal Human Organism«.191 Der Atem des Künstlers kreise durch den gesamten Körper, zu seinen Händen und übermittle dem Objekt die rhythmischen Qualitäten seiner Bewegung. Daher bezeichnete Potter Kunst als aus dem Atem geboren – »born of breath«.192 Während die rhythmische Figur des Atems an späterer Stelle eingehender fokussiert wird, soll hier zunächst herausgestellt werden, wie ein belebender Atem von Künstlern im Medium der Malerei gefasst wurde und in das Bild eingeflößt werden sollte. Darüber dachten Johannes Itten, František Kupka und Yves Klein, ferner aber auch Max Burchartz und Mark Rothko nach (Kap. 6.7, 5.6).

186 | Fiorenza 2008, S. 22. 187 | Ebd., S. 40. 188 | Fehrenbach 2005, S. 18: Fehrenbach arbeitet heraus, dass dort, wo das »Wunder« der »Lebendigkeit« eintrete, sich eine »Transgression« vollziehe, durch welche das Kunstwerk den »Malern wie Betrachtern jene Lebendigkeit, die vom Bild gespiegelt, zurückgeworfen wird«, entziehe, indem es eine »faszinierte[…] Versteinerung« bewirke. 189 | Lee zit.n. Veder 2015, S. 91; zu Groos und Lee vgl. Allesch 1987, S. 338f. 190 | Veder 2015, S. 91. 191 | Ebd., S. 97 [Herv. i.O. fett]. 192 | Ebd., S. 98 [Herv. i.O. fett].

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Hinsichtlich der Produktion von Werken schrieb Itten im Jahr 1930: »Wenn wir den Rhythmus der Atmung parallel stellen zum Rhythmus der zu zeichnenden Formgestalt, dann werden wir momentan ergriffen von der Gewalt einer Ausdrucksform«.193 In dieser Weise präge der Künstler der Linie oder Form »seine eigene Lebenskraft« ein, so heißt es bei Itten noch rund dreißig Jahre später.194 Im selben Zusammenhang sprach er von »Kraftströme[n]«, die vom Maler ins Bild übergehen.195 Diese Kraftströme stehen mit dem Rhythmus und der Qualität des Atems in enger Verbindung. Um 1930 formulierte er, dass »rhythmisch geschriebene[…] Formen […] einen Wind, einen Atem in sich« haben, welcher »sie zu einer lebendigen Formfamilie macht«.196 Dieser Atem hat als bewegte Luft die Funktion, die Komposition in eine Einheit zu überführen und dieser Leben einzugeben. So erscheint das Kunstwerk als Organismus und zugleich als betretbarer Raum, dem Luft und Lebensstoff inhärent sind. Itten sprach davon, dass das Kunstwerk »lebenswirkend« sei.197 Er vertrat so sehr deutlich den Impetus des gottgleichen Künstlers, der durch seinen gesunden Körper und Geist Energie in seine Werke ausströmen ließ. Dadurch wurde das Werk ebenso belebt wie jene, die sich in dieses einfühlten. Die Eingabe des Atems in das Bild fasste Itten maßgeblich über die Zeichnung. Später wird außerdem deutlich, dass er Farbformkompositionen ebenfalls eine Luft- und Atemhaltigkeit zusprach (Kap. 6.3.2, 6.6). Rhythmische Zeichnungen entstanden vorrangig im Rahmen von Ittens Vorkurs am Bauhaus sowie der Berliner Schule. Bei den entstandenen Rhythmusarbeiten handelt es sich dezidiert um Übungen, nicht um ausgeführte Werke. Eine erhaltene Arbeit stammt etwa von Werner Graeff (1901-1978) aus dem Jahr 1921 (Abb. 33). Die mit schwarzer Deckfarbe auf gelblichem Papier auf einem Format von 56 × 73,5 cm angefertigte Zeichnung ist charakterisiert durch eine Freiheit der Linien, die keinem klaren Muster folgen, sondern Rhythmik im Sinne einer dynamischen Bewegung realisieren. Hier folgen die Betrachtenden den geraden und geschwungenen Linien, die sich umeinanderwinden, sodass kein klarer Verlauf eines einzigen Linienzuges nachvollziehbar ist. Solche eng zusammenhängenden Beziehungsnetze fasst Itten als Organismus. Die Bewegtheit solcher Rhythmen beschrieb er wiederum als Luftqualität, so als würden die Linienzüge über die Fläche wehen. Am Beispiel von GRUSLA (1954) wird deutlich, dass Impulse des Vorkurses von Itten sich noch in Graeffs späterem Werk niederschlugen (Abb. 34). Dieser bezog sich in Interviews und Schriften immer wieder positiv auf die Bauhausvorlehre.198 193 | Itten 1980 (1930), S. 29. 194 | Itten, »Abstrakte Malerei« (1958), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 265. 195 | Ebd., S. 265f. 196 | Itten 1963, S. 134. 197 | Itten, »Mittel der Darstellung« (1916), in A. Itten/Rotzler 1972; vgl. Kap. 2.1. 198 | Dazu siehe R. K. Wick 2011. Graeff verband eine Freundschaft mit Burchartz, die lediglich während der Kriegsjahre abbrach. Zwischen 1951 und 1959 arbeiteten beide an

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Abbildung 33: Werner Graeff, RhythmusStudie aus dem Vorkurs Johannes Ittens, 1920, schwarze Deckfarbe auf gelblichem Papier, 56 × 73,5 cm, Bauhaus-Archiv Berlin

Abbildung 34: Werner Graeff, GRUSLA, 1954, Öl auf Leinen, 92 × 76 cm, Museum Wiesbaden, Nachlass Werner Graeff

Das Konzept Ittens hing eng mit der Ausdruckskunde zusammen. Ähnlich wie Burchartz, der sich auf Ludwig Klages stützte, um die Aussendung von Lebenswellen auf die Rezipierenden zu begründen, bezog sich Itten auf Klages (Kap. 3.2.2). Dessen Ansicht, dass Ausdrucksbilder als »Erscheinung lebendiger Seelen« zu

der Folkwangschule in Essen und Graeff besuchte dort hin und wieder Burchartz’ Vorlehre, die sich an Ittens Vorkurs am Bauhaus orientierte (Zeising 2007, S. 19f.).

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begreifen sind, die vom Menschen als eine Art »Pulsschlag«199 empfangen werden und auf die Seele der Rezipierenden einwirken, war dabei wesentlich.200 Insofern war für die Übertragung von Lebenskraft nach Itten der Zustand der Seele, aber auch des Körpers des Kunstschaffenden zentral. Körperfunktionen und künstlerischen Ausdruck stellte er in ein Analogieverhältnis. So heißt es in seinen »Analysen alter Meister« (1921), dass die »Fähigkeit der äußern Darstellung« von der »Beschaffenheit aller physischen Stoffe und Organe« im menschlichen Körper abhängig sei, von »Herz, Lunge, Magen«, den Sinnesorganen und dem Gehirn.201 Wie lebendig und lebenswirkend ein Kunstwerk sei, hängt demnach von der leiblichen Gesundheit des Künstlers ab. Mit diesem Ansatz rekurrierte Itten insbesondere auf die Atem- und Gesundheitslehre Mazdaznan. So gehörten heilsame Leibes- und Atemübungen zu der Vorbereitung auf die künstlerische Praxis, welche – ganz im Sinne Gertrud Grunows – durch die körperliche, psychische und geistige Gesundheit bedingt war.202 Mazdaznan wurde um 1880 von Otoman Zar-Adusht Ha’nish in Chicago begründet. Den deutschen Zweig errichteten 1900 David und Frieda Ammann in Leipzig. Ha’nish orientierte sich an orientalischen, insbesondere altpersischen Quellen. Dabei verstand sich, wie Eva Streit herausstellt, Mazdaznan nicht als Glaubenssystem im herkömmlichen Sinne, sondern als »Lebenskunde«; schließlich zielte die Doktrin nicht auf ein Leben im Jenseits, sondern das Diesseitige ab und war an »rein innerweltlichem Heil und selbsterlösender Vervollkommnung eines jeden Menschen durch eine disziplinierte Lebensführung interessiert«.203 Das eigentliche Ziel war ein geistiges – die Einswerdung des Menschen mit Gott »im täglichen Leben durch schöpferische Arbeit«, wie Itten schrieb.204 Die Schulung und Gesundheit des Körpers bildete in der Lehre die Voraussetzung für die geistige Entwicklung des Menschen.205 So stellte die körperliche Gesundheit hier, vergleichbar mit Yoga, der Harmonisierungslehre Grunows und anderen Praktiken im Rahmen der modernen Rhythmusbewegung, die Grundlage für geistige Gesundheit und Erleuchtung oder Erlösung dar. Durch das tiefe Einatmen in den Mazdaznan-Übungen und die völlige Entleerung der Lunge sollte sich der Körper der Kohlensäure entledigen, die »Druck auf den Organismus ausübe[…] und Spannungs- und Vergiftungszustände« hervorrufe.206 Sonnen- und Luftbäder spielten dementsprechend in der Lehre ebenfalls eine zentrale Rolle.207 Die 199 | Klages 1923 (1913), S. 122. 200 | Ebd., S. 122f. 201 | Itten 1921, o.S. 202 | Vgl. ebd. sowie zum Zusammenhang von Rhythmus und Gesundheit Kap. 6.3, 6.6. 203 | Streit 2015, S. 28f. 204 | Itten, »Mazdaznan« (1926), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 229. 205 | Streit 2015, S. 42. 206 | Ha’nish 2003 (1954), S. 13; vgl. ebd., S. 43. 207 | Linse 2001, S. 273.

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Reinheit des Körpers wurde als Voraussetzung für die Reinheit von Seele und Geist angesehen.208 Das Wissen um die reinigende Funktion des Atems findet sich auch beim Chromotherapeuten Andrew Osborne-Eaves. Dieser schrieb, dass die Farbentherapie durch das Einatmen frischer Luft unterstützt werden müsse, denn »ohne reines Blut kann der Leib nicht gesund werden«.209 Ein weiterer Text, der wie Die Heilkraft der Farben in der Talis-Bibliothek erschien, war Fairfax Asturels Das Mysterium des Atems. Richtig atmen gibt Lebenskraft (1908). Auch dieser befand sich in Wassily Kandinskys Bibliothek 210 und betonte die Bedeutsamkeit der reinen Luft für die Reinheit des Blutes.211 Atemtechniken und die damit einhergehende, reinigende Aufnahme frischer Luft verbanden sich mit Absichten, die auf die geistige Entwicklung abzielten. In diesem Zusammenhang reflektierte nicht nur Itten seine künstlerische Praxis als Teil selbsttherapeutischer Übungen, die über das Kunstwerk zurück auf die Betrachtenden wirken sollten. Bei Kupka findet sich eine ähnliche Verbindung von Atem und Malerei: »Ein guter Blutkreislauf, gute Lungen- und Hautatmung und gute Verdauung, sind Rhythmen und Harmonien, welche ihrerseits den Ausdruck regeln«, schrieb dieser in Die Schöpfung in der bildenden Kunst.212 Wie bei Itten könne demnach nur der gesunde Künstler gute Kunst schaffen. Die Korrespondenz von Zeichnung und Atmung wird von ihm aufgegriffen. Er nannte die »klare[n] Vorschriften über Körperhaltung und Atmung«, die japanische Schüler im Zeichenunterricht einzuhalten hatten, als mögliches Modell für die eigene Praxis:213 »Es wäre für uns vielleicht von Vorteil auf die Japaner zu hören: Wenn wir einen Strich zum Beispiel von oben nach unten ziehen, sollten wir die Luft langsam aus der Lunge ausströmen lassen und umgekehrt die Luft einatmen, wenn wir ihn von unten nach oben ziehen. Der Atemrhythmus sollte wenn möglich mit dem Rhythmus der zeichnerischen Handlung übereinstimmen und sie ohne Unterbrechung begleiten.« 214

Kupka hatte von einer immateriellen Kunst geträumt und ein Zuviel oder Zuwenig an Luft im Bild als extreme Pole der Komposition definiert (Kap. 5.1.1). Anders 208 | Steinaecker 2000, S. 95. Die Reinheitsideologie ist zudem an eine Rassenideologie gebunden: Über die verschiedenen Praktiken – »Atempflege, Diät und Wiedergeburt und Neuschaffung eines verfeinerten, edleren Blutes« – sollte auch eine reine, gesunde und starke Rasse geschaffen werden (David Amman zit.n. Linse 2001, S. 276). Siehe weiterführend Burchert a (in Vorbereitung). 209 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 24; vgl. Kap. 3.4. 210 | Zimmermann 2005, S. 47. 211 | Asturel 1931, S. 6. 212 | Kupka 2001 (1923), S. 71. 213 | Ebd., S. 94. 214 | Ebd., S. 96.

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als Kandinsky, der ebenfalls eine Lufthaltigkeit der Bilder beschrieb, formulierte Kupka einen produktionstheoretischen Ansatz, der den Prozess der Ein- und Ausatmung schon in die Schöpfung von Kunst einbezog und sich an Kalligraphie und Tuschkunst orientierte (Kap. 5.2.3). Ob er dies tatsächlich umsetzte, lässt sich nicht sagen. Eine Reihe von Kompositionen ist durch vertikale Bildordnungen gekennzeichnet: Dazu gehört Ordonnance sur verticales (1911/12), das Teil einer umfangreicheren Bildserie mit demselben Titel ist, der sich Kupka zwischen 1911 und 1913 widmete (Abb. 35). Hier und in anderen Werken der Reihe könnte Kupka seine Atemübungen im Hoch- und Herabziehen praktiziert haben. An keiner Stelle machte er jedoch deutlich, inwiefern diese Atemkraft als Luftäquivalent selbst in das Kunstwerk eintritt. Dass der Künstler seine Gesundheit und Lebenskraft in das Bild zu geben vermochte, statuierte Kupka hingegen deutlich. Abbildung 35: František Kupka, Ordonnance sur verticales, 1911/12, Öl auf Leinwand, 58 × 72 cm, Centre Georges Pompidou, Paris

Eine Körperpraxis, die Leib und Geist über den Atem ähnlich verbinden sollte wie Mazdaznan, Harmonisierungsübungen und Yoga, sind die Kiai-Judoübungen, denen sich Klein zuwendete. Beim Kiai-Judo handelt es sich um »Stimm- und Atemübungen, die einem Judoka besondere Kontrolle über Körper und Geist verleihen sollen«.215 »Judo half mir zu verstehen, dass der Bildraum vor allem die Frucht spiritueller Askese ist: Judo ist schließlich die Entdeckung des mensch-

215 | Stich 1994, S. 55.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

lichen Körpers im spirituellen Raum«, schrieb Klein im Jahr 1954.216 Dieser spirituelle Ort war ihm zufolge mit Pneuma gefüllt – mit kosmischen Lebensenergien, die er als kosmische Sensibilität fasste (Kap. 3.9). Das Verständnis der künstlerischen Praxis als eine »Übung im Sammeln und Ausströmenlassen von Energie«217 lässt eine weitere Verbindung zu japanischen Körperpraktiken zu. Ming Tiampo stellt Kleins Produktion mit der literati-Schule in Zusammenhang. Durch Malerei und Zeichnung versuche man hier, das Qi »durch den Pinsel aufs Blatt zu bündeln und so geistige Resonanz (kiun) herzustellen«.218 Die Übung besteht darin, Energien durch Konzentration aus der Umgebung zu ziehen und schließlich wieder in die Umgebung ausfließen zu lassen. In diesem Sinne hatte Klein sein Eintauchen in das pneumatische Blau beschrieben,219 das ihn seiner Ansicht nach zu einem Energielieferanten avancieren ließ.220 Entsprechend seiner Verwendung des Pneumabegriffs ist diese Energie als Atem und Luft, ebenso wie als geistig-seelischer Hauch, als Odem, zu begreifen (Kap. 5.3.1). Bei Kupka können die vertikalen Linien in Kompositionen als Äquivalente zu Atembewegungen gelesen werden, bei Itten und seinen Schülern waren es frei und organisch gestaltete Linien. Klein hingegen vertrat kein rhythmisches Luftkonzept: Das Pneumatische ist bei ihm eine allgemeine Lebenskraft, die alles durchdringt. Er wollte ausgehend von seiner monochromen Malerei Kunst tatsächlich völlig in das Medium der Luft überführen und stützte sich hierfür maßgeblich auf klimatologisches Wissen. Die Idee einer Atmosphäre des Bildes, die analog zur Erdatmosphäre einen Teil des menschlichen Lebensraumes bildet, wurde in ähnlicher Weise bei Kandinsky, Paul Klee, Otto Nebel und Otto Piene deutlich (Kap. 5.1). Sie argumentierten allerdings eher formal mit dem Eindruck der Transparenz und des Schwebens sowie der Wirkung der Farben und des Rhythmus. Ihre Auffassung jedoch, nach der alle menschlichen Handlungen und deren Produkte Einfluss auf die gesellschaftliche Atmosphäre nehmen konnten (Kap. 5.3), findet sich in Kleins und Werner Ruhnaus Konzept zu einer Klimaarchitektur gleichermaßen.

216 | Klein zit.n. Charlet 2005, S. 24, aus einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Yves Klein-Archiv (in Semin/Sichère 2003 nicht enthalten): »La pratique du Judo fait comprendre que l’espace pictural est avant tout le fruit d’une ascèse spirituelle: le judo, en effet, est la découverte par le corps humain d’un espace spirituel.« 217 | Burchert 2017a, S. 205. 218 | Tiampo 2007, S. 171. 219 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 81. 220 | Klein, »Quelque extraits de mon journal en 1957«, ebd., S. 43f.

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5.5 V om B ild zur L uf tarchitek tur : Y ves K lein und W erner R uhnau Wenngleich das Bild von verschiedenen Künstlern als Luftraum beschrieben wurde, so ist diese Idee von keinem dieser so konsequent weitergedacht worden wie durch Yves Klein. Der Ansatz der Einrichtung realer, klimatisierter Luftarchitekturen nahm seinen Anfang in seinem Bildkonzept, blieb allerdings unrealisiert. Immaterialisierungstendenzen und die Konstitution von Werken aus unsichtbaren Energien prägten bereits Kleins Blaue Periode (Kap. 3.9). Schon hier galt die Farbe als Qualität des Umraumes, der umliegenden Luft und zugleich als Pneuma. Die ›kosmische Sensibilität‹ hatte der Künstler mit der Feuchtigkeit in der Luft verglichen, die die Betrachtenden seiner Werke durchdringen sollte. In der gemeinsam mit Werner Ruhnau entwickelten Utopie einer Luftarchitektur sollte ein mildes Klima die Gesellschaft in allen Bereichen reformieren. Die Verbindung von natürlichem und geistig-gesellschaftlichem Klima wird hier erneut evident.

5.5.1 Architektur, Bioklimatologie und Technik Ende der fünfziger Jahre konzipierte Klein mit dem Klimatechniker Matthias Käser erste Entwürfe zu Luftarchitekturen, die er zudem mit den Zero-Künstlern Otto Piene und Heinz Mack diskutierte.221 Gemeinsam mit Norbert Kricke erdachte Klein Wasser-, Wind-, Feuer- und Lichtskulpturen, die von den beiden allerdings nie umgesetzt wurden.222 Im Rahmen der Arbeit am Theater in Gelsenkirchen kam Klein mit Ruhnau in Kontakt. 1958 verfassten sie ihr »Manifest zur allgemeinen Entwicklung der heutigen Kunst zur Immaterialisierung (nicht Dematerialisierung)«. In diesem stellten sie Kleins künstlerische Entwicklung als kontinuierliches Streben nach der wirksamen Vergegenwärtigung der reinen Sensibilität dar: »Bisher, in dem architektonisch noch sehr genau präzisierten Raum, malte er [Klein] einfarbige Bilder in lichter und reiner Manier. Die noch sehr materiell farbige Sensibilität soll auf eine immaterielle reinere Sensibilität zurückgeführt werden. Der dazugehörige immaterielle Raum ist beispielsweise die Architektur aus Luft.« 223

221 | Piene, »Fragen« (1960), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 114116. 222 | Vgl. Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 105. 223 | Klein/Ruhnau, »Manifest zur allgemeinen Entwicklung der heutigen Kunst zur Immaterialisierung (nicht Dematerialisierung) (1958/59)«, in Stachelhaus 1976, S. 41.

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In dieser Weise stellten Klein und Ruhnau eine Kontinuität zwischen den blauen Monochromen und der Luftarchitektur her. Den Prozess dahin beschrieben sie als immer konsequentere Reinigung der Kunstmittel. Neben der Luft sollten für diese neue Klimaarchitektur Feuer, Wasser, Klang, Geruch, Magnetkraft, Elektrizität und Elektronik als Baumaterialien nutzbar gemacht werden.224 Diese Utopie wurde in der Forschung bisher nicht ausreichend eingeordnet. Insbesondere Ruhnau als wichtiger Wegbegleiter Kleins und der Einfluss architektonischer sowie damit verbundener, ökologischer Diskurse sind noch unterbelichtet. So stellte Klein nicht nur eine direkte Verbindung zu seinen früheren Arbeiten her, sondern auch zu aktuellen Tendenzen in der Architektur: »So trafen wir, Werner Ruhnau und ich, uns also durch all die Forschungen auf der Suche nach einer Kunst auf dem Weg zur Immaterialisation in der Architektur der Luft. Er, gestört vom letzten Hindernis, das selbst ein Mies van der Rohe nicht zu überwinden wusste: das Dach, jene Fläche, die uns vom Himmel trennt, vom Blau des Himmels. Und ich, gestört von der Fläche, die das Blau auf der Leinwand bildet und die den Menschen den fortwährenden Blick in den Horizont verwehrt.« 225

In dieser Bemerkung wird eine Rückbindung an die Ideale des Neuen Bauens deutlich. Die Öffnung zur Umwelt in der Glas- und Eisenarchitektur, die einen optimalen Zugang zu Licht und Luft bieten sowie Innen- und Außenraum verbinden sollte, wurde in den Konzepten Kleins und Ruhnaus radikalisiert. Im Interview erklärte Ruhnau, dass er sich sehr früh für Wetter und Klima, für Bioklimatologie226 und Medizin227 interessiert habe. Auch betonte er seine intensive Auseinandersetzung mit dem Bauhaus.228 Zwischen 1941 und 1950 hatte er in Danzig studiert, hier rezipierte er insbesondere amerikanische Bauzeitschriften und Richard Neutras Ideen.229 Neutra war ein Pionier des ökologischen Bauens, Anfang der Fünfziger erschien seine Publikation Wenn wir weiterleben wollen… Erfahrungen und Forderungen eines Architekten (Survival through Design), in welcher er for224 | Vgl. Stich 1994, S. 121. 225 | Klein, »L’évolution de l’art vers l’immatériel. Conférence à la Sorbonne« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 149: »Ainsi, voilà comment, à travers toutes ces recherches pour un art en chemin vers l’immatérialisation, Werner Ruhnau et moi, nous nous sommes rencontrés dans l’architecture de l’air. Lui, embarrassé, gêné par le dernier obstacle qu’un Mies van der Rohe n’a pas su franchir encore, le toit, l’écran qui nous sépare du ciel, du bleu du ciel. Et moi, gêné par l’écran que constitue le bleu tangible sur la toile et qui prive l’homme de la vision constante de l’horizon.« 226 | Stachelhaus 1976, S. 33f. und S. 37. 227 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, in Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007, S. 50. 228 | Ebd., S. 35. 229 | Ebd., S. 21.

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derte, dass der Architekt »geloben« solle, »redlich der Gesundung zu dienen«: »Wie die Ärzte sollte auch er einen ›hippokratischen‹ Eid ablegen«.230 Die Abhängigkeit des menschlichen Organismus von seiner Umwelt stand im Zentrum von Neutras Schrift und seinem architektonischen Denken und Schaffen. Ruhnau ging von ähnlichen Postulaten wie Neutra aus. So formulierte er: »Als Sterblicher, der ich nach Heidegger bauend auf dieser Erde wohne, ließen mich diese einmal bewusst gewordenen Zusammenhänge zwischen Körper, Innen- und Außenraum, zwischen Leben und Klima nicht mehr los. Ein urbanes Ineinandergreifen von Wohnen, Lernen, Erholen, Arbeiten kann nur dort gedeihen, wo das Naturklima humanverträglich ist.« 231

Die »Klimatisierung des Raumes« begriff er als eine der »grundlegenden Aufgaben des Architekten«.232 Während seiner Lehrtätigkeit in Dortmund und Bochum in den Sechzigern versuchte er, den Schwerpunkt »Klima« einzuführen, allerdings erfolglos: »Damals war Klima für Planer ein Nebenthema. Heute, ein halbes Jahrhundert später, reden alle ›vom Wetter‹; Klimaveränderungen, -katastrophen und Wetterlagen sind ein wichtiger Teil jeder Nachrichtensendung. – In den 60er Jahren war die Bedeutung von Klimaforschung für das Umweltverhalten neu«.233 Gleichwohl existierte Klimatechnik in dieser Zeit bereits,234 Ruhnau selbst schrieb: »In den Warenhäusern gab es damals schon Lufttüren. Wir träumten von klimatisierten Oasen, von einem Leben im Garten Eden. Ich entwarf die ersten Zeichnungen von Luftdächern und Feuerwänden in Wasserbecken«.235 Der gemeinsame Ansatz Ruhnaus und Kleins war so weitaus komplexer und größer angelegt als eine bloße Klimatisierung einzelner Gebäude. Sie wollten große Areale im Außenraum klimatisieren. Anspruch war es, ohne Mauern und Dächer Schutz vor Regen, Wind und anderen Umwelteinflüssen zu gewährleisten.236 Hierfür sollten natürliche Stoffe wie Erde, Luft und Wasser in »Konstruktions-

230 | Neutra 1956, S. 393. 231 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, in Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007, S. 75. Ruhnau bezieht sich auf Martin Heideggers Vortrag »Bauen Wohnen Denken« (1951). Dazu siehe Hans Wielens (Hg.), Bauen, Wohnen, Denken: Martin Heidegger inspiriert Künstler, Münster 1994, in dem dieser Aufsatz abgedruckt ist und verortet wird. 232 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, S. 75. 233 | Ebd., S. 76. 234 | Siehe weiterführend Colin Porteous, The New Eco-Architecture, London/New York 2002. Ruhnau wird hier allerdings gar nicht genannt. 235 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, in Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007, S. 51. 236 | Ebd., S. 65.

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elemente« umgewandelt werden.237 Ganz explizit betonten Klein und Ruhnau: »Es ist schließlich ein alter Menschheitstraum und eine wunderbare Vorstellung, mit den Naturelementen zu spielen und sie zu beherrschen«.238 Die Einsicht in die Abhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten und von der Umwelt ging mit einem Wunsch nach der Optimierung der Lebensbedingungen einher. Ihre Zusammenarbeit scheiterte um 1961 schließlich endgültig daran, dass die gemeinsam entwickelten Pläne aus Sicht Ruhnaus nicht zu verwirklichen waren.239 Klein hingegen ließ nicht davon ab und gab Anfang der Sechziger beim französischen Architekten Claude Parent (1923-2016) Zeichnungen in Auftrag, die 1962 im Catalogue Antagonismes II, herausgegeben vom Musée des Arts Décoratifs in Paris, zusammen mit Texten von Pierre Restany erschienen. Die beiden Seiten im Katalog fassten in Bild und Text Kleins klimaarchitektonische Ideen zusammen und zeigen die Erzeugung eines irdischen Paradieses in der freien, durch unterirdische Apparaturen klimatisierten Natur: Das hierfür notwendige »Luftdach« sollte, in einem Tal platziert, »durch Gebläse […] gegen Regen, Wind, Staub und Elektrizität« schützen, zugleich aber »die infraroten und ultravioletten Strahlen, das Tageslicht und die Sonnenwärme« hindurchlassen.240 Es diente dazu, die Temperatur in einem abgegrenzten Bereich zu regulieren und ein konstant mildes Klima herzustellen.

5.5.2 Kleins und Ruhnaus Rückkehr zum Paradies Klein und Ruhnau verfolgten die Utopie eines völlig regulierten, gemäßigten Klimas, welches optimale Lebensbedingungen für den Menschen bereithält und so einen idealen Lebensraum darstellt. Dabei betrachtete Klein leibliche, psychische, geistige sowie gesellschaftspolitische Dimensionen in engem Zusammenhang: »[M]y original goal being an attempt to reconstruct the legend of the lost Eden. This project has been directed towards the habitable surface of the Earth by the climatization of the great geographical expanses through an absolute control over the thermic and atmospheric situations in their relation to our morphological and psychic conditions […].« 241 237 | Klein/Ruhnau, »Manifest zur allgemeinen Entwicklung der heutigen Kunst zur Immaterialisierung (nicht Dematerialisierung)« (1958/59), in Stachelhaus 1976, S. 41. 238 | Ebd. 239 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, in Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007, S. 54. 240 | Restany 1982, S. 74f. Dies erinnert an die Ideen des Bauhäuslers Siegfried Ebeling (Kap. 2.5), wobei nicht bekannt ist, ob Ruhnau und Klein dessen Raum-als-MembranKonzept kannten, was allerdings im Falle des am Bauhaus stark interessierten Ruhnaus sehr wahrscheinlich ist. 241 | Klein, »Chelsea Hotel Manifesto, New York, 1961«, in Semin/Sichère 2003, S. 291. Das Manifest entstand auf Englisch in Zusammenarbeit mit Neil Levine und John Archambault.

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Klein träumte, darüber gibt der Begriff der Morphologie Aufschluss, von einer perfekten Anpassung des Menschen an die neue Umwelt, psychisch wie physisch. Neben der technologischen Klimatisierung stand – sogar noch in einem gemeinsamen Konzept mit Ruhnau – als großes Ziel die »Umwandlung der menschlichen Sensibilität in eine Funktion des Weltalls«242 auf dem Programm. Das Zusammenleben sollte im Zuge der von Klein angedachten Umwandlung der »menschlichen Sensibilität« eine radikale Veränderung erfahren: »Befreit von einer falschen Auslegung der psychologischen Intimität wird er [der Mensch] in einem Zustand absoluten Einklangs mit der Natur leben, welche unsichtbar und durch die Sinne nicht wahrnehmbar ist […]«.243 Ulli Seegers verdeutlicht, dass Klein mit der »Veränderung des Außenraums […] die Wandlung des ›Innenraums‹, verstanden als bewußtseinsmäßige Konstitution«, vollziehen wollte.244 So schrieb Klein 1960: »[…] [W]enn wir das verlorene Paradies wiedergefunden haben und wieder in einer klimatisch geregelten Natur leben, nackt, ohne künstliche Grenzen, dann wird sich unsere aktuelle Konzeption von Intimität maßgeblich verändert haben. […] In diesem Stadium wird sich unsere Sensibilität in solch einem Maße entwickelt haben, dass es möglich sein wird, die tiefsten Gedanken des anderen zu sehen; diese Gedanken werden nicht intellektuell gelesen oder wahrgenommen werden; sie werden ›begriffen‹ durch den Prozess der Imprägnierung mit ›Sensibiliät‹, anstatt durch psychische Durchdringung, da bis dahin die Psychologie fast vollständig verschwunden sein wird.« 245

In diesen Ausführungen fällt die Verknüpfung unterschiedlichster Dimensionen auf: Zum einen sprach Klein die Vision der Lebensreformbewegung an, wieder völlig in Einklang mit der Natur zu leben. Auch die Freikörperbewegung spielte hinein, wobei zugleich auf das christliche Paradies und damit die Zeit vor dem Sündenfall rekurriert wird, die im Zeichen einer ›unschuldigen‹ Nacktheit stand. 242 | Klein/Ruhnau, »Projekt einer Luftarchitektur« (1961), in ZERO 3, o.S. 243 | Klein, »L’évolution de l’art vers l’immatériel. Conférence à la Sorbonne« (1959), in Semin/Sichère 2003, S. 150: »Libéré d’une fausse interprétation de l’intimité psychologique, il vivra dans un état de concorde absolue avec la nature invisible et imperceptible par les sens […]«. 244 | Seegers 2003, S. 130. 245 | Klein, »Les voleurs d’idées« (1960), in Semin/Sichère 2003, S. 185: »[…] lorsque nous vivrons l’Éden perdu, de nouveau dans la nature climatisée, nus, sans obstacle artificiel aucun, il est certain que notre conception actuelle de l’intimité aura bien changé. […] Notre sensibilité sera alors développée d’une telle manière qu’il deviendra possible d’envisager même la possibilité de voir entre nous nos pensées les plus profondes; ces pensées ne seront pas lues intellectuellement ni perçues; elles seront ›saisies‹, et plutôt par imprégnation, toujours en ›sensibilité‹ plus que par pénétration psychologique; puisque le psychologique aura presque ou complètement disparu alors«.

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Zugleich beschrieb Klein das Ende der Psychologie zugunsten einer freien, völlig transparenten Gedanken- und Gefühlsübertragung, wie sie ähnlich von František Kupka, Otto Nebel und Umberto Boccioni herbeigesehnt wurde. Kleins Entwurf prognostizierte radikale Veränderungen der Lebenswirklichkeit, etwa im Bereich der Privatsphäre.246 Demnach würden alle Menschen in einem barrierefreien Raum leben, durch den die sozialen Strukturen sich natürlich wandeln sollten, sodass vormalige Hierarchien aufgelöst würden. Klein beschrieb eine neue Form der Nähe und Intimität der Menschen, die nicht mehr durch Familienstrukturen geprägt wäre. Die physische Befreiung sollte auch mit einer Optimierung der geistigen Fähigkeiten einhergehen. Ähnlich wie Kupka imaginierte Klein ein luftartiges Medium als Träger von Gedanken und Gefühlen. Träumte Kupka von einem immateriellen Kunstwerk, das dies vermag, erdachte Klein direkt den Lebensraum als Ort solcher Übertragungen. Das so entstehende geistige Klima basierte für Klein auf einem milden Klima. Zur Vorbereitung dieser Freiheitsutopie wollte er, noch in Kooperation mit Ruhnau, ein Centre de la sensibilité gründen. Dieses sollte sich bereits in einer völlig immateriellen Architektur befinden. Ziel war es, neue Möglichkeiten des Lebens sowie körperliche und spirituelle Fähigkeiten des Menschen zu erproben, um nichts Geringeres zu erreichen, als alle Probleme der Menschheit zu lösen.247 Knapp zwanzig Lehrende und dreihundert Studierende sollten dort ohne spezifisches Programm zusammenarbeiten.248 Neben Skulptur, Malerei, Architektur, Theater, Musik und Photographie wurde der Einbezug weiterer Bereiche wie Wirtschaft, Physik und Biochemie angedacht.249 Klein ging es im Zusammenhang mit dem Centre de la sensibilité insbesondere darum, die Beschränkungen des Körpers zu überwinden: »Wir werden also Luftmenschen, wir werden all unsere Kräfte kennenlernen, die uns in die Höhe tragen, in den Raum, zu dem, was zugleich nirgends und überall ist, durch die Überwindung der irdischen Schwerkraft werden wir buchstäblich in eine absolute physische und geistige Freiheit entfliehen!«.250

246 | Dazu vgl. Klein, »L’architecture de l’air (A nt): La climatisation de l’atmosphère à la surface de notre globe« (1961), ebd., S. 271. 247 | Klein, » L’évolution de l’art vers l’immatériel. Conférence à la Sorbonne« (1959), ebd., S. 129. 248 | Ebd. 249 | Ebd., S. 130. 250 | Klein, »Le dépassement de la problématique de l’art« (1959), ebd., S. 105: »Ainsi nous deviendrons des hommes aériens, nous connaîtrons la force d’attraction vers le haut, vers l’espace, vers nulle part et partout à la fois; la force d’attraction terrestre ainsi maîtrisée nous léviterons littéralement dans une totale liberté physique et spirituelle!«.

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Interessanterweise bestand Ruhnau später darauf, dass Klein kein »Mystiker« gewesen sei.251 Der Architekt versuchte, entgegen der Deutungslinie von Kleins Ehefrau Rotraut Klein-Moquay, die spirituellen Elemente in dessen Ideen in den Hintergrund zu rücken. Das Yves Klein-Archiv in Paris hingegen, dessen Kopf offiziell Klein-Moquay ist, argumentiert, dass die Rosenkreuzerlehren für Klein nicht sehr relevant gewesen seien.252 Dabei standen all diese verschiedenen Linien – Klimatechnologie, Lebensreform, christliche Tradition und Esoterik – bei Klein gar nicht im Widerspruch, sondern hingen eng zusammen. Der ökologische Ansatz einer Untrennbarkeit von Mensch und Umwelt war bei ihm mit evolutionstheoretischen Gedanken verbunden, die über das Physikalische hinaus das Geistige einschlossen und ins Mystische gingen. Seine Rezeption der Rosenkreuzerlehren bringt Licht in die Hintergründe dieser Ideen, die der Künstler in seine Klimautopie einbrachte.

5.5.3 Klimautopie und Rosenkreuzerlehre Max Heindels Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder mystisches Christentum stellte eine grundlegende Quelle für Kleins Überlegungen zur Klimaarchitektur dar.253 Darin wurden Auffassungen des esoterischen Christentums zum Aufbau und zur Entwicklung der Welt und der Menschheit dargestellt. Die Theosophen Annie Besant und Charles W. Leadbeater orientierten sich maßgeblich an Heindel.254 Die Rosenkreuzer waren eine Ordensgemeinschaft, die sich im 17. Jahrhundert ausgehend vom Mythos um den Mystiker Christian Rosencreutz (1378-1484 [sic!]) begründete. Rosencreutz soll Gelehrter der Alchemie, der Kabbala, der Gnostik, der Hermetik und der Medizin Paracelsus’ gewesen sein.255 Die Schriften Heindels zeugen von der Verbindung der physikalischen Welt mit anderen, höheren Dimensionen gemäß der Esoterik 256 über im weitesten Sinne ökologische Konzepte, ähnlich wie bereits anhand von Wassily Kandinsky, Nebel und anderen aufgezeigt.

251 | Ruhnau im Interview mit Dorothee Lehmann-Kopp, in Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007, S. 45. 252 | So verlangte das Archiv für die Gewährung von Bildrechten für Burchert 2017a, dass Bezüge Kleins zu den Rosenkreuzerlehren gestrichen werden. 253 | Ersterscheinen auf Französisch 1909 unter dem Titel Cosmogonie des Rose-Croix. 254 | Vgl. Besant/Leadbeater 1908, S. 9f., S. 38f. und S. 101f., wo konkret Stellen aus dem Buch Heindels übernommen wurden; vgl. weiterhin Kap. 3.4. 255 | Siehe Katz 2005, S. 48-56. 256 | Dazu gehören »1. Die Welt Gottes. 2. Die Welt der Jungfräulichen oder Urgeister. 3. Die Welt des Göttlichen Geistes. 4. Die Welt des Lebensgeistes. 5. Die Gedankenwelt. 6. Die Empfindungswelt. 7. Die Physische oder Körperwelt.« (Heindel 1991 (1909), S. 29); vgl. Kap. 3.4, 3.6, 4.3.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

In ihrer Kosmogonie prophezeiten die Rosenkreuzer, so fasst Sidra Stich zusammen, »das Ende des Zeitalters der physischen Materie« und des »Ego-Bewußtseins«.257 Sie wollten zu einem »Zeitalter des Raumes und des reinen Geistes« zurückkehren: »In diesem ursprünglichen und ultimativen Zustand gibt es keine Grenzen […]. […] Das Leben in diesem neuen Zeitalter wird als Leere aufgefaßt, die frei von Eigenschaften und Grenzen, doch voller energiespendender Kräfte ist«.258 Die Rückkehr zum Ursprung ist mit einer Wiedergewinnung des Paradieses in eins zu setzen. Dieser Gedanke wurde von Klein übernommen. Dies trifft auch für den nächsten Punkt zu: Die Rosenkreuzer waren mit der »Vervollkommnung der Natur, des menschlichen Wissens und Wesens und dem damit verbundenen Versuch einer Gesamtreform des Universums« befasst und damit »sowohl ethisch-individuell gleichwie allgemein-politisch ausgerichtet«.259 Grundlegend in den Lehren ist der Äther als Stoff, der zum einen »physische Materie« und zum anderen das »Eintrittselement« für den »belebenden Geist« ist.260 Der Körper des Menschen setzt sich demnach aus den drei Elementen der festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe – Knochen, Blut und Atem – zusammen, hinzu kommt der ›Chemische Äther‹ (Stoffwechsel), der ein Bindeglied zwischen den anderen Dimensionen des Äthers darstellt, nämlich dem ›Lebensäther‹ (Fortpflanzung), dem ›Lichtäther‹ (Sinne) und dem ›Rückstrahlenden Äther‹ (Gedächtnis).261 Der ›Chemische Äther‹ wird als Stoff beschrieben, der dafür sorgt, dass Lebewesen nährende Stoffe assimilieren und unnütze Stoffe wieder ausscheiden.262 Ökologisch-klimatologische Ideen ziehen sich weiter durch die Schrift, etwa mit Blick auf die Dimensionen der Gefühle, die in der Empfindungswelt verortet sind und sich eine Ebene über der physischen befinden: »Ist das Gefühl, mit dem wir dem Eindruck eines Gegenstandes oder einer Idee begegnen, Interesse, so hat es dieselbe Wirkung auf ihn wie Sonnenlicht und Luft auf die Pflanze. Eine solche Idee wächst und gedeiht in unserem Leben. Begegnen wir hingegen einem Eindruck oder einer Idee mit Gleichgültigkeit, so welkt sie dahin wie die in einen dunklen Keller gestellte Pflanze.« 263

Wie Kandinsky und andere Künstler gingen die Rosenkreuzer davon aus, dass das Gefühl, »das wir für ein Lebewesen oder einen Gegenstand haben« sich auf die Atmosphäre auswirke.264 Beide Welten – physische Welt und Empfindungs257 | Stich 1994, S. 18. 258 | Ebd. 259 | Seegers 2003, S. 72f. 260 | Heindel 1991 (1909), S. 31. 261 | Ebd., S. 17. 262 | Ebd., S. 35. 263 | Ebd., S. 45. 264 | Ebd., S. 47.

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welt – durchdringen und beeinflussen einander. Auch laufen sie nach analogen Prinzipien ab. In der nächsten Dimension, der ›Gedankenwelt‹, finden sich ebenfalls ökologische Modelle. So ist die ›Gedankenwelt‹ gemäß Heindel in folgende Bereiche unterteilt: eine ›kontinentale Region‹, eine ›ozeanische Region‹, eine ›Luftregion‹ und eine ›Region der Urtypenkräfte‹.265 Mit der Luft sind »die Urbilder des Verlangens, der Leidenschaften, Wünsche, Gefühle und Gemütsbewegungen, wie wir sie in der Empfindungswelt erfahren« verbunden.266 Diese erscheinen dementsprechend, so Heindel, als »luftartige Zustände«: »Wie von einem warmen, sanften Sommerwind, einem sommerlichen Zephirhauch, werden die Sinne des Hellsehers von Gefühlen der Freude und Fröhlichkeit umweht. Das Sehnen der Seele erscheint wie das Seufzen des Windes in Baumwipfeln und die Leidenschaften kriegsführender Nationen wie das Aufblitzen von Beleuchtung.« 267

Die frei schwebenden Gedanken und Gefühle waren in eben diesem Sinne Teil von Kleins technischem Paradies. Die Gedanken und somit der Umgang miteinander sollten, entsprechend dem Klima, mild und gut, ohne jede Boshaftigkeit, sein. Auch auf Heindels »Schema der planetarischen Evolution«268 stützte sich der Künstler. Mit seiner Klimautopie entwarf er schließlich ein Evolutionsmodell: Der Mensch sollte sich von einem durch den Körper eingeschränkten zu einem spirituellen, gänzlich befreiten Wesen entwickeln. Heindel prognostizierte ein neues Zeitalter, das sich durch den Eintritt eines weiteren, geistigen Elementes neben Feuer, Luft, Wasser und Erde auszeichnen würde.269 Damit sollte sich etwa die Überwindung der Schwerkraft vollziehen, die Klein mit seinem berühmten Sprung ins Leere 1960 selbst inszeniert hatte270 und die auf der Agenda des Centre de la sensibilité stand. Anhand von Klein zeigt sich in besonderem Maße das Zusammenspiel von modernem Klimawissen sowie Technikutopien und jahrhundertealten, esoterischen Traditionen. Die geschilderten Aspekte stehen in Kontinuität zu den blauen Monochromen am Beginn seiner künstlerischen Karriere, in denen Ideen der Lufträumigkeit und der Energieaussendung von Kunst bereits angelegt waren. Zero-Künstler wie Piene, Mack und Günther Uecker entwickelten ebenfalls, zum 265 | Ebd., S. 49-51. 266 | Ebd., S. 50. 267 | Ebd. 268 | Ebd., S. 244. 269 | Ebd. 270 | Vgl. Stich 1994, S. 217 und Seegers 2003, S. 107. Hier ließen sich weiterführend Parallelen zu Johannes Ittens Affinität zur Mazdaznan-Lehre diskutieren: Auch dort wurde die Heraufkunft einer rein geistigen Epoche prognostiziert (siehe Burchert a, in Vorbereitung).

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Teil im Dialog mit Klein, Ideen zur Klimatisierung von Außenräumen.271 So erinnerte sich Piene: »Während einer Fahrt von Antwerpen nach Düsseldorf sprachen Yves Klein, Heinz Mack und ich über folgendes: Auf öffentlichen Plätzen wären ›Plastiken‹ einzurichten, die aus Luft, Wasser, Eis und Feuer bestehen und in ständiger Veränderung begriffen sind. Sie können gleichzeitig zum Klimatisieren dienen und würden schon dadurch die gewohnten ›Denkmäler‹ mehr als ersetzen.« 272

Auch Uecker dachte 1961 darüber nach, »Räume [zu] klimatisieren«.273 In sehr heißen Gebieten könne etwa das Licht der Sonne gebrochen und auf das Wasser umgelenkt werden, was zu einer Milderung des Klimas führen würde: »Ein neuer Lebensraum entsteht, der uns mit den Elementen der Natur verbindet«.274 Eine ganz andere Vorstellung vom Kunstwerk als Luft- und Atemraum findet sich bei Mark Rothko. Klein ging es um eine Harmonisierung mit einer technisch hergestellten bzw. modifizierten Natur und um das gemäßigte Klima, das auf die milde Naturheillandschaft Nizzas rekurriert, der Klein schon sein Ultramarin entnommen hatte. Dies ähnelt den klimatischen Konzepten anderer Künstler wie Paul Klee, Kupka, Nebel und Piene, die das Ideal eines »Schonklimas« vertraten. Dem entgegen konzipierte Rothko ein geradezu gewaltsames, reizendes Klima in seinen Bildern. Nicht mit Gefühlen der Güte und Milde war dieses verbunden, sondern mit Leid und Tragik.

5.6 R eizklima und B reathing S pace : M ark R othko Die therapeutische Wirkung seiner Werke begründete Mark Rothko mit ihrem atmosphärischen Charakter. Negative Emotionen avancierten für ihn Mitte der fünfziger Jahre zu einem entscheidenden Aspekt für die Wirkkraft von Kunst, die dennoch zumeist nicht destruktiv, sondern im Gegenteil belebend gedacht wurde. Die Auslösung von Emotionen sollte durch einen bewegten, klimatischen Luftraum erfolgen, der nachdrücklich von den milden Klimaräumen eines Paul Klee und den warmen, sonnendurchleuchteten Bildern eines Otto Nebel zu unterscheiden sind. Bei Rothko offenbart sich das Konzept eines Reizklimas als Bildklima. Dieses Wirkungskonzept stand mit einer spezifischen Rezeption Friedrich Nietzsches in Verbindung.

271 | Vgl. die Ideen zum Lebensraum ›Museum‹, über die Klein, Piene und Mack ebenfalls gemeinsam nachdachten (Kap. 2.1). 272 | Piene, »Fragen« (1960), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 114. 273 | Uecker, »Texte« (1961), ebd., S. 166. 274 | Ebd.

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Rothko äußerte sich weitaus seltener und weniger ausführlich zu seinen eigenen Werken und damit zusammenhängenden Konzepten als Wassily Kandinsky, Johannes Itten, Nebel und Yves Klein. Bis heute sind zudem nicht alle Notizbücher und Texte veröffentlicht. Viele Künstleraussagen müssen der Rothko-Biographie von James Breslin entnommen werden, in der allerdings Datierungen und Herkünfte dieser nur unzureichend ausgewiesen sind. Erst 2004 erschien Rothkos kunstphilosophische Schrift The Artist’s Reality. Philosophies of Art. Diese schrieb er um 1940, noch bevor er seinen abstrakten Stil entwickelt hatte, während einer künstlerischen Krise, in der er sich umfangreichen Lektüren in Bereichen der Philosophie und der antiken Mythologie widmete.275 Nicht die eigenen Werke stehen im Vordergrund dieser Schrift, sondern Überlegungen zu den Aufgaben der Kunst, der künstlerischen Arbeit sowie der Kunstgeschichte seit der Antike. Ohne den Anspruch zu erheben, Rothkos Kunstkonzept ausschöpfend zu beleuchten, sollen im Zusammenhang mit den anderen Künstlerpositionen einige Parallelen aufgezeigt werden, die darauf hindeuten, dass bestimmte Denkfiguren und Bildkonzepte in einem breiteren internationalen Kontext Geltung hatten. Dazu zählt der Anspruch, durch von der Kunst hervorgebrachte Atmosphären Leben zu spenden, ebenso wie die Annahme einer von Kräften durchzogenen Kunst, die man nicht so sehr sehend erfasst, sondern durch das Eintreten in Luftund Atemräume. Zugleich soll mit Rothko eine Variante des lebensräumlichen Bildmodells dargestellt werden, die markante Unterschiede zu dem zuvor Dargestellten aufweist.276

5.6.1 Das Bild als Luft-, Atem- und Lebensraum 1956 formulierte Rothko das Ziel seiner Arbeit im Gespräch mit Selden Rodman folgendermaßen: »I’m interested only in expressing basic human emotions – tragedy, ecstasy, doom and so on«.277 Eben diese Emotionen würden, so Roth-

275 | Rothko 2004, S. xvii. 276 | So geht es vorrangig darum, einen erweiterten Blick anzuregen und Kontinuitäten sowie Differenzen der frühen abstrakten Avantgarde in Europa zu der US-amerikanischen Farbfeldmalerei anzudeuten. Als Erweiterung könnte nach ähnlichen Vorstellungen einer Lebens- und Lufträumigkeit des Bildes in den USA gesucht werden, etwa bei Barnett Newman und Clyfford Still. Clement Greenberg schrieb in seinen Essays zu Art and Culture (1965): »A new kind of flatness, one that breathes and pulsates, is the product of the darkened, value-muffling warmth of color in the paintings of Newman, Rothko and Still. Broken by relatively few incidents of drawing or design, their surfaces exhale color with an enveloping effect that is enhanced by size itself. One reacts to an environment as much as to a picture hung on a wall« (Greenberg 1965 (1961), S. 226). 277 | »Notes from a conversation with Selden Rodman« (1956), in López-Remiro 2006, S. 119.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

ko, durch seine Bilder kommuniziert.278 Er ging somit von einer unmittelbaren Wirkkraft und Übertragung dieser Emotionen durch die Bilder aus: »I have one ambition for all my pictures, […] that their intensity be felt unequivocally and immediately«.279 Rothko richtete sich insbesondere gegen einen intellektuellen Zugang zur Kunst: Die Betrachtenden sollten nicht die Farbe und andere Kompositionsmerkmale analysierend untersuchen und kommentieren. 1952 im Interview mit dem Kunsthistoriker William Seitz sagte er: »I want pure response in terms of human need« und »pure human reaction«.280 Diese Reaktionen äußerten sich, so Rothko, nicht selten in Gefühlsausbrüchen: »The people who weep before my pictures are having the same religious experience I had when I painted them«.281 Religiosität war ein wesentlicher Aspekt, der nicht etwa in einem konfessionellen – jüdischen oder christlichen – Begriff aufging, sondern im Sinne von religio als Bindung, im Schleiermacher’schen Sinne als »Sich-Hingeben und Affiziertsein-Wollen« von einem größeren Ganzen, zu fassen ist.282 Wie noch deutlich wird, sollte dieses große Ganze jedoch stets menschliche Dimensionen behalten. So ging es Rothko um eine Distanzauflösung, ein kompromissloses Aufgehen in der Kunsterfahrung.283 Die Wirkung des Bildes beschrieb er im Vergleich zur ›Eindringlichkeit‹ der Musik: »I became a painter because I wanted to raise painting to the level of poignancy of music and poetry«.284 Dies verknüpfte sich mit der Vorstellung, dass das Bild eine Art Aufenthaltsort und Lebensraum eröffne, der eine verlebendigende, energetisierende Wirkung hat und mit dem Medium der Luft eng verbunden ist. Rothko ging von einer Durchatmetheit (»breathingness«) und Atembarkeit (»breathability«) der Bilder aus.285 Breslin erinnert sich, dass Rothko einst gesagt habe, dass die Malerei auf die Leinwand geatmet werden solle.286 Auch sprach Rothko davon, dass den Werken Lebensatem entnommen werden könne – ein Begriff, den auch der Musiktheoretiker Ernst Kurth verwendete. »Any picture which does not provide the environment in which the breath of life can be drawn does not interest me«, so schrieb Rothko in einem undatierten Briefentwurf an Clyfford Still.287 Im Interview mit Seitz äußerte er 1952, dass das Problem, in dieser 278 | Ebd. 279 | Rothko zit.n. Breslin 1993, S. 357. 280 | »Notes from an interview by William Seitz« (1952), in López-Remiro 2006, S. 78. 281 | »Notes from a conversation with Selden Rodman« (1956), ebd., S. 119f. 282 | Schleiermacher zit.n. Kliche 2000, S. 370; vgl. Kap. 1.3. 283 | Rothko 2004, S. 48. 284 | Breslin 1993, S. 42 [eine Quelle ist nicht angegeben]. 285 | Rothko zit.n. O. Wick 2008, S. 26 (Fußnote). Diese Zitate stammen aus einem unveröffentlichtem Skizzenbuch (»The Property of (A. Seltzer & Co., Inc.)«, 1954, MRF Arch.). 286 | Breslin 1993, S. 275. 287 | Undatierter Briefentwurf Rothkos an Clyfford Still, abgedruckt in Ross 1990, S. 170.

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Welt zu leben darin bestehe, nicht zu ersticken.288 Luft und Raum nahmen in seinem Denken eine wesentliche Rolle ein; einen Bezug zu seinen Werken stellte er allerdings nicht immer her. Im Herzen von Rothkos Kunsttheorie lag das Phänomen der Plastizität, das seine Vorstellung einer Lebens- und Lufträumlichkeit des Bildes begründete: »It [plasticity] is the process in which reality is achieved by causing forms to progress and recede […]. Forms and space are realized by making the foremost parts come forward and the parts further removed from the frontal plane recede into distance. In a painting, just as in a sculpture, these movements must be organized so they make sense in relation to each other. This is achieved again by certain rhythmic intervals of progression and recession.« 289

Rothko beschrieb das Bild als den Vollzug einer rhythmischen Bewegung, ein atmendes Vor- und Zurücktreten der Formen, das eine Realität produziert: »Actually, the artist invites the spectator to take a journey within the realms of the canvas«.290 Die Leinwand wirke nicht mehr als Fläche, sondern eröffne einen pulsierenden Raum, in und mit dem sich die Betrachtenden bewegen können: »The spectator must move with the artist’s shapes in and out, under and above, diagonally and horizontally; he must curve around spheres, pass through tunnels, glide down inclines, at times perform an aerial feat of flying from point to point, attracted by some irresistible magnet across space, entering into mysterious recesses – and, if the painting is felicitous, do so at varying and related intervals.« 291

Das Prinzip des Magnetismus, welches die Betrachtenden in das lufträumige Bild hineinzieht, machte auch Itten stark (Kap. 3.3.1, 3.7). Rothko war die extensive Betrachtung, die ein gelungenes Werk ermöglicht, besonders wichtig. Wie bereits für Klein bildete eine gewisse Sensibilität die Voraussetzung für eine solche immersive und zeitaufwändige Kunstrezeption, auf Grundlage welcher Rothko die Fähigkeit des temporären Lebens im Bilde begründete: »If one understands, or if one has the sensibility to live in, the particular kind of space to which a painting is committed, then he [the observer] has obtained the most comprehensive statement of the artist’s attitude toward reality. Space, therefore, is the chief plastic manifestation of the artist’s conception of reality.« 292

288 | »Notes from an interview by William Seitz« (1952), in López-Remiro 2006, S. 76. 289 | Rothko 2004, S. 47. 290 | Ebd. 291 | Ebd. 292 | Ebd., S. 59.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Das Bild eröffnet Rothko zufolge eine Art Heterotopos. Den Rezipierenden sollte sich in der Bewegung durch das Bild ein temporärer Lebensraum eröffnen. 1951 stellte Rothko Überlegungen zu seiner Wahl großer Formate an, die ihm eben nicht dazu dienten, etwas zu schaffen, das »very grandiose and pompous« sei.293 Ganz im Gegenteil sollte das Bild »intimate and human« sein.294 Das große Format sichere den Erlebnischarakter des Bildes: »To paint a small picture is to place yourself outside your experience […]. However you paint the larger picture, you are in it. It isn’t something you command«.295 Als ideale Entfernung vom Bild definierte Rothko einen halben Meter, sodass man als Betrachter/-in nur innerhalb der Grenzen des Bildes wahrnimmt, ohne noch die weißen Museumswände zu sehen.296 Als Vorbild für das eigene Bild- und Wirkungskonzept nannte er Henri Matisse’ großformatiges L’Atelier Rouge.297 Dazu schrieb er um 1949: »When you looked at that painting, you became that color, you became totally saturated with it«.298 Diese Vorstellung einer Sättigung mit Farbe erinnert an Kleins Wirkungsmodell und dessen Verständnis der Rezipierenden als Schwämme (Kap. 3.9). Rothko statuierte dabei um 1958 eine mit dem Kunstschaffen beginnende therapeutische Wirkung der Kunst, die sich auf die Betrachtenden übertragen sollte. »All teaching about self-expression is erroneous in art; it has to do with therapy«.299 Für Rothko stand eine befreiende Wirkung im Vordergrund. »I do not believe that there was ever a question of being abstract or representational. It is really a matter of ending this silence and solitude, of breathing and stretching one’s arm again«, so beschrieb er schon 1947 den Kern des künstlerischen Schaffensprozesses.300 Nicht formale oder inhaltliche Fragen waren vordergründig, sondern das befreiende Gefühl des Durchatmens und der Erweiterung des Brustkorbes. Schließlich hatte Rothko die Erstickungsgefahr als stete Bedrohung hervorgehoben. So ging es ihm – in der Produktion wie in der Rezeption – um die Schaffung von Frei- und Atemräumen, die zugleich ein Mittel gegen die Einsamkeit boten. Dementsprechend stellte Bradford R. Collins heraus, dass Rothko in den vierziger Jahren nach einer Kunst zu suchen begann, die das Problem der »Uneinigkeit« (»disunity«) und »Trennung« (»disconnect«) überwinden sollte, welche in seinen

293 | Rothko, »How to Combine Architecture, Painting, and Sculpture« (1951), in LópezRemiro 2006, S. 74. 294 | Ebd. 295 | Ebd. 296 | Crow 2005, S. 26. 297 | Nicht abgedruckt: Henri Matisse, L’Atelier Rouge, 1911, Öl auf Leinwand, 81 × 219,1 cm, Museum of Modern Art, New York. 298 | Rothko zit.n. Breslin 1993, S. 283. 299 | Rothko, »Address to Pratt Institute« (1958), in López-Remiro 2006, S. 125. 300 | Rothko, »The Romantics were prompted« (1947), ebd., S. 283.

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Subway Paintings zum Ausdruck gekommen war.301 Das Religiöse in der Kunst ist demnach bei Rothko im wortwörtlichen Sinne als Gefühl der Bindung eingelöst, als Gefühl, mit einem Ort oder einem Gegenstand verbunden zu sein, der zugleich einen Raum und Luft zum Atmen bietet. Dieses Konzept ist etwa in der posthum 1971 eröffneten Kapelle in Houston in Form einer die Besucher/-innen umfangenden Räumlichkeit umgesetzt. Wenngleich Rothko das Bild über die vierziger Jahre hinaus weiter als temporären, von Luft durchpulsten Lebensraum begriff, so dachte er doch im Laufe der Zeit über unterschiedliche Wirkweisen seiner Bilder nach. Die Bildrezeption beschrieb er noch in The Artist’s Reality als eine positive, als Freude (»delight«): »When we perceive a painting properly we become aware of the life of the picture as a whole, and that the sum total effect of our recognitions and emotions – that is, our associations and what they have made us feel – is the result of the plastic journey we have enjoyed. This journey […] is not merely for exercise […]. What is essential is that the entire journey is a delight and that that delight is contributed to by all of these factors at once.« 302

Gerade diese positive Fassung der Bilderfahrung kontrastierte Rothko im Verlaufe der fünfziger Jahre durch die negative Bildwirkung der Seagram-Serie, die im Restaurant des New Yorker Seagram-Gebäudes Unwohlsein und Übelkeit bewirken sollte. In diesem Zusammenhang sprach Rothko von »rein bösartigen Intentionen« (»strictly malicious intentions«): »I hope to paint something that will ruin the appetite of every son of a bitch who ever eats in that room«.303 Die Besucher/-innen sollten sich gefangen fühlen an einem Ort, »where all the doors and windows are bricked up, so that all they can do is butt their heads forever against the wall«.304 Gerade das Attest rein positiver Wirkungen blieb zum Ärger Rothkos in Besprechungen seiner Werke virulent. So wurde den Bildern von Kunstkritikerinnen und Kunstkritikern – mal in positivem, mal in negativem Sinne – eine besonders beruhigende Wirkung attestiert. Dieses Phänomen arbeitet Sarah K. Rich in ihrem Artikel »Staring into Space: The Relaxing Effect of Rothko’s Painting on 301 | Collins 2012, S. 49. Rothkos Bemerkung zur Überwindung der Einsamkeit darf keineswegs als Gefühl der Verbindung mit anderen Menschen interpretiert werden. So bestand Rothko etwa darauf, dass seine Werke jeweils nur von einer Person betrachtet werden. Die Verbindung wird so zwischen Betrachter/-in und Bild aufgebaut. So sagte Rothko in einem Interview mit John Fischer: »When a crowd of people looks at a painting, I think of blasphemy« (abgedruckt im Harper’s Magazine im Juli 1970). 302 | Rothko 2004, S. 77. 303 | John Fischer, »The Easy Chair: Mark Rothko, Portrait of the Artist as an Angry Man« (1970), in López-Remiro 2006, S. 131. Rothko kündigte den Vertrag auf und die Bilder hingen nie im Seagram Building. 304 | Ebd.

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Critics in the 1950s« heraus: »In front of Rothko’s works, critics intimated, shoulder would loosen, breathing would slow«.305 Sie ordnet dies in die zu dieser Zeit populären Werbungen und Programme für Entspannungsübungen ein, die sich zumeist an Büroangestellte richteten. Rothkos künstlerisches Heilskonzept war jedoch anders gelagert. Es wird im Folgenden anhand seiner Nietzsche-Rezeption der Versuch unternommen, die Dimensionen des Tragischen, der Religiosität, der leidvollen und belebenden Bildwirkung, des Lebensatems und der Lebensräumlichkeit zusammenzuführen.

5.6.2 Dionysische Kunst: Verbindungslinien zu Friedrich Nietzsche Nietzsche steht für die stetige Suche nach der »höchstmöglichen Erlebnisintensität« sowie den Anspruch der »Umgestaltung der Welt durch schöpferische Taten«.306 Beides trifft auch für Rothko zu. Bei Nietzsche kulminierte dies im rauschvollen Dionysischen als Kunstprinzip, das, wie er in Geburt der Tragödie oder: Griechentum und Pessimismus (1878) formulierte, »Schrecken und Grausen« hervorrufe.307 Für die Begründung des Potentials der Kunst, starke Emotionen auszulösen, fand Rothko Anknüpfungspunkte in Nietzsches Auslegung der Katharsis. Die Katharsis diene nicht dazu, so Nietzsche, »von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht […] sich von einem gefährlichen Affekt durch eine vehemente Entladung zu reinigen – so missverstand es Aristoteles: sondern […], über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein […]«. 308

Während Nietzsche die ideale Tragödie als »ein lebenssteigerndes Tonicum« begriff, sei sie bei Aristoteles ein »deprimierende[s], lebensverneinende[s] Purgativ«, resümiert Glenn Most.309 Rothko selbst stellte in The Artist’s Reality Bezüge zu diesem alternativen Verständnis der Katharsis her, ohne das Wort selbst zu gebrauchen: »Nietzsche’s analysis of Greek tragedy offers a fine hypothesis of how Greek tragedy itself solved the problem of pain and evil. Nietzsche found that life would have been unendurable for the Greeks […] unless a heroic attribute was imported to suffering by means of art.« 310

In einem bislang in seiner Gänze unveröffentlichten Aufsatzmanuskript zeigt sich noch deutlicher, welche Gedanken Nietzsches Rothko übernahm. Dazu ge305 | Rich 2005, S. 83. 306 | Meyer 1993, S. 2. 307 | Nietzsche 1994 (1888), S. 28. 308 | Nietzsche 1908, S. 66f. 309 | Most 2009, S. 55. 310 | Rothko 2004, S. 36.

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hörten Erfahrungen von Gewalt und Leid in der Kunstrezeption, »the wild terror and suffering and blind drives and aspirations«.311 Damit begründete und verteidigte Rothko zudem die von ihm gewählte Form der Bildgestaltung: »And if they ask why I have adopted a form which might to some be deceptive, why I have not used the physical means of agitation of speed or fast motion, I can only answer that this is the way in which I could achieve the greatest intensity of the tragic irreconcilability of the basic violence which lies at the bottom of human existence and the daily life […].« 312

Rothko setzte bewusst nicht auf Geschwindigkeit, auf schnelle, rhythmische Wechsel, sondern auf eine gewaltsame Ruhe, die zugleich eine besondere Intensität des Tragischen hervorrufen sollte. So schrieb er weiter: »The poignancy of art in my life lay in its dionysian content, and that the nobility, the largeness, the exaltation are hollow pillars, not to be trusted, unless they have as their core, unless they are filled to the point of bulging by the wild«.313 Wie stark Rothko seine Bilder in Analogie zur Tragödie fasste, wird in seinem Aufsatz »The romantics were prompted« (1947) deutlich: »I think of my pictures as dramas; the shapes of the pictures are the performers«.314 Dieses Konzept scheint von den zuvor aufgezeigten Vorstellungen des Bildes als klimatischer Licht- und Luftraum weit entfernt zu sein. Allerdings verband Rothko damit nicht nur die Atembarkeit des Bildes, auch fasste er die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Dramen als Kräfte der Natur. So beschrieb er die in den Dramen auftretenden Gottheiten als »representations of the forces of nature in relation to the actions and conduct of man«.315 Zu diesen Kräften könne sich der Mensch entweder in Harmonie oder in Disharmonie befinden.316 Breslin schlussfolgert: »Rothko has taken ancient classical cultural forms and turned them into works of art where they breathe, as if they were natural forms«.317 So ging es bei Rothko, wie den anderen Künstlern dieser Studie, um Zustände der Harmonie und Disharmonie mit einer Umwelt und ihren Kräften. Das schmerzhafte Erleiden der Kräfte bot gemäß Nietzsche und Rothko gleichermaßen eine belebende Erfahrung. In »Der Fall Wagner« postulierte Nietzsche: »Die Krankheit selbst kann Stimulans des Lebens sein: nur muß man gesund genug für dies Stimulans sein!«.318 Diese Aussage wiederholte er in Ecce

311 | Rothko zit.n. Crow 2005, S. 35. 312 | Ebd. 313 | Ebd., S. 38f. (Fußnoten). 314 | Rothko, »The Romantics were prompted« (1947), in López-Remiro 2006, S. 58. 315 | Rothko 2004, S. 94. 316 | Ebd. 317 | Breslin 1993, S. 442. 318 | Nietzsche 1994 (1888), S. 249.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Homo ganz ähnlich.319 Kunst, allem voran aber das Kunstschaffen selbst, erschien bei Nietzsche als Naturgewalt.320 In Die Geburt der Tragödie beschrieb er das Apollinische und das Dionysische als »künstlerische Mächte […], die aus der Natur selbst […] hervorbrechen«.321 Auch wenn die Produktionsebene bei Nietzsche zumeist im Vordergrund stand, so dachte er doch auch über die Rezeption von Kunst nach. So schrieb er in Notizen zur geplanten Publikation Der Wille zur Macht: »Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andrerseits eine Anreizung der animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens – eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben«. 322

Kunst erscheint hier als vigor, also als Lebenskraft, die im Kunstschaffen in die Bilder einfließt. Diese in das Kunstwerk eingetretene Energie sollte in der Rezeption stimulierend auf das Leben der Rezipierenden einwirken. Ähnliches hatte sich in den produktionstheoretischen Überlegungen Ittens und Kleins offenbart (Kap. 5.4). Wie Theo Meyer darstellt wurde die Frage, »ob eine Kunst das Leben steigert oder schwächt« für Nietzsche »zum ästhetischen Maßstab schlechthin«.323 Das Dionysische avancierte zum »Ausdruck eines Lebensüberschusses«.324 Nicht das behutsame Füllen der Gefäße oder die Harmonisierung wurden dementsprechend nun bei Rothko angestrebt, vielmehr ging es ihm um Stimulation durch extreme Erfahrungen. Bei Nietzsche und Rothko findet sich gleichermaßen die Auffassung einer Kunst als Naturmacht, die über die Rezipierenden hereinbricht, der sie sich nicht entziehen können, und die aber denen, die die nötige Sensibilität und Stärke haben, sich darauf einzulassen, Lebensenergie zu spenden vermag. Dabei galt es, in die Werke wie in eine Atmosphäre einzutreten – in eine Art Reizklima. Solche Reizklimata finden sich etwa im Mittel- und Hochgebirge, an Küsten und auf Inseln, an denen extreme, kalte Temperaturen herrschen, starke Sonneneinstrahlung und eine reine, mitunter sauerstoffarme Luft gegeben sind: »Wegen ihrer Reizwirkungen übt diese Bioklimazone eine stimulierende Wirkung auf den gesamten Organismus aus, begünstigt die Umstellung der vegetativen Regulationsmechanismen und hat auch günstige Auswirkungen auf den Kreislauf und

319 | Nietzsche 1908, S. 16f.: »Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein«. 320 | Vgl. Meyer 1993, S. 29. 321 | Nietzsche 1994 (1888), S. 25. 322 | Nietzsche zit.n. Meyer 1993, S. 71. 323 | Meyer 1993, S. 82. 324 | Ebd., S. 86.

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Das Bild als Lebensraum

den Stoffwechsel«.325 Auch die Atmung intensiviert sich in solchen Reizzonen. In diese Klimaform hinein fügt sich in besonderem Maße der Entzug von Luft, der in Rothkos Beschreibung von Bildern als Fassaden deutlich wird, wie schon mit Bezug zu den Seagram-Arbeiten zur Sprache gekommen war: »My pictures are indeed facades (as they have been called). Sometimes I open one door and one window or two doors and two windows.«326 Diese Aussage irritiert, schließlich zeichnen sich Rothkos abstrakte Kompositionen gerade dadurch aus, auf einem als Fassade deutbaren Grund Formen schweben zu lassen, die wie durch ein Fenster in den Raum der Betrachtenden einzudringen scheinen. Wie nun anhand von drei Beispielen verdeutlicht wird, waren offenbar an Variationen dieser Bildform je verschiedene Modi der Wirkung und, damit eng zusammenhängend, der Atembarkeit gebunden.

5.6.3 Breathing Spaces Das Essener Bild Untitled (White, Pink and Mustard) (1954) ist durch einen für Rothko typischen, mehrgliedrigen Bildauf bau charakterisiert (Abb. 36). Vor einer magentafarbenen Umrahmung schweben mehrere Formen. Die obere Form ist weißlich-beige, hier und da scheint das Magenta des Grundes durch. Oben breitet sich seicht eine Art gelblicher Nebel aus. Eine leuchtend rote Form schließt das Bildfeld nach unten ab. Auch sie ist unregelmäßig konturiert. Zwischen der weißen und der roten befindet sich eine weitere, schlauchförmig abgerundete, horizontale Form, die nicht ganz deckend in einem Ockerton gegeben ist. Diese wird in einem schmaleren Streifen nach oben und einem etwas breiteren Steifen nach unten vom weißen und vom roten Areal abgegrenzt. Keine Farbform bleibt völlig monochrom, eine jede ist durch Aufhellungen, Abdunklungen und andere, durchscheinende oder überlagernde Farbtöne geprägt. Dadurch entsteht der Eindruck von Bewegung innerhalb und zwischen den Formen, die mit einer optischen Immaterialität einhergeht. In der Rezeption erleben die Betrachtenden wechselweise Überstrahlungen und sich nebulös bewegende Farbgebilde. Über die sich atmosphärisch auf der Ebene ausbreitende Wirkung hinaus entfaltet die Komposition ein Vor- und Zurückstreben. Sie wird so als Atembewegung lesbar, schließlich hatte Rothko darauf bestanden, dass seine Werke atmen. Im Kontrast zum hervortretenden Weiß der oberen Form drängt das Rot zurück, zieht sich zusammen. So ergibt sich die temporale Struktur von Ausdehnung, Pause und Zusammenziehung, entsprechend einem Atemzyklus.

325 | Trenkle 1992, S. 15. 326 | Rothko, »Address to Pratt Institut« (1958), in López-Remiro 2006, S. 126.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

Abbildung 36: Mark Rothko, Untitled (White, Pink and Mustard), 1954, Öl auf Leinwand, 234 × 168,6 cm, Museum Folkwang, Essen

Die Vorstellung des Bildes als Atemraum wurde in der Kunstkritik und der Forschungsliteratur immer wieder aufgegriffen und etwa von Breslin mit dem Terminus des »breathing space« bezeichnet.327 Breslin schrieb zum Werk Rothkos um 1949: »In his new paintings Rothko will construct a space which, permitting such elementary human activities as breathing, aspiring, will provide a public stage on which the human and the transcendent can be rejoined«.328 Auch der US-amerikanische Lyriker und Freund Rothkos, Stanley Kunitz, sagte: »For the first time he felt he would occupy the whole physical terrain. You would have to not only see his paintings, you would breathe them«.329 Als Beispiel für die Herstellung eines solchen Atemraums zieht Breslin das Werk No. 10 von 1950 heran. Dieses Werk dramatisiere »the effort to move and breathe in a compressed space, as if one of the solid, blank walls in a Rothko domestic interior of the 1930s had gently 327 | Breslin 1993, S. 279. 328 | Ebd., S. 245. 329 | Ebd., S. 466 [Leider fehlt auch hier eine Quellenangabe].

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metamorphosized into a colourful curtain, admitting air and light to a cramped, suffocating room«.330 Hier beschreibt Breslin jenes von Rothko intendierte Leiden, das am Essener Bild nicht erfahrbar wird. Tatsächlich erinnert No. 10 eher an eine Fassade, die einen Entzug von Atemluft, ein besonders starkes Reizklima, suggeriert, weil durch die geschlossenen ›Fensterscheiben‹ keine oder nicht genügend Luft dringt. Gemäß dem dionysischen Wirkungskonzept Rothkos würde diese Gefahr des Erstickens – die Gefahr einer extremen Enge – zum Leben stimulieren, eine heilende Katharsis ermöglichen. Abbildung 37: Mark Rothko, No. 16, 1960, Öl auf Leinwand, 259,1 × 303,5 cm, Metropolitan Museum of Arts, New York

Ein besonders bedrohliches Bild, das eher erlitten als leicht eratmet wird, ist No. 16 (1960), das heute im MET in New York hängt (Abb. 37). Auf blauem Grund pulsieren die rote, die schwarze und die rotbraune Form, die jeweils weitere Farbschichten durchscheinen lassen und ebenfalls durch ihre unscharfen Ränder eine nebulös-luftartige Konsistenz und Beweglichkeit erhalten. Während die große schwarze Form sich auf Augenhöhe befindet, scheint das Rot als Leuchten von oben auf. Das Bild hat eine unheimliche Präsenz, die sich aus der Bewegtheit, 330 | Ebd., S. 278.

5. Bilder als klimatische Luf t- und Atemräume

aus dem Pulsieren der Formen ergibt, die zu einem besonders intensiven Erleben führen. Hier nun ist es nicht so sehr das Gefühl der Enge, wie es durch die abweisenden Farbformen von No. 10 hervorgerufen wird, sondern es sind die bedrohlichen, intensiven Farben und Kontraste, die als Reizklima stimulierend wirken. Die drei Werke Rothkos verfahren mit dem Aspekt der Lufthaltigkeit sehr unterschiedlich, und erzeugen so jeweils ein anderes Klima. Durch die offene, leichte Atmosphäre im Essener Bild, die verschlossene, einengende ›Fassade‹ im MoMA-Werk und die bedrohlich-schwere Atmosphäre von No. 16 im MET werden verschiedene Qualitäten einer Bildluft und Atembarkeit realisiert. Es werden jeweils ein anderes Maß und eine andere Form des durchdringenden Einschlusses der Betrachtenden in das Bild angelegt, wodurch gemäß Rothko tragisch-religiöse Gefühle transportiert werden sollten. Ein Bild wie Untitled (White, Pink and Mustard) macht durchaus die in der Kunstkritik beschworene beruhigende Wirkung von Rothkos Kunst nachvollziehbar, die nicht auf das Dionysische abhebt, aber durchaus als Luft- und Lebensraum konzipiert ist. An der Datierung der Werke zeichnet sich ab, dass Rothko diese verschiedenen Wirkungsmodelle parallel entwickelte und gelten ließ. Die pulsierenden, atmenden Bewegungen der Farbformen spielen in der Rezeption der Werke Rothkos eine besondere Rolle. Das Rhythmische war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als biologisches Prinzip für zahlreiche Künstler ein grundlegendes Gestaltungsprinzip. Dem Rhythmischen wird seit jeher eine besondere Wirkmacht auf den Menschen zugesprochen, so schrieb Nietzsche bekanntlich: »[D]er Rhythmus in ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selbst geht dem Takte nach, – wahrscheinlich, so schloß man, auch die Seele der Götter!«331 Nietzsche interessierte sich zudem dezidiert für die heilsame, belebende Kraft musikalischer Rhythmen, die für bildende Künstler im 20. Jahrhundert gleichermaßen relevant wurde. Dem Heilpotential des Rhythmischen ist das folgende Kapitel gewidmet.

331 | Nietzsche 1990 (1887), S. 93.

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6. Bio- und Naturrhythmen im Bild Verbunden mit der Annahme einer Lufthaltigkeit des Kunstwerkes war die Auffassung des Bildes als atmende Gestalt, wie sie sich etwa im Vor- und Zurückstreben der Farbformen bei Mark Rothko realisiert. Während der bloße Luftraum auch als im Wesentlichen nicht weiter strukturiertes Kontinuum vorgestellt werden könnte, konstituiert der Wechsel von Ein- und Ausatmung respektive Ausdehnung und Zusammenziehung der Lunge eine rhythmische Bewegung. Der Atem und andere Bio- sowie Naturrhythmen wurden von einer Reihe abstrakter Künstler als Struktureigenschaft und Wirkungsprinzip ihrer Kunst gedacht. So entstand das Modell eines nach den Gesetzen der Natur und des Lebens gegliederten, rhythmisierten Bildraumes. In diesem Sinne hatte Otto Piene vom »rhythmischen Hin- und Herströmen[…] zwischen Bild und Betrachter« gesprochen, durch welches das Kunstwerk zum Spender von Lebensenergie werden sollte.1 Nicht nur der Atem, auch der Puls und die Rhythmen der Natur im weitesten Sinne waren für die Künstler vorbildhaft. Johannes Ittens Jahreszeiten-Zyklus speist sich ebenso aus einer Orientierung an natürlichen Rhythmen (Kap. 3.7, 6.6) wie die Rechteck- und Fugenkompositionen Paul Klees (Kap. 3.1.1, 6.4). Mit der Rhythmisierung als Kompositionsprinzip gehen die Faktoren der Zeit und Bewegung maßgeblich in Bild- und Wirkungskonzepte ein. Neben diesen wird die Räumlichkeit des Bildes betont. Das rhythmisierte Bild sollte einen bewegten Raum eröffnen, in den die Beschauer/-innen eintreten, um sich unmittelbar von der Bewegung ergreifen zu lassen. Die Spannung, die diese Räume zusammenhält und zugleich als Lebenskraft gelten kann, war vielfach Teil der Konzepte. Rhythmus wurde einerseits als vitalisierendes Prinzip verstanden. Zum anderen erlangte er im Sinne einer Figur des Gleichgewichtes und der Harmonisierung als Mittel gegen die Arhythmie und die Nervosität Bedeutung. Rhythmus wurde dabei im Sinne von Johann Wolfgang von Goethe und Ludwig Klages vorrangig als eine Fließbewegung aufgefasst. Vor den Einzelanalysen erfolgt in diesem Kapitel zunächst ein Überblick über natur- und biorhythmische Bildmodelle (Kap. 6.1), welche anschließend im Kontext rhythmischer Lebensraum- und Gesundheitskonzepte verortet werden 1 | Piene, »Die Reinheit des Lichtes« (1960), in ZERO 2, S. 27; vgl. Kap. 4.6.

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(Kap. 6.2). Zumeist standen die Konzepte in Verbindung mit dem Verständnis des Bildes als lebensräumlichem Organismus und orientierten sich so an kosmologischen Naturkonzepten (Kap. 1.1). Bezüge bestehen zu medizinischen, klimatologischen und naturheilkundlichen Diskursen seit der Antike, bis hin zur Rhythmusbewegung, in deren Rahmen Rhythmus als natürliches Therapeutikum aufgefasst wurde. Künstler orientierten sich ferner an der Einfühlungstheorie und am Medium der Musik (Kap. 6.3.2). Denn auch in der Musiktheorie der Zeit wurden im Rekurs auf antike Traditionen Werke als naturrhythmische Räume gefasst, die belebend und harmonisierend auf die Rezipierenden einwirken. Die Unterkapitel verfolgen nicht alle genannten Künstlerpositionen weiter, sondern nur solche, bei denen Natur- und Biorhythmen einen zentralen Aspekt im Wirkungskonzept bildeten (Kap. 6.4-6.8). Für die anderen Positionen – dazu gehören etwa die Robert Delaunays, Wassily Kandinskys und Pienes – wird eine knappe Ergänzung ihrer bereits ausgeführten Klima-, Licht- und Luftkonzepte vorgenommen. Auch František Kupka verknüpfte zwar künstlerische Produktion und Biorhythmus über den Atem miteinander und schuf rhythmische Kompositionen. Gerade im Vergleich zu anderen Künstlern bleibt der Rhythmus in seiner Programmatik Die Schöpfung in der bildenden Kunst jedoch unterbelichtet. Anders verhält es sich mit László Moholy-Nagy, der die Versöhnung biologischer und technischer Rhythmen mittels Kunst thematisierte. Durch ihn wird zum Schluss eine Erweiterung des hier Dargestellten vorgenommen, die auf Neuverhandlungen von Natur, Kultur und Ökologie in der Kunst und der Kulturtheorie seit den sechziger Jahren hinausweist (Kap. 7.2).

6.1 N atur - und L ebensrhy thmen in den K ünstlerkonzep ten Wie wesentlich die Bildrhythmik zu Beginn des 20. Jahrhundert mit Vorstellungen von Natürlichkeit und Naturgesetzmäßigkeit verknüpft war, zeigt sich an der Künstlertrias Robert Delaunay, Franz Marc und August Macke. Delaunay ging davon aus, dass die Natur »von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rythmik [sic!] durchdrungen« sei und forderte: »Die Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhabenheit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich teilen und in gleicher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen«.2 Dieses Zitat entstammt dem von Paul Klee für die Zeitschrift Der Sturm übersetzten Artikel »Über das Licht«. Delaunay regte hier also die Nachahmung der Rhythmen der Natur in der Kunst an. Das farbige Licht und das Sonnenlicht galten ihm als Ausdruck einer energetischen und rhythmisch geordneten Natur. Eine Lichtwirkung der Soleils sollte auf diesem Prinzip der Farb-Form-Rhythmen fußen, die

2 | Delaunay 1913, S. 256.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

im Simultankontrast miteinander reagieren und einander in Bewegung versetzen (Kap. 4.1: Abb. 19, 21). Marc, der mit Wassily Kandinsky zwischen 1911 und 1914 im Blauen Reiter eng zusammenarbeitete, vertrat ebenfalls die Vorstellung einer rhythmisch organisierten Natur. Er beschrieb sein Streben nach einem »Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge, ein pantheistisches Sichhineinfühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft«.3 Eben dieses wolle er »zum ›Bilde‹ machen, mit neuen Bewegungen u. mit Farben, die unseres alten Staffeleibildes spotten«.4 In dieser berühmt gewordenen Passage formulierte er das Ziel der »Animalisierung der Kunst«,5 durch welche die Betrachtenden mittels der »mannigfaltigen Parallelismen und Schwingungen der Linien« das »innerliche, zitternde Tierleben herausfühlen« sollten.6 Das Bild erscheint bei Marc als Verwirklichung natürlicher Lebensrhythmen, die mit Blutkreislauf und Pulsschlag des animalischen Lebens verglichen werden. Diese sollten nicht nur dargestellt werden, sondern auf die Rezipierenden übergehen. Macke, der sich in intensivem Austausch mit Marc, Delaunay und Kandinsky befand, bestimmte »das Rhythmische im Kunstwerk […] [als] ein Gleichnis für das Rhythmische in der Natur selbst«.7 Er interessierte sich besonders für die »Spannung zwischen den Dingen in der Natur«:8 Das »Leben im Bilde« sei in Analogie zur Ordnung der Natur die »gleichzeitige Spannung verschiedener Teile«.9 So fasste Macke das Kunstwerk als Funktionsorganismus auf, der durch das Prinzip einer auf Rhythmisierung basierenden Spannung zusammengehalten wird. Bei Delaunay, Marc und Macke findet sich die Vorstellung einer rhythmisch verfassten Natur, deren Ordnung und Bewegung zugleich Lebensprinzip – Herzschlag und Puls – ist. So beschrieb Delaunay das Bild als eine plastische Organisation »im lebendigen Sinne des Rhythmus«: Dieser sei »menschlich und Natur zugleich«.10 Der Rhythmus des Bildes, der ein Rhythmus des farbigen Lichtes ist, entspricht demzufolge den biologischen Rhythmen im Menschen und zugleich jenen in der gesamten Natur. Wie bereits herausgearbeitet, ging Delaunay dementsprechend von einer harmonisierenden Wirkung der Kunst aus (Kap. 4.1). 3 | Marc in einem Brief 1910 an Reinhard Piper, in Meißner 1989, S. 30. 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd., S. 31. 7 | Macke in einem Brief an Bernhard Koehler am 30.3.1913, zit.n. Vriesen 1957, S. 130. 8 | Macke auf die Rundfrage von »Kunst und Künstler« (XII. Bd., 1914) über »Das neue Programm«, ebd., S. 262. 9 | Ebd. 10 | Delaunay, »Notes historiques sur la peinture: Couleur, simultané« (1910), in Francastel/Habasque 1957, S. 113: »[…] organisation plastique au sens vital du rythme. C’est humain et c’est nature […]«.

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Es können nur Vermutungen darüber angestellt werden, welche Weiterentwicklung die Bildkonzepte Marcs und Mackes erfahren hätten, wären sie nicht so früh verstorben. Schließlich sprach Macke schon zu Beginn der zehner Jahre davon, ein Werk zu schaffen, »in dem wir leben können«.11 Bei anderen Künstlern werden die Rhythmuskonzepte in den nachfolgenden Jahren um einiges weiter gefasst. Sie erschöpfen sich nicht wie bei Marc in animalischen Rhythmen, also der Verkörperung eines fremden, organischen Lebens in der Rezeption, oder wie bei Delaunay in der Korrespondenz von Farblichtrhythmus und menschlichem Biorhythmus. Die Ideen Kandinskys zu einer natürlichen Rhythmik des Bildes erinnern stark an Mackes Ansatz. So handelte dieser um 1930/31 in seinem Unterricht davon, dass die Kunst einem »natürl[ichen] drang« entsprungen und ihr »grundgesetz […] rhythmus – wie in der Natur« sei.12 »Natürlichkeit ist das Entsprechen [?] den Harmoniegesetzen [sic!]«, notierte er kryptisch bereits um 1912/14.13 Weiterhin hielt Kandinsky 1930 in seinen Lehrnotizen fest, dass ein »werk ohne rh[ythmus] undenkbar« sei. Rhythmus verstand er nicht als »mehr oder weniger klare wiederholung, sondern auf bau der spgen [Spannungen] zwischen den el[ementen]«.14 Rhythmiziät generiert sich zudem als ein virtuelles Vor- und Zurückstreben von Farbformen, die eine Ästhetik des Schwebenden evozieren, wie am Beispiel von Komposition VI erörtert (Kap. 5.1.1). Kandinsky ersetzte, wie Christiane Schmidt feststellt, den theosophisch geprägten Begriff der Vibration seit den Zwanzigern durch den der Spannung.15 Diesen hatte auch Macke starkgemacht, um den ganzheitlich-organischen Charakter des Werkes zu begründen. Das rhythmische Prinzip im Bild begriff Kandinsky dabei als »pulsieren«, »pulsschlag«, »belebung«.16 In seiner Lehre am Bauhaus vertrat er dieses Rhythmusverständnis weiterhin: »das erste und klarste prinzip ist rhythmus – pulsschlag, atmung, kreislauf des blutes, atmet die erde? […] der menschl[iche] und tierische und pflanzliche puls schlägt mit dem kosmischen zusammen – es ist eine unhörbare, aber präzise ›musik‹. 11 | »Notizen August Mackes über Kunst« (o.J.), in Vriesen 1957, S. 257. 12 | Kandinsky, »I. Semester – [1930/31] – Stunde 7«, in Weißbach 2015, S. 232. Verbindungslinien lassen sich insbesondere zur Russischen Akademie der Künste (RAKhN) ziehen. An dem dort begründeten »choreologischen Laboratorium« ist Kandinsky beteiligt gewesen. Dort untersuchte man die Rhythmen des Tanzes, in der Plastik, Malerei, in der Natur und im Universum; vgl. Baxmann 2006, S. 90. 13 | Kandinsky, »Definierungen« (1912/14) in Friedel 2007, S. 621 [Herv. i.O. unterstrichen]. 14 | Kandinsky, »Hauptlehre – 1925/26 – zu Stunde 6«, in Weißbach 2015, S. 282 [Herv. i.O. und bei Weißbach unterstrichen; erste und dritte Ergänzung in Klammern von Weißbach]. 15 | Schmidt 2002, S. 259 [Herv. i.O. unterstrichen]. 16 | Kandinsky, »II. Semester – o.J. – Plan«, in Weißbach 2015, S. 386.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild kein wunder, dass menschl[iche] werke (also auch kunst) einen pulsschlag haben, der gleichzeitig ein kosmischer ist.«17

Wie Delaunay, Marc und Macke sprach Kandinsky der Komposition einen Rhythmus, einen Puls zu, der dem des Kosmos entspricht und sich in allen organischen Subsystemen und in allen menschlichen Schöpfungen analog findet. Dabei ging er von einem allgemeinen »drang[,] diesen pulsschlag mitzumachen« aus.18 Die Annahme einer Korrespondenz der Rhythmen von Kosmos, Musik, Bild und Lebewesen wird in den folgenden Unterkapiteln weiter vertieft. Bei Kandinsky erfuhren diese Konzepte gerade im Vergleich zu anderen Künstlern allerdings keine detailliertere theoretische Ausarbeitung. Rhythmen der Natur und des Lebens nahmen bei Johannes Itten eine zentrale Rolle ein. Auch er fasste die Natur als einen atmenden Organismus auf. Ein zwischen 1917 und 1918 verfasstes Gedicht mit dem Titel »Am Morgen im Gebirge« gibt Aufschluss darüber: »Der weiße Berg leuchtet in gelbem/Morgenlicht und das tiefe weite/Tal atmet in rhythmischen Gleichmaß/bläuliche Nebel aus.//Das blaue Blau des Himmels/Das weiße Weiß des Berges/Und das dunkle Schwarz des Waldes/Erklingen im gelben Licht der strahlenden Sonne.//Friede und Ruhe erklingt im lichterfüllten Ätherraum/Und ich erklinge mit/Rhythmus gleicher Atmung.//Die weiße Sonne leuchtet/Der Kastanienbaum blüht/Adalbert Stifter spricht/Bach singt.//Alles schwingt wächst und versinkt/Alles blüht fruchtet und stirbt/ Alles empfindet verbindet und entbindet.//Alles Sein ist schwingender Raum/Alles Werk gestalteter Raum/Alle Raumsehnsucht Liebe und/Alle Liebessehnsucht Nichtraum.//Alles ist Alles in einem/Das Nichts im Einen/Alles.«19

Itten ästhetisierte die Einheit des Menschen mit dem Naturraum als ein Erklingen im »Rhythmus gleicher Atmung«. Das Prinzip der Atmung wird dabei mit der Luft-, Farb- und Lichtatmosphäre in Verbindung gestellt und dieser rhythmische Naturraum ist ebenfalls zugleich musikalisch und kosmisch. Sein Wirkungsmodell des Aufgehens in einer Ganzheit entwickelte Itten auf Basis der Einfühlungs- und der Musiktheorie (Kap. 6.3). Eine Orientierung an der Musiktheorie findet sich auch in den Rhythmuskonzepten Klees, hier in Verbindung mit dem von Johann Wolfgang von Goethe geprägten Naturkonzept Ludwig Klages’ (Kap. 6.4). František Kupka sprach ebenfalls davon, dass ein rhythmisches Werk der bildenden Kunst eine musikalische, »orchestrale Wirkung« erhalte und setzte der »Monotonie« den Auf bau der Farb-

17 | Kandinsky, »II. Semester – o.J. – zu Stunde 1«, ebd., S. 452. 18 | Ebd. 19 | Itten, »Am Morgen im Gebirge« (1917/18), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 57. Durch/ wurden hier Zeilenumbrüche, durch // das Ende einer Strophe markiert.

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komposition aus dem Wechsel von »Akkorden« entgegen.20 Er ging von einer allem zugrunde liegenden natürlichen Rhythmik aus, die sich in der Musik und in der bildenden Kunst gleichermaßen verwirkliche.21 Ähnliches formulierte Otto Nebel: Er fasste Natur und Kunstwerk als rhythmisch und musikalisch geordnete Organismen auf, wobei er sich auf die Lehre Gertrud Grunows stützte. Bei ihm zeigen sich in diesem Zusammenhang auffallende Parallelen zum Naturund Kunstkonzept Raoul H. Francés, die sich, anders als bei Max Burchartz und László Moholy-Nagy, nicht gesichert über eine direkte Rezeption erklären lassen (Kap. 6.5, 6.7-6.8). Francé lieferte Argumente für eine den Kräften der Natur äquivalente Wirkung von Kunst. Überlegungen zur Wirkmacht rhythmischer Bilder kursierten besonders im Sturm-Umkreis, mit dem Nebel, Itten, Klee, Kandinsky, Nikolaus Braun sowie Moholy-Nagy in den zwanziger Jahren Kontakt pflegten. Marc, Macke und Delaunay gehörten ebenfalls in diesen Verbund. Nebel hatte offenbar ein enges Verhältnis zum Sturm-Essayisten Rudolf Blümner,22 der über die animierende Wirkung der Kunst nachdachte und die fehlende Rhythmizität im Werk Brauns kritisiert hatte.23 Blümner stellte in Der Geist des Kubismus 1921 die Frage, wie der Rhythmus in Malerei und Zeichnung wahrgenommen wird und kam zu dem Schluss, dass mit den normalen Sinnen »die Bewegung auf dem Bild nicht wahrnehmbar« sei:24 »Also vielleicht eine geistige Bewegung? Wie das? Etwa so, daß wir (Blut? Nerven?) ein aufsteigendes Formengebilde im Geiste ›mitmachen‹?«.25 Diese Antwort befriedigte Blümner nicht. Er setzte ihr die Vorstellung eines nicht weiter erklärlichen Erlebens des Rhythmus entgegen: »Wir hören das Herz schlagen, wir fühlen das Herz schlagen, wir sehen das Herz schlagen. […] Das Herz des Kunstwerks höre ich nicht, fühle (mit dem Tastsinn) ich nicht, sehe ich nicht. Ich kann es nur empfinden. Empfinden an der Steigerung meines eigenen Lebens. Das Herz des Menschen ist der Maßstab der Kunst (Den jene Herzlosen für Kandinskys Malerei nicht besitzen.) Und mehr kann kein Mensch sagen, als dieses: Formen treten zueinander in Beziehungen. Fühle ich durch diese Beziehungen mein Herz schneller schlagen, mein Blut erwärmt, dann ist in der Beziehung Bewegung, Rhythmus, Leben. Mehr kann kein 20 | Kupka 2001 (1923), S. 113. 21 | Ebd., S. 114. 22 | Braun 2012, S. 18. 23 | Vgl. Kap. 4.5. In diesem Zusammenhang wird – wie bereits am Beispiel Marcs gesehen – deutlich, dass die ungegenständliche Abstraktion von Strömungen wie dem Kubismus und dem Expressionismus in ihren Konzepten nicht trennscharf zu unterscheiden ist. Sie teilten Vokabular sowie Vorstellungen, die in der ungegenständlichen Kunst der dreißiger bis in die sechziger Jahre hinein fortlebten, auch wenn sie im Detail natürlich Unterschiede aufwiesen. 24 | Blümner 1921, S. 31. 25 | Ebd.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild Mensch sagen. Der Ursprung bleibt mystisch. Und die Möglichkeit der Rhythmus schaffenden Erscheinungsformen ist unendlich.« 26

Ein Kunstwerk habe potentiell einen Herzschlag inne, der nicht mit den Sinnen des Sehens, Hörens oder Tastens wahrnehmbar ist, sondern auf unerklärliche Weise geistig gefühlt und nachempfunden wird. Dieses Empfinden bringe eine Steigerung des Lebens mit sich. Das Kunstwerk erscheint hier als Lebewesen, das als Gleichnis einer natürlichen Kraft Leben zu spenden vermag und so einen lebensräumlichen Charakter erhält. Blümner führte Kandinskys Werke als Exempel für eine Kunst an, die dem Maß des menschlichen Herzens entspreche und so eine besondere Wirkmacht entfalte. Als potentielle physische Reaktionen auf das Erfahren von Kunstwerken nannte er einen schnelleren Herzschlag und eine Erwärmung des Blutes – also ganz konkrete, organische Folgen, wie sie in der Psychophysik anhand von Farbreizen untersucht und festgestellt wurden (Kap. 3.2.3, 6.2). Hier sind es nun nicht mehr bestimmte Farben allein, sondern Phänomene der Bewegung, die sich auf die Rezipierenden übertragen. Blümner schloss: »Der Rhythmus ist das allen Künsten gemeinsame, das leben-schaffende, das Leben selbst«.27 Diese Ideen finden sich nicht nur bei Bauhauskünstlern der zwanziger und dreißiger Jahre wieder, sondern auch Jahrzehnte später im Zero-Umkreis. Beispielsweise verglich Heinz Mack die Rasterbilder Otto Pienes mit Kardiogrammen: »Vibration als die Ruhe der Unruhe und die Unruhe der Ruhe, als Pulsschlag des Herzens, sein Rhythmus ein Cardiogram auf der Leinwand.«28 Das Bild erscheint dementsprechend als Spur und Äquivalent menschlicher Biorhythmen. Piene selbst beschrieb unruhige Kompositionen als »Handgemenge der Formen und Farben« auf der Leinwand, die einer »Poesie der Katastrophen« gleiche.29 Dem entgegen setzte er »Gelassenheit und Ruhe«.30 Dabei betrachtete Piene die monochrome Malerei als potentielles Mittel gegen »hast nervosität verzweiflung wut«.31 Insofern verblieb das »Cardiogram« nicht nur auf einer repräsentativen Ebene, sondern sollte Wirkung entfalten. Piene wollte auf Atem und Puls der Rezipierenden einwirken (Kap. 4.6, 5.1).32 Dementsprechend finden sich in SolOeil sowohl eine lebhafte Rhythmisierung des Bildfeldes als auch eine Art Ruhe- und zugleich Kraftpol in der mittigen Form (Kap. 4.6: Abb. 30). Anders als bei Kandinsky und vielen anderen treten hier nicht 26 | Ebd., S. 32. 27 | Ebd., S. 59. 28 | Mack, »Für Otto Piene« (ohne Datum, nach 1986), in Glibota 2011a, S. 282. 29 | Piene, »›Zéro‹ im Theater« (1963), in Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, S. 138. 30 | Ebd. 31 | Piene, »Fragen« (1960), ebd., S. 111. 32 | Piene, »Wege zum Paradies« (1963), in ZERO 3, o.S.

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Farbkontraste in einen spannungsgeladenen Austausch: Rhythmische Bewegung wird bei Piene weitestgehend monochrom durch die Form des Rasters und das Spiel von Licht und Schatten erzeugt. Gotthard Graubner, der in den sechziger Jahren in Kontakt mit Zero stand, entwickelte zeitgleich ein sehr ähnliches Bildkonzept: »Der eigentliche Naturbezug in meiner Malerei ist das Nachschaffen eines Organismus, das Atmen, das Ausdehnen und Zusammenziehen. Organische Bewegung, wie sie sich in Wolkenballungen, im Rhythmus des fliessenden Wassers oder in der stillen Bewegung eines menschlichen Körpers finden lässt. Die Malerei ist ein eigener Organismus in der Polarität von warm und kalt, von leicht und schwer, von steigend und fallend.« 33

Rhythmizität und Organismusmodell gingen bei ihm Hand in Hand. Die Rede ist erst in zweiter Instanz vom Organismus als Einzellebewesen. Als Sinnbild für den malerischen Organismus dienten Graubner die Prinzipien der Ausdehnung und Zusammenziehung, atmosphärische, etwa thermische Prozesse, sowie die Fließbewegung des Wassers. Braun hatte, ähnlich wie Graubner, seine Lichtbilder mit dem »unendliche[n] Hüpfen und Kreisen der Reflexe und Sonnenabbilder« auf dem Wasser verglichen.34 Gerade die fehlende Dynamik kritisierten hingegen Blümner und Moholy-Nagy an dessen Lichtreliefs. Auf den ersten Blick ähnlich den anderen hier besprochenen Künstlern begriff Moholy-Nagy die biorhythmische »Gestaltung von optischen Erlebnissen« als Möglichkeit, auf das »Tempo« der »Lebensführung« sowie allgemein auf den biologischen Organismus Einfluss zu nehmen.35 Sein Lichtrequisit realisiert eine rhythmische Gestaltung von Farben, Lichtern und Schatten, die er mit einer Vitalisierung in Verbindung brachte. In sein Kunstkonzept integrierte er allerdings nicht die natürlichen Rhythmen der Jahreszeiten und einer vorindustriellen Natur wie Itten, Klee und Nebel, sondern explizit die Rhythmen der Großstadt. Wenngleich dies nicht vertieft werden kann, so sind seine Ideen doch dezidiert sowohl von Pienes Rasterbildern als auch den späteren Lichtballetten zu unterscheiden, die nicht von raschen Wechseln leben. Daraus ergibt sich ein Kontrast zwischen einer eher sanften Vitalisierung bei Piene und im Zero-Umkreis auf der einen und einer stärker dynamisierten, auf schnelleren Wechseln beruhenden Energetisierung bei Moholy-Nagy auf der anderen Seite. Bevor Varianten der Naturrhythmik in Bildern detaillierter herausgearbeitet werden, gilt es, einen Überblick über Vorstellungen der rhythmischen Ordnung der Natur aufzuzeigen, auf welche sich die Künstler bezogen.

33 | Graubner, Artikel in heute Kunst 3 (1973), zit.n. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1979, S. 79/81; vgl. Kap. 5.1.1. 34 | Braun 1924, S. 113; vgl. Kap. 4.5. 35 | Moholy-Nagy 1925, S. 18; siehe weiterführend Kap. 6.8.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

6.2 R hy thmen der N atur : D enkmodelle und H eilskonzep te seit der A ntike Die antike Annahme einer rhythmischen Ordnung der Natur, in die sich der Mensch einzugliedern habe, erfuhr in vergangenen Jahrhunderten immer wieder Aktualisierungen (Kap. 2.2, 2.4-2.5, 5.3.1). In der Antike galt der Kosmos als lebendiger Organismus, als ein Lebewesen, das einer harmonischen Ordnung unterliegt und diese rhythmisch vollzieht.36 Im 19. Jahrhundert war dieses Kosmosverständnis wesentlicher Bestandteil von Naturkonzepten, die sich später noch in künstlerischen, naturwissenschaftlichen und ‑heilkundlichen sowie esoterischen Diskursen fortschrieben. Insbesondere im Rahmen der Rhythmusbewegung sowie in der damit verbundenen Feststellung der Arhythmie und der Neurasthenie als Gesellschafts- und Epochenkrankheiten war die Vorstellung einer verlorenen natürlichen Rhythmik wesentlich.

6.2.1 Die rhythmische Ordnung der Natur Die Auffassung der Natur als lebendiger, atmender und somit auch rhythmisch verfasster Organismus vertrat sehr prominent Johann Wolfgang von Goethe. Im Gespräch mit Johann Peter Eckermann hatte er das »Ein- und Ausatmen« der Erde beschrieben,37 und in seiner Farbenlehre schrieb er: »Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind«.38 Zusammenziehung und Ausdehnung stellte er als generelle Lebensprinzipien dar, die sich überall in der Natur finden. Das Leben verstand er dementsprechend als »Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte«.39 Diese Annahme war bereits für die antike Medizin grundlegend.40 Die Einfügung in die Rhythmen der Natur, in ihre Zyklen, in ihr Ein- und Ausatmen galt als Voraussetzung für ein gesundes, gutes Leben. Dieses Verständnis von Rhythmus im Sinne einer natürlichen Fließbewegung im Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung war prägend etwa in der Lebensreformbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und bestimmte die künstlerischen Rhythmuskonzepte. Ein zentraler Denker in diesem Kontext war der Lebensphilosoph Ludwig Klages (Kap. 3.2.2). Im 1934 erschienenen Vom Wesen des Rhythmus erörterte Klages sein Rhythmuskonzept, das er in früheren graphologischen Schriften sowie in 36 | Vgl. Platon 1992 (4. Jhd. v. Chr.), S. 47-55. Hier handelt Platon von der zeitlichen Ordnung und dabei u.a. von Tag- und Nacht-, Monats- und jahreszeitlichen Rhythmen. 37 | Eckermann 1955, S. 308. 38 | Goethe 1953 (1810), S. 320f. 39 | Bergdolt 1999, S. 292. 40 | Vgl. ebd.

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seinen monumentalen Publikationen Vom Kosmogonischen Eros (1922) und Der Geist als Widersacher der Seele (1929) bereits dargelegt hatte.41 Rhythmus wurde bei Klages dem Leben und dem Unbewussten zugeordnet, und so dem Takt als geistigem, leblosem Prinzip entgegengesetzt:42 »Wiederholte der Takt das Gleiche, so muß es vom Rhythmus lauten, es wiederkehre mit ihm das Ähnliche; und da nun die Wiederkehr eines Ähnlichen im Verhältnis zum Verflossenen dessen Erneuerung vorstellt, so dürfen wir kürzer sagen: der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert«.43 Takt beziehungsweise Metrum generieren sich nach Klages aus Grenzanschlägen, der Rhythmus jedoch sei fließend wie eine Welle:44 »Niemals in grenzgenauen, wohl aber in ähnlichen Zwischenzeiten wechseln Helle und Dunkelheit, Ebbe und Flut, die Phasen des Mondes, die Jahreszeiten, die Bilder der Pflanzenwelt; und es wechseln in gleicher Weise Wachen und Schlafen, Frische und Müdigkeit […]«.45 So verstand er den Rhythmus als eine natürliche Gesetzmäßigkeit, die sich in der Natur im Großen findet, ebenso wie in den Biorhythmen der Lebewesen im Kleinen, die wiederum mit diesen übergeordneten Zyklen in Zusammenhang stehen. Auch den Atem beschrieb er als wesentliche rhythmische Bewegung in diesem Sinne. Im »Leibes- und Seelenleben des Menschen« finde man eine »Zug um Zug durchwaltende Rhythmik: man gedenke des Pulses, des Atems […] und der unfraglich in Wechselvorgängen des Leibes begründeten Gezeiten von schaffensfreudiger Gehobenheit und besinnlichem Einkehrbedürfnis«.46 Rhythmus ist somit ein energetisches Prinzip. Nicht nur bei Max Burchartz und Klee, auch bei Wassily Kandinsky findet sich dieser Rhythmusbegriff. Kandinsky sprach, die Rhetorik Johann Wolfgang von Goethes aufnehmend, vom Atmen der Erde und den kosmischen Rhythmen der Natur, die für die Bildkomposition geltend gemacht werden sollten.47 Ein ähnliches Konzept der zyklischen Erneuerung kennzeichnet das I-Ging: Die Einfügung in die Rhythmen der Natur gilt im chinesischen Orakelbuch als Grundvoraussetzung für ein gutes Leben. Der Text wurde von Johannes Itten und Otto Nebel über die kommentierte Ausgabe von Richard Wilhelm rezipiert. Eine an den Jahreszeiten orientierte Rhythmik des Lebens wird darin hervorgehoben (Kap. 6.6). Dafür, dass das Streben nach Einpassung in natürliche Rhythmen am Bauhaus ernstgenommen wurde, spricht das 1926 erschienene Buch Der Raum als Membran von Siegfried Ebeling (Kap. 2.5): Grundlegend für Ebeling war die 41 | Vgl. Burchert 2018a, 2017b (Webseite) und b (in Vorbereitung). 42 | Klages 1934, S. 19. 43 | Ebd., S. 32. 44 | Zum Begriff des Rhythmus als Fließbewegung vgl. Burchert b (in Vorbereitung) sowie zur etymologischen Ableitung von ῥέω (›rhein‹, fließen) siehe Seidel 2003, S. 292. 45 | Klages 1934, S. 33. 46 | Ebd., S. 33f. 47 | Kandinsky besaß eine Ausgabe von Klages’ Prinzipien der Characterologie; vgl. Schall 1989, S. 322; vgl. Kap. 6.1.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Erkenntnis, dass jedes Lebewesen in den Rhythmen der Natur im »Rhythmus der Äonen […] in seiner kosmischen Urkraft« lebe.48 Er stellte die Natur über die künstlichen Erzeugnisse des Menschen, auch über die Architektur, denn: »Jedes Gewächs […], das im Rhythmus der Gezeiten die trächtige Erde mit dem Licht ans Licht treibt, jeder blühende Leib […] ist heiliger, größer, geschlossener, als ein konstruktives Gebilde aus der formenden Hand des menschlichen Geistes«.49 Die Existenz in Harmonie mit den natürlichen Rhythmen bildet eine wesentliche Lebensgrundlage gemäß Ebeling. Sein architektonisches Konzept war ein naturheilkundlich-klimatologisches, das dem Menschen optimale Umweltbedingungen gewährleisten sollte. Ähnlich wie Klages ging er davon aus, dass der Geist den Zugang zu einem Leben gemäß den natürlichen Rhythmen versperren könne. Die Vorstellung einer rhythmisch geordneten, heilsamen Natur fand sich in diesem Sinne auch beim Chromotherapeuten Andrew Osborne-Eaves: »Das Leben, gleichgültig, ob es sich als Amoebe oder als Mensch ausdrückt, läuft in Form bestimmter Schwingungen, Rhythmen oder Vibrationen ab. Sind die Vibrationen harmonisch, dann nennen wir diesen Zustand Gesundheit. Unharmonische Vibrationen erscheinen als Krankheit«.50 Dieser hippokratische Gesundheitsbegriff wurde bereits erörtert (Kap. 5.3.1). Demnach besteht Gesundheit, »wenn das Pneuma im Organismus ›im Flusse‹ ist«, Krankheit aber, wenn die Bewegungen arhythmisch und aus dem Gleichgewicht geraten sind.51 Dabei hatte Hippokrates gleichermaßen die enge Verknüpfung von Umwelt und Organismus in den Vordergrund gerückt. Die naturheilkundliche Thermodiätetik nach Arnold Rikli fußte auf der hippokratischen Tradition (Kap. 3.3.2): Temperaturwechsel erklärte er dabei zum universalen Naturgesetz, denn »[a]llem was auf unserer Erde sich bewegt« sei »die Wellenform-Bewegung eigen«.52 So wie die Umwelt von periodischen Schwankungen geprägt sei, dem täglichen sowie saisonalen Wechsel von Warm und Kalt, so sei auch der gesunde menschliche Körper von periodischen Auf- und Abbewegungen bestimmt. Diese zeigten sich in der sogenannten »Blutwelle«: »Bei der Abkühlung der Haut und des Blutes wird der Säftestrom stärker nach den Innenorganen gedrängt, welcher [sic!] Stoß sie ausdehnt und zu stärkerer Absonderung antreibt; die höhere Blutwärme zieht wiederum den Säftestrom verstärkt nach der Haut, um sich daselbst des Wärmeübermaßes mittels Strahlung, Dünstung und Schweiß zu entledigen; in demselben Verhältnis werden die innern Organe entlastet und ziehen sich intensiver zusammen. Diese periodisch durch die atmosphärische Bewegung verstärkte Hin- und Her48 | Ebeling 1926, S. 4. Den Einstieg bildet das programmatische Motto: »Der rhythmische Mensch sprengt die Fesseln der Vergangenheit« (ebd., S. 3). 49 | Ebd. 50 | Osborne-Eaves 1931 (1906), S. 43; vgl. Kap. 3.3. 51 | Hippokrates zit.n. Steinaecker 2000, S. 28. 52 | Rikli 1895, S. 23.

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Das Bild als Lebensraum strömung, oder Ebbe und Fluth unserer Säftemasse, bildet ein wichtiges Grundgesetz zu normalem Stoffwechsel.« 53

Dabei stellte Rikli eine Verbindung zwischen der Bewegung des Säftestroms im Körper zu natürlichen Rhythmen der atmosphärischen Abkühlung und Erwärmung in der Natur her. Ziel der Lichtluftbäder war es, »dass alle Strassen und Wege (Nerven- und Blutbahnen) rein, wegsam und belebt gehalten werden, damit der Lebenssaft regelrecht überallhin ströme«.54 Willy Hellpach behandelte in Die geopsychischen Erscheinungen sehr ähnlich wie Rikli das sogenannte »Wechselbest«, welches das »rhythmische[…] Optimum« in der Natur bezeichnet.55 Er betonte hier die Notwendigkeit natürlicher Wechsel in den Lichtverhältnissen für den Menschen: »[D]er menschliche Organismus […] gedeiht am sichersten, fühlt sich am wohlsten und leistet sein Höchstmaß bei einer periodischen Abwechslung verschiedener Lichtgrade und Lichtarten. Dafür sorgt schon der Wechsel von Tag und Nacht, heller und trüber Witterung der Jahreszeiten […]«.56 Dass die Elastizität im Sinne einer Fähigkeit der Ausdehnung und Zusammenziehung bei wechselnden Einflüssen als wesentliches Lebensprinzip galt, wurde bereits anhand der Verbindung thermodiätetischer Prinzipien und klimatischer Farbkonzepte deutlich (Kap. 3.3, 3.7). Im esoterischen Denken war die Vorstellung einer rhythmisch geordneten Natur ebenfalls gängig. Die Theosophin Helena Blavatsky schrieb in The Secret Doctrine (1888) vom »Great Breath« as the »perpetual motion of the universe«.57 Blavatsky war eine wichtige Quelle für den frühen Kandinsky, ebenso für Itten und František Kupka. Ihrerseits orientierte sie sich eklektizistisch an zahllosen okkulten Quellen sowie der gesamten Philosophie- und Religionsgeschichte, aber auch an den Naturwissenschaften. Analog zu Klages beschrieb sie, Jahrzehnte vor diesem, die Rhythmik in der Natur gemäß dem »law of periodicity or of flux and reflux, ebb and flow, which physical science has observed and recorded in all departments of nature«.58 Einen Zusammenhang zwischen Theosophie und malerischer Praxis in diesem Sinne erörtert Hubertus Gaßner anhand von Kandinsky. Dieser habe »den Malprozess als Abbild der Weltentwicklung« verstanden, insofern im Malen »die rhythmischen Schwingungen der menschlichen Seele (Vibration) mit den ›Weltrhythmen‹ in Einklang gebracht werden können«.59 Solche Vorstellungen der Herstellung eines Einklangs zwischen Außen und Innen, Umwelt und Mensch, 53 | Ebd. 54 | Rikli 1890, S. 4. 55 | Hellpach 1935, S. 58. 56 | Ebd. 57 | Blavatsky zit.n. Schall 1989, S. 88. 58 | Ebd. 59 | Gaßner 2007, S. 58.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Körper und Seele waren für andere kulturelle Praktiken der Zeit im Kontext der Rhythmusbewegung ebenfalls grundlegend. Diese stützte sich maßgeblich auf die Esoterik und auf Klages.60 Für die bildenden Künstler bot die Rhythmusbewegung wesentliche Ansätze, die nicht nur auf Produktions-, sondern auch auf Wirkungskonzepte übertragen wurden.

6.2.2 Die Wiedergewinnung des natürlichen Rhythmus durch Bewegung und Kunst Die Gleichgewichtsordnung der Natur erhielt durch die Wahrnehmung der Arhythmie als Epochenphänomen im frühen zwanzigsten Jahrhundert ihre Relevanz.61 Als arhythmisch wurden, so Gabriele Brandstetter, »in der zeitgenössischen Medizin Unregelmäßigkeiten des Herzrhythmus und/oder gestörte Reaktionen des Nerven- und Muskelapparates« bezeichnet.62 Neurasthenie und Arhythmie bedingten einander somit. Die neurasthenische Überempfindlichkeit war mit der Nervosität – einer Disharmonie im Nervensystem und einem Verlust des inneren Gleichgewichtes – verbunden. Ein solches Attest stellte Itten in seiner Analyse des Vincent van Gogh-Gemäldes Caféterrasse bei Nacht (Caféterras bij nacht) von 1888 aus.63 An diesem beschrieb er ein »unausgewogene[s] Mengenverhältnis«: »Das grelle Gelb und Orange würde eine viel größere Menge Blauviolett erfordern, um ein harmonisches Gleichgewicht zu ergeben«.64 Jeder Punkt sei außerdem durchtränkt von dem »Fluidum der nervös erregten Persönlichkeit des Malers«.65 Das Nervöse bezeichnete so allgemein das nicht regelmäßig Gegliederte, das aus der Balance und ins Ungleichgewicht Geratene. Bereits in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Verlust des Einklangs mit den ursprünglichen Rhythmen der Natur vielfach unter Gesundheitsaspekten beklagt. In lebensreformerischen Aussteiger- und Künstlerkommunen suchte man nach Ursprünglichkeit, Entschleunigung und einem Aufgehen im

60 | Zur Klages-Rezeption siehe Rudolf Bode, Rhythmus und Körpererziehung. Fünf Abhandlungen, Jena 1923. 61 | Vgl. Brandstetter 2005, S. 34 und Asendorf 1984, insbes. S. 122-126. Zentrale zeitgenössische Schriften zur Diagnose der Arhythmie waren: Willy Hellpach, Nervosität und Kultur, Berlin 1902 und Georg Simmels Artikel »Die Großstädte und das Geistesleben« (erstveröffentlicht 1903), der die Folgen der großstädtischen Lebensrhythmen im Gegensatz zu den ländlichen beschrieb. 62 | Brandstetter 2005, S. 35. 63 | Nicht abgedruckt: Vincent van Gogh, Caféterras bij nacht (Caféterrasse bei Nacht), 1888, Öl auf Leinwand, 81 × 65,5 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo. Itten verwendet allerdings den Titel Das Café am Abend (Nachtcafé). 64 | Itten 1961, S. 94. 65 | Ebd.

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Ganzen der Natur.66 Dadurch sollte die seelische, geistige und körperliche Harmonie wiederhergestellt werden. Zu solchen Orten gehörte der Monte Verità in Ascona, wo sich fast alle der hier besprochenen Künstler einmal aufhielten.67 Aus einem ähnlichen Impuls speiste sich die Rhythmusbewegung. Hier, so Brandstetter, sollte eine »Re-Rhythmisierung […], durch Körpererfahrung, durch rhythmische Gymnastik und Tanz« erfolgen.68 Bei diesen Praktiken handelte es sich um Substitute für die verlorene natürliche Lebensweise im Rhythmus der Natur.69 Der Erzieher Émile Jaques-Dalcroze, welcher in Dresden-Hellerau 1912 die Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik begründete, ging wie viele seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen davon aus, dass der natürliche Rhythmus in Folge der Industrialisierung gestört worden sei: Rhythmus fasste er als einen ursprünglichen, naturgegebenen Zustand des Gleichgewichtes. Während anhand musikalischer und tanz- sowie bewegungstherapeutischer Praktiken Rhythmus als heilsames Prinzip vielfach untersucht wurde, ist dies für die bildende Kunst und im Hinblick auf Bildmodelle noch nicht geschehen. Eine Verbindungslinie konnte bereits über Gertrud Grunow aufgezeigt werden, die bei Jaques-Dalcroze in die Lehre gegangen war und ihre Harmonisierungslehre mit rhythmischen Praktiken verknüpfte. Diese sind allerdings von jenen Jaques-Dalcrozes zu differenzieren. Denn diesem wurde vielfach der Zugang zu einer natürlichen Rhythmik abgesprochen und ein Unterricht der »Taktdisziplin« vorgeworfen.70 Entgegen einer solchen Taktlogik sollten die Schüler/-innen bei Grunow ohne jegliche Choreographie ihrer Natur entsprechend individuell auf eine vorgegebene Folge von Farben und Tönen reagieren. Grunow ging davon aus, dass der ursprüngliche Einklang mit der Natur und ihren Kräften »abhanden gekommen« sei »durch zunehmende Zivilisation und schwindende Kultur«.71 Damit griff sie direkt Postulate der Lebensreform- und Rhythmusbewegung auf. Verbunden mit einem kosmologischen Verständnis der Natur ging es auch ihr um eine (Re‑)Harmonisierung mit der Umwelt. In ihrem »Bericht an das Kurhaus Waldesheim 66 | Dazu gehört etwa Worpswede, siehe einführend Guido Boulboullé u.a., Worpswede: Kulturgeschichte eines Künstlerdorfes, Köln 1989. 67 | Vgl. Kap. 2.5 zu Ascona; František Kupka hielt sich in der Karl Wilhelm DiefenbachKommune Hütteldorf auf und Paul Klees Auseinandersetzung mit Naturheilorten wurde ebenfalls bereits evident (Kap. 3.1.1). Johannes Itten ging nach seinem Ausscheiden vom Bauhaus in die Mazdaznan-Kolonie im Schweizer Herrliberg; vgl. Burchert a (in Vorbereitung). 68 | Brandstetter 2005, S. 36. 69 | Vgl. Burchert 2018a: Hier wird vertiefend auf Vorstellung und Problematik einer »(Re‑) Etablierung ›natürlicher‹, gesunder Existenzweisen« eingegangen. 70 | Osten 2009, S. 165. Solche Kritik kam etwa von Rudolf Bode, dazu siehe: Rudolf Bode, Rhythmus und Körpererziehung. Fünf Abhandlungen, Jena 1923. 71 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), in Radrizzani 2004, S. 76.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Düsseldorf-Grafenberg« schrieb sie 1920, »daß die Sinneskräfte des menschlichen Organismus als ein Abbild oder als ein Gleichnis allgemeiner kosmischer Lebensprinzipien aufzufassen sind«: »Je vollkommener, reiner die waltenden Gesetze der Natur sich im Mikrokosmos des Universums (dem menschlichen Organismus) erfüllen, umso lebendiger, gesunder, lebensstärker, lebensreicher, umso erfolgreicher wird der Mensch in der Natur, auf der Erde, in der Welt zu leben imstande sein; selbst im Gleichgewicht harmonisch und gesund.« 72

Das Erreichen von Gleichgewicht war für Grunow eng mit dem Rhythmischen verbunden, da sich ihrer Ansicht nach die Abläufe der Natur rhythmisch vollzogen. Grunow ging davon aus, dass die übende Verwirklichung ihres zwölfteiligen Farb- und Tonkreises identisch mit dem natürlichen »Lebensrhythmus« sei (Kap. 3.6): »[S]ie [die Gleichgewichtsordnung] liegt dem Rhythmus zugrunde, auf ihr baut sich der Rhythmus auf. Im Rhythmus wohnt durch diese Ordnung die Harmonie, die durch die richtigen guten Verhältnisse ausgemacht wird; und dadurch wirkt dieses sich in sich rhythmisierende Wesen der Bewegung harmonisierend, hebend und belebend. Diese Harmonie im Rhythmus ist die Harmonie in primärster Form, und sie besteht in der Einheit von Ton und Farbe […].« 73

Aus der Arbeit mit dem Gleichgewichtskreis ergab sich Grunow zufolge eine sowohl psychisch-geistige wie auch körperliche, rhythmische Bewegtheit, die sich für alle, unabhängig von Geschlecht und ›Rasse‹ als gleich erweisen sollte.74 Wie sich an den Evaluationen zeigte, die sie an den Meister- und später den Bauhausrat richtete, ging es Grunow darum, dass die Schüler/-innen sich lockern und öffnen, d.h. ihre Festigkeit, Schwere und Unausgeglichenheit verlieren.75 Was ›gesund‹ und ›natürlich‹ ist und was dagegen ›pathologisch‹ und ›arhythmisch‹ legte Grunow so ganz dezidiert fest. Wenngleich die Einfühlung in Farben und Töne je individuell erfolgte, so sollte am Ende durch Übung und die erfolgreiche ReRhythmisierung der Schüler/-innen ein sich aus den Naturgesetzen ergebendes Bewegungsmuster zeigen, das trotz des Universalismus Grunows individuelle Variationen zuließ. In den zahlreichen Schulen und Ausprägungen der Rhythmusbewegung ging es stets um die Verbindung von Körper, Geist und Seele. Grundlegend war der Delsartismus. François Delsarte (1811-1871) ging davon aus, »dass sich in den kör72 | Ebd., S. 70. 73 | Ebd., S. 71. 74 | Ebd., S. 72. 75 | Wahl 2001, S. 167-169; vgl. Burchert a (in Vorbereitung).

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perlichen Erscheinungen das Innere des Menschen spiegle, und dass die geistigen Phänomene im körperlich Lebendigen wurzeln«.76 Seine Idee der Einheit von Körper, Geist und Seele war für den modernen Ausdruckstanz grundlegend. Eine zentrale Figur war Gret Palucca (1902-1993), für die sich etwa Kandinsky, Klee und László Moholy-Nagy begeisterten.77 Palucca schrieb davon, dass ihre Tänze »keinen anderen Inhalt und Sinn als eben den Tanz, die natürliche Bewegung, gestaltet im Gleichklang mit der Musik haben«, und ergänzte: »Mein Wunsch wäre es, in meinen Tänzen ebenso frei und so gebunden zu sein, wie der Musiker. Frei von Inhalten und Symbolen, gebunden an Gesetzmässigkeiten.« 78 Die tänzerische Umsetzung naturrhythmischer Gesetze wird bei der amerikanischen, in Europa wirkenden Isadora Duncan (1877-1927) noch deutlicher. Sie rezipierte für ihr tänzerisches Konzept unter anderem Charles Darwin und Ernst Haeckel.79 Den Ursprung des Tanzes führte sie auf die Natur und antike Tempeltänze zurück. Die Tanzbewegungen basierten auf wogenden Naturrhythmen, »[t]he movement of waves, of winds, of the earth«,80 welche sie als genuin harmonische Bewegungsformen begriff. Ziel Duncans war ebenfalls die Harmonisierung von Körper und Geist durch naturrhythmische Bewegungen.81 Diesen Ansatz würde Klages allerdings kritisieren, so hatte dieser postuliert, dass sich natürliche Lebensprozesse unbewusst vollzögen und von der Regulierung des Geistes, deren Sinnbild der Takt ist, zu unterscheiden sind.82 Der Ausdruckstanz basierte auf ausgearbeiteten Choreographien und konnte sich gemäß dem Klages’schen Konzept so nicht als rein natürliches, unbewusstes Fließen vollziehen.83 Brandstetter problematisiert das geschilderte Konzept der Re-Rhythmisierung von einer anderen Seite als Klages, schließlich postuliere und essenzialisiere dieses eine Art Ur-Rhythmus, von dem etwa bei Grunow die Rede ist. Dieser natürliche Rhythmus werde der Logik der modernen Rhythmiker/-innen zufolge 76 | Senti-Schmidlin 2007, S. 14. Dieser Ansatz findet sich auch beim Tanzlehrer Rudolf Laban (1879-1958), der davon ausging, dass menschliche Bewegungen dem »Aufbau aller Natur« entsprechen: »Tanzgesetze sind Lebensgesetze«, lautete sein zentrales Postulat (Laban zit.n. Baxmann 2006, S. 90); vgl. auch Rudolf Laban, Die Welt des Tänzers, Stuttgart 1920. 77 | Senti-Schmidlin 2007, S. 35. 78 | Palucca 1987 zit.n. ebd., S. 34. Damit formulierte sie ein Ideal, das für die abstrakte Malerei gleichermaßen galt (Kap. 6.3). 79 | Duncan 1903, S. 11. 80 | Ebd., S. 12. 81 | Ebd., S. 24f.; zu Duncan siehe weiterführend Senti-Schmidlin 2007, S. 25-27. 82 | Klages 1934, S. 25. 83 | Dennoch ist der Ausdruckstanz von der rhythmischen Gymnastik nach JaquesDalcroze zu unterscheiden, der Bewegungsabläufe in seiner Lehre noch stärker regulierte. Ähnlich verhält es sich mit Grunow, die ihren Schülerinnen und Schülern schließlich explizit einen Zugang zu ihrem Unbewussten ermöglichen wollte.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

»einerseits durch die Mechanismen der Zivilisation verstellt, andererseits aber nur über diese zugänglich« 84 – paradoxer Weise häufig über Erlerntes und Einstudiertes. Kulturelle Praktiken und natürliche Prozesse standen nicht per se in Opposition zueinander. Die Rhythmusbewegung richtete sich gegen die Schäden der Industriezivilisation, während Kultur als potentiell naturaffin und nicht notwendig fortschrittsbegeistert gedacht wurde.85 Eben in diesem Sinne hatte Grunow den »durch zunehmende Zivilisation und schwindende Kultur« entstehenden Verlust des Gleichgewichtes beklagt.86 Eine andere, naturnähere Kultur barg das Versprechen, entstandenen Zivilisationsschäden entgegenzuwirken. Rhythmik als natürliches, harmonisierendes Prinzip war grundlegend auch in der von Rudolf Steiner in den zwanziger Jahren begründeten Eurythmie. Diese war getragen von dem Gedanken, »durch rhythmische Bewegungen, das Ätherische anregend und stärkend, gesundende und heilende Wirkungen hervor[zu]rufen«.87 Steiner orientierte sich nicht nur an Goethe, sondern auch an Haeckel, um, wie Janice Joan Schall herausstellt, sein Konzept einer durch einen vitalen rhythmischen Impuls durchwirkten Welt zu begründen.88 Im Menschen seien »alle Geheimnisse der Welt […] verborgen«: »Harmonie, Ordnung und Bedeutung« der Natur könne so in die »Gestaltung des Kunstwerkes« eingebracht werden.89 Durch die »eurythmische Kunst« erhalte der Mensch Zugriff auf diese kosmischen Gesetzmäßigkeiten, die in seinem Körper und seiner Seele bereits angelegt sind.90 So sollte es möglich werden, diese Gesetze mit dem gesamten Körper auszudrücken und seelisch wirksam zu machen. Auch durch die Anschauung eurythmischer Aufführungen, so Steiner, könne der Ätherleib zum Tanzen gebracht werden.91 Ziel war es, Leib und Seele durch äußere und innere Bewegung in Einklang zu bringen, der Harmonie des Kosmos entsprechend.92 Damit erhielt die Eurythmie ein »hygienisches Element« mit erzieherischen Funktio-

84 | Brandstetter 2005, S. 41f.; vgl. Burchert 2018a. 85 | Zu diesen Nuancen der Begriffe »Kultur« und »Zivilisation« seit dem 18. Jahrhundert vgl. Nünning 1998. 86 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), in Radrizzani 2004, S. 76. 87 | Clara Smits im Austausch mit Rudolf Steiner zit.n. Froböse/Froböse 1998, S. 8. 88 | Schall 1989, S. 92. 89 | Steiner 1953, S. 36f. Der Begriff der »Eurythmie« findet sich bereits bei Platon im Sinne des Ideals des Lebens im »richtigen Rhythmus« (Kugler 1995, S. 57) sowie als »wohlgefällige Bewegung beim Vortrag; Gleichmaß der Zeit; Gleichmäßigkeit des Pulsschlages; Ebenmaß; schönes Verhältnis« (Witzmann 1995, S. 608). 90 | Steiner 1953, S. 36f. 91 | Steiner, »Einführende Worte über Eurythmie« (München, 28. August 1913), zit.n. Froböse/Froböse 1998, S. 50. 92 | Ebd.

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nen.93 In der »Heileurythmie« als einer Sonderform94 sollte die »Regulierung des Atmungsprozesses […] auf die Regulierung des übrigen organischen Prozesses« übergehen.95 Sie stellte somit eine Form der Atemtherapie dar, wie sie ebenfalls die Mazdaznan-Lehre bot und durch Grunow angewendet wurde (Kap. 5.4, 6.5). Steiner stellte die Eurythmie in Zusammenhang mit Sprache und Musik, nur selten nannte er die bildende Kunst als Beispiel. Mit Bezug zu Impressionismus und Expressionismus bemerkte er positiv, dass es in beiden Kunstformen nicht darum gehe, Gedanken, sondern »Eindrücke künstlerisch festzuhalten«: »Die Kunst muß ohne die abstrakten Gedanken verlaufen. Hier in der Eurythmie haben wir die Möglichkeit, die abstrakten Gedanken auszuschalten.«96 Ziel einer solchen Kunst sei es, eine unmittelbare Wirkung auszuüben: Den Menschen betrachtete er als »Instrument dieser eurythmischen Kunst«, die »unmittelbar zu den Sinnen« spreche, und »unmittelbar in die Bewegungen übergeht«.97 Kunst sollte als rhythmische Bewegerin fungieren, die als eine Art natürliche Sprache nicht von Ideen, sondern von den kosmischen Naturgesetzen bestimmt war. Dabei stützte Steiner seine Argumentation auf die Lyrik Friedrich Schillers, der, so behauptete Steiner, »bei den bedeutsamsten seiner Gedichte zunächst nicht den wortwörtlichen Inhalt in der Seele hatte, sondern eine Art unbestimmter Melodie«.98 Auch bildende Künstler stellten sich der Aufgabe, zu einer Re-Rhythmisierung der Rezipierenden mithilfe ihrer Werke beizutragen. Neben Mazdaznan sowie ostasiatischen Mal- und Zeichenpraktiken stellte die Bauhauslehrerin Grunow ein wichtiges, bislang vernachlässigtes Bindeglied zwischen künstlerischer Praxis und Rhythmusbewegung dar.99 Sie bewegte sich mit ihrer Lehre schließlich auf der Schnittstelle von Einfühlungstheorie, Psychophysik und Heilskonzepten der Musik, die mit Blick auf Rhythmuskonzepte in der bildenden Kunst grundlegend wurden.

6.3 E infühlungstheorie und M usik als M odelle für naturrhy thmische B ildkonzep te Eine besondere Form der Verbindung von Betrachter/-in und Bild begründete sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Einfühlungstheorie. Die darin enthaltenen Rhythmuskonzepte wurden bislang wenig besprochen. Entwi93 | Steiner 1953, S. 29. 94 | Ebd., S. 36. 95 | Steiner 1999 (1920), S. 179. 96 | Steiner 1953, S. 26. 97 | Ebd., S. 27. 98 | Ebd., S. 28. 99 | Vgl. Burchert 2018a. Weiterhin siehe Veder 2015, S. 2 für den US-amerikanischen Kontext. In dieser Arbeit vgl. Kap. 5.4.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

ckelt wurde das ästhetische Konzept der Einfühlung durch Friedrich Theodor Vischer und dessen Sohn Robert Vischer, weiterentwickelt maßgeblich von Theodor Lipps im beginnenden 20. Jahrhundert. Peter Bernhard begründet die Relevanz von Lipps’ Einfühlungstheorie sowie weiterhin der Ausdruckskunde Ludwig Klages’ am Bauhaus so: Beide seien »am frühen Bauhaus viel diskutiert und in der Lehre umgesetzt [worden], da sie Möglichkeiten aufzuzeigen schienen, wie die Gestaltung der äußeren Umwelt auf den Menschen einwirken und ihn verändern könne«.100 Die Auseinandersetzung der Künstler mit der Psychophysik, die sich in ihren Annahmen und ihrer Methodik grundlegend von der Einfühlungstheorie unterschied, speiste sich aus einem ähnlichen Interesse. Das Verständnis des Bildes als temporärer Lebensraum, der die körperlichen, psychischen und geistigen Funktionen der Betrachtenden qua Rhythmus lenkt und bestimmt, wurde durch diese Diskurse geprägt.

6.3.1 Einfühlung, Psychophysik und Abstraktion Die Theorien von Lipps rezipierten Künstler häufig über Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung (1907). Das Modell der Einfühlung impliziert, so Robin Curtis, eine »involuntäre[…], instinktive[…] Mimikry an das Andere«.101 Dem Subjekt werde vom »sinnlichen Objekt eine Weise der apperzeptischen Thätigkeit« zugemutet, so Lipps 1923 im Aufsatz »Einfühlung und ästhetischer Genuß«.102 Der Ausdruck der Zumutung verweist darauf, dass es sich um einen Vorgang handelt, der nicht bewusst steuerbar ist. Dennoch wurde die Beziehung zum sinnlichen Objekt nicht als passive gefasst, sondern als Aktivität der Verlebendigung, so Christiane Voss: »Indem ich mich in einem aktiven Einfühlungsakt in einen Gegenstand hineinversetze, verlebendige ich diesen, und dieser Effekt wirkt auf mich doppelt zurück als a) Eindruck der Lebendigkeit der ästhetischen Erscheinung und b) als gefühlte Selbstobjektivation im ästhetischen Gegenstand«.103 Bei Johannes Itten findet sich diese Vorstellung sehr deutlich: »Ein Kunstwerk erleben heißt, dieses wiedererleben, heißt, sein Wesentliches, sein Lebendiges, das in seiner Form ruht, zu persönlichem Leben erwecken«.104 Ein Bild solle so lange angeschaut werden, bis es in den Betrachtenden »wirksam« werde.105 Es galt gemäß Itten, das Bild als Ganzes, in der ihm inhärenten Zeitlichkeit und Rhythmizität zu rezipieren, es zu beleben und durch das Bild belebt zu werden. 100 | Bernhard 2005, S. 31. Zur Rezeption der Einfühlungstheorie vgl. Schall 1989, S. 14. Auf Lipps stützte sich auch Kandinsky (ebd., S. 322). 101 | Curtis 2009, S. 12. 102 | Lipps 1923, S. 160. 103 | Voss 2009, S. 43. 104 | Ebd. 105 | Itten, »Wie lernt man Kunstwerke richtig sehen?« (1927), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 230.

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Lipps unterschied positive und negative Einfühlung: Erstere bedeute »dass ich die von einem Gegenstande her in mich eindringende Tätigkeit frei oder spontan aufnehme oder widerspruchslos zu meiner eigenen Tätigkeit mache«.106 Die positive Einfühlung bestehe in einem »Einklang zwischen dem mir fremden Leben und dem eigenen Lebensdrange oder Lebensbedürfnis, der eigenen Lebenssehnsucht«.107 Den Einklang setzte er dem Scheitern einer positiven Verbindung mit einem Objekt entgegen. So findet sich hier ein Harmonisierungsdiskurs, der in den Lehren Gertrud Grunows, Ittens sowie Otto Nebels eng mit Rhythmuskonzepten verbunden wurde. Lipps selbst ging von einer rhythmischen Ordnung der Seele beziehungsweise einem Bedürfnis der Seele nach Rhythmus aus. Wie Paul Moos 1909 in einem Artikel zusammenfasste, nahm Lipps an, »die Rhythmik des Rhythmus übertrage sich gewissermaßen analog zum physikalischen Vorgang – unmittelbar in eine Rhythmik der Seele«.108 Der Rhythmus in Dichtung und Musik besitze die Macht, »die Seele in einer ihm entsprechenden Weise zu rhythmisieren«.109 Voraussetzung sei, sich betrachtend dem Objekt hinzugeben und »betrachtend darin [zu] verweilen«.110 So avanciert das Objekt – in Form eines Gedichtes etwa – potentiell zu einem temporären Lebensraum der Seele. Das »geniessende Schauen« und »geniessende[…] Sichausleben im Kunstwerk« beschrieb Lipps als inneres »Hin- und Hergehen«, als Erleben eines »Pulsschlag[s] des inneren Lebens«.111 In der Rezeption wird das Werk demnach mit dem Pulsschlag der Rezipierenden belebt.112 Lipps bestimmte das malerische Werk als einen »Raum, in welchem Menschen und Dinge sind, leben und atmen und zueinander in lebendiger Beziehung stehen«.113 Dieser Raum sei von Kraft durchströmt: »Kraft, Gesundheit, Geschmeidigkeit des körperlichen Lebens, auch die körperliche oder durch den Körper vermittelte Willenstätigkeit ›liegt‹ in den körperlichen Formen«.114 Er nannte Bewegungsrichtungen, Gesten und damit verbundene Gefühlsausdrücke von Figuren als Beispiele solcher Bewegungsformen. Dazu trat die Stimmung als Element, das schwerer zu greifen und von Lipps gleichermaßen rhythmisch gefasst wurde. Zur Stimmung verdichte »sich das unendlich vielgestaltige Hinund Herweben der Kräfte durch den Raum, insbesondere das leichte Hin- und 106 | Lipps 1906, S. 22. 107 | Ebd. 108 | Moos 1909, S. 349. 109 | Ebd. 110 | Lipps 1906, S. 34. 111 | Ebd., S. 97. 112 | Dies erinnert besonders an Überlegungen Rudolf Blümners (Kap. 6.1) und Theodor W. Adornos (Kap. 1.3). 113 | Lipps 1906, S. 184. 114 | Ebd., S. 184.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Herweben des Lichtes«.115 Zusätzlich verglich er das Erleben des malerischen Raumes mit dem Erleben des Klanges und dessen »Widerhall […] in einem weiten Raume, etwa im Walde oder einer weiten Halle«.116 Ähnlich der Stimmung oder Atmosphäre in der Malerei lasse ein Klang »nicht nur die Schwingungen dieses Tones [hören], sondern zugleich das Mitschwingen alles dessen, was in dem Raume mitzuschwingen vermag«.117 Diese Vorstellung des Bildes als vibrierender Klang- oder Resonanzraum war für die Lebensraumkonzepte in der Malerei ebenfalls grundlegend. Die Bewegung, die sich in der Rezeption eines Kunstwerkes in den Betrachtenden vollzieht, definierte Lipps als rein innere Bewegung, deutete aber über die Seelen- und Gefühlsbewegung hinaus eine mögliche Affizierung des Körpers an. Er bezog sich auf die »verwandte Meinung derjenigen, die an die Stelle der inneren Tätigkeit, […] statt der Augenbewegungen irgendwie sonstige ›Tätigkeiten‹, Bewegungen, Spannungen in den körperlichen Organen setzen wollen, die wir erleben, wenn wir uns den räumlichen Gebilden betrachtend hingeben«.118 So könne sich im ästhetischen Erleben und der damit einhergehenden »innerliche[n] Bewegung oder Tätigkeit« ein körperlicher »Widerhall« vollziehen, etwa in Form von »Veränderungen in den Bewegungen des Atmens und des Blutumlaufes« oder von »Organempfindungen«.119 Allerdings widersprach Lipps der Annahme, dass die Organempfindungen »den ästhetischen Genuss konstituieren oder dazu einen Beitrag liefern«, sie seien höchstens ein Nebeneffekt.120 Lipps bezog sich deutlich auf die moderne Psychophysik, distanzierte sich aber zugleich von einer psychophysischen Ästhetik, indem er allein das innere Empfinden und Bewegtsein als konstitutiv für die Einfühlung begriff. Einfühlungstheorie und psychophysische Modelle wurden hingegen trotz ihrer Gegensätzlichkeit in den Konzepten der abstrakten Künstler mitunter verbunden.121 Ähnlich standen Einfühlungstheorie und Abstraktion in der Kunstphilosophie des 20. Jahrhunderts einander eigentlich konträr gegenüber: Ein entscheidender Anknüpfungspunkt zu ökologischen Konzepten lag in Worringers Schrift Abstraktion und Einfühlung, in welcher er Kunst- beziehungsweise Stilgeschichte und »Weltgefühl« in einen Zusammenhang brachte, wobei er unter ›Weltgefühl‹ den »psychischen Zustand« verstand, »in dem die Menschheit jeweilig sich dem Kosmos gegenüber, den Erscheinungen der Außenwelt gegenüber befindet«.122

115 | Ebd., S. 189. 116 | Ebd., S. 191f. 117 | Ebd., S. 192. 118 | Ebd., S. 415. 119 | Ebd., S. 426. 120 | Ebd., S. 429. 121 | Vgl. Kap. 3.2-3.3. 122 | Worringer 1959 (1908), S. 46.

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Kunst konnte so Ausdruck eines affirmativen oder krisenhaften Verhältnisses zur Umwelt sein. Bedingung für die Ästhetik der Einfühlung war gemäß Worringer ein »pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen«.123 Dem entgegen stellte er den Abstraktionsdrang, der sich durch eine »ungeheure geistige Raumscheu« und eine »transzendentale[…] Färbung aller Vorstellungen« auszeichne.124 Er beschrieb die Abstraktion als Symptom eines »Angstgefühl[s]«,125 während Einfühlung mit einem einklänglichen Verhältnis zur Umwelt einherging. Für die Abstraktion galt dies eben nicht, denn Voraussetzung für die ästhetische Einfühlung sei die Organik der Kunstmittel im Gegensatz zum »lebensverneinenden Anorganischen, […] Kristallinischen«, das Worringer der Abstraktion zuordnete.126 Worringer verwendete Begriffe wie ›Abstraktion‹ und ›Naturalismus‹ in einem anderen Sinne als die hier betrachteten Künstler.127 ›Naturalismus‹ meinte bei ihm die »Wiedergabe organisch-schöner Lebendigkeit«,128 es ging ihm nicht um die Nachahmung eines Naturvorbildes, sondern um eine »Annäherung an das Organisch Lebenswahre«.129 Die Verschmelzung mit der Umwelt war für eine solche Kunstproduktion zentral. So heißt es in Formprobleme der Gotik (1912): »Mit vollen Sinnen gibt sich der klassische Mensch der sinnlichen Erscheinungswelt hin, um sie nach seinem Bilde umzuprägen. Nichts Totes gibt es mehr für ihn, alles beseelt er mit seinem Leben. Künstlerisch schaffen heißt für ihn, den ideellen Verschmelzungsprozess seines eigenen Lebensgefühls mit der lebendigen Umwelt anschaulich festzuhalten […].«130

Diese Vorstellung einer belebten Umwelt findet sich auch in den dargelegten Künstlerpositionen: Der Impetus, Bilder zu erzeugen, die in den Raum hineinstrahlen, eine verlebendigende Atmosphäre bilden und deren naturäquivalente Rhythmik direkt in die Rezipierenden eindringt, fügen sich in Worringers Postulate fast nahtlos ein. Worringers Begriff der Abstraktion ist also ein genuin anderer als der Wassily Kandinskys, Paul Klees, Ittens und Nebels. Worringer schrieb schließlich nicht über die Kunst der Avantgarden, sondern über die Kunst zwischen der Antike 123 | Ebd., S. 49. 124 | Ebd. 125 | Ebd. 126 | Ebd., S. 36. 127 | Vgl. Asendorf 1984, S. 145, welcher darauf hinweist, dass Worringer die moderne Einfühlungsästhetik des Fin de Siècle nicht berücksichtigt. 128 | Worringer 1959 (1908), S. 47. 129 | Ebd., S. 62. 130 | Worringer 1912, S. 23.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

und dem 19. Jahrhundert, insbesondere über den Gegensatz von Klassik und Gotik,131 und nicht etwa über den Biomorphismus, welcher Abstraktion und organische Lebendigkeit deutlich miteinander verband.132 Piet Mondrian und De Stijl können hingegen als Beispiele der ›geistigen Raumscheu‹ von Abstraktion geltend gemacht werden (Kap. 3.8.1). Für die hier in den Fokus gerückten Künstler traf dies nicht zu. Zwar lässt sich ein gestörtes Verhältnis zur urbanen, arhythmischen Umwelt als Ausgangspunkt der besprochenen Bild- und Wirkungskonzepte definieren, allerdings führte beides nicht zu einer der Natur und dem Leben abgewandten Kunst, sondern zum Entwurf einer alternativen, belebten Umwelt im Bild. Auch die starke Trennung, die Worringer zwischen der Zuwendung zu organischer Lebendigkeit auf der einen und Vergeistigung auf der anderen Seite postulierte, lässt sich mit den Befunden dieser Studie nicht in Einklang bringen. Ganz im Gegenteil hängen diese Pole bei Kandinsky, Itten und Nebel sogar eng zusammen.133 Abstraktion und Einfühlung wurden nicht als Gegensatzpaar, sondern als untrennbarer Zusammenhang verhandelt. Dementsprechend passten die Künstler Worringers Gedanken für ihre Zwecke an. Schließlich gingen sie nicht nur von einer direkten Einwirkung abstrakter Kunstwerke auf die Rezipierenden aus, es waren zudem Äquivalente zu dezidiert anorganischen Phänomenen – Licht- und Luftqualitäten –, die eine belebende Ästhetik begründeten und analog zu organischen Wirkungszusammenhängen wie Puls und Atem beschrieben wurden. Konturierte die Einfühlungstheorie das übergeordnete Bildmodell – nämlich das des Bildes als rhythmisierter Raum, mit dem die Rezipierenden in einen intensiven, belebend-verlebendigen Austausch treten konnten –, lieferten psychophysische Diskurse weitere Begründungen für eine direkte, nicht nur psychische, sondern auch physiologische Einwirkung der ästhetischen Stimuli auf die Betrachtenden. Der Psychophysiker Wilhelm Wundt ging etwa von einem »Wohlgefallen[…] am Rhythmus« sowie einer »rhythmische[n] Gliederung der Wahrnehmung« durch rhythmische Reize aus.134 Auch er postulierte, dass die Rhythmen direkt auf die Rezipierenden übergehen und eine wohltuende Wirkung entfalten können. An Atem, Puls und anderen Biorhythmen wurden solche Wirkungen im Labor gemessen. Ein weiterer Bereich, der mithin auf der Schnittstelle von Einfühlungstheorie und Psychophysik Wirkungskonzepte der bildenden Kunst stützte, war die Musik.

131 | Zu dieser Problematik siehe weiterführend Flach 2016, S. 60-68. 132 | Zur Verbindung von Kunst und Lebendigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Papapetros 2012; vgl. weiterhin Kap. 1.2. 133 | Vgl. Asendorf 1984, S. 145. 134 | Allesch 1987, S. 354.

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6.3.2 Natürliche Rhythmen in Musik und abstrakter Malerei 135 Die Vorbildfunktion der Musik für die abstrakte Malerei wurde schon vielfach untersucht.136 Auch in dieser Arbeit kamen Bezüge wiederholt zur Sprache. So wollte nicht nur Mark Rothko seiner Malerei eine Wirkmacht verleihen, die derjenigen der Musik entspricht (Kap. 5.6). Musik und Malerei trafen sich zudem in der Vorstellung einer klimatischen Lufthaltigkeit von Kompositionen (Kap. 5.2.2). Aus der historischen Annahme einer natürlichen Ordnung und Rhythmik der Musik leitet sich die Überzeugung von ihrer besonderen Heilskraft ab, auf welche sich die hier betrachteten Künstler bezogen. Musik galt schon in der Antike als eng verbunden mit dem menschlichen Puls. Dieser fungierte als »Vorbild und praktisches Richtmaß für den Ablauf der Musik«.137 Friedrich Nietzsche rekurrierte im 19. Jahrhundert auf die therapeutischen Potentiale des musikalischen Rhythmus:138 »[L]ängst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affekte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verlorengegangen war, mußte man tanzen, in dem Takte des Sängers – das war das Rezept dieser Heilkunst.«139

An anderer Stelle sprach Nietzsche hingegen von der »schädliche[n] Wirkung« der Wagnerischen Musik, die die Hörer/-innen in »physiologische[…] Nothstände« versetze und zu Symptomen wie »unregelmäßige[m] Athmen, Störung des Blutumlaufs, extreme[r] Irritabilität mit plötzlichem Coma« führen könne.140 Unregelmäßigkeiten und Stockungen konnten demnach das natürliche Gleich135 | Vgl. den Abschnitt »Ein Modell für die Künste: Musik als Luft-, Lebens- und Atemraum« in Burchert b (in Vorbereitung) sowie Kap. 6.2.2, denn Musik, Gesang und Tanz waren zudem in der Lebensreform- und insbesondere der Rhythmusbewegung von Bedeutung. 136 | Grundlegend sind Hajo Düchting/Jörg Jewanski, Musik und Bildende Kunst im 20. Jahrhundert: Begegnungen – Berührungen – Beeinflussungen, Kassel 2009, Frisch 2007, S. 88-137 und Maur 1985. 137 | Kümmel 1977, S. 13. 138 | Siehe Leonhard 2013, S. 218-228 zur heilenden Praxis des barocken Tarantismus. Über tänzerische Bewegungen zu Musik wurde hier eine Art Reise durch eine imaginäre Klanglandschaft mit wechselnden Instrumenten sowie dunklen zu hellen, tiefen zu hohen Tönen unternommen, die elementaren Qualitäten wie Feuchtigkeit und Trockenheit, Kälte und Wärme entsprachen. Die vom Schlangenbiss Vergifteten sollten »im Tanzen die vier Elemente durchlaufen« (ebd., S. 226) und so durch Verflüssigung und Erwärmung der Körpersäfte geheilt werden. 139 | Nietzsche 1990 (1887), S. 93. 140 | Nietzsche zit.n. Barck 2000, S. 388.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

gewicht stören. Bereits durch Herophikos im 3. Jahrhundert v. Chr. sind Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen Musik und Puls überliefert.141 Durchblutung, Kräftigung des Herzens und die Anregung des Pulses wurden auch im Mittelalter in den Blick der Musiktherapie genommen142 und im 17. Jahrhundert empfahl Athanasius Kircher »Rhythmen zur Regulierung des Stoffwechsels«.143 Die Vorstellung eines harmonischen Ein- und Zusammenklanges mit der natürlichen Ordnung war für die Musiktherapie von Anbeginn zentral. Seit Platon galt, so Klaus-Jürgen Sachs, die »durch Proportionen faßbare Harmonia« als wirksame Kraft »im Makrokosmischen des Weltalls wie im Mikrokosmischen der menschlichen Seele und […] auch der vitalen Vorgänge im menschlichen Körper«: »Die Seele […] sei darauf angelegt, in harmonischen Verhältnissen zu ›schwingen‹ und so auch die Körperfunktionen zu regeln«.144 Durch die Musik sollten Verstimmungen behandelt werden.145 Wie Klaus Bergdolt herausstellt, gebrauchte Platon das »Beispiel der Leier, um die ›musikalische‹ Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, das ›Zusammenklingen‹ seiner eigenen Existenz darzustellen«.146 Nebel sprach in diesem Sinne von den »Farbformen einer stimmenden, nicht verstimmenden Malerei«, die »so beschaffen und gegeneinander abgewogen sein [müssen], daß für das Auge und nicht minder für den höheren Gleichgewichtssinn des Menschen jener gewisse feine Zwang entsteht, immer wieder den Bildschritt von Bildteil zu Bildteil, vom Bildteil zum Ganzen zu tun«.147 Durch die Rezeption von Bildern könne der Mensch so wieder richtig gestimmt werden. František Kupka warnte seinerseits, dass die Kunst »deprimieren und verstimmen« und so ihre Aufgabe verfehlen könne, »die Menschen [zu] erbauen und [zu] stärken«.148 Der Schweizer Arzt Maximilian Bircher-Benner stellte Anfang des 20. Jahrhunderts explizit Verbindungen zwischen Musik und Naturheilkunde her, wenn er vom Leben als »in riesigen Akkorden aufgebautes Kunstwerk der Schöpfung, als eine grandiose Symphonie« sprach.149 Dies erinnert nicht nur an Robert Delaunays Werkauffassung. Auch Kandinskys Verständnis der Werkgenese als »donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind«,150 enthält die Bezugnah141 | Bruhn/Rösing 1993, S. 21. 142 | Bruhn 1993, S. 383. 143 | Ebd., S. 384. 144 | Sachs 2005, S. 43. 145 | Ebd., S. 43f. 146 | Bergdolt 1999, S. 66. 147 | Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), in Radrizzani 1988, S. 44f. Dazu vgl. Storch 2015, S. 198f. 148 | Kupka 2001 (1923), S. 137. 149 | Bircher-Benner 1937, S. 17; vgl. Kap. 4.1. 150 | Kandinsky 1977 (1913), S. 24.

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me auf die Symphonie: »Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluss eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung«.151 Das Symphonische als das Zusammenklingende galt so als das Einklängliche, das positiv auf den Menschen einwirken sollte. Allerdings fußte Kandinskys Harmoniebegriff auf Widersprüchen: »Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie«, schrieb er schließlich in Über das Geistige in der Kunst.152 Auf der Harmonie als Aushandlung von Gegensätzen basiert zugleich der naturheilkundliche Gesundheitsbegriff, den Bergdolt zu musikalischen Prinzipien in Beziehung setzt: »Wie sich in der Gesangs- und Instrumentalkunst das Zusammenspiel des Hohen und Tiefen, des Schnellen und Langsamen auf Zahlen gründet, beruhe auch die Gesundheit auf einer Vereinigung des Gegensätzlichen«.153 Dabei handelte es sich um die Annahme eines allgemeinen Lebensprinzips, das für die Rhythmuskonzepte Klees, Ittens, Burchartz’ und László Moholy-Nagys grundlegend war. Neben der Auseinandersetzung mit generellen musikalischen Prinzipien bezogen sich Künstler konkret auf bestimmte Komponisten. Für Itten154, Kupka155 und Klee156 ist ein besonderes Interesse für Johann Sebastian Bach überliefert, der gerade um 1900 unter dem Aspekt der Heilsamkeit rezipiert wurde. In einer Ausgabe der Zeitschrift Die Musik wurden 1906 Reaktionen auf die Frage »Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?« von prominenten Musikschaffenden und -theoretikern veröffentlicht. Der Musik Bachs sprach man hier sehr einhellig eine therapeutische Wirkung gegen die Neurasthenie, gegen alles Unnatürliche und Disharmonische zu. Insbesondere verglich man seine Musik immer wieder mit einer natürlichen Medizin – mit dem Eintauchen in eine Heilquelle oder mit der Einnahme von heilsamem Wasser.157 Itten hatte die Lebenswirksamkeit seiner Kunst maßgeblich auf das Modell der regelmäßigen Atmung bezogen und stützte sich dabei auf die Musik (Kap. 5.4, 6.6). Bach schrieb er das linear-sukzessive, Arnold Schönberg das farbige, räumlich-gleichzeitige Prinzip zu:158 »Im Linearen lässt sich der zeitliche Atemrhythmus rein darstellen, eben als ein Nacheinander in der Horizontalen. Beim 151 | Ebd. 152 | Kandinsky 1952 (1911), S. 114. 153 | Bergdolt 1999, S. 66. 154 | In seinem Tagebuch nennt Itten etwa die Tonlehre Bachs, für die ein Äquivalent in der Malerei noch fehle (Itten, Tagebucheintrag zwischen dem 3. und 5.9.1918, in BaduraTriska 1990, S. 335). 155 | Bach 1985, S. 339. 156 | Vgl. Bartsch 2014, S. 63. 157 | Frisch 2007, S. 141f. Dieser zitiert aus Die Musik 1, 1906, hg. v. Bernhard Schuster, Berlin/Leipzig 1906. 158 | Itten, Tagebucheintrag vom 3.11.1918, in Badura-Triska 1990, S. 281.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Farbigen oder Harmonischen (musikalisch) wird das Nacheinander des Atemrhythmus als ein Gleichzeitiges oder in der Senkrechten (Musik) dargestellt«.159 Als Beispiele für die Gleichzeitigkeit könnten seine abstrakten Farbkompositionen, für das Sukzessive die linearen Rhythmusstudien aus dem Unterricht gelten. Allerdings ergaben ja auch letztere einen organischen Zusammenhang, waren nicht von links nach rechts lesbar und konstituierten somit eine Gleichzeitigkeit. Die Übertragung dieser theoretischen Überlegungen auf Ittens Werke bedürfte daher noch einer genaueren Betrachtung. In jedem Fall setzte er Musik und den heilsamen Atem in einen engen Zusammenhang. Wie schon in seinem Gedicht von 1918 deutlich wurde, identifizierte Itten die Bach’sche Musik mit einer kosmologisch-musikalischen Ordnung der Natur (Kap. 6.1). Mit Schönberg, auf den Itten zugleich rekurrierte, lässt sich dies auf den ersten Blick nicht vereinbaren. Die Zwölftonmusik der Wiener Schule um Schönberg, Anton Webern und Josef Matthias Hauer wies jedoch, trotz ihrer erneuernden Radikalität, Parallelen zu den hier beschriebenen Traditionen auf.160 Itten und Hauer standen zwischen 1919 und 1921 in engem Kontakt (Kap. 3.6). Hauer habe, so Angelika Abel, seinerseits nach der Erzeugung einer kosmischen »Totalität« in seinen Kompositionen gestrebt, die »zur Zeit, da er komponierte, gerade fragwürdig geworden war«.161 Obwohl der klassische Harmoniebegriff in der Zwölftonmusik verabschiedet wurde, blieb der Ausgleich zwischen »Spannungen und Verspannungen« zu einem »ausbalancierten System« für Hauer im Rekurs auf das kosmologische Denken zentral.162 Hauer widmete sich seit 1917 der Arbeit an einem zwölfteiligen Farb-Tonintervall-Kreis. Statt seiner kam Grunow ans Bauhaus, die dort ihr System weiterentwickelte, in dem ebenfalls zwölf Farben und Töne einander nach ihren Wirkungen auf Körper und Seele zugeordnet waren.163 Das Potential der Heilkraft der Töne stand bei Grunow, anders als bei Hauer, im Vordergrund. Dies unterstrich Lothar Schreyer: »Wir waren überzeugt, daß es unser Auftrag sei, durch unsere künstlerische Arbeit die seit Jahrhunderten mißachtete oder vergessene Harmonielehre der bildenden Kunst wieder aufdecken zu helfen und dadurch zu einem objektiven Maß für die bildende Kunst beizutra159 | Ebd. 160 | Vgl. Streit 2015, S. 29. 161 | Abel 1982, S. 20f. 162 | Ebd., S. 31. Damit nahm Hauer Bezug auf Friedrich Schellings Kunstbegriff, demzufolge der musikalische Rhythmus sich in einem Analogieverhältnis zur »Bewegtheit des Weltalls« befinden sollte (ebd., S. 227). Abel betont die Kontinuität dieses Denkens bis in die abstrakte Avantgarde hinein, insbesondere bei Kandinsky, Itten und Klee. 163 | Dabei fällt insgesamt auf, dass sich die Zuordnungen innerhalb dieser Systeme stets von Theoretiker/-in zu Theoretiker/-in unterscheiden, zumal auch mal Töne (Grunow), mal Intervalle (Hauer) untersucht und mit Farben gleichgesetzt wurden.

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Das Bild als Lebensraum gen, wie es die Musik in Harmonielehre und Kontrapunkt längst kennt. […] Wir alle danken Gertrud Grunows Lehre Entscheidendes.«164

Im Fokus der Lehre Grunows standen wie bei Itten der Rhythmus und, damit eng verbunden, der gesunde Atem. Eine Aufschlüsselung verschiedener Atemrhythmen in Farb- und Tonräumen erfolgte in Der Gleichgewichtskreis.165 Allerdings könnte diese detaillierte Systematik, zusammen mit Überlegungen zur Einwirkung des Gleichgewichtskreises auf »Diastole und Systole des Herzens« sowie arteriellen und venösen Blutkreislauf,166 von Gerhard Schunke stammen. In jedem Fall postulierte Grunow das Einwirken von Ton und Farbe auf die Atmung. Der Atem regle sich im Durchgang durch den Gleichgewichtskreis »von selbst, und zwar in universellerer Weise als durch Atemübungen«.167 Nicht nur Hauer und Grunow, auch Hans Kayser suchte nach einer »gemeinsamen Formel« von Ton und Farbe.168 Dabei orientierte er sich – als einer der wenigen neben Nebel – ganz offen an Grunow.169 Seine Schriften wurden von Itten, Klee, Nebel, Kandinsky und Burchartz rezipiert.170 Nebel hatte wohl mit Kayser über die Grunow-Lehre diskutiert und ihn an diese herangeführt.171 Kayser nahm in seiner Publikation Der hörende Mensch. Elemente eines akustischen Weltbildes, die er 1918 begann und 1930 beendete, zudem Bezug auf den Blauen Reiter und auf die Berliner Itten-Schule.172 Orpheus: Vom Klang der Welt. Morphologische Fragmente einer allgemeinen Harmonie von 1926 beginnt mit dem Novalis164 | Schreyer 1956, S. 191. 165 | Weiß: »leichter, ruhiger, quasi lichter und friedlicher Atem«, Terracotta: »mutiger und selbstsicherer Atem«, Blau: »ruhiger« Atem »eines in sich ruhenden, fröhlichen Menschen«; Rotviolett: »hastiger und unsicherer« Atem »eines unruhigen, gierigen Menschen«; Grünblau: »fieberhaft gespannt bewegter Atem«; Grün: »energisch und bestimmt«, Silber: »gleichmütig, fast gleichgültig«; Rot: »aufgeregt, lebhaft und kräftig«, Grau: »egoistischer, grausamer Atem«; Blauviolett: »starker, fester und zugleich schwerer Atem, eines in Glauben und Demut gefestigten Menschen von Charakter und Überzeugung«; Braun: »gewaltiger und dämonischer Atem«; Gelb: »gefestigter und tiefer Atem« (Preiß 2001, S. 65f.). 166 | Ebd., S. 54. 167 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), in Radrizzani 2004, S. 71; vgl. Kap. 6.5. 168 | Maur 1985, S. 14. 169 | Kayser 1993 (1930), S. 296. 170 | Zu Itten vgl. Brief an Hildegard Itten vom 22.8.1930, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 79; zu Klee: Eggelhöfer 2014, S. 143; zu Itten und Klee vgl. Wagner 2007, S. 48; zu Nebel: Bhattacharya-Stettler 2012, S. 195; Nebel, »Worte zur Geistigen Malerei« (1945), in Radrizzani 1988, S. 42. Kaysers Der hörende Mensch: Elemente eines akustischen Weltbildes gehörte zu den Lektüren Nebels und Kandinskys. Zu Burchartz siehe Burchartz 1949, S. 207. 171 | Bhattacharya-Stettler 1982, S. 62. 172 | Kayser 1993 (1930), S. 299.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Zitat: »O, daß der Mensch die innere Musik der Natur verstände.«173 Die strengen Zahlenverhältnisse, auf der die universalen Harmoniegesetze fußen, äußern sich gemäß Kayser in der Musik als »Spannungen« und gelten ebenso für den Auf bau und die Funktion von Körper und Seele wie im gesamten Universum.174 »Der Gedanke, daß das Wort des Dichters immer dann am nachhaltigsten wirke, wenn der Rhythmus des Kosmischen aus ihm klinge, ist freilich platte Alltäglichkeit«, heißt es weiter.175 Daran zeigt sich, wie selbstverständlich diese Ansicht für ihn und wohl auch in seinen Kreisen war. Dabei berief Kayser sich wiederum auf Worringers Abstraktion und Einfühlung, um eine abstrakte Kunst auf der Basis von Naturgesetzen, als eine unpersönliche Kunst also, frei von subjektiven Gefühlen, zu begründen.176 Diese stützte sich auf die »rhythmische Gesetzmäßigkeit« der Natur (Wilhelm Bölsche).177 In Der hörende Mensch bezog sich Kayser außerdem auf die pythagoreische Theorie der Sphärenharmonie178 und beschrieb die Äquivalenz von Elektrizität und Ton, die – ebenso wie das Licht – sich in Form von Schwingungen, als »rhythmische[s] Auf und Ab« äußerten.179 An späterer Stelle verglich er ähnlich wie der Musiktheoretiker Ernst Kurth die »zeitliche[…] Quantelung der Tonentwicklung« mit dem »Phänomen des Atmens«.180 Kurth machte die Idee, Leben beziehungsweise Lebenskraft aus der Musik zu ziehen, besonders explizit. Auf ihn rekurrierten Kandinsky, Klee und Itten (Kap. 5.2.2). In seiner Habilitation zum Kontrapunkt zeigt sich ein dezidiert biorhythmisches Musik- und Kunstverständnis. Das Wesen der Bach’schen, polyphonen Kompositionen beschrieb er folgendermaßen:181 »[…] Entspannungen wechseln mit anschwellender Spannkraft der formenden Bewegung, Ruhepunkte und wiederholtes Absetzen im gestaltenden Zuge scheiden langatmige und kürzere, in jäher Bewegung erformte oder in gleichmäßigeren Wellungen verlaufende melodische Strecken. Innerhalb solcher Strecken, die als geschlossene Formung einer Bewegungskraft, als ein nicht mehr in Abschnitte zerfallendes, lineares Ganzes erstehen, 173 | Kayser 1926, o.S. 174 | Ebd., S. XI. 175 | Ebd., S. XVII. 176 | Ebd., S. XVIII-XIX; vgl. 6.3.1. 177 | Ebd., S. 85. 178 | Kayser 1993 (1930), 170. 179 | Ebd., S. 142. 180 | Ebd., S. 238; vgl. Kap. 5.2.2. 181 | Beim »Kontrapunkt« handelt es sich um die »Technik der Komposition mehrstimmiger Musik, die mehrere selbständige, jedoch aufeinander bezogene musikalische Ereignisse unter Beachtung von vorgegebenen Grundbedingungen zu einem sinnvollen Satz zusammenfügt« (Massenkeil/Noltensmeier 1996a, S. 760). »Polyphonie« meint die »Mehrstimmigkeit im Gegensatz zur einstimmigen Musik«. Polyphonie und Kontrapunkt wurden im 19. Jahrhundert »weitgehend gleichbedeutend« verwendet (Massenkeil/Noltensmeier 1996b, S. 693f.).

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Das Bild als Lebensraum herrscht aber ein einheitlicher Zug einer Erspannung, wie ein einziger Atem, in dem die Erformung aus melodischer Energie keine Unterbrechungen und kein volles Absetzen mehr erfährt.«182

Kurth schilderte die melodische Linie als ein atmend-fließendes An- und Abschwellen. Das Motiv des »Atem[s] von Weitung und Verengung«183 als Merkmal von Kompositionen wurde von ihm immer wieder aufgegriffen. Hauer hatte dieses »Kräftekonzept« von Kurth übernommen.184 Klees Bildauffassung und Kurths Vorstellung der melodischen Atemlinien, so wird noch deutlich, weisen besonders große Ähnlichkeiten auf.185 Den Terminus der Welle und verwandte Begriffe gebrauchte Kurth zur Beschreibung musikalischer Werke und Melodien. Als Wellenform beschrieb er den »Bewegungsdrang« in der Musik.186 Ebbe und Flut, Anspannung und Entspannung sowie das rhythmische Fließen entsprechen Vorstellungen des Natur- und Biorhythmischen, wie bereits anhand von Klages gesehen. Kurth versuchte, die Musik als eine Art Bio- und Naturmacht zu begründen. So sprach er vom harmonischen Erklingen der Musik als »Naturgewalt«.187 Seine Vorstellung des Erlebens von Musik erscheine, so Bartsch, als »vom Körper scheinbar losgelöste[s] Drängen nach Hingabe an ein größeres Ganzes, das in seiner virtuellen Körperlichkeit ebenso unausweichlich erscheint, wie Naturereignisse der anorganischen Welt«.188 Dies erinnert an Ittens Modell des bedingungslosen Aufgehens der Rezipierenden im Werk und passt sich in die Anschauung des Kunstwerkes als naturrhythmisch durchwirkter Licht-, Luft- und Lebensraum ein. Die Rezeption von Musik stellte Kurth als »Erleben einer Bewegung« dar, die sich aber nicht nur aus der sinnlichen Wahrnehmung ergibt: »[D]ie Bewegungsempfindungen, die wir als die verbindende, durchströmende Kraft zwischen den Tönen zu erkennen haben und die unterhalb der sinnlichen Intensität des Ertönens gar nicht mehr bewußt werden, weisen auf tragende und erzeugende Urvorgänge des

182 | Kurth 1956 (1917), S. 21. Auch wenn biologische Metaphern in der Musiktheorie bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts üblich waren (Bartsch 2014, S. 52f.), ist die »Metaphorik des Lebens« bei Kurth nach Bartsch besonders auffallend (ebd., S. 65). 183 | Kurth 1971 (1925), S. 345. 184 | Motte-Haber 2000, S. 104f. 185 | Dies wird in Kap. 6.4 weiter vertieft. Ein Verbindungspunkt liegt darin, dass der Musikästhetiker Eduard Hanslick für Kurths Überlegungen zentral war. Klee konnte Hanslicks Gedanken vermittelt über den Chirurgen Theodor Billroth (1829-1894) und dessen Schrift Wer ist musikalisch (1895) nachvollziehen. 186 | Kurth 1923 (1920), S. 571. 187 | Ebd., S. 1. 188 | Bartsch 2014, S. 70.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild musikalischen Gestaltens, auf Energien, deren Charakter wir in psychischen Spannungszuständen, die nach Auslösung von Bewegung drängen, zu erkennen haben.«189

Durch Spannungen und Energien rufe Musik so eine Energetisierung der Hörer/innen hervor. In ihr verwirklichen sich Kurth zufolge »Urvorgänge, deren Kräfte im Unhörbaren kreisen«.190 Nicht die hörbaren Töne, sondern die unhörbaren Spannungen zwischen den Elementen waren für ihn das Entscheidende. Dies erinnert an Kandinskys und August Mackes Annahme von Spannungen, die vom Bild ausgehen und sich aus dem Dazwischen der Formen und Farben generieren (Kap. 6.1). Ein verwandtes Phänomen beschrieb Willy Hellpach mit der ›Tonik‹ als unsichtbarer Wirkmacht in der natürlichen Atmosphäre (Kap. 2.5). In diesem Sinne verstand Kurth Musik als Realisation natürlicher Lebenskräfte. Sie sei »keine Spiegelung der Natur, sondern das Erlebnis ihrer rätselhaften Energien selbst in uns, die Spannungsempfindungen in uns sind das eigentümliche Verspüren von gleichartigen lebendigen Kräften, wie sie sich im Uranfang alles psychischen und organischen Lebens offenbaren«.191 Musik trage und übertrage natürliche Kräfte in Form von Spannungen. Aus der Rezeption von Musik könne so Energie gezogen werden.192 Nicht nur die Vorstellung einer Lufträumigkeit, auch die Auffassung des Kunstwerkes als von natürlichen Rhythmen durchzogener Lebensraum verbindet Bildkonzepte der abstrakten Moderne mit musiktheoretischen Diskursen des 20. Jahrhunderts und mit deren zumeist weit zurückreichenden Traditionen. Die der Musik seit jeher zugeschriebene therapeutische Einwirkung auf die Seele sowie die biologischen Rhythmen und Stoff kreisläufe im Organismus wollten bildende Künstler in ihren Werken realisieren.

6.4 L emnisk ate und Villeggiatur : Paul K lee im K onte x t von R hy thmus - und M usik theorien Paul Klee fand in der Lemniskate eine fruchtbare Figur, mit der er das Wirken biorhythmischer Prinzipien im Bild und die Idee einer vitalisierenden Lebensräumlichkeit von Kunstwerken modellierte: Hierin stimmte er mit den Naturund Rhythmuskonzepten Johann Wolfgang von Goethes und Ludwig Klages’

189 | Kurth 1956 (1917), S. 3f. 190 | Kurth 1923 (1920), S. 1. 191 | Ebd., S. 4. 192 | Motte-Haber 2005, S. 305f. Helga de la Motte-Haber stellt die Relevanz monistischen Denkens auf Kurth heraus. Dabei nennt sie den Biologen und Philosophen Hans Driesch als einen wesentlichen Bezugspunkt.

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Das Bild als Lebensraum

überein.193 Bezüge zur Musik unterfütterten Klees bio- und naturrhythmisches Bildmodell.194 Das Konzept des Bildes als Villeggiatur lässt sich vor diesen Hintergründen umfassender betrachten (Kap. 3.1.1), wobei insbesondere Klees Überlegungen zur Linie zentral werden. Klee fasste die Linie als »Phaenomen des beweglichen Punktes« auf.195 In Schöpferische Konfession beschrieb er diese und andere graphische Elemente als Energien.196 Daraus ergeben sich einige Parallelen zu Ernst Kurths Melodieauffassung. Musikalische Kompositionen sind gemäß Kurth von zwei einander entgegengesetzten Kräften durchwirkt, einer »statisch beharrende[n] potentielle[n] Kraft« und einer »kinetisch vorwärts drängende[n] Energie« – der Melodie.197 Die Melodie konstituiere sich als eine energetische »Erformung«.198 Die Auffassung der Tonfolge als »Bewegungseinheit« entspricht Klees Vorstellung der Linie als Bewegung eines Punktes. Diese findet sich auch bei Theodor Lipps, der in Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst 1906 von einer »innere[n] Bewegung« ausging, die »in einheitlichem Fluss durch die Töne hindurchgeht und auch die Pausen erfüllt«.199 Für die Gemeinsamkeiten der Theorien Klees und Kurths macht Regine Bonnefoit die »romantische Vorstellung […] der Arabeske als einer gestaltlosen, sich aus einem bewegten Punkt entwickelnden, endlosen Linie« verantwortlich.200 Novalis hatte von »Arabesken, Muster[n], Ornamente[n]« als »sichtbare[r] Musik« gesprochen.201 Der Musikästhetiker Eduard Hanslick (1825-1904) beschrieb die zeichnerische Arabeske als einen Zusammenschluss von Linien, die »sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu überraschen«.202 Vor diesem Hintergrund bewegt sich Klees Rekurs auf die Figur der Lemniskate. In seinen Pädagogischen Skizzenbüchern setzte sich Klee mit dem Blutkreislauf auseinander (Abb. 38). Er zeichnete eine Endlosschleife, die Lemniskate, wel193 | Klee besaß eine Ausgabe von Klages’ Vom kosmogonischen Eros (Botar 1998, S. 346; vgl. Kap. 6.2.1) und soll Begriffe wie »Spannung« und »Kraft« aus dessen Schrift Probleme der Grafologie (1910) für sein Kunstkonzept produktiv gemacht haben (vgl. Eggelhöfer 2014, S. 147). 194 | Für den Vergleich von Ernst Kurths und Paul Klees Werkmodell im Rekurs auf Ludwig Klages, die romantische Arabeske sowie die Figur der Lemniskate vgl. Burchert 2018a. 195 | Klee, »Bildnerische Formenlehre« (BF/9, 14.11.1921), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 196 | Klee 1920, S. 28f. 197 | Motte-Haber 2000, S. 158. 198 | Kurth 1956 (1917), S. 10. 199 | Lipps zit.n. Bonnefoit 2008, S. 128f. 200 | Ebd., S. 128. 201 | Novalis zit.n. ebd. 202 | Hanslick 1881, S. 66; vgl. Kap. 6.3.2.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

che die Fließbewegung des Blutes im Organismus darstellt (III). Das Blut wird mit dem Pumpen des Herzens (I) und der Zufuhr frischer Luft durch Ein- und Ausatmung der Lunge (II) kontinuierlich bewegt, erneuert und gereinigt. In einer früheren Graphik hatte der Künstler den Blutkreislauf ebenfalls als endlose, rhythmische Bewegung dargestellt (Abb. 39): Dort wird das rot kolorierte, arterielle Blut mit R = »Regeneration« und das venöse, blaue Blut mit D = »Degeneration« bezeichnet.203 So interessierte sich Klee für das regenerative Moment der Stoff kreisläufe, an dem die Herz- und Lungenbewegung maßgeblich beteiligt sind. Die Lemniskate ist als Figur des Wechsels von Hebung und Senkung, Einund Ausatmung, Diastole und Systole zu lesen. Dies entspricht dem Naturbegriff Goethes, der die Ordnung der Natur als Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung gefasst hatte.204 In diesem Sinne schrieb Klee in seinen Unterrichtsnotizen im Zusammenhang mit der Lemniskate: »nun weiss mann wozu das ausschwärmen da war [sic!]. Um damit eine Veränderung vorzunehmen, Den Stoff an rot auszuwerten […]« 205

Insofern, so schlussfolgert der Kunsthistoriker Heribert Schulz, diene auch der Farbwechsel in Bildern bei Klee der »Zu- und Abnahme von Bewegungs- und Stoffqualitäten«.206 Farbwechsel fungieren dann als Punkte, die einen Impuls zu neuerlicher Ausdehnung oder Zusammenziehung setzen. Die Bewegtheit von Kunstwerken beschrieb Klee nicht im Sinne einer bloß formalen Analyse der Bildmittel. Es ging ihm vielmehr um eine tatsächliche Übertragung von Bewegungen: »Die Vorbewegung in uns, die tätige werkliche Bewegung von uns in der Richtung des Werkes, und die weitere Fortführung der Bewegtheit im Werk auf andere, auf die Beschauer des Werkes, das sind die Hauptabschnitte des schöpferischen Ganzen, als Vorschöpfung, Schöpfung und NachSchöpfung [sic!]«.207 Die pulsierend-atmende Bewegung der Bilder sollte so auf die Betrachtenden übergehen.

203 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.4/25, ohne Datierung: Ende 1923/ Anfang 1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 204 | Goethe 1953 (1810), S. 320f.; vgl. Kap. 6.2.1. 205 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/48, ohne Datierung: Ende 1923/ Anfang 1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 206 | Schulz 2000, 82f. Schulz zitiert allerdings falsch, nämlich so: »Das Ausschwärmen der Lemniskate ist dazu da, eine Veränderung vorzunehmen, den Stoff in seiner Qualität zu ändern, die Farbe zu wechseln«. 207 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/77, 8.1.1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011.

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Das Bild als Lebensraum

Abbildung 38: Paul Klee, Der Kreislauf (Lemniskatenschwingung I)

Abbildung 39: Paul Klee, B Blutkreislauf (Lemniskatenschwingung II)

Klee begriff Herzschlag, Puls und Atem wie Goethe und Klages als übergeordnete, nicht nur auf den Einzelorganismus bezogene, regenerativ-erneuernde Prinzipien der Natur. Im Sinne der Einfühlungstheorie ging es ihm um eine Verschmelzung der Betrachtenden mit dem Bild, das als Villeggiatur einen temporären Lebensraum eröffnen sollte. Der Künstler verknüpfte das erneuernde Prinzip von Puls und Atem mit der blutreinigenden Funktion dieser Prozesse und bezog sie auf die Farbkomposition. Farbenreichtum und starke Kontraste brachte er mit dem belebenden Atemrhythmus in Verbindung: Klee beschrieb die »weitgespannte Verwendung sämtlicher Töne von schwarz nach weiss« als »volles Ein- und Ausatmen«.208 Diese Pole seien für »[j]ede lebenskräftige Auseinandersetzung auf dem helldunklen Gebiet« entscheidend.209 Auf der Bildfläche voll-

208 | Klee 1924, S. 61. 209 | Klee »Bildnerische Gestaltungslehre«, (BG 1.2/104, 15.1.1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

ziehe sich zwischen den Farben ein »wogendes Kampfspiel«.210 Alle Farben seien »in irgendeiner Weise an die beiden gegensätzlichen Pole Schwarz und Weiß gebunden. Sie geben dem Spiele der Kräfte der schwarzweissen Stufenleiter die Spannung, auch wenn sie sich direct nicht daran beteiligen und nur aus fernem Reservoir den ihnen verwandten Abteilungen energische Kräfte zuleiten«.211 Dies erinnert an die Spannungskonzepte Wassily Kandinskys und August Mackes sowie auch Kurths (Kap. 6.1, 6.3.2). So hatte Kurth sein Modell atmender Melodien mit »Licht-Dunkel-Metaphern« beschrieben.212 Klee erklärte das polare Kompositionsprinzip zur Grundlage einer Atemrhythmik im Werk: »Grosse Spannweite von Pol zu Pol verleiht einer Handlung tiefes Ein[-] und Ausatmen, das bis zum keuchenden Ringen wandlungsfähig ist. Geringe Spannweite dämpft die Atemzüge bis zum sotto voce ab. Es wird hier nur geflüstert um grau herum«.213 Eine ähnliche Übertragung von Atembewegungen auf Farbform-, zeichnerische und musikalische Kompositionen findet sich bei Johannes Itten (Kap. 6.3.2, 6.6). Dieses Modell nun fügt sich in Klees Auffassung des Kunstwerkes als Villeggiatur, wobei hier eine andere, dynamischere Variante zum Vorschein kommt, worauf der mehrfach gefallene Begriff des Energischen hindeutet. Klee bestimmte das Kunstwerk als heilsamen Ort, der einen Luftwechsel und einen Zugang zu ablenkender »Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags«,214 um so die Seele »zu nähren, ihre erschlaffenden Gefäße mit neuem Saft zu füllen«.215 Das Bild setzte er als Kurort dem gleichförmigen Rhythmus des Alltags entgegen. Dabei spielte der Abwechslungsreichtum im Sinne einer Befreiung vom Statischen eine wichtige Rolle. Eben dieses Prinzip galt in der Naturheilkunde Arnold Riklis:216 Durch wechselnde Einflüsse sollten das Nervensystem und der gleichmäßig-gesunde Stoff kreislauf angeregt werden. Unter gleichen Vorzeichen setzte Klee dieses Prinzip durch eine polare, kontrastreiche Ausgestaltung seiner Kompositionen um. In der Untersuchung von Klees klimatischem Farbkonzept wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Künstler dem Übermaß einer bestimmten Farbqualität – zu viel Licht etwa – eine schädliche Wirkung zuschrieb: »So arbeiten wir denn nicht nur mit heller Energie gegen gegebenes Dunkel, sondern auch mit schwarzer Energie gegen gegebenes Hell«.217 210 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/86, 9.1.1924), ebd. 211 | Ebd. (BG 1.2/104, 15.1.1924). 212 | Motte-Haber 2005, S. 300. 213 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/104-105, 15.1.1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011. 214 | Klee 1920, S. 40. 215 | Ebd. 216 | Siehe Kap. 2.5, 3.2, 3.7, 3.8.2, 5.3, 6.2.1, 6.8.1. 217 | Klee, »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.2/85, 9.1.1924), Webseite Zentrum Paul Klee 2011; vgl. Kap. 3.1.1.

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Das Bild als Lebensraum

Wurde eingangs Klees Konzept eines milden Klimas beschrieben, erscheint der Begriff des Reizklimas hier adäquater. Dieses ist allerdings ganz anders gefasst als die Reizklimata Mark Rothkos (Kap. 5.6). Als besonders belebend galt bei Klee das Zusammentreffen vieler, starker Kontraste und Wechsel, während Rothkos Arbeiten auf einige wenige Formelemente reduziert sind. In diesem Kontext ist Klees Differenzierung zwischen individuellem und dividuellem Rhythmus grundlegend. Diese Unterscheidung entspricht im Wesentlichen Klages’ Begriffen von Rhythmus und Takt beziehungsweise Metrum: Der dividuelle Rhythmus bestehe in der Wiederholung gleicher Elemente und sei somit teilbar, ohne dass sich die Erscheinung des Gebildes maßgeblich verändert – wie bei einem Schachbrett. Aus einem Bild, das als individueller Rhythmus gestaltet ist, könne hingegen kein Teil entnommen werden, ohne das Ganze maßgeblich zu verändern.218 Der Begriff des Individuums war bei Klee eng mit dem des Organismus verknüpft, denn der Organismus sei dadurch geprägt, dass man »von ihm nichts wegnehmen« könne, »ohne das Ganze in seinem Charakter zu ändern oder, bei lebendigen Wesen: die Funktion des Ganzen zu stören oder gar zu unterbinden«.219 Hier wird nicht Gleiches wiederholt, sondern es erfolgt eine Gliederung des Bildes durch verschiedene, aber ähnliche Elemente. Dabei kam auch das Prinzip der Betonung zum Tragen.220 Danach konnten die Kompositionen aus dem Wechsel betonter und unbetonter Elemente an Leben gewinnen. In Blühendes (1934) wandelte Klee das Prinzip des Schachbretts zu einem organischen Rhythmus um (Abb. 40).221 Das Bild ist durch eine große Spannbreite an Bunttönen, ebenso wie durch schwarze und weiße Partien charakterisiert. Dabei vollzieht sich eine Bewegung von trüben, dunklen Tönen an den Bildrändern zu reinen, hellen Tönen in der Bildmitte. In der Bewegung hin zum Bildzentrum werden die Farbfelder kleiner. Das rhythmisierte Bildfeld wirkt wie von heraustretenden und zurückweichenden Formen bewegt. Sind die Randbereiche durch Ruhe geprägt, vollziehen sich zum Zentrum hin immer schnellere, energische Bewegungen. Doch auch hier finden sich Kontraste von Hell und Dunkel sowie Rein und Trüb. Die gelben, weißen, blauen und pfirsichfarbenen Flächen erhalten im Kontrast zum Grau und zum dunklen Blau umso mehr an Strahlkraft und Lebendigkeit. Die Randbereiche tragen dazu bei. Die Dynamisierung des Bildfeldes generiert eine dynamische Formung und eine fließende Bewegtheit. Die Belebung verstärkt sich durch den Kontrast zum Unbelebt-Statischen. Bereits Anfang der zwanziger Jahre schuf Klee mit Bildarchitectur Rot Gelb Blau sowie Harmonie aus Vierecken mit Rot Gelb Blau Weiss und Schwarz ähnliche Komposi218 | Klee, »Bildnerische Formenlehre« (BF/49, 16.1.1922), ebd. 219 | Ebd. (BF/49, 16.1.1922). 220 | Ebd., »Bildnerische Gestaltungslehre« (BG 1.4/96, ohne Datierung); ebd. (BG 1.4/255, ohne Datierung); ebd., »Bildnerische Formenlehre« (BF/49, 16.1.1922). 221 | Eine Beschreibung sowie Bezüge zu Blühendes unter dem Aspekt der Rhythmizität erfolgen in anderen Wortlauten in Burchert 2018a, b (in Vorbereitung), 2017b (Webseite).

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

tionen, in denen allerdings die tonale Spannbreite und der fließende Charakter nicht so ausgeprägt sind.222 Abbildung 40: Paul Klee, Blühendes, 1934, Öl auf Leinwand, 82 × 80 cm, Kunstmuseum, Winterthur

Im Vergleich zu Polyphonie liegt der Fokus in Blühendes nicht so sehr auf der Licht- und Lufträumigkeit, sondern auf der Rhythmik (Kap. 3.1.1: Abb. 5). Der Vollzug von Lemniskatenschwingungen als Prozessen der Ausdehnung und Zusammenziehung, analog zu Herz- und Lungenbewegung, liegt als gedankliches Konstrukt dem Gemälde Blühendes zugrunde. Diese Prozesse werden in der Aufklarung zur Bildmitte anschaulich. Immer wieder kann sich der Blick auf verschiedenen Wegen von den Bildrändern zum Zentrum hin- und herbewegen, zwischen Trübung und Aufklarung. Das Zentrum strebt den Betrachtenden räumlich entgegen – entsprechend dem Gipfel eines Einatemprozesses, also der größten Ausdehnung der Lunge, die schließlich eine Reinigung des Blutes bewirkt. Das Bild erscheint, wie eine musikalische Komposition nach Auffassung Kurths, von einem belebenden Puls und Atem durchzogen, der die Betrachtenden erfasst und vitalisiert. Das Werk entspricht einem rhythmisch-fließenden, von Spannungen durchpulsten Feld, das im Vor- und Zurückstreben der Formen eine Räumlichkeit entfaltet. Kein mildes Klima, sondern eines, das reizt und da222 | Nicht abgedruckt: Paul Klee, Bildarchitectur Rot Gelb Blau, 1923, Ölfarbe auf Grundierung auf Karton, 44,3 × 34 cm, Zentrum Paul Klee, Bern; Harmonie aus Vierecken mit Rot Gelb Blau Weiss und Schwarz, 1923, Ölfarbe auf Grundierung auf Karton, 69,7 × 50,6 cm, Zentrum Paul Klee, Bern.

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Das Bild als Lebensraum

durch energetisiert, wollte Klee hier geben. In einem Rekurs von Max Burchartz auf Klee wird dieses Modell erneut thematisiert (Kap. 6.7).

6.5 N aturrhy thmischer W eltbau : O t to N ebel im K onte x t von G ertrud G runow und R aoul H. F r ancé Otto Nebel konzipierte ganz ähnlich wie Paul Klee das Bild als Organismus, der durch Bewegung und Rhythmik lebendig werden und so zugleich eine lebenspendende Wirkung entfalten sollte. Er begriff das Kunstwerk als »Weltbau im Weltbau«,223 vergleichbar mit der Klee’schen Villeggiatur. Nebel ging gleichermaßen davon aus, dass Natur und Kunst nach »den gleichen Gesetzen und Normen« gebildet seien, auch wenn die Kunst als »rhythmische Schöpfung des Menschen« von der Natur zu unterscheiden sei.224 Beschreibungen rhythmischer Prinzipien waren vor allem Anfang der dreißiger Jahre bei ihm sehr präsent. Seine Schrift Worte zur rhythmischen Malerei (1931) hatte er 1945 allerdings in Worte zur Geistigen Malerei umbenannt und inhaltlich leicht abgewandelt. Alternative und später noch häufig gebrauchte Begriffe zur Beschreibung des Rhythmischen sind »Welle« und »Zustandswechsel«.225 Auch der Begriff des »Fließens« taucht an prominenter Stelle auf: Die Werkkategorie »Zone des Ungegenständlich-Fließenden« zeichnete sich gemäß Nebel durch das »innere Bewegtsein und das Geordnet-Bewegte« aus, das in einem »Gleichgewichtszustand der abgewogenen Maße und Gewichte« kulminieren sollte.226 Rhythmus war für Nebel vorrangig eine Figur des Gleichgewichtes. Dies korrespondiert mit zentralen Postulaten aus Gertrud Grunows Harmonisierungslehre (Kap. 3.6). Darüber hinaus lassen sich Verbindungen zu Raoul H. Francés Naturverständnis herstellen, die weiterhin Bezugspunkte zu Max Burchartz und László Moholy-Nagy eröffnen (Kap. 2.4, 6.7-6.8). Organismus war das Bild für Nebel insofern, als dass alle Teile »untereinander in harmonischen Intervallverhältnissen stehen und auf reinen Maßen beruhen: auf naturgegebenen Maßen, die sich in der Musik, im Reiche des Organischen, in allem Lebendigen auf Erden wiederfinden lassen«.227 So entstehe »in einer Ma223 | Nebel 1931, S. 14. 224 | Ebd.; vgl. Kap. 2.1. 225 | Zur Wellenform der Seele und der Bilder sowie zum Prinzip des Zustandswechsels siehe etwa Nebels »Worte zur Geistigen Malerei« (1945) in Radrizzani 1988, besonders S. 40 und S. 47f.; vgl. zu »Welle« und »Zustandswechsel« den Abschnitt zu den »Drei Mappenwerken« (1932), S. 55, S. 60 und S. 68; zu Beschreibungen seiner Komposition »Wellenförmige Grenzen« (1950-1953) siehe ebd., S. 170-174. In »Anmut und Segen« (1950-1953) wird dem Prinzip des Zustandswechsels besonders viel Raum gegeben: vgl. ebd., S. 162-164, S. 178-190. 226 | Nebel, »Schauen und Lauschen« (1929-33), ebd., S. 92. 227 | Nebel 1931, S. 29.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

lerei mit Naturnotwendigkeit Rhythmik«.228 Die im Bild wirksame rhythmische Ordnung sollte zugleich der Ordnung der Musik, der Lebewesen und dem Prinzip des Lebens überhaupt entsprechen. Der Kosmos als ein wohlgeordnetes Ganzes impliziert schließlich die Annahme einer Harmonie der Natur in Analogie zur Musik, die mit den bereits dargestellten Natur- und Gesundheitskonzepten in Zusammenhang stand (Kap. 6.2-6.3). Nebel verstand den Künstler als einen Forscher auf der Suche nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Diese wurden ihm zufolge in das Kunstwerk übertragen, nicht als Abbild, sondern als Gleichnis im Sinne einer Äquivalenz: »Allein der Vollmensch, der Forschende, kann die Gesetze, nach denen die Natur ihre Formen schafft, erkennen. […] Er erkennt die harmonikalen Gesetzmäßigkeiten und orphischen Zusammenklänge, und er schaut auch die Ur-Bilder, die kosmischen Licht- und Klang-Normen […].« 229

Harmonie und Einklang bilden, so betonte Nebel immer wieder, die übergeordneten Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, die der Künstler zunächst erkennen und dann ins Bild bringen sollte. Auffällig ist die Rede vom ›Vollmenschen‹, handelt es sich doch um einen Begriff, den Francé sinnbildlich für jenen gesunden, schöpferischen Menschen verwendete, der sich an die Gesetze der Natur optimal angepasst hatte.230 In der Lehre Grunows spielte die Ausbildung junger Künstler/innen nach solchen Maßgaben eine wesentliche Rolle.231 Francé war mit dem Bauhaus seit 1923 verbunden. Es ist recht wahrscheinlich, aber bislang nicht nachweisbar, dass Nebel, der zwischen 1924 und 1925 in Weimar lebte und Kontakte zum Bauhaus pflegte, mit den Ideen Francés direkt in Kontakt gekommen war. In jedem Fall bezog sich Hans Kayser, mit dem Nebel in engem Austausch stand, in seiner Schrift Der hörende Mensch auf Francé und dessen Konzept des »Weltrhythmus«.232 Wie bereits dargestellt war Francés Position so anschlussfähig für die Künstler, weil er die Kunst in sein biologisch-kosmologisches Weltverständnis einbettete. Francé ging davon aus, dass die Kunst nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten geschaffen sei. Die Auffassung Nebels, die Kunst sei ›Weltbau im Weltbau‹ entspricht dem Postulat Francés, wenngleich dieser sich

228 | Ebd. 229 | Ebd., S. 13. 230 | Francé 1923, S. 154, vgl. Kap. 2.4. Dies erinnert an die Konzepte Johannes Ittens und František Kupkas, die den gesunden und mit gesunden Sinnen ausgerüsteten Künstlertypus propagierten: vgl. Kap. 5.4 sowie Kap. 6.8 zu László Moholy-Nagy. 231 | Dazu vgl. Kap. 6.2.2 sowie Burchert a (in Vorbereitung). 232 | Siehe exemplarisch Kayser 1993 (1930), S. 142 und S. 208; vgl. Kap. 6.3.2.

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nicht auf die Abstraktion bezog.233 Verbindungen von Kunst und Naturgesetzen fanden sich auch bei Kayser,234 der sich seinerseits auf Grunow gestützt hatte. Grunows Ansatz fußte, ebenso wie der Nebels und der Francés, auf der Annahme der Verwurzelung des Menschen in der Umwelt und in der großen kosmischen Ordnung: »An den waltenden Gesetzen der Natur hat der Mensch Anteil mit den Kräften seiner Sinne. Dieser Anteil ist so aufzufassen, daß die Sinneskräfte des menschlichen Organismus als ein Abbild oder als ein Gleichnis allgemeiner kosmischer Lebensprinzipien aufzufassen sind. Je vollkommener, reiner die waltenden Gesetze der Natur sich im Mikrokosmos des Universums (dem menschlichen Organismus) erfüllen, umso lebendiger, gesunder, lebensstärker, lebensreicher, umso erfolgreicher wird der Mensch in der Natur, auf der Erde, in der Welt zu leben imstande sein; selbst im Gleichgewicht harmonisch und gesund. So muß der Mensch in der Natur, in der Vollkraft der eigenen Natur und ihrer Beherrschung, ein Beherrscher der Natur werden, das ist sich fügen, fügen [sic!] und verfügen können, […] als eine lebendige Kraft ›Mensch‹.« 235

Die Anpassung des Menschen an die Umwelt galt gemäß Grunow, und auch Francé,236 als Lebensnotwendigkeit und Voraussetzung für die Gesundheit des Menschen. Grunow fasste die Naturgesetze als genuin rhythmische Gesetze. Wie bereits dargelegt ging sie von der Störung des natürlichen Rhythmus durch die Zivilisation aus (Kap. 6.2.2). Ihre Harmonisierungslehre sollte im Vollzug des zwölfteiligen Farb- beziehungsweise Tonkreises zur Gesundung der Schüler/-innen beitragen und sie zu einem natürlichen Rhythmus zurückführen. Dieses Ziel war an die Atmung gebunden. Die Atmung sollte mit den Übungen unter Einfluss von Klang und Farbe »leichter und gespannter« werden.237 Belebende Atemgleichnisse sollten auch in den Bildern Nebels realisiert werden. Anhand der Komposition Oster-Psalm (1948) beschrieb er die Wellenbewegung der Farbformen als »bogige[s] Vordringen und Zurückweichen« sowie »bewegliche[s] Auf-und-Ab« (Abb. 41).238 Er sprach vom »gleichförmig atmende[n] oder ungleichförmig schwingende[n] Fortwirken einer geleiteten Kraftregung«.239 Diese Formen stellte der Künstler als Gleichnisse eines Austauschs zwi-

233 | Francé 1923, S. 180. 234 | Vgl. exemplarisch Kayser 1993 (1930), S. 213 und S. 283. 235 | Grunow, »Bericht an das Kurhaus Waldesheim Düsseldorf-Grafenberg« (1920), in Radrizzani 2004, S. 70. 236 | Vgl. Francé 1923, S. 40. 237 | Réne Radrizzani, »Die Grunow-Lehre im Aufriß«, in Radrizzani 2004, S. 58. 238 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 170. 239 | Ebd.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

schen »dem lebenspendenden Ewigen und dem lebenempfangenden Endlichen« dar.240 Durch ihre Rhythmik und Bewegtheit würden Bilder so zu »Gleichnisse[n] eines auf- und abklingenden und wieder aufklingenden Innewerdens des pulsenden Lebens, des Atmens der Schöpfung im Geschöpfe selbst. […] Gleichnisse des fortdauernden Auf- und Ablebens im Belebten infolge des Einströmens göttlicher Kräfte […] in die bewegliche und menschliche Seele, die hüllt und umhüllt, in das rastlose Herz, das flutet und ebbt, in die emsige Lunge, die schafft und verschafft«. 241

Auf- und Abklingen, Puls, Atmung, das wellenförmige Hin-und-Her – diese universellen Lebensprinzipien wurden bereits am Beispiel Klees und im Rekurs auf Johann Wolfgang von Goethe sowie Ludwig Klages beleuchtet. Das Bild sollte als Gleichnis eines Austausches zwischen dem ›lebenspendenden Ewigen‹ und dem ›lebenempfangenden Endlichen‹ Naturkräfte. Die Betrachtenden wären dementsprechend als das ›lebenempfangende Endliche‹ zu begreifen. Abbildung 41: Otto Nebel, Oster-Psalm, 1948, Öl auf Leinwand, 122 × 202 cm, Otto Nebel-Stiftung, Bern

Allerdings erinnert kaum etwas in Nebels Oster-Psalm an Klees Fugenbild Blühendes, das ja eine ähnliche Wirkung entfalten sollte (Kap. 6.4: Abb. 41). Nebel lässt amorphe, transparente und semi-transparente Formen in mehreren Schichten, mal als Flächen, mal linear über das beige grundierte Bildfeld schweben. Keine sich changierend wiederholenden Wellenbewegungen, sondern ein belebtes, unregelmäßiges Treiben wird hier sichtbar. Dieses hatte der Künstler als »ungleichförmig 240 | Ebd. 241 | Ebd., S. 174.

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schwingendes Fortwirken einer geleiteten Kraftregung«242 bezeichnet. Die Formen stellen keine rhythmischen, sondern animierende, abwechslungsreiche Figuren dar, die in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander treten. Eine organisch-rhythmische Bewegung lässt sich allerdings im Verhältnis von Figuren und Grund erkennen. Die Verunklärung der Ebenen kann als eine atmende Bewegung des Vorund Zurückstrebens beschrieben werden und wurde von Nebel offenbar genauso gefasst. So suchte er, ein harmonisierend-rhythmisches Prinzip und ein belebendarhythmisches Prinzip gleichzeitig in seine Werke zu integrieren. Andere Arbeiten Nebels verwirklichen allerdings nachvollziehbarer die vom Künstler selbst geschilderten Puls- und Atemfiguren: In März-Ode etwa dominieren gebogene, geschwungene, rhythmisierte Formen (Kap. 3.5.3: Abb. 12). Nur wenige streng geometrische Recht- und Dreiecke tauchen hier, kontrastiv eingesetzt, auf. Das Auf- und Abklingen, Auf- und Ableben der Formen zeigt sich vor allem in den fließenden Schlängellinien. Diese sind allerdings nicht so sehr durch starke Unterschiede in der Ausdehnung charakterisiert, sondern leben schmal auf und ziehen sich nur leicht in der Breite variierend über oder durch das Bild, um dann rasch wieder spitz auszulaufen. Solche Formen fallen weiterhin in den Gemälden Wassily Kandinskys, insbesondere im Spätwerk, immer wieder auf, so etwa in Zwei grüne Punkte.243 In den Vordergrund rücken in den Kompositionen Nebels und anderer Künstler so Figuren des Fließens. Rhythmik entsteht nicht allein dadurch, dass ähnliche Formen mehrfach auftauchen, auch Fließfiguren wie der kleine Äskulapstab in der oberen linken Bildhälfte von März-Ode sind als rhythmisierende Gestalten zu fassen. Damit hatte Nebel gleichzeitig auf symbolischer Ebene auf den Heilsanspruch seiner Bilder verwiesen. Die roten Formen in Rondo con brio erinnern weiterhin an die Figur der Lemniskate, die, wie anhand von Klee diskutiert, auf Lebensprinzipien der Puls- und Atembewegung rekurriert (Kap. 5.1.1: Abb. 31). Die Ästhetik der Transparenz und des Schwebenden fügt sich in die Logik dieser Atemfigur. Hier und in anderen Werken Nebels wird durch Transparenz und Überschneidung das Bild als rhythmisierter Atemraum vorstellbar, der vor- und zurückstrebt und den Betrachtenden auch über arhythmische Elemente Energie zuführen soll. Klimatisches Licht, ein Luftgehalt, eine naturäquivalente Rhythmik und eine belebte Bewegtheit konstituieren Nebels Konzept des Bildes als Lebensraum. Analog zu den Übungen Grunows sollten die Werke zugleich stärken und ein inneres Gleichgewicht befördern. Durch seine Jahreszeiten- und Monatsbilder ist Nebels Œuvre sehr konkret von einer Auseinandersetzung mit natürlichen Rhythmen bestimmt (Kap. 3.5). Bei ihm dominieren Wärme und Licht, ähnlich wie bei Klee, der bevorzugt – wenn auch nicht ausschließlich – Blühen und Wachstum behandelte. Wie in František Kupkas Serie Printemps cosmique und dem Gemälde Réminiscen242 | Nebel, »Anmut und Segen der Sendung« (1950-53), in Radrizzani 1988, S. 170. 243 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Zwei Grüne Punkte, 1935, Öl auf Leinwand, 115 × 162,5 cm, Centre Georges Pompidou, Paris; vgl. Kap. 4.4.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

ces hivernales finden sich bei Nebel und Klee häufig Prinzipien und Rhythmen des Frühlings beziehungsweise der pulssteigernden, animierenden Erwärmung (Kap. 3.1.2: Abb. 7-8). Tatsächlich sind aber bei Nebel alle Jahreszeiten im Œuvre vertreten (Kap. 3.5), wenngleich nicht als Zyklus konzipiert wie bei Johannes Itten.

6.6 I m E inkl ang mit den J ahreszeiten : R hy thmik bei J ohannes I t ten Johannes Itten hatte sich gleichermaßen dem Jahreszeitenthema angenommen und dachte die Bildrhythmik in Analogie zu Rhythmen der Natur, in welche sich der Mensch einzufügen hatte (Kap. 3.7). Mit seinem Jahreszeitenzyklus schuf er einen Ausdruck des gesamten Lebenskreislaufes, der Werden und Vergehen als notwendige Stadien beinhaltet. Wesentliche Aspekte wurden bereits diskutiert und erfahren im Folgenden eine Ergänzung. Dabei wird aufgrund des programmatischen Charakters dieses späten Werkes, anders als zuvor, zunächst von der formalen Analyse der Rhythmizität des Werkes ausgegangen und anschließend die Beziehung zu Ittens theoretischen Überlegungen hergestellt. Die Bildflächen des Zyklus von 1963 sind durch neun mal neun rechteckige Farbfelder rhythmisiert, die je nach Jahreszeit weitere Unterteilungen erfahren (Kap. 3.7: 15-18). Im Bild Frühling ist die Leinwand zwar in gleich große, quere Rechtecke geteilt, diese sind jedoch durch ein flirrendes Mosaik unregelmäßiger, zumeist trüb-weißer Formen oder Einlassungen durchdrungen. Die Farben sind insgesamt pastellig und somit kaum kontrastiv. So ergibt sich eine kleinteilige, belebte Bildgliederung, die nur von wenigen Ruhepolen geprägt ist. Im Vergleich zu Frühling fällt das Bild Sommer durch kräftige Farben und stärkere Kontraste auf. Die Unterteilung der Fläche in Rechtecke ist nicht gleichmäßig: Es dominieren Quadrate, die entweder zwei Drittel oder ein Sechstel der zugrundeliegenden Rechtecke ausfüllen. In unregelmäßigem Rhythmus werden unterschiedliche Flächengrößen in verschiedenen Farbkombinationen wiederholt. Es finden sich sowohl wenig kontrastreiche Verläufe als auch plötzliche, kontrastive Wechsel. Herbst unterscheidet sich stark vom pastellfarbenen Frühling und ist auch im Vergleich zu Sommer durch dunklere, kräftigere Farben geprägt. Die Fläche ist weniger stark in Einzelkompartimente unterteilt. Es dominieren gleichgroße, quere Rechtecke. Die Komposition ist ruhiger und gleichmäßiger. Die Tendenz hin zum Ruhigen setzt sich im letzten Bild des Zyklus fort. Auch in Winter wechseln sich kontrastarme Farbübergänge mit starken Kontrasten ab. Vom unruhig-kleinteiligen Rhythmus von Frühling führt der Zyklus zu einer stetigen ›Beruhigung‹. Auffallend ist, dass die Abfolge der Formen in keinem der Bilder einer klar ersichtlichen Regel folgt. Das Abwechslungsreiche – die Variation im Rhythmischen im Gegensatz zum Metrischen – macht Ittens, ebenso wie Paul Klees und Otto Nebels Werke, aus. Gerade im Vergleich fällt jedoch auf, dass die

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Rechteckkompositionen Ittens weniger fließend sind, obwohl das Fließende für ihn ein wichtiges Prinzip darstellte. Als wesentliches Element kommt bei Itten allerdings das Zyklische hinzu. So nahm der Kreis als rhythmische Figur bei ihm einen ähnlichen Modellcharakter ein wie die Lemniskate bei Klee. Den Kreis bezeichnete Itten als ein »rhythmische[s] Fließen ohne Anhalten«; betone man eine Hälfte der Kreislinie, ergebe sich daraus ein »An- und Abschwellen«, das die »Wesenseigentümlichkeit alles Rhythmischen« sei.244 Es handelt sich also um eine Abwandlung der Lemniskate, die er auf die Bewegung der Ausdehnung und Zusammenziehung im Jahreszeitenkreislauf bezog.245 Die Atmung und der Herzrhythmus spielten eine wesentliche Rolle für das an der Natur und den Jahreszeiten orientierte Bildkonzept Ittens. Er ging dabei in seiner Beschreibung des Rhythmischen vom Kleinen zum Großen, vom Einzelwesen zu den kosmologischen Rhythmen: »Die Pendelschwingung, das Aus- und Einatmen, der Herzschlag, der Mondrhythmus, Sonnenrhythmen (Tag – Nacht, Sommer – Winter), die riesengroßen Umlaufzyklen der Gestirne« zählte er dazu.246 Die Annahme einer Korrespondenz mikro- und makrokosmischer Rhythmen fand sich in dieser Form bereits bei Ludwig Klages und in den zuvor dargestellten Künstlerpositionen. Für den Jahreszeitenzyklus ist das Prinzip der Ein- und Ausatmung von zentraler Bedeutung, so beschrieb Itten die Rhythmik der Jahreszeiten 1937 sehr ausführlich in ihren verschiedenen Dimensionen anhand dieser Figur: »Die Natur demonstriert alles notwendige Wissen in bezug [sic!] auf Ein- und Ausatmen. Winter: Einatmen. Sommer: Ausatmen. Höhepunkte des Einatmens etwa 25. Dezember, des Ausatmens etwa 25. Juni. Sowohl im Frühjahr wie im Herbst gibt es Tage völliger Stille und harmonischen Ausgleichs. Das ist das Anhalten von Einatmung und Ausatmung. Der Beginn des neuen Impulses ist also Herbst, da gesät wird. Die Samen versinken in die dunkle Tiefe der Erde und keimen langsam, indem sie nach der Tiefe zu sich verankern durch Wurzelschlagen. Ein Gedankenkeim muß ebenso gesetzt sein, dann in der Tiefe sich verwurzeln. Ein Same trägt den Keim zu einem Neuen. Vor Beginn der Einatmung muß also der neue Gedankenkeim gesetzt werden. In dunklen Tiefen treibt er Verwurzelung. Weihnachten – Fest der keimenden Samen. Nach dem Überschreiten des Höhepunktes der Einatmung beginnt schon das Sichtbarwerden des Neuen. Die Pflanzen treiben ihre Stengel und Blätter nach oben. Die Blüten öffnen sich zur Zeit der harmonischen Ausgleichstage im Frühjahr… Die Atmosphäre ist also im Februar/März am fruchtbarsten.

244 | Itten 1980 (1930), S. 108. 245 | In Ittens Rhythmuslehre tauchen Schleife und »Drehungsrhythmus der 8« ebenfalls auf, siehe ebd. 246 | Ebd.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild Die Zeit der körperlichen Befruchtung im Mai oder Juni. In dieser Zeit sind die Menschen auch seelisch am empfänglichsten, am aufgewühltesten. Zu dieser Zeit treten also neue Impulse auf, die sich dann zu Weihnachten als neue Gedanken formen, bewähren. Die Kräfte der Zersetzung und Auflösung reißen im August die Macht an sich. Die Ausatmung ist zu Ende, und die Früchte reifen aus. Während der Ausatmung wird das Neue gestaltet, geformt, materialisiert. Wenn man das Wesentliche betrachtet, so ist das Geschehen in der Natur eine äußerst exakte Demonstration der Wachstumsgesetze im Universum. Dieses Gesetzmäßige hat in der Natur wie im Menschen im geistigen Bezirk Geltung.« 247

Mit dem Modell der Atmung fasste Itten somit sowohl natürliche Wachstumsprozesse als auch gleichsam natürliche Verläufe im Seelen- und Gedankenleben, der Reifung und Entwicklung von Gedanken, wie sie Wassily Kandinsky ebenfalls beschrieben hatte.248 Itten verstand Rhythmizität zugleich als energetisierendes und als regeneratives Prinzip. Der Bildrhythmus in Winter kommt einer Beruhigung des Atems und einem Sparen und Sammeln von Kräften gleich. Hier atme der Mensch langsamer und tiefer, während im Frühjahr ein schnelleres, beschwingteres Atmen vorherrsche. Mit dem Einatmen im Winter werde Energie einbehalten. Die kalte Jahreszeit wird als Zeit der Ruhe dem Sommer als Zeit des Wachsens und Gedeihens entgegengesetzt, in der die aufgenommenen, gespeicherten Energien externalisiert – ausgeatmet – werden und neues Leben hervorgebracht wird. Die Rhythmik von Ein- und Ausatmung gründet in den einzelnen Kompositionen, ähnlich wie bei Klee, auf dem Wechsel heller und dunkler beziehungsweise warmer und kalter Farben. Die in Sommer und Herbst hervortretenden, leuchtenden Farben stehen für eine Energieentäußerung aus dem Bild – ein Ausatmen der Fläche –, während die Blau- und Grüntöne in Winter in die Ferne ziehen, keine Energie aussenden sollen, sondern eine beruhigende Vertiefung ausdrücken, gleich einem vertieften Atemzug – einem ruhigen Innehalten. Je nach Stärke der jeweiligen Kontraste sowie der Kleinteiligkeit der Farbformen auf der Fläche ließe sich so von einer tieferen oder flacheren, verlangsamten oder schnelleren Atmung sprechen, die die Rezipierenden innerlich mitvollziehen. Die großen Farbformen 247 | Itten, Tagebucheintrag vom 22.7.1937, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 84. 248 | Vgl. Kap. 3.4 und Burchert 2018b. Auch in Der Gleichgewichtskreis ist die Rede von der Abhängigkeit des »Stoffwechsel[s] im menschlichen Körper« von der »Änderung des seelischen Zustandes« im Wechsel der Jahreszeiten (Preiß 2001, S. 35). Analog heißt es: »Wir versenken uns in die Tiefe der Natur, nicht nur körperlich, sondern geistig und seelisch zugleich. Das Heben und Senken ist eine Anspannung und eine Entspannung im rhythmischen Wechsel, der dem Aufbau und dem Abbau entspricht. Der Aufbau und der Abbau folgt in seinem rhythmischen Charakter den kosmischen Gesetzen als das Vollsein und das Leersein. Dieses Sich-heben und Sich-senken an einem Ort entspricht den Phasen des Mondes als Vollmond und Neumond« (ebd., S. 38f.).

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in Winter bilden trotz des starken Hell-Dunkel-Kontrasts einen ruhigen Rhythmus, während Sommer einen dynamischeren Rhythmus vorgibt. Der Rhythmus des Atems nahm in Ittens Gesundheitskonzept eine wesentliche Rolle ein.249 In Mein Vorkurs am Bauhaus schrieb er: »So wie wir atmen, so denken wir, und so ist der Rhythmus unseres täglichen Lebens«.250 Die Bedeutsamkeit des Rhythmus in seiner Lebens- und Lehrpraxis wird an vielen Stellen deutlich. Bereits 1918 notierte er: »Regelmäßige, rhythmische Bewegung = Bewusstsein, Leben, Gesundheit. Unregelmäßige, arhythmische Bewegung = Bewusstlosigkeit, Tod, Krankheit«.251 In seinem »Mazdaznan«-Aufsatz hob er 1926 die »Pflege der individuellen Atmung […] im Hinblick auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen« hervor.252 Itten stützte sich nach eigener Aussage auf der Suche nach einer »wahre[n], menschenwürdige[n] Lebenspraxis« auf östliche Philosophien und hatte Vergleiche zwischen Mazdaznan, Buddhismus und Yoga sowie dem Urchristentum angestellt.253 Für all diese Praktiken und Lehren sind Konzepte des Atems, des göttlichen Odems und der reinen Luft grundlegend. Yogapraktiken nehmen ihren Ausgang auch von der Feststellung, dass der Mensch gewöhnlich »auf arhythmische Art«, das heißt: unregelmäßig und unkontrolliert atme.254 Ziel von Yoga ist die Hinwendung zum rein Geistigen durch Konzentration,255 sodass auch hier eine leibliche Übung, deren Grundlage im Atem liegt, die Voraussetzung zur Erlangung eines bestimmten geistigen Zustandes darstellt. Insofern finden sich allgemeine Ansätze zum Austausch von Mensch und Umwelt im Yoga und in anderen östlichen Lehren, die mit Lebenskraftkonzepten rund um den Atem zusammenhängen und in künstlerische Konzepte integriert wurden (Kap. 5.3.1, 5.4). Im Lehrplan der 1926 eröffneten Itten-Schule in Berlin erhielten die »Gesetze des Rhythmus«256 in der Gestaltung eine direkt auf den Körper bezogene Funktion. Hier notierte Itten: »Die Dynamik der Farb-Form-Rhythmen und ihre Parallelität zum Herzrhythmus und der Dynamik der Lunge. Rhythmische Atmung und rhythmische Gestaltung«.257 Nicht nur den Leibes- und Atemübungen, auch der künstlerischen Praxis selbst maß der Künstler somit eine heilsame Wirkung zu. Diese ergab sich aus dem Experiment mit Formkompositionen. Itten postulierte, dass die ausgeführten, »konstruktiven, varia- und kombinatorischen

249 | Vgl. Burchert a (in Vorbereitung), 2018a, 2017b (Webseite) zu den rhythmischen Lehrpraktiken Ittens. 250 | Itten 1963, S. 12. 251 | Itten, Tagebucheintrag 8.7.1918, in Badura-Triska 1990, S. 299. 252 | Itten, »Mazdaznan« (1926), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 228. 253 | Itten, »Autobiographisches Fragment« (1950er oder 1960er Jahre), ebd., S. 32. 254 | Eliade 1985, S. 62. 255 | Ebd., S. 78. 256 | Itten, »Wie lernt man Kunstwerke richtig sehen?«, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 230. 257 | Ebd.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Übungen für den jungen Künstler richtige Gesundheitskuren darstellen«.258 Diese produktionsästhetischen Überlegungen bildeten eine Voraussetzung für die Begründung der Wirkmacht der Bilder bei Itten. Zu diesen Übungen gehörte auch der einfühlende Nachvollzug der Rhythmen von Artefakten und Kunstwerken der Vergangenheit.259 Schließlich sollten die Betrachtenden das Kunstwerk »zu persönlichem Leben erwecken«,260 sich ganz »als Einzelwesen« aufgeben und sich »als Funktion des Bildes« fühlen.261 Mit den Jahreszeiten regte Itten eine Verschmelzung der Betrachtenden mit Äquivalenten natürlicher Rhythmen an. Die Anpassung des Lebensrhythmus an die Jahreszeiten wurde bereits von Hippokrates als grundlegende Voraussetzung für ein gutes Leben dargestellt.262 In ähnlicher Weise enthielt das I-Ging wichtige Impulse zu diesem Thema. Das Buch der Wandlungen wurde um 1924 durch den Theologen Richard Wilhelm in Form von drei Bänden übersetzt und umfangreich kommentiert. Es wurde auch von Nebel gelesen.263 Wilhelm passte das I-Ging an den europäischen Kontext an, insofern er zum Beispiel Vergleiche zu Johann Wolfgang von Goethe anstellte, welche zur allgemeinen Verständlichkeit beitragen sollten.264 Der Verlauf der Jahreszeiten nimmt in diesem Orakelbuch eine grundlegende Rolle ein. Die Philosophie fußt auf der Annahme der Grundkräfte Yin und Yang als Prinzipien der Dunkelheit und Helligkeit.265 Die Grundannahme der Schrift ist gemäß Wilhelm, »daß aus dem Wandel und Übergang dieser Kräfte das Dasein sich auf baut, wobei denn der Wandel teils ein dauernder Umschlag von einem ins andere ist, teils ein kreisförmig geschlossener Ablauf von in sich zusammenhängenden Ereigniskomplexen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter«.266 Entsprechend der Einteilung des Jahres in Jahreszeiten sei der »Kraftstrom« des Lebens zu regeln.267 Der Mensch habe sich in die Zyklen der Natur einzupassen: »Alles Irdische ist dem Wechsel unterworfen. Auf Blüte folgt Niedergang. Das ist das ewige Gesetz auf Erden. Das Schlechte kann wohl zurückgedrängt, aber nicht dauernd beseitigt werden. Es kommt wieder«.268 Der

258 | Itten 1980 (1930), S. 97. 259 | Vgl. Kap. 5.1.1 und Burchert 2018a, 2017b (Webseite). 260 | Itten 1921, o.S. 261 | Itten, Tagebucheintrag vom 16.8.1918, in A. Itten/Rotzler 1972, S. 59; vgl. Kap. 2.1, 3.7. 262 | Bergdolt 1999, S. 37. 263 | Denaro 2012, S. 244-246. 264 | Wilhelm 1924, S. 7. 265 | Ebd., S. IX. 266 | Ebd. 267 | Ebd., S. 35. 268 | Ebd., S. 37.

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Mensch solle nicht willkürlich handeln, sondern sich an den »Gesetze[n] des Naturgeschehens« orientieren.269 Stets geht es somit im I-Ging um »die richtige Art des Handelns, die die Kräfte nicht aufreibt«,270 sondern schonend und somit lebenserhaltend mit ihnen verfährt. Der Herbst wird als natürliche Zeit der Entfaltung der »Kraft des Dunkels und der Kälte« beschrieben, wobei sich »die Äußerungen des Todes allmählich mehren, bis schließlich der starre Winter mit seinem Eis da ist«.271 Die Beschreibungen ähneln jenen Ittens, so heißt es weiterhin: »Im Winter ist die Lebenskraft – symbolisiert durch das Erregende, den Donner – noch unter der Erde. Die Bewegung ist in ihren ersten Anfängen. Darum muß man sie durch Ruhe kräftigen, damit sie nicht durch vorzeitigen Verbrauch sich verläuft. Dieser Grundsatz, die wiedereinsetzende Kraft durch Ruhe erstarken zu lassen, gilt von allen entsprechenden Verhältnissen. […] [A]lles muß im ersten Anfang zart und schonend behandelt werden, damit die Wiederkehr zur Blüte führt.« 272

Der Wechsel zwischen Sammlung und Verausgabung findet sich in Ittens Konzept wieder. Nach dieser Logik lässt sich der Jahreszeitenzyklus als eine Einübung in das Einlassen in die natürlichen Rhythmen verstehen. Itten selbst hatte gefordert, Lehrpläne an die Jahreszeiten anzupassen.273 So wie Gertrud Grunows Harmonierungsunterricht und weitere Körperpraktiken der Zeit dienten seine rhythmischen Kompositionen dazu, die Betrachtenden innerlich in Bewegung und dabei ins Gleichgewicht zu versetzen. Leben begriff Itten als Bewegungsfähigkeit, 1919 schrieb er: »In der Bewegung scheint mir die ganze Lebendigkeit, alles Sein zu ruhen«.274 Ähnlich einer rhythmischen Übung sollte die Einfühlung in Gemälde eine Rhythmisierung bewirken, die Zugang zu einer verlorenen Natürlichkeit ermöglicht. Daher lassen sich Ittens, ebenso wie Klees Bildauffassung mit Arnold Riklis naturheilkundlicher Praxis in Zusammenhang bringen. So hatte Rikli natürliche und atmosphärische Prozesse als Wechsel von »Zusammenziehung und Ausdehnung« beschrieben, welche die nervliche Flexibilität und eine physische und psychische Gesundheit durch ununterbrochene Fließbewegungen herbeiführen und sichern sollten.275 Der Jahreszeitenverlauf avancierte bei Itten zum grundlegenden Lebensmodell. Die damit verbundenen Prinzipien des ausgleichenden Pen-

269 | Ebd., S. 96. 270 | Ebd. 271 | Ebd., S. 8. 272 | Ebd., S. 73. 273 | Itten, »Zwölf Thesen zu meinem Unterricht« (1938), in A. Itten/Rotzler 1972, S. 243; vgl. Kap. 3.7. 274 | Itten, Tagebucheintrag im März 1919 (eine genauere Datierung fehlt), ebd., S. 63. 275 | Rikli 1890, S. 11; zu Rikli vgl. Kap. 2.5, 3.2, 3.7, 3.8.2, 5.3, 6.2.1, 6.4, 6.8.1.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

delns zwischen Belebung und Beruhigung, Licht und Dunkel, Wärme und Kälte, Ausdehnung und Zusammenziehung finden sich auch bei Max Burchartz.

6.7 D as rhy thmische B ild als B iozönose : M a x B urchart z Max Burchartz verband künstlerische Rhythmuskonzepte ebenfalls mit der Vorstellung einer natürlichen Ordnung. »[F]ür den Wert eines Kunstwerkes« sei »entscheidend, […] daß es rhythmisch ist, so wie sich Rhythmus in allen gewachsenen Wesen der Natur zeigt«, so heißt es in Gleichnis der Harmonie.276 Es ging ihm, ähnlich wie Paul Klee, Otto Nebel und Johannes Itten, um die Lebendigkeit des Bildorganismus im Zusammenwirken aller Teile.277 Er nahm dabei direkt Bezug auf Ludwig Klages: »Das Wort Rhythmus, vom griechischen ›rheein‹ = fließen, bezeichnet ein Dahinströmendes, Federnd-Tanzendes, Ungestört-Ablaufendes. Nicht rhythmisch ist das Stockende, Stotternde, Gehemmte, Sichstauende, Abgerissene, Verkrampfte, das Starre und Tote. Es besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen Rhythmus und Leben.« 278

Wie zahlreiche andere Künstler fasste Burchartz den Rhythmus als universelles Lebensprinzip. Er bestimmte ihn als »unmittelbare[n] Ausdruck des Lebens« und als »Lebensintensität«:279 »An der Rhythmik, also an der Art, an dem Grade der rhythmischen Äußerungen und Bewegungen eines Menschen, können wir ablesen seine Lebenskraft, den Grad der Geschlossenheit seiner Person, die Art seiner Einfügung in die Umwelt, den Zustand seiner Seele. Je rhythmischer seine Bewegungen sind, um so mehr befinden sich seine Triebe und sein Empfinden, sein Geist und sein Wollen im Gleichgewicht. Das einseitige Übergewicht irgendwelcher dieser Kräfte stört den Rhythmus. Er wird gestört ebensowohl durch jede Art von Nervosität wie durch ein Übergewicht des berechnenden Verstandes. Je nervöser oder je einseitiger intellektuell eine Person ist, um so stockender, arhythmischer sind ihre Lebensäußerungen.« 280

Auch hier orientierte sich Burchartz an Klages und anderen Graphologen, die die rhythmische Gestalt der Handschrift als Lebensausdruck begriffen. Rhythmizität, Flexibilität und Ausgeglichenheit galten, ähnlich wie bei Itten und Gertrud 276 | Burchartz 1949, S. 16. 277 | Vgl. ebd. 278 | Ebd., S. 154. Es handelt sich um ein indirektes Klages-Zitat, das Burchartz auch als solches ausweist. 279 | Ebd., S. 156. 280 | Ebd., S. 154.

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Das Bild als Lebensraum

Grunow, als Ideale und wurden in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Lebendigkeit und Gesundheit von Personen gestellt. Das bereits diskutierte Konzept der Klages’schen ›Lebenswelle‹ brachte Burchartz in seiner Gestaltungslehre mit einer These des polnischen Graphologen Rafael Schermann in Verbindung: »Was das Gehirn mit Hilfe der Hand niederschreibt, ist wie ein Lebewesen, in dessen Körper das Blut zirkuliert; es ist ein Gebilde, das lebt und atmet.«281 Damit begründete Burchartz seine Auffassung des Kunstwerkes als Organismus, die Ittens anhand von Werner Graeff Rhythmusstudie diskutierten Konzeption stark ähnelt (Kap. 5.4: Abb. 33-34). Rhythmizität wurde von Burchartz nicht nur auf Personenebene und mit Bezug auf die Biorhythmen im Menschen besprochen, sondern zudem als Qualität der Umwelt. In Schule des Schauens definierte er Rhythmen als »Wiederholungen von Vorgängen im Geschehen der Welt und im Dasein der Lebewesen, die die fließende Fortdauer des Lebens bezeugen und Ausdruck des Lebens selbst sind«.282 Wie Klages und Itten dienten ihm der Umlauf der Sonne um die Erde, Wellen, Herzschlag und Atem als Beispiele für die Wiederkehr des Ähnlichen in Makround Mikrokosmos: »Tag um Tag läuft die Sonne um die Erde, unaufhörlich eilen die Wellen der Wasserläufe in tiefer gelegendes [sic!] Land, werfen sich die Meere gegen die Ufer. Immerfort schlagen die Herzen und bewegt sich der Atem von Tieren und Menschen. Immer erneut erfahren unsere Sinne die Wiederkehr fesselnder Bilder nach naturgesetzlicher Frist in einer endlosen Kette. Nie gleich, aber stets ähnlich, ständiger Wechsel im stetigen Fortlauf, erweisen die Bilder ihre magnetische Zugkraft für unsere Sinne, hinzuhorchen, hinzusehen, den Pulsschlag des Lebens zu spüren.« 283

Rhythmik erscheint auch hier als Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung. Burchartz vertrat so gleichermaßen kein lineares, metrisches Zeitverständnis, sondern ein biorhythmisches. Als »Grundlage dieses Zeitmaßes« bestimmte er »das Gleichmaß des eigenen Stoffwechsels der Zellen«.284 Demnach verlaufen mikrokosmische Lebensprozesse wie Atem und Puls im einzelnen Organismus analog zu und geleitet durch die Rhythmen im großen Ganzen der Natur. In Schule des Schauens berief sich Burchartz auf Raoul H. Francés Bios. Die Gesetze der Natur. Eine erste Lektüre erfolgte in den frühen dreißiger Jahren, in den späten Publikationen der Fünfziger und Sechziger griff er darauf zurück.285 Burchartz fokussierte sich auf Francés Gedanken zur »Biozönose des Waldes«, in 281 | Burchartz 1953, S. 36; zur ›Lebenswelle‹ vgl. Kap. 3.2.2. 282 | Burchartz 1962, S. 96. 283 | Ebd. 284 | Ebd., S. 95. Auf dieses Zeitmaß stützte sich auch František Kupka, vgl. Kupka 2001 (1923), S. 114. 285 | Burchartz 1949, S. 186.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

der sich »[a]lles Geschehen [als] ein stetes Spiel und Widerspiel von Ausgleichserscheinungen« vollziehe.286 Er beschrieb in Analogie zu Francé den »Wald als Organismus, in dem in der Vielfalt der Zusammenhänge nicht übersehbare Kräfte gesetzmäßig so ineinandergreifen, daß Wald als Wesen immer neu entsteht und existiert«.287 Die Darstellung des Waldes als Organismus formulierte er anschließend als künstlerisches Problem: »Der Wald hat viele tausende Male Maler veranlaßt, Aussagen über das Erleben seiner Erscheinung zu machen. Sie haben den Wuchs der Pflanzen geschildert, das rhythmische Wogen seiner Laubmassen umfahren, die Stille seiner schattigen Innenräume verherrlicht, die Spiele seiner Farbennuancen zu allen Jahreszeiten beobachtet, warum soll den Malern der Versuch verwehrt sein, das Erlebnis der gesetzlichen Einheit des Waldorganismus gleichnishaft schaubar zu machen?« 288

Als Gleichnis eines natürlichen Organismus im Sinne einer Biozönose, eines Lebensraumes, nannte Burchartz Klees Triebkraft des Waldes (1917), ohne dies allerdings weiter auszuführen (Abb. 42). Abbildung 42: Paul Klee, Triebkraft des Waldes, 1917, Wasserfarbe auf Gesso auf Stoff, 18,1 × 25,4 cm, Metropolitan Museum of Art, New York

Das kleinformatige Bild ist geprägt durch dynamische Strichelungen in Wasserfarbe. Der darunterliegende, weiße, durch Gesso bedeckte Stoff ist an einigen 286 | Francé zit.n. Burchartz 1962, S. 186. 287 | Ebd. 288 | Ebd.

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Stellen sichtbar, wenige Partien sind mit hellem Grün, Ocker und anderen Farben grundiert. Darüber erstrecken sich in verschiedenen Tönen wie Schwarz-Grün, Orange und Blau wilde Strichelbündel, die eine bewegte Struktur erzeugen, welche keinerlei Fixpunkt in der Betrachtung zulässt. Das Auge wird zu ständiger Bewegung animiert, in unterschiedlichsten Richtungen folgt es den Formbündeln. Die Bildrezeption soll nie zu einem Ende gelangen. Daraus erhält das Blatt die von Burchartz beschriebene ›Einheit‹ und die Qualität des ständigen Neuentstehens. Wie in der ›Biozönose des Waldes‹ vollzögen sich hier, so deutete der Künstler an, endlose, energetische Prozesse. Dezidiert ging es ihm jedoch nicht um die äußeren Erscheinungen, um die Farben und Formen des Waldes zu unterschiedlichen Jahreszeiten etwa. Er sah in Klees Blatt die inneren Gesetzmäßigkeiten und die Möglichkeit des Miterlebens dieser verwirklicht. So sollte das Leben im Wald, das Eingeschlossensein in diesem Lebensraum, erfahrbar gemacht werden. In Burchartz’ Schriften finden sich, ähnlich wie bei Klee, zwei Wirkungsmodelle: eines, das – wie Triebkraft des Waldes – auf eine energetisch-energische Belebung, und eines, das auf eine Beruhigung und dennoch stärkende Harmonisierung zielt. Wie bereits aufgezeigt attestierte Burchartz Formen und Farben einen wesentlichen Einfluss auf Puls und Atem. Dabei bezog er sich auf die Schule Wilhelm Wundts, durch die nachgewiesen worden war, »daß warme Farben Puls und Atmung beschleunigen, kalte sie mindern«.289 Ähnlich wie Grunow ging Burchartz davon aus, dass Farben und Rhythmen zu einer Harmonisierung im Menschen führen können: »Im Ringen der widerstreitenden Kräfte alles Lebendigen hat auch die Kunst ihre Sendung. Sie hilft den Menschen, sich einzufügen in die harmonische Einheit der Welt. Kunstwerke haben ihren Sinn als in unser Leben hinein wirkende harmonisierende Kräfte. Sie sind Beispiel und Gleichnis, einzutauchen in den kosmischen Strom.« 290

Burchartz nahm eine harmonische, rhythmisch fließende Ordnung des Kosmos an, die in der Kunst zum Ausdruck und zum Wirken komme. Eine Harmonisierung mit der Umwelt war so das grundlegende Ziel seiner künstlerischen Praxis.291 Der Wechsel von Eindrücken als Teil der Umweltgestaltung wurde bereits im Zusammenhang mit Burchartz’ klimatischem Farbkonzept beleuchtet. So war er davon ausgegangen, dass die Menschen »eines rhythmischen Wechsels von Dunkel und Licht« bedürfen: »In zu lang währender Dauer machen Licht wie Dunkel die Menschen krank. Dunkel und Licht erweisen eine merkbare Eindruckskraft auf die Seele […]«.292 Dies galt auch für das Ideal des milden Klimas. Die für den 289 | Burchartz 1949, S. 34; vgl. Kap. 3.2.3. 290 | Ebd., S. 209. 291 | Dieses Ziel hatte auch Otto Piene formuliert (vgl. Kap. 2.4, 4.6). 292 | Ebd., S. 30; vgl. Kap. 3.2.1.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Menschen notwendigen »gemäßigten Temperaturverhältnisse[…]« hatte Burchartz in ein »mittleres Anteilverhältnis von bunter und unbunter Farbe« übersetzt,293 wobei seine Kompositionen dementsprechend nicht von mittleren Tönen, sondern dem Kontrast und somit dem rhythmischen Wechsel verschieden temperierter Farben leben. Neben der Musik und der Kinematographie nannte Burchartz so auch statische Bilder als rhythmisch organisierte Künste: »Ein Kunstwerk erfüllt nur dann seinen Sinn, wenn der Beschauer von ihm gepackt und ergriffen, wenn es für ihn zum Erlebnis wird. Solange der Betrachter nur kühl prüft und urteilt, solange er also nur in verstandesmäßiger Beziehung zu einem Werk steht, werden die Bezirke der Kunst gar nicht betreten, das Werk bleibt unwirksam.« 294

Die statischen Bilder seien nur »mittelbar«, aber »entscheidend bestimmt durch ihren Gehalt an Rhythmus«: »Als Niederschlag einst zeitlich erlebten Nacheinanders im Schaffensvorgang spiegeln sie [die Bilder] in der Anordnung von Lichtund Raumqualitäten rhythmisches Zeitgeschehen«.295 Insofern werden Rhythmen durch den Betrachter oder die Betrachterin vom Bild aufgenommen und verinnerlicht: »Je rhythmischer es erlebt und gestaltet ist, um so stärker überträgt sich sein [des Künstlers] im Pinselstrich, im Stoff, im Stein gefesselter Rhythmus auf den Aufnehmenden«.296 Anhand von Burchartz’ Interpretation von Klees Triebkraft des Waldes wird dieses Prinzip deutlich. Eine Übertragung dieser Überlegungen auf seine eigenen Werke fällt dafür ungleich schwerer. Diese lassen sich kaum mit den wilden Rhythmen in Triebkraft des Waldes und dem gestischen Informel, auf das er sich ja vielfach bezogen hatte, in Verbindung bringen. Komposition II und Triebkraft des Waldes könnten unterschiedlicher kaum sein (Kap. 3.2.5: Abb. 9). Wie bereits herausgearbeitet beruhen Bewegung und Spannung in Burchartz’ Komposition auf dem Verhältnis der Bildhälften, den beiden Hauptformen und ihren Umrahmungen. Die Wechsel von Zurück- und Vorstreben, Erhöhung und Vertiefung, Warm und Kalt, Bunt und Unbunt, Hell und Dunkel wären hier nach Burchartz als fließend-atmende Bewegungen entsprechend natürlich-kosmologischen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Tatsächlich wirken die Seiten fast wie zwei Lungenflügel oder, allgemeiner gefasst, wie mit zwei unterschiedlichen Lebensstoffen gefüllte Gefäße. Ein tatsächliches Fließen stellt sich aber, gerade im Vergleich zu Klees Blühendes (Kap. 6.4: Abb. 41), durch die Trennung der Formen und die klare Aufteilung in zwei Bildhälften nicht ein. Burchartz gab aber noch einen weiteren Hinweis, in welcher Weise seine großen, malerischen Kompositionen als verlebendigende Lebensraumäquivalente wirken 293 | Burchartz 1962, S. 92. 294 | Burchartz 1949, S. 194. 295 | Burchartz 1962, S. 96. 296 | Burchartz 1949, S. 155.

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sollten. Im Rekurs auf Klages postulierte er, dass große Formen auf die Betrachtenden in besonderer Weise wirken, »da eigne Lebenssteigerungen immer mit einem Größerwerden, mit einem Sich-Strecken, Sich-Ausdehnen unseres Körpers verbunden sind, während Lebensverminderungen für uns in einem Zusammenziehen, Sich-Beugen, Sich-Ducken unseres Leibes sich äußern«.297 Burchartz eröffnete so verschiedene Möglichkeiten, wie durch – kleine wie große – Bilder eine Verlebendigung der Betrachtenden hervorgerufen werden konnte. Eine Weise sah er verwirklicht in Klees kleinformatigem Triebkraft des Waldes, wo sich in der Dynamisierung des Blickes eine Energetisierung der Betrachtenden vollziehen sollte. Dem raschen Hin-und-Her, der Rastlosigkeit in Klees Blatt sind Burchartz’ eigene Kompositionen entgegen zu setzen, die recht spartanisch und starr auf große Formen reduziert sind. Im Gegensatz zum Blatt Klees setzt Burchartz generell auf Entschleunigung sowie das Zusammenwirken von Farbkontrasten, die sich in Komposition II als Wechsel zwischen verschiedenen Qualitäten vollziehen. Bei Klee fand sich diese Diskrepanz zwischen beruhigendem Mittelmeerklima und dynamisierend-vitalisierendem Werden, Itten gestaltete entsprechend den Kontrast von Frühling und Winter im JahreszeitenZyklus (Abb. 3.7: Abb. 15, 18). Orientierten sich die bisher diskutierten Künstler dezidiert an den Rhythmen der Natur, weitete László Moholy-Nagy das Konzept der Natürlichkeit im Sinne des Biologischen stark aus und kam so zu einem anderen Rhythmusbegriff.

6.8 B iotechnische R hy thmen bei L ászló M oholy -N agy : K unst werke als vitalisierende S ysteme 1925 hatte László Moholy-Nagy die kinetische Kunst in engen Zusammenhang mit der spannungsgeladenen, aber unbewegten Bildsprache der Maler am Bauhaus gestellt: »Betrachten wir die Bilder von Kandinsky und Klee: Hier sind alle Elemente für die tatsächliche Bewegung – Spannungen von Fläche zu Fläche zu Raum, Rhythmus und musikalische Beziehungen im unzeitlichen Bilde vorhanden. Farbformflächen tatsächlich zu bewegen, war eine Notwendigkeit geworden.« 298

Nicht nur der bloße Wunsch nach Rhythmisierung verband ihn mit seinen Kollegen, auch die biologische Rhythmik war für seine Theorien und seine künstlerische Praxis zentral. Die bewegte, rhythmisierte Gestaltung fasste Moholy-Nagy als eine Form der Biotechnik. Das Streben weg vom Statischen und hin zum Dynamischen ging mit einem spezifischen, biologischen Wirkungskonzept einher, 297 | Ebd., S. 42. 298 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 72; vgl. auch ebd., S. 18.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

das die Rhythmen der Technik und der Großstadt keineswegs ausschloss. Die Lebensräume, die Kunst ihm zufolge eröffnen und gestalten sollte, waren nicht der Wald oder Sommeraufenthalt auf dem Lande wie bei Paul Klee. Es waren auch nicht die sich stetig wiederholenden Jahreszeiten eines Johannes Itten. Ziel der kinetischen Kunst war gemäß Moholy-Nagy »die Produktion von Licht-Raum-Zeit-Spannungen in farbigen oder Hell-Dunkelharmonien und (oder) in verschiedenen Formen auf kinetische Art, in einer Kontinuität der Bewegung«.299 In diesem Zusammenhang formulierte er die Idee, dass Kunst das Lebenstempo regeln könne. Die kinetische Kunst erfordere »einen gesteigerten aktiven Zustand des Zuschauers, der – statt einer Meditation über ein statisches Bild und statt eines Hineinsinkens[,] woraus seine Aktivität sich erst aufbaut – gezwungen wird, sich gewissermaßen sofort zu verdoppeln, um eine Kontrolle und ein gleichzeitiges Mittun der optischen Ereignisse ausführen zu können«. 300

Statische und kinetische Kunst seien beide, jeweils in unterschiedlichem Maße, als »Gestaltung von optischen Erlebnissen« zu begreifen, die mit dem »die Lebensführung regelnden Tempo[…]« zusammenhängen.301 Die kinetische Kunst stelle allerdings höhere Anforderungen an die Rezipierenden. Durch den Begriff des Mittuns wird deutlich, dass Moholy-Nagy davon ausging, dass die Betrachtenden die Rhythmen für die Zeit der Rezeption als ihre eigene, innere Rhythmik annehmen, ohne – und dies ist ein Unterschied zu Itten und Mark Rothko – alle Kontrolle aufzugeben. Um 1938 postulierte Moholy-Nagy die Notwendigkeit einer Rhythmik im Einklang mit der biologischen Konstitution des Menschen: »Das Wort biologisch gebrauchen wir hier für Gesetze des Lebens, die eine organische Entwicklung sichern. […] Wenn die Zivilisation unserer Epoche dem Menschen mehr Zeit gäbe, seinem biologischen Rhythmus zu folgen, wäre das Leben des Menschen weniger hysterisch und endeten weniger Lebenswege in einer Sackgasse.« 302

Als grundlegendes Ziel für die kommende Generation formulierte er, »eine Kultur [zu] schaffen […], die die wahren biologischen Funktionen verstärkt«.303 Die Stärkung der Lebensfunktionen sollte über die Konfrontation mit »unbekannten optischen, akustischen und andern funktionellen Erscheinungen« erfolgen, die

299 | Ebd., S. 18. 300 | Ebd. 301 | Ebd. 302 | Moholy-Nagy, »Die Erziehung und das Bauhaus« (1938), zit.n. Passuth 1987, S. 358 [Herv. i.O. fett]. 303 | Ebd.

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»weitgehend neue Beziehungen« herstellen.304 Für Moholy-Nagy stand so das menschliche Gleichgewicht im Vordergrund, um das es auch Gertrud Grunow und Otto Nebel zentral gegangen war. Der Harmoniebegriff, den Moholy-Nagy anlegte, unterscheidet sich vom Verständnis einer statisch-stillgestellten Harmonie: »Harmony, in classical terminology, means tranquility, the crystallized position of the elements. The new kinetic form of creative work implies a steady flux, sometimes a rapid change, a constant shifting of the position of the elements.«305 Der Künstler regte daher an, den Begriff der Harmonie durch den der Organik, des Organischen, zu ersetzen.306 Bereits 1929 schrieb er: »wir wissen heute, daß die harmonie nicht in einer ästhetischen formel, sondern in der organischen, ungestört ablaufenden funktion einer jeden existenz ruht. demnach sind die kenntnisse irgendwelcher kanons weit weniger wichtig als das vorhandensein eines richtigen menschlichen gleichgewichts. […] das gesetzmäßige der arbeit stellt sich […] von selbst, organisch, ein.« 307

Insofern setzte Moholy-Nagy, ähnlich wie Itten, František Kupka und Max Burchartz am schöpferischen Individuum und dessen biologischen Rhythmen sowie organischen Funktionen an, um daraus den künstlerischen Ausdruck abzuleiten: »der biologische auf bau des menschen ist die eigentliche quelle jedes organischen ausdrucks.«308 Aus diesem Auf bau ergibt sich das ständige Streben nach Ausgleich, der nur als Prozess, nicht als stillgestellte Harmonie, denkbar ist. In der kinetischen Kunst vollzöge sich ein prozessual in jedem Moment neu verwirklichendes Gleichgewicht zwischen Werk und Betrachter/-in. Dabei changieren die Eindrücke, etwa durch Wechsel von Hell und Dunkel, durch rhythmische Formund Farbwechsel, wie sie auch Klee und Itten in ihren Fugen- und Rechteckkompositionen zu gestalten suchten. Allerdings wird sogleich deutlich, dass MoholyNagy ein anderes Verständnis von Biorhythmik und Organik vertrat als die zuvor betrachteten Künstler. So sprach er zwar vom »flux«, was für ein Verständnis der Rhythmik als Fließbewegung spricht, allerdings fallen Begriffe wie »Welle«, »Zusammenziehung« und »Ausdehnung« oder »Puls«, die sich als besonders typisch herausgestellt hatten, bei ihm nicht. An deren Stelle treten plötzliche Wechsel, die dem bloßen Hineinsinken in die Werke entgegenwirken.

304 | Moholy-Nagy 1967 (1925), S. 28; vgl. Kap. 3.8.2. 305 | Moholy-Nagy 1947a, S. 55. 306 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 188. 307 | Ebd. 308 | Ebd.; vgl. Kap. 5.4, 6.7.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

6.8.1 Kinetische Systeme, Wahrnehmungstraining und Zivilisationskritik Das Konzept einer dynamisierenden Gestaltung entwickelte Moholy-Nagy gemeinsam mit Alfréd Kemény unter der Bezeichnung »Dynamisch-konstruktives Kraftsystem«, das sie in einem kurzen Artikel für die Zeitschrift Der Sturm Ende 1922 darlegten. Dabei ging es zunächst um die »Ineinander-Konstruierung der in dem physischen Raume sich real gegeneinander spannenden Kräfte und ihre Hineinkonstruierung in den gleichfalls als Kraft (Spannung) wirkenden Raum«.309 Die »vitale Konstruktivität« der Kunst, die sie als »Erscheinungsform des Lebens und das Prinzip aller menschlichen und kosmischen Entfaltungen« auffassten, rückten sie in den Vordergrund.310 Beide wollten den Raum durch Kräfte, Spannungen und wechselnde Eindrücke aktivieren und bezogen sich – wie viele der zuvor besprochenen Künstler – auf kosmische Kräfte und insbesondere das Prinzip der Spannung. Dynamik galt Moholy-Nagy und Kemény als generelles Lebensprinzip, das Material lediglich als »Kraftträger«.311 Ähnlich wie Umberto Boccioni und Kupka strebten sie so die Dematerialisierung des Kunstwerkes an. Einige Jahre später, 1929, dachte Moholy-Nagy in Weiterführung des ›Dynamisch-konstruktiven Kraftsystems‹ über künstlerisch gestaltete Räume nach: »weitere raumerlebnis-möglichkeiten liegen im akustischen und gleichgewichtsorgan; ferner in anderen raumerlebend funktionierenden empfindsamkeiten unseres körpers, deren lokalisierung nach heutigem wissen noch sehr ungewiß ist. sie gehören wahrscheinlich in die gruppe jener sinnestätigkeiten, die atmosfärisches und telepatisches aufnehmen und weiterleiten. die bewußtmachung dieser bereiche wird u.a. auch der architektur große dienste leisten.« 312

Moholy-Nagy wollte eine nicht mehr an das Bildmedium und den Sehsinn gebundene Kunst verwirklichen, die als reine Empfindung von Atmosphäre und gar telepathisch aufgenommen werden konnte. Die Nennung des Gleichgewichtssinnes im Zusammenhang mit potentiell atmosphärisch-ungreif baren Kunstmitteln erinnert an Grunows Gleichgewichtsübungen. Solange eine solche immaterielle Kunst nicht verwirklicht werden konnte, wollte Moholy-Nagy versuchen, mit »neuen optischen erlebnissen, die stärkste erschütterung [zu] vermitteln«.313 Wenngleich in zahlreichen hier besprochenen Positionen das Rhythmische und das Kontrastive wesentliche Mittel darstellten, so ist Moholy-Nagys Vorstellung davon, wie sich eine Belebung qua Bewegung 309 | Kemény/Moholy-Nagy 1922, S. 186. 310 | Ebd. 311 | Ebd. [Herv. i.O. fett]. 312 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 196. 313 | Moholy-Nagy, »vom pigment zum licht« (1936), in Passuth 1987, S. 342.

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und Rhythmus vollziehen sollte, doch im Wesentlichen eine andere. Biologische Prinzipien wurden hier nicht als Wiederholung immer gleicher Phänomene und Lebensprinzipien wie der Jahreszeiten, Wärme und Kälte, Aktivität und Passivität, Beruhigung und Aktivierung gedacht. Mithilfe der künstlerischen Gestaltung sollten immer neue, in der Form noch nicht erlebte Eindrücke entstehen, auf die sich die Betrachtenden je neu einzustellen hatten – nur ansatzweise ließe sich Ähnliches in Klees Triebkraft des Waldes, bei Wassily Kandinsky oder Nebel feststellen. Mit biologischen Rhythmen waren bei Moholy-Nagy eben nicht die immer wieder ähnlich ablaufenden Prozesse der Atmung, des Pulses und dergleichen gemeint, sondern Dynamik als generelles Lebensprinzip, das dem Monotonen – Sinnbild des Unbelebten – entgegenstellt wurde. Einiges spricht dafür, dass Technologie von ihm als wesentlicher Faktor im menschlichen Stoffwechsel aufgefasst wurde. In Vision in Motion postulierte er: »[T]echnology has become as much a part of life as metabolism.«314 Moholy-Nagys Verständnis von Kunst als »Wahrnehmungstraining«315 ist dennoch vergleichbar mit dem Flexibilitätstraining nach Arnold Rikli – mit einer Einübung in die Einstellung auf wechselnde Eindrücke, durch die alles im Organismus flexibel und im Fluss gehalten wird.316 Allerdings bezog Moholy-Nagy dieses Prinzip auch auf die urbane Lebenswelt: Trotz seines lebensreformerischen Hintergrundes rekurrierte er in den zwanziger Jahren dezidiert positiv auf die Rhythmen der Großstadt. Es ging ihm in seinem Konzept der Biotechnik und -rhythmik um die Möglichkeit des Rezipierenden, »sich mit seinen Spannungen in seine Umgebung ein[zu]schalten und so seine Vitalität [zu] steigern«.317 Dies führte ihn in die Nähe der Futuristen und ihrer Technik- und Fortschrittsaffinität.318 So nahm er auf die moderne Lebensrealität Bezug, die er als gegebenen, aber veränderbaren Lebensraum des Menschen begriff. An keiner Stelle bedauerte er die Urbanisierung und den Verlust natürlicher Rhythmen wie etwa Itten, auch wenn er Ende der zwanziger Jahre schließlich vermehrt von »schäden« zu sprechen begann, welche die »technische[…] zivilisation« mit sich gebracht habe, und die es mittels Kunst zu bekämpfen gelte.319 Moholy-Nagys Kritik richtete sich in späteren Jahren vermehrt gegen die zeitgenössische Formen der Industrialisierung und Technisierung, die durch Arbeitsteilung eine einseitige, unkreative Körper- und Sinnlichkeit zur Folge hatten.320 Er beschrieb den seiner Kreativität beraubten Menschen gleich einer Batterie, deren 314 | Moholy-Nagy 1947b, S. 64. 315 | Baxmann 2006, S. 8; vgl. Kap. 1.2. 316 | Zu Rikli siehe Kap. 2.5, 3.2, 3.7, 3.8.2, 5.3, 6.2.1, 6.4, 6.6. 317 | László Moholy-Nagy, »Über das Problem des neuen Inhalts und der neuen Form« (1922), in Passuth 1987, S. 304. 318 | Baxmann 2006, S. 94; vgl. Kap. 2, 2.1. 319 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 15. 320 | Moholy-Nagy 1947b, S. 12, vgl. auch ebd., S. 28.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

Lebenssäfte durch die Monotonie ins Stocken gerieten und ›verdunsteten‹.321 Dabei entwickelte Moholy-Nagy ein pädagogisches Konzept, das die künstlerische Praxis selbst als Heilmittel fasste.322 Ziele der Ausbildung der Sinne im Einklang mit der Biologie und der Entwicklung einer größeren Wahrnehmungsfähigkeit 323 sollten nicht nur im Unterricht, sondern durch Kunst, Design und Architektur selbst auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden. So ging es Moholy-Nagy um die Ausbildung von Menschen, die die Zukunft gestalten.324 Eine solche Gestaltung sei der Reizüberflutung und dem »eiltempo« der aktuellen Lebensrealität entgegengesetzt.325 Daraus ergibt sich ein Widerspruch, der sich nicht ganz auflösen lässt. War der Künstler einerseits fasziniert von den Rhythmen der Großstadt und wendete er sich keineswegs gegen rasch wechselnde Eindrücke in der Umgebung, so sah er doch Reformbedarf mit Blick auf den Rhythmus seiner Zeit. Noch 1921/22 hatte Moholy-Nagy im Film Dynamik der Groß-Stadt eine geradezu überzogene Darstellung von Großstadtrhythmen gestaltet, die er keineswegs dystopisch fasste.326 In den späteren dreißiger sowie den vierziger Jahren schien er die Rhythmen der Metropolen, inklusive ihrer medialen Gestaltung durch Werbung, hingegen verstärkt zu kritisieren. Interessanterweise nahmen so Elemente seiner lebensreformerischen Prägung der zehner Jahre zunächst ab, um später erneut zu erstarken. Moholy-Nagy differenzierte sein Konzept einer künftigen Lichtmalerei, die schließlich in den privaten wie in den öffentlichen Raum Einzug nehmen sollte,327 in den Vierzigern von der aktuellen Kultur des Lichtes: »[T]his is not yet the age of light painting. It is only the hour of light advertising, serving publicity, to catch the eye; to shorten an interval; to fill mental gaps. Today motion is admired, used mainly to satisfy the novelty craze for raw speed. Our culture provides blind motion in the incessant electric arrow and in the movies, perfect symbol of this vicarious age. We have not yet institutionalized the space-time of our physical universe. In fact, the modest attempts of modern artists to embody space-time into their work stand in danger of being

321 | Ebd., S. 15: »As the laborer was deprived of the incentive and assurance of working for a creative result dependent upon his abilities for completion, the vital fluid which, as in a battery, carries the current from one unit to the other, evaporated.« 322 | Ebd., S. 28: »Art is the most complex, vitalizing, and civilizing of human actions. Thus it is of biological necessity. Art sensitizes man to the best that is immanent in him through an intensified manifestation«. 323 | Moholy-Nagy 1947b, S. 20. 324 | Vgl. zu diesem Ansatz Botar 1998, S. 444. 325 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 18. 326 | Hoormann 2003, S. 271-276. 327 | Brief von Moholy-Nagy an František Kalivoda im Juni 1934, zit.n. Passuth 1987, S. 337; vgl. Kap. 4.5.2.

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Das Bild als Lebensraum lost in the flashy chaos of the superficially used light and motion. Light is still used without planning, as in crossfires of searchlights, sky projections, and neon light extravaganza.« 328

Insofern kritisierte er die Kultur des Spektakels, in der nicht Zusammenhänge hergestellt wurden und die sich flüchtig, beschleunigt und auf pure Sensation ausgelegt zeigte. Dies entsprach nicht den biologischen Rhythmen des Menschen, wie sie Moholy-Nagy fasste und durch seine kinetische Lichtkunst verwirklichen wollte. Er prognostizierte für die Zukunft: »[L]ight as a new medium will infuse vitality into the ever-recurring problems of life«.329 Zu Beginn von Vision in Motion verdeutlichte er, dass das aktuelle Leben kein »lived life« sei und definierte als zentrale Charakteristik des ›gelebten Lebens‹ die ausgeglichene Verbindung von Intellektuellem und Emotionalem, Sozialem und Technologischem.330 Es ging ihm also stets auf allen Ebenen um die Verbindung verschiedener Komponenten, während die aktuelle Lichtkultur für das Stakkato und das Unverbundene stand, das so nicht nur auf den Körper, sondern auch auf Denken und Gefühle der Menschen negativ und fragmentierend einwirkte. Die Technik an sich war für Moholy-Nagy nicht das Problem, sondern die Weisen ihrer Anwendung. Andererseits, und auch dieser Widerspruch lässt sich nicht ganz auflösen, sprachen er und Kemény in ihrem gemeinsamen Konzept davon, dass die »ersten Entwürfe zu dem dynamisch-konstruktiven Kraftsystem […] nur experimentelle und Demonstrationsapparate […] zur Prüfung des Zusammenhangs zwischen Materie, Kraft, Raum« darstellen konnten.331 Sie fügten hinzu: »Danach folgt die Benutzung der experimentellen Resultate der Gestaltung freier (von maschinen-technischer Bewegung freier) sich bewegenden Kunstwerke«.332 Damit bleiben sie im Ungefähren, dennoch wird deutlich, dass Moholy-Nagy nicht an maschinell betriebenen Apparaturen festhalten, sondern andere Lösungen finden wollte. Der ideale Einsatz, der ihm für die kinetische Kunst – maschinenbasiert oder nicht – vorschwebte, war der von Kunst als ›Wahrnehmungstraining‹ (Baxmann). Kunst erhielt die Aufgabe, die Funktionskraft der Wahrnehmungsorgane zu steigern: »Die Mehrzahl der Menschen ist heute in der Ausübung der elementaren Sinnestätigkeit stark gehemmt; das heißt: die Menschen können kaum auf die elementaren Sinneseindrücke wie: Farbe, Ton, Form mit der ursprünglichen Funktionskraft ihrer Organe reagieren«.333 Grunow sprach übrigens sehr ähnlich bereits 1911 von einem Zusammenhang der Empfindungsfähigkeit für den Rhythmus und der Fähigkeit zum Erleben von Kunst:

328 | Moholy-Nagy 1947b, S. 166. 329 | Ebd. 330 | Ebd., S. 12. 331 | Kemény/Moholy-Nagy 1922, S. 186. 332 | Ebd. 333 | Moholy-Nagy 1925, S. 344.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild »Wer Empfindung für Rhythmik erworben hat und seinen Organismus, die Muskeln beherrscht, wird auch ein Kunstwerk tiefer und tiefer, die rhythmischen Spannungen des Schöpfers immer feiner und intensiver allmählich nachempfinden und nachgestalten, ja vielleicht eine Komposition noch höher als der Schöpfer selbst zu heben die Macht zeigen.« 334

Stellte Grunows Harmonisierungslehre ebenso eine Vorbereitung für eine intensivierte Kunst- und Umwelterfahrung sowie zugleich die Voraussetzung für eine bessere Gesundheit dar, glaubte Moholy-Nagy, dass eine solche Wirkung auch allein durch die Rezeption von Kunst erreicht werden könnte. Ähnliche Gedanken fanden sich in Ittens Überlegungen zur künstlerischen Praxis als Gesundheitskur, die gleichermaßen mit der Rezeption von künstlerischen Rhythmen in Verbindung stand (Kap. 6.6).

6.8.2 Biotechnische Energiesysteme Moholy-Nagy machte keinen wesentlichen Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Rhythmen. Gestützt wurde dieses Denken durch die Theorien des russischen Universalwissenschaftlers Alexander Bogdanov (1873-1928) sowie Raoul H. Francé. Kemény brachte in das gemeinsame Konzept des Kraftsystems den Ansatz der Tektologie Bogdanovs ein.335 Die Tektologie wurde als Gesamtwissenschaft der ›Struktur‹ und ›Organisation‹ konzipiert und basierte auf der Evolutionstheorie, dem Monismus Ernst Haeckels und der Energetik Wilhelm Ostwalds (Kap. 2.2, 4.5.2). Im Vordergrund stand das Streben nach Gleichgewicht in Systemen, wie Maja Soboleva erörtert: »Der Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung ist mit der Herstellung und Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen System und Umwelt einerseits und System und Subsystemen andererseits verbunden«.336 Natürliche wie soziale Prozesse gelten demzufolge als »Energie-, Stoff- und Informationswechselprozesse«.337 Bogdanov stellte kulturelles Handeln und kulturelle Produktionen in Abhängigkeit zum Biologischen. Technik galt insofern als Teil der Natur des Menschen und als Teil natürlich-evolutionärer Prozesse.338 Dies traf, wie bereits gesehen, auch auf Francé zu, auf den sich Moholy-Nagy in seinen Schriften bezog. Wie bereits für Nebel war hier die Francé’sche Annahme zentral, dass »Natur und Kultur, Erkennen und Gestalten, Wissen und Handeln unter dieselben Gesetzmäßigkeiten fallen«.339 Analog zu Bogdanov nahm Francé eine Biologisierung kultureller Phä334 | Grunow, »Was ist Jaques-Dalcroze dem Sänger?« (1911), in Radrizzani 2004, S. 68. 335 | Vgl. Botar 2006, S. 139. 336 | Soboleva 2008, S. 92. 337 | Ebd., S. 90. 338 | Vgl. ebd., S. 80. 339 | Francé 1923, S. 30; vgl. ebd., S. 180.

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Das Bild als Lebensraum

nomene vor.340 Er fasste die Natur als »durch Gesetze regierte, lebende Einheit«, in der alles nach Gleichgewicht strebt 341 und in der alles untrennbar miteinander verbunden ist.342 Dementsprechend vollzögen sich ständig Ausgleichsvorgänge,343 welche die Vorstellung einer »Weltharmonie« begründen.344 Wie Bogdanov verwendete Francé den Begriff des Systems,345 um das Leben und die ständige Erhaltung des Gleichgewichtes und somit des Lebens zu erklären.346 Das Streben nach dem Optimum im System war dabei für Moholy-Nagy gleichermaßen zentral:347 Dieser zitierte in Von Materialität zu Architektur eine längere Passage aus Francés Die Pflanze als Erfinder von 1920, in der natürliche Gesetze des »geringsten widerstandes und der ökonomie der leistung« von der Natur abgeleitet und auf die Technik übertragen wurden.348 Der »naturkräfte« solle sich der Mensch in seinem Schaffen »bemächtigen«, so Moholy-Nagy,349 und Energieverluste dabei vermeiden – ganz im Sinne der Lebenserhaltung. Moholy-Nagys Buch Neues Sehen von 1928 basierte maßgeblich auf der Biozentrik Francés.350 Oliver Botar führte die ökologische Weltanschauung des Künstlers auf eben diese Bezüge zurück.351 Selbst wenn der Systembegriff durchaus auf einige der anderen Künstlerpositionen übertragbar wäre, weil er mit dem Verständnis des Kunstwerkes als Organismus in Verbindung gestellt werden kann, fiel er bei Moholy-Nagy und Kemény zum ersten Mal explizit. Die beiden können in diesem Sinne als wegweisend für das Verständnis des Kunstwerkes als (Energie-)System sowie als funktioneller Teil eines übergeordneten Systems der Kultur betrachtet werden (Kap. 7.2).

340 | Vgl. Botar 1998, S. 406. 341 | Francé 1923, S. 22. 342 | Botar 1998, S. 44; vgl. Kap. 2.4. 343 | Francé 1923, S. 38. 344 | Ebd., S. 104. 345 | Siehe exemplarisch ebd., S. 180 und S. 241. 346 | Vgl. Botar 1998, S. 437. 347 | Vgl. ebd.; siehe ergänzend Raoul H. Francé, Die Welt als Erleben: Grundriss einer objektiven Philosophie, Das Buch des Lebens: Ein Weltbild der Gegenwart, Dresden 1924, insbesondere S. 25. 348 | Moholy-Nagy 1968 (1929), S. 60. 349 | Ebd. Noch 1947 zitierte dieser das funktionalistische Prinzip Francés, nach dem jeder Prozess seine notwendige und in diesem Sinne ökonomischste Form habe (MoholyNagy 1947b, S. 44). 350 | Botar 1998, S. 445f.; vgl. Kap. 1.2, 2.4, 3.2.4, 6.5. 351 | Ebd., S. 446.

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild

6.8.3 Rhythmische Systeme im künstlerischen Werk Moholy-Nag ys? Moholy-Nagy zielte darauf ab, den Betrachtenden seiner Werke durch eine ständige, vitalisierende Herausforderung und Aktivierung ihrer Wahrnehmungsorgane Energie zuzuführen und auf ihre Lebensprozesse Einfluss zu nehmen. Abschließend soll anhand der bereits besprochenen Werkgruppen (Kap. 4.5.2) überprüft werden, welche Rolle Rhythmizität und Systemcharakter in dessen Werk tatsächlich einnahmen. Die Plexiglasbilder auf deformiertem Material sind auf einer formalen Ebene über Formen und Linien rhythmisiert, wie anhand vom Guggenheimer Space Modulator festgestellt (Kap. 4.5.2: Abb. 28). Hier, ebenso wie im Plexiglasbild CPL 4 (1942), wird deutlich, dass Moholy-Nagy sein dynamisches Kunstkonzept nicht konsequent umsetzte.352 Die Werke eröffnen zwar eine Dreidimensionalität durch Deformierungen im Material, durch Licht- und Schattenwürfe, Einritzungen und perspektivische Linien. Doch wirken sie trotz ihrer Transparenz abweisend und in sich geschlossen. Schließlich sollten die Betrachtenden verschiedene Standpunkte einnehmen, durch welche wechselnde Reflexionen und Eindrücke entstünden: Zusätzlich stellte Moholy-Nagy die Überlegung an, die auf die Bilder gerichteten spotlights in Bewegung zu versetzen, wodurch ständig neue Reflexionen entstehen würden: »[T]he picture would change continuously. It ›breathes‹.«353 Dies ist die einzige Stelle in den veröffentlichten Schriften des Künstlers, an der vom Atem der Werke die Rede ist. Diese so vielfach in dieser Zeit verwendete Begrifflichkeit wählte Moholy-Nagy sonst nicht, gleichwohl er von der Lebendigkeit im Sinne einer Vitalität gelungener Kunstwerke ausging. Die Rhythmik im Lichtrequisit entspricht dem Ideal der vitalen Bewegtheit eher (Kap. 4.5.2: Abb. 29). Denn hier treffen die Rezipierenden tatsächlich auf unerwartete Eindrücke, die den Raum allseitig verwandeln und rhythmisieren. Noch 1936 träumte Moholy-Nagy von »projektorischen spielen farbig flutenden lichts, […] flüssigem immateriellem schweben, […] durchsichtigen feuerfarben«,354 die er jedoch nie so umsetzte. Die Prinzipien des Flutens und Fließens rücken sein Rhythmusverständnis in die Nähe der Lebensreform- und Rhythmusbewegung. Allerdings wollte er auch Stakkato und rasche Wechsel einfließen lassen. Mitte der Dreißiger dachte er etwa über das Medium des Filmes zur rhythmischen Gestaltung nach: »mit wechselnden lichtintensitäten und lichttempi, bewegungsvariationen und veränderungen des raumes durch licht, durch schillernde schirme, erlöschen und aufblitzen, hell352 | Nicht abgedruckt: László Moholy-Nagy, CPL 4, Öl und Einritzungen auf Plexiglas, 86,7 × 113,7 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. 353 | Moholy-Nagy in einem Brief an Hilla von Rebay am 31. Mai 1943, in Passuth 1987, S. 199. 354 | Moholy-Nagy, »vom pigment zum licht« (1936), ebd., S. 342.

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Das Bild als Lebensraum dunkel, lichtferne und lichtnähe, ultravioletter strahlung, mit infraroter durchdringung des dunkels und ihrer direkten, sichtbaren übersetzung.« 355

Ähnliches im Medium des Bildes zu verwirklichen, gelang dem Künstler nur sehr bedingt. Für den Ansatz, die Betrachtenden in ein Werk wie in einen Lebensraum einzuschließen und deren Wahrnehmungen und Reaktionen zu schulen, bot sich das Medium des Films beziehungsweise des Filmenvironments an.356 Denn die Allseitigkeit des rhythmisch gegliederten Erfahrungsraumes sollte die Wirkkraft bestärken und die Rezipierenden in ein immersives, dynamisch rhythmisiertes allround-System einschließen. Eben dieses Ideal hält die verschiedenen, in dieser Studie untersuchten Künstlerpositionen bei allen Unterschieden im Detail zusammen.

355 | Ebd. 356 | Dazu siehe das Lema »Environments mit Filmen und Film-Environments«, in: Hans Scheugl/Ernst Schmidt jr. (Hg.), Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, 1. Bd., Frankfurt a.M. 1974.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

Die Vorstellung, dass das Bild gleich einem naturrhythmischen, klimatischen Licht- und Luftraum auf die Betrachtenden einwirkt, verbindet eine Reihe abstrakter Künstler im Zeitraum von 1910 und 1960. Nach einer kurzen Rekapitulation der wesentlichen Charakteristika des in dieser Arbeit nachgewiesenen ökologischen Bildmodells (Kap. 7.1) folgt ein vergleichender Ausblick in die Kunst nach 1960, der Ansätze für die Untersuchung von Kontinuitäten bis in die Gegenwart eröffnet (Kap. 7.2). Dabei wird der in dieser Studie herausgearbeitete Ökologie- und Naturbegriff mit Konzepten seit den sechziger Jahren verglichen, um dessen Wesen und Historizität besser greifen zu können. Den Abschluss bildet ein kurzer Ausblick mit Anregungen für die weitere, auch epochenübergreifende Forschung (Kap. 7.3).

7.1 B ildmodell L ebensr aum Das Modell des Bildes als Lebensraum impliziert einen Distanzverlust zwischen Betrachter/-in und Bild. Das Werk tritt in den Umraum aus und schließt die Betrachtenden so in eine Art durchpulsten, rhythmisierten Luft- und Lebensraum ein. Das Bild soll nicht repräsentieren, sondern als Äquivalent zu einer Naturkraft reine Präsenz und Wirkmacht entfalten. Das Modell des Bildes als Organismus erfuhr so vor dem Hintergrund der Vorstellung einer belebten und belebenden Natur eine Erweiterung. Die Vorstellung des Atmens und zugleich einer Atembarkeit der Werke verdeutlicht den ökologisch-lebensräumlichen Ansatz des Eindringens der Qualitäten des Bildraumes in die Rezipierenden in besonderem Maße. Ziel der Ausstrahlungen, Ausströmungen und Einschlüsse war jeweils eine direkte, häufig dezidiert heilsame Einwirkung auf die Lebensfunktionen der Betrachtenden. Diese sollte durch spezifische Farb- und Lichtqualitäten sowie Rhythmizität eintreten, die in Entsprechung zu den Qualitäten natürlicher Lebensräume standen – einem bestimmten Klima, der Strahlung der Sonne, einer reinen Luft und einem natürlichen Rhythmus. Die angenommenen Wirkungen

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Das Bild als Lebensraum

leiteten sich aus nervlichen sowie physiologischen Prozessen ab, die eng mit der Psyche in Verbindung gestellt wurden. Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Yves Klein und Otto Nebel dachten die eröffneten Lebensräume gleichermaßen als seelisch-geistige Räume, die sie im Rekurs auf ökologische Konzepte und ökologisches Vokabular beschrieben. Hinsichtlich der Bildwirkung auf Körper, Psyche und Geist zeigten sich zwei grundlegende Modelle: So konnten Werke reizen und vitalisieren oder beruhigen und harmonisieren. Hier fanden sich bei ein und demselben Künstler zumeist beide Ansätze vereint, beispielsweise bei Nikolaus Braun, Max Burchartz, Itten, Paul Klee, Nebel und Otto Piene – teilweise sogar innerhalb einer einzigen Komposition. Pienes SolOeil sollte sonnengleiche, vitalisierende Energien an die Betrachtenden aussenden, zugleich aber einen ruhigen Atem und Puls bewirken (Kap. 4.6: Abb. 30). Dennoch entsprachen die Werke häufig mal eher einem Schonklima, mal eher einem Reizklima, wie anhand von Klees Polyphonie und Blühendes dargestellt (Kap. 3.1.1: Abb. 5; Kap. 6.4: Abb. 41). Dabei offenbarten sich verschiedene Formen von Reizklimata – eine intensive Entschleunigung in den Werken Mark Rothkos und eine abwechslungsreiche, energetisierende Dynamik in den Überlegungen László Moholy-Nagys etwa. In diesem Zusammenhang sind weiterhin die monochromen Entwürfe Kleins und Pienes von den stark kontrastiven, dynamisch-variativen Kompositionen Kandinskys zu unterscheiden. Auch die Formate variierten merklich: Gegen Itten, Kupka und Rothko, deren Werke das Sichtfeld der Betrachtenden völlig einnehmen, sind Klees Villeggiaturas und Kleins frühe Klimaäquivalente recht kleinformatig. Auch wenn es Impulse zu einer Vergrößerung der Bilder im Rahmen des Lebensraummodells gab, um so die Wirksamkeit und den Einschluss der Betrachtenden zu erhöhen, haben sich die Maße dennoch nicht als entscheidender Faktor in diesem Zusammenhang erwiesen. Unter Verwendung unterschiedlichster Stile und Formate stand stets das körperliche, psychische oder geistige Gleichgewicht der Betrachtenden zur Disposition, das es in der Beziehung zum Bild auszuloten galt. Es ging um eine die Umweltreize an- und aufnehmende Öffnung zum Lebensraum des Bildes, analog zur Anpassung an die natürliche bzw. physikalische Umwelt, die für jede Spezies die Voraussetzung zum Überleben darstellt. Die Bilder sollten beispielsweise einen Mangel an Licht, Wärme oder Luft ausgleichen und so die Kräfte der Rezipierenden (re-)aktivieren. Der Anspruch, die Wirkung immaterieller Medien wie Licht und Luft ins Bild zu bringen, erforderte mithin einen größeren theoretischen Überbau oder brachte Ideen hervor, die im Bild nicht umsetzbar waren. Die Lebensraumkonzepte führten so zu den dezidiert bildkritischen Ansätzen Kupkas, Nebels und Moholy-Nagys. Über die Integration von Eigenlicht durch Elektrizität oder spiegelnde Materialien wurde das Bildmedium etwa durch Moholy-Nagy und Piene erweitert. Maler wie Kupka und Kandinsky vertraten ähnliche Ideen, ließen aber völlig offen, wie Äquivalente natürlicher Phänomene – reinigendes, heilsames UV-Licht etwa – ins Bild eingebracht werden konnten. Doch wurden die Potentiale visueller

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

Gestaltung trotzdem häufig sehr produktiv und ohne ikonoklastische Impulse erprobt und begründet, beispielsweise bei Burchartz und Nebel. Bezüge zur modernen Psychophysik sowie der Chromotherapie und Thermodiätetik spielten für die Erklärung der Bildwirksamkeit ebenso eine Rolle wie Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie und der Klimatologie. Weiterhin ist die Esoterik aus den lebensräumlichen Bildauffassungen nicht wegzudenken. So verbanden sich verschiedene Lebenskraftkonzepte miteinander, die mal stärker physikalisch, mal als ungreif bare, unerklärliche Phänomene nach dem Vorbild des Bergson’schen élan vital gefasst wurden, und welche Künstler nicht sauber voneinander trennten, sondern häufig als komplementär betrachteten. Besonders offenkundig war die Orientierung an seit der griechischen Antike tradierten und an östlichen Konzepten wie Pneuma, Prana und Qi. Diese unterstützten die Verbindung von physikalischer Welt und metaphysischgeistigen Ebenen. Weitere Orientierungspunkte stellten die moderne Rhythmusbewegung und die Musiktheorie dar. Auf diese bezogen sich bildende Künstler, um nicht nur die Atembarkeit, sondern auch die Realisierung natürlicher Rhythmen im Kunstwerk zu begründen. Farbtheoretisch schlossen die Künstler vielfach an die Antike an, um Farben als warme und kalte, feuchte und trockene Qualitäten zu bestimmen, welche auf die Betrachtenden als Klima einwirken. Damit einher ging ein Festhalten an antiken und mittelalterlichen Gesundheitskonzepten der Elementen- und Säftelehren, die im 20. Jahrhundert wissenschaftlich längst bedeutungslos geworden waren, aber in Naturheilkunde sowie Esoterik aufgegriffen wurden und in damit verbundenen Heilpraktiken Anwendung fanden. Nicht immer bezogen sich die Künstler so direkt auf bestimmte Klimaräume wie es zum Beispiel Klee und Nebel taten. Mitunter fand nur eine sehr allgemeine Orientierung an Erkenntnissen der Klimatologie und Ökologie statt, die Klima von konkreten natürlichen Lebensräumen abstrahierte – so etwa im Falle von Burchartz, Itten und Kandinsky. Vor diesem Hintergrund bot sich ein Festhalten am Abstraktionsbegriff zugunsten alternativer Termini wie ›Ungegenständlichkeit‹ und ›Konkretion‹ besonders an. Das lebensräumliche Bild wurde als eine Naturkraft verstanden, ohne aber Mimesis der Natur zu sein. Nebel, Burchartz sowie Gertrud Grunow verwendeten hierfür den Begriff des Gleichnisses. Stets ging es darum, Kunstwerke als Artefakte oder Systeme parallel zur Natur, ausgestattet jedoch mit einer äquivalenten, beispielsweise sonnengleichen Wirkmacht, zu behaupten. In der immer wieder beschworenen Verbindung von Kunst und Leben sollte Kunst nicht autonom sein, sondern als Teil des großen Ganzen mit ihren Mitteln eine Wirkung entfalten, einen Dienst erfüllen, die für die Künstler dieser Studie in Aufgaben des Lebenspendens und des Therapeutischen lag. Natur diente dabei als grundlegendes Modell. Künstler wie Klein, Moholy-Nagy und Piene planten gar einen Ausstieg aus dem Bild hin zu einer Gestaltung und Klimatisierung realer Lebensräume. Doch

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Das Bild als Lebensraum

auch Kandinsky und andere verstanden das Kunstwerk als Kraft, die den einzelnen Menschen oder gar die ganze Gesellschaft radikal wandeln kann. Solche Ansätze der Verbindung von Kunst und Leben sowie insbesondere Formen der Immersion wurden in der Kunst seit den sechziger Jahren weiterentwickelt, während sich zugleich andere Zugänge zu natürlichen Kräften sowie Phänomenen in Kunst und Gesellschaft herausbildeten.

7.2 K unst und Ö kologie seit den sechziger J ahren In Überwindung der ›Kunst‹ schrieb der deutsche Kunsthistoriker Alexander Dorner im Jahr 1947: »Abstrakte Kunst ist […] heute wie ein Kraftwerk ohne praktische Verwendung. Sie ist geladen mit Energien, die, wenn sie im praktischen Leben Verwendung fänden, fähig wären, unseren Lebensprozeß entscheidend zu beeinflussen«.1 So monierte Dorner, dass die potentiellen Kräfte nicht aus den Werken austräten, sondern ihnen inhärent bleiben. Jedoch gründete die abstrakte Kunst bereits seit den zehner Jahren auf der Utopie oder der Überzeugung, Energien zu übertragen und damit fundamental auf die menschlichen oder gar gesellschaftlichen Lebensprozesse einzuwirken. Dorner, der die Kunst seiner Zeit gut kannte, schien von eben jener Macht der abstrakten Bilder nicht überzeugt gewesen zu sein. Eine immer größere Verbindung mit dem Leben erstrebten in den Folgejahren nicht nur die Land Art und die Environmental Art, sondern auch die installative, die Performance- und die Partizipationskunst. Es kann hier nur auf einige wenige Schlaglichter folgender Entwicklungen und Kontinuitäten sowie neue Tendenzen im Vergleich zu den Befunden dieser Studie hingewiesen werden. Diese betreffen im Wesentlichen die ökologisch engagierte Kunst, die Architektur sowie die Konzept- und Installationskunst seit den Sechzigern.

7.2.1 Er weiterter Kunstbegriff: Kunst-, Medien- und Kulturökologie An einen Künstler mögen die Leser/-innen im Verlaufe dieser Studie des Öfteren gedacht haben: Joseph Beuys (1921-1986). Dieser gilt schließlich als wichtiger Wegbereiter der frühen, ökologisch engagierten Kunst in Deutschland. In seinen Werken finden sich zahlreiche Bezüge zu Konzepten von Künstlern wie Paul Klee, Wassily Kandinsky und Johannes Itten. Einen wichtigen Schnittpunkt bildete die Orientierung an der Anthroposophie Rudolf Steiners. Beuys’ Auffassung der Gesellschaft als Organismus und der Anspruch, diesen Organismus im Rahmen seiner Kunst zu heilen, führen ihn in eine unmittelbare Nähe der dargestellten Positionen: Die heilsame Wirkung sollte ihm zufolge unter anderem durch eine Art Wärmetherapie eintreten. Materialien wie Filz und Fett dienten ihm als Medien gegen kalte Verhärtungen und somit als Mittel für die Herstellung neu1 | Dorner 1947, S. 152.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

er Gesellschaftsstrukturen. Dabei handelte es sich dezidiert nicht um eine rein physikalische, sondern eine geistige und »soziale Wärme«, die Beuys eng mit der Wärme christlicher Liebe verknüpfte.2 Biologische Prozesse des Wachsens dienten ihm als Modelle für gesellschaftspolitische Veränderungen, die er religiös auflud.3 Eine Zufuhr von Energie sowie eine Verwandlung von Mensch und Gesellschaft waren für ihn ähnlich zentral, wie für die zuvor betrachteten Künstler. Beuys inszenierte sich als Naturheiler, als Schamane, der nicht der Malerei, sondern ritualartigen Aktionen heilende Kräfte zusprach. Beuys’ Kunst stand unter dem Eindruck der Nachhaltigkeitsdebatten seit den Sechzigern, die ihn mit Blick auf natur- und gesellschaftsökologische Prozesse interessierten. Dies zeigt sich etwa in der Aktion 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung (1982-1987) im Rahmen der documenta 7. Durch die Baumpflanzung wollte er nach eigener Aussage »in den Lebensräumen der Menschen für die Verbesserung ihrer urbanen Lebensqualität« sorgen.4 Reinhard Zimmermann kritisiert den anthropozentrischen Ansatz des Künstlers, der mit seinem Bezug zu christlich-religiösen Traditionen keinen »Impuls zu einer ökologischen Wende« liefere und sich ideologischer Grundlagen von Naturzerstörung keineswegs entzogen, sondern diese noch zementiert habe.5 So habe sich Beuys das Selbstverständnis als »Fortsetzer des Schöpfungswerkes« zu Eigen gemacht.6 Das damit einhergehende einseitige Denken von Ökologie aus Sicht des Nutzens der Natur für den Menschen bei gleichzeitiger transformativer Verfügungsmacht über diese verbindet Beuys mit der in dieser Studie dargestellten Tradition, in der natürliche Kräfte reproduzierbar erscheinen und der Künstler als gottgleicher Lebensspender und Weltenbauer auftritt. Vor allem sollte bei Beuys eine geistige Evolution, ähnlich wie bei Yves Klein, die Unabhängigkeit des Menschen von der physischen Natur vergrößern.7 Eingangs wurde als eine Spielart biozentrischen Denkens eine dezidiert nicht anthropozentrische Weltsicht definiert.8 Diesen Anspruch lösten die hier besprochenen Positionen nicht ein: Stets ging es den Künstlern um den Nutzen der natürlichen Kräfte für den Menschen und für die Gesellschaft. Eine der Natur ebenbürtige Kunst wurde schon von Kandinsky, Otto Nebel, László Moholy-Nagy und Klein als Faktor in einer Art Ökosystem der

2 | Interview von Rainer Rappmann mit Joseph Beuys, in Harlan/Rappmann/Schata 1984, S. 20. 3 | Ebd. 4 | Beuys zit.n. Zimmermann 1994, S. 242. 5 | Ebd., S. 247. 6 | Dazu siehe ebd., S. 243f.; vgl. Kap. 2.1, 5.4. 7 | Ebd., S. 244-247. Ähnliches trifft für Johannes Itten im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Mazdaznan zu, vgl. Burchert a (in Vorbereitung); zu Klein vgl. Kap. 5.5. 8 | Botar/Wünsche 2011, S. 2; vgl. Kap. 1.2.

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Das Bild als Lebensraum

Kultur betrachtet. Kunst sollte Mensch und Gesellschaft kulturell, geistig und politisch wandeln helfen.9 Ansätze einer solchen Kulturökologie finden sich besonders stark bei György Kepes (1906-2001) ausgeprägt, der seinerseits eng mit Moholy-Nagy zusammengearbeitet hatte. 1972, fast dreißig Jahre nach dessen Tod, veröffentlichte Kepes ein Buch mit dem Titel Arts of the Environment. Im Angesicht schädlicher Umweltbedingungen reflektierte er die Bedeutung kreativen Denkens und künstlerischer Sensibilität für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Die künstlerische Sensibilität galt ihm als Voraussetzung für die Gestaltung einer gesunden Umwelt: »Creative imagination, artistic sensibility, can be seen as one of our basic, collective, selfregulating devices that help us all to register and reject what is toxic and find what is useful and meaningful in our lives«.10 Hier kann von einem ökologischen Sinn für Ästhetik gesprochen werden, wie ihn Gernot Böhme fast zwanzig Jahre später in seiner Ökologischen Naturästhetik forderte.11 Konzepte der Humanökologie, auf der die Kulturökologie auf baute, entstanden in der Soziologie der zwanziger Jahre maßgeblich in Chicago. Dort interessierten sich die Forschenden für »Wirkungszusammenhänge und Interaktionen zwischen Gesellschaft, Mensch und Umwelt« und bemühten sich um eine »ganzheitliche Betrachtungsweise, die physische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Aspekte einbezieht«.12 Umwelteinwirkungen auf den Menschen wurden ebenso untersucht wie Rückwirkungen des Menschen auf die Umwelt. Eben diesen Ansatz, Gesellschaft und natürliche Umwelt analog und als lebendige, ineinander verschränkte Systeme zu fassen, vertrat Kepes. Der Idealzustand dieser Systeme sei, so schrieb er in Arts of the Environment, die »[e]nvironmental homeostasis«.13 Als ›Homöostase‹ werden die »in Organismen wirkenden Selbsterhaltungs- und ‑regulierungskräfte«, sogenannte Fließgleichgewichte, bezeichnet,14 die sich laufend im Austausch von Organismus und Umwelt realisieren.15 Das für die Künstlerpositionen in dieser Studie so zentrale Gesundheitskonzept des ununterbrochenen harmonischen Flusses der Lebenssäfte und -kräfte, in Abhängigkeit von den Einflüssen der Umwelt, galt auch hier. Es wurde durch Kepes auf natürliche und gesellschaftliche Prozesse übertragen, ähnlich wie in der Beuys’schen Wärmetherapie. In verschiedenen Bereichen der Kultur- und Medienwissenschaften begründete man analog zu den Überlegungen Kepes’ seit den sechziger Jahren Unterdis9 | Die bei Klein, Moholy-Nagy und Beuys besonders zutage tretenden politischen Ziele ließen sich im Rahmen einer eigenen Studie fruchtbar vergleichen. 10 | Kepes 1972, S. 6. 11 | G. Böhme 1989; vgl. Kap. 1.2. 12 | Glaeser 2003, S. 9. 13 | Kepes 1972, S. 3. 14 | Tanner 2008, S. 11. 15 | Kepes 1972, S. 3.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

ziplinen der Kulturökologie. Dazu gehört insbesondere die Medienökologie seit den Siebzigern. Im Rahmen medienkritischer Ansätze werden diese Ideen bis heute verfolgt.16 Der Medientheoretiker Raymond Arlo schrieb 1971 programmatisch: »In a world of biological, chemical and physical pollution, it seems to me we are overlooking the semantic pollution in our environments, as we attempt to restore our ecological balance«.17 Er schlägt eine Systemanalyse vor, die aufzeigen soll, in welcher Weise Medien das Leben der Menschen und die Gesellschaft als ganze beeinflussen. Der Begriff ›Medienökologie‹ wurde 1968 vom Medienwissenschaftler Neil Postman geprägt, basierend auf den Theorien Marshall McLuhans.18 In der heutigen Medienökologie geht es gleichermaßen um ethische Fragen des richtigen Maßes sowie der schädlichen Potentiale von Medienkonsum. Moholy-Nagys Kritik der stakkatoartigen Leuchtreklame in seiner Zeit im Gegensatz zu einer in biologischem Sinne wohltuenden Lichtkunst wies in eben diese Richtung. Der Literaturwissenschaftler Hubert Zapf formulierte 2002 in enger Anlehnung an medienökologische Diskussionen ein Verständnis der Literatur »in Analogie zu einem ökologischen Prinzip oder einer ökologischen Kraft innerhalb des größeren Systems ihrer Kultur«.19 Er bestimmt in seiner Monographie Literatur als kulturelle Ökologie – ähnlich wie Kepes die künstlerische Sensibilität – die Literatur als »Sensorium und symbolische Ausgleichsinstanz für kulturelle Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte«.20 Literatur erscheint als ein sich selbsterhaltendes System, denn sie sei »Ort einer beständigen, kreativen Erneuerung von Sprache, Wahrnehmung und kultureller Imagination«.21 Sie sei für die »Vitalität und Selbsterneuerungskraft der Kultur von entscheidender Bedeutung«.22 Medienevolutionen und literarische Erzeugnisse leisten demnach einen Beitrag zu Entwicklungen in der Gesellschaft. Die Anwendung natürlicher bzw. physikalischer Prinzipien auf kulturelle Phänomene sollte jedoch mit Vorsicht genossen und die Ansätze in ihrer Historizität sowie ideologischen Geprägtheit reflektiert werden.23 Ich begreife die Über16 | 2016 wurde etwa an der Universität Potsdam eine Juniorprofessur mit dem Schwerpunkt »Medienökologie« eingerichtet, die Prof. Dr. Birgit Schneider innehat. Zur Kulturökologie siehe Josef Schmid, Das verlorene Gleichgewicht. Eine Kulturökologie der Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln 1992 sowie Gernot Böhme/Engelbert Schramm, Soziale Naturwissenschaft. Wege zu einer Erweiterung der Ökologie, Frankfurt a.M. 1984. 17 | Arlo 1971, S. 19. 18 | Vgl. Kloock 1997, S. 99f. 19 | Zapf 2002, S. 3. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Ebd., S. 6. 23 | Zur Kritik am einseitigen Naturkonzept Zapfs siehe exemplarisch: Büttner 2018, S. 16f.

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tragung ökologischer Prinzipien auf kulturelle und künstlerische Entwicklungen als einen bis heute bestehenden, durchaus problematischen Ansatz, der sich in einer Kontinuität zu einer Reihe von Ideen bewegt, die sich in der vorliegenden Arbeit herauskristallisiert haben. Die Künstler monierten schließlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlechte gesellschaftliche und künstlerische Atmosphären, unter denen man nicht arbeiten konnte. Kandinsky beschrieb positive Veränderungen des Klimas in Kunstausstellungen nach der Jahrhundertwende, als die dunklen, vernebelten Landschaftsgemälde daraus verschwanden und sich ihm zufolge die Sonne und eine gesündere Kunst sowie Kultur Bahn brachen. Nicht zuletzt diente die Übertragung ökologischer Prinzipien auch der Stärkung und (Selbst-)Begründung der Kunst hinsichtlich ihrer Potentiale, und in diesem Zuge auch der Unterscheidung von ›gesunder‹ und ›kranker‹ Kunst und Kultur, die sich so keineswegs nur in der Rhetorik des deutschen Nationalsozialismus fand. Medien, Literatur und Kunst wurden und werden bis heute als Teil von Umwelten oder Lebensräumen gefasst, deren Einwirkungen auf die Gesellschaft oder Teile der Gesellschaft in ökologischen Modellen beschrieben werden. Diese Ideen haben ihren Ursprung keineswegs erst im 20. Jahrhundert. So wählt Zapf das aristotelische Katharsiskonzept als Beispiel für ein ökologisches Wirkungsprinzip von Literatur im Sinne einer »therapeutische[n] Ausgleichsfunktion der Literatur für kulturelle Spannungen und Krisen«.24 Die Katharsis in der Deutung Friedrich Nietzsches konnte in dieser Studie anhand von Mark Rothko als ein ökologisches Prinzip nachgewiesen werden. Dies führt zurück von der Makroauf die Mikroebene – hin zum einzelnen Kunstwerk als ökologischem System.

7.2.2 Kunstwerke als Energiesysteme Voraussetzung für die Kultur- und Medienökologie waren die Kybernetik sowie allgemein die System- und Informationstheorien Norbert Wieners und anderer Wissenschaftler seit den vierziger Jahren.25 Der Kunsttheoretiker Jack Burnham beschrieb ausgehend von diesen Entwicklungen die Tendenz zur Systemästhetik in der Kunst seit den sechziger Jahren im Rekurs unter anderem auf den österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972). Ein System sei, so Burnham, »a complex of components in interaction«:26 »A systems view point is focused on the creation of stable, on-going relationships between organic and non-organic systems, be these neighborhoods, industrial complexes, farms, transportations systems, information centers, or any of the other matrixes of human acti-

24 | Zapf 2002, S. 11. 25 | Nisbet 2014, S. 157-163. 26 | Burnham 1968, S. 32.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem vity. All living situations must be treated in the context of a systems hierarchy of values. Intuitively many artists have already grasped these relatively recent distinctions […].« 27

In den Survival Pieces von Helen Mayer Harrison und Newton Harrison wird die Einwirkung verschiedener Faktoren auf ein Ökosystem durchgespielt, im Condensation Cube Hans Haackes erleben sich die Betrachtenden selbst als Umweltfaktoren. Sowohl die Selbsterhaltung von Systemen als auch die Abhängigkeiten des Ganzen von den Teilen des Systems werden in diesen Werken reflektiert. Der Kunsthistoriker James Nisbet stellte im Rahmen seiner Publikation Ecologies, Environments, and Energy Systems 2014 einen Typus von Kunstwerken heraus, die als Energie- oder ökologische Systeme zu begreifen sind.28 Solche Werke nehmen selbst die Form und Funktionsweise von ökologischen Systemen an und machen ökologische Prozesse sicht- oder spürbar. Sie zeichnen sich im Vergleich zu den in dieser Studie behandelten Beispielen durch ihre Veränderlichkeit und Prozessualität aufgrund der Interdependenzen zwischen Elementen im System aus. Die Shrimp Farm: Survival Piece #2 der Harrisons bestand aus vier in sich abgeschlossenen Ökosystemen.29 Die vier, ca. 20 cm tiefen, hölzernen Becken von 3 × 6 m befanden sich mit Wasser unterschiedlichen Salzgehaltes gefüllt dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt. Installiert waren sie im Außenraum der Ausstellung Art and Technology 1971 am Los Angeles County Museum of Art. In alle vier Becken wurde die Algenart Dunaliella eingesetzt. Je nach Salzgehalt nahmen die Algen und somit auch die Wasserbecken verschiedene Farben an. Durch die Salinenkrebse, welche die Algen fraßen, veränderte sich die Farbigkeit zusätzlich. Es handelte sich um kleine Lebensräume für tierische und pflanzliche Organismen, die zugleich über Farbveränderungen ästhetische Dimensionen entfalteten. Hier sind Kunstwerk und Lebensraum buchstäblich identisch, allerdings diente dieser Lebensraum nicht dem Menschen, sondern Kleinstorganismen. Deutlich wird dabei das Zusammenspiel der kleinen Becken mit dem umgebenden Luftraum und insbesondere mit der Sonne, die als Energiequelle für das Bestehen und Gedeihen der temporären Ökosysteme die Voraussetzung bildete. 27 | Ebd., S. 31. 28 | An der Universität Tübingen arbeitet Idis Hartmann aktuell an einem Dissertationsprojekt zum Thema »Modelle der Komplexität. Zum Verhältnis von Installationen und Systemen«, in der sie unter anderem den systemischen Charakter von zeitgenössischen Kunstinstallationen untersucht, die sich etwa mit Öko- oder Klimasystemen, digitalen oder globalen Netzwerken beschäftigen. 29 | Nicht abgedruckt: Helen Mayer Harrison/Newton Harrison, Shrimp Farm: Survival Piece #2, vier hölzerne Wasserbecken, 3 m × 6 m × 20 cm, Algen, Krebse, Salz, Art and Technology, Los Angeles County Museum of Art 1971; vgl. hierzu die Webseite The Harrison Studio, http://theharrisonstudio.net/shrimp-farm-survival-piece-2 (letzter Aufruf: 4.6.2018). Es handelte sich um das zweite von insgesamt vier Survival Pieces, die das Künstlerpaar zwischen 1970 und 1972 erstellte.

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Haackes einige Jahre zuvor entstandener Condensation Cube (1965) erklärt das Kunstwerk gleichermaßen potentiell zum Energie- und Ökosystem.30 Dabei ist allerdings nicht nur die Einwirkung anorganischer Stoffe wie Licht, Luft und Wasserqualität auf Organismen Teil der Anordnung:31 Es sind die Rezipierenden selbst, die auf das Werk wirken. Dabei kehrt sich im Vergleich zu den untersuchten Künstlerpositionen zwischen 1910 und 1960 das Verhältnis von Mensch und Kunstwerk beziehungsweise Mensch und Natur um: Nicht das Kunstwerk durchdringt die Besucher/-innen mit Energien, sondern der Strom der Besucher/-innen durchdringt das Kunstwerk. So können die Rezipierenden beobachten, wie sie selbst Einfluss auf das ›Ökosystem‹ des Museums nehmen: In dem 76 × 76 × 76 cm großen Würfel aus Plexiglas ist Wasser eingespeist, das abhängig von Veränderungen in der Temperatur und Luftqualität kondensiert oder verdampft. Ähnlich den Wasserbecken der Harrisons ist der Cube einerseits ein distinktes, von der Umwelt visuell unterscheidbares Element. Andererseits wird daran ersichtlich, wie einzelne Körper und die thermodynamische Umwelt in einem ständigen Austausch stehen. Gerade vor dem Hintergrund dieses Werkes fällt ins Auge wie buchstäblich einseitig das in dieser Studie vorgefundene Ökologieverständnis ist: Bis auf Klein band keiner der Künstler die Rückwirkungen des Menschen auf die Natur dezidiert mit in seine Werk- und Wirkungskonzepte ein: Nur Klein hatte befürchtet, dass das Pneuma in seinem Galerieraum an Energie und Reinheit verlieren könnte. Andere Künstler reflektierten die Rückwirkungen der durch die Kunst geheilten Individuen auf die Gesellschaft, nicht jedoch auf die physikalischw Umwelt. Es fällt auf, dass, wenngleich Schäden durch die industrialisierte Umwelt eine Voraussetzung für die Herausbildung des ökologisch-lebensräumlichen Bildmodells seit 1910 darstellten, die damit verbundenen Konzepte doch nie von einem naturschützerischen Anspruch motiviert waren. Stattdessen sollten im Rahmen der Kunst Heterotopien geschaffen werden, um Natur zu substituieren. Klein, Max Burchartz, Moholy-Nagy und Otto Piene wiesen zudem im Rahmen von Architektur und Umweltgestaltung auf eine gesteuerte Veränderung des Lebensraumes zugunsten des menschlichen Lebens hin, ohne solche Eingriffe zu problematisieren. Der darin angelegte Impetus einer Erzeugung künstlicher Kli30 | Nicht abgedruckt: Hans Haacke, Condensation Cube, 1965 (2006, 2013), 76 × 76 × 76 cm, Plexiglas und Wasser, Whitney Museum of America Art, New York. 31 | Die Luftqualität in den Ausstellungsräumen wurde nicht dezidiert mit einbezogen. Welche Rolle diese in der Kunst seit den Sechzigern einnahm, wird der kommende Abschnitt zeigen. Zuvor ist noch eine weitere Beobachtung interessant: So erhielt in der systemischen Kunst der Sechziger und Siebziger offenbar das Element des Wassers zunehmend Einzug, das in den Konzepten der abstrakten Künstler zwischen 1910 und 1960 nur sehr vermittelt als Luftfeuchte und Dampf zur Sprache kam. Einen ähnlichen blinden Fleck bildete das Element der Erde, das ebenfalls seit den sechziger Jahren mit der Earth Art an Bedeutung gewann.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

maräume hat bis heute Bestand, der Ansatz der Immersion in künstliche Klimaräume, wie sie die abstrakten Avantgarden vorgedacht haben, setzt sich hier fort.

7.2.3 Klimaräume in der zeitgenössischen Installationskunst und Architektur Am Beginn dieser Studie stand Ólafur Elíassons Weather Project aus dem Jahr 2003 (Kap. 1: Abb. 1-2). Zahlreiche weitere Beispiele lassen sich ergänzen, in denen Installationskunst ihre Rezipierenden in klimatisierte Räume eintreten ließ und lässt, so etwa Gotthard Graubner mit seinen Nebelräumen der sechziger Jahre (Kap. 5.1.1). Die Künstlergruppe Art & Language entwickelte 1966/67 die Idee einer Air Conditioning Show: Die Konzeptkünstler Michael Baldwin und Terry Atkinson erdachten eine Ausstellung mit leeren, neutralen Wänden, die konstant mit einer angenehmen, weder zu warmen, noch zu kalten Luft klimatisiert werden sollte.32 Gut fünfzig Jahre später, 2015/16, fand im Espace Fondation EDF in Paris im Rahmen der UN-Klimakonferenz eine von Camille Morineau kuratierte Ausstellung mit dem Titel Climats Artificiels statt.33 Der japanische Architekt Tetsuo Kondo richtete hier in Kooperation mit dem Ingenieurbüro Transsolar KlimaEngineering eine seiner Cloudscapes ein.34 Durch eine bestimmte Temperatur und Luftfeuchtigkeit wird in einer transparenten, begehbaren ETFE-Box35 eine Wolke erzeugt, die in einigem Abstand über dem Boden schwebt und von den Besuchenden über eine Treppe durchquert werden kann. Dabei durchschreiten sie drei Luftschichten und Klimata: In Bodennähe beträgt die Temperatur 22°C und die Luftfeuchtigkeit 40 %, die darüber liegende Schicht ist mit 27°C wärmer und weist 100 % Luftfeuchte auf, die höchste Schicht hingegen hat 35°C und 60 % Luftfeuchte.36 Die Cloudscape, das Weather Project, das Konzept von Art & Language und Graubners Nebelräume stehen nicht explizit unter dem Vorzeichen einer therapeutischen Wirkung der Kunst, sondern zeugen vorrangig von der künstlichen Herstellbarkeit physikalischer Phänomene der Natur. Installationsformen wie diese nennt Hans Dickel im Rekurs auf Bruno Latour »Hybridformen« zwi-

32 | Baldwin 2009 (1967), S. 67. 33 | Ausst.-Kat. L’Espace Fondation EDF Paris 2015. 34 | Nicht abgedruckt: Tetsuo Kondo/Transsolar, Cloudscape, Metallstruktur, ETFE, Lufttemperaturschichtung, Luftfeuchtigkeit, synthetisierter Dampf, Museum of Contemporary Art, Tokyo 2013. 35 | ETFE steht für die Verbindung Ethylen-Tetrafluorethylen-Copolymer, das sich durch eine besondere Lichtdurchlässigkeit auszeichnet. 36 | Vgl. die Webseite Transsolar, www.transsolar.com/fr/projects/cloudscapes-climatsartificiels-paris (letzter Aufruf: 4.6.2018).

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schen Natur und Kultur, bei denen diese einstigen Gegensatzbegriffe nicht mehr klar voneinander abgrenzbar sind.37 Therapeutische Wirkungen, wie sie sich in der Abstraktion zwischen 1910 und 1960 zeigten, haben sich hingegen insbesondere in der Architektur fortgeschrieben, aus der sich die künstlerischen Konzepte bereits vielfach speisten. Der Architekt Philippe Rahm und sein Team intervenieren beispielsweise durch architektonische Projekte in urbane Räume, um sie zu klimatisieren und so zu modifizieren, dass sie gesundheitsförderlich sind.38 Zugleich erschaffen sie Erfahrungsräume, die an die Installationen von Elíasson erinnern, und auf der Schnittstelle von Architektur und Kunst operieren: The Second Summer (2006) lässt die Besucher/-innen die Lichtatmosphäre und Temperatur eines heißen Sommertages erfahren, Eternal Spring (2005) einen Frühlingstag – selbst bei Nacht (Abb. 43).39 Im Hormonorium, installiert im Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig 2002, erzeugte Rahm ein »alpine[s] Klima«, das »gleichzeitig aber auch eine Zusammenstellung physiologischer Vorrichtungen [darstellte], die das endokrine und neurovegetative Nervensystem beeinflussen« sollte (Abb. 44).40 Praktisch bedeutete dies, dass durch UVA-, UVB-Licht und weitere Faktoren die Melatoninbildung reduziert und die Endorphinproduktion erhöht wurde.41 Das Hormonorium nahm als Klimaraum so positiv Einfluss auf den Hormonhaushalt der Besucher/-innen. Eine solche ›Wellness‹-Architektur ist durchaus in Kontinuität zu Klees Villeggiatur, Nebels Farblichtutopien, Ittens Jahreszeitenzyklus, Kleins und Werner Ruhnaus technischem Eden und weiteren Beispielen dieser Studie zu denken, wobei diese Ansätze in der Architektur eine weitaus längere Tradition haben. Naturbezüge in der Kunst gehen auch dort, wo sie Lebensräume schaffen, heute nicht mehr in bloßen Heilsversprechen auf. Diese sind dennoch nicht völlig obsolet, sondern werden etwa kritisch verhandelt. In den Village Green-Installationen der US-amerikanischen Künstlerin Vaughn Bell treten die Besucher/-innen in winzige Lebensräume ein. Dabei stecken sie allerdings nur ihre Köpfe von unten in eine Art Terrarium hinein, das mit feuchter Erde, Moos und weiteren Pflanzen bestückt ist (Abb. 45).42 37 | Dickel 2016, S. 22. Diesen Begriff entnimmt Dickel Bruno Latour, der in den vergangenen Jahren »Nat/Cul« für solche Natur-Kultur-Hybride geprägt hat, siehe dazu ebd., S. 5f. und S. 21. 38 | Dazu sowie zu zahlreichen weiteren ›gesundheitsarchitektonischen‹ Ansätzen der Gegenwart siehe Giovanna Borasi/Mirko Zardini, Imperfect Health. The Medicalization of Architecture, Baden 2012. 39 | Ausst.-Kat. Barbican Art Gallery London 2009, S. 184. 40 | Rahm 2007, S. 106. 41 | Ebd., S. 106f. 42 | Für weitere Informationen siehe Webseite Vaughn Bell, www.vaughnbell.net/villagegreen.html (letzter Aufruf: 4.7.2017).

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

Abbildung 43: Installationsansicht: Philippe Rahm, Eternal Spring, Centre Culturel Suisse, Paris 2005 Abbildung 44: Installationsansicht: Philippe Rahm, Hormonorium, 8. Biennale in Venedig 2002

In Galerieräumen hängen je mehrere dieser seit 2009 entstandenen Objekte von der Decke. Die Installationen entbehren nicht einer gewissen Komik, die auch kritisches Potential hat. So scheinen die Köpfe der Besucher/-innen aus der Erde zu wachsen und befinden sich plötzlich vis-à-vis mit den in der Luft schwebenden Bodenpflanzen. In diesem Mikroklima steigt eine vom Geruch feuchter Erde durchtränkte Luft in die Lungen, ähnlich wie in Walter de Marias seit 1977 bestehendem New York Earth Room. Anders als de Marias unbetretbares Erdfeld hebt Bells Installation jedoch auf ein intimes Verhältnis und eine Verbindung mit der Miniaturnatur ab, die mit Dickel ebenfalls als Natur-Kultur-Hybrid zu begreifen ist. Zudem widmet sich Bell in anderen Werken immer wieder der Konsumlogik, die das Verhältnis des Menschen zur Natur nicht erst im 21. Jahrhundert maßgeblich prägt: Natur erscheint in ihrem Œuvre in Form stets verfügbarer, reinigender Atemräume und Refugien. Dabei deutet sie vielfach auf die Fragilität ihrer kleinen Ökosysteme und pflegebedürftigen Naturkunstwerke hin, ähnlich wie die Harrisons.43

43 | Siehe Moyer 2011.

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Abbildung 45: Vaughn Bell, Village Green, Plexiglas, Pflanzen, Erde, Badlands: New Horizons in Landscape, Massachusetts Museum of Contemporary Art, 2008/2009

Nicht nur im Rahmen von Installationen, die hochmoderne Technik (Kondo) oder natürliche Materialien (Bell) einbinden, lassen sich Kontinuitäten zu den Lebensraumkonzepten der abstrakten Kunst bis 1960 feststellen. Der Turiner Künstler Marco Gastini entwickelt ökologische Konzepte im Rahmen einer medial erweiterten Malerei: Er schafft dreidimensionale mixed-media-Bilder, etwa mit Karton, Ölfarbe, Bronze und Eisen auf Leinwand. Diese begreift er als »gelebte Leinwände« und betont den »Energieaustausch« sowie den »Atem und die Luft« als Komponenten der Kompositionen.44 Il respiro e l’aria (1993) soll einen solchen Luft- und Atemraum eröffnen.45 Es gehe darum, ins »Innere« seiner Malerei »ein[zu]treten, darin auf[zu]gehen« und dadurch von ihren Energien durchdrungen zu werden.46 Der Blick auf einen anderen italienischen Künstler derselben Generation, Giuseppe Penone, offenbart gleichermaßen eine Fokussierung auf den Atem und die natürlichen Rhythmen, die sich im Rahmen seiner plastischen und skulpturalen Arbeiten, seiner Photographien, Zeichnungen sowie seiner Schriften ausdrückt.47 Gastinis und Penones Positionen regen eine Suche nach potentiellen Vorläufern 44 | Gastini 1998, S. 22. 45 | Nicht abgedruckt: Marco Gastini, Il respiro e l’aria, 1993, Mischtechnik, Karton, Gesso, Bronze, Eisen auf Leinwand, 295 × 430 cm, Künstlerbesitz. Ebd., S. 21. 46 | Ebd. 47 | Dazu siehe Giuseppe Penone, Die Augen umkehren: Schriften 1968-2004, Berlin 2006.

7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem

an, die eine spezifisch italienische Traditionslinie, etwa in der Vorgeschichte der Arte Povera sichtbar machen könnte.

7.3 A usblick Der diese Studie einleitende Überblick zu historischen Konzepten der Bildmacht zeigte, dass die Ideengeschichte des künstlerischen Bildes als Äquivalent einer Naturmacht und als Lebensquelle noch nicht geschrieben ist. Während Phänomene und Vorstellungen von Lebendigkeit im Bild schon gut erforscht sind und im Rahmen der Bildakttheorie diskutiert wurden, sind Aspekte der Einwirkungen auf die Lebensfunktionen der Betrachter/-innen durch Bilder in den Bereich der Bildmagie und des Animismus verbannt. Für die Ideengeschichte therapeutischer und belebender Bilder in der Kunst wäre weit vor dem 20. Jahrhundert anzusetzen, spätestens in der frühmodernen Landschaftsmalerei seit 1750. Es gibt weiterhin Hinweise darauf, dass in der Frührenaissance über klimatischtherapeutische Bildwirkungen nachgedacht wurde.48 Dementsprechend ist das hier herausgearbeitete, ökologische Bildmodell keineswegs als bloßes Spezifikum des 20. Jahrhunderts anzusehen, wenngleich es im Rahmen der Abstraktion und Ungegenständlichkeit neue Qualitäten erhielt, die im Vergleich herauszustellen wären. In künftigen, historisch breiter angelegten oder anders gelagerten Untersuchungen könnten – wie in dieser Studie geschehen – Wirkungsmodelle vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden anthropologischen, Natur- und Gesundheitskonzepte untersucht werden. Die Auffassungen von Körper, Seele und Geist wären dabei besonders zu berücksichtigen. Der Verlust von Kontrolle in der Rezeption zugunsten eines heilsamen, belebenden Eingehens in das große Ganze des Bildes und das Modell der Imprägnation und Labilität konturierten mögliche Konzepte der idealen Bildbetrachtung in der vorliegenden Arbeit. Weiterhin liegen Fragen nach dem Verhältnis von Repräsentation und Präsenz sowie dem Status und den Formen der Überschreitung der Bildgrenze durch die Medien der Kunst diesem thematischen Komplex inne. In der Diskussion um die Funktionen von Kunst stehen zudem Aspekte der Autonomie von Kunst zur Debatte. Als ein Resultat der Untersuchungen ist eine umfassendere Geschichte des Zusammenhanges von Ästhetik und Gesundheit denkbar, die auch einen differenzierteren Blick auf eine Debatte ermöglicht, die sich sonst auf die Kritik am nationalsozialistischen Gebrauch des Terminus der Entartung reduziert.49 Eine 48 | Vgl. Kap. 1.3: Leonhard 2013, S. 229f., Storch 2015, S. 199-204 und F. Gage 2016. 49 | Zu einer Kritik an dieser Zuspitzung siehe: Bazon Brock, »Artung und Entartung – Therapie durch Problematisierung der Künste«, in: Ralph Driever (Hg.), Krankheit und Gesundheit in der Kunst. Der ästhetische Ausdruck als Lebens- und Zeitdiagnose, Essen 1989, 9-17.

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Verbindung von Kunst und Gesundheit an prominenter Stelle zeigt sich schon am Beginn der Formulierung der Ästhetik als Disziplin durch Alexander Gottlieb Baumgarten, der in seiner Aesthetica (1750-1758) Ästhetik und Diätetik in einen Zusammenhang stellte.50 Aspekte der Harmonisierung und Belebung verschieben den Fokus von einer bloßen Rezeptionsästhetik hin auf Vorstellungen zur Wirkpotenz der Kunst, über die nicht nur in Kunstphilosophie und Ästhetik nachgedacht wurden, sondern die sich in den häufig utopischen Entwürfen von Künstlern und womöglich auch Künstlerinnen finden. Bevor man nach dieser umfangreichen Studie zur Abstraktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geneigt ist, den Blick in die Gegenwart oder in die fernere Vergangenheit zu richten, sei darauf hingewiesen, dass die untersuchte Periode hinsichtlich der aufgeworfenen Fragen und Diskurse noch weitaus mehr an Material liefern dürfte – nicht nur durch eine räumliche Erweiterung, wie sie sich für Italien und Russland besonders anbieten würde. So deutete sich an, dass eine medienübergreifende Untersuchung, die Literatur, Dichtung und Musik,51 Theater52 sowie abstrakten Film53 einschlösse, lebensräumliche Kunstkonzepte ans Licht zu bringen verspricht. Den Affinitäten und Bezügen zwischen bildender Kunst und Musik unter diesem Aspekt gründlicher nachzugehen und gemeinsame Wirkmodelle herauszuarbeiten, wäre eine lohnenswerte Aufgabe. Einiges deutet darauf hin, dass gemeinsame Auffassungen zum Kunstwerk und dessen Wirkungspotentialen in diesem Zeitraum ein ökologisches Paradigma in der Kunst konstituierten, welches von einem spezifischen Verhältnis zur physikalischen und kulturellen Umwelt zeugt. Zugleich sind in den geschilderten Ansätzen Ideale des gesunden und mithin ›vollkommenen‹ Menschen enthalten, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund klimatheoretischer und biologistischer Postulate zu problematisieren sind.

50 | Dies stellte Anthony Mahler in seinem Vortrag »Maß. Diätetik und Ästhetik im 18. Jahrhundert« auf der Tagung Latente Spannungen – Figuren des Äquilibriums am Warburg-Haus in Hamburg (22.-24.6.2017) dar. Ein Konferenzband ist in Planung. Einen Tagungsbericht veröffentlichte die Verf. auf der Webseite HSozKult (https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7255, letzter Aufruf 4.6.2018). 51 | Vgl. Kap. 5.2, 6.3.2. 52 | Interessant wäre etwa ein Vergleich lebensräumlicher Theaterkonzepte im Futurismus sowie ferner bei Oskar Schlemmer und am Bauhaus. Siehe einführend Torsten Blume/ Christian Hiller, Mensch – Raum – Maschine. Bühnenexperimente am Bauhaus, Leipzig 2014 sowie Hoormann 2003, S. 202-226. 53 | Es wäre zu überprüfen, ob es Konzepte gab, in denen naturäquivalente Rhythmen in den (abstrakten) Film eingebracht und wirksam werden sollten. Zur Verbindung von Musik, Film und Rhythmus siehe Hoormann 2003, S. 84f., dezidiert zum abstrakten Film ebd., S. 181-201. Auch Konzepte von Filmenvironments wären hier von Interesse: vgl. Kap. 6.8.3.

Danksagung Die Arbeit an meiner Dissertation wurde von Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden sowie verschiedenen Institutionen begleitet und in vielfältiger Weise unterstützt. Ich danke allen voran meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Verena Krieger für ihr großes Interesse an meinem Projekt, das ich im Rahmen einer vielseitigen Stelle an ihrem Lehrstuhl an der Friedrich-Schiller-Universität Jena realisierte. Neben den inhaltlichen Impulsen half mir ihr gründlicher, analytischer Blick für die zentralen Probleme und Fragen der Arbeit, das Vorhaben zielstrebig zu verfolgen. Durch die Forschung meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Karin Leonhard erwuchs die Idee zu meinem Promotionsthema. Nicht nur dafür, sondern auch für ihre inhaltlichen Anregungen und ermutigenden Rückmeldungen danke ich ihr herzlich. Für ihre freundschaftliche Unterstützung sowie das gründliche Lektorat einzelner Kapitel meiner Dissertation vor der Abgabe danke ich Rebekka Marpert, Daniel Münch, Andrea Karle, Philipp Schreiner und Stephan Potschka. Sophia Stang sei für das Lektorat der vorliegenden Druckfassung gedankt. Auch danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums von Verena Krieger, von denen ich hilfreiche Anstöße erhielt, insbesondere meiner Kollegin Dr. Elisabeth Fritz, die mir in den drei Jahren in Jena auch außerhalb des Kolloquiums immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stand. Fruchtbare Rückmeldungen bekam ich weiterhin von Prof. Dr. Friedrich Weltzien und Prof. Dr. Christoph Wagner sowie aus dem Kolloquium von PD Dr. Rudolf Seising. Bei Herrn Seising bedanke ich mich für die Möglichkeit, mein Thema bei Wissenschaftshistorikerinnen und Wissenschaftshistorikern am Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik der Universität Jena präsentieren zu können und so wertvolle Perspektiven zu erhalten. PD. Dr. Rainer Bayreuther danke ich, weil er mich im Rahmen einer Tagung auf den mir zuvor gänzlich unbekannten Musiktheoretiker Ernst Kurth aufmerksam machte, der sich für meine Arbeit als wichtiges Bindeglied zwischen Musik und bildender Kunst erwies. Besonders zu danken habe ich weiterhin Dr. Therese Bhattacharya-Stettler und ihrer Mitarbeiterin Anita Mischler von der Otto Nebel-Stiftung in Bern, die

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mir Zugang zu den Werken Nebels im Depot gewährten, die gewünschten Abbildungen und sogar eine digitale Reproduktion seines Farbenatlas bereitstellten. Durch die finanzielle Unterstützung des ProChance-Programms der FriedrichSchiller-Universität Jena erhielt ich im März 2017 zudem die Möglichkeit, mein Thema auf einem Doktorandensymposium in Greenwich (USA) vorzustellen. Im Zuge des damit verbundenen New York-Aufenthaltes konnte ich für diese Studie relevante Werke im Original sichten. Die letzten Monate vor Fertigstellung des ersten Manuskripts waren von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Bauhauslehrerin Gertrud Grunow und der Frage nach der Authentizität der unter ihrem Namen veröffentlichten Schrift Der Gleichgewichtskreis geprägt. Ich möchte Prof. Dr. Achim Preiß und Bettina Preiß sowie Gabriele Wagner und Dr. Cornelius Steckner für ihre Mithilfe und die Bereitstellung des Gleichgewichtskreis-Manuskripts sowie bisher unveröffentlichten Materials danken. Größter Dank gilt in diesem Zusammenhang Gabriele Fecher, die mein Interesse an Grunow teilt und mich, wo es nur ging, unterstützte. Zwar handelt es sich letztlich nur um einen Teilaspekt in der Arbeit, doch gab mir die Suche nach Kontakten und Puzzleteilen die nötige Energie in der Abschlussphase sowie Impulse für ein Anschlussprojekt.

Literatur P rimär - und S ekundärliter atur (P rint) Abel 1982: Angelika Abel, Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre: Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der Neuen Wiener Schule, Wiesbaden 1982. Ackermann 2014: Marion Ackermann, »Viele Farben: ›Weiß‹«, in: Kandinsky, Malewitsch, Mondrian. Der weiße Abgrund Unendlichkeit, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Köln 2014, S. 25-35. Adorno 2009 (1959): Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), Frankfurt a.M. 2009. Albert 1995: Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg/München 1995. Allesch 1987: Christian Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen/Toronto/Zürich 1987. Arlo 1971: Raymond Arlo, »Media Ecology«, in Radical Software 3 (1), 1971, S. 19. Asendorf 2005: Christoph Asendorf, Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz, München 2005. Asendorf 1989: Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Asendorf 1984: Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984. Asholt/Fähnders 1995: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995. Asturel 1931: Fairfax Asturel, Das Mysterium des Atems. Richtig atmen gibt Lebenskraft (=Talisman-Bücherei, Bd. 6), Berlin 61931, S. 1-48. Auerochs 2011: Bernd Auerochs, »Fiktionen des heiligen Textes: Nietzsche und Kafka«, in: Alessandro Costazza/Gérard Laudin/Albert Meier (Hg.), Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800, Bd. 1, Berlin 2011, S. 41-58.

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Ausst.-Kat. Barbican Art Gallery London 2009: Radical Nature. Art and Architecture for a Changing Planet 1969-2009, Ausst.-Kat. Barbican Art Gallery London, Köln 2009. Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965: Mack, Piene, Uecker, Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1965. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1979: Zero. Bildvorstellungen einer europäischen Avantgarde. 1958-1964, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Stuttgart 1979. Ausst.-Kat. L’Espace Fondation EDF Paris 2015: Climats artificiels, Ausst.-Kat. l’Espace Fondation EDF, Paris 2015-2016, Paris 2015. Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst 2007: Werner Ruhnau. Der Raum, das Spiel und die Künste, Ausst.-Kat. Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW Gelsenkirchen, Köln 2007. Baader 2005: Hannah Baader, »Frühneuzeitliche Magie als Theorie der Ansteckung und die Kraft der Imagination«, in: Erika Fischer-Lichte/Mirjam Schaub/Nicola Suthor (Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 134-151. Bach 1985: Friedrich Teja Bach, »Johann Sebastian Bach in der klassischen Moderne«, in: Karin von Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Staatgalerie Stuttgart, München 1985, S. 328335. Badura-Triska 1990: Eva Badura-Triska (Hg.), Johannes Itten. Tagebücher. Stuttgart 1913-1916, Wien 1916-1919. Abbildung und Transkription, Wien 1990. Baetcke/Blum 1997: Franziska Baetcke/Laurence Lyon Blum, »Biographische Anmerkungen«, in: Jaroslav Andel/Dorothy Kosinski (Hg.), František Kupka. Die abstrakten Farben des Universums, Stuttgart 1997, S. 19-36. Bährmann 2006: Rudolf Bährmann, »Haeckels Ökologie-Begriff – Inhalt, Deutung, Bedeutung«, in: Anher Lenz/Volker Mueller (Hg.), Darwin, Haeckel und die Folgen. Monismus in Vergangenheit und Gegenwart, Rübenberge 2006, S. 93-126. Baldwin 2009 (1967): Michael Baldwin, »Remarks on Air-Conditioning« (1967), in: Voids: A Retrospective, Ausst.-Kat. Centre Pompidou/Kunsthalle-Bern/Centre Pompidou-Metz, Zürich 2009, S. 65-69. Banai 2004: Nuit Banai, »Vom Mythos der Objekthaftigkeit zur Ordnung des Raums: Yves Kleins Abenteuer in der Leere«, in: Yves Klein, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. 2004-2005/Museo Guggenheim Bilbao 2005, Ostfildern-Ruit 2004, S. 15-28. Barck 2000: Karlheinz Barck, »Differenzierungen im Ästhetikbegriff (Transformationen idealistischer Ästhetik)«, in: ders.u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 383-398. Barnett 2015: Endicott Barnett, »›Meinem lieben Freund von vielen Jahren‹, Klee und Kandinsky auf Papier, 1911-1937«, in: Klee & Kandinsky. Nachbarn Freunde Konkurrenten, Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee Bern 2015/Lenbachhaus München 2015-2016, München/London/New York 2015, S. 256-267.

Literatur

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Bieger 2011: Laura Bieger, »Ästhetik der Immersion. Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben«, in: Gertrud Lehnert (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Berlin 2011, S. 75-95. Biffiger 2012: Steffan Biffiger, »›Die Krater/Hochamt für Kunst‹: Hilla von Rebay, Rudolf Bauer und Otto Nebel«, in: Otto Nebel 1892-1973: Maler und Dichter, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern 2012-2013, Bielefeld 2012, S. 45-67. Bill 1963: Max Bill (Hg.), Wassily Kandinsky. Essays über Kunst und Künstler, Bern 2 1963. Bircher-Benner 1937: Maximilian Bircher-Benner, Fragen des Lebens und der Gesundheit: Vorträge aus der Sommerakademie 1935 der Zürcher Kulturgesellschaft, Zürich/Leipzig/Wien 1937. Blaauw 1909: Anton H. Blaauw, »Die Perzeption des Lichtes«, in: Société Botanique Néerlandaise (Hg.), Recueil des Travaux Botaniques Néerlandais 5, 1909, S. 209-372. Blümle 2011: Claudia Blümle, »Henri Maldiney«, in: Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich: ein Handbuch, München 2011, S. 255-263. Blümle/Schäfer 2007: Claudia Blümle/Armin Schäfer, »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin 2007, S. 9-25. Blümner 1926: Rudolf Blümner, »Licht und Schatten«, in: Der Sturm 9, 1926, S. 129-135. Blümner 1921: Rudolf Blümner, Der Geist des Kubismus und die Künste, Berlin 1921. Boccioni 2002 (1914): Umberto Boccioni, Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus), hg. und übers. v. Astrid Schmidt-Burkhardt, Dresden 2002. Boehm 2008: Gottfried Boehm, »Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz«, in: ders./Birgit Mersmann/Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15-43. Boehm 1990: Gottfried Boehm, »Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne«, in: Philosophisches Jahrbuch 97, hsrg. v. Hermann Krings u.a., Freiburg/München 1990, S. 225-237. Böhme/Böhme 1996: Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft: Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996. G. Böhme 1995: Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. G. Böhme 1989: Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M. 1989. H. Böhme 2006: Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006. Bonnefoit 2008: Régine Bonnefoit, »Paul Klee und die ›Kunst des Sichtbarmachens‹ von Musik«, in: Archiv für Musikwissenschaft 65, 2008, S. 121-151. Bosbach 1998: Nicola Bosbach, »Otto Pienes Rasterbilder – Ikonen eines technischen Zeitalters. Überlegungen zur Fakturdiskussion«, in: Anne Hoormann/

Literatur

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Literatur

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Literatur

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Das Bild als Lebensraum

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Literatur

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Das Bild als Lebensraum

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Literatur

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Das Bild als Lebensraum

Lipps 1923: Theodor Lipps, »Einfühlung und ästhetischer Genuß«, in: Emil Utitz (Hg.), Aesthetik, Berlin 1923, S. 152-167. Lipps 1906: Theodor Lipps, Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Hamburg/Leipzig 1906. López-Remiro 2006: Miguel López-Remiro, Rothko’s Writings on Art, New Haven 2006. Luckiesh 1926: Matthew Luckiesh, Licht und Arbeit: Betrachtungen über Qualität und Quantität des Lichtes und seinen Einfluß auf wirkungsvolles Sehen und rationelle Arbeit, Berlin 1926. Maldiney 2007: Henri Maldiney, »Die Ästhetik der Rhythmen«, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin 2007, S. 47-76. Massenkeil/Noltensmeier 1996a: Günther Massenkeil/Ralf Noltensmeier (Hg.), Das neue Lexikon der Musik in vier Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1996. Massenkeil/Noltensmeier 1996b: Günther Massenkeil/Ralf Noltensmeier (Hg.), Das neue Lexikon der Musik in vier Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1996. Matile 1979: Heinz Matile, Die Farbenlehre Philipp Otto Runges: Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerfarbenlehre, München 1979. Maur 1985: Karin von Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Staatgalerie Stuttgart, München 1985. Meißner 1989: Günter Meißner (Hg.), Franz Marc: Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, Leipzig/Weimar 21989. Meyer 1993: Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen/Basel 1993. Moewes 1980: Winfried Moewes, Grundlagen der Lebensraumgestaltung. Raum und Mensch, Prognose, ›offene‹ Planung und Leitbild, Berlin/New York 1980. Moholy-Nagy 1968 (1929): László Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, Berlin 1968. Moholy-Nagy 1967 (1925): László Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, hg.  v. Hans W. Wingler, Mainz/Berlin 1967. Moholy-Nagy 1947a: László Moholy-Nagy, The New Vision and Abstract of an Artist, hg. v. Walter Gropius, New York 1947. Moholy-Nagy 1947b: László Moholy-Nagy, Vision in Motion, Chicago 1947. Moholy-Nagy 1925: László Moholy-Nagy, »Kunstbetrachtung = Weltbetrachtung«, in: Offset-, Buch- und Werbekunst: d. Blatt für Drucker, Werbefachleute u. Verleger 6, 1925, S. 343-349. S. Moholy-Nagy 1969 (1950): Sibyl Moholy-Nagy, László Moholy-Nagy, ein Totalexperiment, Mainz/Berlin 1969. Mondini/Studinka 1996: Daniela Mondini/Felix Studinka, »Die Befreiung der Farbe in Italien – Divisionismus und Futurismus«, in: Erich Franz (Hg.), Farben des Lichts. Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian, Ausst.-Kat. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1996-1997/Musée de Grenoble 1997/Kunstsammlungen zu Weimar 1997, Ostfildern-Ruit 1996, S. 431-356.

Literatur

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Literatur

Putscher 1974: Marielene Putscher, Pneuma Spiritus Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1974. Radrizzani 2004: René Radrizzani (Hg.), Die bewegende Kraft von Klang und Farbe. Die Grunow-Lehre, Wilhelmshaven 2004. Radrizzani 1988: René Radrizzani (Hg.), Otto Nebel: Schriften zur Kunst, München 1988. Rahm 2007: Philippe Rahm, »Immediate Architecture«, in: Margitta Buchert/ Carl Zillich (Hg.), Performativ? Architektur und Kunst, Berlin 2007, S. 105-113. Restany 1982: Pierre Restany, Yves Klein, München 1982. Ribettes 2004: Jean-Michel Ribettes, »Yves Klein im Krieg der eifersüchtigen Götter«, in: Yves Klein, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. 2004-2005/ Museo Guggenheim Bilbao 2005, Ostfildern-Ruit 2004, S. 153-161. Rich 2005: Sarah K. Rich, »Staring into Space: The Relaxing Effect of Rothko’s Painting on Critics in the 1950s«, in: Thomas Crow/Glenn Phillips (Hg.), Seeing Rothko, Los Angeles 2005, S. 81-100. Riedel 1998: Manfred Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998. Rikli 1895: Arnold Rikli, Die Grundlehren der Naturheilkunde einschließlich die atmosphärische Cur ›Es werde Licht‹, Leipzig 1895. Rikli 1890: Arnold Rikli, Die Grundlehren der Naturheilkunde (früher ›Allgemeine Curregeln‹ betitelt) mit besonderer Berücksichtigung der atmosphärischen Cur, Leipzig 71890. Rikli 1871: Arnold Rikli, Die Thermodiätetik oder das tägliche thermo-electrische Licht- und Luftbad in Verbindung mit naturgemäßer Diät, als zukünftige Heilmethode, Berlin 1871. Rilke 1927: Rainer Maria Rilke, Gedichte. Dritter Teil: Neue Gedichte – Duineser Elegien – Die Sonette an Orpheus – Letzte Gedichte und Fragmentarisches, Leipzig 1927. Rood 1880: Ogden Nicholas Rood, Die moderne Farbenlehre mit Hinweisung auf ihre Benutzungen in Malerei und Kunstgewerbe, Leipzig 1880. Ross 1990: Clifford Ross, Abstract Expressionism: Creators and Critics. An Anthology, New York 1990. Rothko 2004: Mark Rothko, The Artist’s Reality. Philosophies of Art, hg. v. Christopher Rothko, New Haven 2004. Rowell 1976: Margit Rowell, »František Kupka. Eine Metaphysik der Abstraktion«, in: Frank Kupka 1891-1957, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim MuseumNew York/Kunsthaus Zürich, Zürich 1976, S. 25-52. Sachs 2005: Klaus-Jürgen Sachs, »Kosmisches Gesetz und musikalische Regel«, in: Helga de la Motte-Haber/Oliver Schwab-Felisch (Hg.), Musiktheorie, Laaber 2005, S. 31-72. Schall 1989: Janice Joan Schall, Rhythm and Art in Germany, 1900-1930, Dissertation, University of Texas 1989.

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Literatur

Soboleva 2008: Maja Soboleva, »Die ›Leidenschaft zum Monismus‹: Schwerpunkte des Systemdenkens bei Bogdanov«, in: dies./Stefan Plaggenborg (Hg.), Alexander Bogdanov. Theoretiker für das 20. Jahrhundert, München 2008, S. 80-97. Sontag 1977: Susan Sontag, Illness as Metaphor, New York 1977. Spate 1979: Virginia Spate, Orphism. The Evolution of Non-figurative Painting in Paris 1910-1914, Oxford 1979. Stachelhaus 1976: Heiner Stachelhaus, Yves Klein/Werner Ruhnau. Dokumentation der Zusammenarbeit in den Jahren 1957-1960, Recklinghausen 1976. Ștefănescu-Goangă 1911: Florian Ștefănescu-Goangă, Experimentelle Untersuchungen zur Gefühlsbetonung der Farben, Leipzig 1911. Steinaecker 2000: Karoline von Steinaecker, Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien, München/Jena 2000. Steiner 1999 (1920): Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin. Zwanzig Vorträge, gehalten in Dornach vom 21. März bis 9. April 1920 vor Ärzten und Medizinstudierenden, Dornach 71999. Steiner 1955 (1904/05): Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Stuttgart 191955. Steiner 1953: Rudolf Steiner, Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und Betrachten. Fünfzehn Ansprachen vor Eurythmieaufführungen in den Jahren 1919 bis 1924, Dornach 1953. Stephenson 2004: Gunther Stephenson, Kunst als Religion. Europäische Malerei um 1800 und 1900, Würzburg 2004. Stich 1994: Sidra Stich, Yves Klein, Stuttgart 1994. Stöhr 2008: Jürgen Stöhr, »›Äther‹ und ›Sinn‹ – Ein Sprung als Präzedenzfall«, in: Albert Kümmel- Schnur/Jens Schröter (Hg.), Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008, S. 161-200. Storch 2015: Christina Storch, Wetter, Wolken und Affekte. Die Atmosphäre in der Malerei der frühen Neuzeit, Berlin 2015. Streit 2015: Eva Streit, Die Itten-Schule Berlin. Geschichte und Dokumente einer privaten Kunstschule neben dem Bauhaus, Berlin 2015. Sung-Kie 1979: Sung-Kie Im, Dynamik des Raumes. Die Motive des Windes und des Atems in der Lyrik Rilkes, Dissertation, Universität Karlsruhe 1979. Tanner 2008: Jakob Tanner, »›Fluide Matrix‹ und ›Homöostatische Mechanismen‹«, in: Stephan Cartier/Jörg Hardy/Jörg Martin (Hg.), Welt im Fluss. Fallstudien zum Modell der Homöostase, Stuttgart 2008, S. 11-29. Tavenrath 2000: Simone Tavenrath, So wundervoll sonnengebräunt. Kleine Kulturgeschichte des Sonnenbades, Marburg 2000. Tech/Völkel 2010: Christian Tech/Ulrich Völkel (Hg.), bauhaus weimar. kleines lexikon, Weimar 2010. Terranova 2016: Charissa N. Terranova, Art as Organism. Biology and the Evolution of the Digital Image, London/New York 2016.

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Literatur

Waldenfels 2008: Bernd Waldenfels, »Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder«, in: Gottfried Boehm/Birgit Mersmann/Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 47-63. Wandhoff 2008: Haiko Wandhoff, »Von der kosmischen Strahlung zur inneren Erleuchtung. Mikrokosmische Perspektiven einer Kulturgeschichte des Lichts«, in: ders./Christina Lechtermann (Hg.), Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden, Bern 2008, S. 15-36. Wederer 2000: Rolf Wederer, Form und Bedeutung. Primitivismus, Moderne, Fremdheit, Köln 2000. Weiss 1982: Peg Weiss, »Kandinsky und München: Begegnungen und Wandlungen«, in: Armin Zweite (Hg.), Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen 1896-1914, München 1982, S. 29-83. Weißbach 2015: Angelika Weißbach (Hg.), Wassily Kandinsky. Unterricht am Bauhaus 1923-1933. Vorträge, Seminare, Übungen, Berlin 2015. Wember 1972: Paul Wember, Yves Klein, Köln 21972. O. Wick 2008: Oliver Wick, »Do they negate each other, modern and classical? Mark Rothko und die Sehnsucht nach Tradition«, in: ders./Hubertus Gaßner/Christiane Lange (Hg.), Mark Rothko Retrospektive, Ausst.-Kat. Kunsthalle der HypoKulturstiftung München/Hamburger Kunsthalle, München 2008, S. 12-28. R. K. Wick 2011: Rainer K. Wick, »Werner Graeff und die Bauhaus-Rezeption nach dem zweiten Weltkrieg«, in: Das Bauhaus und danach. Werner Graeff und die Nachkriegsmoderne, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Köln 2011, S. 10-15. Wilhelm 1924: Richard Wilhelm (Hg.), I-Ging. Das Buch der Wandlungen. Erstes und zweites Buch, Jena 1924. Winau 2005: Rolf Winau, »Ansteckung – medizinhistorisch«, in: Erika FischerLichte/Mirjam Schaub, Mirjam/Nicola Suthor (Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 61-72. Wismer 1985: Beat Wismer, Mondrians ästhetische Utopie, Baden 1985. Wißmann 2011: Jürgen Wißmann, »Otto Pienes Sky Art und ihre Beziehung zum Gesamtwerk«, in: Ante Glibota (Hg.), Otto Piene, Paris 2011, S. 72-83. Witte 1996: Andrea Witte, »›Wenn ich Maler wäre, würde ich sicher Neoimpressionist sein‹«, in: Erich Franz (Hg.), Farben des Lichts. Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian, Ausst.-Kat. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1996-1997/Musée de Grenoble 1997/ Kunstsammlungen zu Weimar 1997, Ostfildern-Ruit 1996, S. 211-243. Witzmann 1995: Pia Witzmann, »›Dem Kosmos zu gehört der Tanzende‹. Der Einfluß des Okkulten auf den Tanz«, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., Ostfildern-Ruit 1995, S. 600-645. Wolf 2011: Gerhard Wolf, »Bildmagie«, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart/Weimar 22011, S. 64-72.

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Das Bild als Lebensraum

Wölfflin 1917: Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der Neueren Kunst, München 21917. Wolter 2003: Heike Wolter, ›Volk ohne Raum‹ – Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers, Münster/Hamburg/London 2003. Worringer 1959 (1908): Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1959. Worringer 1912: Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 21912. Wyss 1996: Beat Wyss, Der Wille zur Kunst, Köln 1996. Zapf 2002: Hubert Zapf, Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans, Tübingen 2002. Zeising 2007: Andreas Zeising, »Gleichnis der Harmonie. Max Burchartz und die bildende Kunst«, in: ders. (Hg.), Konstruktion und Formerlebnis: Max Burchartz, Werner Graeff, Jupp Ernst – Werkbund und freie Kunst, Wuppertal 2007, S. 14-31. ZERO 1: ZERO 1, hg. v. Heinz Mack/Otto Piene, Düsseldorf 1958. ZERO 2: ZERO 2, hg. v. Heinz Mack/Otto Piene, Düsseldorf 1960. ZERO 3: ZERO 3, hg. v. Heinz Mack/Otto Piene, Düsseldorf 1961. Zimmermann 2005: Reinhard Zimmermann, »Das Kunstwerk als Wirk-Organismus. Zur Bildtheorie der Abstraktion«, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.), Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 247-264. Zimmermann 2002: Reinhard Zimmermann, Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. 1, Berlin 2002. Zimmermann 1994: Reinhard Zimmermann, Kunst und Ökologie im Christentum. Die ›7000 Eichen‹ von Joseph Beuys, Wiesbaden 1994.

W ebseiten Burchert 2017b: Linn Burchert, »Breathing within and in front of images: Rhythm and time in abstract art«, Visual Past 4, 2017, www.visualpast.de, S. 59-82. The Harrison Studio: http://theharrisonstudio.net, Santa Cruz, California, o.D., 4.6.2018. Transsolar: www.transsolar.com, Stuttgart, seit 2015, 4.6.2018. Vaughn Bell: www.vaughnbell.net, o.O., O.D., 4.6.2018. Zentrum Paul Klee 2011: Zentrum Paul Klee, Bildnerische Form- und Gestaltungslehre, Manuskripte mit Transkription, Bern 2011, Notizen als Faksimiles und Transkriptionen, verfügbar unter: www.kleegestaltungslehre.zpk.org, 4.6.2018.

Literatur

B ei D rucklegung noch im E rscheinen oder in V orbereitung Burchert a: Linn Burchert, »The Spiritual Enhancement of the Body: Johannes Itten, Gertrud Grunow, and Mazdaznan at the Early Bauhaus«, in: Elizabeth Otto/Patrick Rössler (Hg.), Bauhaus Bodies: Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, London/New York, erscheint voraussichtlich Anfang 2019. Burchert b: Linn Burchert, »Wellenatem und Klangwehung. Zur Atemmetapher in bildender Kunst und Musik am Beispiel Paul Klees und Ernst Kurths«, in: Michael Baumgartner/Thomas Gartmann (Hg.), Klee und die Musik (Arbeitstitel), Basel, erscheint voraussichtlich 2019.

381

Personenregister Adam, Edouard 

161 Adorno, Theodor W.  23, 24, 294 Albers, Josef  41, 71, 159 Alberti, Leon Battista  27, 38, 44, 63 Allendy, Colette  160f. Amden, Otto Meyer 60 Ammann, David 248f. Ammann, Frieda 248f. Apollinaire, Guillaume  172 Apollon/Apoll  129f., 269 Aristoteles  44, 267 Arman 210 Arp, Hans  15 Asklepius/Äskulap  129, 316 Asturel, Fairfax  249 Atkinson, Terry  349

Bacchus 230 Bach, Johann Sebastian von  233, 279, 300f., 303 Bachelard, Gaston  158f. Bacon, Francis  13 Baldwin, Michael  349 Baudelaire, Charles  15 Baumeister, Willi  104f. Baumgarten, Alexander Gottlieb  354 Barr, Alfred H.  17 Beethoven, Ludwig van  232f. Behne, Adolf  47f., 50, 217 Bell, Vaughn  350-352 Benjamin, Walter  25 Bergson, Henri  16f., 52, 206, 233, 341 Bertalanffy, Ludwig von  346

Besant, Annie  114, 184, 186, 258 Beuys, Joseph  206, 342-244 Bezold, Wilhelm  111 Bircher-Benner, Maximilian  173, 299 Bizet, George  231 Blaauw, Anton H.  189f. Blavatsky, Helena  46, 237, 286 Blümner, Rudolf  280-282, 195-199 Boccioni, Umberto  37, 39-43, 115, 169, 218, 222-224, 257 Bodin, Jean  59 Bogdanov, Alexander  53, 194, 335f. Bölsche, Wilhelm  303 Burchartz, Max  10f., 25, 32, 35, 40f., 50-52, 55, 61f., 65, 67f., 81f., 85-100, 102, 105, 107, 110f., 116, 121, 133, 151, 153, 161, 221f., 225, 230, 245-247, 280, 284, 300, 302, 312, 323-328, 340f., 348 Burckhardt, Jacob  12 Burnham, Jack  346 Braun, Nikolaus  31, 42, 60, 64, 104, 107, 169, 177, 191-199, 203-206, 209f., 280, 282, 340 Breuer, Marcel  63 Bronstein, Max (alias: Mordecai Ardon)  193, 196 Bruckner, Anton  233

Cendrars, Blaise 

171 Cézanne, Paul  24, 167f. Chardin, Pierre Teilhard de  52

384

Das Bild als Lebensraum

Chevreul, Eugène Michel  68, 148f., 170, 175, 181 Clert, Iris  163f., 223 Czapek, Friedrich  190f.

Darwin, Charles 

43, 46, 290 David, Jacques-Louis  217f. Davies, Arthur B.  216, 245 Delacroix, Eugène  162, 171 Delaunay, Robert  9f., 17, 32, 39, 42, 102, 149, 157, 167, 169-179, 182f., 193f., 200, 206f., 213, 276-280, 299 Delaunay, Sonia  170, 177 Deleuze, Gilles  13f., 24 Delsarte, François  289f. Diefenbach, Karl  79, 288 Doesburg, Theo van  86f. Dorner, Alexander  342 Driesch, Hans  305 Duncan, Isadora  290

Ebeling, Siegfried 

63, 96, 255, 284f. Eckermann, Johann Peter  14, 283 Eichner, Johannes  115, 234 Eliade, Mircea  320 El Lissitzky  31 Empedokles 44

Faraday, Michael 

99 Fechner, Gustav Theodor  15, 38, 64f. Fidus 79 Filonov, Pavel  32 Finsen, Niels Ryberg  190 Francé, Raoul H.  16, 38, 48f., 52-55, 61, 89, 96f., 194, 280, 312-314, 324f., 335f. Franck, Maria  242 Freudenberg, Franz  65 Friedrich, Caspar David  211

Galen 

57, 238 Gastini, Marco  352 Gauguin, Paul  349

Geiger, Willy  206 George, Stefan  14, 23, 45 Ghadiali, Dinshah  101, 221, 109 Giedion, Sigfried  63 Goethe, Johann Wolfgang von  12, 14, 17, 25, 68, 73, 74f., 89-95, 105, 107f., 120f., 134, 144, 148, 153, 159f., 171, 212, 275, 279, 283f., 291, 305, 307f., 315, 321 Gogh, Vincent van  168, 213, 287 Graeff, Werner  86, 246f., 324 Graubner, Gotthard  214, 223, 282, 349 Greenberg, Clement  224, 262 Grimm, Hans  49 Grindell-Matthews, Harry  194, 198 Grohmann, Will  218 Groos, Karl  245 Grosse, Ernst  234f. Gropius, Walter  54, 96, 138, 155 Grünewald, Matthias  211 Grunow, Gertrud  35, 68, 107, 120, 126, 130-138, 142, 154, 184, 190, 244, 248, 280, 288-292, 301f., 312-314, 316, 322, 324, 326, 330f., 334f., 341 Gruppe, Otto Friedrich  167

Haacke, Hans 

347f. Haeckel, Ernst  10, 17, 30, 38, 43-46, 49, 290f., 335 Ha’nish, Otoman Zar-Adusht  108f., 248 Hanslick, Eduard  304, 306 Harrison, Helen Mayer  347f., 351 Harrison, Newton  347f., 351 Hauer, Josef Matthias  137f., 142, 301f., 304 Haushofer, Karl  49 Hayter, Charles  71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  152 Heidegger, Martin  254 Heiliger Georg  130 Heindel, Max  114, 161, 185f., 258-260

Personenregister

Heitmeyer, Hildegard  130f., 134 Hellpach, Willy  38, 56, 58f., 61-65, 72, 89, 93-95, 104, 140, 150, 191, 225, 239, 241, 286f., 305 Helmholtz, Hermann von  64, 68 Herder, Johann Gottfried  12, 59, 63 Herophikos 299 Hertz, Heinrich  106 Hippokrates  38, 56f., 237, 239, 254, 285, 321 Hirschfeld-Mack, Ludwig  205 Hitler, Adolf  49 Hofmannsthal, Hugo von  228f. Hölzel, Adolf  41, 244 Howat, Douglas  100, 106f. Huch, Ricarda  14f. Humboldt, Alexander von  38, 57-59

Itten, Hildegard 

302 Itten, Johannes  9f., 32, 40, 42, 45f., 48, 50f., 55, 57, 62, 67f., 78, 81f., 85f., 100-111, 125f., 131f., 133, 137-151, 153, 157, 161, 166f., 174, 177, 194, 200, 217-219, 221, 223, 226, 262, 264, 269, 275, 279f., 282, 284, 286-288, 293f., 296f., 300-304, 309, 313, 317-324, 328-330, 332, 335, 340-348, 350

Jaques-Dalcroze, Émile 

288, 290, 335

James, William  245 Jedlicka, Gotthard  51

Kahle, Hans 

29 Kalivoda, František  206, 333 Kállai, Ernő  16, 51 Kandinsky, Wassily  12-19, 22, 24, 27, 32, 37-40, 42, 45f., 52, 54f., 57, 60, 62f., 65-68, 71, 82, 86, 94, 100-116, 121, 124f., 129f., 133, 142, 151, 157, 166, 169f., 173, 183-193, 198f., 208f., 217-226, 228, 230, 232f., 237-239, 242-244, 249-251, 258f., 262, 276-

281, 284, 286, 290, 293, 296f., 299-303, 305, 309, 316, 319, 328, 332, 340-343, 346 Kant, Immanuel  25 Käser, Matthias  252 Kaßner, Rudolf  229 Kayser, Hans  302f., 313f. Kemény, Alfréd  193, 331, 334-336 Kepes, György  344f. Kessler, Harry Graf  168, 170, 177 Kircher, Athanasius  299 Kirchner, Ernst Ludwig  27 Klages, Ludwig  14, 16f., 25f., 89-91, 93, 247f., 275, 279, 283-287, 290, 293, 304-310, 315, 318, 323f., 328 Klee, Felix  71 Klee, Lily  69-72, 137f., 219 Klee, Paul  14-17, 29, 32, 34, 40, 42, 45, 51, 55, 57, 60, 62, 64, 67-78, 80-82, 85f., 88f., 94, 98-100, 107, 109f., 148, 153f., 169-171, 178, 191, 193f., 199f., 209, 213, 219, 221, 223, 225, 230, 233f., 238-240, 243, 251, 261, 275f., 279f., 282, 284, 288, 290, 296, 300-312, 315-319, 322f., 325-330, 332, 340-342, 350 Klein, Yves  17, 31f., 41, 45f., 51, 60, 63, 67f., 87, 109, 115, 157-166, 185, 187, 206f., 210f., 210f., 213-215, 217, 222, 224, 227, 236f., 244f., 250-262, 264f., 269, 284, 340f., 343f., 348, 350 Klein-Moquay, Rotraut (Uecker, Rotraut)  165, 258 Koch, Robert  239 Koehler, Bernhard  242, 277 Kondo, Tetsuo  349, 352 Kooning, Elaine de  224 Kricke, Norbert  252 Kunitz, Stanley  271 Kupka, František  17, 31, 40, 42, 46f., 50, 52, 54f., 67f., 78-86, 88f., 94, 96, 99f., 102, 107, 110-112, 115f.,

385

386

Das Bild als Lebensraum

120f., 124f., 161, 167, 169f., 172, 178184, 191, 193f., 199f., 208f., 211, 213, 217, 221-225, 230, 234, 237, 242, 244f., 249-251, 257, 261, 276, 279f., 286, 288, 299f., 313, 316, 324, 330f., 340

Laban, Rudolf von 

290 Le Corbusier  96 Leadbeater, Charles W.  114, 184, 186f., 258 Lee, Vernon  245 Liebermann, Kurt  117, 122 Linné, Carl von  45f. Lipps, Theodor  26, 90, 245, 293-295, 306 Lomazzo, Giovanni Paolo  57 Luckiesh, Matthew  190f.

Mack,

Heinz  41, 206f., 252, 260f., 281 Macke, August  9, 39, 42, 62, 68, 170, 172, 276-280, 305, 309 Macke, Helmuth  242 Maldiney, Henri  14, 24, 234 Malewitsch, Kasimir  24, 158 Manet, Édouard  188, 217f. Mann, Thomas  241 Marc, Franz  14, 242, 276-280 Maria, Walter de  351 Mataré, Ewald  51 Matisse, Henri  265 Maxwell, James Clerk  106, 181 McLuhan, Marshall  345 Meles, Hippolyt  198 Mies van der Rohe, Ludwig  47f., 63, 155, 253 Milet, Anaximenes von  236 Minsky, Nicolas Maximovitsch  170, 177 Miró, Jean  15 Möbius, Karl August  49

Moholy-Nagy, László  17f., 28, 31, 42f., 47, 51, 53-55, 60, 64, 68, 86, 97, 151, 154-157, 161, 169, 177, 192-194, 197, 199-207, 213, 219, 223, 276, 280, 282, 290, 300, 312f., 328-337, 340f., 343-345, 348 Moholy-Nagy, Sibyl  200, 43, 154 Moillet, Louis  68 Mondrian, Piet  37, 43, 68, 86f., 151158, 297 Monet, Claude  67 Montesquieu 59 Moos, Paul  294 Munch, Edvard  211 Münter, Gabriele  103, 115

Nebel,

Otto  9f., 17, 32, 35, 37, 39f., 42, 45, 55, 57, 60, 62, 67f., 78, 82, 85, 97, 102, 107, 111f., 116-136, 138f., 142, 148, 153f., 166, 169, 171f., 177, 183-187, 193f., 200, 208f., 215, 217, 220f., 223, 225f., 230, 235-238, 240, 251, 257f., 261f., 280, 282, 284, 294, 296f., 299, 302, 312-317, 321, 323, 330, 332, 335, 340f., 343, 350 Neutra, Richard  51, 63, 155, 253f. Newman, Barnett  27, 224, 262 Newton, Isaac  76, 80, 169, 171f., 175f., 178-184 Nietzsche, Friedrich  14, 16f., 28, 38, 53, 59, 72, 90, 168, 215, 226, 228232, 239, 241-243, 261, 267-269, 273, 298, 346 Novalis  12, 302, 306

O sborne-Eaves, Andrew 

100-103, 108f., 191, 221, 249, 285 Ostwald, Wilhelm  90, 118, 201, 243, 335

Palladio, Andrea 

64 Palucca, Gret  290 Parent, Claude  255

Personenregister

Penone, Giuseppe  352 Piene, Otto  32, 37, 41-43, 55, 68, 78, 81, 87, 151, 157f., 165f., 168f., 173, 206-214, 217, 223, 226, 228, 251f., 260f., 275f., 281f., 326, 340f., 348 Piles, Roger de  20 Piper, Reinhard  277 Platon  14, 45, 173, 185, 280, 283, 291, 299 Plessner, Helmuth  48, 50, 52 Pollock, Jackson  206 Postman, Neil  345 Potter, Edna  245

Rahm, Philippe 

350f. Read, Herbert  16 Rebay, Hilla von  337 Restany, Pierre  162-165, 255 Rikli, Arnold  38, 61, 65, 109f., 150, 156, 239f., 285f., 309, 322, 332 Rilke, Rainer-Maria  227-229, 231 Rodin, Auguste  244 Rodman, Selden  262f. Roessler, Arthur  79, 242 Rood, Ogden N.  68, 76, 180f. Rosencreutz, Christian  258 Rothko, Mark  9f., 27, 32, 42, 72, 87, 215, 223f., 226, 228, 245, 261-273, 275, 298, 310, 329, 340, 346 Ruhnau, Werner  41, 51, 60, 63, 163, 165, 207, 210, 215, 223, 251-258, 350 Runge, Philipp Otto  76

Schelling, Friedrich 

12, 301 Schermann, Rafael  324 Schiffermüller, Ignaz  118 Schlegel, August Wilhelm  12, 167 Schleiermacher, Friedrich  21f., 263 Schlemmer, Oskar  60, 86, 130, 354 Schoenmaeker, Mathieu H. J.  152f. Schönberg, Arnold  300f. Schreyer, Lothar  131, 137, 301f.

Schunke, Gerhard (alias: von Mannstedt, von Mansfeld, von Manstein, Gio Gino)  131f., 136, 302 Schwitters, Kurt  31 Segantini, Giovanni  232 Seitz, William  263f. Signac, Paul  67, 168, 171, 218 Simmel, Georg  26, 287 Segal, Arthur  193, 195 Seurat, Georges  67 Ștefănescu-Goangă, Florian  65, 93 Steiner, Marie  231 Steiner, Rudolf  25, 45, 115, 187, 230f., 242, 291f., 342 Stifter, Adalbert  279 Still, Clyfford  9, 42, 224, 262f. Stuck, Franz von  71, 206 Strindberg, August  232 Suess, Eduard  52 Swedenborg, Emanuel  114, 232

Tansley, Arthur G. 

49 Takehisa, Yumeji  234

Uecker, Günther 

41f., 207, 260f. Uexküll, Jacob von  38, 47f., 50

Velde, Henry van de 

59 Vernadsky, Vladimir Ivanovich  52 Vischer, Robert  26, 293 Vischer, Theodor Friedrich  26, 293

Waetzoldt, Wilhelm 

12 Wagner, Richard  154, 231f., 244, 268 Warburg, Aby  25f., 90 Webern, Anton  232, 301 Weitbrecht, Carl  28f., 230 Werner, Heinz  130 Wiener, Norbert  346 Wiesner, Julius  190 Wilhelm, Richard  284, 321 Wölfflin, Heinrich  13 Wolfskehl, Karl  45

387

388

Das Bild als Lebensraum

Wols 206 Woltereck, Richard  49 Worringer, Wilhelm  293, 295-297, 303 Wundt, Wilhelm  64f., 89, 90, 93, 105, 133, 297, 326

Zweig, Stefan 

45

Abbildungsnachweise (1-2) Ólafur Elíasson, Courtesy: Ólafur Elíasson; neugerriemschneider, Berlin und Tanja Bonakdar Gallery, New York, © Ólafur Elíasson (3) Rheinisches Bildarchiv Köln, RBA 003 108 (4) Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv (5) Bisig & Bayer, Basel (6) Oto Palán, Museum Kampa – The Jan and Meda Mládek Collection, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (7-8) 2018 National Gallery in Prague, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (9) Gerda Breuer (Hg.), Max Burchartz 1887-1961. Künstler, Typograf, Pädagoge, Berlin 2010, S. 244, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (10-13) Otto Nebel-Stiftung, Bern (14) Atelier Schneider, Courtesy: Bauhaus-Archiv Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (15-18) © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (19) Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK (20) John Gage, Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 1993, S. 171. (21) Digital Image, The Museum of Modern Art/Scala, Florenz, © Mrs. Simon Guggenheim Fund, 2018 (22) bpk/CNAC-MNAM/Bertrand Prévost, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (23) Courtesy: The Louise and Walter Arensberg Collection, 1950-134-122, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (24) 2018 National Gallery in Prague, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (25-26) Sammlung Kunstbibliothek SMB – Reprofoto: Dietmar Katz (27) bpk/Jens Ziehe, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie (28) Solomon R. Guggenheim Museum, New York Solomon R. Guggenheim Founding Collection (29) Bauhaus-Archiv, Berlin (30) bpk/Jörg P. Anders, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie © VG BildKunst, Bonn 2018 (31) Otto Nebel-Stiftung, Bern

390

Das Bild als Lebensraum

(32) Gerda Breuer (Hg.), Max Burchartz 1887-1961. Künstler, Typograf, Pädagoge, Berlin 2010, S. 239, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (33) Markus Hawlik, © Ursula Graeff-Hirsch, Bauhaus-Archiv Berlin (34) Werner Graeff, © Museum Wiesbaden (35) bpk/CNAC-MNAM/Bertrand Prévost, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (36) Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (37) bpk/The Metropolitan Museum of Art, © Kate Rothko-Prizel & Christopher Rothko, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (38) Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch, Mainz 1965, S. 22. (39) Webseite Zentrum Paul Klee, www.kleegestaltungslehre.zpk.org (BG 1.4/25) (40) SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz), Courtesy: Kunst Museum Winterthur, Legat Dr. Emil und Clara Friedrich-Jezler, 1973 (41) Otto Nebel-Stiftung, Bern (42) bpk/The Metropolitan Museum of Art (43) Philippe Rahm, © Philippe Rahm (44) Niklaus Stauss, Zürich, © Philippe Rahm (45) Vaughn Bell, Kevin Kennefick, © Vaughn Bell

Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)

Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3

Heike Engelke

Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0

Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)

Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4

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