Exempla: Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens [1 ed.] 9783428484164, 9783428084166

Die Tradition des Exemplums, des Erzählens in Beispielen, war bereits in der Antike als Argumentationstechnik in der Ger

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Exempla: Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens [1 ed.]
 9783428484164, 9783428084166

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BERND ENGLER und KURT MÜLLER (Hg.)

EXEMPLA Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 10

EXEMPLA Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens

Herausgegeben von

Bernd Engler und Kurt Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Exempla : Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens / hrsg. von Bemd Engler und Kurt Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft; Bd. 10) ISBN 3-428-08416-0 NE: Engler, Bemd [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-08416-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 i§

Franz Link zum 70. Geburtstag am 1. August 1994 gewidmet

Inhalt Bernd Engler / Kurt Maller, Einleitung .............................. ...... ........

9

Alois Wolf, Interpretatio christiana der Schöpfung als Exemplum filr Wolframs Erzählweise ....................................................................

21

Wi/li ErZKräber, Die antiken Episoden in Chaucers frühen erzählerischen Werken ............................................................................

55

Wol/gang G. Maller, Theorie und Praxis des Exemplums in der Renaissance: Erasmus und Shakespeare ....... .... ............. .............. .......

79

Volker Kapp, Exempelerzählung und Anstandslehre bei Guazzo: Zur Bedeutung der Exempla nach Boccaccio ........................ ................

97

Christoph Strosetz/ci, Exemplarität in Cervantes' Novelas ejemplares

115

Klaus Weiss, "No Example Like This": Das Exemplum in Edward Taylors Christographia ...................................................................

123

Thomas Stauder, Exemplarität in Marivauxs Telemaque travesti ..........

165

Anne Margret Rusam, Exemplarität und Individualität: Rousseau und Alfieri als Leser Plutarchs ........................................................

183

Ganter Niggl, Erzählspiegel in Goethes Werther ..............................

199

Hans-Joachim Lang, Joel Barlows "Dissertation on the Genius and Institutions ofManco Capac" als historisches Exemplum ..............

215

Jutta Zimmermann, Exemplarisches Erzählen in Washington Irvings "Rip Van Winkle" ...........................................................................

249

Klaus Lubbers, Konterkarierende Visionen in amerikanischen Kurzgeschichten ......................................................................................

269

8

Inhalt

Stephan Dietrich, "Tracing the Lineage": Strategien der Exemplifizierung in Margaret Fullers "The Great Lawsuit" ............ .... .... .......

289

Uwe Baumann, "Brotherhood in Error": William Shakespeares Coriolanus als Exemplum in Charlotte Brontes Shirley ....... ..........

315

Ulrich Broich, Dashiell Hammetts The Maltese Falcon und die "Flitcraft story" ...............................................................................

339

Kurt Müller, "The Education of a Teacher": Zu den Funktionen eingelagerten Erzählens in Ernest Hemingways For Whorn the Bell ToUs ................................................................................................

355

Adolf Barth, Exempla im englischen Theater des 20. Jahrhunderts: Proteisches Medium der Belehrung und Ideologiekritik ................

387

Rüdiger Ahrens, Invertierte Welten bei William Shakespeare und Tom Stoppard: Das Beispiel Harnlet ...............................................

425

Paul Goetsch, Ein Leben in Geschichten und Zitaten: Max Frischs Stiller und die amerikanische Literatur ........... .............. ......... ..... ....

449

Kurt Schlüter, Zeichen und Wunder: Eine postmoderne Beispielgeschichte in Anthony Burgess' Earthly Powers ............................

473

Bernd Engler, "Disparate Stories": Zur Funktion der eingelagerten Kurzerzählungen in Maxine Hong Kingstons China Men .. ........ ....

483

Jutta Person, Minimalistische Exempla: Tobias Wolffs "Leviathan" und Raymond Carvers "What We Talk About When We Talk About Love" .......... ................... ...................... ......... ...... ..................

501

Namen- und Werkregister ..................................................................

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BERND ENGLER / KURT MÜLLER

Einleitung: Das Exemplum und seine Funktionalisierungen Die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Exemplum ist - so der prägnante Begriff Wolfgang Brückners - die Geschichte einer "verengenden Kategorisierung" (Brückner, 1974,22). Obwohl es seit dem Beginn der Exempelforschung im 19. Jahrhundert nicht an Versuchen gemangelt hat, die recht unterschiedlichen Ausprägungen des Erzählens in Beispielen zu erfassen und Defmitionen des Begriffes "exemplum" zu formulieren, fehlen bislang konsensflihige oder gar einvernehmlich akzeptierte Bestimmungen. 1 Allzu oft mündeten die Bemühungen um die Beschreibung der vielfiUtigen Erscheinungsformen des Exemplums in Kategorisierungen, die lediglich die spezifischen Erkenntnisinteressen der mit dem Gegenstand befaßten Fachdisziplinen (u.a. Rhetorik, Literaturwissenschaft, Theologie und Kulturwissenschaft) reflektieren. Doch trotz aller Differenzierungen, die sich aus fachwissenschaftlichen Studien ergaben, blieb die Forschung weitgehend auf die Untersuchung der Tradition von vornehmlich in religiösen Kontexten verwendeten Beispielerzählungen beschränkt und verkürzte folglich den Exempelbegriff auf eine "didaktische Proposition mit moralisierender Tendenz" (Schenda, 1969, 81). Selbst die sich neuerdings abzeichnende Ablösung der traditionellen Kategorisierungen hat - so Christoph Daxelmüllers Charakterisierung der Forschungssituation (vgl. Daxelmüller, 1984 und 1985) - die einseitige Fixierung auf religiös-erbauliche Funktionszuweisungen noch nicht völlig überwunden. Wie die neuere Forschung zeigt, kann der Gebrauch von Exem1 Bereits Crane dokumentiert die Bedeutungsvielfalt des Begriffs. Er erklärt die weitgehende definitorische Unsicherheit damit, daß die Kompilatoren von Exempelsammlungen auf sehr heterogenes Material zurückgriffen, da ihnen keine verbindlichen Auswahlkriterien zur Verfilgung standen (vgl. Crane, 1890, xlvii und passim). Geremek (1980, 177) kommentiert den Mangel an begrifflicher Eindeutigkeit mit dem Fehlen verbindlicher Gattungsmerkmale: "Sur le plan typologique les exempla montrent une immense diversite. On y voit des legendes, des contes orientaux, des recits miraculeux, des fables antiques, des recits conventuels, des anecdotes, des recits bibliques et des paraboles, des miracles, des observations qui relevent de I'histoire naturelle, des narrations mythologiques". Eine gute Darstellung des Forschungsstandes und seiner Desiderate bietet Daxelmüller, 1985.

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Bernd Engler / Kurt Müller

peIn jedoch selbst in der mittelalterlichen bzw. spätmittelalterlichen Literatur keineswegs auf das religiöse und homiletisch-pastorale Schrifttum reduziert werden. 2 In Anbetracht der Heterogenität des der Exempelliteratur zurechenbaren Textkorpus scheint zunächst allein die auf der antiken und mittelalterlichen Rhetorik basierende Zuweisung von rur das Exemplum typischen persuasiven Funktionen eine Begriffsbestimmung zu ermöglichen. 3 Gilt jedoch das Utilitätsprinzip, demzufolge sich das Exemplum primär dadurch bestimmt, daß es dazu dient, die Überzeugungskraft von im Textzusammenhang getroffenen Aussagen zu steigern, so wird sich die künftige Exempla-Forschung vornehmlich der kontextbezogenen Analyse der Verwendungsmöglichkeiten von Beispielerzählungen widmen müssen. 4 Das Exemplum wird ohnedies seit der Antike primär als Funktions- und nicht als Gattungsbegriff bestimmt, und sowohl Aristoteles als auch Cicero kannten Formen der exempelhaften Vergegenständlichung und Beglaubigung, die höchst disparaten Bereichen entstammen. s Historia (der Bericht tatsächlicher Ereignisse, res gesta), argumentum (die Erzählung möglicher bzw. wahrscheinlicher Ereignisse) und fabula (die Erzählung, die sich nicht dem Wahrscheinlichkeitsprinzip unterordnet)6 konnten seit der Antike trotz ihres unterschiedlichen Aussagestatus gleichermaßen als Exempla dienen und persuasive Funktionen erfiillen. 2 Vgl. u.a. Tubaeh, 1962, und Daxelmüller, 1991. Die Bestimmung des Exemplums als einer religiösen Beispielerzahlung wurde bes. durch Editionen theologisch-homiletisch ausgerichteter Exempelsammlungen (siehe u.a. Schmidt, 1827, Wesselski, 1909, und WeIter, 1914) und durch die diesbezügliche Forschungsliteratur (u.a. Bolte, 1888, Crane, 1890, Mosher, 1911, und WeIter, 1927) bellirdert. 3 Zu diesen Funktionen zahlen vornehmlich die des illustrare (der Konkretisierung einer abstrakten Aussage), des demonstrare (des induktiven Beweisens dieser Aussage) und des delectare (der Erbauung und Unterhaltung der LeserlHörer). 4 Vgl. hierzu insbesondere Assion, 1978,227: "[... ] die Reduktion des Exempels auf eine Minimalform [bringt jedoch] keinen Erkenntniszuwachs, so lange dabei Kommunikationszusammenh!lnge außer acht gelassen werden, in die doch jede Erzahlform hineingestellt ist. [... ] Wichtig scheint an diesen Bestrebungen [i.e. das Exempel in seinem intentionalen und situativen Kontext zu erfassen] vor allem, daß sie Texte als Ausdruck gesellschaftlicher Praxis verstehen [... )" .

5 Vgl. AristoteIes' Rhetorik und Ciceros Rhetorica ad Herennium, De oratore und De invenlione. Zum Exemplum in der antiken Rhetorik siehe bes. AleweIl, 1913, Kornhardt, 1936, Barwiek, 1963, und von Moos, 1988. 6 Vgl. hierzu Ciceros Bestimmung in der Rhetorica ad Herennium, 1,8,13: "Fabula est, quae neque veri similes continet res, ut eae sunt, quae tragoedis traditae sunt. Historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota. Argumentum est ficta res, quae tarnen fieri potuit velut argumenta comoediarum" (Cicero, 1954,22 und 24).

Einleitung

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War der Gebrauch von Exempeln in der Antike indes noch weitgehend auf eine in der Gerichtsrede im Rahmen der Beweisfiihrung vorherrschende Argumentationstechnik bezogen, so wurde er von den Kirchenvätern unter dem Einfluß des griechischen paradeigma-Begriffs zunehmend zu einem Mittel mahnender bzw. abschreckender moralischer Belehrung reduziert. In seiner Schrift De doctrina christiana schuf Augustinus im religiösen Kontext die Voraussetzung fiir eine Verwendung von Exempeln, die die Vermittlung von tugendhaftem Verhalten mittels virtutis exempla (mitunter auch abschreckend mittels vitia exempla) anstelle von abstrakt belehrenden Regeln (praecepta) in den Vordergund des didaktischen Interesses rückte. Beispiele aus der Geschichte bzw. dem alltäglichen Leben wurden durch Beispiele aus der Heiligen Schrift erweitert; die beispielhaften Taten außergewöhnlicher Personen fanden in Christus' Lebensweg und seiner Erlösungstat ihre Vollendung; sein Beispiel wurde zum exemplum exemplorum überhöht und zur Nachahmung empfohlen. Hatte Cicero in De oratore (II,ix,36) mit seinem Konzept der "historia magistra vitae" der Geschichte und den in ihr tradierten exemplarischen res gesta, d.h. dem Bericht tatsächlicher Handlungen beispielhafter Personen, den Vorzug bei der sittlichen Erziehung des Menschen durch Vorbilder gegeben, so übernahmen die christlichen Multiplikatoren von Exempeln die klassischen Bewertungskategorien, ersetzten jedoch die antiken Helden durch christliche Heilige. Innerhalb eines theozentrisch geprägten Weltbildes mit seinen durch die göttliche Offenbarung garantierten Bedeutungs- und Ordnungsstrukturen wurde das Exemplum schließlich - so eine Schlußfolgerung Daxelmüllers zum Ausdruck eines Denkens, das auf der Lehre von der signifikativen Qualität der Dinge beruhte [.. .]. Es schuf und reproduzierte zugleich Bilder, es bewahrte eine Ikonologie von Vorstellungsmustern; und wie die auctoritates [...] zu Handbüchern kanonisiert, festgeschrieben und dadurch überliefert wurden, so autorisierte das exemplum Richtmaßstäbe rur die Wirklichkeitserfahrung, tradierte immer von neuem vergleichbare Phllnomene und Ereignisse einer konstanten Natur. [... ] Im exemplum äußert sich somit nicht nur die Pragmatik des mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Bildungsideals, sondern auch die Tradition von Wirklichkeitserfahrung und -beschreibung und nicht zuletzt die Interpretation der Natur. (Daxelmüller, 1985, 86f.)

Der Zeitpunkt, zu dem sich die im mittelalterlichen Exemplum zum Ausdruck kommende sinngerichtete Ordnung der Wirklichkeit aufzulösen begann, ist im Kontext der Analyse des Gebrauchs von Exempeln nur schwer zu ermitteln. Bereits im 13. und 14. Jahrhundert vollzog sich allerdings ein Wandel des Exemplums von der sittlich-erbaulichen Beispielerzählung im Sinne der virtutis exempla hin zu einer humoresken Verwendung kurzer Exempla-Erzählungen (vgl. Tubach, 1962, und Geremek, 1980). Selbst in Predigten eingelagerte Exempla dienten nicht mehr vorrangig dazu, moralische Auffassungen zu illustrieren; vielfach fungierten sie als "ästhetische Zwischenspiele", mit deren

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Bemd Engler / Kurt Müller

Hilfe die Bereitschaft der Zuhörer gesteigert werden sollte, sich dem didaktischen Anliegen der Predigt zu öffnen. Im Vorwort zu seinen Sermones vulgares beschreibt Jacques de Vitry vulgaria exempla (d.h. in die Predigt eingelagerte Erzählungen) als Mittel der erbaulichen Erheiterung und damit der captatio benevolentiae von ansonsten der Belehrung unaufgeschlossen gegenüberstehenden Zuhörern. 7 Mit dem fortschreitenden Verlust einer metaphysisch garantierten Ordnung der Wirklichkeit in der Neuzeit gewann schließlich der Rückgriff auf tradierte Exempel - insbesondere aus der Antike - gleichsam eine Dimension ritueller Selbstvergewisserung. Im Zeitalter schwindender Gewißheiten dienten Exempla daher vorrangig auch der Vergewisserung eines dem Autor und den Lesern gemeinsamen Erfahrungs- und Werthorizonts. 8 Vor allem die exempla virtutis der Antike eröffneten einen Bereich einer scheinbar objektiven und durch die auctoritas der klassischen Autoren in ihrem Wahrheitsgehalt verbürgten Erfahrungswirklichkeit, aus der ein überzeitlich gültiger Verhaltenskodex abgeleitet werden kann. Die Gültigkeit des Exempels manifestierte sich nicht zuletzt in der ästhetisch vorbildlichen und stimmigen Bezogenheit des exemplum auf das exemplandum. Vorrangiger Grund rur seine Verwendung war nicht mehr die Bemühung, einen Sachverhalt überzeugend darzustellen, sondern der Versuch, diesen Sachverhalt in einer ästhetisch ansprechenden Weise zu vermitteln. 9 Für Erasmus von Rotterdam wie auch rur andere Humanisten verlor damit jedoch die persuasive Funktion des Exemplums zunehmend an Bedeutung (vgl. Lyons, 1989, 12-20). Mit der quasi rituellen Versicherung eines gemeinsamen und noch nicht von der Zerstörung durch den aufkommenden Skeptizismus bedrohten Erfahrungshorizontes wurde das Exemplum allerdings immer weniger eine Form der Illustration und Beglaubigung allgemeingültiger und verifizierbarer Wahrheiten, sondern mehr und mehr die Form eines Prozesses der Aufdeckung von sich wechselseitig qualifizierenden und problematisierenden Bezügen zwischen dem Exempel und der allgemeinen Aussage, die es zu illustrieren bemüht war (vgl. Lyons, 1989, xi).

7 Crane zitiert aus de Vitrys Vorwort zu den Sermones vulgares (Bibliotheque Nationale, Paris, Ms. 17509, fo. 2VO): "Quibus [serrnonis] tarnen plerique vulgaria exempla ad laicorum excitationem et recreationem sunt interserenda, que tarnen a1iquam habeant edificationem [... ]" (Hervorhebungen von den Vff.; Crane, 1890, xlii). 8 Vgl. hierzu auch Keppler, 1988, die die Verwendung von exemplarischen Geschichten in der Alltagskommunikation im Hinblick auf deren Funktion der Vergewisserung gemeinsamer Wirklichkeitserfahrung diskutiert. 9 Vgl. etwa Erasmus' De copia (Buch H, 846ff., s.v. "Exempla"): "Atque horum quidem pleraque solent adhiberi non solum ad fidem faciendam, verum etiam ad ornandam rem, ad illustrandam, ad augendam, ad locupletandam" (Hervorhebungen von den Vff.; Erasmus, 1988,232).

Einleitung

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In seiner u.a. den Novellen Boccaccios und den Essays Montaignes gewidmeten Untersuchung "Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte" skizziert Karlheinz Stierle die Entwicklung des exemplarischen Erzählens vom 14. bis zum 16. Jahrhundert und belegt, daß das Exemplum mit dem Übergang zur Neuzeit beträchtliche Veränderungen erfuhr. Manifestierte sich im Exemplum des Mittelalters noch die Beständigkeit der göttlichen Ordnung, insofern der im Exemplum immer wiederkehrende Sinnzusammenhang auf dessen Allgemeingültigkeit verwies, so löste sich bereits bei Boccaccio und dann bei Montaigne die Eindeutigkeit der Sinnrichtung des Exemplums auf. Der "Übergang des Exemplums in den Zustand seiner Problematisierung" vollzog sich folglich schon lange bevor "das Exemplum als einfache Form am Ende des 18. Jahrhunderts sein geschichtsphilosophisch begründetes Ende fand" (Stierle, 1973, 361). Auf Hans-Jörg Neuschäfers Boccaccio-Studie zurückgreifend weist Stierle nach, daß Boccaccio in seinen Novellen in höchst hintersinniger Weise den Sinn der von ihm dort eingelagerten Exempel in Zweifel zieht. 10 Auch wenn bei Boccaccio das Exemplarische noch nicht gänzlich verlorengeht, so wird es freilich "problematisiert und reflektierbar gemacht" (Stierle, 1973, 362, und Neuschäfer, 1969, 47). Die im mittelalterlichen Exemplum noch "einseitige Hervorhebung eines Standpunkts" (Neuschäfer, 1969, 54) wird durch die Offenlegung der Möglichkeit verschiedener Perspektiven und Deutungen als Verkürzung der Komplexität der Wirklichkeit entlarvt. Geht allerdings die Eindeutigkeit des Exemplums in der Vieldeutigkeit der Geschichte auf, so entfällt auch die Möglichkeit, Geschichte auf einen verbindlichen moralischen Satz zu reduzieren, den das Exemplum noch illustrieren und beglaubigen könnte. Bei Boccaccio wird das Exemplum gewissermaßen zum Kasus, zum "Streit-Fall", dessen Charakteristikum denn auch darin besteht, "daß [er] zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß [er] uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält" (Jolles, 21958, 191). Wenn das allgemeingültige Exemplum jedoch zum einmaligen Fall wird, in dem das Allgemeine sich nicht mehr unmittelbar offenbart, verliert es auch seine persuasive Funktion, macht es diese Funktion doch selbst zum Problem, das sich nicht zuletzt im Exempel selbst illustriert findet. Montaignes Interesse richtet sich in den Essais Darstellung der Entwicklung des Exempels fort -

so fährt Stierle in seiner

nicht nur auf die unendliche VielflUtigkeit des Geschehens, die immer neu die unendliche Vielfalt des homme en general vergegenwärtigt und so das Konzept selbst problematisiert, sondern noch mehr auf die höhere Ebene der Relation von Geschehen und Geschichte, d.h. der 10 Zu Neuschäfers Theorie der Ablösung der Exempelerz!thlung durch die Novelle vgl. die kritischen Ausfilhrungen in V. Kapps Beitrag, S. 102f.

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Weise, wie der je verschiedene Zugriff des historien die histoire allererst konstituiert. [... ] Entzieht sich einmal das Geschehen hinter die diversite der es verbürgenden Zeugnisse, so das andere Mal hinter die Vollkommenheit einer in sich selbst schlüssigen aber darum nur 'wahrscheinlichen Konzeption'. (Stierle, 1973,368)

Montaignes Essais verstehen sich nicht mehr als Dokumente eines Denkens, das den Sinn der Geschichte - den Sinn der Historie ebenso wie den der Erzählung - als grundsätzlich einholbar begreift. Der Sinn, der sich im Denken wie in seinem prozessual fortschreitenden Ausdruck, dem Essay, manifestiert, ist fiir Montaigne nurmehr der sich immer wieder aufhebende Sinn einer unabschließbaren Reflexionsbewegung. Die Unabschließbarkeit des Denkens als Prozeß konstatiert freilich in letzter Konsequenz auch die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit im Exemplum auf einen verbindlichen Sinn zu reduzieren. Aus diesem Übergang des Exemplums von einem Diskurs der Eindeutigkeit in einen Diskurs der Unbestimmtheit folgt das von Reinhart Koselleck für das ausgehende 18. Jahrhundert konstatierte "Verschwinden des Exemplums" freilich keineswegs zwingend (vgl. auch Fuhrmann, 1973, 449-452), kann man doch mit gutem Grund behaupten, daß sich das Exemplum lediglich in geänderten beziehungsweise neuen Funktionseinbindungen wiederfmden läßt. Auch wenn das Exemplum und mit ihm der Historia magistra vitae-Topos ihre Berechtigung spätestens in dem Moment zu verlieren scheinen, in dem sich Geschichte nicht mehr als Kontinuum von ähnlichen und das heißt wiederholbaren Geschichten bzw. Exempeln begreifen läßt,11 BUlt dem Exemplum auch über diesen historischen Moment hinaus eine Aussagefunktion zu, die sich, wie bereits bei Boccaccio und Montaigne, etwa gerade im Akt der Offenlegung der Fragwürdigkeit eines Denkens in Kategorien des Exemplarischen manifestiert. Auch wenn das Exemplum als kurze eingelagerte Erzählung, die die Aussage eines umfassenden Textes mit illustrierenden Beispielen in eindeutiger Weise veranschaulicht, interpretiert oder beglaubigt, spätestens im 18. und 19. Jahrhundert seine vormals zentrale Bedeutung verlor,12 so wirkt es doch in

11 Zum Topos der Historia magistra vitae und der Vorstellung von der Gleichfbnnigkeit in der Geschichte als anthropologischer Basis des Exemplums siehe neben Koselleck, 1967, u.a. auch von Moos, 1988, § 3 und § 108. 12 Bei genauer Analyse von scheinbar noch dem Prinzip der Eindeutigkeit folgenden Exempeln (etwa im Bereich der Literatur) wie der Parabel von den drei Ringen in Lessings Nathan oder in den eingeschalteten Erzahlungen "Der Mann von filnfzig Jabren", "Die neue Melusine" und "Die gefllhrliche Wette" bzw. in der gleichnishaften Novelle "Die wunderlichen Nachbarskinder", mit denen Johann Wolfgang von Goethe die Handlung seiner Romane Wilhelm Meisters Wanderjahre bzw. Die Wahlverwandtschaften kommentiert und 'spiegelt', zeigt sich recht bald,

Einleitung

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vielfacher Weise bis in die Gegenwart weiter. Im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts reduzieren sich Beispielerzählungen zwar immer mehr zu Textelementen, die den sie umfassenden Text nicht mehr deutend erschließen, aber als solche gewinnen sie schon wieder eine besondere SignifIkanz, insofern sie nunmehr das Problem der Deutbarkeit von Texten thematisieren. Die sich bei Boccaccio und Montaigne und später etwa bei Laurence Sterne in dessen Tristram Shandy abzeichnende Traditionslinie einer auf sich selbst bezogenen Reflexion über die Grenzen des exemplarischen Diskurses fUhrt unmittelbar zur literarischen 'Postmoderne' und zu deren grundsätzlichen und radikalen Infragestellung jeglicher Art von Sinnkonstitution.

* Im Kontext des hier skizzierten Problemhorizonts versteht sich der vorliegende Sammelband vornehmlich als Versuch, den "verengenden Kategorisierungen", denen der Exemplum-Begriffbis heute unterliegt, entgegenzuwirken und in einer ersten Annäherung die VielflUtigkeit der Erscheinungs- und Funktionsweisen zu dokumentieren, die das Exemplum von seinen mittelalterlichen Ausformungen bis in die Literatur der Gegenwart hinein zu einem lohnenden Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses machen. Indem dieser Sammelband Diskussionsbeiträge aus Germanistik, Romanistik, Anglistik und Amerikanistik zusammenführt, möchte er auch zu einer interdisziplinär vergleichenden Sichtweise anregen. Aus der Zusammenschau betrachtet, fUgen sich die einzelnen Beiträge zu einem - notwendigerweise fragmentarischen - Mosaikbild zusammen, das den die Nationalliteraturen übergreifenden Charakter der oben skizzierten Entwicklung anschaulich werden läßt. Die Beiträge zu Wolframs Parzival (A. Wolf) und zum Frühwerk Chaucers (W. Erzgräber) verdeutlichen unterschiedliche Facetten exemplarischen Erzählens in der mittelalterlichen Literatur. Bei Wolfram manifestiert sich die Kategorie des Exemplarischen noch im traditionellen Sinne moralisch-religiöser Beispielgebung, vornehmlich in Form einer Erzählweise, die dem Vorbild der Bibel als einem universellen Weltdeutungsentwurf nahezukommen versucht. Bei Chaucer besteht demgegenüber bereits eine auf 'modeme' Tendenzen vorausweisende Spannung zwischen der in Form antiker Vorbildepisoden gestalteten Stimme der Tradition und der durch die Verwendung von Ich-Erzähler-Figuren zum Ausdruck gebrachten Stimme daß bereits hier die Konzeption des Exemplarischen gebrochen und gegen sich selbst gewendet erscheint.

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Bemd Engler / Kurt Müller

der individuellen Erfahrung. Wie der Beitrag W. Müllers am Beispiel von Erasmus und Shakespeare aufzeigt, spitzt sich das Spannungsverhältnis zwischen dem Exemplum und dem Kontext, in den es eingelegt ist, in der Renaissanceliteratur weiter zu. Während Erasmus u.a die vielfiiltigen Interpretationsmöglichkeiten exemplarischer Geschichten hervorhebt, wird ihr Wahrheitsgehalt bei Shakespeare z. T. auf dem Wege der Parodie in Frage gestellt. Eine markante Funktionsverlagerung exemplarischen Erzählens zeigt sich nach dem Befund V. Kapps in der italienischen Novellistik und Anstandsliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts. Bei Autoren wie Boccaccio, Giraldi, Castiglione und Guazzo dient das Exemplum nicht mehr der "Bekräftigung einer von religiösen Instanzen vorgegebenen Ethik" (Kapp, 112), sondern erhält seine primäre Funktion im Rahmen einer zivilisierten Gesprächskultur. Die bei Shakespeare konstatierbare parodistische Auflösung des orthodoxen Exempelkonzepts vollzieht sich auch in anderen Bereichen der europäischen Literatur. In seinen Novelas ejemplares verschiebt z.B. Cervantes die Bedeutung des 'Exemplarischen' in parodistischer Absicht von der moralischen Belehrung auf den Aspekt der ästhetischen Ausgestaltung (Ch. Strosetzki), während Marivauxs Te/emaque travesti - in polemischer Bezugnahme auf Fenelons Te/emaque - einen exemplarischen Lernprozeß vorfUhrt, der den Leser zur Abkehr von der Orientierung an Exempeln auffordern soll (Tb. Stauder). Im 18. Jahrhundert tragen dann Rousseau und Alfieri, indem sie die eigene Individualität in den Bereich des historisch Exemplarischen erheben, zum Aufbrechen des traditionellen, am Konzept der Allgemeinverbindlichkeit orientierten plutarchischen Exempeldiskurses bei (A. M. Rusam). In der deutschen Literatur zeigt sich u.a. an Goethes Werther, wie das Allgemeingültigkeitspostulat exemplarischen Erzählens zurückgenommen bzw. relativiert wird (G. Niggl). Im englischen Roman des 19. Jahrhunderts läßt sich dieser Funktionswandel in radikalisierterer Form bei Charlotte BronU!s Shirley feststellen (U. Baumann). Im amerikanischen Kontext wurde zuerst durch das puritanische Schrifttum der Grundstein rur eine reiche Tradition exemplarischen Erzählens gelegt. Wie Klaus Weiss mit besonderem Bezug auf Edward Taylors Christographia herausarbeitet, knüpft die puritanische Predigtliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts noch ungebrochen an die Tradition früherer Jahrhunderte an, indem sie die Gestalt Christi als überzeitlich gültiges exemplum exemplorum in den Mittelpunkt stellt. Wie demgegenüber im Gefolge der amerikanischen Nationwerdung auch das Bedürfnis nach neuen, auf die partikulare Situation bezogene Exempla wuchs, zeigt H.-J. Lang an einem Autor wie Joel Barlow, der in Versepen wie The Vision 0/ Columbus und The Columbiad: A Poem die Regentschaft des Inkaherrschers Manco Capac als historisches Exemplum rur den kulturellen Reichtum des amerikanischen Kontinents benutzt. Barlows

Einleitung

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kalkuliertes Spiel der imaginativen Mythisierung des geschichtlichen Exemplums im Sinne einer "usable past" weist voraus auf Washington Irvings Projekt einer poetischen Re-Imagination amerikanischer Geschichte. In "Rip Van Winkle" wird nicht nur das poetisch-imaginative Geschichtsexemplum gegenüber dem Konzept des 'faktischen' Geschichtsvorbildes (etwa nach dem Muster von Benjamin Franklins Autobiography) radikal aufgewertet, die Qualität des Exemplarischen verlagert sich darüber hinaus vom Inhalt des Erzählten auf den Akt des Erzählens selbst (1. Zimmennann). Irving knüpft hier an ein wichtiges Grundanliegen der italienischen Novellen- und Anstandsliteratur des 16. Jahrhunderts an, indem er beispielhaft die kontinuitätsbewahrende Kraft des in eine lebendig-kreative Gesprächskultur eingebetteten Erzählens vorführt. Daß dieses Grundanliegen auch in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder thematisiert wird, zeigen die beiden Beiträge über so unterschiedliche Texte wie Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls (K. Müller) und die Kurzprosa von minimalistischen Gegenwartsautoren wie Tobias Wolff und Raymond Carver (1. Person). Bei Hemingway wie bei den Minimalisten werden die heilende und die gemeinschaftsstiftende Funktion mündlichen Erzählens hervorgehoben. Während die Minimalisten durch den bewußt parodistischen Umgang mit der christlichen Exempeltradition andere Akzente setzen als Hemingway, läßt sich hier wie dort eine Annäherung des exemplarischen Erzählens an die Struktur der Alltagskommunikation konstatieren. Diese künstlerische Aufwertung des alltäglichen Geschichtenerzählens entspricht den Erkenntnissen der modemen Sozialwissenschaft, daß auch die sogenannten Trivialfonnen des Erzählens wesentliche Funktionen bei der Sinnstiftung, Bedeutungsherstellung und Wirklichkeitsstabilisierung von Individuen und sozialen Gemeinschaften haben (siehe u.a. Bergmann, 1987, Meyer Spacks, 1985). Wie die vorliegenden Beiträge durchweg verdeutlichen, verbindet sich exemplarisches Erzählen in der europäisch-amerikanischen Prosaliteratur seit dem 19. Jahrhundert in der Regel nicht mehr mit dem traditionellen Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussage. Im Bereich der amerikanischen Kurzgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt K. Lubbers an Textbeispielen von Washington Irving, Nathaniel Hawthome und Sherwood Anderson, wie das eingelagerte Exemplum die Aussage des Kontextes nicht bestätigt, sondern sie im Gegenteil untergräbt. Zu verleichbaren Ergebnissen kommt S. Dietrichs Analyse der Exemplifizierungsstrategien in Margaret Fullers frühem feministischen Manifest "The Great Lawsuit". Die Beiträge zu eingelagerten Erzählungen in Werken wie Max Frischs Stiller (P. Goetsch), Anthony Burgess' Earth/y Powers (K. Schlüter) und Maxine Hong Kingstons China Men (B. Engler) veranschaulichen, wie die poetologisch-henneneutische Frage nach der Deutbarkeit von Texten bzw. das grundsätzliche Problem der Deutbarkeit von 2 En&ler I Müller

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Bemd Engler I Kurt Müller

Wirklichkeit unter den Vorzeichen von Modeme und Postmoderne eine zunehmend skeptischere Behandlung erflihrt. Daß dieser erkenntniskritische Habitus sogar auf eine 'Populärgattung' wie den modemen Detektivroman durchschlägt, verdeutlicht U. Broichs Untersuchung von Dashiell Hammetts The Maltese Falcon. Das Phänomen des Exemplums im Drama verdient zweifellos eine ausfilhrlichere Würdigung, als dies im Rahmen dieses Sammelbandes möglich war. Immerhin scheinen die beiden hier abgedruckten Beiträge die Annahme zu bestätigen, daß das Drama, das auf Grund seiner medialen Besonderheiten in mancherlei Hinsicht begrenztere Gestaltungsmöglichkeiten hat als der Roman, auch bei der Verwendung des Exemplums tendenziell 'konservativer' verflihrt. Diese Vermutung legen zumindest die beiden hier vorgelegten Beiträge zum modemen britischen Drama nahe. Wie A. Barth in seiner materialreichen Überblicksdarstellung über den Exempelgebrauch im englischen Theater des 20. Jahrhunderts deutlich macht, bleibt hier, unbeschadet der weltanschaulichen Heterogenität der Autoren und des Publikums, die moralisch-didaktische Appellfunktion des Exemplums im wesentlichen erhalten. Und wie R. Ahrens' Analyse der Hamlet-Bearbeitungen Tom Stoppards herausarbeitet, kann das Exemplum selbst bei einem vom Denkansatz her eher 'postmodernen' Dramatiker zu einem "konstituierenden Mittel seiner Weltdeutung" (Ahrens, 444) werden. Die Frage, inwieweit die hier behandelten Beispiele repräsentativ sind und ob es sich bei diesem vergleichsweise traditionellen Einsatz der Exempelfunktion um eine Sondererscheinung innerhalb des neueren britischen Dramas handelt, könnte erst auf der Grundlage umfangreicheren Vergleichsmaterials beantwortet werden. Ein wesentliches Ziel dieses Sammmelbandes wäre jedenfalls erreicht, wenn seine thematischen Lücken und die Fragen, die er offen läßt, zu weiteren Studien anregen würden.

Literatur

Alewell, Karl (1913), Über das rhetorische Paradeigma: Theorie, Beispielsammlungen, Verwendung in der römischen Literatur der Kaiserzeit, Diss. Kiel. Assion, Peter (1978), "Das Exemplum als agitatorische Gattung: Zu Form und Funktion der kurzen Beispielgeschichte", Fabula: Zeitschrift für ErzählJorschung 19, 225-240.

Einleitung

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Interpretatio christiana der Schöpfung als Exemplum mr Wolframs Erzählweise Der Faszination, bisweilen auch Irritation, die von der Erzählweise Wolframs ausgehen, kann man sich kaum entziehen. Die naive, aber berechtigte Frage, wie es denn zu dieser Erzählweise kommen konnte, fordert zum Nachdenken heraus. Der Poetik des Mittelalters hat Wolfram den einen und anderen Kniff abschauen können, von Chretien, Hartmann, den übrigen höfischen Romanciers, der geistlichen Dichtung und vom Minnesang konnte er lernen, doch das Besondere seines unverwechselbaren Erzählens geht darin nicht auf. Michael Curschmann hat vor Jahren unter dem zupackenden und treffenden Titel 'das Abenteuer des Erzählens' Aspekte des Problems erörtert, und Walter Haug konnte in seinen literaturtheoretischen Darlegungen unsere Einsicht wesentlich fordern (Curschmann, 1971, 627-667; Haug, 1985). Vor geraumer Zeit versuchte ich Wolframs Dichten unter dem Gesichtspunkt des niuwens zu erfassen und das Produkt dieses Erzählens vornehmlich als Meditationsgeflecht zu definieren. Vorliegende Überlegungen möchten daran anschließen (Wolf, 1985, 9-73). Man gehe vom Inhaltlichen aus. Mit außergewöhnlicher Bewußtheit und Hartnäckigkeit fUhrt Wolfram seinen Lesern und den Gestalten seines Werkes, mit denen ihn ein ungewöhnlich geselliges Verhältnis verbindet, vor, daß in hohem Maße alles miteinander verflochten ist. Im Willehalmprolog benennt er dann auch die letzte Ursache dafUr, wenn er sagt, daß Christi Menschwerdung die Garantie fUr diese universelle Versippung des Seienden biete. l Er wird nicht müde, das zu zeigen und bis in die Verästelungen seines Werkes, auch die Nebenfiguren erfassend, geltend zu machen. Kein Erzähler vor und neben Wolfram hat so konsequent diese Verwandtschaftlichung der Gestalten von ihrer kreatürlichen Wurzel her vorangetrieben. Das Vegetative an dieser Metapher ist wörtlich zu nehmen. Es fmdet sich, auf seine biblischen Ursprünge verweisend, immer wieder in Wolframs Werk, wenn von der vruht die Rede 1 Zitiert werden im folgenden die 1994 erschienene, von Joachim Heinzle herausgegebene Ausgabe des Willehalm sowie die 1960/63 erschienene, von Albert Leitzmann herausgegebene Ausgabe des Parzival.

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ist; das Animalische, man denke an die Vögel im Parzival, wird zum Menschlichen in Beziehung gesetzt, und mit den Gestirnen wird auch der Kosmos einbezogen. 2 Es fragt sich, ob nicht, über das Inhaltliche hinaus, auch Aspekte von Wolframs Erzählweise von daher in ihrer Eigentümlichkeit aufgehellt werden könnten. Es würde dies keine simple Reduktion auf ein dürres Prinzip bedeuten; im Gegenteil, die wuchernde Üppigkeit, die die Fülle der Schöpfung auszeichnet, würde in der Erzählweise als Analogon dazu deutbar werden. Und Wolfram hat sich daran gütlich getan, wie der überwältigende Reichtum seines Erzählens zeigt. Freilich kann es nicht darum gehen, zwischen der Dynamik des Schöpfungswerks, wie das Mittelalter es sah und sehen mußte, und Wolframs Erzählkosmos volle Übereinstimmung herstellen zu wollen, doch könnten Spiegelungen faßbar werden, klarere oder verworrenere, die dazu beitragen, Inspirationsquellen für Wolframs erzählerisches Wollen erkennen zu lassen. Wolframs Erzählwerk wird von einem schöpferischen Zentrum aus gesteuert, der triuwe, die, Göttliches und Menschliches miteinander verbindend, alles durchtränkt und in ihrem Wesen und Wirken nicht unähnlich ist dem Logos, der allem Leben verleiht. Den letzten Abschnitt seines wohldurchdachten Parzivalprologs einleitend, verkündet Wolfram im Vers 100, der Zahl der Vollkommenheit, daß sein maere ein maere der triuwe sein wird (4, 10). Seine Aufgabe bestehe darin, dieses maere zu niuwen (4,9). Wenn Haug verhannlosend übersetzt: "Er [Wolfram] will von Freude und Leid [... ] eine neue Geschichte erzählen", so dürfte das dem Stellenwert der Aussage und der hier vorliegenden Wortbedeutung von niuwen keinesfalls gerecht werden (Haug, 1985, 169). Biblisches renovare, Neumachen im Sinn von Vollenden dessen, was im Bisherigen unvollkommen angedeutet ist und das Wahre in kraft setzend - eben die triuwe in Analogie zum Neuen Testament -, ist hier mitzubedenken. V. 462, 19 wird es aus dem Mund des Einsiedlers heißen, daß Gott selber ein triuwe ist. Wenn Wolfram an der Stelle im Prolog (1, 16ff. und 2, 5f.), wo er sich mit dem Problem der Rezeption seiner Dichtung auseinandersetzt - offenbar sah er darin ein Problem! - und dabei den fähigen Rezipienten charakterisiert, so dürfte er sich, folgt man seiner ungewöhnlichen Wortwahl, nicht mit dem Prologtopos tump/wise begnügt haben. So zögere ich nicht, hinter seinen Versen: swer mit disen schanzen allen kan, an dem hat witze wol getan, der sich niht versitzet noch ver~ und sich anders wol vers~ (2, 13ff.), den ersten Psalmvers mitzuhören: beatus vir, qui non a/2ii.t in consilio impiorum, et in via peccatorum non slßlft et in cathedra pestilentiae non se.dit. Biblisierung des Poetologischen, Poetologisierung des Biblischen! Die2 Es ist nicht ganz abwegig, in diesem Zusammenhang auch an den Zeitgenossen Wolframs, den HI. Franz von Assisi, zu denken.

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ser Bezug auf den Psalmvers - noch dazu handelt es sich um den Beginn der Psalmen - löscht die Eigenständigkeit Wolframs nicht aus, wie der Kontext zeigt, der mit dem Psalm vers nichts zu tun hat, wohl aber stellt er den Beginn des Wolframschen Werkes in ein zusätzliches und bedeutsames Assoziationsfeld. Da man im berühmten Bogengleichnis, wo es Wolfram ebenfalls um sein Werk und Tun geht, erneut auf die Frage stößt, wie Reflexionen über Erzählweise und bibelexegetische Muster teilweise ineinander übergehen können, ist von diesem grundsätzlichen Aspekt in Wolframs Erzählweise auszugehen (vgl. Haug, 1985, 163ff.; Spitz, 1975,247-276; Schirok, 1986,21-36). Da man hinter dem berühmten Analphabetenbekenntnis Wolframs (115, 27) den Psalmenvers quoniam non cognovi litteraturam ausfmdig gemacht hat, verftlgt man über ein weiteres Indiz, über das man nicht hinwegsehen kann, das freilich die Deutung der Position Wolframs auch nicht vereinfacht. 3 Wenn mit buoch und buochstap auf den tötenden Buchstaben des Gesetzes angespielt würde, so käme, wie beim Bogengleichnis auch, die Spannung zwischen Altem und Neuem Testament ins Spiel, was durch die Aussagen Trevrizents gestützt würde (462, 12 und 466, 1). Zu beachten ist auch die unerwartete Bevorzugung der Begriffe maere und aventiure gegenüber buoch (115, 23ff.), was auch rur Trevrizent gilt, der offenbar buoch nur in Verbindung mit dem orientierenden Adjektiv war gelten lassen will. Wenn man damit bei Trevrizent in das bibelexegetisch-typologische Umfeld eintritt, so ist das fiir Wolframs Äußerung (115, 23ff.) nicht so evident. Mit Nachdruck will Wolfram von seinem Werk den Begriff buoch ferngehalten wissen, wogegen maere und aventiure keinen Anstoß erregen. Der ungewöhnli~hen Bewußtheit, mit der Wolfram sein Tun auf das maere anlegt, ist nachzugehen. In präzisierender Fortfiihrung der Schlußgedanken des Prologs gibt er am Ende der Vorgeschichte weitere Signale, indem er die Erzählung unterbricht. Mit dem Tod Gahmurets, dem symbolhaltigen Umfeld, das Herzeloyde umgibt, und mit der Geburt des Sohnes ist ein entscheidender Punkt erreicht, an dem der Erzähler es prompt auch nicht versäumt, auf die Hörer einzuwirken. Würfelspielmetaphorik und Andeutung eines Bogengleichnisses (112, 9f.) markieren den Einsatz dieser theoretisierenden Intervention. Die Wahl dieser beiden Bilder - sie gehören zum Inventar Wolframs - ist nicht zufällig und will in ihrer kontextabhängigen Offenheit verstanden sein. Es geht um aventiure und maere. Die Würfelmetapher deutet auf unwägbare Risiken hin, denen die aventiure nun ausgesetzt wird durch die Geburt des Sohnes, zugleich aber ist der Bogen der aventiure gezilt. Was heißt das? Besteht ein Spannungsverhältnis zur Fatalität des Würfelspiels? Da man im 3 Rupp (1966), darin die einschlägigen Beiträge von Friedrich Ohly, 455-519 und Hans Eggers, 533 - 549.

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Rahmen des polyvalenten Bogengleichnisses bleiben muß - siehe 241, 8ff. -, wird man übersetzen dürfen: Der Bogen ist gespannt, also mit der Sehne versehen, schußbereit; und der Schuß wird treffen, man spannt nicht umsonst den Bogen. Das wäre möglicherweise ein Gegengewicht zur bloß fortunahaften Würfelmetaphorik. Derjenige ist geboren, dem diz maere erkorn wart. Was heißt das? Mit dedicare, erfmden, um dessentwillen erzählen etc., trifft man den Sinn, den Wolfram damit verband, wohl kaum. So ist zu übersetzen: Dem - und keinem anderen - dieses maere zugedacht wurde, der dafilr aus wohlbedachtem Ratschluß ausersehen wurde. So kann dann, wenige Verse später, Wolfram den Neugeborenen in nicht minder bedeutsamer Weise als dises maeres sachwalde bezeichnen, was man nicht vage als Hauptgestalt, Held der Erzählung verstehen soll. Sachwalde ist schließlich ein Rechtsterminus, und Wolfram weiß, wovon er redet. Der Neugeborene wird demnach die Belange des maere zu vertreten haben, eines niuwen maere, das von triuwe handelt, wie man weiß. Die Natur der Erzählung verändert sich damit. Ein Experiment wird angekündigt und derjenige vorgestellt, in dessen Hände Mißlingen oder Gelingen gelegt sind. Eine Aufwertung des maere und dessen Helden, der nun zum Vollstrecker und Anwalt des maere wird. Wolfram erhebt damit einen Anspruch. Als Exemplum, an dem er sich dabei orientieren konnte, ist m. W. nur das heilige und immer auch geflihrdete Experiment der Heilsgeschichte und ihres Sachwalters, Christus, auszumachen; nun auf die Welt als Welt des Rittertums angewendet, wie sie Wolfram offenbar konzipiert wissen wollte. Da Heilsgeschichte filr Wolfram Geschichte sein mußte, läßt er den Sachwalter seines maere aus der an die Geschichte angenäherten Welt des Gahmuret herauswachsen, und als heilsgeschichtsanaloger Sachwalter kann er demnach auch nicht zur allegorischen Figur erstarren. Wolfram konnte ja nicht von vornherein damit rechnen, daß die Hörer seine Geschichte mit der lex des Alten Bundes auf eine Stufe stellen würden und altjüdische Gesetzesgläubigkeit darin suchten. Der über das Psalmenzitat gegebene biblische Assoziationszusammenhang wird darum eine bestimmte Funktion haben und der Einordnung des Werkes dienlich sein. Für zusätzliche Komplikation sorgt auch der anschließende Vergleich mit der Situation im Bad (116, 2f.). Von der Gedankenfilhrung her muß man mit etwas Negativem und Unangenehmem rechnen, doch im Badezuber zu sitzen ist, wie Parzival im Bade zeigt, das Natürlichste von der Welt. Die radikale Ablehnung der Buchhaftigkeit wäre damit - vielleicht augenzwinkernd - wieder aufgehoben. Der negative Effekt des Badebildes würde sich, wenn überhaupt ernstlich beabsichtigt, dann einstellen, wenn man mit Klein die Passage doch auf Tristan bezieht, dem es in seiner Badesituation fast an den Kragen gegangen wäre (Klein, 1954/55, 150-162). Die Erhellung dieser vexierenden Aussagen wird man wohl in Trevrizents Worten zu suchen haben. Trevrizent spricht nicht von ungeflihr betont als Laie, und seine ritterliche Vergangenheit rückt ihn in die

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Nähe Parzivals und Wolframs selbst. Zwischen Wolframs Selbstaussagen (115, 23ff.) und Trevrizents feierlich vorgetragenen Eröffnungen ergäbe sich ein Zusammenhang, der sich erst im Laufe des Erzählens erschließt, doch von Anfang an latent gegeben ist. Damit stellt sich aber über Inhaltliches hinaus die grundlegende Frage nach der Eigentümlichkeit der Wolframschen Erzählkunst. Wenn Wolfram im Parzival tatsächlich in seiner Erzählweise einen Qualitätssprung vollbracht hat, so muß sich das an dem Vergleich mit jenen Passagen, für die Chretiens Gralroman Vorlage war, ablesen lassen (Chretien, 1956). Bei Chretien reichert sich die Erzählung zusehends an. Das Prinzip des ordo artificialis wird geschickt eingesetzt, neue Erzählstränge kommen hinzu, Leitmotive geben Halt und setzen Signale, und in wohldosierter Stufung wird an der Hauptgestalt die Grundthematik entfaltet. Das Muster, an dem sich die Erzählung orientiert, läßt sich, was einzelne Elemente und Aspekte betrifft, aus der Poetik und Literaturkenntnis ableiten, in ihrer Gesamtheit aber ist die erreichte conjointure eine originelle Komposition. Wolfram konnte davon profitieren, hat sich aber in seiner Erzählweise nicht nur an Chretiens originelle Komposition gehalten, sondern hat diese neu entwickelte volkssprachliche Erzählweise seinerseits an einem umfassenden Muster ausgerichtet, das weder aus den Poetiken noch aus verfügbaren Literaturwerken - Chretien eingeschlossen - ableitbar war. Er hat damit, wie zu zeigen sein wird, grundsätzlich neue Perspektiven erschlossen, von denen man sagen kann, daß sie das literarische Erzählen für einen bis dahin nicht vorhandenen Anspruch öffneten, der diesem Erzählen eine neue Würde verleihen konnte und seinen Platz in der Literarisierung der Volkssprachen neu bestimmte. Das Ergebnis vorwegnehmend und auf eine Formel gebracht: Komplexes Erzählen, in Chretiens conjointure zur Meisterschaft geführt, geht bei Wolfram auf in der Schaffung einer allseits offenen erzählerischen Simultaneität, die sich an der interpretatio christiana der Schöpfung orientieren dürfte. Dem seien nachstehende Überlegungen gewidmet. Zur Veranschaulichung dessen, worum es geht, sei - es mag überraschen - Thomas Manns am Mythischen sich orientierende Erzählweise herangezogen. Ihre Leistung und Eigenart besteht darin, daß in ihr "immer alles versammelt" ist, was auch in den Worten Professor Kuckucks von der Al/sympathie zum Ausdruck kommt (Mann, 1957, 318 und 1956, 7, 44, 170, 257, 279 u.a.).4 Bei Chretien läßt sich nichts Vergleichbares ausma4 Dazu: Wolf, 1964, bes. 80ff. und 91ff. Dieser Sprachgebrauch ist natürlich in erster Linie Thomas Manns eigene Leistung. Als Altgennanist ist man aber doch auch versucht, zu erwägen, ob nicht die Beschäftigung Thomas Manns mit Wolfram - denn weder im Gregorius noch in der Vie de Saint Gregoire konnte er Anregungen rur auffallende Stilistika erhalten -, die im Erwählten immer wieder durchschlägt, nicht auch verstärkend auf seinen Stil gewirkt hat. Im

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ehen, ebensowenig bei Hartmann. Wolfram aber setzt seine Worte ebenfalls so, daß darin grundsätzlich immer alles versammelt sein kann. Wenn Thomas Mann zu Beginn des Romans Der Erwählte die Römer den Glockenschal/, Glockenschwal/ supra urbem eher nebenbei ungeheuerlich nennen läßt, so ist darin bereits das Ungeheuerliche des Inzests aufgehoben, von dem die Geschichte dann berichten wird, in der ungeheuerlich gesegneten Jungfrau verschmilzt die inzestuöse Verbindung mit der heilbringenden Empfängnis des Erlösers und fügt sich ein in die schwirrende Al/harmonie. So sehr davon verschieden - was die Erzähltechnik angeht - ist der Befund, den die Erzählweise Wolframs bietet, nicht. Während Chretien als versierter Literat das, worauf es ihm ankommt und was er jeweils für seine Absicht braucht, allmählich und raffmiert im Fortschreiten der Erzählung aufbaut - und darin liegt das Wesen seines Erzählens -, ist bei Wolfram, der zwar ebenfalls das fortschreitende und enthüllende Erzählen kennt, darüber hinaus alles Wesentliche von Anfang an vorhanden. Der Erzähler Wolfram legt, pointiert formuliert, Alles in Jedes hinein und kann es überall dort, wo es wirken soll, zur Wirkung bringen. Herzeloydes Aussage, die bezeichnenderweise weit über das hinausgeht, was die Turniersituation erfordert, mag dafür als Hinweis dienen: [... ] ieslicher neme mins wunsches war, wan sie sint mir alle sippe von dem Adames rippe (81, 30ff.). So entsteht eine große Zusammengehörigkeit all dessen, was im Parzival erzählt wird, die in Analogie zu sehen wäre zum christlich verstandenen Kosmos und der damit verbundenen Heilsgeschichte, worin eben bereits in der Schöpfung die Erlösung und Verherrlichung impliziert sind. Omnipräsenz des Wesentlichen und damit Nichtgebundensein an vordergründige irdisch-rationale Abläufe bei gleichzeitiger Einbettung in das lineare Fortschreiten in der Zeit wären die entscheidenden Perspektiven, die Wolfram nicht der Poetik und literarischen Vorbildern, sondeOl der Bibel und Bibelexegese und deren Weltdeutung entnommen hätte. Bei dieser Weltdeutung überrascht schon seit der Väterzeit die Neigung, konsequent bis ins letzte Detail Sinnhaftigkeit aufspüren zu wollen und nichts aus dem großen Beziehungsgeflecht des als geistig durchwirkt gedachten Daseins auszuklammern. Genau das dürfte auch die Erzählweise Wolframs bestimmen. So soll demnach besonders auf deren mannigfache und feine Verästelungen geachtet werden, wobei die Grenze hin zur Überinterpretation erheblich hinausgeschoben werden kann. Beginnen wir beim Natureingang von Chretiens Gralroman. Mit Nachdruck setzt Chretien mittels des Zeitsignals vom Frühlingserwachen ein. Er läßt damit den typischen Natureingang der Lyrik und so mancher Chanson de geste

Erwdhlten treibt es Thomas Mann - dies als Kompliment gedacht - ja besonders arg, und einem Wortkünstler wie ihm wird die Kongenialität Wolframs nicht entgangen sein.

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wirken. Der Temporalsatz, der auf ein sich anbahnendes Geschehen hinweist, relativiert nur ein wenig dessen Selbständigkeit (69/74). Wie es dann heißt, daß der fIX a la veve fame den Wald betritt (85ff.), schlägt der Natureingang nochmals durch mit Akzent auf dem Vogelgesang; desgleichen kann man einen Reflex davon erkennen, wenn bei der Erwähnung des Weidens des Pferdes von der l'erbefresche verdoiant die Rede ist (94). Es ist das bereits ein bemerkenswerter Ansatz, den noch ziemlich selbständigen Block des Natureingangs in die sich anbahnende Handlung zu integrieren: Statt Blumen herbe fresche als Futter! Eine weitere Verästelung läßt sich aber in Chretiens Text nicht feststellen. Der Natureingang als erkennbare Einheit bleibt erhalten. In Wolframs Text liest sich das anders. Wolfram setz! nicht mit einem mehr oder weniger stereotypen Natureingang ein, sondern personal mit Herzeloyde, dazu ist die Art, wie er mit dem Natureingang, der bei ihm nicht fehlt, umgeht, exemplarisch fiir sein Erzählen. Diese entschiedene, fast programmatische Verlagerung vom männlichen Romanhelden, von dem die vergleichbaren Erzählwerke auszugehen pflegten, hin zur Frauengestalt, stellt eine radikale Perspektivenverschiebung dar, die Wolframs Parzival mit dem Nibelungenepos, das betont als Kriemhiltdichtung einsetzt, verbindet. In einem dreifachen Anlauf fUhrt Wolfram auf Herzeloyde hin. Zunächst geht es, Gedanken des Prologs aufgreifend, um die Frauen im allgemeinen, was bei der Wichtigkeit der Namensthematik wip (116, 6), wie man von Reinmar und Walther weiß, besondere Bedeutung hat. 5 Im zweiten Anlauf wird das präzisiert, indem das Thema wip und armuot in den Vordergrund gestellt wird, was zum Zentralthema des Werkes, der triuwe, fUhrt und noch vernehmlicher den Prolog (2, 24ff.) anklingen läßt, wenn jetzt von man und wip (116, 26) die Rede ist. In dieser Exposition ist eben auch der Prolog präsent. Erst im dritten Anlauf (116, 28ff.) tritt man ins Geschehen ein, doch selbst da ruft Wolfram dem Hörer und Leser Grundanliegen des Werkes ins Gedächtnis. Das in der Zeit ablaufende Geschehen erhält somit ein starke Verankerung in einem zeitunabhängigen Horizont, der das Werk umspannt und die einzelnen handelnden Personen in ihrem Sein und Tun bestimmt. Es entsteht eine fUr Wolfram typische Erzählweise, die nicht aus der Vorlage ableitbar ist, so daß man sich eben nach einem anderen Muster umsehen muß. Über das bisher Angedeutete, worauf noch zurückzukommen sein wird, ergibt sich, daß man nur 5 Hinter Wolframs Sorge, die sich 116, 5ff. äußert und sich auf die Benennung wip beziehtdaz alsö manegiu heizet wip -, was Gleichheit suggeriert, vernimmt man die wip-Diskussion, wie sie in Reinmars berühmtem Vers SÖ wol dir wip, wie rein ein nam (MF 165,28) ihren zeittypischen Ausdruck gefunden hat. Zeittypisch vor allem insofern, als nam hier nicht im späteren nominalistischen Sinn als beliebiger flatus 'Vocis verstanden wird, sondern eine Wesenheit signalisiert. Walthers enthusiastische Reaktion (82, 34ff., 48, 38ff.) wäre sonst schwer verständlich. Wir werden bei Wolframsjtimer darauf zurückkommen.

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über Herzeloyde zur männlichen Hauptgestalt, dem noch Namenlosen, gelangt, der bei Chretien sofort als fIX a la veve fame vor uns steht. Wolfram hat also Vielerlei hineingepackt in den dreifachen Anlauf seiner Exposition, die sich grundsätzlich von der Chretiens abhebt. Seine neue Erzählweise ist darin wirksam, und näheres Zusehen dürfte über das bisher Angedeutete hinaus das Exemplarische daran offenbaren. Der erste Anlauf vergegenwärtigt auf allgemeine Weise vor dem Hintergrund des Prologs und weiteren Verästelungen über das ganze Werk hinweg die Leitbegriffe wip, wipheit, valsch gipfelnd in der triuwe. Der zweite Anlauf, zunächst auch noch allgemein gefaßt, kann auf dieser triuwe aufbauen. Diese triuwe, die mit dem Verzicht auf Materielles einhergeht, vermag, wie es in einer Steigerung heißt, die Seele vor der Hölle zu bewahren, womit erneut der Anschluß an den Prolog und andere Passagen gewonnen ist. Es folgt die Anwendung auf einen besonderen Fall (116, 19), wobei nun auf bedeutsame Weise wip und triuwe zusammen einen Vers füllen; im ersten Anlauf waren sie noch auseinandergespannt (116,6 und 116, 14). Die Feststellung, daß ein wip zu dieser vorbildlichen Haltung fiihig war, ermöglicht es nun, etwas amplifizierend, das Gegenbild zum helleviur zu nennen, den Himmelslohn (116, 20ff.). Im dritten Anlauf, die Abfolge wip, ein wip zuspitzend, kommt es zur Namensnennung vrou Herzeloyde (116, 28). Das Thema armuot wird amplifiziert und konkretisiert und verbindet sich mit Fügungen, die der Legendensprache entlehnt sind: ein nebel war ir diu sunne, si vloch der werlde wunne. Dieser dritte Anlauf filhrt hin zum zentralen Thema des Jammers, das gleich zweimal hintereinander evoziert wird (117, 6f.) und gibt der Weltflucht die entscheidende Note. Auf die typisch Wolframsche Formulierung jiimers balt sei bereits aufmerksam gemacht. Eine andere Begründung für die Weltflucht, nämlich durch bluomen, wird kategorisch zurückgewiesen. Der Hinweis auf bluomen kommt überdies recht unerwartet; ein Zeichen dafilr, daß Wolfram die Aufmerksamkeit des Lesers steuern will, indem er - fast wie aus heiterem Himmel- andeutungsweise den Chretienschen Natureingang beschwört, um ihn abzulehnen. Ein Signal dafür, daß das Thema Natur auf unkonventionelle Art eingesetzt werden kann und im weiteren Verlauf vielleicht unverhoffte Metamorphosen durchmachen wird. Die Tendenz, in einem bestimmten Kontext - hier den des Jammers - ein Thema gegenwärtig zu halten, das nichts oder kaum etwas damit zu tun zu haben scheint, läßt erkennen, auf welche Weise sich Wolframs Erzählweise entfalten dürfte. In einem neuen Einsatz kann nun auf engem Raum das Jammer-Thema zum dritten Mal zur Geltung kommen (117, 11), wobei auf die Stilisierung zu achten ist. Bestand bei den beiden vorausgehendenjamer-Belegen zwischen herze und jamer eine Distanz, so rückt nun beides zusammen zum herzenjamer und erfiihrt überdies im Zusatz so ganz eine positive Aufladung, die über die vor-

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liegende Passage hinausweist. Schon die vorausgehende Fügung jamers balt war keine Verlegenheitswendung, nun läßt der Akzent auf der Totalität des Jammers, so ganz, aufhorchen, worin der rehte jamer der Sigune, der ware jamer der Condwiramurs präsent ist und der zu einer Grundbefmdlichkeit der Menschen in Wolframs Erzählwerk wird. 6 Wiederum überraschend ist es, daß das Naturthema im Anschluß daran aufklingt (I 17, 12f.), so daß diese dritte Nennung des Jammers davon flankiert erscheint: [ ... ] niht durch bluomen ilf die pläne. ir herzen j arner was sö ganz, si enkerte sich an keinen kranz, er waere röt oder val.

Mit Bedacht ist wohl auch das Wort kranz gewählt, das ja nicht so einfach aus der Situation hervorgeht, es wird etwas später in einem anderen Kontext auftauchen und übergreifende Gemeinsamkeiten stiften. Der Einwand des Überinterpretierens wird sich als hinfiillig erweisen, wenn man die Überraschungssignale, die Wolfram setzt, zu beachten gelernt hat. Der Übergang zu Herzeloydens Sohn vollzieht sich glatt. Die Ritterthematik, von ritters über ritters leben zu alle ritterschaft (117, 23ff.), weckt Spannung, worauf die Andeutung der scheinbaren Idylle in Soltäne folgt. Dabei gewinnt ein Element des Chretienschen Natureingangs, die Vögel, unvorhersehbare Bedeutung, und bei der unerwartet ausfilhrlichen Ausgestaltung dieses Themas wartet Wolfram nochmals mit einer Überraschung auf. Abrupt schwenkt er über auf einen drastisch verkürzten Ansatz zu einer Deskription des Jünglings, mit der man in dieser Erzählphase auch rechnen müßte. Ausgehend vom Haareraufen über die erschossenen Vögel erfiihrt man etwas über die Gestalt des Jünglings. Mehr nebenbei, darum aber besonders aufschlußreich, zeigt sich Grundsätzliches der Erzählweise Wolframs. Vom Haar geht es zum lip, was nun mit den toten Vögeln gar nichts zu tun hat, im ganzen betrachtet aber hohen Aussagewert haben dürfte. Von diesem lip heißt es, er war klar und jier (118, 11). Im Adjektiv klar ist bereits, noch verdeckt, die Lichthaftigkeit von Parzivals Wesen gegenwärtig, die wenig später, bei der Begegnung mit den Rittern, erneut auf überraschende Weise offenbar werden wird. In der vorliegenden Stelle wird darüber hinaus ein weiterer Bestandteil des Natureingangs aktiviert, der Wasserlauf, rivier (I18, 12), freilich etwas profan verfremdet als Waschgelegenheit, was aber seinerseits in einem größeren Zusammenhang steht. Wenn näm6 Dasjämer-Thema ist nicht nur werkübergreifend, wie der Blick auf den Willehalm zeigt, auch das Nibelungenlied wäre einzubeziehen; dazu erkennt man die an der mittelhochdeutschen Sprache abzulesende Eigenart, daß Faktoren wie dem Jammer die Qualität einer Wesenheit zukommt, was in der modemen Sprache und im modemen Bewußtsein nicht mehr vorhanden sein kann, woraufBrinkmann, 1962,64-74, aufmerksam gemacht hat.

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Iich später der Ritter Parzival sich den Rüstungsrost und den Staub abwaschen wird, so wird das der privilegierte Anlaß sein, seine strahlende Schönheit und Lichthaftigkeit hervorzuheben, die somit von Anfang an präsent ist. In den Worten der Mutter (118, 20), in denen vom pldn die Rede ist, würde sich vordergründig der Kreis um den Natureingang, locus amoenus, schließen, der mit Vers 117, 10 geöffnet wurde. Dem Thema Vögel erschließt Wolfram, verglichen mit ChnStien, neue Perspektiven, die auch fiir vorliegende Fragestellung Bedeutung haben und nicht nur als Zeugnisse rur Wolframs sprunghaft-skurrile Phantasie gewertet werden dürfen. An der Phantasie Wolframs besteht kein Zweifel, doch manches, was als skurril und sprunghaft erscheinen mag, dürfte sich als wohl fundierte Äußerung einer Erzählweise herausstellen, die nicht nur einer ungebändigten Phantasie folgt, sondern sich an einem großen Exemplum orientiert, das es zu umschreiben gilt. So wird wohl auch die Ampliflkation, die Wolfram den Vögeln und deren Gesang gegenüber Chretien zuteil werden läßt, mehr sein als eine typisch Wolframsche Eskapade; sie restlos aufzuklären dürfte freilich schwierig sein. Die Passage schließt an die dreimalige Betonung des Themas von der Ritterschaft an, und es heißt, daß der Jüngling an küneclicher vuore betrogen wurde (118, 2). Gleichsam als Ersatz rur frühe Einübung in standesgemäßes Tun erflihrt man, daß der Knabe sich Pfeil und Bogen zurechtmacht und Vögel schießt; eine rur den Status der pueritia angemessene Tätigkeit. Das ist aber nur der Ausgangspunkt rur die Schilderung einer assoziationsreichen Abfolge, die schließlich hinfiihrt zur Gottesfrage (119, 17). Und schon die Reaktion des Knaben auf das Vogelschießen fiihrt über die bloße Illustration kindlichen Verhaltens hinaus. Chretiens Vögel, qui joie fasoient, erfreuen zusammen mit der neuen Jahreszeit den Knaben. Bei Wolfram tötet der Jüngling die Vögel, und statt der typischen Natureingangsfreude gibt es Weinen und Klagegebärden. Und wenn es bei Chretien heißt toutes ces choses li plaisoient (91), so macht Wolfram gerade in Hinblick auf die Vögel eine bemerkenswerte Einschränkung: er enkunde niht gesorgen, ez enwaere ob im der vogelsanc (118, 14f.). (Die präzise Raumangabe ob im sollte man auch nicht übersehen.) In die typische Natureingangsstaffage, auf die Chretien zurückgreift, wird eine Bresche geschlagen. Locus amoenus-Vögel pflegt man nicht abzuschießen, um dann in Weinen auszubrechen. Wird hier das wichtige Thema des Tötens angetippt? Eben war ja von ritterschaft die Rede gewesen? Doch nicht nur das. Der Jüngling ist vom Gesang der Vögel oben in den Bäumen fasziniert und zuinnerst angerührt. Wolfram verbindet dabei das Akustische mit dem Visuellen, wenn er sagt, daß die Mutter den Jüngling beobachtet, wie er hinaufstarrt mich der vogeie schal (118, 24f.). (Es fiUIt einem die Blutstropfenszene ein) Chretiens Fügung li cuers dei ventre [... ] li resjoi (86) wird ebenfalls in ihrem Kern verwandelt, wenn es heißt diu süeze in sin herze dranc: daz erstracte im siniu brüstelin (118, 17f.), was wenig später aufgegriffen wird (118, 24 f.),

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demnach eine nicht unwesentliche Aussage darstellen dürfte. Wolfram spielt dabei auf die im Geistlichen beheimatete Vorstellung der dilatatio cordis an, indem er, typisch für seine Erzählweise des universellen Vergegenwärtigens, in der knabenhaften Frühform ein wesentliches Phänomen wirksam werden läßt, auf das er zurückgreifen kann (dazu Ohly,1970, 467ff.). Herzeloyde bemerkt dieses durch den Gesang der Vögel verursachte Anschwellen der Brust des Jünglings, und der Erzähler bezeichnet es als notwendige Konsequenz aus art und gelust Parzivals (118, 28). Diese zweite Erwähnung, der in gut epischer Manier das größere Gewicht zukommt, führt das Anschwellen der Brust auf eine Disposition, womit die Sippe vergegenwärtigt ist, zurück und auf gelust, Liebesverlangen, womit implizite der Eros präsent gemacht wird; in Verbindung mit den Vögeln des Natureingangs auch eine passende Assoziation. Bereits Parzivals Vater Gahmuret verspürte diese Weitung der Brust, als er nach der großzügigen Erbteilung durch seinen Bruder und zum Leidwesen seiner Mutter, diesem wiplichen wip, wie es assoziationsstiftend heißt - von weiteren Leitthemen abgesehen -, von zu Hause aufbricht. Gahmuret ist erfreut über die Haltung seines Bruders und fügt hinzu: min herze iedoch mich hoehe strebet. ich enweiz war umbe ez alsus lebet. daz mir swillet sus min winster brust. ouwe war jaget mich min gelust (9, 23ff.). Herze und gelust also auch hier im Mittelpunkt. Bei Belakane, angetrieben von strit und minne, verbringt Gahmuret eine unruhige Nacht nach dem Muster von Dido und Aeneas, und es heißt sin herze gap von stozen schal, wande ez nach ritterschefte swal. daz begunde dem recken sine brust beide erstrecken, so diu senewe tuot daz armbrust. da was ze draete sin gelust (35, 27ff.). Wiederum herze und gelust, dazu die Bogenmetaphorik, die ihrerseits in einen weiteren Kontext führt. Und Parzival selbst, wie er von Gumemanz und Liaze fortreitet, nun nach außen hin vollendeter Ritter, wird wie folgt charakterisiert: ritters site und ritters mal sin lip mit zühten vuorte, ouwe wan daz in ruorte manec unsüeziu strenge. im was diu wite ze enge und ouch die breite gar ze smal [... ] (179, 14ff.). Bei Willehalm, angesichts des heiligmäßig sterbenden Viviens wird die dilatatio cordis mit dem jamer, diesem kostbaren Gut Wolframs, eine Verbindung eingehen: [... ] daz muoz mir geben jamer. als pigment und amer din süeze wunden smeckent, die mir daz herze erstreckent, daz ez nachjamer swillet (62, 15ff.). Zurück zu Natureingang und Vogelsang. Das Verhalten der Mutter überrascht; dies umso mehr, als Wolfram betont, ihr Haß auf die Vögel beruhe auf Unwissen (118, 30). Die gegen die Vögel gerichtete Vernichtungsaktion soll die Ursache für die dilatatio cordis des Jünglings ausschalten (118, 26). Der Jüngling tritt aber für die Vögel ein, und die Mutter läßt von ihrem Tun ab. Das geschieht auf besondere Weise, was, wie so oft, nicht einfach aus der Abfolge des Geschehens hervorgeht. Durch den Verzicht auf das Töten der Vögel

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wird deutlich, daß ein Wesensmerkmal des Jünglings, das durch den Gesang geoffenbart wurde - eben die Fähigkeit zur Weitung der Brust -, nicht unterdrückt werden kann. Das vollzieht sich überdies aufgrund einer umfassenderen Einsicht der Mutter in den Schöpfungszusammenhang, worin das Singen der Vögel eben seinen gottgewollten Platz hat. Dabei wird auch den Vögeln, die bei Chretien nur im Rahmen des Natureingangsjoiejaisoient, nun zugebilligt, daß sie selbst an vreude Anteil haben sollten (119, 15). Die eigentliche Linie des Gedankens geht aber hin auf des Jünglings Gottesfrage, wofiir Herzeloyde durch ihren entsprechenden Hinweis den Weg frei gemacht hat, die aber dennoch, wiederum typisch filr Wolframs Erzählweise, des Überraschenden nicht entbehrt. Es ist ein waghalsiges Erzählen, das aber seinen guten Sinn und ein verläßliches Fundament in der Analogie zur 'ewigen Verkettung des Irdischen' hat, wodurch Verbindungen möglich werden, die den normalen Menschenverstand - nicht nur des heutigen Lesers - oft überraschen mögen. Das triffi eben auch auf das Ende der Vogelpassage zu, wenn Wolfram nun als unmittelbare Folge der Äußerung der Mutter, worin sie die Einstellung der Vogelvernichtungsaktion kommentiert, den Jüngling die Frage stellen läßt fiir den Leser reichlich unvermittelt: ouwe muoter, waz ist got? (119, 17). Chretien fUhrt ohne vernehmlichen Ruck auf die religiöse Thematik, Teufel und Gott, hin. In seiner Schilderung der bevorstehenden Begegnung mit den Rittern und ausgelöst durch das Getöse bzw. den Glanzeffekt stellen sich bei dem Jüngling zwanglos jene Reaktionen ein, die auf eine vorausgehende Unterweisung durch die Mutter schließen lassen (114ff.). Wenn man Wolfram darin mit Chretien vergleicht, so würde die Feststellung, Chretien halte sich eben an den ordo artificialis, während Wolfram dem simplen ordo naturalis zuneige, zu kurz greifen. Daß der heranwachsende Sohn der Herzeloyde bisher noch nichts von Gott gehört haben soll, ist bei der religiös geprägten Rühmung der weltflüchtigen Herzeloyde eine absurde Annahme. Wolfram erzählt an dieser Stelle auch nicht so sehr ab ovo im Sinne des ordo naturalis; er hätte dann gemäß dem ordo naturalis früher von religiöser Unterweisung berichten müssen. So erfolgt diese unmittelbar vor der Begegnung mit den Rittern und ist als Folge der unerwarteten Frage ans Ende der Vogelepisode plaziert als grundsätzliche Gottesfrage. Der Erzähler hat dabei vor allem den Hörer im Visier. Wenn über 6000 Verse später Parzival, nun durchaus logisch und aus der Situation des Gesprächs mit Gawein heraus entwickelt, dieselbe Frage stellt, we, waz ist goI? (332, 1), so geht es natürlich nicht um das Repetieren einer Formel, sondern um die Aktivierung dessen, was viel früher am Beginn der Parzivalhandlung ostentativ und sich bewußt hart über die Situation und die Wahrscheinlichkeit hinwegsetzend als Thema eingefiihrt worden ist. Die zweite wohlbegründete Erwähnung der Gottesfrage, die die entscheidende Krise in Gang setzt, muß also auf die erste, gewaltsam eingefiihrte und noch keine Krise bewirkende Frage bezogen werden und gewinnt darin einen

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Halt im Erzählgefilge; so will es die weitschauende 'Vorsehung' des sorgfältig planenden Erzählers. Des Jünglings Frage dient vor allem dazu, aus dem Mund der Mutter diesen Gott als den Gott des Lichtes, als menschgewordenen Gott der triuwe und der helfe darzustellen (119, 19-24). Der graue Ritter wird gen au so den menschgewordenen Gott in den Vordergrund stellen (448, 2), und Trevrizent braucht das nur zu amplifizieren (465, 3ff.) Mit dem Hinweis auf den menschgewordenen Gott (119, 20f.) ist bereits auf dieser frühen Stufe die Gewißheit ins Geschehen eingefilhrt, daß Parzivals zweite Gottesfrage nicht zu einem nihilistischen Absturz filhren kann, und dies nicht nur, weil das geistesgeschichtlich noch keine konzipierbare Alternative gewesen wäre, sondern weil Wolframs vorsorgliche Erzählweise dies grundsätzlich unmöglich macht. 7 Das erzählerische Umfeld der ersten Gottesfrage bildet eine derart solide Einbettung des Fragenden, daß bei der zweiten Gottesfrage, trotz der radikalen Bedrohung, die sich bemerkbar macht, ein Herausfallen des Fragenden aus der Gnade Gottes ausgeschlossen werden muß. Erneut wird man die Analogie zu Sündenfall und Erlösung bemühen können. So wie man im biblischen Bericht miterlebt, daß die Vertreibung aus dem Paradies - wie Parzivals Gottesferne - nicht Absturz in die Hölle bedeutet, sondern im Baum des Todes das heilvolle Holz des Kreuzes präsent ist, so auch hier. Entscheidend ist, daß das nicht in Form einer religiös erbaulichen Feststellung, nach Art der Legende, geschieht, clie als Kommentar eingefilgt würde, sondern daß sich das in der Erzählweise Wolframs vollzieht, deren unvorhersehbare Leistung in der universellen Vergegenwärtigung des Entscheidenden liegt. In der Defmition Gottes durch Herzeloyde primitives Katechismuswissen sehen zu wollen, geht am Anliegen Wolframs vorbei. Was der Graue Ritter und dann Trevrizent zu Gott darlegen werden, ist in den Versen 119, 18ff., bereits gegenwärtig. Der Kurzschluß des Jünglings angesichts der Ritter hat nichts mit einer vermeintlichen Unzulänglichkeit von Herzeloydens Unterweisung zu tun. In ihrer Bestimmung des menschgewordenen Gottes bedient sich die Mutter hoher biblisch geprägter Ausdrucksweisen: der antlitzes sich bewac mich menschen antlitze! Die facies Dei strahlt schließlich vom Buch Genesis an durch die Bibel! Außerdem ist zu erwägen, ob nicht Wolfram mit der an sich kindischen Reaktion des Jünglings angesichts der Ritter filr die Hörer einen ernst gemeinten tieferen Zusammenhang zwischen Ritter und Gott sichtbar machen wollte, im Sinn seiner Deutung ritterlichen Daseins. In Chretiens Text geht es bei der Reaktion des Jünglings um das heiter-komische Mißverständ7 An Signalen, die Halt und Sicherheit gewährleisten, läßt es Wolfram - auch darin der Heilsgeschichte nicht unähnlich - nicht fehlen. Es sei nur an das Leitwort unverzaget erinnert, das gleich im Prolog anklingt, sich im weiteren Verlauf immer wieder einstellt und z. B. im Willehalm auf seinen wahren Grund zurUckgeftlhrt wird, wenn es dort heißt: [... ] diust immer maget, diu den gebar, der unverzaget sin lIerh durch uns gap in den tot (31, 9ff.).

3 Engl... I Müller

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nis; die Beziehung Ritter/Gott hat sonst keine weitere Bedeutung. Der Schwerpunkt liegt dort in der zukunftsweisenden Regung des Eigenwillens gegenüber der Anweisung der Mutter (120f.) und in der drastischen Darlegung der ichbezogenen Dialogunfähigkeit des Jünglings. Der Jüngling zweifelt zwar nicht an der Richtigkeit der Aussagen der Mutter über die Häßlichkeit der Teufel (114f.), ihrer Anweisung aber, sich angesichts der Teufel zu bekreuzigen, setzt er seinen eigenen Willen entgegen: mais cest ensaing desdaignerai, que ja voir m'en seignerai, ains ferrai si tot le plus fort d'un des gavelos que je port [... ] (119ff.). Dieser hier sich manifestierende Eigenwille wird dann auch Perchevax befähigen, nach der Anschuldigung durch die Gralsbotin und ungeachtet des Ausschlusses aus der Dreizahl der abenteuerbereiten Ritter Gavains, Giffles und Keendins (4718ff.) seinen autonomen Entschluß zur Gralssuche zu verkünden: et Perchevax redist taut el (4727).8 Diese beiden Stellen sind aufeinander zu beziehen; der Text selbst bildet aber diese Beziehung nicht ab. Das ist jedoch das Merkmal der Erzählweise Wolframs, es nicht dem Belieben des Lesers zu überlassen, Beziehungen herzustellen, sondern diese Beziehungen mittels eines dichten Netzes aus bedeutsamen Wortsignalen objektiv als Teil des Textes selbst zu vergegenwärtigen, vergleichbar dem Buch der Natur, das die beziehungsstiftenden Spuren des Schöpfers aufweist, unabhängig davon, ob der Betrachter in seinen Gedanken solche Beziehungen herstellt. Bei Wolfram dürfte auch diese LichtiGottlRitter-Episode eines seltsamen Hintersinns nicht entbehren, was dadurch noch gesteigert würde, daß in die Schilderung der Begegnung mit den Rittern Aspekte des Natureingangs eingeblendet werden, was im Hinweis auf den Tau (122, 2) vorbereitet wird. Zunächst sei auf den Einsatz der Begriffe ritter und got geachtet. Der voranreitende ritter (121, 15) erscheint dem Jüngling als ein goI getan (121,30), da er nichts dergleichen liehtes bisher gesehen hat. Kamahkamanz lehnt es ab, für Gott gehalten zu werden: ich bin niht got (122, 29) - und nennt sich und seine Begleiter ritter (123, 1). Die beiden Begriffe goI und ritter TÜcken also nahe aneinander. Wenig später, anklingend bereits in den Versen 123, 4f., gehen sie bereits ineinander über, wenn der Jüngling zur Erheiterung der Ankömmlinge Kamahkamanz anredet: ei ritter got [... ] (123, 21). Bei allem Schmunzeln sollte man nicht vergessen, daß diese Äußerung keineswegs so abwegig ist. In seinen Gesprächen mit Trevrizent z. B. wird Parzival wiederum Gott und Rittertum in bedrängende Nähe zueinander bringen, wenn es da z. B. heißt: ist got an slrite wise (472, 8). Was man früher schon, etwas grobschlächtig, die Verritterung Gottes genannt hat, erweist sich bei näherem Zusehen als keineswegs so falsch. Zusätzliche Bedeutung gewinnt das, wenn man 8 Frappier, 1968, 183: "PercevaI, 1ui, parle autrement. En choisissant la quete du GraaI par une decision autonome de sa volonte, en heros de la liberte interieur, iI s' ecarte de la cour brillante [ ... ]".

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bedenkt, daß in die Schilderung dieser Begegnung mit den Rittern in Verbindung mit dem Licht-Thema auch der Natureingang einbezogen wird. Kaum hat der Erzähler den Fürsten Kamahkamanz in dessen glänzender Erscheinung vorgestellt (122, 1-12), so richtet sich (122, 13) der Blick auf den Jüngling, die 118, 11 bereits angedeutete Personenbeschreibung aufgreifend und erneut auf originelle Weise den Natureingang in verkürztem Zitat evozierend. Die Wortstellung unterstreicht die Wichtigkeit des Vorgangs. Nicht der Fragende, wie zu erwarten wäre, wird zuerst genannt, sondern der Gefragte, noch dazu in einer grammatisch relativ selbständigen Konstruktion, die die Aussage aus dem syntaktischen Duktus heraushebt - Nominativ statt Akkusativ: aller manne schoene ein bluomenkranz, den vracte Karnahkarnanz (122, 13f.). Von der Sprechsituation her ist der erste Vers überflüssig, und man rechnet auch nicht damit. Das gibt ihm Gewicht. Der prachtvollen Erscheinung des Ritterfiirsten Kamahkamanz steht der äußerlich noch gar nicht rittergemäße Jüngling gegenüber als aller manne schoene ein bluomenkranz. Man wird nicht behaupten können, daß bluomenkranz in diesem Kontext die zu erwartende und gängige Bezeichnung sei; was dann also?9 Ich zögere nicht, den Bogen zurück zu schlagen zu Herzeloyde, über die Wolfram, nicht weniger aus delD Rahmen fallend, gesagt hatte, daß sie sich nicht wegen der bluomen fif die pldne zurückgezogen habe und daß sie sich um keinen kranz kümmerte (117; 10, 12). Sollte Parzival als der schoene ein bluomenkranz so gar nichts damit zu tun haben? Wolfram wußte seine Worte zu setzen, auch über Distanzen hinweg, und in diesem Fall ist der Abstand ohnehin gering. Vom noch ungeborenen Parzival hieß es 109, 11: der aller ritter bluome wirt! Spinnen wir das etwas aus; dies dürfte im Sinn des Erzählers sein. In ihrem Sohn wären die von Herzeloyde in der stereotypen Form abgelehnten Requisiten des Natureingangs bluomen, kranz - nun personalisiert präsent. Auf dieser 'Botanisierung' der Schönheit Parzivals, die ihn in den Schöpfungskosmos integriert, baut das Weitere auf. Sie stellt auch eine Überbietung der Personenbeschreibung des Fürsten dar und bildet in der andeutenden Weiterfiihrung der zerdehnten Personendeskription des Jünglings einen Erzählstrang im Gewebe des Werkes, auf den man immer stoßen wird und der ebenfalls unter dem Aspekt des Vergegenwärtigens der grundlegenden Gegebenheiten gesehen werden muß. Für den Jüngling ist der ihm unbekannte Ausdruck ritter der Ansatzpunkt fiir den anschließenden Dialog. Die Rüstungsschilderung, zu der es dabei kommt, und die damit verbundene knappe Einführung ins Waffenhandwerk sind, was Ersteres betrifft, aus der Vorlage übernommen. (Bei Wolfram wird hinter Kamahkamanz bereits Gurnemanz sichtbar, der den Jüngling ins Waf9 Green, 1982, 18f. Green stellt auch die Beziehung zu Kaylet, Pan. 39, 22 her und deutet sie: er bluome an mannes schoene.

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fenhandwerk einfUhrt. Auch das ein Fall von Vergegenwärtigung!) Bei Chretien geht es um die komische Spannung zwischen dreimaligem erfolglosem Fragen des Ritters nach den flüchtigen EntfUhrern und der ichbezogenen Dialogunfiihigkeit des walisischen Tölpels, der sich nur fUr die Rüstung interessiert. Folgerichtig fUhrt das hin auf die abschließende Erwähnung des Königs Artus, die auf die Frage des Jünglings fustes vos ensi nez (282) folgen muß: tot cest harnois me dona li roi Artus [... ] (289f.). Wolfram stellt nicht nur um. Er konzipiert von Grund auf anders, getreu seiner Erzählweise, und setzt sich über die in sich schlüssige Darstellung Chretiens hinweg. Wie immer, wenn er es fUr nötig hält, geht er auch hier nicht ohne Gewaltsamkeit vor, indem er gleich zu Beginn des Gesprächs König Artus einfUhrt. Es folgt das auf die ziemlich unvermittelte Frage des Jünglings (123, 6f.). Wolfram erreicht damit eine besonders ohrenfiUlige Artuspräsenz, noch bevor von Rüstung und Waffen die Rede ist. Dieser nicht zu überbietende hohe Ansatz bedeutet aber zugleich eine Aufwertung des Jünglings, wenn ihm - wie den Worten des Fürsten zu entnehmen - ohne weitere Vorleistungen in Aussicht gestellt wird, daß Artus ihn auf Anhieb zum Ritter machen würde. Es kommt dann zu einer radikalen Umkehrung der bei Chretien geschilderten Situation. Dem unerfahrenen Jüngling, der eben noch das Erscheinungsbild der Ritter bewunderte, steht überraschenderweise der Fürst Karnahkarnanz gegenüber, der in grenzenlose Bewunderung des Jünglings ausbricht. (Das Duzen aus dem Mund des Jünglings und das Ihrzen aus dem Mund des Ritters sei ebenfalls erwähnt; am Ende schwenkt auch der Ritter auf das Du ein!) Der Fürst erkennt sofort das ritterliche Menschentum im Jüngling. Dabei wird auch das bedeutsame Motiv des intensiven Anschauens eingefUhrt, was sich in vielen Variationen im weiteren Verlauf manifestiert, so daß sich auch darin eine übergreifende Motivgemeinschaft ergibt. Die Begründung dafUr, daß die Ritter den Jüngling anstarren, fUhrt über das hinaus, was die normale epische Situation erfordern würde. Der Hinweis, daß gotes gunst auf dem Jüngling lag (123, 13), könnte sich noch konventionell anhören: Gott als Urheber der menschlichen Schönheit. Dann zieht der Erzähler die Autorität der aventiure heran, was sich nicht auf Chretien beziehen kann, denn dort steht an dieser Stelle nichts dergleichen. Dazu hat aventiure bei Wolfram ja ohnehin einen besonderen Klang und ist nicht identisch mit buoch. Zu Beginn des zentralen 9. Buches wird dann aventiure als 'Geist der Erzählung' direkt zum Gespächspartner Wolframs; sie ist bereits 123, 14 in dieser Eigenschaft präsent: von der aventiure ich daz nim, diu mich mit warheit des beschiet, worauf die Einmaligkeit der Schönheit des Jünglings kundgetan wird. Wolfram beruft sich auf die höhere Autorität der aventiure, und da er wußte, was er darunter verstand, handelt es sich nicht um einen fmgierten Quellenverweis. Einer höheren Autorität verdankt er die Gewißheit darüber, daß die gotes gunst an Parzival lag, vielleicht eine sachte Variation zu Lukas 3, 22:

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[... ] an dem ich mein Wohlgefallen habe! Den Bezug auf Adam in diesem dichten Kontext als konventionelles Indiz filr einen langen Zeitraum zu deuten, ist nicht unproblematisch. 10 Parzival wird vielleicht doch in Beziehung gesetzt zu dem, was Adam, unmittelbar aus Gottes Händen hervorgegangen, in Schöpfung und Heilsgeschichte darstellt. Daß mit V. 123, 18 des wart sin lop von wiben wit auch das Erotische darin eingeschlossen wird, ist nicht nur ein typisch Wolfram scher Schlenker - das wohl auch, und man wird dabei schmunzeln dürfen -, doch ist zu bedenken, was die Minne im Gefuge des Gesamtwerks, im Titurel und Willehalm, bedeutet. Auf die anschließende Rüstungsschilderung folgt zum Schluß erneut das Lob der Schönheit des Jünglings, nun aus dem Mund des Kamahkamanz und angereichert mit einer überraschenden, die Wahrscheinlichkeit der Situation übersteigenden persönlichen Anteilnahme (124, 17ff.).11 Es ergibt sich also eine Doppelung: Eine Linie, beginnend mit aller manne schoene ein bluomenkranz, geht in die Parallellinie der Ritterthematik über, um ihrerseits zur Schönheitsthematik zurückzulenken, worauf in der Rüstungsbeschreibung das Ritterthema erneut weiterwirkt, das wiederum im Schönheitsthema gipfelt (124, 18). Wolfram legt also großen Wert auf die Betonung der Wesenhaftigkeit der Verbindung von Schönheit und Rittertum am Beispiel des Jünglings und öffnet damit dem Ritterthema ein Assoziationsfeld von grundsätzlicher Bedeutung; ein Verfahren, das bei Chretien nicht vorgebildet ist. Im Unterschied zu Chretien hält Wolfram nach diesem Höhepunkt auch weiteres Fragen nach den flüchtigen Entfilhrern fern, Kamahkamanz und seine Begleiter fmden von selbst die Bauern Herzeloydes. Vom Jüngling heißt es, daß er, entgegen seinem ursprünglichen Plan (120, 2), sich nicht mehr um das Jagen kümmert, sondern heimkehrt. Ein Bruch mit dem bisherigen Lebensrhythmus ist damit angedeutet (125, 27ff.). Achten wir weiter darauf, wie Wolfram die Personenbeschreibung - immerhin handelt es sich um eine wichtige Errungenschaft der neuen Romantechnik - in seine Konzeption des verflechtenden und das Auseinanderliegende vergegenwärtigenden Erzählens integriert und auswertet. Die Beschreibung Parzivals, die andeutungsweise 118, 11 einsetzt, ist noch lange nicht zu Ende gebracht. Für Wolfram ist sie eben kein einmaliges erzählerisches Bravourstück, mit dem man dem Leser imponiert - das kann Wolfram auch, wenn er will, wie die Schilderung Cundrys zeigt - , sondern ein Prozeß, der eingebettet ist in größere Zusammenhänge und seinerseits die Schaffung solcher Zusammenhänge möglich macht. In der Begegnung mit den Rittern

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So z.B. Huber, 1981, 156; anders Ruh, 1980, 136; besonders instruktiv Hahn, 1975,203-

233. 11 Daß Wolfram im Wi/lehalm (271, 17ff.) in Verbindung mit Rennewart auf diese Stelle zurückgreift, zeigt nur, welch besonderer Art die intertextuellen BezUge bei Wolfram sind.

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wurde die Schönheit Parzivals massiv und wegweisend, aber ohne Angabe von typischen Deskriptionsdetails in ihrer Wirkung herausgestellt. In der JeschuteEpisode wird aus dem Mund der betroffenen Dame das Thema angetippt, sehr zum Ärger des Orilus (133, 18). Bei Sigune gewinnt es erneut zentrale Bedeutung. Die Schönheit des Jünglings fasziniert offenbar sogar diese Frau, die Uz rehtem jamer schrei (138, 13), so daß sie, deren feit durch die Hörerapostrophe (139, 23f.) erneut ins Gedächtnis gerufen wird, aufhört zu klagen. Für Wolframs Erzählweise typisch ist es, daß die aus Minne jammernde Sigune in gesteigerter Form das fortsetzt, was am Verhalten des Ritters Karnahkarnanz geoffenbart worden war. Sigune, die noch nicht weiß, wen sie vor sich hat, platzt geradezu heraus mit ihrem Hymnus auf den Ankömmling (139, 25ff.). Sie preist seine virtus, rühmt seine süeze jugent und sein antlitze minneclich, was zurück lenkt zu dem erotischen Ton in der Ritterszene (123, 18). Der Wunsch des Karnahkarnanz präzisiert sich zur festen Voraussage, deiswar du wirst noch saelden rich (139, 28). Der Begriff saefde, der somit eingefllhrt ist, wird sich dann ebenfalls als fruchtbar erweisen und vielfliltige Assoziationen stiften. Dazu spricht Sigune dem Jüngling auf Anhieb die triuwe zu, aus der heraus er geboren sei (140, 1), wodurch er hineingenommen ist in das Innerste, von dem Wolframs Werk kündet. Woher weiß sie das, möchte der Leser fragen - nicht nur der moderne - und dabei ins Leere zielen. Wolfram setzt sich auch hier bewußt über die Wahrscheinlichkeit der Situation hinweg, wenn er die Enthüllung der Identität des Ankömmlings diesen bedeutungsschweren Aussagen nachstellt. Hier offenbart sich nicht 'Märchenwissen', sondern Wolframs Gestalten folgen einem biblischen Prinzip, das sich z. B. in der Begrüßung Marias durch Elisabeth (Luk. 1, 41-45) äußert oder in der Reaktion Johannes des Täufers, als Jesus, den er nicht kennen konnte, von ihm verlangte, getauft zu werden (Matth. 3, 13). Noch bevor Sigune weiß, wen sie vor sich hat, enthüllt sie also Parzivals Wesen, ja, muß sie in dieser Weise über ihn reden; so will es Wolframs Erzählkunst. Sigune erkennt dem Ankömmling sogar bereits Mitleid und Erbarmen zu, obgleich dieser angesichts des toten Schionatulander bloß von Rache mittels des Gabilots sprach. (Übrigens, auch das gabilot wird bei Wolfram bis hin zur Beerdigung des Roten Ritters zu einem aktiven Erzählelernent!) Karnahkarnanz war bloß von des Jünglings Schönheit beeindruckt, Sigune entwickelt aus dieser nun präzisierten Schönheit - tugent, süeziu jugent, antlitze minneclich - die Zugehörigkeit zur triuwe und demnach die Fähigkeit zur riuwe. Die Frage nach der Identität und die Namensnennung gehen daraus hervor. Dabei hakt Wolfram sogar bezeichnenderweise nochmals nach, wenn er diese Frage mit dem Hinweis verbindet er trüege den gotes vfiz (140, 5); in V. 123, 13 war von gotes gunst die Rede! Wolfram bietet aber noch mehr auf. Die Verkündigung des Namens wird dem roten Mund Sigunes anvertraut. Das ist kein dekorativer Lückenbüßer, den Wolfram hier keck eingesetzt hätte. Das

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lenkt natürlich zurück zu Gahmuret (63, 16) und zu Jeschute (130, 5ff.), weist u. a. voraus auf die Weiterfilhrung der Personenbeschreibung Parzivals nach seiner Ankunft bei Gumemanz (168, 20) und auf die späteren Sigune-Stationen. Wolfram vergegenwärtigt damit die Minne als die Lebensrnacht, die die Personen und Schicksale seines Erzählwerkes durchwaltet. Erst dann, in einem weiteren Schritt, vergleichbar der Kamahkamanzszene, kommt es zu dem Gespräch zwischen Sigune und Parzival, worin, dem ordo artificialis folgend, Vorgeschichte nachgeholt wird. Wolfram schließt die Begegnung mit Sorgfalt ab, indem er auf den toten Geliebten der Sigune verweisen läßt, mit dem die Episode begann. Erst jetzt kann es zu der von Sigune vorweggenommenen Mitleidsäußerung Parzivals kommen (141, 25f.). Die anschließende Episode, die von dem habgierigen Fischer handelt, blendet ebenfalls unerwartet das Schönheitsthema ein. Wie der Fischer das Gold sieht, wird er überfreundlich und erklärt sich bereit, den Jüngling an den Artushof zu bringen. Das würde auch genügen, doch Wolfram läßt den Fischer noch sagen: ich engesach nie lip so wolgetan (143, 12). Die Parallele zum Verhalten des üblen Fischers in Hartmanns Gregorius liegt auf der Hand. Wo aber bei Hartmann die körperliche Schönheit (2785,2910) nur Anlaß dafilr ist, aus dem Kontrast zwischen Büßerrolle und der nicht dazu passenden stattlichen Erscheinung die Schmähungen des Fischers zu entwickeln, wird bei Wolfram selbst dieser Prolet in den Bannkreis von Parzivals Schönheit einbezogen, so daß er sich einfilgt in die Reihe, die mit dem Fürsten Kamahkamanz einsetzte. Beim Eintreten Parzivals in die Artuswelt wird dann Wolfram mittels der Besonderheit der Schönheitsthematik, die die bloß technische Seite der Personenbeschreibung in den Hintergrund drängt, einen starken Akzent setzen. Auch da schreibt Wolfram bewußt gegen die vordergründige Romanrealität an. Zunächst holt er aber weit aus und bietet dazu, zur Überraschung des Lesers, konkrete zeitgenössische Intertextualität auf. Warum ausgerechnet hier und auf welches Ziel hin? Es muß das mit dem Rang der Artuswelt im Bewußtsein des Publikums zusammenhängen. Wolfram stilisiert Parzivals Ankunft am Artushof gleichsam um zu einem großen, aber wunderlichen adventus unter literarischen Vorzeichen und mit weidlichem Ausnützen des Komischen, das ein nicht unwesentlicher Bestandteil seines Erzählkosmos ist. Das Erscheinungsbild Parzivals - also Personenbeschreibung im weiteren Sinn bildet den Bezugsrahmen bei der Schilderung der Ankunftsszene. Parzival, bei Chretien von Anfang an Reiter, ist bei Wolfram, tiefer angesetzt, zum Fußgänger geworden (120, 11). Nach der Begegnung mit dem Ritter verlangte er nach einem Pferd und erhielt von seiner Mutter einen schlechten Gaul (126, 23). Auf diesem Tier und des Reitens unkundig stolpert er einher, was gerade unmittelbar vor der Ankunft am Artushof in seiner Komik und unter Ausnutzung

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einer bewußt holprigen Syntax und verqueren ReimsteIlung vorgeführt wird (143, 19f.; vgl. Bertau, 1983, 79f.). Bevor Wolfram seinen vriunt, vennittelt über den Roten Ritter, an den Artushofkommen läßt, hält er inne, um auf dreifache Weise die Ankunft des Jünglings vorzubereiten, die sich von vergleichbaren Anlässen drastisch unterscheidet. Zuerst wird Hartmann, der Begründer des Artusritterromans im Deutschen, apostrophiert. Wolfram plaziert fünf gewichtige Namen: Hartmann, Ginover, Artus, Enite, Karsnafite. Man hat also wohl an Enite zu denken, wie sie mit dem siegreichen Erek am Artushof erscheint. Wollte Wolfram damit nachdrücklich ein Signal setzen, daß man sich nicht der falschen Hoffnung hingeben solle, er schwenke auf das Muster des Artusritterromans ein? Was sonst noch dahinter steckt, entzieht sich unserer Einsicht. Mit V. 144, 5ff. nimmt die Handlung ihren Fortgang. Die Stadt Nantes, ebenfalls eine Erinnerung an den Erek, denn in Chretiens Gralroman residiert Artus in dieser Situation in Cardoeil (839), tritt in den Gesichtskreis, und der Hörer macht sich darauf gefaßt, daß Parzival nun dort einreiten werde. Wolfram läßt den Jüngling zunächst allein weiterreiten - vielleicht nicht ohne Seitenhieb auf die Arroganz der Artusleute (144, 14f.). Dazu baut er noch rasch einen locus-amoenus-Rahmen auf (144, 18f.) und unterbricht die Handlung erneut, indem er Parzival in seiner Ungehobeltheit von Tristan absetzt, dem Inbegriff ritterlicher Eleganz. Dem stellt er das Bild des grotesk heranreitenden Parzival auf dem miserablen Klepper gegenüber und malt das im Detail aus (144, 23ff.). Als letztes Requisit wird, nicht ohne Absicht, das unrittergemäße gabilot genannt, das ja wenig später in Aktion treten wird und dem Parzival die Ritterrüstung verdankt. Nicht genug. Auf die Anspielungen auf den Erek und Tristan folgt als Drittes überraschend ein Selbstzitat. Wolfram vergleicht Parzivals Erscheinung mit dem grandiosen Bild, das dessen Vater Gahmuret in Kanvoleis abgab (61, 21). Auch das ein Indiz, daß man sich aufNeues einstellen muß. Auf diese ungewöhnlich aufwendige Einleitung folgt die Begegnung mit dem Roten Ritter. Wolfram schlägt dabei das unverzaget-Thema an, wenn er mittels seiner typischen Satzfügung - Voranstellen des Objekts mit Loslösung aus der Kasusrektion - Parzival als furchtlos charakterisiert und auszeichnet: der geliez nie vorhtlichen sweiz, im kom ein ritter widerriten (145, 6f.). Artikel der und Pronomen im, jeweils in Spitzenstellung, korrespondieren mit ein ritter. Die Antwort des Ritters auf Parzivals naiven Gruß (145, 9f.) enthält bereits die eigentliche Begrüßung durch diesen Ritter, zu der es etwas später kommt (146, 5ff.). Der Erzähler schiebt dazwischen seine Beschreibung des Roten Ritters ein. Man hat es wieder einmal mit einem Neffen zu tun, der alte Utepandragun wird aufgeboten, der Rechtsstreit angedeutet, und nach der Namensnennung folgt die Personenbeschreibung, die manieristisch um die

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Farbe rot kreist (145, 16 - 146,3). Von dem in dieser Weise umständlich eingeführten Ritter heißt es nun unter pointiertem Einsatz des Artikels, der hier Demonstrativfunktion annimmt, der sprach zem knappen (146, 4) und nun schließt sich die eigentliche Begrüßung an, so als hätte die Antwort auf Parzivals Gruß, juncherre, got l6ne iu und ir, nicht genügt. Gänzlich unmotiviert, wenn man von der Situation herkommt, bricht der Rote Ritter, wie in Anlehnung an Lukas 1,41, in einen Hymnus auf den Jüngling und dessen Mutter aus, an das iu und ir anknüpfend. Ither reiht sich ein in die Linie, die von Karnabkarnanz über Sigune herführt und sich fortsetzen wird. Mit dem modemen Begriff Leitmotiv kommt man dabei nicht aus, da man damit gerade das Charakteristische dieses Erzählens, das Unerwartete, das, vordergründig gesehen, betont nicht der Situation Angemessene, nicht erfaßt; vielmehr ist von der Fragestellung des vorliegenden Beitrages auszugehen. So wie die mittelalterlich biblisch-theologische Welt- und Naturdeutung es darauf anlegte, in den unterschiedlichsten Erscheinungen das ihnen innewohnende Walten Gottes offenbar zu machen, so zeigt hier der Erzähler, daß Situationen, in denen man nicht damit rechnen würde, Offenbarungen der Grundthematik des Werkes sein können. Der süezen jugent, von der Sigune sprach, steht nun der süeze lip gegenüber, dem antlitze minnecliche der waren minne blic, was durch weitere ins Erotische weisende Andeutungen verstärkt wird. Man kann diesen Vers nicht lesen, ohne an Trevrizents Defmition Gottes zu denken als warer minnaere (466, 1) oder an die Blutstropfenszene, wo es von Parzival heißt: er phlac der waren minne (283, 14). Die alles durchwaltende Totalität der Liebe, das Göttliche wie den menschlichen Eros erfassend, leuchtet in diesen Belegen auf, auch wenn die am Vordergründigen haftende Logik immer wieder von dieser Einsicht überrascht werden muß; und Wolfram wird nicht müde, dem Leser diese Überraschungen zu bereiten. Chretiens Hinweis im Prolog auf die neutestamentliche Defmition Gottes als charitas (46) bleibt punktuell, bei Wolfram wird daraus ein universelles Prinzip, das sich mit der Tradition des Boethius verbindet, dazu die Erzählweise beeinflußt und nicht im Inhaltlichen verbleibt. 12 Bereits im törichten Jüngling ist die wahre Minne präsent. Die, wie Wolfram dann vor allem im 9. Buch zeigen wird, in der Menschwerdung grundgelegte wesenhafte Nähe des Göttlichen wird hier in der Ither-Passage durch weitere religiöse Assoziationen unterstrichen, die ihrerseits sich im Werk verästeln. So rühmt schon 128,25 der Erzähler Parzivals Mutter: 6 wol si daz si muoter wart. In Ithers Mund entfaltet sich das zur vollen bibelanalogen Seligpreisung: dich brahte zer werlde ein reine wip, 6 wol der muoter diu dich gebar (146, 6f., Luk. 11,27). Nach der Ankunft parzivals 12 Boethius, 1953,11, VIII, V. 28: 0 felix hominum genus, si vestros animos amor quo caelum regitur regal.

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bei Gurnemanz wird sich die Seligpreisung wiederholen, auch da über das hinausführend, was die Situation vordergründig gesehen hergibt (164, 19). Mit Ithers unerwarteter Schönheitsintervention wird die Ankunft Parzivals am Artushof unter ein besonderes Vorzeichen gestellt, was die bedeutsamen Reaktionen Cunnewarens und Antenors auslöst. Durch die Voranstellung des Schönheitsthemas hat sich der Erzähler aber auch freie Hand geschaffen für die vielgestaltige Inszenierung des Geschehens am Artushof selbst; das Schönheitsthema braucht dann nur noch angetippt zu werden (148, 22ff.; 149, 2; 149, 19; 151, 7ff.). Abschließend kann dann das Klagen um den toten Ither breit ausgestaltet werden, was das jämer-Thema ins Bewußtsein hebt, wovon noch die Rede sein wird; bei Chretien fehlt dafür jeder Ansatz. 13 Bei der Schilderung der Ankunft Parzivals auf der Burg des Gurnemanz verfii.hrt der Erzähler umgekehrt; kein Schönheitssignal beim Eintreffen, dafür aber umso größeres Entfalten dieses Themas nach der Aufnahme in der Burg. Wolfram will mit dieser Variation den Leser nicht nur etwas necken, sondern diese Verlagerung dürfte auch in der Funktion der Gurnemanzepisode begründet sein. Es hat das auch seine Gründe in der Handlungsfilhrung. Parzival ist seit der Tötung Ithers äußerlich einigermaßen Ritter. Die Narrenkleider sind durch die Rüstung verdeckt. Es ist durchaus situationsgemäß, wenn der Erzähler nun die tumpheit Parzivals betont, was programmatisch in den Vers gefaßt ist: gewäpent reitz der tumbe man (161, 17). Dem wird ein wiser Reiter gegenübergestellt, der mit dem Reittier umzugehen weiß. Diese tumpheit wird unterstrichen durch die Reaktion auf das Auftauchen der Türme der Burg des Gumemanz (161,25; 162, Iff.). Es ist das zugleich ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Wolfram mit Anregungen aus dem Text Chretiens verfiihrt, über die man leicht hinwegliest. Chretien setzt das Motiv von der Burg, deren Türme auftauchen, zweimal ein, bei Gornemans und bei der Gralsburg. Bei der Gralsburg ist das Märchenhafte daran evident. Entgegen den Angaben des Fischers (3032f.) sieht Percheval zunächst nichts fors ciel et terre (3039) und beginnt auch schon auf den Fischer zu schimpfen, der ihn belogen habe, als plötzlich 13 Bei Chretien ist die Tötung des Roten Ritters durch den Jüngling durchaus stringent, da die Szene konsequent auf den Rüstungserwerb angelegt ist, was durch die Begegnung mit den Rittern vorbereitet wurde. Bei Wolfram geht es längst nicht bloß darum. Das Motiv Rüstung wird reichlich überlagert durch das Schönheitsthema und Ithers Seligpreisung. Es entsteht dadurch eine schmerzliche erzählerische Diskrepanz, wenn dann dieser Ither gleich darauf von dem von ihm gerühmten Jüngling getötet wird. Wolfram kann sich darüber hinwegsetzen und damit zum Ausdruck bringen, daß er einer anderen Erzählweise verpflichtet ist. Aus dem fatalen unritterlichen Todesinstrument, das ironischerweise dem Jüngling zur RitterrUstung verhilft, wird bei ihm zugleich ein Zeichen christlicher Hoffnung über den Tod hinaus, wenn der Knappe aus dem gabilot ein Grabkreuz macht, so daß Tod und Auferstehung zueinander in Beziehung treten können.

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die Burg auftaucht: Lors vit pres de lui en un val le chief de une tor qui parut (3050f.). Einen sachten Vorklang dazu gibt der Erzähler in der Gornemansepisode. Die Burg befmdet sich jenseits eines reißenden Gewässers (1315), Signal für die 'andere Welt'. Die Türme des chastel molt riche et fort (1323) scheinen dem Jüngling hervorzukommen: et vit les tors dei chastel nestre, qu'avis lifu qu'eles naissoient (1326f.). Wolfram hat hier das Gewässer gestrichen, somit ist bei Gurnemanz jeder Anschein der Zugehörigkeit zu einer anderen Welt beseitigt. Das Hervorkommen der Türme gibt er treffend mit wachsen wieder und nützt das Ganze zur Illustration der tumpheit seines Helden, das Märchenhafte ist beseitigt. Er unterstreicht damit, daß es höchste Zeit sei für die Intervention eines Gurnemanz. Nach der Einführung des Gurnemanz wird das tumpheits-Thema weitergeführt (162, 28; 163, 21; 167, Iff.) und rahmt die dem Kontext gemäße Charakterisierung des Gurnemanz als houbetman der waren zuht (162, 23) ein. Nicht minder treffsicher ist es, daß dem Jüngling in dieser Situation die Bitte um rat in den Mund gelegt wird (162,29 - 163, 6). Die rahmende Funktion des Hinweises auf die muoter, die gestelzte Syntax der Antwort des Alten und die sechsmalige Verwendung des Wortes rat in diesen acht Versen sind unüberhörbare stilistische Signale. Wie man dann Parzival endlich dazu gebracht hat, vom Pferd zu steigen und sich entwappnen zu lassen, und wie nun unter der Rüstung die Torenkleider und damit aber auch seine Schönheit sichtbar werden, kommt es zur ersten großen Variation des Schönheitsthemas in dieser Erzählphase. Es äußert sich aber nicht Gurnemanz, sondern ein anonymer Ritter, der - wie es sich für den Hof des Gumemanz schickt - durch sine zuht (164, 11) spricht. Daß dieser Ritter über die Torenkleider, die unter der roten Rüstung zum Vorschein kommen, konsterniert ist, entspricht der Situation. Gänzlich aus dem Rahmen dagegen fällt sein Hymnus auf die Schönheit des Jünglings. Kamahkamanz, Sigune und Ither waren bereits Sprachrohre dieses enthusiastischen Lobpreises geworden, der nicht ganz ohne paramessianische Untertöne zu verstehen ist. Von der Poetik her gesehen, handelt es sich um eine Amplifikation dessen, was in einer Bemerkung Herzeloydens angelegt ist, wie sie ihren Sohn für die Ausfahrt ausstaffierte: toren kleider sol min kint ob sinem liehten Iibe tragen (126, 26f.). Der Hinweis auf die Narrenkleider würde vollauf genügen, das Wichtige liegt aber auch hier im 'Überflüssigen', dem liehten lip. Potentiell ist darin bereits der Hymnus des Ritters bei Gumemanz präsent. Freilich, die jeweilige Anreicherung ist nicht nur amplifiziertes Beiwerk, und der Rekurs auf Poetik und Rhetorik erwiese sich als unzureichend. Der Hymnus des Ritters beginnt mit der Fruchtmetapher, die ihren biblischen Ursprung nicht verleugnen kann, dazu geht es um das Sehen als der - wie man weiß - bevorzugten

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Weise, in der Natur die Spuren der Weisheit Gottes zu erkennen. 14 Es folgt die Feststellung, die über die Situation hinausweist (164, 14f.) an im liget der saelden spehe, worauf sich die personalisierten Rühmungen anschließen, minneblic, der werlde vreude, und in der Seligpreisung der Mutter gipfeln: wol doch der muoter, diu in truoc. Die Übereinstimmungen mit der Ither-Szene sind nicht zu übersehen, dort liegt Du-Anrede vor, hier geht es um das allgemeingültigere Er. Auch die Stellen bei Karnahkarnanz und Sigune sind präsent. Beim einen hieß es, daß diu gotes gunst an im lac, Sigune prophezeite saelde, und nun ist daraus geworden: an im liget der saelden spehe. Da sich das Spektrum bei Parzivals Aufenthalt auf der Burg des Gurnemanz erheblich erweitert, ist es bemerkenswert, in welchen Kontext das Schönheitsthema eingebettet wird. Gurnemanz, wie er von den Quetschwunden des Jünglings hört, tippt gleich auf Minnedienst (164, 28), was überrascht, da dem erfahrenen Alten nicht entgangen sein kann, welchen Naivling er in dem Jüngling vor sich hat. Diese 'deplazierte' Bemerkung des Gumemanz hat demnach Signalwert, was sich im weiteren Verlauf bestätigt, da Gurnemanz überraschenderweise - bei Chretien steht nichts davon - ein privilegierter Lehrer in Minneangelegenheiten sein wird. Das Schönheitsthema wird ebenfalls gleich eingeblendet, wenn der Ritter zu Gurnemanz sagt, sin [Parzivals] varwe der minne zaeme (165, 2). Dann übernimmt Gumemanz die Vaterrolle (165, 10) und bestätigt sich als barmherziger Samariter, eine Aufgabe, die den Frauen zuzufallen pflegte; andere Vertauschungen der Rollen werden bei Gurnemanz noch zu beobachten sein, was ebenfalls ein Indiz dafiir sein könnte, wie sehr Wolfram daran liegt, die großen Verflechtungen und das Zueinander-in Beziehung-Setzen vorzuführen. Beim Zubettbringen plaziert der Erzähler, erneut aus der Situation fallend, die Fruchtmetapher (166, 16), wodurch über der bloßen Vorgangsebene die darüber liegende omnipräsente Bedeutungsebene sichtbar gemacht wird. Am folgenden Tag wird, breit angelegt, Parzivals Schönheitspreis fortgesetzt und im großen höfischen Rahmen vollendet. Er bildet die Grundlage für das weitere Geschehen bei Gurnemanz. Der Jüngling, gebadet, wird von zarten Damenhänden verwöhnt, was zum zweiten, knappen aber substanziellen Schönheitspreis führt. Dem Jüngling kommt es vor, als würde die Schönheit der Damen mit der des Tages, der Sonne, wetteifern, doch der Glanz, der von ihm selbst ausgeht, verdunkelt das Leuchten beider: sin varwe laschte beidiu lieht (167, 17ff.). Die erotische Komik, in die Wolfram diese Feststellung einbettet, garantiert die pralle Lebensfülle, die sein Werk mit all den geistlich-biblischen Assoziationen in der vollen Menschlichkeit verankert. Andererseits ist aber auch da sogleich wieder Ernst dabei, wenn

14 Aus den maßgebenden Arbeiten Ohlys sei nur die jüngste in diesem Zusammenhang erwähnt: Ohly, 1994,546-568.

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wipheit und triuwe beschworen werden (167, 29). Es folgt die höfische Bekleidungsszene, die zugleich die letzte Stufe der weit zerdehnten Personenbeschreibung, die 118, 11 einsetzte, darstellt. Nun erfiihrt man tivoi wie stuonden siniu bein (168, 7). Über allem aber prägt sich am Ende die Röte von Parzivals Mund dem Hörer ein: sin munt da bi vor roete bran, 168,20. Dieses massive Minnesignal stellt Parzival in eine Reihe mit Sigune, Jeschute, Ither - um nur in dieser Erzählphase zu bleiben -und leitet über zum dritten Schönheitspreis.

Nun erscheint Gumemanz mit seiner Ritterschaft, um den Jüngling gleichsam offiziell zu empfangen (168, 21ff.), und da verkünden alle wie aus einem Munde, noch nie einen schöneren Menschen gesehen zu haben. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf der Seligpreisung der Mutter, was sich in die Linie einfügt, die 128,25 beginnt mit einer Bemerkung des Erzählers, die von Ither aufgegriffen wird (146, 7), desgleichen von dem Ritter auf der Burg des Gurnemanz (164, 19) und worin nun der ganze Hof einschwenkt (168, 26ff. ).15 In diesem Zusammenhang wird auch die vruht-Metapher eingesetzt, wobei ebenfalls eine Pointierung zu bemerken ist. Der Ritter sagt: so werdecliche vruht [... ] (164, 12), Gumemanz selbst äußert sich ähnlich: so werde vruht [... ] (166, 16), und nun verkünden es alle: [... ] der werlde alsolhe vruht (168, 27). Der Zusatz der werlde enthält die entscheidende Nuance, die an den denken läßt, der der Welt Heil bringt. Die Folgerichtigkeit von Wolframs durchdachtem Erzählen zeigt sich auch darin, daß er abschließend alle, betont durch si jahen (168, 29) und ieslicher [... ] verjach (169, 3), feststellen läßt: [... ] er wirt wol gewert, swa sin dienst genaden gert; im ist minne und gruoz bereit (168, 29). Die besondere Schönheit Parzivals ist also der Minne zugeordnet, was in der unmittelbaren Nachbarschaft mit dem Vers von der werlde alsolhe vruht zusätzliche Bedeutung gewinnt. Es überrascht dann auch nicht, daß die ans Mahl und an den Informationsaustausch anschließende große Lehrszene dementsprechend in der Minnelehre des Gumemanz ihren Höhepunkt hat. Genau in der Mitte dieser Lehrrede, im mittleren Verspaar, 50 Verse gehen voraus und 50 Verse folgen, ermahnt Gumemanz den Jüngling sich nach dem Ablegen der Rüstung zu waschen (172, 5f.). Zweck dieser vordergründig hygienischen Maßnahme ist es, noch einmal verknappt die Schönheitsthematik und deren wesenhafte Beziehung zur Minne herzustellen: [... ] minneclich gevar [... ] wibes ougen, ein Echo von 123, 16ff. Über Rittertum, Rüstung, Teint werden also die wip als dazugehöriges Element ins Gedächtnis gerufen. Dem gilt nun der zweite Teil des Lehrgesprächs, was den Stellenwert der Minne in der Lehre des Gumemanz entsprechend erhöht. Bei Chretien beschränkt sich die Gomemansepisode ausschließlich auf das Ritterliche, und damit rechnet 15 Bei Chretien steht dem nur ein isolierter Beleg gegenüber, wenn es in 1407f. heißt: Et Ii preudom respont: "Biaxfrere, beneoite soit vostre mere, que eie vos conseilla bien [... ]".

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man ja auch; anders Wolfram. Die Minnerede des Gurnemanz könnte überdies mit 172, 29 zu Ende sein, doch der Erzähler setzt nochmals eins drauf, und dieser 'überschüssige' Nachschlag enthält Entscheidendes. Die erzählerische Markierung ist deutlich genug: ich wil iu mer von wibes orden sagen (172, 30). Die extreme Konzentration, die diese sechs Verse kennzeichnet, ist von hoher Aussagekraft fUr die Wolfram eigentümliche Erzählweise. Der bei Chrt!tien ausschließlich als Vermittler ritterlichen Tuns und Verhaltens fixierte Gornemans wird also bei Wolfram überraschenderweise zum Sprachrohr der wip, wobei Genesis 2, 24 durchschlägt, und auch die Stimme Wolframs aus dem Prolog hörbar ist. 16 So spricht Gurnemanz denn auch von wibes orden (172, 30), wo man, wie bei Chretien der Fall, mit dem ordre de chevalerie rechnen würde; doch das hat Wolfram bereits seiner Herzeloyde in den Mund gelegt (126, 7), so wie er andererseits die Klage über die im Ritterkampf erschlagenen Familienangehörigen von Herzeloyde auf Gurnemanz verlagert. Durch diese Verschränkung von Herzeloyde und Gurnemanz wird die Einheit von wip und man kompositorisch illustriert. Damit ist keineswegs alles mit allem vertauschbar. Herzeloyde bleibt unverwechselbar Herzeloyde, und Gurnemanz bleibt Gurnemanz, aber es wird der gemeinsame Seinsgrund offengelegt. Wenn Gurnemanz dabei seine Worte in die nicht beliebig gesetzte Lichtmetapher kleidet, so verleiht das seiner Aussage weitere Kraft und fUgt die Information über die Gleichheit von man und wip ein in einen großen, auch kosmischen Zusammenhang. Man denke zurück an Herzeloydens Worte über Gott als Licht und an Parzival selbst. Die urchristliche Sonne/Tag-Metapher strahlt also auch über diese Passage ihr Licht aus und verbürgt die Zuversicht spendende Einsicht in die differenzierte Einheit des Seienden im Schöpfungswerk. Auf die Lichtmetapher folgt überdies, nicht minder Wolframisch, die Fruchtmetapher. Aus einem Kern blühen man und wip hervor; ein Bild, das sich vom Inhalt der Aussage her keineswegs aufdrängt, so wenig wie sunne 16 Eine andere Stelle bietet sich zum Vergleich an: Bei Chretien empfllngt der buens horn den bereits Bußtränen vergießenden Perceval, 6316, 6337, 6351ff., der ihm zu FUßen flUlt und fordert ihn sogleich auf a dire sa corifession, 6361. Auch da hat Wolfram gründlich geändert. Zur Überraschung des Lesers lenkt der Einsiedler das Gespräch auf das Thema Minne, 456, 17ff., geht auf Parzivals Eingeständnis - das ist von der Beichte Ubrig geblieben - gar nicht ein, sondern erkundigt sich vielmehr danach, wie Parzival hierher gekommen sei. Er läßt dann durchblicken, daß er einst selbst Ritter war und nach Minne strebte, 458, 6f. Erst später, Parzival hat von seinem Kummer berichtet - nicht in Form der Beichte! -, setzt der religiöse Zuspruch des Einsiedlers ein, 461, 27ff. Das ist einerseits eine Humanisierung durch Abkehr vom festen Ritual, andererseits wird aber über das Situationsbedingte hinaus zugleich im religiösen Kontext der Rang von Minne und Ritterschaft verdeutlicht; auch das ein Aspekt des erzählerischen Vergegenwärtigens!

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und tac. Mit diesem Vers vom Blühen aus einem Kern stellt sich die Assoziation ein zu dem gegenüber Chn!tien grundsätzlich veränderten Natureingang, dazu kommen die weiteren Anknüpfungspunkte: in 109, 11 wird der noch Ungenannte bei der Geburt vorausschauend als aller ritter bluome bezeichnet, von den weiteren Stellen und den vruht-Belegen zu schweigen. Daraus ist ersichtlich, daß es Wolfram darauf ankommt, mit erzählerischer Gewaltsamkeit aus der glatten und voraussehbaren Erzählweise auszubrechen und nicht ohne epische Rücksichtslosigkeit seine Personen und Probleme einem bestimmten und zentralen Assoziationsfeld zuzuordnen, um eben auf Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die nicht unbedingt evident erscheinen mögen. Eine Überlegung verdient dabei das Adverb künstecliche, womit dem Jüngling die wip/man-Lehre zur Beachtung anvertraut wird. Diese Wortwahl ist ebenfalls nicht selbstverständlich, auch wenn es schwer sein dürfte, ihr exaktes Gewicht hier zu ermitteln. Im unmittelbaren Anschluß daran ist von künste und kunst in Verbindung mit dem ritterlichen Waffenhandwerk die Rede (173, 20; 173,28; 175, 10); man denkt an den Prolog zurück, wo Wolfram von seiner künste spricht (4, 4).17 Auf die pointierte Lehre des Gurnemanz läßt Wolfram seinen Helden nicht minder beziehungsreich reagieren. Der Dankesgebärde folgt die Feststellung, daß nun Parzival aufhört, sich auf seine Mutter zu berufen. Damit könnte es auch sein Bewenden haben, wenn man normaler erzählerischer Logik folgt. Es heißt aber, daß Parzival siner muoter gesweic mit rede, nicht aber in dem herzen, wozu noch der Kommentar kommt: als noch getriuwem man geschiht (173, 10). Mit herze und getriuwe ist man auf festem Boden. Das weist zurück, deutet verläßlich in die Zukunft und wirkt mit an der Schaffung der großen erzählerischen Simultanbühne, in der nach Wolframs Poetik die Menschen, Zeitabläufe und Geschehnisse ihren Halt haben. In das Beziehungsfeld, in dem Schönheit, Rittertum, Minne und triuwe einander bedingen, hat Wolfram als nicht minder gewichtigen Strang auch noch den herzen jamer eingeflochten als Wesensbestandteil der Wirklichkeit, die, wenn auch als Schöpfungswirklichkeit geglaubt, der grausamen Härte nicht entbehrt. Herzeloyde stirbt im Jammer, kein Legendenwunder nimmt ihn von ihr. Freilich ist Parzival, der dieses jammervolle Sterben verursacht, in einen jamer besonderer Art hineingeboren, was wiederum bestätigen soll, wie alles 17 Auch da ergibt sich ein weites Assoziationsfeld, dem hier nicht im einzelnen nachgegangen werden kann; es sei nur noch an die wichtigen Verse im 9. Buch hingewiesen: mac gates kunst die helfe Mn [... ] (452, 5) und an den Willehalmprolog: [ ... ] wan Mn ich kunst, die git mir sin! (2,22). Wenn Haug, 1985, 172, kritisiert, daß man "allzu bedenkenlos" Beziehungen zwischen Willehalm und Parzival hergestellt habe, so halte ich das grundsätzlich nicht rur gerechtfertigt, da ich meine, diese Bedenkenlosigkeit komme durchaus den Absichten Wolframs entgegen.

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zusammenhängt. Parzival, der in seiner Lichthaftigkeit das Gottebenbildliche im Menschen auf bevorzugte Weise vergegenwärtigt, bewirkt, daß der Tod in seine Welt kommt, ein Tod aber, der nicht aus dem Heilsplan herausfällt. Eine Schlüsselposition nehmen in diesem Zusammenhang die Passagen am Ende des zweiten Buches ein, bevor die sogenannte Selbstverteidigung einsetzt, deren Plazierung gerade an dieser Stelle nicht von ungefähr sein dürfte. Herzeloyde, des landes vrouwe, begießt sich mit ir herzen jamers touwe (113, 28) und läßt ihre Augen auf den Neugeborenen herabregnen, wobei der Erzähler metonymisch Augen rur Tränen setzt. An der biblischen Qualität von Tau und Regen ist nicht zu rütteln. Das überraschend Kühne an Wolframs Versen ist die Tatsache, daß dieser Tau und dieser Regen aus des herzen jamer hervorbrechen, was diesem heilsgeschichtliche Würde verleiht. Dieser Regen ist dann auch Parzivals Taufwasser. Im Gegensatz zum Tristan ist im Parzival nirgends von dessen Taufe die Rede. Das biblisch geprägte Umfeld weitet sich, und es ist zu fragen, wie denn Wolfram überhaupt mit Bibelzitaten und -analogien umgeht und was er damit bezwecken will. Da dies eine eingehende Erörterung verdiente, können hier nur einige Anmerkungen gemacht werden; sie beschränken sich auf die Exposition des Parzival. Schon dabei dürfte klar werden, daß es Wolfram darum geht, das unverwechselbar Menschliche nicht einfach in biblischen Mustern sich verlieren zu lassen, sondern darum, daß in einer Art wechselseitiger Durchdringung im Menschlichen - hier in Gestalt der Herzeloyde, einer zutiefst irdischen Frau - das Biblische sich offenbaren kann, als Apokalypse, Menschwerdung, Kreuzigung, Jüngstes Gericht. Das alte epische Muster, wonach die bevorstehende Geburt eines außergewöhnlichen Menschen durch Vorzeichen angekündigt zu werden pflegt, wird bei Herzeloyde und Parzival mittels der Einbeziehung der Bibel überhöht: Anspielung auf die apokalyptische Frau, die einen Sohn gebiert, auf den Drachen und die Flucht der Frau in die Einöde. Zugleich wird hinter der Entbundenen die Gottesmutter als Maria lactans sichtbar, und im selben Kontext ist bereits (113, 20 - 26) der Gekreuzigte präsent und der Richter beim Jüngsten Gericht (dazu Bertau, 1983, 259ff.). Die triuwe des Menschgewordenen und Gekreuzigten (113, 22) hat unmittelbar darauf in der wibes triuwe der Herzeloyde ihre Entsprechung (113, 30). Wenn der im Tod Gahmurets gründende herzen jamer der irdischen Frau Herzeloyde Tränen hervorbringen kann, die Tau und Regen sind, dann bedeutet das potentiell eine grundsätzliche Aufwertung des menschlichen Jammers überhaupt. Mit dieser Orchestrierung endet das zweite Buch und damit die Vorgeschichte. Durch diese Position im Gesamtwerk erhalten diese mit biblischen Analogien durchsetzten Passagen, mit denen Wolfram Herzeloyde auszeichnet, eine Aussagekraft, die die Perspektive der anschließenden Haupt-

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handlung entscheidend beeinflußen mußte. Daß Wolfram an dieser Stelle auch noch seine Selbstverteidigung anbrachte, in der es um wip, schildes ambet und Selbsteinschätzug des Dichters geht - maere und aventiure gegen buoch ausspielend - , gibt zusätzliches Gewicht, das bei allen poetologischen Erwägungen hinsichtlich des Parzival zu berücksichtigen ist. Das dritte Buch setzt denn auch massiv mit dem Tenor des herzen jdmers Herzeloydens ein, indem es ihn ganz in der triuwe dieser Frau verankert. 18 Jeschute wird dann ihren Anteil an demjdmer haben, Sigune ihren rehtenjdmer in die symbolhafte Felslandschaft hineinschreien, der Tod Ithers wird Ginover injdmer stürzen, der vorbildhafte Ritter Gurnemanz wird auf besonders bewegende Weise vom jdmer betroffen sein, und Parzival selbst wird am Beginn des vierten Buches nach dem Abschied von Gumemanz und Liaze vor jdmer die Kontrolle über sein Pferd verlieren (180, 1). Verglichen mit dem psychologisch wohlfundierten jdmer der Herzeloyde oder des Gumemanz mag der jdmer Parzivals an dieser Stelle als unvorbereitet und nicht recht angemessen erscheinen. Daß Wolfram sich das leisten kann, ist ein Indiz daftlr, daß man es bei derartigen Erscheinungen eben mit einem integrierenden Bestandteil seiner Poetik zu tun hat. Demnach muß es uns genügen zu erfahren, daß ftlr Parzival, der eben aus dem Stadium der tumpheit (179, 23) herausgeholt wurde, nun sein herze (179, 22) zu einer bestimmenden Macht wird und er somit auch Anteil am jdmer erhalten kann, was nicht Einebnen bedeutet. Man darf aber nicht beim Feststellen des jdmers stehen bleiben. Dieser jdmer führt Parzival von den gebahnten Wegen weg, was filr seine Bewegungsweise, im Gegensatz zu der Gawans, typisch ist (vgl. Mohr, 1979, 66f.). So und nur so wird Parzival nach Pelrapeire gelangen, wo ihn der wdre jdmer der Conwirämürs erwartet (191, 28), der auf seine Weise am Heil mitweben wird. Jeder irdische Jammer ist aufgehoben in einer Sinnhaftigkeit, die ihn trägt und ihn auf ein Zentrum bezieht. Überschlägt man mehr als 4000 Verse - von Weiterem abgesehenund wendet man sich der entscheidenden Szene der Verwünschung Parzivals durch Cundry zu, so erweist sich erneut die Bedeutung des Jammers, der das Geschehen gliedert und mit Sinn erfüllt, der über die Einzelepisode hinausweist. Von Cundry heißt es, groz jdmer si fjz ir ougen truoc (318, 8) auch Kingrimursel wird darin einbezogen (320, lfI.), und Munsalvaesche erscheint als des jdmers zil (318, 29). Parzival, trurens niht erlOst (329, 18) und damit an den truregen vischaere angenähert, bekennt sich gegenüber der Heidin Janffise zum Jammer: min sol groz jdmer also phlegen, daz herze' gebe den ougen regen (330, 21f.) Mit dem Augen-Regen, der aus dem Herzen kommt und vom Jammer bewirkt wird, stellt sich parzival selbst auf die Stufe, auf die der Er18 Stellt man dem herzenjdmer Herzeloydens den heillosen herzenjdmer der Kriemhilt gegenüber, so ist man erstaunt über die Spannweite, über die die große volkssprachliche Dichtung um 1200 verfilgte.

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zähler einst Herzeloyde stellte, und indem Parzival das biblische Bild vom Regen filr sich beansprucht, läßt ihn Wolfram in dieser verzweifelten Situation bereits das Heil vergegenwärtigen. Wolframs Einfallsreichtum und sein Kombinationsvermögen bei den immer neuen Umschreibungen filr die Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Jammers, und die Hartnäckigkeit, mit der er dieses Phänomen umwirbt - im Willehalm wird er als Erzähler sogar die kühne Aussage wagen: sinen [Willehalms]jamer sult ir prisen (52, 1) - zeigen, daß es dabei um die Substanz Wolframschen Erzählens geht. Dieser jamer kann seine Wurzeln z.B. in dem exemplarischen und heilsträchtigen Schmerz Mariens haben. Mit der Analogie allein ist es aber nicht getan, entscheidend ist eben, daß sie in Wolframs Erzählweise und in sein Gesamtwerk integriert und darin wirksam gemacht wurde. Man könnte durchaus von einer Poetik des Jammers sprechen, die zugleich Poetik der triuwe, der Minne und des unverzagten mannes muotes wäre. Wie wirksam diese Poetik ist, sei an einem eher harmlosen Beleg, den man als Indiz filr eine 'Inflation des Jammers' mißdeuten könnte, illustriert. Der Ritter am Hofe des Gurnemanz, der unter der Rüstung die Narrenkleider entdecken muß, dessen ungeachtet aber in einen Hymnus auf die Schönheit des Jünglings ausbricht, sagt: mich jamert immer daz ich vant an der werlde vreude alsolh gewant (164, 17f.). Ich möchte durchaus erwägen, daß für Wolfram auch dieser banale Jammer-Beleg einzuordnen ist, wenn auch als kleines Element nur, in das facettenreiche Jammer-Thema, das ihn nie losgelassen hat. In der erwähnten Passage 330, 24 verdichtet sich dazu der Kontext, wenn Parzival vom Verlust der waren vreude, spricht - in Opposition zu grüenen vreude (330, 20), womit das Naturhaft-Frühlingliche evoziert wird (die ware vreude kennt man auch von Sigune: ir was diu ware vreude enzwei, 138, 14). Über die wunder des gral wird in Erinnerung an den siufzebaeren Amfortas (330, 26ff.) das helfe-Thema angeschlagen, das wenig später Gawain rur sich und Parzival beanspruchen wird (331, 28) und das zurückweist zur religiösen Unterweisung durch Herzeloyde, so daß auch über das Wort helfe in dieser kritischen Situation das Göttliche präsent wird. Daß die Szene durch Parzivals Worte zum Lobpreis der Minne (332, 10ff.) führt und in die Ankündigung von schildes ambet umbe den gral (333, 269) mündet, bildet den adäquaten Abschluß. Es sei hier abgebrochen, und es soll versucht werden, aus dem fragmentarischen Befund Schlüsse zu ziehen in Hinblick auf die eingangs gestellte Frage nach Ursprung und Sinn der so extrem unkonventionellen Erzählweise Wolframs; auf die eine oder andere Bemerkung kann dabei zurückgegriffen werden. Aus Wolframs vehementer Äußerung, daß sein Opus nichts mit einem buoch zu tun habe, läßt sich ein besonderer Anspruch ableiten. Demnach be-

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trachtete er die üblichen literarischen Kategorien als unzureichend für eine zutreffende Beurteilung seines Werkes, von dem er offenbar überzeugt war, daß es mehr sei als bloße Literatur; mehr als Chretiens Gralroman, mehr als die moult bel conjointure der Artusritterromane, mehr wohl auch als einseitig erbauliches Schriftum. So könnte es sein, daß er sein niuwen verstand als radikales Öffnen seiner Erzählwirklichkeit gegenüber der christlich verstandenen Gesamtwirklichkeit in ihrer überraschenden und zugleich geordneten Fülle. So hält auch er auf Schritt und Tritt Überraschungen für den HörerlLeser bereit, die zugleich in ein vielgestaltiges und verläßliches Assoziationsnetz eingebettet sind, das von der Präsenz der großen Themenstränge getragen wird. Er hätte damit versucht, mit seinem maere die in der Vorlage angelegten Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, auf daß erzählerisch das nachvollziehbar und nacherlebbar werde, was grundsätzlich die heilsgeschichtlich geordnete Welt auszeichnet. Dieser Anspruch, einen derart umfassenden Widerspiegelungsversuch zu konzipieren und ihn verwirklichen zu wollen, sollte in der Literaturgeschichtsschreibung und in den Arbeiten zur mittelalterlichen Poetik mit mehr Nachdruck hervorgehoben werden. Wolfram hätte also erkannt, daß er in diesem Bemühen die literarischen Fesseln sprengen müsse, damit in seinem Werk ein Abbild dieser Gesamtwirklichkeit entstehen könne. So emanzipierte er sich von der herkömmlichen buchhaften Syntax und unterwarf sich die Grammatik, so dachte er sich seine extravaganten Metaphern aus, um sich von ihnen weiter hinein verlocken zu lassen in die wuchernde, doch letztlich eben nicht gesetzlose Fülle seines dynamischen Werkes. Die im Mittelalter verbreitete Neigung zu Sprachspielerei und Wortwitz - besonders wirksam in der satirischen lateinischen Dichtung - , wofür Wolfram ebenfalls eine Disposition gehabt haben muß, konnte sich in seiner großen Konzeption voll ausleben; so braucht man auch natürlich nicht hinter jeder amüsanten Satzverrenkung Wolframs einen letztlich geistlich geprägten Hintersinn zu vermuten. Andererseits wäre es aber ebenso einseitig, den großen Rahmen, in dem sich die Sprachgestaltung Wolframs - auch zum irdischen Vergnügen des Lesers - austoben kann, nicht zu sehen. So fügte er aneinander, was seine literarisch beengten Zeitgenossen als miteinander unvereinbar betrachten mußten. 19 So vermochte er auch ohne Hemmungen das Autobiographische hineinzurnischen - bis zur Puppe der Tochter - , so konnte er seine erotischen Späße machen und Komik und Humor in die unmittelbare Nähe des Erhabenen setzen. Mittels dieser Erzählweise mit ihrem universellen Verweisungscharakter entstand auch tatsächlich ein Kosmos, vergleichbar dem Buch der Natur und der Heilsgeschichte, in dem alles und jedes, mit dem Ganzen verwoben, Platz fmden konnte und aus dem nur das Böse, der ware valsch her19 Hier ist natürlich an Wolframs unbarmherzigen Kritiker Gottfried zu denken, der auf seine Weise eine andere Universalität des Eros in der Dichtung vergegenwärtigen wollte.

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ausflillt; doch selbst noch in dieser Fügung, die an den waren minnaere, an den waren jamer denken läßt, wäre das erzählerische Grundprinzip wirksam. Wolfram, der sich, wie mir scheint, mit dieser seiner Erzählweise am Exemplum der Bibel und der darin begründeten interpretatio christiana der Schöpfung orientierte, machte seinerseits das dergestalt durchleuchtete Ritterdasein zu einem Exemplum für die Mit- und Nachwelt. Im Parzival, der sich der Hauptsache nach nicht in der geschichtlichen Welt abspielt, sondern in der sacht distanzierenden Irrealität des Artus-Gralbereichs, konnte dieses Exemplum dem mächtigen Literaturgenus des Artusritterromans eine neue Grundlage und neue Perspektiven geben. Im Willehalm, worin Wolfram sich der vollen Wucht der Wirklichkeit des Krieges stellt, die die Sippe in ihrem Kern trifft, und worin die Tragik bedrückende Ausmaße erreicht, scheint diese Erzählweise, die immer alles Wesentliche vergegenwärtigt und somit das Heil garantiert, als Prinzip an Bedeutung einzubüßen, so als wäre Heilszuversicht erzählerisch nur noch an bestimmten privilegierten Punkten des Geschehens aufrecht zu erhalten, dort allerdings, wie beim Sterben des Vivians, mit besonderer, fast verzweifelter Intensität. Das alles durchstrahlende Licht Parzivals ist im Willehalm eher punktuell faßbar, etwa bei Rennewart, und auch die süeze eines Vivians, stark genug, wie Willehalm (62, 12ff.) meint, um das Meerwasser umzuwandeln, was theoretisch auf ein universelles Prinzip hindeutet, erhält in der Erzählweise nicht mehr diese alles durchwirkende Macht. Das wiederum hätte einer oft allzu wohlfeil erbaulichen Legendendichtung als Exemplum dienen können.

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Die antiken Episoden in Chaucers frühen erzählerischen Werken 1. Der strukturelle Ort der Episoden

Chaucers frühe erzählerische Werke, The Book ofthe Duchess, The House of F ame und The Parliament ofFowls, 1 weisen eine gleichartige narrative Struktur auf: Die Erzählungen beginnen mit einer Einleitung aus der Perspektive des Ich-Erzählers, und sie kehren am Schluß - mit Ausnahme des Fragment gebliebenen The House of Fame - zu dieser Perspektive zurück. Auf den Prolog folgt eine Episode, die der antiken Literatur entnommen ist und eine Thematik anklingen läßt, die im Hauptteil des Werkes in unterschiedlicher Akzentuierung entfaltet wird. Während in der antiken Episode die Stimme der Tradition dominiert, gewinnt im Hauptteil die Stimme des Ich-Erzählers größeres Gewicht, die einem Traumerlebnis Ausdruck verleihen soll, auch wenn in diesem Teil Quellen der unterschiedlichsten Provenienz, d.h. aus der antiken und mittelalterlichen, der lateinischen, französischen und italienischen literatur verwendet werden. Die antike Episode bildet damit einen Kontrast zum gegenwärtigen Geschehen, die Stimme der "auctoritee" wird mit der Stimme der "experience" konfrontiert (vgl. Erzgräber, 1986, 67-87, sowie Lawler, 1968, und Mehl, 1973). Das Verbindungsstück wird durch die Beschreibung einer (Traum-)Wanderung oder einer (Traum-)Reise hergestellt. In The Baok afthe Duchess führt der Weg des Ich-Erzählers zum schwarzen Ritter, in The House of Fame wird der Ich-Erzähler Geffrey zum Haus der Fama getragen und in The Parliament of Fowls führt ihn der Weg zur Göttin Natura und zum Parlament der Vögel. Im Hinblick auf die Wanderung könnte man auch sagen: Die antike Episode liefert dem erzählerischen Ich, dem Träumer, eine Orientierungshilfe, deren Gültigkeit er auf seinem Weg in die Wirklichkeit überprüfen kann. 1 Die Werke Chaucers werden nach der von Benson 1988 edierten Ausgabe The Riverside Chaucer zitiert. Folgende Abkürzungen werden in den Zitaten gebraucht: BD = The Book 0/ the Duchess; HF = The House 0/ Farne; PF = The Parliarnent 0/ Fowls; LGW = The Legend 0/ Good Wornen; CT= The Canterbury Tales; MkT= The Monk's Tale.

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2. Die Ceyx und Alcyone-Erzählung in The Book ofthe Duchess Die Erzählung von Ceyx und Alcyone läßt sich in filnf Abschnitte gliedern. Der erste Abschnitt (BD, 62-89) gibt in einem einfachen Berichtstil nur einige wesentliche Fakten wieder: Der König kam bei einer Fahrt über das Meer (gemeint ist das Mittelmeer) ums Leben; die Königin Alcyone grämt sich, weil der König nicht zurückkehrt, und läßt nach ihm suchen, ohne Erfolg zu haben. Der zweite Abschnitt (BD, 90-134) gibt eine detaillierte Darstellung ihrer Trauer. Auf die Klage der Königin folgt ein erzählerischer Bericht, der auf das Leitmotiv "sorwe" (BD, 100) abgestimmt ist. Es schließt sich wiederum in direkter Rede ein Gebet an, in dem Alcyone die Hilfe Junos erbittet: Sie hofft, in einem Traum Gewißheit über das Schicksal des Königs zu erhalten. Diese Bitte Alcyones wird sodann durch Juno erfUllt. Im dritten Abschnitt (BD, 135152), der nahezu ganz aus direkter Rede besteht, gibt Juno ihrem Boten den Auftrag, die Gestalt des Ceyx anzunehmen und in dessen Gestalt zu ihr zu sprechen. Der vierte Abschnitt (BD, 153-177) beschreibt den Weg des Boten, und der fünfte (BD, 178-220) schildert die Ausführung von Junos Auftrag durch Morpheus, den Gott des Schlafes; innerhalb dieses Teiles tritt die Passage besonders hervor, an der Morpheus in der Gestalt und Rolle des Ceyx zu Alcyone spricht. Zum einen fällt der gütig-liebevolle Ton in der Anrede auf; er nennt sie: "My swete wyf' (BD, 201) und "goode swete herte" (BD, 206) oder einfach nur "swete" (BD, 209). Zugleich aber stellt er mit nüchtern-sachlichem Ton fest: "I am but ded; Ne shul me never on lyve yse" (BD, 204-205). Ebenso knapp und sachlich sind die darauf folgenden Angaben des Erzählers über den raschen Tod Alcyones. Den Stoff konnte Chaucer Ovids Metamorphosen, XI, 410-748, entnehmen (vgl. Clemen, 1963, 46-52); allerdings ist hervorzuheben, daß Ovids Beschreibung des Sturmes breit angelegt ist und daß die Erzählung auf eine für ihn und sein Werk typische Weise endet: Ceyx und Alcyone werden in Seevögel verwandelt. In Ovids Darstellung fehlt jegliche Härte: der Tod wird gemildert, durch Liebe und Güte überwunden. Für Chaucer schied eine solche Lösung aus. Für ihn ist der Tod des Ceyx ein unabänderliches Faktum, der Tod der Alcyone eine Folge ihrer Trauer; sie setzt die Klage über ihren Verlust, ihre Sorge, absolut und mißachtet das Wort des Morpheus: [... ] Let be your sorwfullyf; For in your sorwe there Iyth no red; (BD, 202-203).

Vereinfacht gesprochen könnte man diese Episode ein negatives Exemplum nennen: Morpheus hat (als Ceyx) für die trauernde Alcyone keinen Trost be-

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reit, sondern nur Anteilnahme und einen Rat, dem sie nicht folgt, ob aus Unvermögen oder aus Trotz, läßt der Erzähler offen. Die volle Bedeutung dieser Episode erschließt sich erst, wenn man sie mit dem Auftritt des Schwarzen Ritters in Verbindung bringt. Dieser Auftritt und die Alcyone-Episode entsprechen sich spiegelbildlich. Während Alcyone über den Verlust ihres Gatten klagt, trauert der Schwarze Ritter über den Tod seiner Gattin. Seine Klage wird allerdings viel differenzierter dargestellt: Im Vergleich zu seinem Monolog über das Leid, das ihn betroffen hat, und seinem Dialog mit dem Träumer wirkt die Alcyone-Szene holzschnittartig einfach (vgl. Clemen, 1938,44). Dennoch hat Chaucer den inneren thematischen Zusammenhang sprachlich angedeutet; auch der Auftritt des Schwarzen Ritters ist auf das Leitmotiv "sorwe" abgestimmt. Es fmdet sich in den Partien, in denen der Träumer seinen ersten Eindruck vom Schwarzen Ritter wiedergibt (vgl. BD, 488: "Hys sorwful hert gan faste faynte"; BD, 507: "Hym thoughte hys sorwes were so smerte"; BD, 509: "hys sorwe and hevy thoght"), weiterhin in den Worten, die der Träumer an den Ritter richtet (vgl. BD, 547: "Me thynketh in gret sorowe I yow see" und BD, 555: "And telleth me of your sorwes smerte"); schließlich fmdet sich dieses Wort auch in der Selbstbeschreibung, die der Ritter im Dialog und dem Träumer vorträgt: Seine Klage gipfelt in dem Satz "I have more sorowe than Tantale" (BD, 709). Spiegelbildlich entsprechen sich auch die Sätze, in denen das unabänderliche Faktum, daß der geliebte Mann bzw. die geliebte Frau tot sind, ausgesprochen wird - mit dem Unterschied, daß in der Alcyone-Episode MorpheusCeyx feststellt: "I am but ded" (BD, 204), während der über den Tod der Frau trauernde Schwarze Ritter den Dialog mit der lakonischen Bemerkung zu Ende fiihrt: "She ys ded!" und danach nur noch bekräftigend hinzufiigt: "Yis, be my trouthe!" (BD, 1309). Trost und Zuspruch vermag der Träumer nicht zu spenden, wohl aber bekundet er sein Mitgefiihl: "Is that youre los? Be God, hyt is routhe!" (BD, 1310). Wenn von Tröstung in The Book 0/ the Duchess gesprochen wird, dann ist sie nicht am Ende des Dialogs zu fmden, sondern in dem ausfiihrlichen Portrait der Verstorbenen, wozu der Ritter durch die subtile Gesprächsfiihrung des Träumers veraniaßt wird. Diesen Aspekt hat Wolfgang Clemen bereits herausgearbeitet und festgestellt: Das bis in alle Einzelheiten hinein ausgefilhrte Porträt seiner verstorbenen Frau und ihre Lobpreisung, die den Mittelpunkt der Erzählung des Ritters bildet, konnte ihm den Weg weisen, durch die Erneuerung ihres Bildes in der Rückerinnerung Kraft und Tröstung zu finden, auch inmitten des jähen Schmerzes, der ihn umgab. (Clemen, 1963,63)

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Der Hauptunterschied zwischen dem Schwarzen Ritter und Alcyone besteht gerade darin, daß er selbst die Kraft hat, ein Portrait der Verstorbenen als höfische Geliebte zu entwerfen und damit die Kraft der Liebe und des Lebens zu preisen, während Alcyone auf die Worte des Morpheus-Ceyx nur mit einem "Allas!" (BD, 213) antwortet; danach hören wir nur noch, daß sie drei Tage später starb. Der Schwarze Ritter dagegen kehrt nach seiner Klage an den Platz im gesellschaftlichen Leben zurück, der ihm angemessen ist: "A long castel with walles white, / Be Seynt Johan, on a ryche hil" (BD, 1318-1319). Es scheint, daß Chaucer hier mit Absicht auf Lancaster, die Herzogin Blanche, John of Gaunt und Richmond anspielte, d.h. auf seinen Gönner und dessen am 12. September 1368 verstorbene Gattin. Es wäre jedoch einseitig, wollte man The Book 0/ the Duchess nur als einen Ausdruck des Mitgefiihls bewerten, das Chaucer in der Rolle des Träumers fiir John of Gaunt in der Rolle des Schwarzen Ritters ausdrückte. In dieser Dichtung ist auch ein didaktisches Element enthalten, das Chaucer mit Takt und dennoch rur jeden Leser greifbar eingebaut hat. Im Gespräch mit dem Schwarzen Ritter fmdet sich folgende Ermahnung des Träumers: "A, goode sir," quod I, "say not soo! Have som pitee on your nature That formed yow to creature. Remembre yow of Socrates, For he ne counted nat thre strees Ofnoght that Fortune koude doo". (BD,714-719)

Sich im Übermaß der Trauer und dem Kummer zu überlassen, verstößt gegen die Natur, genauer gesagt: gegen das Naturgesetz, die lex naturalis, die dem Menschen gebietet, alles zu tun, "wodurch das Leben des Menschen erhalten und das Gegenteil abgewehrt wird" (Thomas von Aquin, Summa theologia 111, q.94, a.2, vgl. Erzgräber, 1988, 120). Der Hinweis auf Socrates ist in diesem Kontext ein Beispiel rur seine Selbstbehauptung gegenüber der Fortuna; der Entschluß des Philosophen, den Schierlingsbecher zu trinken, wird hier eliminiert. In den Versen BD, 721-741 zitiert der Träumer Exempla aus der antiken Literatur und der Bibel, die insgesamt von Personen handeln, die sich dem Übermaß der Trauer überließen, und in der Folge - gegen das Gebot der Selbsterhaltung - Selbstmord begingen: "Why so, good syr? Yis parde!" quod y; "Ne say noght soo, for trewely, Thogh ye had lost the ferses twelve, And ye for sorwe mordred yourselve,

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Ye sholde be dampned in this cas By as good ryght as Medea was, That slough hir children for lasoun; And Phyllis also for Demophoun Heng hirself - so weylaway! For he had broke his terme-day To come to hir. Another rage Had Dydo, the quene eke of Cartage, That slough hirselffor Eneas Was fals - which a fool she was! And Ecquo died for Narcisus Nolde nat love hir, and ryght thus Hath many another foly doon; And for Dalida died Sampson, That slough hymselfwith a piler. But ther is no man a1yve her Wolde for a fers make this woo!" (BD,721-741)

Der Träumer gibt jeweils in wenigen Zeilen an, was geschah, und er fUgt in einigen Fällen auch hinzu, weshalb der betreffende Charakter in den Freitod ging. Es handelt sich bei den zitierten Stoffen um knappe Exempla, die einen bestimmten Sachverhalt erläutern und als Wambilder benutzt werden. Der Träumer stellt dazu eine deutliche Beziehung zur Situation des Schwarzen Ritters her, der zuvor davon spricht, daß er im Schachspiel mit der Fortuna seine Königin "fers" verlor (vgl. BD, 669 und 681).2 Den Schachterminus, der in diesem Dialog eine metaphorische Funktion hat und auf die Herzogin Blanche hinweist, greift der Träumer auf (vgl. BD, 723 und 741), und er artikuliert dabei zugleich seine Ermahnung des Schwarzen Ritters: Thogh ye had lost the ferses twelve, And ye for sorwe mordred yourselve, Ye sholde be dampned in this cas By as good ryght as Medea was, [... ]. (BD,723-726)

Würde sich der Schwarze Ritter gleich Alcyoae dem Übermaß an Trauer überlassen, dann würde er willentlich seinen Tod herbeifiihren und sich damit wie die Figuren aus den Exempla der Verdammnis ausliefern. Er würde damit handeln wie Alcyone, zu der Morpheus-Ceyx sagt: "in your sorwe there lyth

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Vgl. dazu Chaucer, 1988, S. 972-973. Anm. zu BD, 723.

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no red" (BD, 203). Mit Hilfe der Alcyone-Erzählung will der Träumer dem Schwarzen Ritter vernünftigen Rat zukommen lassen. Es ist charakteristisch für Chaucers Verfahrensweise, daß er den ich-Erzähler nicht aus dem Kreis der Leidenden heraushält und ihm eine richterliche Position zuweist, die ihn -vor allem einem Herzog gegenüber - als arrogant und verblendet erscheinen lassen könnte. Zu Beginn der Dichtung charakterisiert sich der Ich-Erzähler als einen Liebhaber, der an unerfiillter Liebe leidet: And wel ye woot, agaynes kynde Hyt were to Iyven in thys wyse, For nature wolde nat sufIYse To noon erthly creature Nat longe tyme to endure Withoute slep and be in sorwe. And 1 ne may, ne nyght ne morwe, SIepe; and thus melancolye And drede 1 have for to dye. (BD, 16-24)

Diese Verse lassen deutlich erkennen, daß es rur Chaucer einen inneren Zusammenhang zwischen Trauer-Schlaflosigkeit-Melancholie und Tod gibt. Der leicht ironische, gelegentlich auch humorvolle Ton in der Sprache des ich-Erzählers deutet an, daß er sich von seinem Leid letztlich doch zu distanzieren vermag und auf Seiten der lebenserhaltenden Kräfte steht (vgl. Erzgräber, 1988, 121-122). Er wird gleichsam selbst zu einem exemp/um, und das bedeutet: zu einem specu/um, zu einem Spiegel, in dem der Schwarze Ritter sich selbst als Trauernden wahrnehmen kann, dem aber zugleich mit dem Ich-Erzähler ein Gegenbild vorgehalten wird.

3. Die Dido-Episode in The House 0/ Fame Zwischen der Alcyone-Episode in The Book 0/ the Duchess und der DidoEpisode in The House 0/ Fame bestehen zwei Unterschiede: 1. Die Dido-Episode ist ein Teil des Traumes, während die antike Episode in The Book 0/ the Duchess dem Traumgeschehen vorausgeht. 2. Die Dido-Episode ist umfangreicher; sie umfaßt die Verse HF, I, 151-467, d.h. sie macht den größten Teil des ersten Buches von The House 0/ Fame aus. 3 Streng genommen sollte man 3 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die eindringliche und grundlegende Studie von Bennett, 1968.

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von der Aeneas-Episode sprechen, denn Chaucer schildert in Anlehnung an Vergil die wechselvollen Geschicke des Helden der Aeneis, billigt aber der Begegnung mit Dido eine zentrale Bedeutung zu und erzählt sie verhältnismäßig ausführlich. Bei der Wiedergabe der Aeneis bedient sich Chaucer einer eigentümlichen Technik, die aus einer Mischung von Bildbeschreibung und einer raffenden Nacherzählung der Hauptereignisse besteht. Als der Träumer den Tempel der Venus und die Bilder betrachtet, mit denen dieser Tempel geschmückt ist, liest er auf einer Messingplatte den Anfang der Aeneis: "I wol now synge, yifI kan, The armes and also the man That first cam, thurgh his destinee, Fugityf of Troy contree, In ltayle, with ful moche pyne Unto the strondes ofLavyne." (HF, I, 143-148)4

Es folgen sodann Abschnitte, in denen der Träumer seine visuellen Eindrücke wiedergibt: Er sieht eine Reihe von Szenen abgebildet, die die wechselvollen Geschicke des Aeneas wiedergeben. Die Fügung "saugh I" kehrt gehäuft wieder - um das visuelle Element zu unterstreichen. Als Beispiel seien die folgenden Verse zitiert: Ther saugh I such tempeste aryse That every herte myght agryse To see hyt peynted on the wal. Ther saugh I graven eke withal, Venus, how ye, my lady dere, Wepynge with ful woful chere, Prayen Jupiter on hye To save and kepe that navye Ofthe Troian Eneas, Syth that he hir sone was. Ther saugh I Joves Venus kysse, And graunted ofthe tempest lysse. Ther saugh I how the tempest stente, [... ]. (HF, I, 209-221)

Allerdings zeigt sich auch, daß der Träumer sich des Berichtstiles bedienen muß, um eine bildhaft dargestellte Szene, die jeweils nur einen Augenblick des 4 Bei Vergil fehlt allerdings der Bescheidenheitstopos "yif I kan". Er beginnt ganz selbstsicher: "Arma virumque cano".

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Geschehens festhalten kann, in ihrem Sinn und ihrer strukturellen Funktion zu erläutern. Dies läßt sich an der Wiedergabe von Creusas Schicksal (in HF, I, 174-192) beobachten. Noch deutlicher macht sich die Reduktion der beschreibenden Technik in der eigentlichen Dido-Szene bemerkbar. Hier kommt es dem Träumer weniger auf die Wiedergabe des Geschehens an als auf die Herausarbeitung einer bestimmten moralischen Problematik. Es ist daher auch nicht überraschend, wenn Chaucer sich zusätzlich zu Vergils Aeneis auch der Heroiden des Ovid als Vorbild bedient, um Dido zu charakterisieren (vgl. u.a. Bennett, 1968, 35-36). Die besondere Betonung der Liebesthematik bei der Wiedergabe der Vergilschen Aeneis paßt zu dem Milieu, in dem der Träumer die bildhafte Darstellung der Schicksale des Aeneas wahrnimmt: Er befmdet sich im Tempel der Venus, die im gesamten Geschehen eine zentrale Rolle spielt. Sie ist - was Chaucer ausdrücklich durch den Träumer feststellen läßt - die Mutter des Aeneas, der stets ihres Schutzes und ihrer Hilfe gewiß sein darf. Sie gab -was Chaucer unerwähnt läßt - mit dem Raub der Helena den Anstoß für die Konflikte, die zum trojanischen Krieg führten (vgl. Reinhold, 1966, 197). Sie weckte weiterhin in Aeneas die Liebe zu Dido, und ihre Bitte führt schließlich dazu, daß Aeneas an das Ziel seiner Reise gelangt, trotz der mißgünstig-feindlichen Haltung Junos, die alle Trojaner haßt und auf Seiten der Griechen steht. Bereits mit der Creusa-Episode wird die Thematik eingeführt, auf der auch die Dido-Episode basiert: die Trennung zweier Liebender, wobei die Frau in jedem Fall das Opfer einer Entscheidung des Mannes ist, der einem Ziel zustrebt, das jenseits der Erfüllung liegt, die er im Zusammenleben mit der Frau fmdet. Die antike Sage berichtet, daß Aeneas sich für seinen Vater Anchises und die heiligen Gegenstände entschied, die in der Stadt aufbewahrt wurden, nicht aber für Creusa, seine Frau, seine Kinder und seinen Besitz, als es ihm die Griechen ermöglichten, Troja zu verlassen. s Chaucer stellt lediglich fest, daß Venus Aeneas bat, die Flucht zu ergreifen und daß er seinen Vater auf dem Rücken aus der Stadt trug - eine besonders einprägsame Szene, an der sich bereits in der Antike die bildende Kunst immer wieder inspirierte (vgl. auch Reinhold, 1966, 201).

5 Vgl. Reinhold, 1966, S. 200: "We are told, for exarnple, that Aeneas was the only Trojan chieftain freed by the Greeks, and that when given a choice by the Greeks of what he desired most to take with hirn out of the city he chose his father Anchises and the sacred objects of Troy, abandoning his property, his wife and children."

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And took his fader Anchises, And bar hym on hys bak away, Cryinge, "Alias, and welaway!" (HF, I, 168-170)

Von Creusa wird lediglich berichtet, daß sie mit ihren Kindern die Flucht ergriff und dabei starb; über die äußeren Umstände ihres Todes teilt der Erzähler nichts mit, wohl aber stellt er fest, daß Creusa in der Gestalt eines Geistes erschien und Aeneas bat, nach Italien zu fliehen: "As was hys destinee" (HF, I, 188). Dieser Zusatz und auch die vorausgehenden Verse beweisen, daß Chaucer in dieser Episode nicht darauf bedacht war, aus der erzählerischen Innenperspektive das Leid der verlassenen Frau darzustellen, sondern vor allem die Bedeutung dieser Episode fUr das Schicksal des Helden hervorzuheben. Wenn er in die Creusa-Episode zweimal den Vers: "That hyt was pitee for to here" (HF, I, 180 und 189) einbaut, so gibt diese Äußerung lediglich Aufschluß über die innere Anteilnahme des Erzählers an Creusas Leid. Vergleicht man das Grundschema des Geschehens, das der Creusa-Episode und der Dido-Episode zugrunde liegt, so ergeben sich deutliche Parallelen. Auch die Dido-Episode schildert, wie Aeneas eine Frau, die ihn liebt, verläßt. Diese Episode ist jedoch komplexer gestaltet und vor allem wird die psychische Situation der verlassenen Dido breiter dargestellt. Zu Beginn der Episode wird mitgeteilt, wie Aeneas aus einem Sturm gerettet wurde, den Aeolus auf Bitten Junos, "cruel Juno" (HF, I, 198), erregte. Als Gegenspielerin Junos versteht es Venus, Jupiter für ihre Pläne zu gewinnen. Sie gibt Aeneas auch den Rat, nach Carthago zu fahren, wo er die Gefährten wiederfmden werde, die er im Sturm verlor. Der Erzähler wendet sich sodann ohne Umschweife der Begegnung von Aeneas und Dido zu; auch hier setzt er, wie oft, die brevitas-Formel ein und vermerkt: And, shortly ofthis thyng to pace, She [gemeint ist Venus] made Eneas so in grace OfDido, quene ofthat contree, That, shortly for to teilen, she Becam hys love, and let hirn doo AI that weddynge longeth too. (HF, I, 239-244)

Die Beziehung zwischen Aeneas und Dido ist keine förmliche Eheschließung, sondern ein Liebesbund, der einer Ehe gleicht. Ausdrücklich stellt der Erzähler fest:

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[... Jshee Made ofhym shortly at 00 word Hyr Iyf, hir love, hir lust, hir lord, And dide hym aI the reverence And leyde on hym aI the dispence That any woman myghte do, [ ... ]. (HF, I, 256-261)

Diese Verse erinnern an die Ausfilhrungen, die sich in The Franklin's Tale über Ehe und Liebe fmden: In der Ehe ist nach mittelalterlicher Auffassung der männliche Partner der Herr ("lord"), zugleich kann die Ehe als Liebesbund den beiden Partnern die Erftillung bieten, nach der sie im Stil der höfischen Liebe streben (vgl. CT, V [F], 761-798). Es entspricht dem knappen Berichtstil, den der Erzähler im ersten Teil der Dido-Episode bevorzugt, daß er sogleich auf die fragwürdige moralische Haltung des Aeneas zu sprechen kommt, denn er setzt den oben zitierten Satz wie folgt fort: Wenynge hyt had aI be so As he hir swor; and herby demed That he was good, for he such semed. Alias! what harm doth apparence, Whan hit is faIs in existence! (HF, I, 262-266)

Er sieht im Verhalten des Aeneas geradezu ein paradigmatisches Beispiel für das Widerspiel von Sein und Schein: Die Adjektive "good" und "fals" markieren die moralische Spannung, auf die das Verhalten des Aeneas bezogen wird. In knapper, geradezu karger Diktion stellt er über Aeneas fest: "For he to hir a traytour was" (HF, 1,267); und über Dido: "Wherfore she slow hirself, alias!" (HF, I, 268). Die Verse HF, I, 269-292 beweisen, daß Chaucer den Bericht des Träumers als ein Exemplum ausgewertet wissen wollte. Er begnügt sich nicht mit der Feststellung, daß Aeneas sich wie ein Verräter benahm. Mit einem deiktischen "Loo", das an den Stil der Moritatensänger erinnert, schließt er eine verallgemeinernde, freilich in ihrer Art auch engstirnige Feststellung, mit der er das Verhalten einer Frau tadelt, die einen Fremden liebt, und er ftlgt das Sprichwort: "'Hyt is not al gold that glareth'" (HF, I, 272) hinzu, um seinen Darlegungen Nachdruck zu verleihen. Sodann greift der Träumer die Problematik von Sein und Schein auf (immer auf das moralische Verhalten bezogen) und spielt in den Versen HF, I, 274-278 die Begriffe "godlyhed" (= 'righteousness') und "shrewed vice", "love" und "chere" (= 'outward appearance') gegeneinan-

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der aus. 6 Im Anschluß an diese Reflexion beschreibt er die raffmierte Taktik eines Verräters, der die Frau, die ihn liebt, grundlos verdächtigt, ihn zu betrügen: And thanne wol he causes fynde And swere how that she ys unkynde, Or fals, or privy, or double was. (HF, I, 283-285)

Am Schluß dieser Passage rekurriert der Träumer erneut auf ein Sprichwort: "'he that fuHy knoweth th'erbe / May saufly leye hyt to his yi!'" (HF, I, 290291), um sein lehrhaftes Fazit, daß man nur dem Wohlbekannten vertrauen dürfe, zu bekräftigen. Erst auf diese Passage folgt die eigentliche Klage Didos, wobei Chaucer hier ausdrücklich betont, daß er an dieser Stelle ohne jegliche literarische Vorlage arbeitete: "Non other auctour alegge I" (HF, I, 314). Didos Klage beginnt in sarkastischem Ton: . Alias, is every man thus trewe, That every yer wolde have a newe, [ .. .]. (HF, I, 301-302)

Sie verallgemeinert ihre persönliche Erfahrung und sieht die Frauen als Opfer der unterschiedlichsten Wünsche der Männer: Die einen begehren eine Frau, um durch sie Ruhm ("fame", HF, I, 305) oder Freundschaft zu erlangen, wobei "frendshippe" (HF, I, 307) meist nur ein Deckmantel rur physisches Verlangen ist; ''[ ... ] such love [... ] is not as pure and abstract as it professes to be" (Bennett, 1968, 40). Auf die physische Begierde spielt Dido auch mit dem Wort "delyt" (HF, I, 309) an; schließlich gibt es auch Männer, die letztlich nur auf Vorteil und Nutzen ("synguler profit", HF, I, 310) bedacht sind. Dido selbst beklagt, daß sie je geboren wurde und daß sie ein Opfer der Fama geworden ist. Während Fama filr Aeneas Ruhm bedeutet, heißt Fama rur sie übler Ruf (vgl. insbesondere Boitani, 1984, 150-174). Ihre Handlungen, so konstatiert Dido, werden über das ganze Land schriftlich und mündlich (vgl. HF, I, 347: "red and songe") verbreitet, so daß sie die Fama nur mit dem Adjektiv "wikke" (HF, I, 349) charakterisieren kann. Dido nimmt in ihrer Klage das Urteil vorweg, das in ihrer Sicht nicht nur ihre Mitmenschen über sie flUlen; auch die Nachwelt wird dieses Urteil wiederholen. Über die Umstände ih-

6

Vgl. hierzu die Angaben im Glossar von Chaucer, 1988.

5 Engler f Müller

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res Todes macht der Erzähler keine weiteren Angaben. Hier kehrt er wiederum zu seinem lakonischen Stil zurück und stellt lediglich die Fakten fest: She rof hirselve to the herte And deyde thorgh the wounde smerte. (HF, I, 373-374)

Die Leser, die weitere Angaben haben möchten, verweist er - wie oft auch in seinen späteren Dichtungen - auf seine literarischen Vorbilder, hier: auf Vergil und Ovid (vgl. HF, I, 378-379). Aus Ovids Heroiden und seiner Ars amatoria sowie aus dem Teil des Rosenromans, den Jean de Meung verfaßte, sind auch die Exempla entnommen, die Chaucer unmittelbar im Anschluß an den Hinweis auf seine Quellen aus der römischen Literatur folgen läßt (vgl. Bennett, 1968,44). Bei der Verarbeitung seiner Vorlagen verwendete er unterschiedliche Techniken. Das erste Exemplum handelt von Demophon und Phyllis. Die Geschichte zeigt deutliche Parallelen zur Dido-Erzählung, die auch mittelalterlichen Illustratoren auffielen (worauf 1. A. W. Bennett, 1968, 45, aufmerksam gemacht hat). Demophon, ein Sohn des Theseus, traf auf der Rückkehr von Troja in Thrazien Phyllis, eine Königstochter, die sich wie Dido in den Fremden verliebte, der seinerseits sie mit dem Versprechen verließ, aus Athen wieder zu ihr zurückzukehren, sobald er dort seine Pflichten erfilllt habe. Als er jedoch zum angegebenen Termin nicht zurückkehrt, begeht sie Selbstmord. Sie wird - entsprechend dem Gesetz der Metamorphose - in einen Mandelbaum verwandelt und in dieser Gestalt fmdet Demophon sie wieder. Chaucers Träumer erzählt diesen Stoff auffolgende Weise: Loo Demophon, duk of Athenys, How he forswor hym ful falsly, And traysed Phillis wikkidly, That kynges doghtre was ofTrace, And falsly gan hys tenne pace; And when she wiste that he was fals, She heng hirself ryght be the hals, For he had doon hir such untrouthe. Loo, was not this a woo and routhe? (HF, I, 388-396)

Chaucer drängt den Stoff in neun Zeilen zusammen, konzentriert sich nur auf das Schicksal, das Phyllis zu erdulden hat; dabei setzt er in nahezu jedem Vers einen deutlich moralischen Akzent: Zweimal gebraucht er das Adverb "falsly" (389, 392), einmal das Adjektiv "fals" (393); das Adverb "wikkidly" (390)

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bringt lediglich eine stilistische Variation der gleichen Grundvorstellung. In das Wortfeld des Verrats gehören auch die Verbfonnen "forswor" (389), "traysed" (390) und das Substantiv "untrouthe" (395), das mit seinem Antonym "trouthe" (= 'truth' und 'truthfulness') den Kernbereich von Chaucers Wertvorstellungen bezeichnet. Hier bildet es die thematische Klammer für alle Exempla, die in den Versen 383-426 dargeboten werden. Für den verhältnismäßig derben und direkten Stil, den er für die Erzählung von Demophon und Phyllis gewählt hat, ist die Beschreibung der Gebärde kennzeichnend, mit der die verzweifelte Frau ihrem Leben ein Ende macht: And when she wiste that he was fals, She heng hirself ryght be the hals, [ ... ]. (HF, I, 393-394)

Auf diese Episode folgt ein Katalog, in dem nur die Namen der betrogenen Frauen und der treulosen Männer genannt werden: Eke 10 how fals and reccheles Was to Breseyda Achilles, And Paris to Oenone; And Jason to Isiphile, And eft Jason to Medea, And Ercules to Dyanira, For he left hir for Yole, That made hym cache his deth, parde. (HF, I, 397-404)

Diese Zeilen stellen die elementarste Fonn eines Exemplums im mittelalterlichen Sinn dar. Die Adjektive "fals" und "reccheles" setzen ein eindeutig wertendes Vorzeichen, die folgenden Namen und die Geschichten, die man in der Literatur seit der Antike mit ihnen verband, sind Illustrationen für ein moralisches Problem, dessen Ursprung nicht erläutert und dessen Entfaltung nicht dargeboten wird. Zu den Quellen Chaucers und zu seiner weiteren Bearbeitung dieser Stoffe gibt die Riverside Edition folgende Infonnationen: Breseyda was the captive for whom Achilles sulked when she was given to Agamemnon. Paris deserted Oenone when he went to kidnap Helen (see Tr. 1.652-56). For Jason's desertion of Isiphile and Medea, see LGW 1368-1679; on Ercules's desertion of Dyanira for Yole, see Ovid, Met. 9, Her. 9, and cf. MkT VII. 2119-35. (Chaucer, 1988,981)

Nicht die besonderen Wesenszüge der einzelnen Charaktere interessieren den Erzähler in diesen Fällen, sondern das einfache Faktum des Verrats, der Treulosigkeit. Chaucer setzt voraus, daß seine Leser mit den Stoffen, auf die er an-

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spielt, möglicherweise auch mit Ovid als Quelle vertraut waren. Die von ihm genannten Namen sollen bei den Lesern, die mit ihm den gleichen Bildungshintergrund teilten, Erinnerungen und Assoziationen wecken. Wie sehr ihn diese Stoffe beschäftigten, geht daraus hervor, daß er einige von ihnen in The Legend 0/ Good Women wieder aufgriff, einer Dichtung, mit der er das Bild der treulosen Frau, das er in Troilus and Criseyde entworfen hatte, korrigieren wollte. Die Wiedergabe des Ariadne-Stoffes nimmt in der Kette der Exempla den breitesten Raum ein: Hier schildert der Erzähler auch die epischen Zusammenhänge; freilich schickt er auch hier die Bewertung des Theseus voraus: How fals eke was he Theseus, That, as the story telleth us, How he betrayed Adriane The devel be hys soules bane! (HF, I, 405-408)

Erst danach wird dieses Werturteil durch den Bericht über sein Schicksal und sein Verhalten begründet. Ariadne verdankte er sein Leben; sie rettete ihn aus dem Labyrinth, ihr wäre er zu Dank verpflichtet gewesen. Aber er ließ sie auf Naxos zurück und nahm - entgegen allen Schwüren und feierlichen Versprechungen - ihre Schwester Phädra zur Frau. Nach diesen Exempla überrascht es, wenn der Erzähler den Schlußteil der Aeneas-Dido-Episode mit folgendem Satz beginnt: But to excusen Eneas Fullyche of aI his grete trespas, The book seyth Mercurie, sauns fayle, Bad hym goo into Itayle, And leve Auffrikes regioun, And Dido and hir faire toun. (HF, I, 427-432)

Hier macht sich ein deutlicher Perspektivenwechsel bemerkbar: Der Erzähler identifiziert sich nicht mehr mit der betrogenen Frau, und er verurteilt Aeneas nicht mehr, sondern er entschuldigt ihn. Merkur, der Götterbote, übermittelt ihm den Wunsch der Götter, er möge nach Italien fahren. Von diesem geschichtlichen Plan der Götter aus gesehen, ist die Begegnung mit Dido nur noch eine Episode. Aeneas ist es aufgetragen, Gründer des römischen Weltreiches zu werden. Was Vergil in acht Büchern in episch differenzierter Weise darbietet, wird von Chaucer nur skizzenhaft in den Versen HF, I, 433-467 angedeutet. Nicht die Einzelheiten von Aeneas Lebensweg sind hier von Bedeu-

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tung, sondern ausschließlich die Tatsache, daß Aeneas mit Hilfe der Götter sein Ziel erreicht: For Jupiter took of hym eure At the prayer ofVenus[ ... ]. (HF, I, 464-465)

Obwohl in der Darstellung der Geschehnisse wie in den Kommentaren des Träumers eine nüchtern-vereinfachende Tendenz zu beobachten ist, wird insgesamt deutlich, daß der Autor darauf bedacht ist, die Ambivalenz der Wirklichkeitserfahrung hervortreten zu lassen. Ambivalent ist auch die Rolle der Venus, die einerseits Didos Liebe zu Aeneas inspiriert, ihm dann aber auch zur Seite steht, wenn er Dido verläßt, um die geschichtliche Mission zu erfiillen, die ihm die Götter aufgetragen haben. Deutlicher tritt noch die Ambivalenz im Charakter des Aeneas hervor. Er ist einerseits der Held, andererseits der Verräter oder - in Anlehnung an Meyer Reinhold - ein "Unheid". Reinhold hat gezeigt, daß diese negative Sicht des Aeneas sich durch die griechische, lateinische und mittelalterliche Literatur hindurch verfolgen läßt. Früh schon begannen in der Literatur die Spekulationen über die Motive und Gründe, die dazu führten, daß die Griechen Aeneas verschonten. Es wurde angenommen, daß er zusammen mit Antenor Troja an die Griechen verriet. Die politische Feindschaft zwischen Aeneas und Priamus wurde als Grund für dieses Verhalten angeführt. Reinhold weist u.a. auf Menecrates von Xanthus (5.14. Jh. v. Chr.), auf Servius (Zeitalter des Augustinus), Tertullian (spätes 2.13. Jh. n. Chr.) sowie Dictys (4. Jh. n. Chr.) und Dares (6. Jh. n. Chr.) hin (vgl. Reinhold, 1966, 198-204), wobei anzumerken ist, daß Chaucer sich in The House 0/ Farne insbesondere zu den beiden zuletzt genannten Autoren bekennt (vgl. HF, III, 1467) und sich von Homer distanziert, wenn von der Troja-Überlieferung gesprochen wird. Auch Ovid ist in diesen Traditionsstrang einzureihen. M. Reinhold bemerkt dazu: Ovid's Dido understandably aeeuses Aeneas of perfidy. Ovid may be relying on an anti-Aeneas tradition when his Dido dec1ares that he invented the story of the reseue of his father and the penates ofTroy. "Everything you say," she adds, "is a He; it is not with me that your tongue began to deceive, and I am not its first vietim. If you should ask where is the mother of handsome Iulus, she has perished, abandoned by her eruel husband". (Reinhold, 1966, 200)

Aus der zitierten Stelle (Ovid, Heroiden VII, 81-84) ergibt sich, daß Ovid das Motiv des Verräters in doppelter Hinsicht gebraucht: es charakterisiert das Verhalten des Aeneas im politischen Leben und sein Verhalten gegenüber

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Frauen. Chaucer hat bei der Verwendung dieses Motivs insofern einen eigenen Weg eingeschlagen, als er niemals von Aeneas als einem Verräter im Zusammenhang mit dem Fall Trojas spricht. Im Bereich des öffentlich-geschichtlichen Lebens ist er im Sinne Vergils der "pius Aeneas". Chaucer gebraucht das Wort "traytour" nur (vgl. HF, I, 267), wenn er von Aeneas und Dido berichtet. Daraus ergibt sich die Doppeldeutigkeit des Wortes Fama, insofern es einerseits den politischen Ruhm des Aeneas, andererseits den üblen Ruf Didos bezeichnet. Allerdings wird der Ruhm des Aeneas durch Didos Kritik in Frage gestellt: aus ihrer Sicht erscheint sein Ruhm als fragwürdiger äußerer Schein, als "vainglory". Chaucer konnte sich dabei zum einen auf eine reiche literarische Tradition beziehen, die von Homer bis zu Dante, Boccaccio und Petrarca reicht, und er konnte sich an den mittelenglischen Sprachgebrauch anschließen, wozu Piero Boitani bemerkt: The Middle English meaning ofthe word 'farne' covers [... ] those of'renown', 'rumour' and 'illrepute', and Chaucer basically respects this division, though he emphasizes in particular the fields of 'renown' and 'rumour', treating 'iII-repute', together with 'good farne', rather as sub-categories in the scene ofFarne's Judgement. (Boitani, 1984, 159)

Trotz dieser reichen literarischen Tradition gebührt Chaucer im Hinblick auf seine Sicht der Fama ein besonderer Platz: At the root of Chaucer's attitude towards the problem of glory and farne there is, then, a wide oscillation - one could perhaps call it 'conflict' if Chaucer had written about himself as much as Petrarca did. In the House 01 Farne [... ] we witness the genesis ofthis arnbiguity. (Boitani, 1984,155)

Chaucers besondere Leistung besteht darin, daß er die verschiedenen Bedeutungsschichten des Wortes "fame" im erzählerischen Prozeß aufeinander bezieht und damit die Problematik, die Ambiguität der Fama verdeutlicht, die in den Menschen, in ihrem Denken und Handeln, präsent ist, aus ihnen hervorgeht, sich Ausdruck verschafft, und schließlich unabhängig über sie zu herrschen scheint. Fama ist in Chaucers Dichtung als der Inbegriff der kulturellen Tradition zu verstehen, die auf den mündlichen wie den schriftlichen Äußerungen der Menschen basiert. Es ist daher nicht überraschend, wenn Chaucer bereits im Ursprung dieser Tradition deren Ambivalenz entdeckt. Jegliche Form mündlicher Überlieferung (so zeigt er im III. Buch des House 0/ Farne), jegliche Übersetzung von Realität in Sprache mischt "wahr" und "falsch":

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Thus saugh I fals and soth compouned Togeder fie for 00 tydynge. (HF, III, 2108-2109; vgl. hierzu Erzgräber, 1985, 116)

Diese unauflösliche Verbindung von wahr und falsch ist daher auch der schriftlichen Überlieferung eigen, die sich auf mündliche Traditionen verlassen muß. Daher kann der Erzähler im III. Buch feststellen: Oon seyde that Omer made Iyes, Feynynge in hys poetries, [00']. (HF, III, 1477-1478)

Die Bemerkung des Erzählers über Aeneas: Alias! what harm doth apparence, Whan hit is fals in existence! (HF, I, 265-266)

weist auf die gleiche Verknüpfung von Wahrheit und Falschheit hin, die im Charakter des Protagonisten anzutreffen ist und infolgedessen auch in die Aeneas-Tradition der Antike und des Mittelalters eingegangen ist. Es zeigt sich, daß in der Dido-Episode die gesamte Thematik des House 0/ Fame bereits in nuce enthalten ist. Wie in The Book 0/ the Duchess deutet auch The House 0/ Fame die antike Episode in exemplarischer Form auf den Hauptteil der Dichtung hin (der hier in Buch III zu fmden ist). Es wird zu untersuchen sein, wie Chaucer in The Parliament 0/ Fowls bei der Korrelation von antiker Episode und zentralem Geschehen verfahren ist.

4. Die Scipio-Episode in The Parliament 0/ Fowls Auch The Parliament 0/ Fowls7 ist wie The Book 0/ the Duchess und The House 0/ Fame eine Dichtung, in der der Ich-Erzähler sich damit beschäftigt, das Wesen der Liebe zu ergründen. Im Vergleich zu den vorangehenden Dichtungen rückt hier die Frage nach dem Wesen der Liebe ins Zentrum des erzählerischen Interesses.

7 Vgl. hierzu auch die mit ausftlhrlichen Anmerkungen und gutem Kommentar versehene Ausgabe von Brewer (1960) sowie die Monographie von Bennett (1957).

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Bereits in der ersten Strophe berichtet der Erzähler von dem Erstaunen, das die Liebe - "with his wonderful werkynge" (PF, 5) - in ihm hervorruft. Es entspricht seinem geistigen Habitus, daß er bei Büchern Rat sucht, wobei er in kritischer Wachsamkeit das Gelesene - wie in The House 0/ Fame - verarbeitet. In paradigmatischer Weise stellt er über sein Verhältnis zu aller schriftlichen Überlieferung fest: For out of olde feldes, as men seyth, Cometh aI this newe eom from yer to yere, And out of olde bokes, in good feyth, Cometh aI this newe seienee that men lere. (PF,22-25)

Das Buch, dem er sich in The Parliament 0/ Fowls zuwendet, ist "Tullyus of the Drem of Scipioun" (PF, 31), Ciceros Somnium Scipionis, das einen Teil von De re publica bildet, eines Werkes, das dem Mittelalter als eigenständige Schrift nicht bekannt war. Es wurde jedoch zusammen mit dem dazu gehörigen Kommentar des Macrobius (um 400) überliefert.· Chaucer berichtet, daß im Somnium Scipionis Scipio der Jüngere seinem Vorfahren Scipio dem Älteren (auch Scipio Africanus genannt) begegnete, der ihn über die Schöpfung und die Stellung des Menschen darin unterrichtete. Dabei gehen antik-heidnische und mittelalterlich-christliche Vorstellungen ineinander über, wobei die christliche Färbung des Scipio-Berichtes gelegentlich auch unmittelbar auf Chaucer selbst und nicht auf seine Quelle zurückzufilhren ist. Kennzeichnend rur das Weltbild, das Scipio Africanus erläutert, ist die Gliederung der Schöpfung in neun Sphären, aus deren harmonischem Zusammenspiel die Sphärenklänge hervorgehen: Thanne shewede he hym the Iytel erthe that here is, At regard ofthe hevenes quantite; And after shewede he hym the nyne speres; And after that the melodye herde he That eometh of thilke speres thryes thre, That welle is of musik and melodye In this world here, and eause of armonye. (PF,57-63)

Diese Vorstellung, die aus der Antike stammt und bis zu Shakespeares Merchant 0/ Venice und Miltons Paradise Lost als ein literarischer Topos lebendig blieb, bildet eine Grundkomponente in Chaucers The Parliament 0/Fowls. Am Schluß spricht der Erzähler davon, daß die Vögel bei der Versammlung, die • Vgl. Brewer, "Appendix III: 'lbe Drearn ofSeipio"', in: Brewer, 1960, 133-137.

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am Valentinstag stattfmdet, von der Göttin Natura jeweils ihren Partner oder ihre Partnerin erhalten und daß sie ihrem Glücksgefühl im Gesang, im Lied, Ausdruck verleihen: "Wel han they eause for to gladen ofte, Sith eeh ofhem reeovered hath hys make, Ful blissful mowe they synge when they wake: [ ... ]." (PF,687-689)

Die Harmonie der Weltordnung, der gesamten Schöpfung, von der zu Beginn der Dichtung im Bericht über das Somnium Scipionis in lehrhafter Weise die Rede i.st, spiegelt sich am Ende im Gesang der Vögel. J. A. W. Bennett hat darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Zusammenhang schon bei Macrobius III, 10 vorgebildet ist, wo es heißt: et quid mirum, si inter homines musieae tanta dominatio est, eum aves quoque, ut luseiniae et eygni a1iaeve id genus, eantum veluti quadam disciplina artis exerceant. (" And is it at a11 strange if music has such power over men when birds Iike the nightingale and the swan and others ofthat kind practise song with almost the technique ofan art?"). (Bennett, 1957,51)

Der Blick des Scipio Africanus ist eindeutig auf die jenseitige Sphäre gerichtet, das Diesseits wird im Sinne des platonischen und des frühmittelalterlichchristlichen Weltbildes mit negativen Akzenten versehen. So bemerkt Scipio der Jüngere, daß sein Vorfahre ihn bat, irdisches Glück gering zu achten und nicht diesseitigem, trügerischem Schein zu verfallen: Than bad he hym, syn erthe was so Iyte, And dissevable and fulof harde grace, That he ne shulde hym in the world delyte [ ... ]. (PF,64-66)

Wenn das Jenseits von Chaucers Scipio Africanus "a blysful place" (PF, 48) genannt wird, gibt es hierftir kein Vorbild bei Cicero, wohl aber bei dem christlichen Macrobius. Bemerkenswert sind die Darlegungen des Africanus über den Weg, der zu diesem jenseitigen Glück fUhrt: And seyde hym what man, lered other lewed, That lovede commune profyt, wel ithewed, He shulde into a blysful plaee wende There as joye is that last withouten ende. (PF,46-49)

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Nur wer für das Gemeinwohl, "commune profyt" (= 'common weal'), eintritt, vermag jenseitiger Glückseligkeit teilhaftig zu werden. Die Fügung "wel ithewed" ließe sich im Deutschen mit "tüchtig" wiedergeben, wobei zu beachten ist, daß im Mittelenglischen dieses Wort sowohl auf die physische Tüchtigkeit wie auf die Tugendhaftigkeit eines Menschen bezogen werden kann. 9 Nicht zu übersehen ist der Kontrast zwischen "synguler profit" in The House 0/ Fame (HF, I, 310), womit - wie oben dargelegt - das individuelle, egozentrische Glücksstreben gemeint ist, und "commune profyt" in The Parliament 0/ Fowls, worunter eine politisch-altruistische Haltung im Sinne Ciceros zu verstehen ist. Bedenkt man, daß Chaucer in dieser Dichtung einen Ich-Erzähler beschreibt, der die Geheimnisse der Liebe entdecken möchte, so fällt auf, daß von der Wendung "That lovede commune profyt" abgesehen - das Wort "loue" (oder auch "charitee") in der antiken Episode nirgendwo auftaucht. Scipio Africanus kehrt vielmehr nach einigen Darlegungen über das Diesseits ("oure present worldes lyves space / Nis but a maner deth", PF, 53-54) und über die kosmische Ordnung zu den Forderungen zurück, die an den Menschen gestellt sind, und greift dabei erneut den Begriff "commune profit" (PF, 75) auf: And he seyde, "Know thyself first immorta1, And loke ay besyly thow werehe and wysse To commune profit, and thow shalt not mysse To comen swiftly to that place deere That ful ofblysse is and ofsoules eleere. [...]". (PF,73-77)

Einen indirekten Bezug zur Liebesthematik stellt Chaucer in den Versen PF, 78-80 her, wo der Erzähler von denjenigen Menschen spricht, die das Gesetz (der Weltordnung und der den Menschen vorgegebenen moralischen Ordnung) übertreten: "Hut brekers ofthe lawe, soth to seyne, And Iikerous folk, after that they ben dede, Shul whirle aboute th'erthe alwey in peyne, [.. .]." (PF,78-80)

Mit der Wendung "likerous folk" bezeichnet Chaucer diejenigen, die sich der Todsünde der "luxuria" (= 'lecherie'), der Wollust hingeben und damit die Geboteordnung übertreten, wie sie in den Canterbury Tales durch "The Parson's 9

Vgl. The Shorter Oxford English Dictionary, sub "thew" und "thewed".

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Tale" verdeutlicht wird (vgl. CT, X (I), 914-955). Cicero kommt auf diese Gruppe von Menschen zu sprechen, wenn er den Begriff "libido" erläutert und dabei feststellt, daß diejenigen, die zu Sklaven der Leidenschaften werden, die göttlichen ebenso wie die menschlichen Gesetze übertreten: "deorum et hominum iura violaverunt" (vgl. Bennett, 1957,41). Erst wenn sie das Purgatorium überstanden haben, kann sich ihnen der Weg zur jenseitigen Glückseligkeit "into that blysful place" (PF, 83) öffnen. Von den "brekers ofthe lawe" und den "likerous folk" her läßt sich auch eine Verbindung zu den Beobachtungen herstellen, die der Ich-Erzähler während des folgenden Traumes (auf den er seinerseits von Scipio Africanus geleitet wird) sammelt. Auch er gelangt wie der Träumer in The House 01 Fame zum Tempel der Venus und sieht dort bildhafte Darstellungen antiker Gestalten, die sich der Übertretung des Gesetzes schuldig machten. In dieser Serie von Exempla wird beispielsweise Atalanta erwähnt, die schuldig wurde, weil sie mit Hippomenes, der sie im Wettlauf besiegte, das Heiligtum der Cybele entweihte. Semiramis beging Inzest mit ihrem Sohn; Candace liebte ihren Bruder; das gleiche wird von Biblis berichtet. Herkules wurde ebenso wie Dido, Pyramus und Thisbe, Tristan und Isolde, Troilus, Cleopatra und Scylla das Opfer übermäßiger Leidenschaft (vgl. Brewer, 1960, 111-113). Venus selbst ist in dieser Dichtung der "Inbegriff wollüstiger, lasziver Verlockung" (Erzgräber, 1988, 128). Wenn in der Venus-Episode neben Allegorien wie Foolhardynesse, Flaterye und Desyr auch Gestalten wie Gentilesse und Curteysye genannt werden, so deutet dies darauf hin, daß eine ambivalente Sicht der höfischen Liebe in diesem Zusammenhang bei Chaucer vorherrscht. Das aber bedeutet, daß Chaucer die negative Bewertung des irdischen Daseins, die in der Scipio-Episode dominiert, zwar aufgegriffen hat, mit seiner Darstellung der höfischen Liebe und des Bereiches der Venus aber einen Schritt darüber hinausgegangen ist und sowohl von den verwerflich-negativen wie von den verfeinernd-positiven Zügen der Liebe spricht. Noch stärker tritt seine positive Bewertung der Liebe und der Natur im eigentlichen Hauptteil der Dichtung, dem Parlament der Vögel, hervor, das vor der Göttin Natura stattfmdet, die "the noble goddesse Nature" (PF, 368) und "the vicaire ofthe almyghty Lord" (PF, 379) genannt wird. Die Tiere, die bei der Debatte über das Verhalten des Adlerweibchens gegenüber den drei Werbern einen Standpunkt einnehmen, der außerhalb der höfischen Normen liegt, kennen nur das eine Verlangen: eine Partnerin zu gewinnen, um mit ihr zusammen ihre Art zu erhalten. Das Adlerweibchen, das die Freiheit der Wahl und die Möglichkeit der persönlichen Entscheidung hat, erhält ein Jahr Bedenkzeit, um nach Ablauf dieser Frist seine Entscheidung treffen zu können.

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Chaucer bekennt sich damit auch zu einer verbindlichen ethischen Nonn, deren Beachtung zum Gemeinwohl (lfcommune profytlf), genauer gesagt: zum Wohl der ritterlichen Gesellschaft beiträgt. Aber es wird deutlich, daß seine Sicht des menschlichen Zusammenlebens nicht wie bei Cicero eine politische, sondern eine speziell gesellschaftliche Prägung aufweist und daß er der Natur viel größeren Spielraum zubilligt als Cicero. Es ist zu bedenken, daß er bei der Darstellung der Natur in The Parliament 01 Fowls dem Vorbild des Alanus ab Insulis und dessen De Planctu Naturae folgte, der zu einer Neubewertung der Natur im Rahmen der Schule von Chartres beitrug und damit Vorarbeit rur die Integration der antiken Naturphilosophie in die christliche Theologie leistete, wie sie bei Thomas von Aquin anschließend in größerem Rahmen vollzogen wurde (vgl. Erzgräber, 1988, 128-132). Es zeigt sich, daß Chaucer in jedem seiner Jugendwerke antike Vorbilder aufnimmt, dann aber zu einer eigenen Bewertung der antiken Vorlage gelangt, die sich aus den Erlebnissen des Ich-Erzählers in der Traumhandlung ergibt. Es lassen sich Parallelen zwischen Überliefertem und Neuem erkennen, aber auch merkliche Kontraste. Auch rur Chaucer, der als Erzähler seine Leser nicht nur unterhalten, sondern auch in subtiler Weise belehren wollte, gilt die gleiche Feststellung, die er in allgemeiner Fonn zu Beginn des Parliament 01 Fowlstrim: And out of olde bokes, in good feyth, Cometh al this newe seienee that men lere. (PF,24-25)

Die Verarbeitung antiker Exempla reizte ihn, von den vorgegebenen Stoffen zu einer eigenen, dem späten Mittelalter und seinen Lesern gemäßen Sicht der Realität vorzudringen.

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WOLFGANG G. MÜLLER

Theorie und Praxis des Exemplums in der Renaissance: Erasmus und Shakespeare 1. Einleitung

Im Schrifttum der Renaissance von der Historiographie über die Erziehungstraktate, die Etikettbücher und die philosophischen Abhandlungen bis zur imaginativen Literatur wird das Exemplum - eine in den Text eingelagerte kurze Darstellung eines Präzedenz- oder Parallelfalles - als rhetorisches Mittel ersten Ranges verwendet. Auch Poetiken und Rhetoriken würdigen die Bedeutung dieser rhetorischen Figur. In The Arte 01 English Poesie sagt George Puttenham, daß kein Argumentationsmittel in der gesamten Rhetorik überzeugungsmächtiger und befriedigender sei als das Exemplum und daß die Historiographie ("historieall Poesie ") wegen ihres reichen Fundus an Exempla nächst der religiösen Dichtung am ehrwürdigsten sei: Right no kinde of argument in a1l the Oratorie craft, doth better perswade and more vniuersally satisfie then exarnple, which is but the representation of old memories, and Iike successes happened in times past. For these regards the Poesie historieall is of allother next the diuine most honorable and worthy [... ]. (Puttenharn, 1936, 39)

Eine ähnlich hohe Wertschätzung dieser rhetorischen Figur zeigt sich auch in Erasmus' De copia verborum, einem Werk, das die umfassendste und tiefschürfendste Auseinandersetzung mit dem Exemplum und seinen unterschiedlichen Formen und Funktionen in der Renaissance darstellt. Für Erasmus ist das Exemplum in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen zeichnet es sich durch höchste Beweiskraft (probatio) aus, und zum anderen ist es ein glänzendes Mittel, den argumentativen und stilistischen Reichtum (copia) eines Textes zu gewährleisten: "Plurimum autem valet ad probationern, atque adeo ad copiam, ex e m p I 0 rum vis [... ]" (Erasmus, 1988, 232). Im folgenden sollen zunächst einige der zentralen Gesichtspunkte von Erasmus' Theorie des Exemplums dargelegt werden. Danach soll Erasmus' Theorie, die rhetorisch konzipiert ist, als Schlüssel filr die Untersuchung der literarischen Verwendung des Exemplums im Werk Shakespeares benutzt werden.

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2. Erasmus' Theorie des Exemplums in De copia verborum Erasmus behandelt das Exemplum im 11. Kapitel des zweiten Buches von De copia, wo er sich mit Beweisen (probationes) und Argumenten (argumenta) auseinandersetzt, an denen eine überzeugende Rede reich sein sollte. Er geht auf Aristoteles' rhetorisches Konzept des paradeigma zurück (Lyons, 1989, 16-17), ohne allerdings wie sein griechischer Vorgänger eine Abgrenzung zwischen dem eher induktiven Exemplum (paradeigma) und dem eher deduktiven rhetorischen Schlußverfahren (enthymema) als den beiden allen Redegattungen gemeinsamen Beweismitteln (Aristoteles, 1993, 133-136) vorzunehmen. Aber wie Aristoteles, ja noch expliziter als dieser, betont er, daß die Exempla rur alle Redegattungen und Redeziele sehr geeignet seien: Ergo ad parandam copiam exempla primas tenent, siue deliberes, siue exhorteris, siue conso1eris, siue laudes, siue vituperes. Et vt summatim dicam, siue fidem facere studeas, siue mouere, siue delectare. (Erasmus, 1988, 232)

Hier zeigt sich eine breite rhetorische - und nicht eine enge poetologische Orientierung von Erasmus' Theorie des Exemplums. Erasmus' Begriff des Exemplums schließt sich auch in der Weite seiner Defmition an Aristoteles an. Dieser hatte zwischen zwei Arten des paradeigma unterschieden, zwischen dem Bericht früher geschehener Taten und der Erdichtung von etwas Ähnlichem, wobei er das erdichtete Exemplum in Gleichnis (parabole) und Fabel (logos) unterteilt, so daß die zweifache Unterscheidung zu einem dreiteiligen Schema von historischem Exemplum, Parabel und Fabel wird (Lyons, 1989, 7). Dieses Dreierschema wird von Cicero aufgenommen, während Quintilian das Exemplum schärfer von verwandten Formen, etwa der similitudo, abzugrenzen versucht (Lyons, 1989, 8). Bei Erasmus kehrt die alte Dreiteilung insofern wieder, als er sich in separaten Abschnitten eingehend mit dem historischen Exemplum, der Fabel und der Parabel beschäftigt - "Dilatantur exempla vtriusque generis, hoc est tarn fabulosa quam historica, praeter iam dictos modos etiam parabola" (Erasmus, 1988,240) - , aber insgesamt ist seine Bestimmung des Exemplums weiter als die seiner Vorgänger. Er bezieht in seine Defmition die unterschiedlichsten Formen von der Fabel über das Sprichwort und das Urteil bis hin zum Bild und zur Analogie ein: "Hoc autem genus complectitur et fabulam, et apologum, prouerbium, iudicia, parabolam seu collationem, imaginem, et analogiam. Praeterea si qua sunt similia" (Erasmus, 1988, 232). Wichtig ist an diesem Katalog nicht nur die Formenvielfalt, sondern auch die Tatsache, daß Erasmus das Exemplum vom narrativen Diskurs löst und auch Diskursformen wie Sprichwort und Sentenz mit einbezieht. Er öffnet das Exemplum damit rur den gesamten Wissensschatz des Humanismus. Dies zeigt sich auch in der großen Zahl von Quellen, die er anftlhrt, aus

Das Exemplum bei Erasmus und Shakespeare

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denen Exempla entnommen werden können. Vergangene Taten (ante/acta), Worte (antedicta) und Gebräuche (consuetudines) können in Exempla aufgefilhrt werden. Texte der Geschichtsschreiber, der Dichter (der unterschiedlichsten Gattungen), der Philosophen, der Theologen können Exempla liefern sowie die vielfliltigen Nationen von den Griechen bis zu den Deutschen und die unterschiedlichen Epochen von der Antike bis zur Gegenwart. Interessant ist, daß hier kein weltfremder, gänzlich auf die klassische Antike fixierter Humanist spricht, sondern ein weltoffener Gelehrter, filr den auch die Gegenwart Exempel bereithält. Ja, Erasmus betont, daß Exempla, welche Ereignisse unserer eigenen Vergangenheit, der gegenwärtigen Epoche und unseres eigenen Geschlechts und Volks anfilhren, und sogar auch solche, die sich auf "kleinere" Themen wie Frauen (!), Kinder, Diener und Barbaren beziehen, ganz besondere Wirkungsmächtigkeit haben (Erasmus, 1988, 232). Die gesamte Welt der Geschichte, der Literatur und Kultur und die Wirklichkeit werden filr Erasmus zu einer riesigen Fundgrube von Exempla. Die große Bedeutung, welche die in Rede stehende rhetorische Figur bei ihm gewinnt, erklärt sich aus seiner Erweiterung des Begriffsinhalts des Exemplums. Der Erwerb von Bildung stellt sich filr den Humanisten als ein Sammeln von Exempla dar, die aus der Welt im weitesten Sinne bezogen werden. Das Exemplum wird zum Schlüssel der Welterkenntnis, der Weltdeutung und des Weltverhaltens. Welt wird durch das Mittel des Exemplums in einem rhetorischen Kontext argumentativ verfilgbar gemacht. Wie das Kapitel "Ratio colligendi exempla" zeigt, eröffnen sich beim Durchmustern der Welt Felder von exempla und iudicia (Erasmus, 1988, 259), die argumentativ genutzt werden können. Daß die Erweiterung des Exemplumbegriffs durch Erasmus auch im Hinblick auf das Exemplum in der Literatur von Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Gegenüber anderen Theoretikern der Renaissance hat sich Erasmus zudem einer ethischen Funktionalisierung des Exemplums enthalten (siehe Lyons, 1989, 18-19), wie sie sich etwa in Henry Peachams The Garden 0/ Eloquence fmdet, wo es vom historischen Exemplum heißt, es habe große Kraft, zum Guten zu überreden und vom Schlechten abzuschrecken: "it is of great force to moove, perswade, and enflame men with the loue of vertue, and also most mightie to deterre and diswade them from vice [... ]" (Peacham, 1593, 187). Erasmus' Theorie befmdet sich hier, wenn sie auch ganz und gar auf die Rhetorik zielt, in Übereinstimmung mit einem großen Teil der Renaissance-Literatur, die, abgesehen von extrem didaktischen Werken, das Exemplum nicht zum Ausdruck eines ethischen Dualismus von Gut und Böse verwendet. Ein weiterer Grund dafilr, daß sich die Theorie des Exemplums bei Erasmus trotz ihrer ausgeprägten klassisch-rhetorischen Orientierung sehr gut auf die Literatur beziehen läßt, liegt darin, daß Erasmus in starkem Maße das fiktio6 Engler I Müller

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nal-poetische Exemplum gegenüber dem historisch-faktischen Exemplum gelten läßt. Aristoteles hatte bereits zwischen historischen und erdichteten Exempla unterschieden, eine Unterscheidung, die sich auch bei Cicero (De inventione 1.19) - nicht aber in der Rhetorica ad Herennium (IV.xLix 62) und Quintilian (Institutio oratoria, XIIA) fmdet und ein essentieller Bestandteil der Defmitionen in den Renaissance-Rhetoriken ist. Richard Sherry etwa sagt: "Examples, some be taken out ofhystories, some oftales, some offayned argumentes [... ]" (Sherry, 1961, 88). Oder Henry Peacham unterscheidet zwischen Exempla "taken from Chronicles & Histories of credit" und Exempla "fained by Poets and inuentors offables" (Peacharn, 1593, 186-188), wobei er beim Gebrauch der letzten allerdings zur Vorsicht rät: "Fained examples and Apologies, ought to be vsed verie seldome, and then not without some tit occasion" (Peacharn, 1593, 189). Für Erasmus dagegen hat das erfundene Exemplum einen ästhetischen und argumentativen Wert, der dem des historischen Exemplums nicht nachsteht. Bereits bei der schon erwähnten Aufzählung der Quellen fUr Exempla werden die Dichter und die Gattungen, deren sie sich bedienen, ausgiebig berücksichtigt. In dem Kapitel über das erdichtete Exemplum ("De exemplo fabuloso") bemerkt er, daß viele der Ereigniserzählungen bei dem Historiographen Herodot unglaubwürdig sind ("tide carent") und daß Xenophon seine Kyru paideia mehr als Beispiel fUr die Erziehung denn als wahre Geschichtsdarstellung ("magis ad exemplum instituendae vitae quam ad tidem historiae") geschrieben habe. Wenn diese fUr wahr gehalten würden ("pro veris accipiantur"), dann wären sie wirkungsvoll, und wenn sie als Erfmdungen ("pro tictis") aufgefaßt würden, wären sie eben deshalb wirkungsmächtig, weil sie von den weisesten und angesehensten Autoren stammten, deren Autorität die Kraft des Vorbilds besäße ("quorum autoritas praecepti vigorem obtinet"). Mit dieser Begründung der Wirkungsmächtigkeit, ja der Glaubwürdigkeit des Fiktiven erscheint Erasmus sehr modern. Von den Dichtern sagt er ausdrücklich, daß bei ihnen Exempla von gesicherter historischer Glaubwürdigkeit vorkämen wie z.B. von Scipio, Hannibal, Augustus, Pompejus und Julius sowie andere, von denen niemand abstreite, daß sie erfunden seien; da diese aber zu einem bestimmten Zweck und von großen Autoren erzeugt worden seien, hätten sie die Kraft des Exemplums ("exempli pondus") (Erasmus 1988,238). Eines der vielen Beispiele, die Erasmus anfUhrt, ist die Stelle in Homers Ilias, in der Achill nach seinem Schwert greift und Pallas Athene ihn zurückhält, eine Passage, die den Wert der Zügelung der Affekte illustriere (Erasmus, 1988,235). Bei der Literatur wird die Gattung der Komödie besonders als Fundgrube fUr Exempla bezeichnet, da sie ein Abbild des menschlichen Lebens ("humanae vitae simulacrum") sei (Erasmus, 1988,240).

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Ein Aspekt des Exemplums, auf den Erasmus wiederholt hinweist und der auch filr die literarische Verwendung und Interpretation dieser rhetorischen Figur von Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß das Exemplum als ähnlicher, unterschiedlicher und gegensätzlicher Fall benutzt werden kann: "simile, dissimile, contrarium" (Erasmus, 1988,242. Siehe auch 232, 240, 246). Entsprechend sagt der englische Rhetoriker Peacham: "Examples [... ] be either like, unlike, or contrarie" (Peacharn, 1593, 187). Für Erasmus ist es von großer Bedeutung, daß ein Spannungsverhältnis zwischen dem Exemplum und dem Kontext besteht, in den es eingelegt wird, daß es zu einer vergleichenden Darstellung durch collatio und comparatio herausfordere (Erasmus, 1988, 242, 245, 246, 248, 264). Die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten des Exemplums zeigt er eindrucksvoll am Beispiel des Todes von Sokrates, das benutzt werden könne, um die unterschiedlichsten Urteile zu belegen: "Hinc arbitror liquere in quot vsus idem exemplum possit accommodari" (Erasmus, 1988, 263, Lyons, 1989, 18-19). Eine weitere von Erasmus betonte Eigenschaft des rhetorischen Exemplums, die auch im Hinblick auf das literarische Exemplum von großer Bedeutung ist, liegt darin, daß es der Argumentation Anschaulichkeit verleihen kann. Erasmus legt im einzelnen dar, daß das Exemplum durch bestimmte sprachliche Mittel- "per similitudinem, per contrarium, per comparitionem, per hyperbolen, per epitheton, per imaginem, per metaphoram, per allegoriam" (Erasmus, 1988, 258) - ausgestaltet werden könne. In dem Passus "De imagine" äußert er sich über die Beziehung zwischen imago (eikon) und exemplum und erklärt, daß ersteres mehr der evidentia (griech. enargeia), der anschaulichen ästhetischen Darstellung, als dem Beweis (probatio) diene. Er weist aber darauf hin, daß das Exemplum und das Gleichnis zu demselben Ziel beitragen ("exemplorum et similium vsus ad eadem ista confert", Erasmus, 1988,246). Dem Exemplum wurde schon in der Antike eine evidentia-Qualität zugeschrieben. In der Rhetorica ad Herennium heißt es von dieser Figur: "[ ... ] ante oculis ponit, cum exprimit omnia perspicue, ut res prope dicam manu tentari possit" (lV.xlix.62). Die evidentia-Qualität des Exemplums betont auch Lyons (1989,28). In der Nähe von imago und exemplum und in der Auffassung, daß sich das imago dem exemplum anverwandeln könne, zeigt sich bei Erasmus ein ästhetisches, auf Anschaulichkeit zielendes Rhetorikverständnis, das sich leicht auf die literarisch-poetische Darstellung beziehen läßt. Die evidentia (enargeia) bildet bekanntlich das Bindeglied zwischen Rhetorik und Poesie (u.a. Cemy, 1984, 65-74; Müller, 1993, 233-234). Die Anschaulichkeit des Exemplums, seine enargeia-Funktion, das anschauliche Vor-Augen-Stellen (ante oculos ponere) erläutert auch Peacham als eine Eigenschaft der Exempla:

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[... ] they present to the view and contemplation of our minde, the true and Iively Image oftime past, for by them it is that we know and see what was done long before our birth [...] we behold ancient deedes and sayings of antiquitie, not as past but as present [... ]. (peacharn, 1593, 187)

Ein grundsätzliches Problem ist, bevor wir Erasmus verlassen, noch zu erörtern, die Frage nämlich, ob denn das Exemplum mehr ein induktives oder deduktives Beweismittel ist. Lyons sagt, ein Exemplum setze sich zusammen aus einem allgemeinen Urteil oder einer Maxime ("general statement or maxim") und einer lokalen oder spezifischen Aktualisierung dieser Maxime ("local or specific actualization of that maxim"; Lyons, 1989, 5). Diese sehr abstrakt formulierte Struktur des Exemplums - derzufolge, um es noch einmal zu sagen, eine allgemeine und unabhängige Aussage ("a more general and independent statement") durch eine abhängige Aussage ("a dependent statement") qualifiziert werde (Lyons, 1989, x) - defmiert das Exemplifizieren als ein deduktives Verfahren. Auf einige der von Erasmus angeftlhrten Exempla z.B. das oben erwähnte von Achill und Pallas Athene - triffi diese Defmition zu, aber vielfach ist es doch so, daß bei der Behandlung eines gegebenen konkreten Kasus ein entsprechender - ebenfalls konkreter - Kasus als Präzedenz- oder Parallelfall herangezogen wird und der Beweis induktiv - durch eine Art Analogieschluß - erfolgt. Es spricht einiges dafilr, das Exemplum mit Aristoteles dem "Induktionsbeweis" (Aristoteles, 1993, 134) zuzuordnen. Ein Renaissance-Rhetoriker, der die Analogie-Struktur dieser rhetorischen Figur betont, ist Scaliger. Er sagt von den Exempla: Sane omnium iIIud commune est, vt componatur aut res rei, aut persona personae: aut persona rei, aut personae res. Ergo facta factis, loca locis, tempora temporibus. (Scaliger, 1987, 127)

Eine eingehende Auseinandersetzung mit Lyons' Theorie kann hier nicht geftlhrt werden, aber in der Redekunst wie in der Literatur tritt das Exemplum oft eben nicht explizit in der Kombination von Maxime und einer diese aktualisierenden untergeordneten Aussage in Erscheinung. Vielfach wird ein Kasus durch die Anführung eines früheren oder ein Ereignis durch den Bezug auf ein früheres erhellt. Insbesondere greift Lyons' sehr abstrakte Defmition kaum in bezug auf solche literarischen Exempla, die in einem fIktionalen - vielfach narrativen - Kontext eingelagert sind, ohne daß eine Maxime direkt erkennbarwürde.

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3. Die Parodie des prototypischen Exemplums bei Shakespeare Bei Shakespeare wird jene Fonn des Exemplums, die Lyons als den Nonnalfall annimmt, die Verbindung von Maxime und Illustration durch ein konkretes Beispiel, parodistisch gebraucht. Ein schönes Beispiel fmdet sich in As You Like It, wo Rosalind, als Ganymed verkleidet, die Rolle von Rosalind spielt, d.h. sich selbst als Rolle darstellt, um Orlando von seiner weltfremden petrarkistischen Liebesschwärmerei zu heilen. Im Widerspruch zu Orlandos Erklärung, er werde sterben, wenn Rosalind sein Liebeswerben zurückweise, argumentiert sie mit Hilfe von Exempla, daß noch nie in der Welt ein Mann aus Liebeskummer gestorben sei: The poor world is a1most six thousand years old, and in a11 this time there was not any man died in his own person, videlicet, in a love-cause. Troilus had his brains dashed out with a Grecian club, yet he did what he could to die before, and he is one of the patterns of love. Leander, he would have Iived many a fair year though Hero had tumed nun, if it had not been for a hot mid summer night; for, good youth, he went but forth to wash hirn in the Hellespont, and being taken with the cramp, was drowned, and the foolish chronic1ers of that age found it was Hero of Sestos. But these are a11 lies: men have died from time to time and worms have eaten them, but not for love. (As You Like 11, Arden Shakespeare, IV.1.89-103)

Hier läßt sich eine ganz strikte Struktur erkennen: Auf den Lehrsatz folgen zwei konkrete Beispiele aus der Antike. Am Schluß wird der durch die Exempel "bewiesene" Lehrsatz wiederholt. Mit viel Witz und Komik verunglimpft Rosalind zwei examplarische Liebende der Antike. Die Geschichten von Troilus und Leander werden nicht nur verballhornt, sondern auch als Lügen bezeichnet. Rosalind übt geistreiche Kritik an traditionellen Liebes-Exempeln. Der Wahrheitsgehalt der überkommenen Geschichten wird in Frage gestellt und die Fonn des Exemplums parodiert. Generalisierend läßt sich sagen, daß die prototypische Fonn des Exemplums bei Shakespeare im Unterschied zu einigen seiner Zeitgenossen, etwa John Lyly, in der Hauptsache parodistisch in Erscheinung tritt.

4. Das Exemplum als Teil der politischen Argumentation in Julius Caesar In Julius Caesar wird das Exemplum in der Argumentation der Verschwörer gegen den nach Alleinherrschaft strebenden Cäsar mit besonderer Wirkung gebraucht. In seiner leidenschaftlichen Widerlegung von Cäsars Anspruch auf Gottgleichheit (Müller, 1979, 91-100), die er seinem Freund Brutus vorträgt, bedient sich Cassius des Freiheits- und Gleichheitspostulats - "I was born

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free as Caesar; so were you" (Shakespeare, 1988, 1.2.96) - und ganz handfester, grob-sinnlicher Argumente, um zu zeigen, daß Cäsar ihm und Brutus nichts voraus hat. Diese Argumentation wird durch Exempla getragen, die Cassius in seine Rede einfUgt. Er erzählt zunächst eine Geschichte, wie er Cäsar einmal bei einem Wettschwimmen besiegte: For once, upon a raw and gusty day, The troubled Tiber chafing with her shores, Caesar said to me, "Dar'st thou, Cassius, now Leap in with me into this angry flood, And swim to yonder point?" Uponthe word, Accoutred as I was, I plunged in And bade hirn follow; so indeed he did. The torrent roar'd, and we did buffet it With lusty sinews, throwing it aside And stemming it with hearts of controversy. But ere we could arrive the point propos'd, Caesar cried, "Help me, Cassius, or I sink." I, as Aeneas, our great ancestor, Did from the flames ofTroy upon his shoulder The old Anchises bear, so from the waves ofTiber Did I the tired Caesar. (1.2.99-114)

In den Kategorien von Erasmus gesehen, ist die hier geschilderte Episode aus zwei Gründen besonders wirkungsmächtig, einmal, weil sie der eigenen Vergangenheit des Redners entstammt, der Miterlebender und Zeuge des Geschehens war, und dann, weil sie einen sehr hohen Grad von Anschaulichkeit besitzt und den Hörer quasi zum Augenzeugen macht. Cassius weist sich hier als ein exzellenter Erzähler aus, der seinen Bericht durch dramatische Mittel verlebendigt, Z.B. die direkte Wiedergabe der zuerst prahlerisch herausfordernden und dann erbärmlich flehenden Worte Cäsars (sermocinatio). Die politisch-argumentative Funktion des Exemplums wird erst nach der Erzählung deutlich gemacht: "And this man/ls now become a god [... ]". Cassius protestiert leidenschaftlich dagegen, daß ein körperlich und willensmäßig so schwacher Mensch wie Cäsar sich wie ein Gott fUhlt und aufspielt. Cassius fUgt mit beachtlichem rhetorischem Geschick in seine Anekdote aus Cäsars Leben ein weiteres Exemplum ein, nun in der Form des Gleichnisses (similitudo), das Erasmus in De copia verborum als eine Form des Exemplums ebenfalls eingehend behandelt hatte. Er vergleicht seine Rettung Cäsars aus dem Wasser mit der Rettung des alten Anchises aus den Flammen von Troja durch Aeneas, den Stammvater der Römer ("our ancestor"). Durch dieses Exemplum im Exemplum öffnet Cassius eine weite Perspektive. Er reichert sei-

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nen persönlichen Bericht durch einen Bezug auf ein historisches Ereignis von nationalgeschichtlicher Bedeutung an. Die Komplexität von Shakespeares Verwendung des Exemplums in dieser Szene erscheint noch stärker ausgeprägt, wenn man Shakespeares Text mit seiner Quelle vergleicht. Der von Cassius so lebendig geschilderte Schwächeanfall Cäsars während des Schwimmwettkampfes ist Shakespeares Erfmdung, also ein fIktives Exemplum. Plutarch berichtet, daß Cäsar ein exzellenter Schwimmer war, der sich einmal schwimmend vor den ihn verfolgenden Ägyptern rettete, wobei er mit einer Hand sogar noch verschiedene Bücher "divers bookes" - nach oben hielt, damit sie nicht naß wurden (Bullough, 1964, 66). Noch stärker ausgeschmückt erzählt Sir Thomas Elyot in The Book Named the Governor diese Geschichte. Hier hält Cäsar während seiner Flucht beim Schwimmen nicht nur Briefe vom Senat nach oben, sondern er zieht zwischen seinen Zähnen noch seine Waffenrüstung hinter sich her (Elyot, 1970, 62-63). Auch in dem zweiten - hier nicht behandelten - Exemplum in Cassius' Rede, das sich auf Cäsars Fieberanfall in Spanien bezieht, weicht Shakespeare von seiner Quelle ab. Während Plutarch den Heldenmut würdigt, mit dem Cäsar gegen die Krankheit kämpfte, stellt Cassius die Episode so dar, als habe sich der Feldherr "as a sick girl" (1.2.127) verhalten. In meiner Politischen Rede bei Shakespeare (1979, 101) habe ich die Veränderungen der Quelle durch Shakespeare nur in bezug auf den Autor erklärt und Cassius gewissermaßen exkulpiert. Man könnte aber auch auf den Gedanken kommen, Shakespeares Cassius sei, so wie ihn Shakespeare als Rhetoriker konzipiert hat, für diese Form der Episode verantwortlich zu machen. Dann erklärte sich der Bericht zwar immer noch als von Shakespeare erfunden, der Dramatiker hätte aber mit Cassius eine Figur geschaffen, die ein Manipulator ist und eine fmgierte Geschichte seines Lebens als tatsächlich geschehen präsentiert. Das heißt, in der Frage des Fiktionsgrades von Cassius' Exemplum stellt sich das Problem der Eigenart von Cassius als Rhetoriker und moralischem Charakter. Am Schluß seiner Rede bedient sich Cassius nochmals wirkungsvoll des Exemplums. Nachdem er empört den Identitätsverlust Roms beklagt hat, der sich aus dem Regiment eines Alleinherrschers ergibt, spielt er auf den "älteren" Brutus an, der die tyrannischen Tarquinier aus Rom vertrieb: There was a Brutus once that would have brook'd Th'etemal devil to keep his state in Rome As easily as a king. (1.2.157-159)

Das Exemplum ist hier nicht narrativ. Es ruft das Bild des Freiheitskämpfers Lucius Iunius Brutus auf, der bei der Errichtung der römischen Republik eine entscheidende Rolle spielte, und es appelliert an den Brutus des Dramas, sich

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der Tradition seines Namens und des Geschlechts der Junier entsprechend zu verhalten und keinen König in Rom zu dulden. Das Exemplum beschwört hier eine beispielhafte Person der römischen Geschichte, deren Vorbildlichkeit Brutus zum Handeln motivieren soll. Erasmus und der modeme Theoretiker Lyons sind der Ansicht, daß das Exemplum - wie in dem soeben angeftihrten Beispiel- nicht narrativ sein muß. Dies ist ohne Frage richtig, wenn das Narrative auch unbestreitbar ein sehr wichtiges Potential des Exemplums bildet. In vielen literarischen Exempla wie in Cassius' Erzählung vom Wettschwimmen oder in Menenius Agrippas Fabel vom Leib und den Gliedern in Shakespeares Coriolanus ist der besondere ästhetische Reiz gerade auf das Erzähltalent der Redner zurUckzuftihren. Nun sei noch ein Beispiel aus Ju/ius Caesar angefUhrt, das ebenfalls nicht narrativ ist und das sich auch von Erasmus' Theorie her erläutern läßt. In De copia heißt es, Exempla könnten mit Recht auch von stummen Tieren und von unbelebten Gegenständen genommen werden: "[ ... ] verum etiam a mutis animantibus atque etiam inanimis recte sumi" (Erasmus, 1988, 240). Brutus benutzt in seinem Garten-Monolog, in welchem er die Notwendigkeit von Cäsars Ermordung vor sich selbst rechtfertigt, eine TierAnalogie: And therefore think hirn as a serpent's egg, Which, hatch'd, would, as his kind, grow rnischievous, And kill hirn in the shell. (11.1.32-34)

Brutus überträgt durch diese Parallele seine sehr abstrakte, theoretisch schwierig zu begründende Argumentation filr den präventiven politischen Mord ins Konkrete. Er greift nicht zu einem Präzedenzfall aus der Geschichte, sondern zu einem Parallelfall aus der Natur. Man könnte dieses Verfahren als Gleichnis (simi/itudo) bezeichnen, es ist aber auch gerechtfertigt, mit Erasmus ein Gleichnis wie dieses dem Exemplum zuzuordnen. Lyons, der das Exemplum ausdrücklich und nicht zu Unrecht als "[a] nonmetaphorical figure" bezeichnet (1989, 5), würde hier wohl nicht von einem Exemplum sprechen. Andererseits ist es bekannt, daß eine enge Verwandtschaft zwischen Gleichnis (simi/itudo) und Exemplum besteht (Lausberg, 1963, 133-135). Argumentativ hat Brutus' Tier-Vergleich dieselbe Funktion wie ein historisches Exemplum, wobei hier durch die Verlagerung der Darstellung vom abstrakten politischen Argument zum konkreten Beispiel aus der Natur und durch die imperativische Form der Aussage ("think him", "kill him") der intendierte Übergang von einer theoretischen Position zum Handeln deutlich wird.

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5. Zwei Sonderfalle: Das Spiel-im-Spiel in Hamlet als Exemplum und die Funktion des Exemplums in Othellos letztem Monolog Das Spiel-im-Spiel ist ein wichtiges Kompositionselement in Shakespeares Ham/et, das in der Forschung hinlänglich diskutiert wurde. Im folgenden soll in gebotener Kürze nachgewiesen werden, daß es die Qualität eines Exemplums hat und daß diese Eigenschaft fii.r das Verständnis der zentralen Szene des Dramas von einiger Bedeutung ist. Die Beziehung zwischen dem Spiel-imSpiel und dem eigentlichen dramatischen Handlungsgefüge, in das es eingelegt ist, steht in markantem Gegensatz zu anderen kompositorischen Beziehungen dieses Stücks, das so reichen Gebrauch von der Technik der Parallele und des Kontrasts macht. Während, um ein Beispiel aus der Charakterkonstellation zu wählen, die drei unterschiedlichen Rächerfiguren - Hamlet, Laertes, Fortinbras - , welche sich nach dem Prinzip der wechselseitigen Spiegelung gegenseitig erhellen, ein und derselben Fiktionsebene angehören, ist das Spiel-imSpiel ein Element eines fremden Kontexts, das in den eigentlichen Fiktionskontext des Dramas eingelegt ist. Insofern teilt dieses Kompositionselement eine wesentliche Eigenschaft mit dem Exemplum. Die Exempel-Funktion des in Rede stehenden Teils von Ham/et läßt sich deutlicher erkennen, wenn man ein früheres analoges Exemplum in diesem Drama berücksichtigt, die Rede des Schauspielers, der auf Hamlets Wunsch die Schilderung der Tötung des Priamos durch Pyrrhus aus einem Schauspiel zitiert. Diese Rede, die wesentliche Elemente der Haupthandlung von Ham/et vergröbernd parallelisiert und kontrastiert - Tod eines Vaters und Ehemannes (Priamos) durch einen mordlustigen Rächer (Pyrrhus), der dennoch vor der Tat einen Moment zögert, der wilde Schmerz der Ehefrau (Hekuba) - exemplifiziert fii.r Hamlet seine eigene Lage. Die Rührung des Schauspielers, der während des Vortrags, obwohl er nur eine fiktive Geschichte vorträgt, die ihn persönlich nichts angeht, die fii.r ihn nur "a fiction", "a dream of passion" (Shakespeare, 1982, 11.2.546) ist, in Tränen ausbricht, veranlassen Hamlet zu Selbstvorwürfen, weil er, der doch reale Gründe ftlr leidenschaftliche Gefühle und impulsives Handeln hat, sich als "a dull and muddy-mettled rascal" (11.2.562) vorkommt. Wenn Hamlet sich wundert, daß der Schauspieler wegen einer bloßen Fiktion, die ihn persönlich nicht betrim, außer sich gerät, und fragt, wie der Schauspieler sich verhalten würde, wenn er in seiner, Hamlets, Lage wäre, zeigt sich der Charakter des Exemplums dieser Passage nur zu deutlich: What's Hecuba to hirn, or he to her, That he should weep for her? What would he do

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Had he the motive and cue for passion That I have? (11.2.553-556)

Hier zeigen sich wichtige Eigenschaften des Exemplums. Eine Geschichte ist nicht aus sich selbst heraus exemplarisch. Ein Exemplum entsteht erst durch die Einfilgung in einen entsprechenden Kontext. Für den Schauspieler ist die Geschichte von Priarnos und Hekuba, wie Harnlets Frage "What's Hecuba to him [... ]?" zeigt, kein Exemplum. Harnlet dagegen hat Grund und Anlaß filr Leidenschaftlichkeit ("the motive and the cue for passion", 11.2.555). In bezug auf seine spezifische Lage ist die Geschichte von Priarnos und Hekuba ein Exemplum. Ein weiterer Aspekt wird durch dieses Exemplum deutlich. Erasmus spricht, wie oben erläutert, in bezug auf das semantische Verhältnis von Exemplum und gegebenem Kontext von Similarität, Dissimilarität und Gegensätzlichkeit (simile, dissimile, contrarium). In der Wiedergabe der Geschichte von Priarnos und Hekuba durch den Schauspieler fmden sich in Übereinstimmung darnit Analogien und Abweichungen im Verhältnis zur Handlung des Hamlet, welche die Arden-Ausgabe von Harold Jenkins auflistet (S. 478-479). Es ist folgerichtig, daß Harnlet nach dieser Szene, die die Wirkung von Bühnenrede arn Beispiel des Schauspielers und Hamlets illustriert, erstmals explizit seinen Entschluß äußert, vor König Claudius ein Stück auffUhren zu lassen, das der Ermordung seines Vaters ähnlich ist und während dessen Aufführung er die Reaktion seines Onkels beobachten will. Mit den Worten ''I'lI have these playerslPlay something like the murder of my fatherlBefore mine uncIe" (11.2.590-592) wird Harn lets Spiel- dessen Titel The Murder ojGonzago lautet und zu dem Harnlet etwas aus seiner eigenen Feder hinzufilgt - eindeutig eine Exemplumfunktion zuerkannt. Im Gespräch mit Horatio schränkt Harn let unmittelbar vor der Aufführung die Exemplumfunktion des Spiels auf eine Szene ein, die dann das play-within-the-play bildet: One scene of it comes near the circumstance Which I have told thee of my father's death. (III.2.76-77)

Harnlets Theaterprojekt läßt sich in mehrfacher Weise auf Erasmus' Exemplumtheorie beziehen. Vorerst sei nur eine Gemeinsamkeit erwähnt. Erasmus bezeichnet das Drarna - spezielI die Komödie - als ein Abbild des menschlichen Lebens ("humanae vitae simulacrum "), das fiir den Redner als unerschöpfliches Reservoir von Exempla wichtig sei. Diese Auffassung vom Drarna ist in der Renaissance bekanntlich weit verbreitet, aber es ist doch kennzeichnend, daß Hamlet in seiner Rede an die Schauspieler dasselbe Bild wie Erasmus verwendet - "the purpose of playing [00'] is to hold as it 'twere

Das Exemplum bei Erasmus und Shakes pe are

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the mirror up to nature; to show virtue her feature, scorn her own image [... ]" (111.2.20-23). Hamlet will König Claudius einen Spiegel vorhalten, in dem er sich erkennen kann. Er will ihm durch ein Exemplum seine Mordtat vor Augen stellen. In der Rede an die Schauspieler drückt sich sicher Hamlets genuines Interesse an der Schauspielkunst· aus, man sollte sie aber nicht zu sehr von dem play-within-the-play losgelöst betrachten. Das Spiel-im-Spiel präsentiert in zweifacher Weise ein Analogon zur Ermordung von Hamlet, einmal in der Form der dumb-show und dann in dramatisch-dialogischer Form. In beiden Versionen ist die Ähnlichkeit mit der Handlung im eigentlichen Drama größer als in dem oben betrachteten Exemplum des Schauspielers. Das Problem der Ähnlichkeit zwischen dem gegebenen Kontext und dem eingelegten Exemplum, auf das sich Erasmus mehrfach bezieht, ist auch hier von großer Bedeutung. In der dumb-show wird dadurch, daß die verbale Semantisierung der mimisch und gestisch wiedergegebenen Handlung entflillt, die Familienbeziehung des Giftmörders nicht deutlich, und damit bleibt ein wesentlicher Aspekt der Charakterkonstellation der Tragödie ausgespart, ein Grund dafür, daß Claudius noch nicht reagiert. In dem sich anschließenden Spiel (play-within-the-play) ist die Analogie zur Haupthandlung des Dramas offenkundig, aber die Akzente sind teilweise verschoben, und einiges ist geändert. Zwei wesentliche Punkte seien herausgehoben. Ausführlich erörtern der König ("the Player King") und seine Frau ("the Player Queen") die Frage einer Wiederverheiratung nach dem Tod des Partners, wobei die Königin ihre Treue über den Tod des Mannes hinaus beteuert. Das Problem der Treue seiner Mutter, das Hamlet so peinigt, wird also im play-within-theplay scharf fokussiert. Eine Mitwisserschaft oder gar eine Beteiligung der Frau an der Ermordung des Mannes wird in dem Spiel-im-Spiel nicht angedeutet. Eine markante Veränderung gegenüber dem eigentlichen Drama ist die Tatsache, daß der Mörder in dem eingefügten Stück nicht der Bruder, sondern wie Hamlet im eigentlichen Drama - der Neffe des Königs ist, wodurch es zu einer Überblendung der Rollen von Mörder und Rächer kommt. Die Stellen in der Szene 111.2., in denen sich der Exemplumcharakter des play-within-theplay am deutlichsten zeigt, sind die zwei längeren Kommentare, die Hamlet während der Aufführung abgibt. Als der König gereizt fragt, wie das Stück heiße, antwortet Hamlet: The Mousetrap - marry, how tropically! This play is the image of a murder done in Vienna - Gonzago is the Duke's name, his wife Baptista - you shall see anon. 'Tis a knavish piece of work, but what 0' that? Your Majesty, and we that have free souls, it touches us not. (111.2.232-237)

Indem Hamlet auf das historische Ereignis - eine tatsächliche Mordtat in Wien, die der Handlung des aufgeführten Stücks zugrundeliegt - hinweist

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und die Namen der Akteure nennt, betont er den Exemplumcharakter der Geschichte. Erasmus hatte gesagt, daß historische Ereignisse und insbesondere solche, die der nahen Vergangenheit entnommen sind, als Exempla besondere Beweiskraft besitzen. Es ist interessant, wie Hamlet den exemplarischen Charakter der Handlung des aufgefiihrten Stücks, d.h. ihre Anwendbarkeit auf die Beziehung zwischen Claudius, Hamlet und Gertrud, dissimulationsironisch zum Ausdruck bringt: "Your Majesty, and we that have free souls, it touches us not." Als der Mörder des p/ay-within-the-p/ay seine Tat vollbracht hat, macht Hamlet nochmals deutlich, daß es sich um ein Verbrechen handelt, das sich tatsächlich ereignet hat, und er faßt die Handlungselemente des aufgefiihrten Stücks so zusammen, daß die Analogie zur Claudius-Gertrud-Handlung ins Auge springt: A poisons hirn i'th' garden for his estate. His narne's Gonzago. Tbe story is extant, and written in very choice Italian. Y ou shall see anon how the rnurderer gets the love of Gonzago's wife.

(111.2.255-257)

Wenn Hamlet die Mordgeschichte als "extant" bezeichnet, nutzt er - in Übereinstimmung mit dem, was Erasmus zur argumentativen Funktion eines tatsächlichen Ereignisses der Gegenwart oder der kurz zurückliegenden Vergangenheit sagt - die Beweiskraft des Tatsächlichen. Und wenn er gleichzeitig prägnant die Analogie zur Geschichte von seinem Vater, Claudius und Gertrud formuliert, erlangt das Exemplum seine größte Wirkung. Das Wort "extant" ('existierend', 'tatsächlich vorhanden') ist in diesem Zusammenhang in einem so offenkundigen Sinne doppeldeutig, indem es sich gleichzeitig auf die Vergiftung von Gonzago und den Mord an Hamlets Vater bezieht, daß die konsternierte Reaktion von König Claudius nur zu begreiflich ist. Kein Autor hat das Exemplum je zu größerer dramatischer Wirkung gebracht als Shakespeare in dieser Szene. Es gibt nun ein anderes Exemplum bei Shakespeare, das zwar nicht so augenfiillig und weit ausgefiihrt ist wie das Spiel-im-Spiel in Ham/et, das aber an dramatischer Komplexität jenem in nichts nachsteht. Es handelt sich um den letzten Monolog des Titelhelden in Othello, wo sich das Exemplum aus einem Ereignis aus Othellos früherem Leben konstituiert. Selbsterlebtes hat nach Erasmus, wie bereits mehrfach gesagt wurde, sehr hohe Beweiskraft in einem Exemplum. Othello hat sich, irregeleitet durch Iagos perfide Täuschungs- und Verleumdungsstrategien, in tragische Schuld verstrickt und hält nun vor den Abgesandten aus Venedig seine letzte Rede, einen Nachruf auf sich selbst gewissermaßen, mit dem er sich ins rechte Licht zu TÜcken versucht und den er

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nach Venedig übermittelt wissen will. Am Ende dieser Rede erzählt er eine Episode aus seinem erfolgreichen Leben als General im Dienst von Venedig: And say besides, that in Aleppo once, Where a rnalignant and a turban'd Turk Beat a Venetian, and traduc'd the state, I took by the throat the circurncised dog, And srnote hirn thus. [Stabs himself. (Shakespeare, 1984, V.2.353-357)

Es mag befremdlich erschienen, daß Othello in einer Lage, in der man ein Zerbrechen der Persönlichkeit erwarten würde, eine Begebenheit erzählt, die zu seinem Ruhm gereicht: wie er einmal in Aleppo einen Türken, der einen Venezianer geschlagen und den Staat Venedig verunglimpft hatte, beim Hals nahm und erstach. Der unerhörte Überraschungseffekt dieser Szene liegt nun darin, daß sich Othello in dem Moment, in dem er von seiner Tat berichtet, selbst ersticht. Die erzählte Tötung und die Selbsttötung überlagern sich. In der Art, wie sich Othello in Analogie zu einer früheren Tat selbst hinrichtet, ist ein Hinweis auf sein ethnisches Außenseitertum in Venedig impliziert. Denn dadurch, daß sein Handeln dem erzählten Beispiel folgt, identifiziert er, der ethnische Außenseiter in Venedig, sich quasi mit dem "beschnittenen Hund" aus der Türkei. Das Exemplum hat hier höchste Beweiskraft. Es liefert die argumentative Grundlage für Othellos Selbstmord. Der Suizid ist für Othello, wenn er sein Tun am Maßstab seines früheren, ehrenvollen Wirkens rur Venedig orientiert, eine folgerichtige Handlung.

6_ Schluß Die Theorie des Exemplums in Erasmus' De copia ist eindeutig mit dem Blick auf die Redekunst geschrieben, aber in seiner Würdigung der Vielfalt der Erscheinungsformen des Exemplums, in seiner Rehabilitation des fiktional-poetischen Potentials des Exemplums und in seiner tiefschürfenden Erörterung der Beziehung zwischen Exemplum und Kontext nimmt Erasmus Unterscheidungen vor und formuliert Einsichten, die rur die Untersuchung von Shakespeares Gebrauch des Exemplums fruchtbar gemacht werden können. Viele der Kriterien des Erasmus lassen sich in Shakespeares Verwendung des Exemplums nachweisen. Es läßt sich wie auf anderen Gebieten eine Kongenialität zwischen dem niederländischen Humanisten und dem elisabethanischen Dramatiker feststellen (Müller, 1991). Wenn Shakespeares Werke auch auf dem Fundament der klassischen Rhetorik entstanden, so transzendieren sie die Rhetorik doch und gewinnen poetisch-ästhetische Individualität, ohne je-

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mals ihren Ursprung in der Rhetorik zu verleugnen (Müller, 1993). So hat Shakespeare die rhetorische Figur des Exemplums zu dramatisch-poetischer Wirkung gebracht, die über alles hinausfiihrt, was die zeitgenössischen Rhetoriktraktate rur möglich hielten.

Literatur

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Das Exemplum bei Erasmus und Shakespeare

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0/ Schemes

and Tropes, Hg. Herbert W.

VOLKERKAPP

Exempelerzählung und Anstandslehre bei Guazzo: Zur Bedeutung der Exempla nach Boccaccio Die Ausdifferenzierung des Wissens hat bekanntlich tiefgreifende Veränderungen in der Zuordnung einzelner Gegenstandsbereiche zu Fonnen und Methoden ihrer theoretischen Bewältigung hervorgebracht. Wer heute krank ist, sucht den Arzt, wer depressiv ist, den Psychologen oder den Psychiater auf. Keiner käme hingegen auf den Gedanken, als physisch und psychisch Kranker einen Rhetoriker um eine Gesprächstherapie zu bitten. Umgekehrt würde sich ein Professor ftir Rhetorik heute wohl kaum bereitfmden, eine Gesprächstheorie als Gesprächstherapie zu konzipieren, um durch seine Anleitung zum kommunikativen Handeln eine Hilfestellung zur Bewältigung persönlicher und gesellschaftlicher Probleme zu leisten. Diese Zielsetzung konnte man im 16. Jahrhundert hingegen verfolgen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, als unseriös zu gelten, weil man die Grenzen seiner Disziplin überschritten hatte. Stefano Guazzo hat sich diese hochgemute Aufgabe in La Civi! Conversazione (1574)1 gestellt. Seine Zeitgenossen fanden dieses Konzept überzeugend, und noch bis ins 17. Jahrhundert hinein wurde sein Werk regelmäßig nachgedruckt. Guazzo hat mit seiner Anleitung zum rechten kommunikativen Handeln eines der erfolgreichsten Anstandsbücher ganz Europas zustande gebracht. Der Ausgangspunkt des Werkes ist ein medizinischer Fall. Guglielmo Guazzo, der Bruder des Autors, ist von einer schweren Fiebererkrankung befallen, die auch psycho-somatische Ursachen haben könnte, denn er leidet unter einer unheilbaren Depression, die in der Tenninologie der Zeit Melancholie genannt und vom Autor auf dessen Enttäuschungen bei Hof zurückgeführt wird. Zu ihm kommt der Arzt Annibale Magnocavallo, der kein reiner Empiriker, sondern auch ein Theoretiker - in der Tenninologie der Zeit: ein Philosoph - ist und ihn durch eine Unterhaltung über das rechte kommunikative Handeln heilen möchte (vgl. Patrizi, 1990,47-94). Der Arzt Annibale treibt dabei seine Analyse des kommunikativen Handelns bis zu dem Punkt, den er als Zentrum des sozialen Umbruchs in seiner Zeit ansieht und den er als "rivoluzione de' I

Im folgenden nach der Ausgabe von Amadeo Quondam (Modena, 1993) 2 Bde. zitiert.

7 Engler I MUller

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nostri tempi" (I, 125) bezeichnet. Was er damit meint, zeigt das Bild des Rades, das in einer ständigen Kreisbewegung die unteren sozialen Schichten langsam nach oben und die oberen nach unten bringt: E se vi andate rivolgendo per la memoria le cose che si trovano scritte de' passati secoli e le paragonate coi presenti, anzi se ponete mente alla sola rivoluzione de' nostri tempi, voi riconoscerete che, non meno di tutte l'a1tre cose, vanno le famiglie a guisa di ruota girando e mostrando i segni che dicono: - 10 salgo, io sono in cima, io scendo, io sono aI basso - ; e che, secondo quel detto, I'aratore si fa guerriero e 'I guerriero toma a11' aratro. Laonde si pub dire che vi e la nobiltä che comincia, quella che cresce, quella ch'e in colmo, quella che si scema e quella ch'e aI fine. (I, 125f)

Das Rad der Geschichte, wie es sich in der Bewegung von sozialem Aufstieg und Niedergang manifestiert, erlaubt es nicht nur, das Zeremoniell, mit dem gesellschaftlicher Rang nach außen hin dargestellt wird, zu relativieren, sondern auch den Antagonismus von gesellschaftlichem und geistigem Adel aufzuheben. Allein die geistigen Werte unterliegen nicht dem Kreislauf von Aufstieg und Verfall, folglich ist auch der Gegensatz von Sein und Schein nur rein vordergründig. Deshalb kann das kommunikative Handeln, das mit der "Civil Conversazione" gemeint ist, das Ideal menschlicher Gemeinschaft und die Richtschnur fUr die Bewertung menschlichen Verhaltens abgeben. Im vierten Buch läßt Guazzo den Cavaliere eine deutliche Heilung von seinem Leiden kundtun, als er während eines Gastmahls in der Akademie von Casale die Gespräche unterbricht und die Versammelten zum Vorbild menschlichen kommunikativen Handelns erhebt. 2 Der Cavaliere stellt mehrfach Parallelen zwischen der Kochkunst, der Redekunst und der Anstandslehre auf und sagt u. a.: "[ ... ] questo nobilissimo convito e composto di giuochi, di favole, d'istorie, di motti e di sentenze [... ]" (I, 292). Was diese vorbildliche Zusammenkunft mittels Erzählungen über erfundene oder reale Geschehnisse oder mittels Aussprüchen über menschliches Verhalten sagt, möchte er zum Gegenstand eines Werkes erhoben wissen, denn "[ ... ] farebbe opera al mondo utilissima chi raccogliesse in un volume tutti questi successi [... ] narrati [... ]" (I, 292). Reden und Handeln kommen hier zur Deckung, so daß der Cavaliere behaupten kann: "[ ... ] questo da voi raccontato e veramente convito reale [... ] di qui si trae la forma de' trattenimenti che deono passare fra convitati e la debita conversazione loro" (I, 293). Die Reden und ihre Gegenstände sind sprachlich 2 Diese Episode spiegelt auf gesellschaft\icher Ebene wider, was sich zuvor im persönlichen Gespräch zwischen dem Cavaliere und dem Arzt abgespielt hat; vgl. den Kommentar von Amadeo Quondam, 11, 442, Anm. 264.

Exempelerzählung bei Guazzo

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und inhaltlich vorbildlich und bezeugen hierin die Vorbildlichkeit der Sprechenden und die Qualität ihres Zusammenseins. Annibale defmiert die Unterhaltungen als "ragionamenti [... ] famigliari e piacevoli" (I, 20), in denen "de' proverbi che s'usano fra gli artefici e delle favole che si raccontano presso al fuoco" (ebd.) dominieren. Hierbei handelt es sich meistens um Exempla, denn "gli apoftemmi, i proverbi, le citazioni, le favole, eccetera, sono sempre prodotti con funzione esemplare", wie Quondam mit Recht anmerkt (I, 375). Guazzo vertritt die Ansicht, daß "gli essempi dichiarano meglio le cose" (I, 101). Daher spickt er seinen Text mit zahllosen Exempla und versieht ihn mit Randglossen, die diese Exempla hervorheben. 3 Die Verwendung von Exempla ist in der humanistischen Moralphilosophie, besonders in Lehrdialogen, nichts Auffälliges, deren Häufigkeit hat jedoch bei Guazzo etwas mit der Struktur seines Denkens zu tun. Dies wird offenkundig, sobald man anband einiger Beispiele aus La Civil Conversazione das Exemplum-Verständnis des Autors näher untersucht. Guazzo befürwortet die Verbindung von Wissen und Lebenspraxis. Zur Erläuterung dieses Gedankens polemisiert Annibale am Anfang des ersten Buches gegen die Gelehrten ("i letterati" I, 24) und die Theoretiker ("i speculativi" I, 25), die aus Egoismus alle politischen Ämter von sich weisen, weil sie nur für sich alleine leben wollen. Guazzo kennt entweder aus eigener Lektüre oder durch Polyanthea Ciceros Charakterisierung des Sokrates als jenen Philosophen, der die Moralphilosophie als erster vom Himmel heruntergeholt habe. 4 Hingegen tadelt Annibale jene, die den Realitätsbezug verloren haben, und erzählt, wie einer seiner belesenen Studienkollegen in Pavia hereingelegt worden sei. Dieser habe Stiefel gebraucht und sich zwei ungleiche andrehen lassen, von denen einer viel zu eng, der andere viel zu weit war. Als ihn seine Kommilitonen deswegen verspotteten, bestätigte er, daß auch er sich darüber beim Schuster beklagt, von diesem jedoch die Erklärung bekommen habe, sie seien aus unterschiedlichem Leder. Der eine würde noch schrumpfen, der andere sich ausdehnen. Für Annibale ist sein Studienkollege ein weltfremder Stubenhocker und der Bericht über ihn eine Exempelerzählung, die als solche auch in der Randglosse gekennzeichnet ist. Diese Exempelerzählung, die als "Esempio d'uno scolare" angezeigt wird, hat im Text dieselbe Funktion wie die zuvor erfolgte Nennung von Sokrates, die in der Randglosse als "Filosofia morale introdotta da 3 Vgl. dazu die Verzeichnisse in I, 362-377 und die Anmerkung 50 in 1I, 30f., wo Quondam die rhetorische Lehre des Exemplums behandelt.

4 I, 25; vgl. Cicero, Tusculanae disputationes V, 4, 10. Sokrates wird sieben Mai namentlich erwähnt, vgl. 1I, 63, Anm. 127.

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Socrate" gekennzeichnet ist. s Beide Geschichten veranschaulichen den Vorrang der Lebenspraxis vor bloßer Theorie, doch unterscheiden sie sich dadurch, daß im Falle von Sokrates auf eine allgemein bekannte Tatsache, im Falle des weltfremden Studenten auf eine persönliche Erfahrung zurückgegriffen wird, die allerdings ebenso wie die Charakterisierung von Sokrates auf die allgemein akzeptierten Vorstellungen verweist. Die Berufung auf Sokrates ist eine Sonderform der Amplifikation und bildet die rhetorische Figur des Exemplums, mit der ein Thema erläutert, ein abstrakter Gedankengang konkretisiert oder auch bloß ein Satz ausgeschmückt wird. Die Exempelerzählung ist eine erweiterte Form des Exemplums, das nun nicht nur wie ein statisches Bild, sondern wie ein szenisches Geschehen betrachtet werden kann. Während die Defmition der rhetorischen Figur kaum Anlaß zur Diskussion gibt, ist deren Verbreitung ein keineswegs geklärtes literarhistorisches Problem. Da es hier aus Raumgründen nicht möglich ist, die literarhistorische Problematik der Verwendung von Exempla in ihrer vollen Breite darzustellen, möchte ich mich auf deren Bedeutung rur die Novellistik und die sich daraus ergebenden Fragen fiir die Anstandsliteratur beschränken. Die Exempelerzählung war in der mittelalterlichen Literatur ein beliebtes Genre, das sowohl Bestandteil eines größeren Textes sein als auch rur sich allein stehen konnte. Seit den Anfängen der italienischen Novellistik wird eine enge Beziehung zwischen der Ethik eines paradigmatischen Handelns und der Ästhetik einer trefflichen sprachlichen Formulierung der Maximen dieses Handelns hergestellt. Daraus ergeben sich einerseits die vielfachen Analogien zwischen der Novellistik und den Zivilitäten, andererseits die engen Beziehungen zwischen den Apophthegmata oder Sentenzen und den Exempla. Das Exemplarische menschlicher Existenz kann in der knappen Formel eines denkwürdigen Ausspruchs synthetisiert oder in der detaillierteren Erzählung eines Geschehens ausgebreitet werden. Von dieser Voraussetzung gehen die Sentenzensammlungen und Polyanthea wie die Novellensammlungen aus. Im Prolog des Novellino, der auch unter dem Titel Le Ciento Novelle Antiehe bekannten frühen Novellensammlung, charakterisiert ein uns unbekannter Autor dieses Werk folgendermaßen: Questo \ibro tratta d'alquanti fiori di parlare, di belle cortesie e di be' risposi e di belle valentie e doni, secondo che per 10 tempo passato hanno fatti molti valenti uomini. (Segre und Marti, 1979,797)

S Dieses Beispiel belegt Guazzos Bemühen um eine Variation der Randglossen, weswegen viele Exempla dort nicht als solche verzeichnet werden.

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Dieser Beginn des Prologs verbindet das Rede- mit dem Geselligkeitsideal. Diese beiden Elemente stehen rur den Autor des erst im 16. Jahrhundert gedruckten Novellino unter religiösen Vorzeichen, wenn er dem intendierten Leser seine Zielsetzung erklärt: Voi eh'avete i euori gentili e nobili infra li altri, aeeonciate le vostre menti e le vostre parole nel piaeere di Dio [.. .]. E [se] in aleuna parte, non dispiaeendo a lui, si pub parlare, per rallegrare il eorpo e sovenire e sostentare, faeeiasi eon piu onestade e [eon] piu eortesia ehe fare si puote. [... ] Non gravi a' leggitori: ehe sono stati molti, ehe sono vivuti grande lunghezza di tempo, e in vita loro hanno appena tratto uno bel parlare, od aleuna eosa da mettere in conto fra i buoni. (ebd.)

Während die Prediger neben den beispielhaften positiven auch beispielhafte negative Verhaltensweisen kennen, will der Autor des Prologs nur das Gute festhalten, um durch eine positive Grundhaltung seiner Geschichten zum leiblichen Wohl der Leser beizutragen. Dabei geht er davon aus, daß ein beispielhafter Ausspruch oder eine denkwürdige Tat die Krönung menschlicher Existenz sind. Die Überlieferung dieser Denkwürdigkeiten durch die Novellistik erscheint ihm als Beitrag zur Förderung einer heiteren Geselligkeit, aus der sich die seelische Gesundheit der Leser (oder Zuhörer) ergibt. Gepflegtes Erzählen exemplarischer Verhaltensweisen ist filr den Autor des Prologs zum Novellino ein Weg zu moralischer und seelischer Gesundheit. Dabei ist rur ihn die Perspektive von oben nach unten maßgebend, weil die Gesittung der Oberschicht der Unterschicht zum Vorbild dienen soll. Doch sieht er innerhalb der gesellschaftlichen Elite nicht nur die Sonderform des Heroischen vor, sondern läßt durchaus auch jene in Erscheinung treten, die sich nur durch einen einzigen besonderen Ausspruch oder eine einzige großmütige Tat hervorgetan haben, daher von der Geschichtsschreibung übergangen worden sind und somit zur Masse der gewöhnlichen Menschen gehören, mit deren Darstellung sich die ältere Literatur schwer tut. Die Novellistik beschäftigt sich folglich, wenn man dem Programm des Prologs zum Novellino folgt, mit jener Mittellage menschlicher Existenz, die sich nicht in die gefährlichen Höhen des Heroischen versteigen muß, um etwas Beispielhaftes vollbringen zu können. Daher rührt ihre Affmität zur Exempelerzählung, aber auch ihr Bemühen um eine Distanzierung von jenen unwahrscheinlichen Exempla, mit denen die mittelalterlichen Prediger die Umsetzbarkeit der höchsten Ansprüche christlicher Moral in die Lebenspraxis zu erweisen suchten. Wenn man die Novellistik aus rhetorischer Perspektive betrachtet, ergeben sich offenkundige Gemeinsamkeiten mit der Exempel-Literatur. Doch ist die rhetorische Fragestellung von der Forschung zugunsten der poetologischen oder rezeptionsgeschichtlichen Frage nach dem Verhältnis von Exempelerzählung und Novellistik vernachlässigt worden.

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Die poetologische Diskussion hebt die Verschiedenheit von Novelle und Exempelerzählung hervor. Die Novelle erhielt durch Boccaccio eine mustergültige Gestalt, trat als eigenes Genre in den Vordergrund und wurde neben dem Sonett die beliebteste literarische Form der italienischen Literatur. Da sie Funktionen der Exempelerzählung übernommen hat, bereitet auf der einen Seite die Abgrenzung beider Genera und auf der anderen die Bewertung der Novellen besonders jenen Interpreten Schwierigkeiten, die mittels der Kategorien von Jauß die formalen Strukturen der Novelle als Innovation gegenüber den Exempelerzählungen hinstellen wollen (vg1. Jauß, 1970). Unter diesen Voraussetzungen hat Hans-Jörg Neuschäfer 1969 die These aufgestellt, daß es im ganzen Decameron "nur eine einzige Geschichte [gibt], die der eindeutigen Lehre des Exemplums entspricht" (56). Da diese Exempelerzählung in der Einleitung zum vierten Tag steht, also nicht von einem der zehn Erzähler des Werkes, sondern vom Autor selbst vorgetragen wird, wollte Neuschäfer einen unüberwindlichen Kontrast zwischen Exempelerzählung und Novelle konstruieren. Seit sich diese These großer Akzeptanz erfreut, kam die Forschung auf den erstaunlichen Gedanken, die neuzeitliche literarische Form der Novelle habe nicht nur die mittelalterliche der Exempelerzählung abgelöst, sondern sogar möglicherweise die rhetorische Figur des Exemplums überwunden. Von dieser Meinung gehen, implizit zumindest, Le Goff und seine Forschergruppe in ihrer Studie zum mittelalterlichen Exemplum aus (Bremond, Le Goff und Schmitt, 1982). Neuere Publikationen versuchen diese Position aufzuweichen, indem sie vorsichtig rur die kontinuierliche Weiterverwendung dieser rhetorischen Figur plädieren,6 wagen es aber nicht, sie zu negieren. Dieser Tendenz der Forschung sei hier mit aller Entschiedenheit widersprochen. Die neulateinische Literatur hat vom 14. bis zum 17. Jahrhundert konstant Exempla benutzt und von Petrarca in einem Brief von 1342 an den Kardinal Giovanni Colonna (Familiarum rerum liber VI, 4) die poetologische Rechtfertigung tUr deren ausgiebige Verwendung erhalten. Boccaccios lateinische Werke bestätigen Petrarcas Programm. Die ganze humanistische Literatur in Vulgärsprache verwendet kontinuierlich Exempla. Die humanistische Pädagogik beruht auf Exempla. Doch ist in der Tat die Novellistik nicht ohne Einfluß auf das Verständnis der Exempelerzählung geblieben. Die Anstandsliteratur hat nämlich neben den traditionellen antiken neue Exempla aus der vulgärsprachlichen Tradition aufgenommen, die eine differenziertere Sicht menschlichen Verhaltens vermitteln sollen. Diese Problematisierung der Exempelerzählung durch die Novellistik bringt Guazzos La Civil Conversazione zu einer Synthese, die das rhetorische Programm der Exempelerzählung im Novellino mit der Negation des Exemplums durch das Decameron und die ihm nachfolgende Novelli-

6

Vgl. Delcorno, 1989, bes. das Kapitel über Petrarca (229-264) und über Ariosto (317-337).

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stik in einem humanistischen Programm des kommunikativen Handelns vereint. Das Decameron hat eine eigene vulgärsprachliche Tradition begründet, die in einem fruchtbaren Dialog mit der antiken und neulateinischen Literatur stand. Es hat aber durch seinen Modellcharakter weder die Exempelerzählung noch die rhetorische Figur des Exempels verdrängt, sondern zur Schaffung neuer Exempla beigetragen. Angesichts der Tendenz humanistischer Literaturästhetik, Exempla möglichst aus der griechisch-römischen Antike zu wählen, ist es ein Zeichen für die Wertschätzung des Decameron, wenn aus ihm viele Exempla entnommen werden. In dieser Perspektive bleibt Neuschäfers richtige Beobachtung bedeutsam, daß das Decameron durch seine vielfache Brechung der Perspektive von Exempelerzählungen die asketische Anthropologie des Mittelalters in den zentralen Bereichen der Sexualität, des Frauenbildes und des Verhaltens der Menschen untereinander untergraben hat. Sie erhält dadurch ihr besonderes Gewicht, daß das Decameron stetiger intertextueller Bezugspunkt von Schriften ist, die sich mit dem Benehmen beschäftigen.1 Hier ist besonders Giovanni della Casa mit seinem Galateo (1558), einem weiteren grundlegenden Werk europäischer Anstandslehre, zu nennen. Sein "Traktat besteht im Grunde ausschließlich aus kleinen Anekdoten und Novellen, die jeweils einen bestimmten gesellschaftlichen Mißgriff vorfUhren" (Hinz, 1992, 321). Della Casa versammelt Exempla richtigen und - noch häufiger - falschen Verhaltens, die er aus der Novellistik bezieht. Er kennt das Decameron so genau, daß er es ständig zustimmend oder mit Vorbehalten als ein Sittengemälde vergegenwärtigen und gewissennaßen als Enzyklopädie menschlicher Verhaltensweisen verarbeiten kann. Was hat es zu bedeuten, daß er die literarische Fiktion so in seinen Gedankengang einbezieht, wie wenn sie ein Stück Realität wäre? Die Modellierung des Wirklichen durch die Novellistik akzentuiert einzelne Aspekte gesellschaftlicher Interaktion und eignet sich dadurch ganz besonders für die Belehrung. Della Casa scheint überzeugt zu sein, daß sich manches nur auf diesem Wege und mit diesem Verfahren darstellen läßt, weswegen er selbst Exempelerzählungen erfmdet, wo er keine vorfmdet. Der Bischof Giovanni Matteo Giberti muß Z.B. einem gebildeten Grafen mit guten Umgangsformen beibringen, daß das Schmatzen ungezogen ist. Dies will Della Casa durch eine Novelle illustrieren, die er eigens in seinen Galateo einfilgt. Ver7 Diese Verwendung des Decameron setzt früher als die Erhebung des Werkes zum Modell rur die italienische Prosa ein, wie Mario Pozzi zu Recht betont: "11 Decameron [...] appariva, ancor prima che come un modello di stile, come iI Iibro che meglio di ogni altro aveva rivendicato contro le condanne dell'ascetismo medievale la legittimita della passione amorosa, specialmente se iIIuminata dall'intelligenza" (pozzi, 1975, XIV).

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feinertes Benehmen verlangt eine differenzierte Ausdrucksweise, wie umgekehrt die Rückkoppelung der eindeutigen Exempelerzählungen des Ga/aleo an die Problematisierung dieser Eindeutigkeit durch die Novellistik eine zusätzliche Dimension der Interpretation des Verhaltens hervorbringt. Die Komplexität der Modellierung von Wirklichkeit wird im Ga/aleo noch dadurch gesteigert, daß Della Casa durch die Wahl der literarischen Form des Dialogs eine weitere Vermittlungsebene einschaltet. Ich kann hier nicht zeigen, wie dieser Aspekt je nachdem, welcher Typ von Dialog gewählt wird, mehr oder weniger bedeutsam wird. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß sich die italienische Anstandsliteratur des 16. Jahrhunderts durch diesen gezielten Einsatz literarischer Vermittlungsebenen von den mittelalterlichen Zivilitäten wie von späteren Anstandsbüchern unterscheidet, bei denen rein pragmatische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Nachdem wir in Della Casas Ga/aleo gleichsam die Prinzipien wahrgenommen haben, auf Grund derer die Anstandsliteratur die differenzierte Sicht menschlichen Verhaltens im Decameron weitergeben und sogar vertiefen konnte, müssen wir uns nun den Besonderheiten der Exempelerzählungen in den Anstandslehren zuwenden. Da Boccaccio im Decameron die Frauen anspricht, soll zunächst eine der schreibenden Frauen des Cinquecento befragt werden, wie sie es mit dem Exempel hält. Daftlr bietet sich Modesta Pozzo de' Zorzi mit ihrem Dialog 1/ Merito delle Donne an, den ihre Tochter postum unter dem Pseudonym Moderata Fonte im Jahre 1600 veröffentlicht hat. Intertextueller Bezugspunkt des Dialogs ist u.a. die erste Novelle des fünften Tages des Decameron, wo vom Sohn einer angesehenen Familie aus Zypern namens Cimone berichtet wird. Eltern und Lehrer scheiterten mit allen wohlgemeinten Versuchen, ihm Anstand oder Kenntnisse beizubringen. Diese Situation änderte sich schlagartig, als er sich in die schöne Efigenia verliebte, denn in einem Vierteljahr holte er, so heißt es in der Novelle, plötzlich alles Versäumte nach. Da Boccaccios Cimone seiner geliebten Efigenia bekennt, er sei durch die Liebe zu ihr überhaupt erst ein Mensch geworden, 8 nimmt der Dialog 1/ Merito delle Donne Cimone als Beispiel dafilr, daß alle guten Eigenschaften der Männer durch die Frauen entfaltet werden. 9 Darin bestehe u. a. das im Titel des Dialogs angesprochene Verdienst der Frauen.

8 "Ora e tempo di mostrare, uomo" (Boccaccio, 1976,446).

0

Efigenia, quanto tu sii da me amata.

10

son per te divenuto

9 "Cosl se I'uomo studia, se impara virtil, se va polito, se diviene accorto, eben creato, e se in somma riesce compito di mille belle e graziose doti, di tutto cio ne son causa Je donne, come avvenne (per esscmpio) a Cimone e a moJti a1tri" (pozzo de' Zorzi, 1988, 25f.).

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Wenn man sich an Boccaccios Novelle hält, ist aber Cimone ein schlecht gewähltes Exemplum, weil er seine Efigenia gleich zweimal entfUhrt und sie dann heiratet, ohne daß nach ihren Wünschen gefragt wird. Wenn Frau Pozzo de' Zorzi alias Fonte von den Männem mehr Liebe fordert, damit die Frauen sich besser verwirklichen können, dann paßt die Gewinnung einer Ehefrau mittels Entführung und aufgenötigter Heirat schlecht zu ihrem Programm der Frauenemanzipation. Dieser Einwand gilt selbst dann noch, wenn Cimones Gewaltanwendung aus Liebe erfolgt. Die rücksichtslose Eroberung Efigenias durch den sie liebenden Cimone könnte eigentlich eher als Exemplum dafiir verwendet werden, wie oberflächlich die Zivilisierung des Mannes durch die Frau bleibt. Bevor wir allerdings der Autorin unterstellen, sie hätte dies selbst nicht bemerkt, sollten wir zwei Fragen überdenken: 1. Wie verhält sich das zum Exemplum erhobene Detail zum Rest der Geschichte, aus der das Exemplum genommen wird? 2. Wie setzt die Autorin sonst in ihrem Dialog Exempla ein? Zu Punkt 1 ist zu bemerken, daß die Akzentuierung eines einzelnen Aspektes der übliche Weg ist, um aus einer komplexen Geschichte wie der Novelle von Cimone ein eindeutiges Exemplum zu machen. Wenn aber die Autorin in diesem Sinne den Anfang von Boccaccios Novelle zu einem Beispiel fiir die kulturstiftende Kraft des weiblichen Geschlechts erhoben hätte, dann hätte sie dieses Exemplum auf Kosten des Hintersinns konstituiert, durch den sich das Decameron von den mittelalterlichen Exemplasammlungen unterscheidet. Deshalb ist die zweite Frage wichtig, wie nämlich die Autorin in ihrem Dialog Exempelerzählungen einsetzt. Sie schickt später einer Rede, die ein Plädoyer fiir mehr Achtung vor der Frau ist, eine Diskussion über die dazu notwendigen rhetorischen Mittel voraus und spricht dabei von Exempla. 10 Daher kann der Hintersinn ihrer anschließenden Exempelerzählung über die Schwierigkeiten der Frauen bei öffentlichen Reden kein Zufall sein. Ein Töpfer, so heißt es in der Erzählung, habe seinen Sohn zum Studium geschickt und ihn nach Jahren geprüft, bevor er ihn zum Doktorexamen antreten ließ. Er stellte ihm Töpfe hin, auf der einen Seite die Professoren, auf der anderen das Publikum, und bat ihn, seine These vor diesen zu verteidigen. Der Junge, der "von Logik und anderen Lehren soviel wie ein Esel vom Lauten-

10 "10 non credo gia che vi giovasse a1cun argomento di logica, a1cun silogismo di dialetica, ne a1cun color di retorica; non vi valeria formar concetti, vestirli di vaghe parole, alterar la voce, variar 10 stile, ne accomodar le figure per produr le ragioni, per provar le leggi, per ricordar gli essernpi; vi perdereste su'l beI principio ed avendo a pena incominciato iI proemio, vi trovareste aver fomito la narrazion e I'epilogo" (ebd., 131).

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spiel"l1 verstand, redete wie ein Buch und befriedigte seinen Vater. Als der Sohn dann in der Disputation bereits bei der ersten Frage kein Wort herausbrachte und sein Vater von ihm dafilr eine Erklärung verlangte, antwortete er, Professoren seien eben keine Töpfe. In der Gesprächsrunde des Dialogs werden die Seitenhiebe gegen die Wissenschaft der Männer und gegen die Professoren geflissentlich ignoriert. Stattdessen wird über die unwichtige Frage debattiert, ob die Rednerin die Frauen mit Töpfen vergleichen wollte. Die Autorin möchte mit dieser ironischen Brechung der Perspektive durch Exempelerzählung und Diskussion verdeutlichen, wie die Männer den Frauen das Selbstvertrauen genommen haben. Die Exempelerzählung profitiert von der rhetorischen Figur der Endoxa, die mit dem stillschweigenden Einvernehmen der am Kommunikationsvorgang Beteiligten rechnet und mit filr wahrscheinlich gehaltenen Vorstellungen argumentiert. Bei der Verwandlung von Boccaccios Cimone in ein Exemplum schwingt etwas von der verschwiegenen Seite der Novelle untergründig mit. Wenn Frau Pozzo de' Zorzi alias Fonte am Beispiel von Cimone die zivilisierende Kraft der Frau herauskehrt, vergegenwärtigt sie gleichzeitig die problematischen Verhältnisse so, daß sich eine Diskussion entfacht. In Guazzos La Civi! Conversazione ist Boccaccios Cimone ebenfalls ein Exemplum rur die positive Wirkung der Frauen auf die Männer. 12 Der Cavaliere sagt dort über die "conversazione delle donne": [... ] non e a1cuno cosl da poco e cosl Cimone, iI quale amando non si risvegli e non divenga savio, e non si senta dall' onesto amore e dalla gentil conversazione delle donne infiammato di virtuosi e celesti pensieri, e che oltre a molti lodevoli studi non sia chiamato a quello della poesia. E di qui nacque che, vantandosi Apollo d'essere stato cagione deli' opera d'un poeta ripiena d'amorosi concetti, Venere gli si oppose dicendo che quel poeta sarebbe rimaso muto10, se non era risvegliato dal fuoco di suo figliuolo. (I, 168)

Boccaccios Cimone steht hier in erster Linie für den Tor, da "cosi da poco" und "Cimone" einen Parallelismus bilden. Doch ist hier Cimone als Exemplum aus der vulgärsprachlichen Literatur unmittelbar anschließend mit einem Exemplum aus der antiken Mythologie in Parallele gesetzt, das die andere Seite der Gestalt aus dem Decameron vergegenwärtigt. Der Streit zwischen ApolIon

11 "[ •.• ]

tanto s'intendeva di logica e di a1tra dottrina quanto I'asino di sonar di lira [... ]n (ebd.,

135). 12 Boccaccio wird in Guazzos Werk zehnmal erwähnt, obwohl das Decameron aufVeranlassung der Teilnehmer des Konzils von Trient 1573 in einer purgierten Ausgabe herausgebracht und somit das Werk als solches rur bedenklich gehalten wurde. Vgl. Quondams Anmerkung 329 in 11, 105.

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und Venus illustriert dabei die Arroganz der Männer, die in 1/ Merito delle Donne Anlaß zur Diskussion des Exemplums gegeben hatte. Die Exempelerzählung illustriert normalerweise einen eindeutigen Sachverhalt und sieht deshalb keine Hinterfragung vor. Das läßt sich an der eingangs zitierten Geschichte von Guazzos belesenem Studienkollegen verifizieren, die mit der Frage endet: "Parvi, che cotali uomini si possono chiamare savii per lettera e pazzi per volgare?" (I. 26). Für Guazzo ist dies eine rhetorische Frage, weil für ihn die Verhältnisse klar sind und er davon ausgeht, daß seine Leser dies ebenso sehen. Wir hingegen könnten eine Möglichkeit ins Auge fassen, die er nicht gesehen hat, und uns fragen: Haben die Studierenden wirklich recht, sich über ihren offenbar blitzgescheiten Kommilitonen lustig zu machen, oder hat etwa dieser nur deshalb die ungleichen Schuhe mitgenommen, weil er sich durch seine wissenschaftlichen Kenntnisse ermutigt fühlte, die völlig unwahrscheinliche Erklärung des Schusters für eine besonders weitsichtige Strategie der Schuhproduktion zu halten? Heutige Ingenieure planen die Ausdehnung und Kontraktion des Materials ein, weswegen Annibales Kommilitone für sie höchstens deswegen töricht erscheint, weil er Bücher und nicht Werkstoffe studiert und deshalb übersehen hat, daß der Schuster mit dem Leder nicht angemessen umgegangen ist. Wenn man diese Problematik von der Ebene der Wissenschaftskonzepte auf die der rhetorischen Verfahren überträgt, dann fallen einem Ausnahmen auf, bei denen die Exempelerzählung Widerspruch herausfordert. Im vierten Buch von Guazzos La Civi/ Conversazione diskutiert ein erlesener Kreis in Casale u. a. über die Frage, ob sich eine Frau dem Liebeswerben gegenüber spröde zeigen darf. Die weiblichen Gesprächspartner wehren sich gegen die Behauptung, Frauen seien abweisend und verursachten dadurch den Tod ihrer Verehrer. Die damalige Novellistik läßt in der Tat häufiger Frauen aus Liebeskummer sterben als Männer. Da die Extreme der Gefühlskälte und der GeflUligkeit den Mitgliedern des Kreises gleichermaßen unannehmbar erscheinen, schlägt der Cavaliere Bottazo mit folgender Exempelerzählung einen Ausweg vor. Eine jung Vermählte habe ihrem Liebhaber, der sie vor ihrer Hochzeit lange umworben habe, unter der Bedingung erlaubt, seinen "Durst" während der Abwesenheit ihres Gemahls zu stillen, daß er sie nie küsse. Als Grund für dieses Verbot sagt sie: "Quel giorno ch'io sposai mio marito, questa bocca promise di servargli inviolabil fede: quel che adunque la bocca ha promesso ti debbi contentare, se non sei uomo ingiusto, ch'ella osservi come richiede l'onor mio. Dell'altre parti della mia persona, te ne constituisco signore, e lascio, che tu ne disponga a tuo modo" (I, 274). Diese Exempelerzählung reizt die Zuhörer zum Widerspruch, weil ein vielleicht menschlich verständliches, aber ethisch problematisches Verhalten mit einem Trugschluß legitimiert wird. Der Erzähler plädiert unter Gelächter dafür, daß hier in einem Dreiecks-

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verhältnis alle Beteiligten durch Diskretion auf ihre Rechnung kommen. Doch die Zuhörerinnen wollen wissen, ob diese jung Vermählte bloß einfältig oder auch noch durchtrieben war. Sie billigen ihr Verhalten in keinem der beiden Fälle. Das Gelächter der Zuhörerschaft ist bei dieser am Rand als Exemplum gekennzeichneten Geschichte vorprogrammiert, da es sich um ein Exemplum aus einer Fazetiensammlung handelt. Der Witz des Exemplums wird jedoch nicht nur mit Lachen belohnt, sondern auch ernsthaft diskutiert. Diese Diskussion geht von der doppelten Bedeutung des Witzes aus, der mit einem Trugschluß die Tatsache der Einladung zum Ehebruch kaschiert. Die Verkehrung des ernsthaften Exemplums in einen Witz und die Rückfilhrung des Witzes in eine ernsthafte Diskussion der durch das Exemplum ausgeklammerten Fragen bilden eine Einheit und öffnen den Blick filr die Hintergründe, die eigentlich durch die Verwandlung in ein Exemplum ausgeschlossen werden sollten. Exempelerzählungen lassen in der Regel nicht die Frage aufkommen, ob die jeweilige Verhaltensregel tatsächlich so stimmt, wie es die Erzählung glaubhaft machen will. Deswegen wird auch nicht über sie diskutiert. Im Dialog über die Liebe und ihre Wirkungen 1/ Raverta (1542) von Giuseppe Betussigleichsam einem männlichen Pendant zum oben erwähnten Dialog Il Merito delle Donne - wird die Aussagekraft von Exempla bestritten und von einem der Gesprächsteilnehmer erregt behauptet, er könne nachweisen, daß Penelope das Gegenteil einer treuen Gattin war, filr die sie beispielhaft steht. Exempla berichteten nur Wundergeschichten und Ausnahmeerscheinungen, die alle erlogen seien. 13 Diese Einsicht verhindert nicht, daß später im Dialog zwei Novellen vorgetragen werden und daß ausgerechnet die zweite, wunderbare Exempelerzählung von der Liebe Karls des Großen zu einem Mädchen wie etwas Wirkliches debattiert wird. Betussi möchte also das Fiktive des Exemplums nicht als Minderung der Erfahrung von Realität verstanden wissen. Diese reflektierte Art des Korrelierens von Fiktion und Wirklichkeit nähert das Exemplum der Novelle an und ermöglicht einen spielerischen Umgang mit der Modellierung von Wirklichkeit. Die Fiktion erzählt die Geschichte denkbarer Realitäten, die durch die literarische Form des Dialogs mit Standpunkten von Personen in Verbindung gebracht werden. Diese Möglichkeit war im Decameron bereits ansatzweise vorhanden. Sie wird jedoch durch die Literatur des 16. Jahrhunderts systematisch weiterentwickelt. An dieser Stelle müßte man den gesellschaftlichen Ort der Dialoge, 13 "Non sapete [... ] ehe tutte le cose rare si notano per maraviglie e per esempi? E perö di queste tali si fa menzione quasi come di miraeoli. Ma io non voglio far raeeolta d'esempi, di favole e d'istorie; oltre ehe, quando io volessi, vi potrei far vedere ehe la moglie d'Ulisse fu tutta il contrario di eiö ehe si diee, eome serive Licofrone" (Betussi, in: Pozzi, 1975,73).

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besonders die Bedeutung von Institutionen wie Hof oder Akademie rur die Aussage der Dialoge, und die Funktion der Gesprächssituation filr die Exempelerzählungen mitbedenken. Nicht von ungeflihr ist Guazzos zuletzt erwähnte Exempelerzählung binnenfIktional dem Festessen einer Akademie zugeordnet und so konzipiert, daß über sie gesprochen werden mußte. Diese Ausnahmesituation könnte man mit den Kategorien von Andre lolles damit erklären, daß hier gar kein Exemplum, sondern ein Kasus vorliegt, da es nicht nur um einen besonderen Fall, sondern um die Wertung von "Norm gegen Norm" (lolles, 1958, 179) geht. Eine solche literaturwissenschaftliche Erklärung des Problems wird aber weder Guazzos Intention noch generell der Behandlung der Novelle als Exempelerzählung gerecht, wie sie am deutlichsten in der Novellensammlung Gli Hecatommithi (1565) von Giambattista Giraldi Cinzio zutage tritt. Giraldi ist einer der Novellisten des Cinquecento, der Exempelerzählung und Anstandslehre miteinander kombiniert und seine Novellen als Illustration verschiedener Möglichkeiten menschlichen Verhaltens versteht. Da er auch einer der beflihigten Poetologen der Epoche ist, konnte er in der Einleitung der Novellensammlung sein Verfahren beschreiben. Die Gesprächsrunde der Hecatommithi diskutiert über die philosophischen Liebestheorien und gerät in eine ausweglose Situation, bis ein Gesprächsteilnehmer rät, statt theoretischen Konzepten ("ragioni") Exempelerzählungen ("esempi") vorzutragen. Abstrakte Vorstellungen eigneten sich zum Entwerfen wissenschaftlicher Theorien, Exempla zum Beschreiben von menschlichen Verhaltensweisen, die man aus der praktischen Erfahrung ("esperienza") ableiten und veranschaulichen müsse. 14 Die Exempelerzählungen gehörten deshalb zu den Erfahrungswissenschaften, weil sie das Geschehen vor den Augen der anderen ablaufen ließen, somit gleichsam dessen Verdoppelung bedeuteten und so ein eigenes Urteil ermöglichten. 15 Wer nun glaubt, Giraldi habe naiv den Schritt zur Empirie mit der Eindeutigkeit der Exempelerzählung verwechselt, wird durch die Novellen eines Besseren belehrt. Die einzelnen Erzähler spicken zwar ihre Novellen mit Wertungen, wie wenn die Sachverhalte jeweils 14 "E pereio, aecioeehe, si possano questi giovani appigliare aI vero, non vi essendo cosa ehe piiJ faeeia fede appresso gli uomini, ehe gli esempi [... ] fia bene ehe ognuno di noi intomo aIla presente materia adduea, in vece di ragioni, esempi di eose avvenute, ehe da eio potra ognuno di noi molto meglio trame iI vero, ehe da siIIogismi 0 da aItri argomenti, ehe daIl'una e daIl'aItra parte si potessero addurre, i quaI i piiJ tosto nelle seienze vagliono, ehe in mostrare quelle cose, le quaI i hanno piiJ bisogno della esperienza ehe di argomenti" (GiraIdi, 1853, 52f.).

15 ''[. .. ] perehe essi soppongono quasi in fatto agli oeehi aItrui iI vero, di modo ehe chi eon gli esempi si regge nelle eose ehe si deon fare, puo quasi dire di farle due volte, e percio essere quasi sieuro di non potere errare" (ebd., 52f.).

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eindeutig wären, doch die Zuhörer stellen in den anschließenden Diskussionen diese Wertungen regelmäßig in Frage und bekräftigen ihren Standpunkt durch andere Exempelerzählungen. Der Leser lernt dadurch, daß das Erfahrungswissen schwer zu verallgemeinern und die Praxis menschlichen Verhaltens nur mit Abstrichen in allgemeingültige theoretische Konzepte zu fassen ist. Was die Novellistik weiß, ist auch der Anstandslehre bekannt. Im dritten Buch von Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528) werden Exempelerzählungen vorgetragen, um die "donna di palazzo", das weibliche Gegenstück zum Hofmann, zu beschreiben. Als ein misogyner Gesprächsteilnehmer das Frauenlob in Zweifel zieht, weil die Erfahrung ("la experientia"16) dagegen spreche, erzählen seine Gesprächspartner eine Reihe von Exempla. Zunächst werden antike Beispiele aus Sueton, Plutarch und Valerius Maximus kurz angeführt, sodann zwei lange Exempelerzählungen, eine aus Plutarch, die andere aus Boccaccios Decameron (V, 4), vorgetragen. Plutarchs Geschichte von der heroischen Liebe Cammas wird mit dem Hinweis darauf relativiert, hier sollen wohl die Frauen zu Tränen gerührt werden. Massiver ist die Reaktion auf das aus Boccaccio entnommene Exemplum einer Frau, die vor Freude bei der Nachricht stirbt, daß ihr geliebter Mann aus der Sklaverei befreit worden sei: "Che sapete voi ch'ella non morisse di dispiacere, intendendo che 'I marito tornava a casa?" (in: Cordie, 1960,233). Die Frage ist berechtigt, da die eine Erklärung genauso plausibel erscheinen kann wie die andere. An diesem Punkt verweigert jedoch Castiglione dem misogynen Skeptiker das Vorbringen seiner Gegenbeispiele und sucht nach einer Instanz, die letzte Sicherheit verleiht. Er spricht zunächst von den übrigen Lebensäußerungen, die es für wahrscheinlich erachten lassen, daß jene Frau aus Liebe gestorben ist. Über weitere Exempelerzählungen gelangt Castigliones Gesprächsrunde schließlich an den Punkt, wo an die persönliche Erfahrung eines jeden einzelnen appelliert wird und die Gastgeberin selbst zum Exemplum erhoben wird. Wer an dieser Stelle einwendet, daß die Stilisierung in platte Schmeichelei übergehe, der verkennt Castigliones Umgang mit Rhetorik. Geschichten erzählen ("novellare") ist für ihn zwar ein Merkmal angenehmer Urbanität, doch auch eben nur die umfangreichere Variante des geistreichen WitzesY Dies besagt jedoch nicht, daß die Exempelerzählungen nur belangloser Zeitvertreib sind, sondern daß sie wie der ganze Dialog über den Hofmann ein Konversationsspiel sind, bei dem durch die Modellierung des Wirklichen mittels der von der Rhetorik bereitge16 Ich zitiere im folgenden nach der von Carlo Cordie herausgegebenen Ausgabe Opere di Baldassare Castiglione, Giovanni Della Casa, Benvenuto Cellini, hier 226. 17 Er spricht von drei Arten von "facezie", deren eine "quella urbana e piacevole narrazione continuata" ist. Er filgt dann hinzu: "Quelle prime adunque, ehe consistono nel parlar continuato, son di maniera taJe, quasi ehe I'uomo racconti una novella" (CastigJione, in: Cordie, 1960, 148).

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stellten Verfahren Vorstellungen über die wünschenswerte Ausgestaltung der höfischen Welt entworfen werden. Die Exempelerzählung nutzt die Modellierung des Wirklichen durch die Fiktion, um Meinungen über Erfahrungswissen zu artikulieren. Die Anstandslehre analysiert mit diesem Verfahren Verhaltensweisen und propagiert bestimmte Umgangsfonnen. Sie relativiert die von einem Subjekt, einem Kollektiv oder einer Ideologie vertretenen Standpunkte durch die Integration der Exempelerzählung in verschiedene Typen von Dialogen, die auch zu deren Aufwertung beitragen können. Die Kodifizierung des Umgangs der Menschen miteinander durch die Anstandslehre des Cinquecento sucht der Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen dadurch gerecht zu werden, daß sie einerseits das Exemplum in die Fonn der Novelle zu überführen trachtet, andererseits durch Dialogsituationen Gegenpositionen geltend macht. Guazzo geht in mehrerer Hinsicht über Castiglione hinaus. Er weitet den angesprochenen Adressatenkreis der Anstandslehre aus, da er nicht mehr die Sonderexistenz des Hofmannes, sondern die allgemein menschliche Existenz des "uomo civile" ins Zentrum seiner Dialoge ruckt. Diesen "uomo civile" legt er auf eine Mitte zwischen allen Extremen fest und fUhrt ihn in das rechte kommunikative Handeln ein, bei dem Ästhetik und Ethik, Rhetorik und Pragmatik zur Deckung kommen. Der utopische Gedanke, man müsse den "uomo civile" mit dem beredten Menschen gleichsetzen, wird von Guazzo zurückgewiesen. Annibale plädiert vielmehr auch in diesem Bereich fiir eine Mitte, die zwischen den geschulten Rednern und der Sprachlosigkeit des Unzivilisierten liegt: E perehe vi sono molti i quali, se ben hanno di dentro ottimi eoneetti, non Ii sanno per esprimere eon la politezza deI parlare, io fina1mente propongo a chi desidera di trovar luogo di grazia nella eivil eonversazione ehe, non potendo egli apprendere dagli oratori i luoghi onde si cava la varietA e la eopia delle parole, e le figure e I'eloeuzioni, eon le quali s'abbellisee e s'iIIustra iI ragionamento, a1meno osservi eon diligenza le parole a1trui e s'imagini ehe non vi e alcuno eosl inetto e ineolto nel favellare ehe non diea talora a1euna eosa degna di memoria, la quale egli avn\ a eogliere non a1trimente ehe rosa fra le spine, e serbarsela per suo uso. (I, 95)

Die "civil conversazione" orientiert sich nicht nur an der geschliffenen Sprache der Redner, sondern an jenem alltäglichen Schatz von Gesprochenem, der eigentlich ebenso überliefernswert ("cosa degna di memoria") ist. Was Guazzo hier von sprachlichen Äußerungen sagt, klingt ganz analog wie der weiter oben zitierte Prolog zum Novellino, in dem die "fior di parlare" und die "belle valentie e doni" (in: Segre und Marti, 1959, 797) der unterhalb vom Heroischen angesiedelten Mitte zum Gegenstand der Novellistik erhoben werden. Die Exempelerzählung ist eine Art der Ausschmückung von Rede:

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Onde bisogna [... ] aiutarsi con un poco d'arte, perehe il raeeontare sempre le cose eon quelle nude parole ehe ci insegno la madre, e 'I seguire sempre la proprietä loro, apporta stanehezza all'aseoltante, il quale per 10 contrario si eompiace di quella varietä e di quegli omamenti ehe non sono communi a tutti gli uomini. (I, 95)

Der Redeschrnuck ist der ästhetische Teil der "civil conversazione", deren ethische Entsprechung die Exempla sind. Wie jener auf sprachlicher Ebene so verschönern diese auf der pragmatischen Ebene den Erfahrungsschatz der zivilisierten Menschheit. Man kann filr alles Exempla aus dem Ärmel schütteln,18 doch wenn man die Struktur der Exempla erkannt hat, kann man sie als Reservoir eines Erfahrungsschatzes verwenden, um Erfahrungswissen über menschliches Verhalten weiterzugeben. Guazzo scheut sich nicht, die von den humanistischen Handbüchern bereitgestellten Exempla als Anschauungsmaterial filr jene Mitte zu verarbeiten, in der er das Ideal menschlichen kommunikativen Handelns sieht. Seine in La Civil Conversazione zusammengetragenen Exempla dienen jedoch nicht mehr, wie in der mittelalterlichen Literatur, zur Bekräftigung einer von religiösen Instanzen vorgegebenen Ethik, sondern zur Illustration der verschiedenen, aus den überlieferten Schriften oder aus der Erfahrung des Autors erwachsenen Erkenntnisse über die Natur des Menschen. Dieser Umgang mit der Exempelerzählung erlaubt ihm, die Hinterfragung der asketischen mittelalterlichen Anthropologie durch Boccaccios Decameron in eine Hinterfragung der Ständegesellschaft auszuweiten. Er ermöglicht ihm aber darüber hinaus noch, mit den Mitteln der humanistischen Rhetorik eine auf Erfahrungswissen beruhende Lehre kommunikativen Handelns zu entwickeln.

Literatur Boccaccio, Giovanni (1976), Decameron, Hg. Vittore Branca, Milano. Bremond, Claude, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schrnitt (Hgg.) (1982), L' 'exemplum', Turnhout. Cordie, Carlo (Hg.) (1960), Opere di Baldassare Castiglione, Giovanni Della Casa, Benvenuto Ce/lini, Milano und Napoli.

18 ''[. .. ] venire con li essempi nella maniea [...]" (1,95).

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Delcorno, Carlo (1989), Exemplum e letteratura tra Medioevo e Rinascimento, Bologna. Giraldi Cinzio, Giambattista (1853), Gli Hecatommithi, Turin. Guazzo, Stefano (1993), La Civil Conversazione, Hg. Amadeo Quondam, Modena. Hinz, Manfred (1992), Rhetorische Strategien des Hofmannes: Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart. Jauß, Hans Robert (1970), Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. Jolles, Andre (1958), Einfache Formen, Tübingen. Neuschäfer, Hans-Jörg (1969), Boccaccio und der Beginn der Novelle: Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München. Patrizi, Giorgio (1990), "Una retorica deI molteplice: forme di vita e forme deI sapere nella Civil Conversatione", in: Giorgio Patrizi (Hg.), Stefano Guazzo e la Civil Conversatione, Rom, 47-94. Petrarca, Francesco (1934) Opere, VI, Familiarum rerum liber, Hg. Vittorio Rossi, Firenze. Pozzi, Mario (Hg.) (1975), Trattati d'amore dei Cinquecento, Rom und Bari. Pozzo de' Zorzi, Modesta alias Moderata Fonte (1988), 11 Merito delle Donne, Hg. Adriana Chemello, Milano. Segre, Cesare und Mario Marti (Hgg.) (1959), La Prosa dei Duecento, Milano und Napoli.

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Exemplarität in Cervantes' Novelas ejemplares Was hat es zu bedeuten, wenn Cervantes im Vorwort zu seinen Novellen betont, er sei der erste gewesen, der in kastilischer Sprache Novellen geschrieben habe, wenn er sich von den aus fremden Sprachen übersetzten Novellen distanziert und hinzufilgt, seine eigenen seien weder gestohlen noch imitiert, sondern von ihm selbst erfunden und Geschöpfe seiner eigenen Feder? Er flihrt fort, indem er als weitere Beispiele seiner eigenen dichterischen Schöpfungen den zweiten Teil des Don Quijote und die Trabajos de Persiles ankündigt. Bei beiden Werken handelte es sich, wie man weiß, poetologisch gesehen, um Innovationen. Im Don Quijote vermischte er Elemente des Ritterromans, des Schelmenromans und des Schäferromans, der drei damals verbreiteten Romangattungen also, zu einer neuartigen Synthese, angesichts derer die reine und unvermischte Gattung des Ritterromans unzeitgemäß und widerlegt erscheinen mußte. Mit den Trabajos de Persiles, die postum unter dem Titel Los trabajos de Persiles y Sigismunda, historia setentrional erschienen, beabsichtigte er nicht weniger als, an die Tradition Heliodors anknüpfend, ein christliches Epos in Prosa zu schreiben, also das unter christlichen Vorzeichen zu verwirklichen, was vor ihm Homer und Vergil in der heidnischen Antike geleistet hatten. Neuartig sind beide Werke, da sie das traditionelle Gattungssystem verändern und erweitern. Die Novelas ejemplares sind in ähnlicher Weise Erweiterungen des Gattungssystems. Exemplarisch sind sie nicht zuletzt als Beispiele filr neue Novellentypen, die sich von der italienischen Tradition ebenso unterscheiden wie der Don Quijote vom traditionellen Ritterroman oder die Trabajos de Persiles vom heidnischen antiken Versepos. Daß Cervantes in erster Linie nicht moralisierende, sondern spielerische Intentionen hatte, zeigt er auch im Vorwort: "Mi intento ha sido poner en la plaza de nuestra republica una mesa de trucos, donde cada uno pueda llegar a entretenerse, sin dafio de barras;" (Cervantes, 1982, 64) Auch wenn Cervantes im Vorwort betont, der Leser könne seinen Novellen "algun ejemplo provechoso" (Cervantes, 1982, 63f) entnehmen, dann steht das topische, religiös uminterpretierte (Strosetzki, 1987, 209ft) Horazsche Postulat des "delectare et prodesse" im Hintergrund, mit dem die bloß unterhaltenden Gattungen des Ritterromans und der Liebeslyrik abgelehnt wur8'

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den. Mit diesem Hinweis konnte sich Cervantes zusätzlich von der Gattung der freizügigen italienischen Novelle distanzieren und die exemplarische Neuartigkeit seiner Novellen unterstreichen. Schließlich wird "ejemplar" bei Francisco Suarez als Idee und bei Nieremberg als Prototyp verstanden (Güntert, 1993, 111). Wenn man aber doch die Exempelhaftigkeit der Geschichten gemäß mittelalterlicher Tradition auf moralische Belehrung bezieht, dann ergeben sich zwei Möglichkeiten. Cervantes könnte ernsthaft die Absicht moralischer Belehrung verfolgt haben. Dafür sprechen z. B. die expliziten moralisierenden Reflexionen am Ende der Novellen "La espaftola inglesa" und "EI celoso extremefio". Er könnte aber auch in seinem Vorwort die moralische Dimension nur aus Rücksichtnahme auf Zensur und Inquisition in den Vordergrund gestellt haben, ohne ihr aber in den Novellen selbst das erforderliche Gewicht zu verleihen. Er würde dann ähnlich verfahren wie Boccaccio, der den didaktischen Wert seiner Erzählungen unterstrich, obwohl dieser fehlte. Sinnvoller scheint es aber, das Exemplarische der Novellen nicht in der Rücksichtnahme gegenüber der Zensur der Gegenreformation zu sehen, sondern in der besonderen ästhetischen Ausgestaltung. Diesen Gedanken verfolgte bereits Atkinson (1948), als er belegte, wie sehr Cervantes bemüht war, den ästhetischen Regeln des Aristoteles zu folgen, wie sie in der spanischen Poetik des L6pez Pinciano zusammengefaßt vorlagen. Zu berücksichtigen sind jedoch nicht nur die Bemühungen, die Wahrscheinlichkeit im aristotelischen Sinn aufrechtzuerhalten, sondern auch die Versuche, in den von Aristoteles nicht behandelten Gattungsbereichen freie Neugestaltungen vorzunehmen. Im übrigen sind ohnehin bei Cervantes die stärker realistischen von den weniger realistischen Novellen zu unterscheiden (Strosetzki, 1991, 63f). Letztere sind an die italienische Novellentradition angelehnt und wie z. B. "Las dos doncelas", "EI amante liberal" oder "La espaftola inglesa" durch Liebesthematik geprägt. Ihnen gegenüber stehen die eher realistischen, in denen wie in "Rinconete y Cortadillo" oder "EI coloquio de los perros" die Handlung gegenüber der Beschreibung von Einzelheiten in den Hintergrund tritt. Die Unterscheidung zwischen realistischen und idealistischen Novellen wird aber dann hinfällig, wenn man beachtet, daß in beiden Gruppen Gattungsgrenzen gesprengt und Elemente unterschiedlicher Gattungen synthetisiert werden. Als Beispiel dafilr sei zunächst die Novelle "Rinconete y Cortadillo" vorgefUhrt, in der zwei Jungen nach Sevilla reisen und dort als Diebe tätig werden. Die unter Führung des Monipodio organisierten Diebe der Stadt werden auf sie aufmerksam, laden sie vor und nehmen sie in ihre Gemeinschaft auf, deren Frömmigkeit und perfekte Organisation zu bewundern die Jungen so Gelegenheit fmden. Der Ort des harmonischen Gemeinschaftslebens wird durch Gesänge und Gedichte idyllisch und utopisch als pastoraler loeus amoenus ver-

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klärt und übernimmt Elemente aus Garcilasos Eklogen und aus der "Diana" des Montemayor. Da dieser Ort mit dem pikaresken, moralisch zu verurteilenden Handeln bei Rinconete, Cortadillo und den Räubern kontrastiert, erschien die Novelle D. Fox (1983) als Versuch, die pastorale Welt des Schäferromans mit pikaresken Mitteln ad absurdum zu führen. Dieser Versuch wäre jenem des Don Quijote vergleichbar, der die Welt der Ritterromane mit pikaresken Mitteln, z. B. in Gestalt des Sancho Panza, ad absurdum führte. Im übrigen erinnern die zahlreichen umgangssprachlichen Dialoge der Novelle an ein Entremes und lassen die Novelle zusätzlich als Synthese von Theaterstück und Erzählung erscheinen. Oft hervorgehoben wurde die Bedeutung des Dialoges in der durch "EI casamiento engaftoso" eingeleiteten Novelle "EI coloquio de los perros". Allerdings handelt es sich um einen einseitigen Dialog, in dem der eine spricht und der andere im wesentlichen zuhört. Insofern ist er den humanistischen Dialogen eines Alfonso de Valdes vergleichbar. Die pikareske Komponente dieser Novelle besteht im autobiographischen Bericht des Pikaros und in seiner Betrachtung der Gesellschaft von unten (Sobejano, 1975). Letzteres ist im Fall des Protagonisten Berganza besonders wörtlich zu nehmen, da es sich bei ihm um einen Hund handelt, der seine Herren verschiedentlich wechselt und nicht anders kann, als die Welt zynisch (grie. kyon = Hund) zu betrachten. Die Unwahrscheinlichkeit eines redenden Hundes wird durch eine Rahmenerzählung vermieden, in der die Möglichkeit eröffnet wird, das Ge.spräch als Traumphantasie einzuordnen, die ein Kranker während einer Schwitzkur gehabt und später aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat. In dieser Novelle verbindet Cervantes also Elemente der Fabel, des Schelmenromans und des humanistischen Dialogs mit Postulaten der Wahrscheinlichkeit, wie er sie aus den aristotelischen Tragödien- und Epentheorien kannte. Werden schon in "EI coloquio de los perros" zahlreiche Sentenzen eingefügt, sind sie in "EI licenciado Vidriera" zentraler Bestandteil. Sie sind nicht weniger zynisch und betrachten die Gesellschaft kritisch und verachtend. Zahlreiche Sentenzen gehen auf das Werk des Zynikers Diogenes Laertius zurück, dessen Gedanken Cervantes Pedro Mexias "Silva de varia lecci6n" entnehmen konnte (Riley, 1976). Der "licenciado Vidriera" verliert nach Einnahme eines Zaubermittels den Verstand und glaubt, aus Glas zu sein. Die Angst jedoch, zerbrechlich zu sein, schärft seine Sensibililtät und kritische Intelligenz, die es ihm nunmehr erlaubt, unterschiedliche Vertreter gesellschaftlicher Schichten zu beurteilen, zu kritisieren und zu beraten. Wenn er sich zum Dichter, Buchhändler, Apotheker, Arzt, Richter, Schuster, Schauspieler, Fechtmeister, Falschspieler und Gerichtsschreiber äußert, betreibt er wie der Protagonist des Schelmenromans die Gesellschaftskritik aus der Sicht eines Außenseiters. Dabei erscheinen seine Ratschläge als Varianten der moralisierenden Einschübe

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des Schelmenromans. Infolge seiner Krankheit tritt er seinen Zeitgenossen als Fremder gegenüber, der zur ihn umgebenden Welt ein anderes Verhältnis als seine Gesprächspartner gewonnen hat. Insofern gleicht er dem Don Quijote, der gleichermaßen nach Verlust des Verstandes durch eine besondere Art der Intelligenz charakterisiert ist, der am Ende wie der Licenciado geheilt wird und der wie Don Quijote in den unterschiedlichen Phasen andere Namen trägt. Während aber der Don Quijote eine Relativierung des Ritterromans durch pikareske Elemente darstellt, ist "EI licenciado Vidriera" eine Variante pikaresker Gesellschaftskritik, die sich humanistischer Sentenzenweisheit bedient. Erscheint im Don Quijote die Ritterlichkeit als unzeitgemäß, so wird hier nicht das humanistische Wissen, sondern die Gesellschaft bloßgestellt. So zeigt sich in dieser Novelle nicht nur ein Zusammenspiel von Elementen aus Humanismus und Schelmenroman, sondern eine Abwandlung der Struktur des Don Quijote und des bei Huarte beschriebenen Krankheitsbildes des Melancholikers unter anderen Vorzeichen. In der Novelle "La gitanilla" verliebt sich ein junger Adliger in ein Zigeunermädchen. Bevor diese in eine Heirat einwilligt, wird eine Probezeit vereinbart, in der der Adlige als Zigeuner unter Zigeunern leben und sich auf Beutezüge begeben soll. Dabei treten Elemente des Schelmenromans in der Welt der Zigeuner auf. Auf der anderen Seite wird dem Adligen ein Verhalten abverlangt, wie es aus den Ritterromanen geläufig ist, wenn er den moralischen Rang und die Vollkommenheit seiner Liebe einer Prüfung unterziehen und das Abenteuer eines Lebens in einer ihm fremden pikaresken Umgebung antreten muß. Das Spiel mit unterschiedlichen Gattungstraditionen besteht hier darin, daß der junge Adlige nicht als Ritter seiner Dame durch Kämpfe gegen Giganten und übermächtige Feinde würdig werden soll, sondern ganz im Gegenteil durch sehr wenig heldenhaftes, pikareskes Verweilen im Zigeunermilieu, das nach traditionellen Maßstäben durchaus nicht geeignet war, seine Reputation zu steigern. Schließlich erweist sich, daß das Zigeunermädchen auch nur unter dem Zwang der Umstände zu den Zigeunern gelangt war und gar keine Zigeunerin ist, so daß die Novelle nach der Läuterungsphase im pikaresken Umfeld mit dem Happy-End der Heirat schließlich wie ein Ritterroman endet. Das Zigeunermädchen und der junge Adlige vertreten eine ideale, mit der Zigeunerwelt konstrastierende Liebe. Beide sind mit dem ebenfalls idealisierten und vielfachen Prüfungen ausgesetzten Liebespaar in "La espaf'iola inglesa" zu vergleichen. Ähnlich ist auch der Aufbau von "La ilustre fregona", wenngleich hier das pikareske Element gleichermaßen mit dem pastoralen (Johnston, 1980) wie mit dem des Ritterromans (Chauchaudis, 1983) vermischt wird. In der Novelle ziehen die Söhne zweier Adliger unter dem Vorwand, studieren zu wollen, los. In Wirklichkeit wollen sie unter falschen Namen einen Sommer auf dem Land verbringen. Avedaf'io verliebt sich in die

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Magd eines Wirtshauses und läßt sich als Knecht einstellen, während sein Freund Carriazo Wasserträger wird und sich dabei im pikaresken Kontext von Falschspielern und Straßenjungen so gut assimiliert, daß man ihm nachsagt, er hätte bei Alfarache das Schelmenwesen studiert. Die Liebe Avedanos zur Magd wird dagegen nach pastoraler Tradition platonisch idealisiert, während die ritterliche Tradition der Bewährung des Liebenden durch den pikaresken Kontext parodiert wird. Die Magd ist, wie das Zigeunermädchen in "La gitanilla" , so stellt sich schließlich heraus, von Stand und nur infolge widriger Umstände in ihren Abhängigkeitsstatus gelangt. Hier also zeigt sich eine neue Variante des Zusammenspiels von Elementen des Ritterromans mit Pikareskem und Pastoralem. In der bereits erwähnten "La espanola inglesa" ist der Ritterroman das primäre Vorbild. Es ist sogar behauptet worden, daß Cervantes, der im Don Quijote die schlechten Nachahmungen der Ritterromane kritisierte, mit dieser Novelle eine gute Nachahmung vorlegen wollte (Zimic, 1988). In der Tat hat der Protagonist Ricaredo in zahlreichen Abenteuern und Heldentaten zu Wasser und zu Land Mut und Stärke unter Beweis zu stellen, um Isabela, der Dame seines Herzens, würdig zu werden. Wie der Held des bei der Bücherbeurteilung im Don Quijote nicht abgelehnten Ritterromans Amadis hat Ricaredo übelwollende und übermächtige Gegner mit magischen Fähigkeiten, denen er sich ritterlich und erfolgreich widersetzt. Er wie seine Isabela bleiben konstant charakterstark und vollkommen. Wie im christlichen Prosaepos Persiles y Segismundo, in dem die byzantinischen Elemente allerdings eine größere Rolle spielen, steht am Ende der Novelle "La espanola inglesa" eine Reise nach Rom, um die religiöse und neuplatonische Vorstellung von der Verbindung ästhetischer und ethischer Schönheit zu unterstreichen. Hier also zeigt sich die Novelle als Möglichkeit einer gelungenen Nachahmung des Ritterromans ohne pikareske Relativierung. So werden also in "La espanola inglesa" nicht heterogene Gattungselemente verbunden. Das Neuartige besteht gerade darin, daß die Gattung des im allgemeinen umfangreichen und oft durch Fortsetzungen amplifizierten Ritterromans hier in der Kurzform der Novelle auftritt. Eine weitere Synthese von Elementen unterschiedlicher Gattungen dagegen könnte in "idealistischen" Novellen wie "EI celoso extremeil.o" nachgewiesen werden, wo die Nähe zum Entremes hervorzuheben ist. Allerdings ist diese Novelle, wie die anderen stärker in italienischer Tradition stehenden, von Liebesintrigen dominierten Novellen weniger originell. Da Cervantes aber Beispiele seiner eigenen originellen Gattungsvarianten an den Anfang und ans Ende seiner Novellensammlung, d. h. an exponierter Stelle plaziert hat, und sie auch den weitaus größeren Raum in der Sammlung einnehmen, ist nicht daran zu zweifeln, daß Cervantes in ihnen und in der spielerischen, gattungsüberschreitenden Synthese unter-

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schiedlicher Gattungstraditionen das Exemplarische seiner Novellen sah und sie deshalb als "novelas ejemplares" bezeichnete.

Literatur

Atkinson, William C. (1948), "Cervantes, el Pinciano, and the 'Novelas ejemplares''', Hispanic Review 16, 189-208. Cervantes, Miguel de (1982), Novelas ejemplares, I-III, Hg. Juan Bautista A valle-Arce, Madrid. Chauchaudis, Claude (1983), "Los caballeros picaros: contexto e intertexto en 'La ilustra fregona"', in: Jose Jesus de Bustos Tovar (Hg.), Lenguaje, ideologia y organizaci6n textual en las Novelas ejemplares: Actas dei Coloquio celebrado en la Facultad de Fifologia de la Universidad Complutense 1982, Madrid,191-197. Fox, Dian (1983), "The Critical Attitude in 'Rinconete y Cortadillo"', Cervantes. Bulletin o/CSA 3/2, Fall, 135-147. Güntert, Georges (1993), Cervantes: Novelar el mundo desintegrado, Barcelona. Johnston, Robert M. (1980), "Picaresque and Pastoral in 'La ilustre fregona"', in: Michael D. MCGaha (Hg.), Cervantes and the Renaissance: Papers 0/ the Pomona College Cervantes Symposium, November 16-18. Easton, Pennsylvania, 167-177. Riley, Edward C. (1976), "Cervantes and the Cynics 'EI licenciado Vidriera' and 'EI coloquio de los perros"', Bulletin 0/ Hispanic Studies 53, 189-199. Sobejano, Gonzalo (1975), "Un perlil de la picaresca: el picaro hablador", in: Alonso Damaso et al. (comisi6n de honor), Studia hispanica in honorem R. Lapesa, III, Madrid, 467-485. Strosetzki, Christoph (1987), Literatur als Beruf Zum Selbstverständnis gelehrter und schriftstellerischer Existenz im spanischen Siglo de Oro, Düsseldorf. Strosetzki, Christoph (1991), Miguel de Cervantes: Epoche kung, München.

Werk -

Wir-

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Zimic, Stanislav (1987/88), "EI 'Amadis' cervantino: Apuntes sobre 'La espafiola inglesa"', Anales cervantinos 25/26, 469-483.

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"No Example Like This": Das Exemplum in Edward Taylors Christographia I. Exempla und ihre Funktion in den Schriften Edward Taylors und anderer puritanischer Autoren Exempla gehören so wesentlich zur puritanischen Predigt Neuenglands wie diese zur Literatur und Kultur Amerikas im 17. und 18. Jahrhundert. Die durch eine besondere Bauform gekennzeichnete puritanische Predigt (vgl. Perkins, 1609,728-762, und Miller, 1971,331-362) knüpft an die umfiingliche christliche Predigttradition früherer Jahrhunderte an, und ihre Spuren führen zurück zur biblischen, besonders zur neutestamentarischen Verkündigung Jesu. Seine frohe Botschaft ist reich an Gleichnissen und Exempla. Wie Richard Baxter in The Reformed Pastor, seinem 1656 erschienenen Standardwerk der puritanischen Pastoraltheologie, ausführt, das auch von anderen Denominationen geschätzt wurde, hat "a minister of Christ" dem Mitchristen und besonders Christus gegenüber bestimmte Verpflichtungen zu erfüllen: Every Christian is obliged to do a1l tbat he can for tbe salvation of otbers; but every minister is doubly obliged, because he is seperated to tbe gospel of Christ, and is to give up wholly to tbat work. (Baxter, 1961, 132-168)

Die Wahrnehmung dieser Aufgaben soll gekennzeichnet sein durch eine exemplarische Tätigkeit in doppelter Weise: gegenüber der Botschaft Christi und der Arbeit in der Gemeinde. Ein Umgang mit dem Wort Gottes, wie Jesus es in beispielhaften Erzählungen vortrug, erfordert ein vorbildliches Verhalten der Prediger. Hingegen nennt Baxter als warnende Beispiele "those ministers that make such disproportion between their preaching and their living" (Baxter, 1961, 162). Zu seinen Amtsbrüdern gewandt, bemerkt er: Take heed to yourselves, lest your example contradict your doctrine, and lest you lay such stumbling-blocks before tbe blind as may be tbe occasion oftbeir ruin; lest you may unsay tbat witb your lives which you say witb your tongues, and be tbe greatest hinderers of tbe success

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ofyour own labours [.. .]. This is the way to make men think that the Word ofGod is but an idle tale and to make preaching seem no better than prating. He that means as he speaks will surely do as he speaks. (Baxter, 1961, 161-162)

Auf die Bedeutung von Exempla im Kontext der puritanischen Homiletik und Pastoraltheologie wird später genauer eingegangen. In Blick auf die folgende Untersuchung bleibt festzuhalten: The Reformed Pastor macht eine wichtige Unterscheidung zwischen dem auf Schrift bzw. Lehre bezogenen Exemplum der Predigt einerseits und dem auf die Person bezogenen Exemplum des PredigerslPastors andererseits. Ihm obliegt die Auswahl und literarische Gestaltung des Exemplum der Predigt sowie ihre Abfassung und ihr Vortrag im Gemeindegottesdienst. Aus pastoraltheologischer und homiletischer Sicht hat der Pastor die Verpflichtung, dafilr zu sorgen, daß es nicht zu einem Widerspruch kommt zwischen "your example" - wie Baxter hervorhebt - und dem Predigtexemplum. Richard Baxter, der als Pastor in Kidderminster wirkte, schließt sich selbst mit ein, wenn er rät: "We must study as hard how to live weIl as how to preach weIl" (Baxter, 1961, 162). Seine Maxime umschließt zugleich die puritanische Grundhaltung zu Gott, zum Mitmenschen und zur Welt, auf die der Prediger das literarische und personale Exemplum abzustimmen hat. Ein Einklang zwischen den zwei Beispielen ist die notwendige Voraussetzung darur, daß jedes Beispiel seine Funktion erfilllen und damit dem pastoral-homiletischen Kriterium genügen kann. Auch ein treffendes Exemplum, das in einer literarisch hochwertigen Predigt eingelagert ist, kann - wie die gesamte Predigt - vom Standort puritanischer Pastoraltheologie und Homiletik unter die Kategorie "idie talk" eingeordnet werden, wenn es in Diskrepanz zum exemplum vitae des Predigers steht. Das Gesagte gilt auch rur den Fall, wie Baxter durch ein exemplum negativum anschaulich vorfilhrt, daß die Vortragenden die unterschiedlichen Funktionen von "pulpit" und "stage" nicht zu beachten bereit sind: For they [these ministers] take the pulpit to be but astage; a place where preachers must shew themselves and play their parts: where you have Iiberty to say what you list for an hour. (Baxter, 1961, 168)

Das unter dem Aspekt von "The Pastor's Dedication" stehende Kapitel faßt das Ergebnis in einer rhetorischen Frage zusammen, die in den Kontrasten von Leben und Predigt die Kontraste der entsprechenden Exempla umschließt: Is that man therefore Iikely to do much good, or fit to be a minister of Christ, that will speak for Hirn an hour, and by his Iife will preach against Hirn a11 the week besides; yea, and give his public words the Iie? (Baxter, 1961, 168)

Das Exemplum in Edward Taylors Christographia

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11. Exempel versus "exemplum exemplorum" Die Christographia (C), ein Hauptwerk der Prosaschriften des puritanischen Geistlichen und Dichters Edward Taylor (ca. 1642-1729), enthält - wie die Predigtliteratur vorausgehender und folgender Jahrhundertel - eine Vielzahl von Exempla. Diese haben wesentlichen Anteil an der Entfaltung und Darstellung des christologischen Themas in der Schrift des puritanischen Predigers. Exempla oder Beispiele sind zugleich Bauelemente und wichtige Merkmale der als Einheit konzipierten 14 Themapredigten zur Christologie, die Edward Taylor als Pastor der puritanischen Frontier-Gemeinde Westfield, Massachusetts, zwischen August 1701 und Oktober 1703 in etwa sechswöchigem Abstand zu den Abendmahlsonntagen vortrug (vgl. Grabo in Taylor, 1962, xi). 2 Für die in der Christographia zu untersuchende Frage der Exempla, über die in der Taylorforschung bisher keine eigene Studie vorliegt,3 sind die Meditations insgesamt belangvoll, vor allem jedoch die sogenannten "correlative Meditations"4 zu den Predigten. Die Meditationsgedichte umfassen problembezogene Einsichten, Hinweise und Anspielungen, die für ein umfassendes Verständnis der Exempla hilfreich sind. Die in die Predigten integrierten Exempla haben mit der Christographia und den Meditations die Christologie zum Thema. Auf Exempla, die uns in den Meditationsgedichten begegnen, kommt Karen E. Rowe in einer auch für die Christographia interessanten und anregenden Studie mit dem Titel Saint and Singer: Edward Taylor's Typology and the Poetics 0/ Meditation (Rowe, 1 Verwiesen sei auf die Darlegungen bei Owst, 1966, 149-209 u.ö., in der auch auf die Exemplaria, z. B. die Gesta Romanorum, Legenden, Parabeln etc. und auf die betreffende Literatur eingegangen wird.

2 Religiös-politische Motive veranlaßten Edward Taylor 1668, von seinem Geburtsort Sketchley, Leicestershire, nach Neuengland auszuwandern. Nach Abschluß seiner Ausbildung fIlr das geistliche Amt in Harvard (1671) wurde er zum Pastor der Gemeinde von Westfield gewählt, der er bis zu seinem Lebensende vorstand. Zur persönlichen Vorbereitung auf die Abendmahlfeier, die sich auf Spendung und Empfang des Sakraments erstreckte, verfaßte Edward Taylor Gedichte mit dem Titel: Preparatory Meditations be/ore my Approach to the Lords Supper (M). Seine poetischen Meditationen sind enthalten in Taylor, 1960. Zum Sakramentsverstllndnis, ohne das die Christographia und die Meditations nicht umfassend zu begreifen sind, vgl. Miller, 1936/37,409-425. 3 Vgl. den mit ausfllhrlicher Bibliographie und Index versehenen umfassenden Forschungsbericht von Hammond, 1993, der Fifty Years 0/ Scholarship and Criticism der Taylorforschung umschließt. 4 Taylor, 1962, xi. Die 14 Gedichte sind der "mid-period ofhis [Taylor's] Meditations" (ebd.) zuzurechnen. Grabos Ausgabe der Christographia druckt die genannten Meditations ebenfalls ab und stellt sie den korrespondierenden Predigten voran.

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1986, 82-89) ZU sprechen. Im typologischen Zusammenhang der Meditations und der Christographia stehen alttestamentliche Vorbilder wie Abraham, Mose oder Samson als "exempla fidei" und verweisen, wie Rowe feststellt, auf "the exemplum exemplorum of Christ" (Rowe, 1986, 84 und 87). Die Beziehung zur Nachfolge bzw. Nachahmung, die das "exemplum exemplorum of Christ" einschließt, wird präzis und klar von ihr beschrieben. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die bei Rowe angefiihrte siebte und abschließende Strophe von Meditations 11 15: Pare off, my Lord, from mee I pray, my pelfe. Make mee thy Nazarite by imitation Not ofthe Ceremony, but thy seife, In Holiness of Heart, and Conversation. Then I shall weare thy Nazarite Iike Crown In Glory bright with Songs ofthy Renown. (V. 37-42)

Das 1695 datierte Gedicht korrespondiert keiner Predigt der Christographia. Es meditiert den Text von "Mat. 2.23. He [Jesus] shall bee called a Nazarite" (M 11 15, Titel). Sein exemplarischer Lebensweg soll ein von Gott gesetztes Zeichen sein, das allen Menschen zugedacht ist, wie die Eingangsverse der zweiten Strophe zeigen: Devoted by thy Father and thy seife To all Examplary Holy Life. (V. 7f.)

Auf dem Höhepunkt der Meditation wendet sich der Sprecher mit einer imperativisch vorgetragenen Bitte an Christus: "Make me thy Nazarite by imitation" (V. 38). Da Rowes Ausfiihrungen die zu untersuchenden Exempla der Christographia berühren, sollen ihre Forschungsresultate zu Wort kommen und fiir diese Studie fruchtbar gemacht werden. Rowe schreibt: "The Christological emphasis of Puritan exegesis remains foremost throughout this meditation." Taylor akzentuiere "Christ's antitypical supremacy" und gebrauche wiederholt "the term 'Nazarite' as an epithet for Jesus". Der Gebrauch des Ausdrucks "imitation" - so Rowe evidences Taylor's concept of modeling one's Iife on Christ and through hirn on the Nazarite code [... ]. He makes the imitatio Christi primary, since man must pattern his Iife after Christ's New Testament precepts for the spirit rather than the Old Testament letter ofthe law. (Rowe, 1986,85)

Der Begriff "imitation" ist, wie am Sprachgebrauch der Christographia zu belegen sein wird, mit dem von "example" eng verbunden. Rowe zitiert eine

Das Exemplum in Edward Taylors Christographia

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Stelle gegen Ende der ersten Predigt (C 34, 41-51), um Taylors Verständnis der Beziehung zwischen Typologie und Exempla in den Meditationsgedichten zu klären. Ihr Resümee lautet: The meditations reflect his [faylor's] intimate psychic needs for spiritual exempla in the Old Testament figures, but more so for a pattern from Christ who perfectly fulfills and supersedes all types. Engaged doubly in a process of imitatio figura and Christomimesis, Taylor applies the personal types to the private soul, not to the public arena of history . (Rowe, 1986, 86)

Leider geht Rowe auf Exempla der Christographia nicht näher ein. Sie arbeitet jedoch, und dies ist filr die weitere Untersuchung bedeutsam, einen wichtigen Unterschied heraus: Ein solcher besteht zwischen den Exempla und ihrer Nachahmung in den Meditationen einerseits und in den Schriften neuenglischer Autoren - wie z.B. William Bradford, lohn Cotton, Increase Mather und Cotton Mather - andererseits. Edward Taylor hingegen, erklärt Rowe, "does not look to New England-Israel for his heroie leader, either as pastor or as petitioner" (Rowe, 1986, 88). Auch Taylor anerkennt "God's providential designs"; dennoch vermeidet er historical applications ofpersonal (as opposed to ceremonial) types [... ]. Old Testament figures find surpassing fulfillment in Christ and His gospel mission, not in the cultural heroes of the New Israel's errand. (Rowe, 1986,89)

Einen weiteren Aspekt hebt die Studie hervor, indem sie feststellt: He [faylor] upholds devotional rather than recapitulative uses of types [...]. Edward Taylor models his spiritual strivings after the exempla fidei of Old Testament types but trusts only Christ's guarantee of eternalliberty from bondage. (Rowe, 1986, 89)

Obwohl das Hauptinteresse von Rowes Studie, wie der Titel andeutet, "Edward Taylor's Typology" gilt und nicht den Exempla in seinen Meditationsgedichten, verdienen die vorgelegten Ergebnisse auch im Zusammenhang mit den Exempla der Christographia Beachtung. Dafür sprechen u.a. folgende Grunde: 1. ein geringes Interesse an Exempla in der Taylorforschung, überhaupt an Exempla der umfangreichen Predigtliteratur des puritanischen Neuenglands;S 2. der Zusammenhang zwischen den Predigten und Meditationen S Die auch heute gut lesbare Studie von Josephine K. Piercy geht mehrfach auf Exempla in verschiedenem Zusammenhang ein. "The funeral sermon", schreibt sie, "gave an opportunity for [... ] the portrait of particular persons who exemplify a certain 'character' which it is the writer's purpose to portray. The Iives of great men, whether they were New England divines or English kings, were excellent exempla to be held up before the members of one's community" (piercy, 1939, (63). Vgl. ferner die Ausfilhrungen bei Piercy, 1939, 164-167, vor allem 185-199 über "Cotton Mather", "the Iiterary epitome ofhis age in America". Piercy, 1939, 185, bemerkt: "His

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Taylors, insbesondere zwischen der Predigtfolge der Christographia und den "correlative Meditations" (Taylor, 1962, xi); 3. die gemeinsame Grundlage der Christographia und der Meditations: das christologische Thema.

III. Das Exemplum der Christographia im thematischen Funktionszusammenhang Die weitere Untersuchung konzentriert sich auf die Christographia und ihre Exempla. Diese sind, auch im Detail, von der Christologie her geprägt, die kurz zu kennzeichnen ist. Taylors Predigtfolge widmet sich der Lehre von der Person und dem Werk Christi in der Schrift, der Dogmengeschichte und der Auffassung der Reformatoren. Größere Aufmerksamkeit schenken die Exempla der Christographia - und das gilt auch fUr die Meditations - den Resultaten als der historischen Entwicklung der Christologie. Auf ein Zweifaches vor allem lenken die Exempla der Christographia das Interesse der Hörer: die Menschheit Jesu und die Vereinigung der beiden Naturen, der göttlichen und der menschlichen, in der einen Person Jesu Christi. Diese Vereinigung ("union") wird an zahlreichen Stellen der Christographia erwähnt und mit dem theologischen Fachterminus "hypostatical union" (C 16, 76; 20, 26f.; 26, 52; 48,2 und 5; 49, 49 u.ö.) bezeichnet. Die Predigtfolge unterscheidet die sogenannte unio hypostatica von anderen Arten der Vereinigung ("union") (C 19, 9-20, 31). Eine Äußerung der ersten Predigt, die den Gegenstand beschreibt und beurteilt, bekundet eine wesentliche Auffassung der Christographia: "the Hypostaticall Union of the Humane, and Divine Natures in Christ [is] the Highest Union in the World" (C 20, 24-26). Anders als die Predigten und ihre Exempla, die an die Gemeinde, d.h. an eine breite Öffentlichkeit, adressiert sind, wenden sich die Meditationen und ihre Exempla an das meditierende Ich des Autors, dessen Standort und Sichtweise sie zur Geltung bringen. 6 Wichtige Momente bleiben festzuhalten: Die Meditationsgedichte setzen besondere Akzente, legen Details und Beziehungen frei, die in den korrespondierenden Predigten und Exempla oft unausgesprochen bzw. nur angedeutet oder impliziert sind. In diesem Zusammenhang sei daran prose is packed with example, anecdote, and quotation from the c1assics, in quite the accepted manner of the English seventeenth century prose writers." Zum Exemplagebrauch der "funeral elegy" und des "funeral sermon" in Neuengland vgl. Schmidt-von Mühlenfels, 1973, besonders 51-lOt. 6 Die Frage nach der Bedeutung, die Sprecher und meditierendes Ich rur das Verstehen und die Auslegung der Exempla in Taylors Meditations haben, läßt sich im Rahmen dieses Artikels nicht verfolgen.

Das Exernplurn in Edward Taylors Christographia

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erinnert: Die dem heutigen Interpreten fUr eine Auslegung der Exempla hilfreich, vielleicht sogar unentbehrlich scheinenden Meditations waren dem zeitgenössischen Hörer der Predigten nicht zugänglich. Stanford schreibt: "Taylor did not publish his poems and he forbade his heirs to publish them" (M, Ivii).7 Sämtliche in der Christographia zu untersuchenden Exempla sind mit der Person Christi in der oben beschriebenen Weise verbunden. Sie stehen in einem christologisch konzipierten Kontext der Predigtfolge, die, wie angedeutet, an die Verkündigung Jesu im Neuen Testament anknüpfen und seine gottmenschliche Person und sein Wort in den Mittelpunkt stellen. Der Prediger möchte sich in der Christographia jedoch nicht damit begnügen, Exempla legitimiert durch die Schrift - fiir sich selbst sprechen zu lassen. Zentral für den Pastor von Westfieid, den Autor und Sprecher, ist vor allem, dem Gottesdienstbesucher bewußt zu machen, daß ihm an der betreffenden PredigtsteIle ein Exemplum unterbreitet wird. Der Hörer soll die besondere (im Text zuweilen auch abgesetzte) Darstellungsart gewahren, die ein Exemplum kennzeichnet, das gewöhnlich ein thematisches, soteriologisches, kerygmatisches oder pastorales Anliegen in eindringlicher Sprechweise vorträgt und danach strebt, die ganze Gemeinde und jeden einzelnen zu erreichen. Insbesondere bewußt werden soll eine vom Exemplum ausgehende Anrede an den Hörer, die seine personale Stellungnahme und Antwort erfordert. Kann doch mit und in dieser Anrede - durch sie verweist ein Exemplum gleichzeitig auf sich und seine besondere Bedeutung im Aufbau der Christographia der Ruf Jesu zum Hörer gelangen. Anders gesagt: Über das Predigtwort, besonders über die exemplarische Redeform, spricht Jesus zu den Hörern; er lädt die Angeredeten ein und fordert sie auf, seinem Ruf zu folgen. Jesus Christus, der Rufende, ist selbst das Mensch gewordene Gotteswort, wie die Christographia zeigt. "He came into the World in his incamation" (C 68, 1-2), sagt der Pastor gegen Schluß der zweiten Predigt, und er widmet dieser Fage, - ausgehend von "John. 1.14. Tbe Word was made flesh" (C 75, Überschrift) - die gesamte dritte Predigt. Christi Ruf beruht auf seiner göttlichen Vollmacht. Entsprechend heißt es zum Hörer gewandt: "It is altogether your Duty to attend upon Christs Call" (C 69, 55). Der Sprecher schließt sich in diese Verpflichtung mit ein, indem er feststellt: "Gods Command comes from his Authority, and makes Duty, Dutie. Duty is Obliging on us by reason of Gods Command. Gods Command comes forth upon us by Christ as he is God" (C 70,88-91).

7 Eine Auswahl der Gedichte veröffentlichte erstmals Thornas H. Johnson (Taylor, 1966b). Lediglich zwei Strophen des Gedichts "Upon Wcdlock and Death of Children" erschienen in Cotton Mathers Right Thoughts in Sad Hour (1689). Vgl. M, lvii.

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In Einklang mit der puritanischen Föderaltheologie Neuenglands bezeugen die Predigten den Rufenden, Jesus Christus, als den alleinigen, von Gott erwählten Mittler des neuen Bundesvolkes. 8 Zugleich zeigt die Christographia ihn, und dies ist filr die Bedeutung des Exemplum im Kontext der Glaubenslehre und Ethik wichtig, als ein gültiges Vorbild filr das Leben aller Menschen. Insbesondere wird, wie die Predigtfolge zeigt, Jesu eigenes Leben zum unübertrefflichen Beispiel filr den Daseinsvollzug derer, die auf seinen Ruf hören und sich ihm anschließen. Verglichen mit dem in den Literaturwissenschaften geläufigeren und vertrauteren Begriff des Exemplum lassen sich - wie das Resümee anzeigt merkliche Abweichungen rur die Christographia erkennen. Gebrauch, Bedeutung und Funktion weisen einige beachtenswerte Unterschiede auf, geht man etwa von der geläufigen Bestimmung aus, daß unter Exemplum eine kurze, eingelagerte Erzählung zu verstehen sei, die die Aussage eines umfassenden Textes veranschaulicht und deutet. In diesem Sinne merkt Curtius an: "Exemplum" (paradeigma) ist ein Kunstausdruck der antiken Rhetorik seit Aristoteles und bedeutet 'eingelegte Geschichte als Beleg'" (Curtius, 1954, 69). Für die Verwendung in der Christographia kommt vor allem eine, wie es bei Curtius heißt, "später (seit etwa lOO v.Chr.)" auftretende "neue Form des rhetorischen Exemplum" in Betracht, "die filr die Folgezeit wichtig wurde: die 'Beispielfigur' (eikon, imago), das heißt die Verkörperung einer Eigenschaft in einer Gestalt: 'Cato ille virtutum viva imago'" (Curtius, 1954,69). Edward Taylor verdankt die Anregung zum Gebrauch der Exempla den Werken der Klassiker, den biblischen Schriften und vor allem den Exempla und Gleichnissen Jesu im Neuen Testament. Ihrer "Strukturverwandtschaft"9 bedient sich der puritanische Pastor - wie seine Argumentations- und Darstellungsweise in der Christographia zeigt -, der Gemeinde von Westfield Einsichten über Jesu beispielhafte und beispielgebende Lebensweise zu vermitteln sowie seine Hörer einzuladen und zu ermutigen: "to imitate this example [... ] the best Example that can be" (C 102,44-49. Vgl. auch Christographia 29-34; 125-127; 196-199 u.ö.). Wenn Hugo Friedrich das Exemplum als einen "archaischen Typos geschichtlichen Denkens" charakterisiert, "der bis 8 Vgl. zu dieser Frage Grabo in Taylor, 1962, xvi xix; Stanford in Taylor, 1960, 527-528, 536, Miller, 1971,365-397,398-407,444-450 u.ö., besonders Schuldiner, 1991,91-105.

9 Zu recht weist Christoph Daxelmüller auf die Ausfilhrungen Hugo Friedrichs zur Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie hin, "dessen wichtige Überlegung zum Exemplum von der Forschung meist übersehen wurde" (DaxelmUller, 1990, 221). Friedrich lenkt den Blick auf "die Strukturverwandtschaft", die das "Exemplum mit dem Gleichnis, der Fabel, der naturgeschichtlichen Allegorese usw." teilt, und dies "macht es der Forschung schwer, das eigentliche Exemplum von seinen Artverwandten zu sondern" (Friedrich, 1942,221).

Das Exemplum in Edward Taylors Christographia

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auf die Höhe der antiken und nachantiken Kulturen Bestand gehabt hat" (Friedrich, 1942, 23), so darf man seine Kennzeichnung auch auf solche Epochen der Folgezeit analog anwenden, die an einen Exemplagebrauch der Antike bzw. Nachantike bewußt anknüpfen 10 und, wie Taylor dies in der Christographia tut, das Überkommene in das eigene Werk einbeziehen. Die zur Geschichte und Theorie des Exemplum vorgelegten Ergebnisse bei H. Friedrich und E.R. Curtius sind durch neuere Beiträge ergänzt und bereichert, damit freilich auch komplexer geworden. Überholt sind jedoch die Resultate sowie die Grundeinsichten und prägnanten Aussagen von Friedrich und Curtius keineswegs. Sie verdienen auch weiterhin Beachtung. Einem ständig wachsenden Interesse an der Erforschung der Exempla entspricht eine Zunahme der Wissensdisziplinen und Richtungen, die zu ihrem Sach- und Problemverständnis beitragen. 11 Eine besondere Art der "Beispielfigur", die auch in der Christographia eine herausragende Rolle spielt, ist das sogenannte exemp/um virtutis, auf das H. Kornhardt eingeht, die das Exemplum bei den römischen Klassikern untersucht. Sie stellt zu den exemp/a virtutis fest: Es handelt sich dabei um kurze Berichte von Taten und Leistungen, seltener AussprUchen, in denen irgendeine Eigenschaft oder ein Charakterzug besonders deutlich zum Ausdruck kommt und die meistens ganz knapp erzahit und so zugespitzt [sind], daß die betreffende Eigenschaft deutlich hervortritt. (Komhardt, 1936, 15)

Exemp/a virtutis dienen in der Christographia einer Charakterisierung, Kennzeichnung und Beschreibung der Eigenschaften und Taten Jesu oder anderer Personen. Die Predigten fUhren Namen solcher Personen an, die aus den Texten der alten Geschichte und der klassischen Literaturen bekannt sind. Ihre Ei10 Die Frage nach der Rezeption antiken und nachantiken Kulturguts durch den englischen und neuenglischen Puritanismus, mit dem sich Perry Miller und zahlreiche andere Forscher befassen, kann im Blick auf die Exempla lediglich angedeutet, aber nicht weiter verfolgt werden. Miltons Vers- und Prosaschriften in England sowie Werke amerikanischer Puritaner, die ein besonderes Interesse rur die exemplafidei in Verbindung mit der Typologie bekunden, können dies belegen. Karen E. Rowe nennt z.B. "[William] Bradford's 0/ Plymouth Plantations (written 1630, 1645-6) or lohn Cotton's Gods Promise to His Plantation (1630), or a leremiah of the declension, as [...] Increase Mather's The Day 0/ Trouble is Near (1674), or millenial historian Iike Cotton Mather in The Wonders 0/ the Invisible World (1693) and the Magnalia Christi Americana (1702)" (Rowe, 1986, 89). 11 Vgl. Daxelmüller, 1990,219. Vgl. ders. 1984, 627-649 und 1985, 72-87 sowie 1991, 7794. Beitrllge über Exempla in Schriften Edward Taylors sowie in puritanischen Predigten Englands oder Amerikas verzeichnen seine Forschungsberichte nicht. Die darin erwahnten Beiträge werden in die vorliegende Studie nur dann einbezogen, wenn sie ihrem Thema fllrderlich sind.

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genschaften und Taten werden mit denjenigen Jesu verglichen. Auf diese Weise sucht die Christographia den Nachweis zu erbringen, daß das exemplum Christi alle übrigen Exempla überragt. 12 Ein Hinweis bei Kornhardt darf nicht übersehen werden, da er für die Christographia besonders wichtig ist: "Die Bezeichnung exemplum [sic] gilt sowohl für die Taten als für den Bericht davon" (Kornhardt, 1936, 14, Anm. 9). Exempla der christologischen Predigten, die Jesu Eigenschaften und Taten in Form von "autoritativen/acta et dicta der Geschichte" (rur diese Bestimmung vgl. Daxelmüller; 1991, 35) ausweisen oder beschreiben, berufen sich als Quelle zumeist auf die Bibel, vor allem die neutestamentlichen Schriften. Zugleich aber zielen die an die Gemeinde gerichteten Darlegungen der Christographia darauf ab, die sprachlich vermittelten Taten und Eigenschaften, die dem Exemplum zuerkannt werden, deutlich hervortreten zu lassen, damit sie dem Hörer gleichsam leibhaftig erfahrbar werden. Die zwei Ebenen umgreifenden Exempla öffuen nicht nur einen Zugang zu den Eigenschaften oder Taten von Personen sowie zu den sprachlich bzw. literarisch sie gestaltenden und deutenden Darstellungsweisen, etwa im Berichten, im Beschreiben, im Erzählen, im Erörtern etc. Noch wesentlicher rur die Christographia sind solche Exempla, die unmittelbar auf die Person bezogen sind. Sie haben einen maßgeblichen Anteil am Aufbau und an der Darstellung des Werkes. So groß, so übermächtig kann ein Predigttext der Christographia eine exemplarische Gestalt in den Vordergrund stellen, daß ihre vortrefflichen Eigenschaften und Taten eine hauptsächlich stutzende oder bekräftigende, d.h. dienende Funktion erhalten. Dies ist u.a. der Fall, wenn die Person Jesu - die der Prediger als den vom Vater gesandten, Mensch gewordenen Gottessohn und Mittler des erwählten Volkes würdigt - als Exemplum in der Christogra12 Die "Entwicklung des rhetorischen Exemplum von der Antike zum Mittelalter" zeichnet von Moos, 1988, 69-112, nach. Vgl. auch "Römische exempla virtutis", ebd., 69-80, und "Exemplum Christi und sanctorum exempla, ebd., 81-112. Zahlreiche Stellen gehen auf das Predigtexemplum ein; ebd., xxiiiff., 39ff., 112ff., 139, 173f., 222ff., 262f., 485ff., 583f., 595. Zu beachten ist die Bibliographie ebd. 607-619. Von Moos beschäftigt sich nicht mit der puritanischen Predigt. Hinzuweisen ist auf Beiträge von amerikanischen Gelehrten, die John Stratton Hawley, 1987, in einem Sammelband unter dem Titel Saints aM Virtues edierte. "Traditional Visions of Saintliness" (Teil I) und "Saints of the Modem World" (Teil 11) werden im Christentum, Islam, Hinduismus, Judaismus, Buddhismus und anderen Religionen vom Aspekt "example, fellowship, and aid" aus untersucht. Hawleys "Introduction" behandelt diese drei Aspekte oder Modi (Hawley, 1987, xiii-xxiv). "[Saints in] their personalities exemplify the modes", erläutert Hawley (ebd., xxi). Der Puritanismus wird nicht berUcksichtigt, obwohl die Puritaner sich mit dem Begriff "saints" selbst bezeichneten. Insgesamt kommt die protestantische Auffassung zu den Heiligen kaum zu Wort. Die zahlreichen Studien des evangelischen Hagiographen Walter Nigg bleiben unerwähnt.

Das Exemplum in Edward Taylors Christographia

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phia dargestellt wird. Warum bei ihm Eigenschaften und Taten nicht mit seiner exemplarischen Person auf derselben Linie erscheinen und im Text der Christographia einen identischen Stellenwert zugewiesen erhalten, hängt u.a., wie zu verdeutlichen sein wird, mit den Bauelementen der puritanischen Predigt zusammen und mit der Art und Weise, wie das Exemplum Jesu in sie integriert wird. Eine Defmition des Exemplum, die bis ins 17. und 18. Jahrhundert ihre allgemeine Geltung behält, formulierte Johannes de Garlandia (ca. 1195-1272), der aus England stammte und in Toulouse und Paris Grammatik, Rhetorik und Poetik lehrte (vgl. Brunhölzl, 1960, 1035). In seiner Begriffsbestimmung spricht sich ein klares Bewußtsein von einer zweifachen Realität und ihrer differenzierten Bedeutung aus: "exemplum est dictum vel factum alicuius autentice persone dignum imitatione" (Curtius, 1954, 69, Anm. 3).13 De Garlandias Defmition fUhrt - verglichen mit den zuvor genannten Bestimmungen - weitere Merkmale an, deren Kenntnis es ermöglicht, Exempla der Christographia genauer zu verstehen und sie durch ihre Beziehung zu anderen Bauelementen der Predigt umgreifend und detailliert zu deuten. Die Ergänzung "alicuius autentice persone" zeigt an, daß eine Person erst dann als Beispiel sich eignet, wenn sie 'zuverlässig', 'aufrichtig', 'glaubwürdig' ist. In dieser Kennzeichnung Johannes de Garlandias liegt eine zentrale Funktion beschlossen: das Exemplum zu explizieren und zu interpretieren. Eine überragende Bedeutung erlangt die Wendung "alicuius autentice persone" im Zusammenhang des Person bezogenen Beispiels in den christologischen Predig-

13 Zur "Definitionsvielfalt" in der heutigen Exemplaforschung vgl. Daxelmüller, 1991, 80. "Dennoch lassen sich trotz der Definitionsvielfalt auch unschwer Gemeinsamkeiten feststellen." Er schreibt: "Das exemplum ist eine funktionale Einheit, die sich durch den Kontext definiert und in Regestform eine Geschichte in belehrender (educatio), beweisender (demonstratio), illustrierender (illustratio), überzeugender (persuasio), argumentierender (argumentatio), moralisierender (moralisatio) und unterhaltender (delectatio) Absicht erzählt" (ebd.). Auch in der Christographia handelt es sich um "eine funktionierende Einheit", gewöhnlich aber nicht um "eine Geschichte", die in "moralisierender [... ] und unterhaltender [... ] Absicht erzählt wird". In Taylors Predigtfolge tritt die Moral oder christliche Ethik gegenüber der Glaubenslehre in den Hintergrund, obwohl mit dem Exemplum die Forderung verbunden ist, diesem zu folgen. Die in "doctrine" formulierte Glaubensaussage der Christographia erweist sich als ein dynamisches Bauelement, das entscheidend, stärker als jede moralisierende Kraft, im Exemplum zum Tragen kommt, egal, ob ein Exemplum in dem Teil der Predigt vorkommt, der "doctrine" genauer erklärt, oder ob es in den "uses" auftritt. Nicht "durch den Kontext definiert" sich in der Christographia "das Exemplum" als "eine funktionale Einheit"; vielmehr ist es ein direkter Bezug zur Person Christie und zur Glaubensaussage, der im Predigtkontext zur Definition eines Exemplum ruhrt und dessen "funktionale Einheit" bestimmt und legitimiert.

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ten Taylors. Gemeinsam mit dem Attribut "dignum imitatione" drückt es u.a. die Wirkweise aus, die das Exemplum im mitmenschlichen Bereich hat. Die Christographia gebraucht die Bezeichnung "example" nicht allein für ein der Homiletik seit langer Zeit geläufiges, zu ihrer sprachlich-literarischen Darstellung zählendes Bauelement, wie die aus dem 13. Jahrhundert stammende Defmition belegt. Vielmehr erörtert das puritanische Werk auch Probleme, die nicht allein für das Predigtexemplum, sondern für die Predigt generell als typisch gelten und in der Defmition des Johannes de Garlandia explizit oder implizit ausgesprochen sind. Genannt seien u.a. folgende Probleme: 1. Die Authentizität einer Person, welche den Erfordernissen gerecht wird; 2. das mit "dignum" ("würdig", wert [sein]) bezeichnete Kriterium der Nachahmung; 3. die "imitatio", ein Bestandteil des Exemplums, vereint das Nachzuahmende, den Nachahmenden, das Nachahmen und ihre Beziehungen zueinander; 4. die Differenz und Einheit zwischen "dictum" und "factum". Die vier Punkte der Zusammenfassung bieten sich als ein Leitfaden an, die Exempla - unter Einbeziehung der vorläufigen Ergebnisse - nach Bauform, Stellung und Funktion im Predigttext genauer zu untersuchen, zu beschreiben und zu deuten. Im Rahmen dieser Studie ist das jedoch nur teilweise möglich. Ein methodisch erster Schritt auf diesem Wege gilt dem Wortschatz zur Bezeichnung der Exempla in der Christographia. Aufgewiesen wurde bereits das Bemühen des Pastors, Exempla nicht nur in den Predigttext einzufügen, sondern ihr Vorkommen der Hörerschaft kenntlich zu machen und ihr Gewicht für das Glaubensleben der Angesprochenen zu verdeutlichen. Auf die Anrede und den Ruf Jesu wurde in diesem Zusammenhang ebenso hingewiesen wie auf die vom Prediger eingesetzten Mittel, die Aufmerksamkeit des Hörers zu gewinnen und sein Interesse so zu lenken, daß er sich dem Exemplum zuwendet, er einer Einladung und Forderung zur Metanoia, zur Bindung an die Person Jesu sich stellt, mit ihr sich auseinandersetzt. Vor dem Hintergrund einer seit den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts sich verschärfenden Glaubenskrise in Westfield und zahlreichen anderen Gemeinden Neuenglands sowie der dadurch ausgelösten Kontroversen, die 1694 durch Taylors acht Abendmahlpredigten gegen Solomon Stoddards liberal eingeschätzte Lehrmeinung und Gemeindepraxis des "Half-Way Covenant" an Heftigkeit zunahm, möchte der Prediger in seiner Verkündigung keine Möglichkeit ungenutzt verstreichen lassen, den Gottesdienstteilnehmern einen Weg zur Begegnung mit dem Herrn zu erschließen und seinen Ruf zu beantworten. Da der Pastor im Exemplum seiner christologischen, auf den Empfang des Abendmahls vorbereitenden Predigten die Möglichkeit zu einer solchen Begegnung bzw. einer Vertiefung der Christusgemeinschaft erblickt, möchte er sich jedoch mit den oben aufgezeigten Mitteln nicht zufrieden geben. Vor allem sprachliche und rhetorische Mittel, die für Predigt und Exempla bereits in

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ur- und frühchristlicher Zeit bedeutsam sind, verdienen in diesem Zusammenhang Beachtung. In den folgenden Ausfilhrungen geht es zunächst darum, den Wortschatz zur Bezeichnung der Exempla und zu ihrem sprachlichen Umfeld aufzuweisen, zu registrieren und der Bedeutung nach zu beschreiben.

IV. Der Wortschatz des Exemplum und seine Bedeutung in der Christographia Der Ausdruck "example" sowie verwandte und nahestehende Wörter übernehmen die Aufgabe, den Hörer auf das Exemplum und seine Implikationen ftlr die Christusbeziehung hinzuweisen. Der Gottesdienstbesucher erhält auf diese Weise ein Zeichen, d.h., er wird in die Lage versetzt, dem Exemplum seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Am häufigsten gebraucht Taylor das Substantiv "example", um das Exemplum oder - wie Curtius sagt - die "Beispielfigur" in der Christographia zu kennzeichnen. Der metasprachliche Ausdruck "example" steht nicht nur an der Spitze der zugehörigen Wortgruppe, er ist auch ein Schlüsselwort der gesamten Predigtfolge. Damit erlangt "example" eine herausragende Stellung im Aufbau des Werkes, in der thematischen Darstellung und im kommunikativen und kerygmatischen Bezug zum Hörer. Als Erstbeleg fUhrt das Oxford English Dictionary (OED) (I, Nr. 6) zu "Example" Wyclifs Übertragung von 1 Tim 4, 12 14 an: "Be thou ensaumple [v.r. exsaumple] offeithful men in word [... ] in feith, in chastite."15 Die WycIiftlbersetzung - wie auch spätere Übersetzungen - geben griechisch 'tU1tOC; mit "example" (oder einer seiner Formen) wieder. Die Timotheusstelle, die auch ftlr die Christographia wichtig ist, repräsentiert die Bedeutung: "A person's action or conduct regarded as object of imitation; often qualified by adj[ective]s good, bad, evil, etc." (ebd., Nr. 6). Eine bereits oben erwähnte Priorität der Person gegenüber ihren Taten oder Verhaltensweisen umgreifen die zwei folgenden Bestimmungen von "example" im OED (ebd.): "also a person whose conduct ought to be imitated; a 'pattern' of excellence." Wesentlich ftlr Taylors christologische Aussagen sind Differenz und Beziehung beider Bedeutungen, wie die Belege der Predigttexte zeigen. Über die Ableitung und Bedeutungsunterschiede von exam140EO, s.v. "exarnpie", I, Nr. 6; irrtümlich steht I Tim 4,22. 15 Neben "exemple" und "exarnpie" erwähnt das OEO die Formen: "exaumple, exawmple, axarnpil, exsawmple, exempil(l)" (OEO, I).

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pIe bemerkt das OED (I): "The main Engl[ish] senses are derived from Lat[in] [exemplum] through Fr[ench]." Die in Deutschland in verschiedenen Wissensdisziplinen wie Rhetorik, Literatur, Theologie etc. geläufigen, dem Lateinischen entnommenen Begriffswörter "Exemplum", Plural "Exempla", verzeichnet das OED weder tUr das Mittelalter noch die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts in England. Erstbeleg fiirs Englische ist 1890: "exemplum, pl[ural] exempla [L[atin ... ]] An example; spec[ially] a moralizing tale or parable; an illustrative story" (OED, III, s.v. "Exemplum"). Die weiteren Belege fiir das 20. Jahrhundert sind überwiegend der Homiletik und Literatur bzw. Literaturwissenschaft entliehen (ebd.). Für die weitere Darlegung dürfte ein Überblick fi>rderlich sein, der die verschiedenen Funktionen der Bezeichnung "example" zusammenfaßt. "Example" steht in der Christographia als ein Ausdruck der englischen Bibel,16 der vier griechische Wörter im Neuen Testament wiedergibt, als ein metasprachlicher Ausdruck, ein Leitwort der zugehörigen Wortgruppe, ein Schlüsselwort der Christographia, ein Begriffswort der Homiletik, ein Terminus der Rhetorik und Literaturwissenschaft, ein Signal an den Predigthörer, ein Ruf Jesu zur J.1&taVOUl oder Umkehr, engl. "repentance", sowie zur Bindung an seine Person 17 und als ein das christologische Thema, seine Kontinuität und Einheit betonender Bauteil der Predigtfolge. Das Substantiv "example" kommt am häufigsten in folgenden Predigten vor: in der ersten (vierzehnmal), in der dritten (sechsmal), in der tUnften (zehnmal) und in der achten (viermal). Öfter begegnet das Nomen "examplary" (insges. achtmal) in der Bedeutung "exemplarisch", "beispielhaft", "vorbildlich", "musterhaft", "mustergültig". Das Substantiv "exemplariness", das siebenmal auftritt, läßt sich mit "Beipielhaftigkeit", "Mustergültigkeit", "Musterhaftigkeit" im Deutschen wiedergeben. Seltener stehen die Substantive "examplar" (insg. einmal)18 und "pattern" (insg. dreimal). Sie werden in den Predigten synonym mit "example" gebraucht. Eine zweite Wortgruppe der Christographia schließt sich der ersten an. Sie umfaßt Wörter, die mit denen der ersten verwandt sind oder ihnen nahestehen. 16 Alle Verweise auf die Bibel beziehen sich auf die King Jarnes-Version von 1611. 17 In Lk 5,32 sagt Jesus: "I carne [... ] to ca11 [... ] sinners to repentance (I1EtttvOla )". Vgl. Mat 9,13 und Mk 2,17. Taylor stellt "ca1ling" und "repentance" in den Zusammenhang puritanischer Glaubenslehre, wenn er in "Tbe Profession ofFaith" feststellt: "Effectua11 Ca1ling is the means of Grace upon the Soule, whereby the Soule tuming from Sin, is inseparably joyn'd unto Christ in a new Covenant, this regenerating work of Effectua11 Ca1ling therefore consists in Convicti[on] / Repentan[ce]" (Davis, 1981, 45).

18 Dieser Terminus kehrt häufig in der Aufsatzsarnmlung bei Hawley, 1987,3-51 und 73-86 wieder. Peter Brown wahlt z.B. den Titel "Tbe Saint as Exemplar in Antiquity" (ebd., 3).

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Ausdrücke oder sprachliche Wendungen dieser Gruppe bezeichnen das Exemplum in einem weiteren Sinne. Sie können im christologischen Text eine enge Verbindung mit dem Schlüsselwort ("example") oder einem anderen Wort der ersten Gruppe (z.B. "pattern") eingehen. Exemplumbezogene sprachliche Wendungen gehören zu den Stilmerkmalen der Christographia. Von ihnen haben einige festen, nahezu formelhaften Charakter. Auch können sie als Varianten, d.h. mit einem - der Textsituation entsprechend - abgewandelten Wortlaut in den einzelnen Predigten wiederkehren. Eine Stelle aus der applicatio oder den "uses" der Eingangspredigt mag dies verdeutlichen. Sie lautet: "Here [in Christ] is the best Example for our Pattern and Imitation" (C 32, 88). Die Aussage mit den Wörtern "example", "pattern" (1. Gruppe) und "imitation" (2. Gruppe) gehört zu "Use" 3 und trägt die Überschrift: "By way ofExhortation" (C 29, 68). Die Position, welche eine TextsteIle im Aufbau der puritanischen Predigt einnimmt, ist für ihr Verständnis und für ihre Deutung belangvoll. "Example" und "pattern" sowie "imitation" treten in der Christographia häufig, obwohl nicht ausschließlich, innerhalb der applicatio oder den "uses" auf. So umfaßt "Use" 3 in der ersten Predigt eine wichtige Darlegung über das Exemplum. Entsprechend kommt "example" und das "example" repräsentierende Vokabular in diesem Textparagraphen besonders oft vor. Generell gilt für die Christographia: Die zwei Wortgruppen begegnen vor allem in dem durch "use" oder "application of the doctrine" bezeichneten Teil, und sie können so gegen Ende einer Predigt (z.B. "sermon" I und 11) eine hohe Konzentration erreichen. Bedeutung und Funktion von "example" in der Christographia lassen sich nur dann angemessen erfassen und interpretieren, wenn der durch die Bauform bedingte Stellenwert des Exemplums in einer Predigt richtig erkannt und gewichtet wird. Der thesenartige Aussagesatz - "Here [in Christ] is the best Example for our Pattern and Imitation" -leitet einen für die Untersuchung wichtigen, aus 32 Zeilen bestehenden Abschnitt (C 32, 88-99; 1-20) ein, in dem zehnmal "example", fünfmal "examplary" und zweimal "examplariness" auftreten. Zur großen Dichte von Nomen der ersten Gruppe gesellen sich Wörter der zweiten. Es stehen je einmal das Substantiv "imitation", das Adjektiv "imitable" und das Verb "to imitate". Letzterem entspricht das dreimal verwendete "to follow", das in den Schriften Taylors und anderer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts gleichbedeutend mit "to imitate" gebraucht wird. In der Christographia kommen beide Verben dieser zweiten Gruppe häufig vor. Auch kehren "imitable" und vor allem "imitation" oft wieder. Zahlreiche Stellen verwenden das Synonym "following" statt "imitation" (vgl. Weiss, 1984,28-39). Die thesenartige Aussage der Eingangspredigt, die gut Taylors exemplarische Denk- und Sprechweise zeigt, verdient genauer betrachtet zu werden. "Example" ist Satzsubjekt und dominiert die drei wichtige Nomen umfassende

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Aussage zu Anfang des Abschnitts. Das Schlüsselwort ist Mittelpunkt einer sprachlichen Wendung, die den höchsten Grad der Bewertung ausdrückt und sich im Text von "Use" 3 auf Christus bezieht. Durch das Adverb "Here" weist der Satz auf seine Person, auf ihren Ort in der Welt des Menschen. Grundlage seines Daseins in dieser Welt ist - wie der vorangehende Predigtteil darlegt - "the Work ofthe Incamation" (C 16,5). Auf die Lehre ("doctrine") und ihre Erklärung, die von der "Menschwerdung" spricht, wird später einzugehen sein; denn ohne diese läßt sich die Aussge der applicatio über das Exemplum schwerlich begreifen. Das "Exemplum" ist, wie der Wortlaut anzeigt, nicht um seiner selbst willen da; als "example" hat es eine dienende Funktion. Es ist "for our Pattern and Imitation" (C 32,88). Das besagt: Ein Exemplum der Christographia schließt immer auch eine mitmenschliche Beziehung ein, es steht im Bezugsfeld des Mit- und des FÜTeinander. 19 "Pattern" im Zusammenhang mit "example" oder "exemplariness" bezeichnet in der Christographia ein charakteristisches bzw. typisches Beispiel,. ein vortreffliches Musterbild oder ein eindrucksvolles, zwingendes Vorbild. Gott selbst hat dieses, so argumentiert der Prediger, zur Beobachtung des Menschen gesetzt und zur Nachahmung bestimmt: "For thee to neglect this Examplariness, and not to follow this pattern is to Sin against it" (C 165, 34ff.). Dem Musterbild folgen oder, wie Taylor auch sagt, "to follow Christs example" (C 34, 53f.) wiederum meint: "to live in imitation of Christ" (C 167, 87). Die der zweiten Wortgruppe zugerechneten Ausdrücke "imitation" und "following" zielen direkt auf die Person und das Verhalten Christi oder sie beziehen sich im Text auf "example", "exemplariness" und "pattern", die in der Christographia für Christus stehen. Zur zweiten Wortgruppe zählen mehrere Ausdrücke oder Umschreibungen, die überwiegend in den Umkreis des Nachahmens oder Nachfolgens gehören und die - ähnlich wie "example" und "pattern" - vom biblischen Sprachgebrauch geprägt oder mitgeprägt sind. Das gilt u.a. für das bildhaft verwendete Substantiv "copy", das in der Christographia als Synonym von "example" und "pattern" dient. Die Bibel gibt ~1toypaJ.1J.16~ von 1 Petr 2,21 mit "copy" wie19 Die Synonymie von "example" und "pattern" sowie die Beziehung der beiden Substantive zu "imitation" drUckt sich in der Definition aus, die das OED von "Pattern" gibt: "An example or model deserving imitation; an example or model of a particular excellence." Die angefilhrte Definition des Exemplum von Johannes de Garlandia hat den auch in der Folgezeit wichtigen Begriff der "imitatio" aufgenommen und fest verankert. Seiner Bindung an den Begriff des Exemplum kommt eine große Bedeutung zu. Entsprechend greift die Bestimmung von "example" im OED auf die Bezeichnung "imitation" bzw. "to imitate" zurUck. In den christologischen Predigten begegnet man einer engen Beziehung zwischen Exemplum und Nachahmung. Als "example" beschreibt das OED "a person whose conduct ought to be imitated" (s.v. "Example", I, Nr. 6). Somit bedeutet "example", wie es weiter heißt, "a 'pattern' of excellence".

Oas Exemplum in Edward Taylors Christographia

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der. An dieser Stelle weist der Verfasser des 1. Petrusbriefes darauf hin, schreibt Gotthold Schrenk, "daß Christus durch seinen Wandel im Leiden Fußspuren zur Nachfolge hinterlassen hat, die als Vorlage, Beispiel, Vorbild zu gelten haben, wie dem Schüler die anleitenden Linien des Lehrers" (1957,

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Das auch verbal benutzte "copy", welches mit "example" und "pattern" liiert auftritt, gehört zu den Ausdrücken, die Taylor der sprachlichen Bildkraft wegen zu schätzen weiß und häufiger verwendet. Das Leben Jesu, ein Exemplum schlechthin, gleicht einer Schreibvorlage, und diese soll der Hörer - so wünscht es der Prediger - alle Zeit vor Augen behalten. Das heißt: "Christs Life" soll Muster und Vorbild ftir das eigene Leben sein; denn - so folgert "Sermon" V - "He that would indeed have the best Copy to write after must take Christs life, for an Example" (C 167, 99ff.). Das Leben des Herrn nämlich, so erläutert Taylor, "[is] the most perfect Coppy to write after" (C 167, 11). Als Exemplum hat es nicht nur Bedeutung ftir den Hörer, sondern auch ftir Taylor selbst. Entsprechend wenden sich Bitte und Aufforderung von "Sermon" V an beide:

o let us then write after this Coppy. Coppy out this life by ours, and then as this was rightly called the life of God: so will ours indeed by transcribing out this in it be also the life of God. (C 168, 12-15)

Neben einer zweifachen Bedeutung von "Coppy" ist der nominale und verbale Gebrauch des Ausdrucks bemerkenswert. Als Synonyma von "coppy" und "coppy out" gebraucht Taylor beispielsweise die Wendungen "write after" und "by transcribing out", wie aus den angeftihrten Belegen zu ersehen ist. Weitere Ausdrücke oder Umschreibungen der zweiten Gruppe, mit der sich die Untersuchung folgender Paragraphen zu beschäftigen hat, seien kurz zusammengefaßt. Zunächst jedoch eine Feststellung grundsätzlicher Art: In welchem Textgeftige "example" und die beiden Gruppen von Wörtern und Wendungen der Christographia auch stehen, immer geht es um eine Begegnung mit dem Herrn, um eine das ganze Leben des Menschen umspannende Ge20 Schrenk verdeutlicht: "Nicht im Sinne einer kopierenden imitatio Christi ist das gemeint." Oas Substantiv "Copy" steht in der Christographia synonym mit "pattern, example" (OEO, I, S.v. "Copy", Nr. 8c, letzter Beleg 1775). Es heißt "Mustervorlage" (ThW I, 772) oder "that which is copied" (OEO, I, S.v. "Copy", Nr. IV) bzw. "that from which a copy [= Abschrift, Kopie, Nachbildung] is made" (SOEO, S.v. "copy", Nr. 5). Im Unterschied dazu bezeichnet der geläufigere Wortgebrauch von "copy" "a transcript or reproduction of an original" (OEO, I, S.v. "Copy", Nr. 11). Die Christographia verwendet heide Bedeutungen. "Copy" in der ersten verhält sich zu "copy" in der zweiten Bedeutung wie ein Original oder eine Mustervorlage zur Abschrift oder Nachahmung.

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meinschaft mit ihm, und - wenn eine solche bereits fest verwurzelt ist - vor allem darum, ihr Beständigkeit und Tiefe zu verleihen. Es hieße Taylors pastorales, auf eine Metanoia und eine dauernde Bindung an Christus zielendes Anliegen verkennen, wollte man in seiner Handhabe des Exemplums lediglich eine homiletische, mit den Mitteln der Sprache und Rhetorik arbeitende Strategie sehen, die sich selbst genügte. Das pastorale Ziel ist ein Hauptmotiv fiir die Wahl der sprachlich-literarischen Mittel und ihrer Verwendung in der Christographia, die sich an die Hörer der Gemeinde von Westfield richtet. Den Wörtern "example", "imitation" bzw. "to imitate" zugeordnet sind die Ausdrücke "conformity", "to walk" und die Umschreibung "to follow a person's steps". Letztere steht gemeinsam mit "example" an der Schriftstelle 1 Petr 2, 21, die in der Christographia mehrfach wiederkehrt. In der ersten Predigt dient sie als Nachweis (C 33, 5), und "Sermon" III paraphrasiert 1 Petr 2,21: "Peter" [saith] he [Christ] has left us an example that we should follow his Steps" (C 100, 67f.). Christi "Beispiel" oder "Fürbilde", wie Luther u1toypa'.1I.1(5~ überträgt, wendet sich an die Angeredeten und fordert dazu auf, "das jr solt nachfolgen seinen Fußtapffen" (Bibla Germanica, 1545, zu 1 Petr 2, 21.). Das im Englischen mit "step" wiedergegebene "{XVO~, "Fußspur", "Fußstapfe", wird von Taylor nicht zuletzt der Anschaulichkeit wegen gerne gebraucht. A. Stumpff bemerkt dazu: "Der einzelne Eindruck des auf den Boden gesetzten Fußes, als auch die fortlaufende Linie dieser Eindrücke, die Fährte", heißt~xvos (Stumpff, 1957, 405f.). Das Bild des Weges und der Bewegung ist auch ftlr das biblische Verb "to walk" wesentlich. Seine enge Verbindung zu "example", "imitation" und "to follow somebody's steps" belegt die ftlnfte Predigt. Ihr Mahnwort knüpft an einer aus Kol 2,9 entfalteten Lehre an, die ein Zitat von "Use" 3 ins Gedächtnis ruft: All the Fulness ofthe Godhead dweils in hirn [Christ] Bodily [...] Let this Stir us a11 up to live in imitation of Christ. Are we Christ's? Then we ought to walk as Christ also walked. I Joh. 2. 6. He hath left us an Example that we should follow his Steps I Pet. 2. 21. (C 167, 85-90)

Der sich anschließende Text entwickelt detailliert aus den erwähnten Schriftstellen das Bild des Weges, erschließt dem Hörer seine Implikationen und beschreibt "Christs life" als "an Example" (C 167, 1-2). Schließlich charakterisiert es Christi Leben als "an absolute pattern ofperfect Obedience" (C 167,6) und "the most perfect Coppy to write after" (C 167, 11). Da die Stelle eine verhältnismäßig ausftlhrliche Darstellung eines Exemplums enthält und dieses vermittels ihrer eigenen Begriffssprache, Bildworte und Metaphorik gestaltet und auslegt, soll die Studie sich mit ihr später eingehender befassen.

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Verglichen mit Wörtern und Wendungen wie "to walk", "to follow his steps" und "[a] Coppy to write after" wirkt das Substantiv "conformity" weit weniger anschaulich. Die Predigten gebrauchen es synonym mit dem parallel stehenden Abstraktum "rule". Die durch das Exemplum und den Ruf Jesu angeregte und häufig mit den Wörtern "following" und "imitation" gekennzeichnete Gemeinschaft mit ihm bezeichnet die Christographia auch mit dem Begriffswort "conformity", das mehrmals wiederkehrt. In "Sermon V" demonstriert der Prediger seinen Hörern: "Christs Practice is the most imbellishing Comentary upon, and most glorious Conformity to the Rules of God that ever was, is or Can be" (C 165, 25ff.). Eine Lebensgemeinschaft mit Christus "will be a Conformity to the best rule, and so the best life" (C 169,60-61). Wenn dem heutigen Hörer oder Leser ein an Regel und Gesetzlichkeit orientiertes Sprechen formal und abstrakt erscheint, so darf man nicht vergessen, daß der Puritaner das theoretische und praktische Verhalten, also den Bezug zu "doctrine" und "practice", als zwei Seiten desselben konkreten Daseinsvollzuges auffaßte: "To follow Christ in his Precepts and his practice" (C 168, 25f.). Läßt der erwähnte Gebrauch von "conformity" im Sinne einer Angleichung oder Verähnlichung eine Beziehung zur conformitas Christi der Imitatio-Tradition anklingen, so deuten einige mit "example" und "imitation" synonym verwendete Ausdrücke auf einen Zusammenhang mit der Mystik. Zu ihnen zählen die oft mit "Christ" oder "God" verbundenen Wörter und Umschreibungen wie "union", "communion", "to be one with" oder "a Christ like life". "Christs call" und "Christs example" bedeutet der Anfang einer neuen, am Herrn ausgerichteten Lebensform. Die Christographia nennt sie "A Christ like life" (C 104,38), "Conformity to [... ] the best life" (C 169, 60f.) oder auch "the Mysticall Union of our Persons to this Wonderful Person" (C 105, 57f.). So ruft die dritte Predigt dem Hörer zu: "Strive to be one with him [Christ]" (C 104, 16). Was dieselbe Predigt als "the Mysticall Union unto the person [of Christ]" (C 104, 3lf.) beschreibt, umschließt eine Teilhabe des Gläubigen an der irdischen und himmlischen Existenzform des Menschgewordenen. Mit diesen Ausdrücken und sprachlichen Wendungen drückt die Christographia eine enge und innige Lebensgemeinschaft mit Christus aus. Gegen Ende von "Sermon" III legt der Prediger dar, was die personalen Beziehungen bedeuten und ermuntert den Hörer: Mentain the Glory of Christ by aChrist Iike Iife [... ]. It will be your greatest Cornfort [...]. It will be the best irnproovernent ofyour Union to Christ: and ofChrist's Union to God". (C 104, 37-105,42)21 21 Zu den Wendungen "Union to Christ" und "Cornrnunion with hirn" vgl. die Aussagen zu "the Application ofRedernption" in "The Profession ofFaith", Davis, 1981,44.

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Zur Erläuterung der aus Kol 1, 19 erhobenen Lehre, "That All Created fulness flowing from the Fathers Good pleasure, doth dweIl in Christ" (C 174, 39f.), heißt es: "Spirituall Life; this is begun in time, and flows from Christ in its Essence and in its Increase. All is from him. Hence is that call" (C 181, 90ff.). Der im Exemplum vermittelte Ruf ist eine Berufung des Hörers aus dem "natürlichen" zum "geistlichen Leben", dessen Quelle "the Spirit of Jesus Christ" (Phil 1, 19) ist. Dem Hörer die nicht einfach zu erfassende Bedeutung der Aussage verständlich zu machen, sagt der Prediger: "This Spirituall Life lieth in the inbeing of all Spirituall Grace in the Soule that flows from Christ. Joh. I. 16" (C 182, 99f.). Zu Taylors Wortschatz des Exemplum und seiner Bedeutung im thematischen Funktionszusammenhang sei abschließend bemerkt: Die vorliegende Übersicht bietet eine Auswahl von Wörtern und Wendungen zur Bezeichnung und Beschreibung des Exemplum im engeren und im weiteren Sinne. Sie umfaßt somit zwei Gruppen, die semantisch in einer näheren oder entfernteren Beziehung zum Schlüsselwort und thematischen Leitbegriff "example" stehen. Synonyma der zweiten Gruppe, die mehr noch als die der ersten aus sprachlichen Wendungen und Umschreibungen besteht, dienen in der Christographia dazu, einen exemplarischen Charakterzug darzustellen und zu verdeutlichen sowie eine bestimmte Seite des Exemplums herauszuheben und diesen von einem speziellen Standort her auszuleuchten. Die Bezeichnung "example", Schlüsselwort und Leitbegriff im sprachlich-literarischen Bereich, übernimmt zugleich eine wichtige Aufgabe als Terminus der Didaktik und Homiletik. Die Wirksamkeit von "example" entfaltet sich in der Predigt des Pfarrers von Westfield aus einer pastoralen Motivation, d.h., "example" hat eine bestimmte Aufgabe im Dienst der Seelsorge an der Gemeinde zu erfüllen, einer Gemeinde, die eine Krise durchmacht. Die aus der Sicht des Autors der Predigten und des pastoralen Leitungsdienstes wichtigen Probleme, die in der sprachlich-literarischen Darstellung ihren Niederschlag fmden, werden in die folgende Untersuchung in dem Maße einbezogen, als sie dazu beitragen, Bedeutung und Funktion des Exemplums in der Christographia aufzuzeigen. Die Frage, ob eine Person (ihre Eigenschaften und ihr Tun eingeschlossen) Authentizität beanspruchen kann, wie es die Defmitionen des OED und des Johannes de Garlandia rur das Exemplum festlegen, erlangt in Taylors Werk ein großes Gewicht. Aufgrund des hohen Stellenwertes sowie der engen Verbindung mit Christus, die ein Exemplum in der Christographia hat, ist dem Pastor an einer klaren, eindeutigen Lösung dieser Frage gelegen. Die ersten Predigten der Christographia zeigen zunächst die Authentizität Christi auf, um der Gemeinde sodann "Christs Example" (C 33, 19; 34, 54) und die Bedeutung zu erschließen, die sein Beispiel rur das Bundesvolk insgesamt und rur den einzelnen hat, den Christus zur Gemeinschaft mit sich, d.h. zum Heil beruft.

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V. "The best Example for our Pattern, and Imitation" Der Prediger braucht die sonntäglichen Gottesdienstbesucher von Westfield nicht eigens von der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Erneuerung des Glaubens in einer Zeit zu überzeugen, in der das Gemeindeleben allmählich zerfällt und die Christusbeziehung des Gläubigen sich auflöst. Es fehlen in der Christographia ausdrückliche Hinweise auf die Krisis des Covenant. Auch "'the Half-Way' Controversy in New England" (Schuldiner, 1991,91) kommt nicht zur Sprache. Die Probleme lassen sich jedoch in anderen Schriften, z.B. in Edward Taylor's Treatise Concerning the Lord's Supper (1693) und in Edward Taylor vs. Solomon Stoddard: The Nature 0/ the Lord's Supper im einzelnen verfolgen. 22 Bei der weiteren Untersuchung des Exemplum in der Christographia bleibt die Kontroverse über den Half-Way Covenant im Hintergrund; die Krisis der Gemeinde hingegen kennzeichnet die religiöse und soziale Lage, in die hinein der Pastor von Westfield "Christs Example" verkündet und den Ruf Christi zu Gehör bringt. Die Frage nach der Authentizität der Person Jesu Christi wirkt sich nicht allein auf das Exemplum aus. Ihre Wirkung läßt sich auch - wie oben angedeutet - im Aufbau der Predigtfolge nachweisen, die "Christs Example" in differierenden Varianten thematisch entfaltet und in Verbindung mit der Lehre expliziert und interpretiert. An sie schließen sich sogenannte "proofs" oder "reasons" an, welche die Lehraussage belegen, begründen oder beweisen und vorwiegend auf die Schrift bezogen sind bzw. ihr entlehnt werden. Auch Exempla können diese Aufgabe übernehmen, wie z.B. die "proofs" von "Sermon" VIII zeigen. Zahlreicher treten Exempla jedoch im abschließenden Teil einer Predigt der Christographia auf, in der applicatio oder den "uses". Sie richten sich auf die Lebenspraxis und suchen die Doktrin für den Predigthörer im Alltag fruchtbar zu machen. Der englische Puritaner William Perkins bemerkt in "The Arte of Proheceying", es sei Aufgabe des Predigers, "to apply (if he have the gift) the doctrines rightly collected, to the life and manners of men, in a simple and plaine speech" (Perkins, 1609, 673). In den weisenden Worten "a simple and plaine speech" spricht das Standardwerk der Homiletik eine für den Puritanismus Englands und Neuenglands typische Auffassung zum Sprachstil der Predigt aus. 23 22 Hingewiesen sei auf die von ihren Herausgebern, Norman S. Grabo bzw. Thomas M. und Virginia L. Davis, verfaßten Einleitungen, die rur ein Verständnis von Taylors Position und den zeitgenössischen Verhältnissen hilfreich sind. Vgl. Taylor, 1966a und 1981a. 23 "The Plain Style" wählt Perry Miller treffend als Kapitelüberschrift, unter der er die puritanische Predigt als Thema abhandelt (Miller, 1971,331). Wenn Puritaner von "abuses and extravagances" im "sermon style" sprechen, bemerkt er, "they almost a1ways have in mind sermons

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Grundlegend fUr den Aufbau und die Art und Weise des Vorgehens in Taylors Christographia sind die Darlegungen der ersten drei Predigten. Ihre Lehraussagen widmen sich der Menschheit Jesu ("Sennon" I), seiner Gottheit ("Sennon" 11) und der Vereinigung der zwei Naturen in der einen Person Jesu Christi ("Sennon" III). Alle weiteren Darlegungen zum christologischen Thema weisen auf diese grundlegenden Lehren zurück. Sämtliche das Exemplum betreffenden Aussagen der Christographia sind in den Lehren von "Sennon" I-III verwurzelt. Sie lassen sich allein über diese genau erfassen und in ihrer ganzen Tragweite auslegen. "Sennon" I erhält innerhalb der drei ersten Predigten und damit der gesamten Christographia eine Schlüsselfunktion: für die Struktur und die sprachlichstilistische Gestaltung des Themas, das Lehrgeschehen, dessen enge Beziehung zum Exemplum, die Häufigkeit des Schlüsselwortes "example", den Sprachgebrauch von "example" und dessen Synonyma und für die begriffliche Prägnanz und eine klare Bestimmung des Exemplum. Die erste Predigt geht aus von der Schriftstelle "Heb. 10.5. A Body hast thou prepared mee" (C 3, lf.). Der Prediger erhebt daraus die Lehre: "That God the Father hath prepared a Body, or an Humane Nature for Christ" (C 9, 42f.). Aufschlußreich für Taylors Realitätsauffassung des Menschen Jesus, den er in der Eingangspredigt (C 32-34) dreizehnmal als "example" kennzeichnet, ist eine sich unmittelbar anschließende Exposition von "this Doctrinall Conclusion" (C 9, 40f.): Christ asserts this to his Father Saying, thou hast prepared mee a Body. And for this end might I produce all those Scriptures, that Speake of Christ as a man, and as having Flesh and bones, and of Life, and Soule, which are multitudes, as of his being piercd Naild, buffited, Scourgd Spit upon, having his hair plucked off, and the Iike. (C 9, 44-49)

Die exegetische Erläuterung der ersten Lehraussage der Christographia, die nach der Einteilung puritanischer Homiletik zu den "proofs" oder "reasons" zählt, ließe sich auch als eine exemplarische Darstellung lesen. Ihre wichtigen Funktionen im Predigtaufbau könnte die Textpassage dabei durchaus erfüllen. of the Laudian party, the discourses of Andrewes and Donne, the preaching that symbolized in manner as weil as in content the preferences of the court, the Cavalliers". Gegen diese Art der Predigt, so zeigt Miller, "Puritans opposed their own conception, the plain and profitable way of doctrines, reasons, and uses, which perfectly reflected in form and style as weil as in substance the mentality and tastes of Puritans, Roundheads, and lovers of the Word of God" (ebd., 332). "Biblical figures" wirkten nachhaltig auf den Predigtstil der Puritaner "[and] added complexity to their plain and direct way ofexpressing holy truth", ergänzt Lowance, 1980, vii. Vgl. seine Ausftlhrungen zum figurativen Sprachgebrauch der Christographia 30, 53, 61, 93, 96, 98, 100 und besonders 102-106.

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Der an "doctrine" angefügte Abschnitt übernimmt die Aufgabe, den entsprechenden Text zu Heb 10, 5 ausfilhrlicher zu erläutern. Aus sich selbst kann man den Abschnitt - nach Taylors Auffassung - nicht hinreichend verstehen. Zwar ist - wie es die Westminster Assembly (1645-1647) im "Directory for tbe Publick Worship" verlangt - "tbe doctrine [... ] expressed in plain terms" ("Directory", 1768, 493). Doch erschließt sich dem Hörer der zugeordnete Schrifttext von "Sermon" I erst dann in einer umfassenden, für "uses" und Exempla fruchtbaren Weise, wenn die Verbindung zwischen der Lehraussage und dem biblischen Zusammenhang von Heb 10, 5 freigelegt ist. Auch die Sonderstellung der ersten Predigt in der Christographia und ihre für die EinfUhrung und Entfaltung des Exemplums grundlegende Funktion machen es erforderlich, daß der Hörer ein klares Verständnis des größeren Zusammenhangs erhält, der zahlreiche Verweise und Anspielungen auf andere Stellen der Bibel einschließt. Sie wiederum erweisen sich als förderlich für eine Exegese des Schrifttextes von Heb 10, 5, somit gleichzeitig für die zugeordnete Lehre und ihre applicatio, die dem Hörer ein ansprechendes, ihn in den Alltag begleitendes Exemplum vermittelt. "If any tbing in it [tbe doctrine] need explication" sagt die oben bereits zitierte Anweisung zu "tbe preaching oftbe Word", it is to be opened, and the consequence also from the text declared. The parallel places of scripture confirming the doctrine, are rather to be plain and pertinent, than many, and (if need be) somewhat insisted upon, and applied to the purpose in hand. ("Directory", 1768,493)

"Tbe purpose in hand" bedeutet für die Eingangspredigt, die Taylor am 26. Oktober 1701 in Westfieid vorträgt, vor allem ein zweifaches: die Gottesdienstbesucher auf die Feier und den Empfang des Abendmahls vorzubereiten, sie zu konfrontieren mit "Christs Example" und die Bedeutung dieses Beispiels für ihre Lebenspraxis klarzulegen. Das Beispiel Christi hat eine überzeugende Darstellung in der Bibel gefunden: "[in] all tbose Scriptures, tbat speak of Christ as man" (C 9, 46). Der puritanische Hörer kennt sie aus der biblischen Lektüre, der religiösen Unterweisung in Familie, Schule und Gottesdienst. "Tbose Scriptures [... ] which are multitudes" (C 9, 46-48) braucht "Sermon" I daher lediglich ad summam zu nennen. Gemeint sind die zahlreichen Schrifttexte der Evangelisten, überhaupt die des Neuen Testaments, sowie die typologischen Beziehungen, die sich dem Menschen Jesu und seinem Leben widmen. Dieses wird nicht bloß in "Sermon" I, sondern in verschiedenen Predigten zum Gegenstand der Darstellung, die vorbildliche Züge aufdeckt und mustergültige Eigenschaften offenkundig macht. Sie alle tragen dazu bei, dem Exemplum einen spezifischen Charakter zu verleihen, der keine vergleichbare Gestaltungsweise, Dichte des Ausdrucks und christozentrische Intensität in den Schriften Taylors oder anderer puritanischer Autoren Neuenglands gefunden hat. 10 Engl... I MUll...

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Wenn Taylor - der Schrift entsprechend - "Christ as a man, and having Flesh and bones, and [... ] Life, and Soule" (C 9, 46f.) seinen Hörern vor Augen stellt, so sucht er damit allgemein menschliche Wesensmerkmale seiner Person kenntlich zu machen, die ihn mit uns verbinden, die seine Nähe zu uns verdeutlichen. Jesu menschliche Nähe zu uns liegt begründet "in the Work of the Incarnation" (C 16, 4f.), wie "Sermon" I in den "proofs" näher ausführt. Darüber hinaus zeigt die Eingangspredigt dem Hörer: In einern besonderen Maße erhält "this Life of Christ" - wie die Christographia mit gleichem oder ähnlichem Wortlaut häufig wiederholt - eine zentrale Bedeutung für die Menschheit, indern Christus in das Leiden und Sterben einwilligt, "his being piercd Naild, buffited, Scourgd, Spit upon, having his hair plucked off, and the like" (C 9, 48f.). Taylor ist nicht so sehr an der Tendenz der Evangelisten interessiert, den Weg des Leidens und Sterbens (wie ihn z. B. Markus schildert) nachzuerzählen. Ihm kommt es primär darauf an, seinen Predigthörern die Authentizität Jesu zu erschließen, und er möchte ihnen diejenigen Merkmale seiner irdischen Existenz vor Augen stellen und ihrem Gedächtnis einprägen, die exemplarische Bedeutung, Modellcharakter für die Lebenspraxis haben. Aus einer Vielzahl von Exempla, die am Aufbau und an der Gestaltung der Christographia maßgeblich beteiligt sind, läßt sich im Rahmen dieser Studie nur eine begrenzte Auswahl eingehend untersuchen und interpretieren. Zitate, Verweise und Anspielungen auf relevante TextsteIlen sollen dazu beitragen, die ausgeführte Passage zu erschließen, ihren umfassenden Zusammenhang aufzudecken und ihre Details entsprechend zu erhellen und zu deuten. Aus der Eingangspredigt hebt sich ein Abschnitt heraus, der zu "Use" 3 gehört und dem Exemplum besondere Beachtung schenkt: Here [in Christ] is the best Example for our Pattern, and Imitation. No example like this. This is altogether the best, and so is eminently suitable to the Principles Essentiali to our Natures. Other Examples are to be attended, as they are Examplary. Follow them saith God, who thro' Faith, and Patience inherit the Promises. Heb. 6. 12. Dur Imitation of the Saints hath its limitations anexed. We must imitate them in their Grace. Whose Faith saith he, follow. Heb. 13. 7, and as they follow Christ I Cor. 11. I. There is something in the examples ofthe Saints, not examplary, as to practice. There is Some fault to be found in their best Coppies. But it is not so with Christ. He is all Example, and examplary. Save onely in Such things in which he is above Examplariness: as in all his Life taken as a Mediator. His Mediatory actions. But all his Actions under other Considerations are imitable, and Examplary. Hence, saith he, I have Set you an Example. Joh. 13. 15, and we are to follow in his Steps. I. Pet. 2. 21. Hence I say, He is the onely Example, that is to be followd, without any exception. For no fault can be found with his Example. There is no fault in it; because he is without all fault. He had no Spot in hirn. I Pet. I. 19, nor blemish: He never had any fault adhere to hirn, of his own: Neither in Body, nor Soule, nor Life, or behaviour. Hence a Compleate Examplariness found in hirn: He is altogether lovely Can. 5. ult. and So altogether examplary. Further, there is not onely a freedome from all fault in hirn, but also a fulness of all Gracious Perfections in Hirn. So that the Flaming

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forth of all Perfect Grace Spreads itselfe throughout his Whole Life, which makes his Iife a more Shining Example, than what can be founde in the brightest Angell in Heaven, and so its evident that Christs Example is the best that ever was, and therefore we ought to be imitating Christs Life. (C 32, 88-33, 20)

Die komprimierte Ausfiihrung des Abschnitts von "Use" 3 ist der vielleicht wichtigste Predigttext zum Thema dieser Studie. Eine zentrale Stellung nimmt das Schlüsselwort "example" ein. Es fungiert als Tenor der Passage und umschließt die begriffssprachlichen Bedeutungen ihrer Wissensdisziplinen. Zu ihnen zählen Literaturwissenschaft, Logik und Rhetorik, Pädagogik, Homiletik, Pastoraltheologie sowie Biblische und Systematische Theologie, in der Glaubenslehre und christliche Ethik vereint sind. AuffiUlig ist eine Wiederholung des Schlüsselwortes und anderer mit "example" sprachlich und bedeutungsmäßig verwandter Ausdrücke, die das Exemplum im engeren oder weiteren Sinne in den für die Untersuchung wichtigen Abschnitten bezeichnen. Zu nennen sind die Wörter "examplary", "examplariness", "pattern" und "coppy", die der ersten Gruppe angehören, während man "imitation", "to imitate", "imitable", "to follow" und "follow in his steps" der zweiten zurechnen kann. Einige dieser Ausdrücke heben einen besonderen Bedeutungsaspekt oder ein inhaltliches Merkmal des Exemplum hervor. Das vom Schlüsselwort angefiihrte Vokabular beider Wortgruppen, die auf das Exemplum bezogen sind, steht im Dienste seiner Thematisierung, Explikation, Interpretation, Diskussion und Bewertung. Letztere drängt in den Aussagen des Abschnitts merklich in den Vordergrund und erhält eine christozentrische Ausrichtung, die fiir die restlichen Predigten der Christographia leitend ist. Bei der thematischen Entfaltung des Exemplum werden mehrere Implikationen und Beziehungen mitentfaltet. Ein großer Teil von ihnen aber wird in der angeführten Passage lediglich erschlossen und dem Hörer in summarischer Form zur Kenntnis gebracht. Andeutungen überwiegen. Durch sie will der Prediger die Erwartung des Hörers wecken, er sucht, sein Interesse auf die Ausführungen zu "example" an den folgenden Abendmahlsonntagen zu lenken, den Hörer auf diese vorzubereiten und einzustimmen. Am ausführlichsten mitentfaltet ist das Verhältnis des Exemplum zur Nachfolge oder Nachahmung. Im Sprachgebrauch der gesamten Predigtfolge ist die Beziehung zwischen "example" und "following" bzw. "imitation" impliziert. Die angefiihrten Defmitionen, z.B. des DED, des Johannes de Garlandia u.a., die diesen Zusammenhang kennzeichnen, sind im puritanischen Schrifttum mindestens ebenso deutlich ausgeprägt wie in der mittelalterlichen Literatur. Den als These an den Anfang der Passage gestellte Satz "Here [in Christ] is the best Example for our Pattern, and Imitation" gilt es, vor diesem Hintergrund zu lesen. An die auf Exemplum bezogene Thematik und ihren Wortlaut knüpft

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der Schlußsatz - er fungiert als Rahmen des Abschnitts - mit einer Folgerung an: "so its evident that Christs Example is the best that ever was, and therefore we oUght to be imitating Christs Life". Die Folgerung und Forderung dieser Feststellung beruht auf dem Nachweis, den der Predigttext zwischen Eingangsthese und Schlußsatz führt, ein Nachweis, der die Beziehungen zu den detaillierten Darlegungen vorausgehender Teile von "Use" 3 aufnimmt, verarbeitet und weiterentwickelt. Keinesfalls sollte man übersehen, daß diese Darstellung des Exemplum "By Way of Exhortation" (C 29, 68) erfolgt. Überdies bleibt zu beachten: Der an die Gemeinde und den einzelnen Hörer adressierte, fordernde Anruf, der von "Christs Example" ausgeht, drückt sich nicht erst aus in den konkludierenden Worten "therefore we ought to be imitating Christs Life". Er ist bereits - nach Umfang und Gewichtung - im einleitenden Thesensatz voll enthalten und wird dann, im Dienste der Predigtrhetorik, dem Hörer immer wieder aufs neue im Verlauf der Passage durch eine identische und variierende Wiederholung bewußt gemacht, seinem Gedächtnis und seinen Affekten so eingeprägt, daß sie dem Willen24 und Grundstreben in der Lebenspraxis und im mitmenschlichen Umgang Orientierung, Halt und Anleitung geben können. 25 Die sentenzartige Diktion "Here [in Christ] is the best Example for our Pattern, and Imitation" legt den Gottesdienstbesuchern keine bloß wohlgemeinte Empfehlung vor, noch erteilt sie unverbindlich einen Ratschlag. Der knappe und gedrungene Wortlaut des Thesensatzes leitet über zu "the best Example", 24 Der Beziehung von Wille und Wort widmet sich Scheick, 1974. Für den Willen vgl. besonders ebd., 49-90. 25 Für die in der puritanischen Predigt und Predigtlehre verwendete Rhetorik in Neuengland sei besonders auf Miller, 1971, 239-362, verwiesen. Die Kapitel über "Tbe Means of Conversion", "Rhetoric" und "Tbe Plain Style" bleiben auch nach den Ergänzungen des heutigen Forschungsstandes unentbehrlich. In dem mit "Anthropology" überschriebenen dritten Buch sollte das einleitende Kapitel, "Tbe Nature of Man", beachtet werden. Vgl. auch Lowance, 1980, 30, 53,61,96-100, 102-106. Seine Darlegungen beschäftigen sich mit den Mitteln der Sprache, u.a. der Rhetorik, in Taylors Christographia, lassen aber das Exemplum außer Betracht. Für das Exemplum sieht die puritanische Homiletik keine eigene Rubrik im Bauplan oder in der Einteilung der Predigt vor. Eine Verwendung bei der Klärung, der Beweisftlhrung und ihrer Argumentation, bzw. zur Erläuterung, Demonstration oder Illustration einer Lehre ist über das verwendete logisch-rhetorische Instrumentarium möglich und zu rechtfertigen. Hilfreich, obgleich nicht auf die puritanische Predigt bezogen, sind Ausftlhrungen über das Exemplum bei von Moos, 1988, I130, Lyons, 1989,3-71 und Daxelmüller, 1991,77-94. Als Vergleich sei empfohlen Opheldersvan Neerven, 1990, 111-140. Taylor räumt der zweiten, vor allem jedoch der dritten applicatio in der Christographia den Vorzug ein, und zwar aus Motiven heraus, die u.a. die Bundescharta, den Church Covenant und das Gemeindeleben betreffen und sich hauptsächlich auf Probleme der Glaubenspraxis und der Bindung an Christus beziehen. Besonders letztere stehen in unmittelbarem Bezug zum Gebrauch der Termini "example" und "examplariness" in der Christographia.

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macht dieses zum Subjekt, vor allem zum Thema des Abschnitts. Zugleich birgt und verbirgt der Satz die eindringliche Zurede und Aufforderung, die "By Way of Exhortation" für "Use" 3 vorgesehen ist. Entsprechend bestimmt das "Directory for the Publick Worship": "In exhorting to duties, he [the preacher] is, as he seeth cause, to teach also the means that help to the performance ofthem" (The Confessions, 1768,494). Anders als der Schlußsatz des Abschnitts setzt der Thesensatz diese Weisung um. In Kontrast zum ethisch verpflichtenden "we ought to be" steht am Anfang eine schlichte Aussage, die bündig, klar und stringent ist; eine Aussage, die sich auf "the best example" dergestalt konzentriert, daß der höchste Wert, der dem Exemplum zugesprochen wird, seiner ganzen Fülle nach aufleuchtet. Die eindringliche Zurede und Aufforderung "By Way of Exhortation" wird dem Hörer indirekt durch die Sprechweise und die Wahl der Ausdrücke bzw. Wendungen vermittelt. Die wertende Kennzeichnung "Here [in Christ] is our best Example" und die anschließende Bestimmung "for our Pattern, and Imitation" schließen zugleich Einladung, Aufforderung und ethische Verpflichtung ein. 26 Die einfach und übersichtlich gehaltene Aussageweise erlaubt es den Angesprochenen, den verbindlichen und weisenden Charakter der Botschaft ohne Schwierigkeit klar und genau zu erfassen und richtig einzuschätzen. Mit dem elliptisch gebrauchten "Here" - es steht "in answer to a call or summons" sowie "to attract attention" (OED, I, s.v. "Here", Nr. Ib) - bezieht sich der Thesenanfang auf frühere Darlegungen über die Person und das beispielhafte Leben Jesu, besonders im vorhergehenden Abschnitt. An ihm flillt der ausdrucksbetonte und appellierende Sprachstil auf. Durch ihn sucht der Pastor seine Gemeinde zu ermuntern und zu bewegen, für das Beispiel Jesu Gott zu danken mit allen Kräften des Herzens; Gott zu ehren und zu lobpreisen: 27 1. This is the Best expression of your Love to God, and Christ, for the greate advancing, and Honouring of our nature by this Personali Union. Nature saith, that Such as are honoured more than others, Should carrie it more honourably than others. Hence we ought by this argument to live more to the Honour of God, than the Angells themselves in that our nature is more honoured. But however we cannot honour God more nor express OUT advancing of his name better for his honouring us so highly, than by imitating Christs Living in our Nature. This will be a Cleaving to hirn in our practice. It will be a living as he lived: and better we cannot Live. To 26 Mit dem Zusammenhang zwischen Exemp1a und Ethik bzw. Moral befassen sich Runacres, 1983, 107-134, und allgemeiner von Moos, 1988,21,287, 356f., 443, 488ff., 544a, 546, 806, 882,969. Die Arbeiten gehen auf die puritanische Predigt jedoch nicht ein.

27 Die Christographia bietet, vor allem in der applicatio, zahlreiche Parallelen zu Taylors Dichtung. Mit ihr beschäftigt sich eine rur das Verhältnis zur Christographia aufschlußreiche Studie von Franz H. Link: "Edward Taylors Dichtung als Lobpreis Gottes" (Link, 1971,77-101).

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Honour hirn with our mouths in professing of hirn, is a duty we owe to his name. But this Honour without the Heart is but a vain shew: but where the Life runs according to the Example laid before us in his Life, we then express the inward honour of our hearts in the best way. Oh! then let us honour hirn thus. (C 32,71-87)

Gleich der einleitende, sentenzartige Urteilssatz zeigt die ausdrucksstarken Stilmomente, die die gesamte Passage charakterisieren. Sie geht unmittelbar dem zuvor angefilhrten Abschnitt voran, der Christi Beispiel und seine Vorzüge zum Angelpunkt der Predigtaussage macht und der deshalb auch weiterhin im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Versucht dieser Abschnitt, die verstandesmäßigen Kräfte des Hörers zu bewegen und ihm eine rational ausweisbare Erkenntnis über das Problemfeld des Exemplum Christi zu vermitteln, so spricht die vorangehende Passage - ohne die Ebene der Erkenntnis zu verlassen - vor allem die Affekte an. 28 Mit der an die Affekte gerichteten Passage möchte Taylor den Hörer zu einem Verhalten anregen, das man als "Wertfilhlen" (Max Scheler) bezeichnen kann, zur Gottesverehrung "by imitating Christ Living in our Nature" ermuntern 29 und auf das "Example laid before us in his Life" hinlenken. Die zwei den "uses" entlehnten Texte wurden zusammenhängend wiedergegeben, um die methodische Argumentationsweise sowie die zugrunde liegenden Prinzipien und logischen Prämissen offenzulegen, die dazu dienen, den Begriff "Example" (C 32,85) in die Predigtfolge einzufllhren. Mit den Worten "Here [in Christ] is the best Example [... ]" (C 32, 88) greift der Thesensatz zu Anfang des zentralen Abschnitts den Schlüsselbegriff auf, um ihn im Rahmen der christologischen Eingangspredigt zu entfalten und thematisch zu erörtern. Das an der Spitze des Abschnitts stehende "Here" knüpft außerdem an die vorhergehende Ausfilhrung an, die der Person Christi, besonders seiner menschlichen Natur, wie die Lehre hervorhebt (C 9, 42f.), und seinem Leben gewidmet ist. Dieses besitzt einen exemplarischen Rang filr den Daseinsvollzug aller Menschen; denn Christus - so zeigt die Christographia - nimmt unsere menschliche Natur an und macht sie zu seiner eigenen. Die Ausdrücke "Here" und "Example" sind u.a. deshalb wichtig, weil sie Beziehungen und Implikationen des zuvor über Christus Gesagten in die folgende Passage transferieren und in die Entfaltung und thematische Erörterung des Exemplums einbeziehen.

28 Auf den biblisch orientierten Ausdruck "heart" und die Wendung "Love to God, and Christ" kann die Arbeit nicht näher eingehen. Neben hebräisch-biblischen Elementen stehen solche der Aristotelischen Psychologie, die der Puritanismus rezipierte.

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Die Beziehung zwischen Natur und Nachahmung bei Taylor erörtert Weiss, 1984, 111-128.

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Taylors Vorgehen wirkt sich auf die folgenden Predigten aus, in denen Exempla in einem veränderten Textzusammenhang eingebunden sind, verändert deshalb, weil er von einer unterschiedlichen Lehre bestimmt und durch differierende Schriftstellen bzw. Argumente gestützt und belegt wird. Auch wenn ein Wortlaut der Exempla gleichförmig oder variiert wiederkehrt, so handelt es sich in der Christographia nie um eine bloß identische Iteration. 30 Durch eine große Frequenz des Schlüsselwortes "example" und anderer Ausdrücke und Wendungen dieser Wortgruppe wird nicht so sehr ihre Häufung erstrebt; vielmehr geht es um die Wertsteigerung des einzigartigen "Beispiels Christi", und zwar auf der Ebene des Faktums und der Sprache. Zusätzliche sprachliche Mittel dienen dazu, die Größe des Wertes herauszuheben und dem Hörer zu verdeutlichen, die "Christs Example" beigelegt werden. Zu ihnen gehören die zahlreichen Umschreibungen und Wendungen, die durch wertende Adjektive bzw. Adverbien im Superlativ und durch einen emphatischen Gebrauch von verschiedenen Ausdrücken die Hörerschaft zu überzeugen oder zu überreden suchen: "Christs Example" besitzt einen überragenden Wert und niemand kann diesen unbeachtet lassen oder sich ihm gegenüber gleichgültig verhalten, wenn er auf die Fragen nach der Erwählung oder den Sinn des Lebens, die sich ftlr den Puritaner bei jeder menschlichen Tätigkeit stellen, eine Antwort sucht. 31 Allein mit einem an die Lehre der ersten Predigt anknüpfenden Beweisgang und den dazu vorgelegten Argumenten möchte Taylor sich nicht begnügen, wenn es darum geht, seinen Hörern die Singularität des "Beispiels Christi" und dessen überlegenen Wert einsichtig zu machen. 32 Ein gegenüberstellender Vergleich mit anderen Exempla gehört zum Konzept eines umfassenden, in 30 Für die Wiederholung von Exempla vgl. Lyons, 1989, 26-28, 167, 223, 232, 237, 251 Anm. 52. Zu den Formen und Arten der Wiederholung vgl. Lausberg, 1960,434,618,835 u.ö. 31 Der Thesensatz birgt zahlreiche Implikationen, die zu entfalten dieser Artikel nicht erlaubt. Ein eigentümliches, das Exemplum der Christographia kennzeichnendes Merkmal - welches sich arn Thesensatz ablesen läßt - sei jedoch hervorgehoben: Es ist belanglos rur das Exemplum, von welcher Lehre es bestimmt wird oder in welchem Predigtteil es vorkommt. Dies ist sein spezifisches Merkmal. Das Gesagte darf keineswegs auf andere Merkmale oder Eigenschaften des Exemplums in der Christographia übertragen werden, die in der puritanischen Predigt gewöhnlich von einer Positionierung im Aufbau abhllngig sind. Vor allem von der Lehre geht in der Regel eine kräftige, auf alle Predigtteile sich erstreckende Wirkung aus, die die verschiedenen Bauelemente prägt. 32 Die Stimmigkeit des Analogieschlusses beruht eher auf einem rhetorischen als auf einem logisch fundierten Beweisverfahren. Diese Untersuchung kann nicht näher eingehen auf das Verhältnis zwischen Logik (bzw. Dialektik) und Rhetorik im Rarnismus, der, an der platonischen Philosophie orientiert, beide miteinander verbindet. Der Rarnismus war wesentlicher Bestandteil des Studiengangs in Harvard College, das Taylor 1671 den B.A., 1720 den M.A. verlieh. Die Christographia verwendet häufig, aber nicht ausschließlich, bestimmte Methoden und Denkmuster, die von rarnistischen Modellen der Logik und Rhetorik bestimmt sind.

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der dritten applicatio durchgeführten Beweisverfahrens, das man mit der sprichwörtlichen Redensart von der 'Probe aufs Exempel' beschreiben kann. "Other Examples" werden auf ihre Eignung hin überprüft und "Christs ExampIe" zum Vergleich gegenübergestellt. Die Eingangspredigt nimmt dazu aber keine Destruktion der "anderen Beispiele" vor, zeigt vielmehr ihre Bedeutung an und besteht darauf, sie zu beachten und zu befolgen. "Other Examples are to be attended", heißt es ausdrücklich; doch fUgt der Prediger hinzu: "as they are examplary". Damit deutet er seinen Hörern an, daß von Fall zu Fall eine Überprüfung unerläßlich ist, ob ein Gegenstand oder eine Person, an der unser Verhalten sich ausrichtet, mustergültig und vorbildhaft, als Exemplum geeignet ist. Steht diese Eignung außer Frage, so empfiehlt Taylor, auf den Rat der Schrift, auf Gottes Wort zu hören und es zu beherzigen: "Follow them [these examples] saith God, who thro' Faith, and Patience inherit the Promises. Heb. 6, 12." Zweifellos hatten die puritanischen Zuhörer den Wortlaut des Hebräerverses im Ohr. Dieser sei, da er wichtig ist, vollständig nach dem Text der Bibel angeführt: "That ye be not slothful, but followers of them, who through faith and patience inherit the promises. " Beispielgebend sind diejenigen, die wie Abraham Gott im Glauben nachfolgen. Das Wort "followers" modifiziert Taylor fUr die Predigt und wendet sich mit einem imperativischen "follow them" an seine Gottesdienstbesucher. Er wünscht, daß auch sie zu Erben der göttlichen Verheißung werden und somit teilhaben an den Früchten des Gnadenbundes, zu der das neue Israel in Amerika berufen ist. Der puritanische Kommentar von Matthew Poole erschließt den Zusammenhang zwischen den vorbildlichen Gestalten des Glaubens, der Verpflichtung, ihnen auf diesen Glaubensweg zu folgen sowie den Bezug auf den Gnadenbund und den einzigen Antitypos Christus, der Gottes Verheißung fUr sein Bundesvolk realisiert: Butfollowers ofthem; Illlll'\ta\ , strictly, imitators, in diligence and pains-taking, ofthe believers who have performed this duty before you. Who through faith and patience inherit the promises: in their graces imitate them, as in faith, by which they rested on, as credited, God's promises revealed to them of things invisible, excellent, and distant, and which by no creature power but only God's could be attained, chap. xi. 1,9,10,16; xiii.7. In patience, because the things promised are future, and at a great distance for them, waiting from them, suffering many evils from many, passing through fire and water. Isa. xliii. 2, and stayin.g God's leisure to obtain them, chap. x. 36; xii. 1; Rom. xv. 4,5; James i. 3. Those they were to imitate, were heirs of blessed promises, ver. 14, of spiritual blessings in Christ, the blessed Seed, in whom themselves and all nations were to be blessed, Gen. xxii. 18. It may be queried, How did Abraham inherit the promises, when he did not receive them, as is testified, chap. xi. 13? This is certain as to the promises of spiritual saving, and universal concemment to them, as of justification, sanctification, adoption, and salvation by Jesus Christ; these they received, as is evident, chap. xi. 10, 14, 16; Rom. iv. 8-26: such promises as were ofspecial consideration and reserved to a set time, as the possession of Canaan, and Christ's incamation, John viii. 56. These they did

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not receive, though they saw them sure to their seed by faith, but for salvation, and glory, and heaven, carried in the covenant of grace, they did personally enjoy; of the others they were heirs as given by God to them. (Pooie, 1962-1963, 833f.)

Pooles Kommentar zu Hebr 6, 12 ist eine wertvolle Ergänzung zu Taylors Darlegung über das Exemplum. Beide puritanischen Autoren gebrauchen den exemplarischen Wortschatz, der den der Nachahmung bzw. Nachfolge einschließt. Einem umfassenderen Verständnis des Exemplum der Christographia dienen neben dem größeren biblischen Textzusammenhang die figurale Beziehung zwischen dem Patriarchen Abraham, dem Typos des Glaubens, und dem Antitypos Christus33 und schließlich auch der Zusammenhang zwischen Abraham, dem Vorbild aller Glaubenden, und Christus, der ErfUllung des alttestamentlichen Vorbildes: Christus hat die Erwartung und Hoffnung der Glaubenden verwirklicht, er ist fortan das überragende Beispiel filr die Nachfolge im Glauben. Die neue Heilszeit setzt ein mit "his [Christ's] incarnation" (C 47,53) und ist gekennzeichnet von "the Works of Redemption accomplisht by Christ", wie die Eingangspredigt zeigt (C 29, 43f.). "Everyone that hath a propriety in the Works of Redemption wrought, cannot but highly Esteem him" (C 29, 53ff.). Die Wertschätzung seiner Person wiederum beinhaltet "our Duty to follow him" (C 34, 39) bzw. "to follow Christs example" (C 34, 53f.). Während "the Works of Redemption accomplished by Christ" und "the Redeerner" (C 28, 29) keinen Beispielcharakter haben und eine Nachahmung ausschließen - wie die Eingangspredigt durch Hinweis auf die Lehre anzeigt - , sind Person und Werk des Erlösers dennoch nicht so weit von "Christi Beispiel" entfernt, daß Taylor zwischen ihnen nicht auch das Gemeinsame wahrnimmt. Er hält dies filr sehr wichtig und möchte es auch seiner Gemeinde verdeutlichen. Das Gemeinsame besteht u.a. in "the Excellency of the Person of Christ" (C 126, 3f.). Dieselbe Person, die als "Christs Example" und "the best Example for our Pattern, and Imitation" beschrieben wird, erfUllt andererseits als Antitypos, als Erlöser etc. Funktionen und Tätigkeiten, die ihr vorbehalten, ihr allein von Gott zugewiesen sind. Eine Gegenüberstellung von "Christs Example" und "the examples of the saints" kommt zu der Feststellung: "He is all

33 Christus wird in diesem Kontext als "the blessed Seed in whorn [00'] a11 nations were to be blessed" bezeichnet; er birgt "the Hidden Treasures of Wisdom and Knowledge" (C 112, 14f.) und, so heißt es in der vierten Predigt, "The Wisdom of a11 the main Body of Types and Ceremonies, and Typicall Worship is Treasured up in hirn" (C 123, 4f.).

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Example, and examplary. Save onely in such things in which he is above Examplariness" (C 33, 99f.).34 Wenn Taylor in Abgrenzung gegen die Mittlertätigkeit Christi betont, "But all his Actions under other Considerations are imitable, and Examplary" (C 33, 99f.), so lenkt er seine Hörer darauf hin, daß nach Joh 13, 15 Christus selbst von sich sagt, "I have Set you an Example".35 Um den bindenden Charakter des Wortes Christi, um die Forderung, mit der er sich an seine Hörer wendet, nachdrücklich zu unterstreichen, fügt Taylor ein an zahlreichen Stellen der Christographia wiederkehrendes Schriftwort an: "and we are to follow in his Steps." 1 Petr 2, 21 lautet in der Bibel vollständig: "for even hereunto were ye called: because Christ also suffered for us, leaving us an example, that ye should follow his steps." Die rur den Predigtvortrag transformierte, imperativisch ausgedrückte Kurzform reicht aus, beim puritanischen Hörer den umfassenden Wortlaut zu evozieren und ihm die Bedeutung des Textes mit den relevanten Stichwörtern "to call", "example" und "follow his steps" ins Bewußtsein zu rufen. So ist er durchaus in der Lage, das Gewicht des Petruswortes für die Glaubenspraxis richtig einzuschätzen. Die Beispiele der Heiligen werden nur unzureichend dem Kriterium gerecht, das der puritanische Pastor an ein Exemplum stellt: "There is something in the examples ofthe Saints, not examplary, as to practice. There is some fault to be found in their best Coppies" (C 33, 96ff.). Taylor nennt keine Heiligen beim Namen. 36 Ihm geht es darum aufzuzeigen, daß auch die anerkannt Großen, die dem Ruf Jesu und seinem Beispiel folgten, mit Unzulänglichkeiten, Mängeln und Fehlern behaftet sind. "Our Imitation of the Saints hath its limitations anexed" (C 33, 93f.), resOmiert der Prediger, um sodann ein wesentliches Ele34 U.a. gehören zu ihnen Christi Mittleramt und "His Mediatory Actions". "God the Father", sagt die Lehre, "prepared a Body, or an Human Nature for Christ" (C 9, 42f.), damit er seine Tätigkeit als Mittler ausüben kann. "Tbe Work ofthe Incamation" (C 16, 5) ist das gemeinsame Fundament rur alle dem Mittler und dem Beispiel Christi zugesprochenen Wirk- und Vollzugsweisen. Zwischen ihnen besteht, je nachdem ob sie mediatorischen oder exemplarischen Charakter besitzen, Nähe und Distanz zugleich. 35 Taylor gibt Joh 13, 15 frei wieder. Wörtlich lautet die Stelle in der Bibel: "For I have given you an example [... ]." 36 Auf die Beziehung zwischen Exemplum und Heiligkeit geht Hawley, 1987, ein. Lesenswert sind außer Hawleys "Introduction" mit Abschnitten über "Example", "Fellowship" und "Aid" die Artikel von Peter Brown "Tbe Saint as Exemplar in Late Antiquity" und Hester Goodenough Gelber "A Tbeater ofVirtue: Tbe Exemplary World ofSt. Francis of Assisi" (ebd. xi-xxiv und 1-35). Mit den Fragen, in welchem Maße, aus welchen Gründen und zu welchem Zweck Frauen als Exempla oder "counter-exempla" in mittelalterlichen Predigten dargestellt werden bzw. nicht dargestellt werden oder werden sollen, beschäftigen sich Berlioz, 1990, 37-50, und Beaulieu, 1990, 50-65.

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ment, das die Heiligen nach puritanischem Verständnis kennzeichnet, zu nennen: "We must imitate them in their Grace. Whose Faith saith he [the author], follow. Heb. 13.7" (C 33,94f.). Die Akzente liegen auf "Grace" und "Faith", und diese sind Gottes Geschenk. "Gnade" und "Glaube" im Leben der Heiligen machen offenkundig, daß sie dem Ruf Gottes in Jesus Christus und seinem Beispiel gefolgt sind. "The example ofthe saints" wird - wenn auch mit Einschränkung - aus zwei Gründen zur Nachahmung empfohlen: 1. weil man von ihnen lernen kann, wie Gottes Gnade uns zur Glaubensnachfolge und zur Christusgemeinschaft fUhren kann; 2. weil die Art und Vollzugsweise, in der die Heiligen "Christs Example" nachahmen, selbst noch einmal exemplarischen, mustergültigen Charakter fUr das Leben vieler Menschen haben kann. Auf das beispielhafte Modell der Heiligen beziehen sich die Worte "as they follow Christ" mit dem Schriftnachweis von 1 Kor 11,1. An dieser Stelle ermahnt der Apostel - "who is himself an example to the flock of Christ", wie Poole erläutert (Pooie, 1962-1963,576) - die Gemeinde von Korinth: "Be ye followers of me, even as I also am of Christ." Erwähnenswert ist Pooles Exegese von I Kor 11, 1 u.a. auch deshalb, weil sie - verglichen mit Taylors AusfUhrungen - andere Aspekte des paulinischen Exempelgebrauchs hervorhebt. Poole schreibt zu den Worten des Apostels: They teach us that the examples of the apostles are part of our role; yet the modesty of the apostle is remarkable, who requires of his people no further to follow hirn than as he followed Christ: nor indeed ought any man to require more of those that are under his charge than to follow hirn so far forth as he imitates the Lord Jesus Christ. (pooIe, 1962-1963, 576)

Pooles Darlegung über das Exemplum richtet sich an ein anderes Publikum als Taylors Predigten. Die zitierte Stelle des Kommentars hat vor allem "the faithful minister of Christ" (Baxter, 1961, 6) im Auge, um mit Baxters The Reformed Pastor zu sprechen. Taylors Ausfiihrungen über das Exemplum wenden sich an seine Gemeinde, die der Prediger zur Annahme des "Covenant of Grace" zu bewegen sucht und die er auf den Empfang des Abendmahls vorbereiten möchte. Pooles Kommentar hingegen ist generell dem christlichen, vor allem dem puritanischen Bibelleser zugedacht. Einige Passagen hat Poole jedoch in seiner Auslegung - wie die über 1 Kor 10, 33 und 11, 1 - speziell dem Pastor gewidmet. Sie befassen sich u.a. mit seinem Verhalten und seiner Tätigkeit. Er soll, wird ihm der Leitungsdienst einer Gemeinde anvertraut, in allem ihr Beispiel sein. Ein Bild des puritanischen Pastors und seines beispielhaften Verhaltens zeichnet Poole in seiner Interpretation von 1 Kor 10, 3, indem er dessen Tätigkeit mit der des Apostels vergleicht: "Thus Paul, like a good shepherd, goeth out before the sheep, and leadeth them, as every true minister should be, is

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himself an example to the flock of Christ" (Pooie, 1962-1963, 576). Eine passende Ergänzung und Abrundung zu dieser Ausfilhrung bietet ein Katalog negativer, warnender Exempla in The Reformed Pastor, dem Richard Baxter das Exemplum Christi kontrastierend an die Seite stellt. In einem exemplarischen Lasterkatalog hält Baxter, der seines integren Verhaltens wegen auch von seinen Gegnern geachtet und bewundert wurde, seinen puritanischen Mitbrüdern den Spiegel vor: Too many that have set their hand to this sacred work [Le. the Pastoral work] do so obstinately proceed in self-seeking, negligence, pride, division and other sins, that it is become our necessary duty to admonish them. (Baxter 1961, 54. Die eingefilgten Worte "the Pastoral work" sind dem Titel von Baxters The Reformed Pastor [1656] entnommen)

Der treffende Ausdruck "obstinately proceed" deutet an: Die rur eine exemplarische Liste getroffene Auswahl - sie nimmt sich, gemessen an paulinischen Lasterkatalogen, eher bescheiden aus - vermag zwar das Problem des Fehlverhaltens gegenüber Gott und der Gemeinde im pastoralen Dienst nicht zu lösen; aber der Katalog kann ein warnendes Zeichen setzen und vermag damit indirekt zu einer Lösung beizutragen. Der Autor warnt vor den Folgen: "To bear with the vices of the ministers is to promote the ruin of the church" (ebd.). Baxter besteht darauf: "The leaders ofthe flocks must be exemplary to the rest" (ebd., 53). In einer Erläuterung gibt er zugleich seiner Freude Ausdruck: To the praise of grace be it spoken, we have some [ministers] among us here [... ] that are eminent in humility and lowliness and condescension, and exemplary herein to their flocks and to their brethren. (ebd., 99)

Richard Baxter wünscht, daß sich das Verhalten jedes Christen am Beispiel Jesu ausrichtet und daß der Pastor den guten Hirten - "Jesus, that great shepherd ofthe sheep" (Heb 13,20) - zu seinem Beispiel macht. 37

37 Das Gleichnis vom guten Hirten wird bei Joh 10,2-18; 25-29 erzählt. Vgl. das Bild des guten Hirten in Ps 23. Gottes Sorge filr das Volk Israel, seine Herde, zeichnet Ez 34, 7-31; 37, 24. Vgl. auch Ps 80, 1-5. Für das Gleichnis vom verlorenen Schaf s. Mat 18, ll-14 und Lk 15,4-7. Die exemplarische Bedeutung dieser Schrifttexte filr das Verständnis des Reformed Pastor bei Baxter sei nachdrücklich betont.

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VI. "The Excellency ofChrist": Wertmaßstab und abschließende Überhöhung des Exemplum Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die zahlreichen Predigtaussagen zu analysieren oder anzuführen, die über "the Excellency of Christ" (C 447, 76) sprechen. Eine weitere Studie ist dafür erforderlich. Andererseits kann eine Untersuchung der Exempla in Taylors christologischer Predigtfolge nicht gänzlich darauf verzichten, einige dieser Aussagen zu nennen, um ihre Bedeutung für den Zusammenhang des abgehandelten Themas sichtbar zu machen. Die vierzehnte Predigt geht auf "the Excellency of Christ", der die zur Formel verdichtete Wendung entlehnt ist, häufiger und ausführlicher ein als alle übrigen Predigten der Christographia. Die aus Joh 15, 2438 entfaltete Lehre lautet in der letzten Predigt: "That Christs works were so excellent, that never any did the like thereto" (C 442, 16f.). In einem einleitenden, der Lehre vorangestellten Teil wendet sich der Pastor an seine Hörer: I have endeavourd by the Grace of God to affect your hearts with the excellency of Christ Jesus my Lord: and for that end I have attempted to set out before your eyes the Excellency, of his Natures: of the Union of his Natures in his Person: of his Properties, or Qualifications of the Humane Nature, both Absolute, and Relative. And now I come to look into the ExcellenCy of his Operations, which must needs be most Excellent. For he whose Qualifications are absolutely Excellent must needs act most excellently. For the Excellency of the Qualification ascends up into the Actions that the person doth Carry on, and the Actions of Such an one derive their formalI nature (as Worthy acts) from the Excellency of the Qualifications of their Agent. And hence the pitch of the Excellency of Christs Actions ascends above the most excellent Actions that ever was wrought by Created Nature because his Humane Nature was enriched with most excellent Qualifications. But here then in Considering the ExcellenCy of his Actions, I onely oblige myselfe to give a Cast over such of his actions, as were transacted in and by the Humain Nature [...]". (C 439, 8-27)

In den vorhergehenden Predigten - dies sei resümierend festgehalten - verdeutlichte Taylor seinen Hörern: "Christ is a perfect Example for all to live up unto [ ... ]. It is impossible to have an higher Patern" (C 100, 72 und 9lf.). Nicht einzelnen oder Erwählten möchte er "Christs Example" verkündigen: "Christ saith unto all, as unto his disciples Matt. 4. 19. 21; follow me and as Joh 13 .15 [confmns]: I have given you an example, that ye should do as I have done" (C 99,64-100,67). Da seine Person und sein Beispiel, sein Wort und Werk einzigartig, überragend im strengen Sinne sind, werden diese in Taylors Predigt38 Der auf Christus bezogene Text heißt nach der Bibel: "If I had not done among them the works which non other man did, they had not had sin."

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folge durch die Ausdrücke "excellency", "excellence" und "excellent" treffend gekennzeichnet. In der Umschreibung "the Excellency of Christ Jesus my Lord" steht das Substantiv "Excellency" als zusammenfassender Ausdruck oder Begriff, der sämtliche in der Predigtfolge Christus zugesprochenen Eigenschaften, Vorzüge und Auszeichnungen in einem einheitlichen Ganzen umschließt. Der aus dem einleitenden Teil von "Sermon" XIV angeführte Ausschnitt stellt der Hörerschaft von Westfield in einer abschließenden Predigt das Exemplum Christi aus einer besonderen Perspektive vor. Taylor kennzeichnet die Perspektive mit den Worten: "The excellency of Christ" bzw. "the Excellency of his Operations" und "the pitch of Excellency of Christs Actions." Das Bild vom Wirken Christi und von seiner Person, die Gott selbst erwählt und allen Menschen als Beispiel, d.h. zur Nachahmung gegeben hat, erhält eine letzte Überhöhung in der vierzehnten Predigt. Sie spricht von "the inesteemable preciousness of the Works of Christ" (C 467, 90f.) und kennzeichnet seine Werke als "transcendentantly Excellent" (C 458, 67). "Sermon" XIV vergleicht die Tätigkeit und die Werke Christi mit der Tätigkeit und den Werken von Künstlern. Sie schufen das Größte, das Menschen hervorbrachten. Mit "Apelles the painter" (C 467,94), den die Predigt anfiihrt, erreicht die Antike einen Gipfelpunkt ihres Kunstschaffens. Auch die Malerei anderer Epochen verdient zurecht Bewunderung; dennoch: "all our pensills in all their draughts attain not to anything of the Excellencies of Christ's operations" (C 468, 98ff.; 1). Die Gegenüberstellung mit unserer Tätigkeit und unseren Handlungen soll den Hörern die Vorzüglichkeit und Überlegenheit demonstrieren, die "the Works ofChrist" (C 467, 90f.) oder "Christ's operations" auszeichnet: "Ours are Worth nothing without he puts ofthe Worthiness ofhis on them. His are most precious: ours are priceless. His are all Worthy: ours of no worth" (C 468, Iff.). Sämtlichen Werturteilen in "Sermon" XIV liegt die puritanische Auffassung von einer durch die providentia Dei bestimmten, im Plan Gottes vorgegebenen Rangordnung der Werte zugrunde. Für die Werturteile über das Exemplum Christi, die die Predigtfolge aus der Perspektive von "excellency" oder "excellence" darstellt, gebraucht Taylor neben der Methode des kontrastiven Vergleichs oftmals auch die Mittel sprachlich-stilistischen Ausdrucks. Eine abschließende Ausführung, welche in "Sermon" XIV zur Erklärung der Lehre dient, mag dies belegen. Zugleich ist Taylors Darlegung gut geeignet, die Christus bezogene, elliptische Aussage der Eingangspredigt - "No example like this" - aus der Perspektive von "the Excellency of Christ" und "the Excellency ofChrist [sic] Works" (C 465,5) rückblickend zu verdeutlichen:

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Christs [works] excell a11 others [... ]. They derive their Excellency from the Excellency oftheir Author. Their Author is more Excellent than any other agent whether Men, or Angells. And proportionable to the Excellency of the Author, is the excellency of the Effect, for as the tree is known by its fruits, Matt. 7. 17. 18, So the fruits are as weil known by the tree. A good tree brings forth good fruit. Hence the portion of Excellence in any worke is proportionated to the Degree of Excellency in its authour. But now the Excellency of Christ is Superexcellent, and Supreame in Severall Respects [... ]. (C 463, 37-48)

VII. Resümee und Ausblick: Vorrang und Bauform eines beispiellosen Exemplum Um die "Beispielfigur" gegen Ende seiner Predigtfolge in ihrer überragenden Bedeutung zu verdeutlichen, sucht Taylor die sprachlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Sein Befund, den er auch seinen Hörern kenntlich macht, lautet: Auch die Ausdrucksformen unermeßlicher Größe und höchster Steigerungsstufe vermögen lediglich in einer unzulänglichen und nicht angemessenen Weise das Exemplum der Christographia zu charakterisieren. Aber nicht allein die sprachlichen Mittel sind ungeeignet, das Exemplum treffend zu kennzeichnen, wie der Gebrauch von "Superexcellent" und "Supreame" andeutet. Auch das Vergleichsverfahren in "Sermon" XIV kann der Seins- und Wirkweise, der Bedeutung und Funktion des Exemplum nicht gerecht werden. Taylors logische und rhetorische Methode und sein argumentierendes Vorgehen zeigen zwar die geforderte Stringenz und Klarheit; aber sie erreichen dennoch nicht das erstrebte Ziel, weil "the excellency of Christ" keinen Vergleich mit der Ordnung des Geschaffenen zuläßt. Auch "Men or Angells", die aus Taylors Sicht an der Spitze dieser Ordnung stehen, sind nicht davon ausgenommen. Eine identische und in allen Predigten der Christographia sich durchhaltende Struktur des Exemplum ist bemerkenswert. Unterschiede des Ausdrucks und der Darstellungsart, die bestimmte Eigenschaften oder Merkmale aus der Perspektive einer Text- oder Lehrbeziehung der einzelnen Predigt beleuchten, sollten den Blick rur die identische Einheit des Exemplum nicht verstellen. An ihm lassen sich vier Bauelemente unterscheiden: Die Persönlichkeit Christi, die Taylors Darlegung zufolge einmalig und unvergleichlich ist und vom Schöpfer eigens dazu erwählt wurde, eine exemplarische Aufgabe rur den einzelnen und die menschliche Gesellschaft in der Welt zu übernehmen. Sodann sein Ruf, den das Predigtwort vermittelt und der sich an den Hörer mit einer Forderung oder Bitte wendet, dem Rufenden zu folgen. Drittens gehört dazu der Hörer, an den das Predigtwort und der Ruf Jesu sich richten. Der Hörer ist der Rezipient, der sich entscheiden und auf den Ruf antworten soll. Die Nachfolge oder Nachahmung ist die vierte Komponente, welche die Einheit des Ex-

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emplurn in der Christographia konstituiert. Mit dem Vorgang des Nachahmens kommt der Aufbau zur Vollendung. Das Exemplurn in der Christographia bildet primär eine reale und sekundär eine funktionale Einheit. Diese ist durch jene bedingt und kann sich erst auf dem Fundament der realen Einheit entfalten. Aufzeichnungen über die Wirkungsgeschichte der Christographia und ihrer Exempla liegen uns nicht vor. Solange Taylor sein Amt ausübte, wurde in Westfieid der Half-Way Covenant nicht eingeftlhrt. Zwischen 1726 und 1729 war Taylor krank und konnte seine öffentlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Er hatte noch 1726 bei der Ordination seines Nachfolgers Nehemiah Bull assistiert. Auf dessen Vorschlag stimmte die Gemeinde 1728 filr eine Annahme des Half-Way Covenant. Zu dieser Zeit hatten die meisten Gemeinden Neuenglands bereits einen entsprechenden Weg beschritten. Mittlerweile lagen die Predigten der Christographia und der Versuch, die Gottesdienstbesucher durch Jesu einmaliges Exemplurn anzusprechen, über 25 Jahre zurück.

Literatur

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THOMAS STAUDER

Exemplarität in Marivauxs Telimaque travesti I. Fenelon, sein Telemaque und dessen pädagogisches Programm Obgleich Fenelon nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, müssen wir uns doch vorab insoweit mit ihm beschäftigen, als dies Voraussetzung rur das Verständnis von Marivauxs Fenelon verarbeitenden TeIemaque travesti ist. Fenelons Roman (oder vielleicht treffender: Prosaepos) entstand in seinen Hauptteilen zwischen 1694 und 1696, wurde aber bis 1699 noch überarbeitet und ergänzt; in jenem Jahr erschien er dann unter dem Titel Suite du quatrieme livre de l'Odyssee d'Homere ou les Aventures de TeIemaque, fils d'Ulysse (Kapp, 1984, 458f.; Gore, 1968,28; Dedeyan, o.J., 36f.). Es ist seit langem bekannt und nahezu ein Klischee der Fenelon-Forschung, daß die pädagogische Absicht der Aventures de TeIemaque in enger Beziehung stand zum Beruf ihres Autors: Fenelon wurde im August 1689 zum Privatlehrer des Herzogs von Burgund, des Enkels von Louis XIV, bestellt und übte diese Tätigkeit bis 1699 aus (Kapp, 1984, 457f.; Dedeyan, 0.J., 29-35). Diese Wahl des Königs fand breite Zustimmung in der damaligen Öffentlichkeit; so verbreitete etwa der Mercure galant noch im selben Monat, FeneIon sei aufgrund seiner Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und missionarischen Erfahrung genau der richtige Mann rur diese Aufgabe. Auch Fenelons Freundeskreis setzte hohe Erwartungen in dieses Amt, das kein geringeres Ziel hatte als die charakterliche Formung eines zukünftigen gerechten und wahrhaft christlichen Herrschers (Dedeyan, 0.J., 29). In der Tat wird von verblüffenden Erfolgen Fenelons im Umgang mit dem zuvor ausgesprochen schwierigen (1682 geborenen) Duc de Bourgogne berichtet; er brachte es zustande, dessen Jähzorn und Eigensinn zu mildem, wenn nicht gar zu beseitigen, und ihn schließlich zu einem Kind mit angenehmen Umgangsformen zu erziehen (Dedeyan, 0.J., 30). In unserem Zusammenhang freilich noch interessanter ist die Tatsache, daß Fenelon bereits vor seinem TeIemaque verschiedene Schriften mit eindeutig pädagogischer Intention verfaßte. Dies waren zunächst die Fahles, anders als jene La Fontaines ausgespro-

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chen kindgerecht konzipiert, und danach (1692) die Dialogues des Morts in der Lukian-Nachfolge, ebenfalls didaktisiert (Dedeyan, 0.1., 31-35). Bereits in den Fahles fmden wir, ähnlich wie später im Tetemaque, exemplarische Geschichten aus der antiken Mythologie. So etwa in jener Fabel, welche Bacchus als widerspenstigen Schüler Silens präsentiert: Comme Bacchus ne pouvait souffrir un rieur maHn toujours pret a se moquer de ses expressions, si elles n'etaient pas pures et elegantes, iI lui dit d'un ton tier et impatient: Comment oses-tu te moquer du fils de Jupiter? Le faune repondit sans s'emouvoir: He! comment le fils de Jupiter ose+i1 faire quelque faute? (Dedeyan, 0.1., 32)

Unübersehbar der Bezug auf das Lehrer/Schüler-Verhältnis zwischen Fenelon und dem Duc de Bourgogne; letzterer sollte sich unverkennbar an obiger Geschichte ein Beispiel nehmen. Da hier nun erstmals der Exemplum-Begriff gebraucht wurde, ist es an der Zeit, diesen fiir die Zwecke dieses Beitrags zu defmieren. Wir berufen uns dabei auf Peter von Moos, welcher das Exemplum bestimmt hat als "eine rhetorische Form oder Funktion, mit der vergangenes Geschehen in persuasiver Absicht auf einen gegenwärtigen Problemfall bezogen wird" (nach Haug, 1991, 264f.). Oder, wie es ein anderer Spezialist auf diesem Gebiet jüngst umschrieben hat: "Das Beispiel übersetzt abstrakte Theorie in die Realität von Geschichte und behandelt sie als 'Anwendungsfall eines Lehrsatzes'" (Daxelmüller, 1991,84). Ein Zentralproblem bei der Gattungsforschung ist ja bekanntlich immer, heutige systematisierende Defmitionen mit der diachronischen Entwicklung eines Begriffes in Einklang zu bringen. Gerade im Umgang mit Fenelon und Marivaux gilt es daher, deren zeitgenössisches Verständnis von 'Exemplum' nicht außer Acht zu lassen. Im Dictionnaire de l'Academie aus dem Jahre 1694 fmdet sich folgender Beleg (Defmition und Anwendungsbeispiele ): EXEMPLE [... ] Ce qui est digne d'estre propose pour I'imiter ou pour le fuir [... ]. 11 se dit aussi, d'Une chose qui est pareille a celle dont iI s'agit & qui sert pour I'authoriser, la contirmer [ ... ]. Vous dites que ce/a s'estjait autrejois,je soustiens qu'i/ est nouveau, i/ nyen a point, iI nyen eut jamais d'exemp/es. ce/a est sans exemp/es. donnez m'en un exemp/e. je vous en trouveray cent exemples dans I'histoire. vous dites que cette jal;on de par/er est bonne, apportez-m'en donc des exemp/es tirez des bons autheurs. je suis jonde en exemp/es. (nach Lyons, 1989, 15)

Wie man sieht, stimmt diese Defmition durchaus mit der heute üblichen überein; mehr zeitgebunden ist die darin zum Ausdruck kommende wertende Komponente, welche typisch ist filr den autoritätsgläubigen französischen Klassizismus gegen Ende des 17 . Jahrhunderts.

Exemplarität in Marivauxs Te/emaque travesti

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Fenelon selbst hat in dem Artikel"De l'Exemple" innerhalb seines um 1697 entstandenen Traktats Examen de Conscience sur les Devoirs de la Royaute vom Beispiel im Zusammenhang mit dem Verhalten des Fürsten folgendermaßen gesprochen: Les sujets sont des serviles imitateurs de leur Prince, surtout dans les choses qui f1attent leurs pass ions. Leur avez-vous donne le mauvais exemple d'un amour deshonnete et criminel? [... ] N'avez-vous point donne de ces mortels exemples? Peut-!tre croyez-vous que vos desordres ont ete secrets. Non, le mal n'est jamais secret dans les princes. [...] D'ou cela vient-i1? De I'exemple d'un seul. L'exemple seul peut redresser les ma:urs de toute la nation. [ ... ] Encore une fois, teile est la force de I'exemple du Prince: Iui seul peut, par sa moderation, ramener au bon sens ses propres peuples et les peuples voisins. (Fenelon, 1981,37-42)

Hier ist das Beispiel, welches eine Vorbildwirkung ausübt, ausnahmsweise keines aus Geschichte oder Literatur, sondern ein noch lebender Zeitgenosse, wenngleich ein außergewöhnlicher in Gestalt des Fürsten; dennoch ergibt sich auch hier kein grundlegender Widerspruch zur modemen Auffassung von 'Exemplum'. Nach diesem defmitorischen Exkurs, angeregt von der exemplarischen Funktion der Fabeln Fenelons, kehren wir zu jenem Ausgangspunkt zurück und betrachten nun noch ein weiteres vor dem Telemaque verfaßtes Werk mit didaktischer Absicht. Wie schon erwähnt, schuf Fenelon nämlich im Jahre 1692 filr den ihm anvertrauten Zögling auch noch Totengespräche in Lukianscher Manier. Hier ist die Annäherung an Fenelons späteres Hauptwerk noch stärker ausgeprägt als in den Fahles, da fast ausschließlich Gestalten der Antike im Mittelpunkt stehen (u.a. gibt es bereits einen Dialogue d'Achille et Homere). Anders als bei dem Sophisten aus Samosata geht es hier nicht um Mythenburleske oder satirische Porträtierung menschlicher Schwächen; Fenelons Dialogues des Morts präsentieren die Persönlichkeiten der Geschichte vielmehr ganz im Sinne von nachahmenswerten oder abschreckenden Exempla. Die vom Leser (und primärer Adressat war ja der Duc de Bourgogne) zu ziehenden Lehren sind dabei häufig in Form einer allgemeinen Regel formuliert, wie z.B. im Dialogue de Cesar et Caton: fIle pouvoir absolu, loin d'assurer le repos et l'autorite des princes, les rend malheureux et entrarne leur ruine" (Nach Dedeyan, 0.1., 34). Nun können wir uns den Aventures de Telemaque zuwenden, denen ja als Vorlage Marivauxs unsere besondere Aufmerksamkeit gelten muß. Von der modemen Kritik wurde die exemplarische Funktion des Fenelonschen Te/emaque bereits erkannt; so schreibt etwa Volker Kapp in seiner diesbezüglichen Monographie:

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II [Fenelon; T.S.] a relie, par une action cohtrente, les "exempla" servant ala formation morale du prince et opere une synthese entre les deux pOles de l'education princiere, la formation du caractere et l'introduction aux idees politiques du lignage. II presente les grands exemples, qui sont les modeles de la morale politique, et crte un combat, qui rend visible la lutte des passions dans l'äme d'un roi. (Kapp, 1982, 176)

Mit moderner Terminologie könnte man Fenelons Te/emaque folglich durchaus eine "Exempelsammlung im narrativen Rahmen" nennen (Bezeichnung in anderem Zusammenhang bei Haug, 1991, 264). Zwei Textauszüge aus dem Te/emaque sollen dies verdeutlichen. Bei der ersten Stelle handelt es sich um ein Gespräch im Hafen von Tyrus zwischen Telemach und dem Phönizier Narbal; man achte besonders darauf, wie die erfolgreiche Handelsschiffahrt der Tyrer zu einem Vorbild für Telemachs heimische Ithaker erhoben wird: "D'ou vient - disais-je aNarbal- que les Phtniciens se sont rendus les maitres du commerce de toute la terre et qu'ils s'enrichissent ainsi aux depens de tous les autres peuples?" "Vous le voyez - me rtpondit-il - la situation de Tyr est heureuse pour la navigation. [... ] Les Tyriens sont industrieux, patients, laborieux, propres, sobres et menagers; ils ont une exacte police; ils sont parfaitement d'accord entre eux; jamais peuple n'a ett plus constant, plus sincere, plus fidele, plus sßr, plus comrnode a tous les etrangers. Voila, sans aller chercher d'autres causes, ce qui leur donne l'empire de la mer et qui fait fleurir dans leurs ports un si utile commerce. [... ]" "Mais expliquez-moi - lui disais-je - les vrais moyens d'etablir un jour a Ithaque un pareil commerce." "Faites - me rtpondit-il - comme on fait ici: recevez bien et facilement tous les etrangers; faites-leur trouver dans vos ports la sfirett, la comrnoditt, la libertt entiere; ne vous laissez jamais entrainer ni par l'avarice, ni par l'orgueil." (Fenelon, 1968, 110f.)

An dieser Passage ist gut erkennbar, wie ein an sich belangloser äußerer Anlaß im Rahmen der Fabel des Romans - der Aufenthalt im Hafen von Tyrus zum Ausgangspunkt genommen wird filr umfangreiche moralisierende Erörterungen. Dieses Verfahren ist typisch für Fenelon; die fIktive Welt der Antike seines Romans ist nichts anderes als eine nur allzu offensichtliche Aneinanderreihung von Exempla. Eine weitere Passage aus dem Te/emaque soll dies noch einmal belegen: Telemach wurde zusammen mit Mentor nach Salent verschlagen, dessen Herrscher Idomeneus gerade Krieg mit den Manduriern führt, der jugendlichbegeisterungsfilhige Telemach will sofort zu den Waffen greifen, woraufhin der alterserfahrene Mentor ihm zur Mäßigung rät. Als Exempla fUhrt er Achill und Odysseus an; ersterer sei wegen seines Ungestüms zu Tode gekommen; letzterer habe dank seiner listenreichen Zurückhaltung in entscheidendem Maße zur Eroberung Trojas beigetragen:

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Mentor, regardant d'un oeil doux et tranquille Telemaque, qui etait deja plein d'une noble ardeur pour les combats, prit ainsi la parole: - Je suis bien aise, fils d'Ulysse, de voir en vous une si belle passion pour la gloire; mais souvenez-vous que votre pere n'en a acquis une si grande parmi les Grecs, au siege de Troie, qu en se montrant le plus sage et le plus modere d'entre eux. Achille, quoique invincible et invulnerable, quoiqu'il portät la terreur et la mort partout 00 il combattait, n'a pu prendre la ville de Troie: il est tombe lui-meme au pied des murs de cette ville, et elle a triomphe du meurtrier d'Hector. Mais Ulysse, en qui la prudence conduisait la valeur, aporte la flamme et le fer au milieu des Troyens, et c'est a ses mains qu'on doit la chute des ses hautes et superbes tours qui menacerent pendant dix ans toute la Grece conjuree. (Fenelon, 1968, 235f.)

Nachdem solchennaßen der exemplarische Charakter von Fenelons Hauptwerk ausreichend bewiesen sein dürfte, wollen wir uns nun noch mit Fenelons Stellung innerhalb der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich neu aufflammenden Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zur Antike beschäftigen.

11. Fenelons Rolle in der zweiten "Querelle des Anciens et des Modernes" Die erste derartige "Querelle" war ja bekanntlich im Januar 1687 auf einer Sitzung der Academie fran~aise zum offenen Ausbruch gelangt, als sich bei diesem Anlaß der Modernist Perrault und der Traditionalist Boileau in die Haare gerieten (Krauss und Kortum, 1966, lxiff.). Die Frage, ob die Neuzeit denn auf dem Gebiet der Künste und Wissenschaften bereits mit der Antike gleichgezogen oder diese gar übertroffen habe, oder ob nicht vielmehr die großen Geister der Antike rur alle Zeiten unübertreffbar seien, ist freilich in der europäischen Geistesgeschichte mindestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisbar. Die sogenannte "zweite Querelle" ab 1711 entzündete sich an den Homer-Übertragungen der Madame Dacier und La Mottes, welche Zeugnis von den gegensätzlichen Standpunkten gegenüber der Antike ablegten. Im Jahre 1711 hatte Anne Dacier ihre Übersetzung der homerischen !lias vorgelegt, die gemäß der traditionalistischen Geisteshaltung der Autorin dazu dienen sollte, "de faire revenir la plupart des gens du monde d'un prejuge desavantageux que leur ont donne des copies diffonnes que l'on en a faites" (Deloffre, 1972b, 1310). Ihre Übersetzung wollte dem Publikum einen möglichst authentischen, in seiner antiken Denkungsart belassenen Homer nahebringen, genauer: als Vorbild auch für die Gegenwart propagieren. Houdar de la Motte, von seiner Einstellung her den "Modernen" zuzurechnen, hatte bereits 1701 den ersten Gesang der !lias übersetzt, damals noch

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nach einer lateinischen Vorlage; unter dem Eindruck der Iliade der Madame Dacier nahm er nun die Version seiner Konkurrentin zur Grundlage einer vollständigen eigenen Übersetzung (erschienen Anfang 1714). Diese zeichnete sich nicht nur durch die Reduzierung der Zahl der Gesänge (12 statt 24) aus, sondern schreckte auch nicht davor zurück, Homer auf mancherlei Weise dem Zeitgeschmack anzupassen, gemäß der Maxime der Modernisten, daß auch die antiken Autoren durchaus zu verbessern seien. Vor allem aber wagte es La Motte, in seinem Discours sur Homere, den er zusammen mit seiner Iliade veröffentlichte, dem antiken Epiker Verstöße gegen den gesunden Menschenverstand, gegen Geschmack und Moral vorzuwerfen, wobei er als Maßstab wie selbstverständlich die Normen des beginnenden 18. Jahrhunderts zugrunde legte. Hier ein Auszug aus La Mottes Polemik: Ce qui regarde les dieux y est absurde; ce qui regarde les heros est souvent grossier; les idees de morale sont confuses; iI est vrai que I'action est grande et pathetique, mais elle est noyee dans la quantite et dans la longueur des episodes. Les diß·erents genres d'eloquence n'y paraissent qu' ebauches; descriptions, recits, comparaisons, discours, tout presente pelemele les defauts et les beautes. (Nach Deloffre, 1972b, 1311)

Diese vermeintliche Beleidigung Homers konnte die Antikenfreundin Dacier nicht ungerächt lassen, und so erschien als Antwort auf die Thesen La Mottes im Februar 1715 ihre eigene Streitschrift mit dem programmatischen Titel Des causes de la corruption du gout. Darin bemühte sie sich, die Argumente ihres Antagonisten Punkt für Punkt zu widerlegen und nebenbei auch noch dessen modernisierende Homer-Übersetzung zu schmähen. Hierauf reagierte wiederum La Motte mit Reflexions sur la critique, und obwohl sich die beiden Hauptkontrahenten noch im selben Jahr 1715 persönlich miteinander aussprachen und das Kriegsbeil begruben, folgten ihrer Auseinandersetzung mehrere Pamphlete aus der Feder Dritter nach, die den Streit zwischen traditionalistischer und modernistischer Auffassung der Antike nochmals prolongierten (Deloffre, 1972b, 1312). Fenelons Rolle in diesem Konflikt ist nicht leicht zu bestimmen, was daran liegt, daß beide Seiten seinen Telemaque für sich in Anspruch nahmen und er selbst in seinen Äußerungen stets eine gemäßigte, vermittelnde Position einnahm. In seiner Anlehnung an antike Stoffe (welche nicht nur aus Homer, sondern auch aus Vergil und vielen anderen antiken Autoren stammen) konnte der Te/emaque traditionell wirken; durch seine Prosaform und christliche Moral ließ er sich der Neuzeit zuordnen. Den besten Aufschluß über Fenelons Stellung in der "zweiten Querelle" erhält man aus seinem Briefwechsel mit dem uns bereits bekannten Modernisten La Motte; im folgenden daraus einige Auszüge. Am 15. April 1714 berichtet

Exemplarität in Marivauxs Telemaque travesti

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La Motte Fenelon über die Angriffe, die er von den Traditionalisten erdulden muß, bevor er auf dessen Te/emaque zu sprechen kommt, welchen er als Beweis fiir die Überlegenheit der Neuzeit über die Antike interpretiert: L'opinion inveteree du merite infaillible d'Homere a souleve contre moi quelques commentateurs que je respecte toujours par leurs bons endroits. I1s ne sauraient digerer les moindres remarques oul'on ne se recrie pas comme eux [... ). Franchement, monseigneur, vous les avez un peu gätts. Un de vos ouvrages ou Hs entrevoient quelque imitation d'Homere fournit de nouvelles armes a leur prejuge. I1s croient que tout I'agrement, toute la perfection de cet ouvrage, viennent de quelques traits de ressemblance qu'i1 a avec le poeme grec; au Iieu que ces traits memes tirent leur perfection du choix que vous en faites, de la place ou vous les emp10yez, et de cette foule de beautts originales dont vous les accompagnez toujours. La preuve de ma pensee, monseigneur, car je crois qu'i1 est apropos de vous prouver a vous-meme votre superiorite, c'est que, malgre les moeurs anciennes, qu'on allegue toujours comme la cause de nos degouts injustes, votre pretendue imitation est lue tous les jours avec un nouveau plaisir par toutes sortes de personnes; au Iieu que l'Iliade de Madame Dacier, quoique elegante, tombe des mains malgre qu'on en ait, a moins qu'une espece d'idolätrie pour Homere ne raime le zele du lecteur. (Krauss und Kortum, 1966, 85f.)

In seiner Antwort an La Motte vom 4. Mai 1714 präzisierte Fenelon sein eigenes Verhältnis zur Antike, welches - wie bereits angedeutet - ein gemäßigtes war: Je n'admire point aveuglement tout ce qui vient des anciens. Je les trouve fort inegaux entre eux. 11 y en a d'excellents: ceux meme qui le sont ont la marque de I'humanitt, qui est de n'etre pas sans quelque reste d'imperfection. [... ) Je crois que les hommes de tous les siecles ont a peu pres le meme fonds d'esprit et les memes talents, comme les plantes ont eu le meme suc et la meme vertu. Mais je crois que les Siciliens, par exemple, sont plus propres a etre poetes que les Lapons. Oe plus, iI y a eu des pays oil les moeurs, la forme du gouvernement et les etudes ont ete plus convenables que celles des autres pays pour faciliter le progres de la poesie. Par exemple, les moeurs des Grecs formaient bien mieux des poetes que celles des Cimbres et des Teutons. (Krauss und Kortum, 1966, 86f.)

Fenelon ist hellsichtig genug, im selben Brief die von ihm eingenommene merkwürdige Zwitterstellung innerhalb der "Querelle" zu benennen; er schließt mit einem Lob fiir die zeitgenössischen Autoren, welche sich im Eifer des Wettstreits mit den Autoren der Antike nicht zur Verachtung derselben hinreißen lassen sollten: Je vois bien qu'en rendant compte de mon goGt, je cours risque de deplaire aux admirateurs passionnes et des anciens et des modemes; mais, sans vouloir fächer ni les uns ni les autres, je me livre a la critique des deux cötts.

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Ma conclusion est qu'on ne peut pas trop louer les modemes qui font de grands efforts pour surpasser les anciens. Une si noble emulation promet beaucoup. Elle me paraitrait dangereuse si elle a1lait jusqu'a mepriser et a cesser d'etudier ces grands originaux. (Krauss und Kortum, 1966,88)

Da verwundert es nicht, daß es Fenelon höchstpersönlich gewesen sein soll, der eine Kompromißfonnel fand, welche die Basis der Versöhnung zwischen La Motte und Madame Dacier darstellte (Rosbottom, 1974, 24).

III. Marivauxs Stellungnahme in der "Querelle" mittels seiner lliade en vers burlesques Nun kommen wir zu Pierre de Marivaux, welcher in seinem TeJemaque travesti den Fenelonschen Prinzenerzieher-Roman verarbeitete; um jenes 1736 veröffentlichte Werk jedoch besser verstehen zu können, ist es unabdingbar, zuvor noch einen Blick auf ein früher erschienenes Werk Marivauxs zu werfen, mittels dessen er sehr eindeutig Stellung in der "Querelle des Anciens et des Modemes" bezog. Um 1713 war Marivaux in Paris vom modernistischen Vordenker Fontenelle in den Zirkel der Madame de Lambert eingefilhrt worden, zu dem u.a. auch La Motte gehörte, dessen im selben Jahr erschienene /lias-Übersetzung dort eifrig diskutiert und als "affranchissement de l'esprit humain" begriffen wurde (Rosbottom, 1974,26). Marivauxs Homere travesti ou L'/liade en vers burlesques wurde bereits 1714 begonnen und zur Veröffentlichung angekündigt, konnte dann aber erst 1716 erscheinen, zu einem Zeitpunkt, als sich die Wogen bereits wieder geglättet hatten. Unmittelbare Vorlage der /liade en vers burlesques war die Homer-Übersetzung La Mottes, welche Marivaux deshalb jedoch keineswegs verspotten wollte, hatte er es doch - wie noch zu zeigen ist - ganz auf die Traditionalisten um Madame Dacier abgesehen. Zuvor müssen wir kurz in Fonn eines Exkurses auf das Verfahren der Travestie eingehen, welches diesem Werk zugrunde liegt. Der Begriff 'Travestie' [... ] ist im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Systematik die Bezeichnung rur eine Schreibweise, welche innerhalb der Historie in unterschiedlichen literarischen Gattungen realisiert wird und deren Charakteristikum ein einen bestimmten literarischen Einzeltext komisierendes Verfahren ist, bei dem die Fabel dieser Vorlage in ihren wesentlichen ZOgen erhalten

Exemplarität in Marivauxs Telbnaque travesti

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bleibt, der Stil der Vorlage jedoch durchgängig im Sinne einer Herabstimmung verändert wird. (Stauder, 1993a, 339)

In Frankreich war die wichtigste Travestie des 17. Jahrhunderts der Virgile travesty en vers burlesques des Paul Scarron, welcher zwischen 1648 und 1652 erschien und eine regelrechte Modewelle von Travestien auslöste (man sprach damals von einer "maladie burlesque"). Bereits dieses Werk hatte auf seiten der Modernisten im Rahmen der "Querelle" gestanden; es wurde von dem Klassizisten Boileau scharf verurteilt und von dessen Kontrahenten auf der bereits erwähnten 1687er Akademiesitzung, Charles Perrault, stürmisch begrüßt (Stauder 1993b, passim). So ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich Marivaux in der Vorrede zu seiner /liade en vers burlesques zunächst einmal von Scarron abgrenzte: Je ne sais comment le public recevra L'JIiade travestie, dans I'opinion qu'on a que M. Scarron etait inimitable dans ces sortes d'ouvrages; je reponds a cela que le mien n'est point travesti dans le goUt du sien; que la lecture de son Virgile m'a seulement foumi I'idee de masquer Homere, comme iI a masque I'autre, et de travailler dans le meme genre, en prenant une autre espece de comique que celle qu'i1 a suivie. (Marivaux, 1972a, 961)

Wie von einem Stammgast im Salon der Madame de Lambert nicht anders zu erwarten, bekundet Marivaux daraufhin sein Gefallen an der La Motteschen /lias: Mais aparler franchement, le retranchement qu'i1 a fait de I'ouvrage ancien, m'a d'abord determine a suivre le sien. Je ne m'cn suis point repenti; j'ai trouve dans ses vers des endroits si excellents, des pensees si nobles qu'elles ont fait briller a mon gre le moindre contraste que je leur ai oppose. [...] La composition de M. de La Motte tient de I'esprit pur: c'est un travail du bon sens et de la droite raison; ce sont des idees d'apres une reflexion fine et delicate, reflexion qui fatigue plus son esprit que son imagination. (Marivaux, 1972a, 963)

Solchermaßen als Anhänger La Mottes ausgewiesen, ist es nur konsequent, daß sich Marivaux wenig später gegen Madame Dacier stellt und Witze über die schädliche Wirkung der Ilias im griechischen Original macht, der diese Dame erlegen sein müsse: 11 a paru un livre intitule Des causes de la corruption du gout, oilla preface de M. de La Motte et son ouvrage sont fort vilipendes. Je me sais bon gre de n'avoir jamais lu I'ancienne Iliade dans son original; car apres la lecture des Causes de [a corruption du gout, livre fait par Mme Dacier, je commence a croire que I'ancienne Iliade cst pemicieuse a qui peut la lire: je ne puis pcnser qu'une damc s'irrite assez pour menager aussi peu qu'elle I'a fait le plus doux de tous les hommes. Ne serait-ce pas qu'en lisant Homere on respire cet esprit de ferocite qu'iJ a donne a ses personnages? (Marivaux, 1972a, 964)

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Nur Spott hat Marivaux auch rur den Klassizisten Boileau übrig, dem durch seinen Tod (er starb 1711) die Lektüre der modernisierenden Homer-Version La Mottes erspart geblieben sei: Quoi! de I'indignation! est-i1 bien vrai qu'i1 en sentit, madame? [angesprochen ist Mme Dacier; T.S.] Le pauvre homme! JI a bien fait de se häter de mourir dans son Iit, car I'impression du livre de M. de La Motte, et les changements irreligieux qu'i1 a faits de I'ancienne Iliade, I'auraient assurement fait mourir de mort subite a force d'ire et de fureur. (Marivaux, 1972a, 967)

Sodann unternimmt es Marivaux, ausgewählte Entgegnungen der Madame Dacier auf die von La Motte in seinem Discours geübte Homer-Kritik im Detail zu widerlegen; dabei stellt er u.a. kategorisch fest, Homer sei stellenweise "contraire au bon sens" und "il y ades defauts dans les ouvrages d'Homere" (Marivaux, 1972a, 969f.). Marivaux stellt sich im Rahmen dieser sogenannten "zweiten Querelle" also eindeutig hinter den modernistischen La Motte und gegen die traditionalistische Madame Dacier; Homer als Streitgegenstand mußte konsequenterweise dabei auch von ihm getadelt und als nicht frei von Fehlern dargestellt werden. In seiner der Vorrede folgenden, nach dem Vorbild einer entsprechenden Ode La Mottes betitelten "Evocation de l'Ombre d'Homere" geht Marivaux sodann auf die von den Antikenfreunden zu erwartende negative Reaktion auf seine Travestie ein; die Traditionalisten werden dabei von ihm als "adorateurs" eines "culte" jenseits aller "raison" verunglimpft: ToucM de quelque repentance, I Ou d'un remords de conscience, I Pour avoir fait un Turlupin, I Du Grec nomme I'Homme divin, I Je disais, I'autre jour: Peut-etre, en I'autre monde, I De ma contrefa~on le grand Homere gronde; I Car enfin, ajuger des pieuses fureurs, I De messieurs des adorateurs, I Ne pas le respecter, est un forfait enorme. I [ ... ]1 Ce que dans le Grec meme admire le devot, I Si I'on lui disait: Qu'est-ce? iI resterait bien sot; I Preuve infaillible, incontestable, I Que cet Homere est admirable; I Admirable d'une fa~on I Qui passe madame Raison; I Et si la Raison n'y voit goutte, I Son culte est inspire sans doute. I Ce culte serait donc une religion? (Marivaux, 1972a, 977)

IV. Die Negierung des Exemplums in Marivauxs Te/emaque travesti Kurios an diesem Werk ist zunächst einmal seine Veröffentlichungsgeschichte: Zumindest begonnen, wenn nicht gar beendet bereits im Jahre 1714 (also etwa gleichzeitig mit der Iliade en vers burlesques), erschien der Te/emaque travesti erstmals 1736, und auch da nicht in Frankreich, sondern in Amsterdam. Als möglicher Grund darur wurde u.a. ins Feld geruhrt, Marivaux

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habe nach dem Tode Fenelons im Januar 1715 aus Pietät auf die Publikation verzichtet. Die erste vollständige französische Ausgabe des Te/emaque travesti wurde erst 1956 von Frederic Deloffre herausgegeben (zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Deloffre, 1956, 6ff.; Deloffre, 1972a, 1239ff.; Greene, 1965, 24; Miething, 1979, 30f.; Scheffel, 1988, 31Of.). Das Entstehungsjahr deutet nach allem, was wir im vorhergehenden Abschnitt über die Intention der Wade en vers burlesques erfahren haben, bereits darauf hin, daß sich Marivaux auch mit diesem Werk in die "Querelle des Anciens et des Modemes" einschalten wollte. Daß dies tatsächlich der Fall war, soll gleich anschließend gezeigt werden. Wichtig ist es aber auch, sich darüber im klaren zu sein, daß der Te/emaque travesti nicht direkt gegen Fenelon gerichtet war, auch wenn dieser der Autor der Vorlage war. Auch bei der Wade en vers burlesques hatte ja die HomerÜbersetzung La Mottes als unmittelbare Vorlage gedient, ohne daß Marivaux diesen mit ihm befreundeten Modernisten deshalb hätte kritisieren wollen. Madame de Lambert, zu deren Salonzirkel Marivaux wie berichtet ab 1713 gehörte, hatte 1710 in einem Brief an Fenelon geschrieben: "Nous sommes ici dans une societe tres-unie, sur la sorte d'admiration que nous avons pour vous" (Coulet, 1975, 122). Daß Fenelon von diesem Modernistenkreis geschätzt wurde, hängt mit dem eigentümlichen Charakter seines Te/emaque zusammen, der - wie oben dargelegt - Eigenschaften besaß, die ihn rur beide Lager der "Querelle" vorbildlich erscheinen lassen mußten. Worauf zielte aber dann Marivauxs Te/emaque travesti, wenn nicht gegen Fenelon? Wie hier nachgewiesen werden soll, einerseits gegen die blinde AItertumsverehrung der zeitgenössischen Traditionalisten, andererseits aber auch - was in unserem Zusammenhang noch wichtiger ist - gegen das Konzept des Exemplums. Ersteres kommt vor allem in Marivauxs Vorrede zum Ausdruck, in der er ganz ähnlich wie schon anläßlich der Wade en vers burlesques - gegen die wahnhafte Überbewertung Homers polemisiert: . Je ne s~ais si les Adorateurs d'Homere ne regarderont pas le Telemaque Travesti comme une Production sacrilege & digne du feu? [... ] Homere, tu t'es acquis un Culte souvent aussi scrupulement observe que le vrai; je n'ose dire plus: Mais si le mepris de ce Culte est sans vengeance tu n'es donc qu'un Homme. Parlez Adorateurs; est-ce un Blaspheme que de le penser & de I'ecrire? Homere etoit-i1 un Homme? Une Imagination hyperbolique vous dira que non. Mais repondez pertinemment. Oüi dans doute, direz-vous, c'etoit un Homme, & qui par un Esprit inimitable, a seduit celui des autres, jusqu'a leur arracher un Eloge au dela des bornes de la Raison. On I'a nomme le divin Homere, & cette Epithete est I'effet d'une admiration outree; mais cet exces fait la preuve de sa superiorite sur tous les Esprits: II passoit les idees ordinaires; iI a meritt qu'on s'emportät pour lui jusqu'au faux. Nous y voila; le nom de Divin est

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donc comme une Debauche d'Esprit, une Folie spirituelle qu'on a faite pour lui. Peut-etre pourroit-on vous prouver que cette folie excusable dans les premiers tems, est dans nötre une Extravagance sans sujet. (Marivaux, 1956, 45f.)

Wie die meisten damaligen Apologeten der Neuzeit stellt auch Marivaux Homers Qualitäten prinzipiell keineswegs in Frage; er konfrontiert sie jedoch mit den geistigen Errungenschaften der Menschheit seit der Antike, neben denen auch so eine außergewöhnliche schöpferische Leistung wie jene Homers notwendig verblassen müsse: Son Esprit & ses Connoissances avoient si peu de proportion avec ce que I'on etoit capable de savoir & d'imaginer de son tems, que je ne suis point surpris de I'estime prodigieuse qu'on en a fait alors. Quelques Siecles suivans sont encore excusables de I'avoir comme adore [ ... ]. [...] Mais a present qu'on a presque epuise tous les Tresors de l'Esprit & de l'Imagination, seroit-i1 seulement raisonnable, je ne dis pas de mepriser, mais de comparer nos Richesses, au petit gain de celles que firent les tems d'Homere? (Marivaux, 1956,47)

Auch die zweite wichtige Funktionsabsicht des TeIemaque travesti wird bereits in der Vorrede angedeutet; dort verurteilt Marivaux das affektierte Streben nach Tugend, welches nur auf den Beifall der Mitmenschen hofft, also mehr Eitelkeit als wirkliche Tugendliebe ist: Dans le fonds le mepris est justement dQ ades Heros dont les Vertus ne sont avrai dire que des Vices sacrifies a I'orgueil de n'avoir que des Pass ions estimables. Admirez-vous des Hommes qui courent a la Vertu, non par I'envie de la suivre mais pour attraper I'admiration qui I'accompagne? (Marivaux, 1956,47)

Dies meint die beiden Protagonisten des TeIemaque travesti, welche auf reichlich verkrampfte - und deshalb komisch wirkende - Weise versuchen, dem Beispiel der Fenelonschen Helden Mentor und Telemach zu folgen. Daß diese Kritik an der Orientierung an Exempeln als Leitregel für das persönliche Verhalten des Individuums tatsächlich eine zentrale Rolle im TeIemaque travesti spielt, soll gleich anschließend mit entsprechenden Textbelegen bewiesen werden; zuvor muß aber noch das grundlegende Bauprinzip dieses Werks erläutert werden. Aus der heutigen systematischen Sicht des Literaturwissenschaftiers trägt dieser Roman die Bezeichnung "Travestie" in seinem Titel zu Unrecht, da er ganz anders angelegt ist als etwa Marivauxs eigene Iliade en vers burlesques und die Klassifizierungskriterien für eine Travestie somit keineswegs erfilllt. Hier wird nämlich nicht die Fabel einer literarischen Vorlage in niedrig-komischem Stil nacherzählt, sondern zwei fiktive Figuren innerhalb des TeIemaque travesti beschließen ganz bewußt, die Abenteuer der Fenelonschen Helden nachzuahmen. Dadurch unterscheidet sich Marivauxs TeIemaque travesti auch

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von Cervantes' Don Quijote, denn dessen Protagonist verflillt ja unwissentlich nach der Lektüre zu vieler Ritterromane seinem Wahn. Dennoch triffi aus systematischer Sicht auf den Te/emaque travesti genauso wie auf den Don Quijote der Begriff der Parodie (oder deren Spezialform, des heroikomischen Epos) zu, denn auch hier treten ja "niedere" Figuren an die Stelle der Helden der Vorlage (zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Parodie und Travestie vgl. Stauder, 1993a, 39). Betrachten wir nun den Beginn des Te/emaque travesti, um zu analysieren, auf welche Weise Marivaux seine Fenelon-Nachahmung im Detail realisiert. Er verlegt die Handlung aus der Antike in das zeitgenössische Frankreich um 1700, betont jedoch als Erzähler, daß die Fabel der Vorlage beibehalten wird: ''[ ... ] on trouvera dans cette Histoire mSme liaison & mSme suite d'aventures que dans le vrai Telemaque" (Marivaux, 1956,51). Marivaux erfmdet sich einen jungen Mann namens Timante Brideron, dessen Lebensumstände auf erstaunliche Weise jenen Telemachs ähneln; das gleiche gilt fUr seinen ihn betreuenden Onkel mit Namen Phocion (der Mentor gleicht) sowie fUr seine Mutter (deren Situation mit abwesendem Ehemann jener Penelopes gleicht): Certain jeune Bourgeois de campagne, dont le Pere etoit absent, vivoit & grandissoit sous les soins d'un Parent entre deux Ages, & d'une Mere deja vieille [... ]. [... ] Le Parent avoit autrefois ete AParis; iI y avoit admire, suivant le caractere de son esprit, tout ce qu'i1 y avoit vQ de noble & de grand; les Tragedies surtout I'avoient enchante; & de tout cela, iI s'etoit forme dans son imagination un amour de noblesse, dont iI fit dans les suites un faux usage. 11 eleva Timante (c'est ainsi que s'appelloit le jeune homme son neveu) conformement A ses idees; la nature heureusement pour lui, avoit doUe le neveu d'un caractere propre A etre seduit. Timante etoit encore enfant, quand son Pere, Monsieur Brideron, quitta sa chCre Epouse, ou sa Penelope, pour suivre un Regiment Allemand qui s'en a1loit en Hongrie, & dans lequel iI avoit achete une Compagnie. [... ] On ne savoit ce qu'i1 etoit devenu; sa Femme fidelle Asa memoire, gemissoit depuis longtemps de son absence; ses voeux chaque jour demandoient au Ciel le retour de cet Avanturier: Elle en avoit seulement eu de confuses nouvelles, qui ne I'assuroient ni de sa mort ni de sa vie. Les grands biens dont elle jouissoit faisoient sur le coeur d'un tas de Nobles Campagnards ses voisins, ce que la beaute de Penelope faisoit sur ses Amans; elle etoit assiegee des siens, & I'ardeur equivoque qu'i1s avoient pour elle ou pour ses ecus, avoit plus d'une fois produitjusqu'A des querelIes. (Marivaux, 1956, 5lf.)

Marivauxs Figuren lesen nun in Fenelons Te/emaque und bemerken dabei die Ähnlichkeit ihrer eigenen Situation mit jener der Fenelonschen Helden; daraufhin beschließen sie voller Begeisterung, deren Beispiel zu folgen, d.h. deren Verhalten bewußt nachzuahmen: Le fils de Monsieur Brideron grandissoit tous les jours sous I'Mucation de l'Oncle. Ce bon homme Iisoit dans ce tems Te/emaque; la conformite de la situation de son Neveu Acelle de ce Prince le frappoit; iI admiroit de quelle maniere le hazard ramenoit encore une ressemblance si parfaite dans leur destinee [... ]. [ ... ) Oe la trempe de son esprit A la demence, iI n'y avoit qu'un 12 Eng1er I Müller

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point; ce point disparut a la lecture du Livre. La beaute du personnage de Mentor le toucha, & reveilla chez lui le goßt derange qu'i1 avoit pour la noble vertu. Le voila donc penetre de I'envie d'achever la conformitt quc le hazard sembloit avoir si bien ebauchte; tout le favorisoit, ses preceptes & la nature avoient dispose son Neveu a recevoir la passion qu'i1 vouloit lui inspirer. 11 ne fut pas longtemps a y travailler. [... ] Helas! mon fils, lui dit-i1, voici un Livre Oll sont ecrites les Avantures d'un Prince dont la situation etoit pareille a la vötre; iI semble que la conformite vous prescrive memes Actions & memes Entreprises. Lisez son Histoire, mon cher fils, Iisez-Ia, & s'i1 se peut, concevez I'envie de I'imiter [... ]. [... ] Apres ces mots qui precipiterent dans son esprit le progres de folie, iI ouvrit le Livre & le donna a son Neveu, qui, accoutume par son Oncle a un enthousiasme de grandeur & de noblesse d'ame, devora I'histoire de Ttlemaque; i1la lut plus d'une fois, & prit dans les moments de sa reverie toute la dose necessaire de nobles sentiments & d'extravagances tout ensemble, pour concevoir I'envie de chercher des avantures. L'enchantement fut complet, son Oncle lui parut un Mentor: 11 lui fit part du dessein qu'il avoit d'a1ler chercher son Pere: ce demier charme, presque hors de lui, n'eut garde cependant d'approuver tout d'un coup la resolution de ce temeraire. (Marivaux, 1956, 53f.)

Hier kommt bereits das Exemplum ins Spiel, "eine rhetorische Form oder Funktion, mit der vergangenes Geschehen in persuasiver Absicht auf einen gegenwärtigen Problemfall bezogen wird" (um noch einmal an die eingangs erwähnte Defmition Peter von Moos' zu erinnern). Daß Marivaux dieser Exempel-Orientierung seiner fiktiven Protagonisten sehr kritisch gegenüber steht, geht weniger aus der gerade angeftUrrten Passage hervor als aus einer anderen Stelle kurz zuvor, welche deshalb ebenfalls noch zitiert sei: Tout ce qu'on rapporte de grand en parlant des hommes, doit nous etre bien plus suspect que ce qu'on en rapporte de grotesque & d'extravagant. Les Mitridates, les Pompees font de beaux personnages dont la vie n'est peut-etre tiree que d'apres I'idee naturelle que nous avons de la grandeur & de la noblesse d'ame. On conyoit bien que les hommes pourroient ressembier a cette idee, mais malheureusement pour nous, nous sentons le grand & le parfait plus aisement que nous ne le pratiquons. 11 est un certain degre de vertu qui fait le nec plus ultra de I'homme; ce qui excede est possible, mais I'exptrience nous montre que cet exctdent ne passe point la theorie. 11 n'en est pas de meme des folles actions de I'homme; la rapiditt qui I'emporte a la foiblesse, ne trouve point d'obstacle dans sons esprit, iI y court sans difficulte, sans contrainte. (Marivaux, 1956, 49f., Hervorhebung im Original)

Aus der Erzähler-Position des Te/emaque travesti verkündet Marivaux also, daß der Mensch von seiner Natur her nicht zu einem völlig tugendhaften Lebenswandel geschaffen sei und deshalb vermeintlich perfekte Vorbilder aus der Geschichte zwar bewundern, aber nicht nachahmen könne. Hierdurch polemisiert Marivaux implizit auch gegen die Rolle des Exemplums in Fenelons pädagogischem Programm und insbesondere in dessen Te/emaque. Marivauxs eigener Te/emaque travesti dient nun dazu, unter Gebrauch des Mittels der Komik die Absurdität der Orientierung an historischen bzw. litera-

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rischen Exempeln zu beweisen. So kommt bei Phocion trotz aller Bemühungen, den erhabenen Tonfall seines Vorbilds Mentor zu treffen, unwillkürlich seine eigene ländliche Sprache zum Vorschein, was der Erzähler ironisch kommentiert: Cette remontrance n'est pas tout-a-fait aussi noblement exprimee qu'elle devoit I'etre, mais ce Mentor de nouvelle fabrique comptoit cinquante annees pour le moins d'usage dans un tour d'expression campagnard, & n'etoit metamorphose en Mentor que depuis quelques heures. 11 avoit pris son pli: L'enthousiasme le redressoit souvent, mais I'habitude le courboit aussi frequemment du cöte natureI. (Marivaux, 1956,54)

Als Spott Marivauxs über den Versuch, im realen Leben literarische Exempel nachzuahmen, ist auch die folgende Stelle aufzufassen: Cette Morale deplut un peu a notre apprenti Tc!lemaque; franchement le pauvre garr,:on sentoit bien que le Telemaque du Livre qu'i1 avoit 10, etoit plus courageux que lui, mais iI est plus aise d'etre roc dans une feuille imprimee, d'etre tranquille relie en veau, qu'en chair & en os pie in de sante. (Marivaux, 1956, 57f.)

Eine ergiebige Quelle der Komik im Te/emaque travesti ist das ordinäre Verhalten bzw. die ordinäre Sprache, mittels derer die Figuren aus ihrer Rolle fallen. So schimpft auch Melicerte, welche der Nymphe Calypso bei Fenelon ähnelt, unversehens auf wenig stilvolle Weise: Melicerte etoit flchee qu'on eut ete denicher cette maudite Chanson qui troubloit la Fete. Peste soit de la Begueule, dit-elle a celle qui I'avoit chantee, puisse-tu devenir sourde & muette! Remettez-vous mon pauvre Enfant, si elle recommence, je lui jetterai ma pantouftle dans la gueule; vite qu'on entonne un autre Air. (Marivaux, 1956,72)

Marivauxs Figuren müssen denn auch häufig ihr eigenes Ungenügen feststellen, den hehren Vorbildem zu entsprechen; Phocion gesteht dies sehr drastisch ein, indem er Brideron als einen "Telemaque de merde" (im Original mit zeittypisch sittsamer Abkürzung) und sich selbst als einen "Mentor de bran" (aus Sägemehl) bezeichnet (Marivaux, 1956, 85). Ihr Bemühen, dennoch den Fenelonschen Exempla zu folgen, fUhrt sie ständig in grotesk-komische Situationen; in der folgenden Szene beispielsweise darf Brideron seinen Durst nicht stillen, weil der Telemaque der Vorlage dies auch nicht tut; überdies schlafen Phocion und Brideron auf dem Boden statt im Bett, um ihre Vorbilder möglichst getreu zu imitieren: 115 Y virent une petite fontaine, dont le Robinet mal tourne, laissoit echaper de I'eau. Ab! Phocion, s'ecria nötre jeune Homme, voila la fontaine qui se trouva dans la Grote preparee a Telemaque. Souvenez-vous de ce doux murmure qui apelloit le sommeil. Voila le chiftlet aussi 12·

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pour le faire venir a nous. Mais apropos de fontaine, j'ai soif. Attendez a demain, lui dit Phocion; est-i1 dit que Telemaque but en se couchant? Regardez votre Livre! Mais je songe a une autre chose; iI seroit apropos de ne point dormir dans nos Lits: Enveloppons-nous seulement dans nötre Couverture a terre; cette maniere de dormir imitera celle de Telemaque, qui s'etendit sur une peau de Lion. Prenez la Couverture jaune pour vous; cette grise-Ia de couleur d'Ours sera pour moL (Marivaux, 1956, 113)

Derartige Abenteuer fiillen Marivauxs gesamten Te/emaque travesti, ohne daß sie alle nun hier im einzelnen vorgefiihrt werden könnten; der Leser wird sich die denkbaren komischen Verwicklungen unschwer selbst ausmalen können. Erst ganz am Schluß von Marivauxs Roman, als Brideron kurz davor steht, wie sein Fenelonsches Vorbild Telemach seinen Vater wiederzufmden, ist erstmals die Tendenz der Figuren zu konstatieren, die Orientierung an Exempeln zu verwerfen. Aus Angst, die Wiedervereinigung mit seinem Vater zu versäumen, will Brideron auf die gewohnte Imitation verzichten: Tätigue mon Oncle, si nous prenions pour un moment le eilte du chemin de Telemaque, & que nous allassions dire a cet Inconnu, tenez, vous etes Brideron [pere; T.S.], vous avez une femme de teile & teile maniere, & voila vötre Fils a ce qu'on dito [... ] Ah! mon Oncle, s'ecria-ti1, si nous faisions bien, nous courerions apres; peste soit du Livre de Telemaque, qui me defend de faire civilite a mon Pere; voila qui est bien ridicule, la larme m'en vient a I'oeil, regardez plfitöt. (Marivaux, 1956, 360ff.)

So gesehen, machen die Figuren des Te/emaque travesti einen Lernprozeß durch, der exemplarisch ist für die von Marivaux propagierte Abkehr von der Orientierung an Exempeln. Paradoxerweise bedient sich Marivaux also jenes Mittels, welches er selbst mittels dieses Romans bekämpfen will. Zur Funktion dieses Werks gilt es zusammenfassend festzuhalten, daß Marivaux zwar Fenelon keineswegs als vermeintlichen Traditionalisten verspotten wollte (denn wie die anderen Mitglieder des Kreises um Madame de Lambert wußte er die modernen Züge an dessen Te/emaque durchaus zu schätzen), daß er aber sehr wohl dessen pädagogisches Programm samt der darin implizierten Rolle des Exemplums angreifen wollte. Von der neueren Kritik (Gilot, 1970, 196ff., Stackelberg, 1970, 208ff.) wurde zwar meist richtig die Marivauxsche Tendenz zu für die damalige Zeit neuartiger Natürlichkeit und Realismus in der Figurendarstellung beobachtet, aber die Verbindung zum Begriff des Exemplums wurde bisher soweit ersichtlich noch nicht hergestellt, so daß hier durchaus Licht auf einen bisher vernachlässigten Aspekt des Te/emaque travest; geworfen werden konnte.

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ANNE MARGRET RUSAM

Exemplarität und Individualität: Rousseau und Alfieri als Leser Plutarchs I

Zu den begeisterten Lesern Plutarchs, des wirkungsmächtigsten antiken Biographen, zählten Rousseau und Alfieri. "A six ans, Plutarque me tomba sous la main, ä huit je le savais par creor", schreibt Rousseau im Jahre 1762 an Malesherbes (1,1134),1 und in seinen autobiographischen Dialogues ist über "JeanJacques" vermerkt: "Les hommes illustres de Plutarque furent sa premiere lecture dans un age Oll rarement les enfans savent lire. Les traces de ces hommes antiques frrent en lui des impressions qui n'ont jamais pu s'effacer" (1,819). Alfieri stößt erst in etwas fortgeschrittenerem Alter auf die Bio; paralleloi. Das tut ihrer Wirkung auf ihn aber keinen Abbruch: Ma iI libro dei libri per me, e ehe in quell'invemo mi fece veramente trascorrer dell'ore di rapimento e beate, fu Plutarco, le vite dei veri grandL Ed alcuni di quelle, come Timoleone, Cesare, Bruto, Pelopida, Catone, ed altre, sino a quattro e cinque volte le rilessi con un taIe trasporto di grida, di pianti, e di furori pur anche, ehe chi fosse stato a sentirmi nella camera vicina mi avrebbe certarnente tenuto per impazzato. (90)2

Dieser Enthusiasmus für Plutarch stellt nicht etwa ein singuläres Phänomen dar. Mit den 'großen Griechen und Römern' (Plutarch, 1954ff.) hat der antike Autor eine höchst erfolgreiche Serie von Biographien geschaffen. Seine Helden liefern Legionen von Lesern plastische Beispiele ethischer Vorzüglichkeit und, in wenigen Fällen, moralischer Verwerflichkeit. Im folgenden werden zwei Kapitel der plutarchischen Rezeptionsgeschichte aufgeschlagen. Bei aller Bewunderung für die Antike ist es Rousseau und AIfieri nämlich auch darum zu tun, die Reichweite der plutarchischen Exempel 1 Die Angaben zu Rousseau beziehen sich auf die von Gagnebin und Raymond besorgte Ausgabe der (Euvres comp/eles, Paris 1959ff. 2 Die Angaben zu Alfieris Vila beziehen sich auf die von Cattaneo besorgte Ausgabe, Milano 1977.

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Anne Margret Rusam

als moralisch-paradigmatische Geschichten3 filr sich und ihre Zeit neu zu bestimmen. Nicht von ungefähr geschieht dies vornehmlich in autobiographischen Zusammenhängen. Ist doch die Frage, in welchem Maße sich die Bildung der eigenen Identität an vorgängigen Modellen orientiert hat, filr diese Gattung zentral. Parallel zu der NeubegrUndung des Verhältnisses von Exemplarität und Individualität, wie sie Rousseau und Alfieri unternehmen, ist im ausgehenden 18. Jahrhundert auf gesellschaftlicher Ebene der allmähliche Abbau des Topos der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, als der Summe moralisch verbindlicher Exempla, zu beobachten.4

11

Zunächst zu Plutarch: In seinen Bioi paral/eloi porträtiert er paarweise, in lockerer chronologischer Ordnung, Griechen und Römer, um sie anschließend zu vergleichen, nicht zuletzt auch, um zu zeigen, daß die Hellenen es durchaus mit den siegreichen römischen Kolonialherren aufnehmen konnten. Damit wollte er nicht nur illustren Männern bleibende Ehrensäulen errichten,5 sondern auch den Nachgeborenen konkrete Handlungsanweisungen durch Exempla vermitteln. War er doch davon überzeugt, daß man aus der Betrachtung illustrer Männer lernen könne: "Die Anregung, mich mit dem Schreiben von Biographien zu befassen, ist mir von anderen gekommen; daß ich aber dabei blieb und mich alsbald auf dem Gebiete wohlfilhlte, das geschah aus eigenem Antrieb, indem ich nun versuchte, gleichsam vor dem Spiegel der Geschichte mein Leben gewissermaßen zu formen und dem Vorbild jener Männer anzugleichen" (IV,12). Wie ein Pädagoge hat er es darauf angelegt, durch die Gestaltung vorbildlicher Lebensläufe den Leser zur Nachahmung großer Taten anzuleiten: "Die Tugend hingegen vermag uns durch das Vorbild ihres Wirkens zu bewegen, daß wir die Taten bewundern und gleichzeitig den Männern nacheifern, die diese vollbracht haben" (11,110). Freilich hält es Plutarch filr vorteilhaft, auch einige Persönlichkeiten zweifelhaften Rufs - "Menschen, die unbesonnen mit ihren Gaben umgegangen und in großen Verhältnissen und Machtstellungen hervorstechende Muster der Lasterhaftigkeit geworden

3 Exempla finden in Philosophie, Logik und Rhetorik Verwendung. Grundlegendes dazu in den entsprechenden Artikeln des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, der Realenzyklopädie für Antike und Christentum und der Enzyklopädie des Märchens.

4

Hierzu der Artikel "Geschichte, Historie" in Geschichtliche Grundbegriffe.

Die Angaben zu den Bioi paralleloi beziehen sich auf die von Ziegler übersetzte und besorgte Ausgabe, Stuttgart und Zürich 1954ff. 5

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sind" (V,244) - in die Phalanx seiner Helden einzureihen. Erstrahlt doch im Kontrast mit tadelnswertem Verhalten die Tugend in umso schönerem Licht. Vor allem seit der Renaissance haben sich die Bioi paralleloi großer Beliebtheit erfreut. Mit den Übersetzungen durch so erlauchte Humanisten wie Leonardo Bruni, Donato Acciaiuoli und Pier Candido Decembrio bzw. durch Jacques Amyot auf französischer Seite, setzte eine lange Erfolgsgeschichte ein, die erst mit dem 20. Jahrhundert an ihr Ende gekommen zu sein scheint (vgl. Berschin, 1983, und Sühnei, 1993). "The prince of the ancient biographers" nennt Boswell Plutarch in der Einleitung zu seiner im Jahre 1791 erschienenen Biographie des Dr. Johnson (Boswell, 1980, 23), und kein Geringerer als Montaigne bezeichnet sich in den Essais wiederholt als Schüler des alten Griechen: "Nous autres ignorans estions perdus, si ce livre ne nous eust relevez du bourbier; sa mercy, nous osons a cett'heure et parler et escrire; les dames en regentent les maistres d'escole; c'est notre breviaire" (344).6 Wie in einem Brevier Gebete filr jede Stunde zu fmden sind, halten die Bioi paralleloi Regeln filr jede Lebenslage bereit. Daß solche Exempla noch in die Gegenwart hineinragen, betont ausgerechnet Nietzsche, der als schärfster Kritiker historischer Bildung im 19. Jahrhundert gilt. Er empfiehlt in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben der Jugend die Bioi paralleloi nachdrücklich zur Lektüre: Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte großer Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten. [...] Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es, an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Mit einem Hundert solcher unmodern erzogener, das heißt reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen. (Nietzsche, 61969, I, 251)

Für den exemplarischen Diskurs fallen, wie aus Nietzsches Worten hervorgeht, zeitliche oder kulturelle Differenzen nicht weiter ins Gewicht.? Ein für allemal gültige Handlungsmuster zu liefern, darauf kommt es an. Prägnant formuliert dies Montaigne in seinen Essais: "Advenu ou non advenu, a Paris ou a Rome, a Jean ou a Pierre, c'est tousjours un tour de l'humaine capacite, duquel je suis 6 Die Angaben zu Montaignes Essais beziehen sich auf die von Thibaudet und Rat besorgte Ausgabe der (EUlires camp/etes, Paris 1962. 7 "Das Exemplum hat vielmehr wesensgemäß die Tendenz, den Unterschied von 'wirklicher' und dargestellter Geschichte dem Angesprochenen als nicht vorhanden zu suggerieren, die feme, tote, abwesende Modellgestalt wie eine lebende, nachahmenswerte oder Nachfolge heischende Person unmittelbar vor Augen zu stellen." So von Moos, 1988,89.

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utilement advise par ce recit" (104). So hatte schon Plutarch in der Überzeugung, daß dem "Andenken an die edelsten und bewährtesten Männer" erzieherische Kraft innewohne, unbekümmert um unterschiedliche Verhältnisse und Epochen dieselben moralischen Kriterien auf Griechen wie Römer angewandt. 8 Aristoteles betont in seiner einflußreichen Nikomachischen Ethik, daß die "Phronesis" nur am "Phronimos", d.h. an demjenigen, der "Phronesis" ausübt, demonstriert werden kann: "Was Klugheit ist, können wir fassen, wenn wir betrachten, wen wir klug nennen" (Aristoteles, 1972, 187). Praktische Klugheit, laut Aristoteles "ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten [... ] im Bezug auf das, was fUr den Menschen gut oder schlecht ist" (188), ist also weder wissenschaftlich zu beweisen noch wie eine Technik zu lehren, sondern nur aus der Anschauung anderer zu gewinnen. Dies aber verleiht dem Erzählen über einzelne Menschen - abgesehen von seinem unbestreitbaren Unterhaltungswert - eine eminente Bedeutung. So ist Plutarch, der sich der peripatetischen Schule verpflichtet weiß, bei aller individuellen Konturierung seiner Helden in erster Linie bestrebt, bestimmte Qualitäten zu veranschaulichen und Aristeides, Cato e tutti quanti damit als Exempla zu empfehlen. Sein Augenmerk legt er dabei weniger auf ihre Haupt- und Staatsaktionen als auf scheinbar belanglose 'private' Einzelheiten. Genau dies macht fUr ihn den Unterschied zwischen Biographie und Historiographie aus: Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringftlgiger Vorgang, ein Wort oder ein Schen ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten. (V,7)

Im Anekdotischen, im 'Unveröffentlichten' im buchstäblichen Sinn, zeigt sich erst die wahre Natur des Menschen: Die Art und Weise, wie der junge Alexander das wilde Pferd Bukephalas zähmt, weist ihn bereits als zukünftigen Eroberer und Weltenherrscher aus. (Auch Montaigne hatte bei seinen anthropologischen Streifzügen die revelatorische Bedeutung des 'petit fait vrai' bemerkt: "A cette cause, disent les sages, il faut, pour juger bien a point d'un homme, principalement contreroller ses actions communes et le surprendre en son a tous les jours", 683). Bei alledem ist Plutarch bemüht, die Taten seiner Helden, unter denen er ausschließlich Staatsmänner und Feldherren verstehtgut aristotelisch manifestiert sich ethische Vorzüglichkeit besonders im tätigen 8 Entscheidend sind ftlr ihn z.B. im Falle von Aristeides und Cato die analogen Lebenskurven: beide machten ohne äußere Hilfsmittel Karriere und gingen siegreich aus dem Krieg hervor. Dazu siehe Erbse, 1979.

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Wirken für die Allgemeinheit - , jeweils einem zentralen ethischen Grundmotiv zuzuordnen: Aristeides, der einem Analphabeten hilft, den eigenen Namen auf die Scherbe zu schreiben und somit lieber die eigene Verbannung befördert als das Vertrauen eines anderen zu mißbrauchen, erweist sich als der Inbegriff der Gerechtigkeit. Cato, der energisch gegen Luxus und Verschwendung eintritt und dabei vor unpopulären Maßnahmen nicht zurückschreckt, steht hingegen für römische Sparsamkeit und Unbestechlichkeit. Demgegenüber macht Valerius Maximus in seiner vielbenutzten Exemplasammlung Facta et dicta memorabilia, mit der er vor allem römische 'virtutes' und 'vitia', den Rednern zur gefiilligen Benutzung, katalogisiert,9 aus Personen reine Personifikationen: Lucrezia verkörpert die 'pudicitia', Crassus die 'luxuria' usw.

III Mit seinem Erziehungsbuch Emile hat Rousseau sich vorgenommen, ein neuartiges Exempel zu statuieren und einen mustergültigen pädagogischen Prozeß vor Augen zu führen. Im Rahmen des bis in die letzten Einzelheiten ausgeklügelten Erziehungsplans, der den Übergang vom Kind zum Erwachsenen regelt, bedient er sich auch traditioneller Exempla. Freilich erst, wenn sein Zögling, der lange genug von allen schädlichen Einflüssen - unter die der Erzieher nicht zuletzt die Bücher rechnet lO - abgeschirmt worden war, imstande ist, Plutarchs Bioi paralleloi in der richtigen Weise auf sich zu beziehen. Denn nichts ist, daran läßt Rousseau keinen Zweifel, für die weitere Entwicklung so fatal wie falsch verstandene Exempla. Wie sich nämlich die spezifisch kindliche Logik antiker Beispielgeschichten bemächtigt, verdeutlicht er an der Art und Weise, wie ein kleiner Junge die bekannte, von Plutarch überlieferte Episode von Alexander und seinem Arzt Philipp interpretiert. Heldentum in der Nachfolge des großen Makedonen bedeutet für ihn, bittere Medizin klaglos zu schlucken: Je le questionnai et je trouvai qu'i1 admiroit en cette occasion comme tout le monde le courage si vante d'Alexandre, mais savez vous OU iI pla~ait ce courage? Uniquement dans celui d'avaler un breuvage de mauvais gout sans hesiter [... ]. (IV, 116)

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Wie er schreibt: "ut documenta sumere volentibus longe inquisitionis labor absit" (1971,

64). 10 "Je hais les Iivres; i1s n'apprennent qu'a parler de ce qu'on ne sait pas" (IV,454). Auch der modemen Geschichtsschreibung wird nicht geringes Mißtrauen entgegengebracht: "Je vois peu de difference entre ces Romans et vos histoires, si ce n'est que le romancier se livre davantage a sa propre imagination, et que I'histoien s'asservit plus a celle d'autrui [... ]" (IV,528).

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Am richtigen Ort, zur rechten Zeit eingesetzt aber dienen vor allem die 'vies particulieres' dazu, Emile mit der 'scene du monde' bekannt zu machen, indem sie ihm - historia magistra vitae - die Erfahrungen anderer vor Augen fUhren: ''[ ... ] pour mettre le coeur humain a sa portee sans risquer de gäter le sien, je voudrois lui montrer les hommes au loin, les lui montrer dans d'autres tems ou dans d'autres lieux, et de sorte qu'il put voir la scene sans jamais y pouvoir agir" (IV,526). Praktische Menschenkunde statt grauer Theorie ist die Devise. Gerade Plutarch ist es, so befmdet Rousseau, in unnachahmlicher Weise gelungen, "a peindre les grands hommes dans les petites choses" (IV,53 I ).11 Überhaupt läßt sich nirgendwo - Rousseau greift hiermit ein Argument Montaignes auf - das menschliche Herz gründlicher studieren als in Biographien. Dabei gilt es, mit aller Macht eine identifIkatorische Lektüre zu verhindern. Führt sie doch nur zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Los: "le regret de n'etre que soi" (IV,535). Emile, dem man beigebracht hat, nur das anzustreben, was in seiner unmittelbaren Reichweite liegt, ist dagegen aber dank seiner speziellen Schulung gefeit. Davon darf jedenfalls sein Erzieher mit Fug und Recht ausgehen: Qu'on se figure mon Emile, auquel dix huit ans de soins ass idus n'ont eu pour objet que de conserver un jugement integre et un coeur sain; [... ] il s'indignera de voir ainsi tout le genre humain dupe de lui-meme, s'avilir aces jeux d'enfans; il s'aftligera de voir ses freres s'entredechirer pour des reves, et se chan ger en betes feroces pour n'avoir pas su se contenter d'i!tre hommes". (IV,532)

Noch aus einem weiteren Grund privilegiert Rousseau die plutarchischen Bioi paralleloi. In ihren Gestalten manifestiert sich fUr ihn eine Form von Identität, die seinem eigenen depravierten Zeitalter abhanden gekommen ist. Den 'großen Griechen und Römern' stellt sich Handeln immer auch als sinnvolles Handeln fUr die Polis bzw. die Res publica dar, sie begreifen sich, wie ihre Leser bewundernd feststellen, in erster Linie als Athener, Spartaner, deren Mythos sich bereits im Altertum großer Beliebtheit erfreute, oder Römer. Rousseau erläutert dies an einem Beispiel aus Plutarchs Moralia: Une femme de Sparte avait cinq fils a I'armee et attendait des nouvelles de la bataille. Un hilot arrive; elle lui en demande en tremblant. Vos cinq fils ont ete tues. Vil esclave, t'ai-je demande 11 Wenn Rousseau aber den schier detektiv ischen Spürsinn des alten Griechen lobt, der den hinter der offiziellen Fassade verborgenen Menschen zu entdecken bestrebt sei, projiziert er seine eigenen Kategorien auf den antiken Autor. Er, der es sich in nahezu jeder seiner Schriften angelegen sein läßt, den Firnis der Zivilisation, der sich über das "natürliche" (und, seiner Ansicht nach, essentiell gute) Sein des Menschen gelegt hat, abzutragen, vereinnahmt Plutarch geradezu als "precurseur" dieser Suche: "La physionomie ne se montre pas dans les grands traits, ni le caractere dans les grandes actions: c'est dans les bagatelles que le naturel se decouvre" (IV,53 1).

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cela? Nous avons gagne la bataille. La mere court au temple et rend gräce aus Dieux. Voila la citoyenne. (IV,249)

Dieser Fonn von Identität, in der die Person im Allgemeinen aufgeht, werden die 'sentimentalischen' Modernen von Schiller bis Foscolo umsonst nachtrauern. Daß sie durch Erziehung einzuholen sei, glaubt auch Rousseau nicht. Es geht ihm allenfalls darum, seinen Emile, da öffentliches Engagement im Sinne Plutarchs nicht mehr möglich ist, zur Ausübung einer privaten 'vertu' anzuleiten. Nicht umsonst münden seine staatstheoretischen Rückgewinnungsversuche der antiken 'politischen Identität' (vgl. Meier, 1979) in Fonn einer 'volonte generale', vor allem im Contrat sodal, bekanntlich in schierem Totalitarismus. Den plutarchischen Exempla kann also, wo sich moderne Identität vornehmlich als Individualität begreift, kaum mehr die Rolle konkreter Lebensregeln zukommen. Als fernes Korrektiv tragen sie höchstens dazu bei, Emile gegen weitere verheerende Auswirkungen des modernen Gesellschaftszustandes Egoismus und Ehrsucht - zu immunisieren.

IV Schon im Emile schränkt Rousseau demnach die Reichweite der plutarchischen Exempla ein. Er plädiert für eine den veränderten anthropologischen Bedingungen angepaßte Erziehung und befördert sich selbst an den Platz der antiken Pädagogen. Doch soll dies beileibe nicht sein letztes Wort zu Plutarch sein. Wenn er gegen Ende seines Lebens die eigene Individualität autobiographisch konstruiert, schreibt er den exemplarischen Diskurs antiker Prägung auf radikal moderne Weise um. 12 Die Behauptung, etwas unerhört Neues vorzulegen, eröffnet die Confessions (postum 1782-89) wie ein Paukenschlag: "Je fonne une entreprise qui n'eut jamais d'exemple et dont l'execution n'aura point d'imitateur" (1,5). Den letzten Anstoß für ihre Abfassung gab bekanntlich der Vorwurf, Rousseau, der angemaßte Erzieher des Menschengeschlechts, habe als Rabenvater die eigenen fünf Kinder der öffentlichen Fürsorge überantwortet. Er selbst macht geltend, mit den Confessions, die er als das einzige 'monument sUr' seines Charakters verstanden wissen will, nur den inständigen Bitten seines Verlegers nachgekommen zu sein. Rousseau tritt nun die Flucht nach vorne an und fordert wiederholt ein, daß er mit anderen Maßstäben als nonnale Sterbliche zu messen 12 Dieser Aspekt wurde in der reichhaltigen Forschungsliteratur zu Rousseaus Confessions bislang vernachlässigt. Vgl. Wuthenow, 1974, Starobinski, 1971 und 1977, Lejeune, 1975.

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sei: "[ ... ] j'ose croire n'etre fait comme aucun de ceux qui existent" (1,5). Infolgedessen hegt er auch nicht den geringsten Zweifel daran, wie das Urteil der Leser über ihn ausfallen wird: "Que chacun d'eux decouvre a son tour son creur aux pieds de ton tröne avec la meme sincerite; et puis qu'un seul te dise, s'ill'ose: je Jus meil/eur que ce! homme-la" (1,5). Bereits Rousseaus Kindheit verläuft nicht in den üblichen Bahnen. Anders als er es für Emile empfiehlt, macht Jean-Jacques bereits in zartem Alter mit der Welt der Bücher Bekanntschaft. Mangels realer Bezugspersonen - die Mutter war an den Folgen der Geburt gestorben, der Vater als Erziehungsinstanz völlig ausgefallen: "Je suis plus enfant que toi" (1,8), läßt er dem Sohn gegenüber verlauten - ist das Kind auf imaginäre Supplemente angewiesen. Auch noch der ältere Jean-Jacques wird zeitweise den Verkehr mit Phantasiegeschöpfen dem Umgang mit seinesgleichen vorziehen: "[ ... ] ne voyant rien d'existant qui fut digne de mon delire, je le nourris dans un monde ideal que mon imagination creatrice eut bientöt peuple d'etres selon mon creur" (1,427). Diese holt sich Jean-Jacques sowohl aus Romanen, die ihm die Mutter hinterlassen hat, als auch aus Plutarchs Bioi paralleloi. Vor allem dessen 'große Griechen und Römer' haben es ihm angetan. Mehr noch, sie tragen in entscheidendem Maße zu seiner Identitätsbildung bei: Sans cesse occupe de Rome et d'Athenes; vivant, pour ainsi dire, avec leurs grands hommes, ne moi-meme Citoyen d'une Republique, et fils d'un pere dont I'amour de la patrie etoit la plus forte passion, je m'en enflamois l\ son exemple; je me croyais Grec ou Romain; je devenois le personnage dontje Iisois la vie [... ]. (1,9)

Die Identifikation des Kindes mit den plutarchischen Helden ist total: "Un jour que je racontois a table l'avanture de Scevola, on fut effraye de me voir avancer et tenir la main sur un rechaud pour representer son action" (1,9). Wie aber kommt es, daß aus dem 'Cäsar' , zu dem sich Rousseau offensichtlich berufen fühlte - was diese recht drastische 'imitatio' antiker Exempla unterstreicht schneller als er sich's versieht ein 'Laridon' wird? Daß die berühmten Männer der Vergangenheit als brauchbare Modelle abdanken müssen, ist auf ein einschneidendes Erlebnis zurückzuführen. Ein Kamm ist beschädigt, ein Schuldiger wird gesucht. Dem Leser gegenüber beteuert Jean-Jacques noch nach Jahrzehnten seine Unschuld, und dieser glaubt es ihm gern. Nicht so die damaligen Beteiligten, die zu erzieherischen Maßnahmen schreiten. Mit dieser unverdienten Bestrafung aber kommt Jean-Jacques der naive Glaube an eine höhere Gerechtigkeit für immer abhanden: "Quel renversement d'idees! quel desordre de

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sentimens!" {I,19).13 Von nun an präsentiert sich ihm die äußere Welt als feindlich, kalt und opak: unverstellte Tugend hat in ihr keinen Platz mehr. Die Lehrzeit bei einem hartherzigen Meister tut ein übriges: "Mon latin, mes antiquites, mon histoire, tout fut pour longtems oublie: je ne me souvenois pas milme qu'il y eut eu des Romains au monde" (1,30). Vergeblich wird auch die Suche des erwachsenen Rousseau nach einem modemen Aristeides oder Lykurg bleiben - so er sich nicht in eigener Person, selbsternannter Gesetzgeber eines idealen Staates, wie ein zweiter Lykurg geriert. Bestenfalls weisen ihn, wofern ihm nicht "experiences funestes" (1,819) zustoßen, wohlwollende Mitmenschen darauf hin, daß Tugendenthusiasmus a la Plutarch in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr angebracht sei. Aus gutem Grunde wird Rousseau im weiteren Verlauf seines Lebens immer wieder mit seiner Umwelt in Konflikt geraten und sich schließlich, wie im zweiten Teil der Confessions zu lesen ist, zu der Annahme eines universellen Komplotts gegen sich bewegt sehen. Damit ist aber der exemplarische Diskurs mitnichten verabschiedet. Von Anfang an macht der Autobiograph unmißverständlich klar, daß er es rur angebracht hält, die antiken Exempla durch ein ganz bestimmtes zu ersetzen: sein eigenes. In welchem Sinne? Rousseaus individuelle Geschichte, die er bis in ihre letzten Winkel zu verfolgen versprochen hat, ist von ihm als ExemplifIkation seiner ureigenen anthropologischen Theorien angelegt. Mehr noch, sie gilt ihm als schlagender Beweis darur, daß er sich in seinen Analysen zum Natur- bzw. Gesellschaftszustand nicht geirrt hat. Davon legt nicht nur die tragische Geschichte vom zerbrochenen Kamm beredtes Zeugnis ab. Auch Rousseaus vordergründige Selbstbezichtigung, als Bedienter seine Herrschaft bestohlen, und, schlimmer noch, ein unschuldiges Mädchen fiilschlicherweise dieser Tat beschuldigt zu haben, münzt er unter der Hand in eine flammende Anklage der Gesellschaft um. Ihr allein ist es zuzuschreiben, daß sich die guten Absichten des Heranwachsenden ins krasse Gegenteil verkehrt haben: "Si l'on m'eut lais se revenir a moi-milme j'aurois infailliblement tout declare. [... ] Mais on ne fit que m'intimider quand il falloit me donner du courage" (I,87). Nicht nur Emile spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache: "Tout est bien, sortant des mains de l'auteur des choses: tout degenere entre les mains de l'homme" (lV,245). Wie ein Echo hierauf wirken Rousseaus Sätze aus den Confessions, mit denen er an das kurze Paradies seiner Kindheit erinnert, aus dem er nur allzubald vertrieben wurde: "Comment serois-je devenu mechant, quand je n'avois sous les yeux que des exemples de douceur, et autour de moi que les 13 Auch Starobinski, 1971, weist im Rahmen seiner Situierung von Rousseaus Denken zwischen "transparence" und "obstacle" auf die Bedeutung dieses Ereignisses hin, ohne jedoch die autobiographische Stilisierung zu beachten.

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meilleures gens du monde?" (1,10). Dadurch, daß Rousseau das eigene Ich zu einem strukturellen anthropologischen Muster erhebt - was ihm umgekehrt seine 'Einzigartigkeit' keineswegs benimmt - , radikalisiert er Montaignes Versuch, sich neben althergebrachten Exempla auch auf die eigene Erfahrung zu berufen. Im Essai III,13 hatte dieser geschrieben: l'aymerois mieux m'entendre bien en moy qu'en Ciceron. Oe I'experience que j'ay de moy, je trouve assez dequoy me faire sage, si j'estoy bon escholier. [...] La vie de Caesar n'a poinct plus d'exemple que la nostre pour nous; et emperiere et populaire, e'est tousjours une vie que tous accidents humains regardent. (1051)

Während sich der Ältere aber lang und breit zu rechtfertigen sucht, indem er auf die unendliche Vielzahl einander z.T. widersprechender Exempla und ihrer Interpretationen verweist,14 bezeichnet Rousseau seine Autobiographie stolz als "premiere piece de comparaison pour l'etude des hommes, qui certainement est encore a commencer" (1,3). Daß er, wie er mehrfach betont, weder "gentilhomme" noch Träger eines öffentlichen Amtes ist - "je n'ai pas promis d'offrir au public un grand personnage" (1,174) - steigert seiner Meinung nach nur den Erkenntniswert seines Unterfangens. Allein er, der aus der Not der Wahrheit die Tugend der freiwilligen Selbstentblößung macht, ist zu keinerlei Rücksichtnahme mehr verpflichtet. Dagegen hält Montaigne, dem Rousseau nicht von ungefllhr eine 'fausse naivete' vorwirft, bewußt die Grenzen des Schicklichen ein: "Mes defauts s'y liront au vif, et ma forme naifve, autant que la reverence publique me l'a permis" (Montaigne, 1962,9). Selbstbewußt konfrontiert Rousseau die 'memorabilia' großer Männer, denen allein (auto)biographische Ehren zustanden, mit den eigenen, ungeschönten Widerfahrnissen: Quoiqu'i1s [Ies memoires de ma vie, A.M.R.] ne fussent pas jusqu'a1ors fort interessans par les faits, je sentis qu'i1s pouvoient le devenir par la franchise que j'etois capable d'y mettre, et je resolus d'en faire un ouvrage unique par une veracite sans exemple, afin qu'au moins une fois on put voir un homme tel qu'i1 etoit en dedans. (1,516)

Indem er das Modell eines unverfUgbaren und irreduziblen Individuums an die Stelle der übertragbaren Eigenschaften antiker 'viri illustres' setzt, bricht er die Struktur des traditionellen Exemplums auf.

14 "Toutes choses se tiennent par quelque similitude, tout exemple cloche, et la relation qui se tire de I'experience est tousjours defaillante et imparfaicte; on joinct toutes fois les comparaisons par quelque coin" (1047). Vgl. hierzu Starobinski, 1982, Stierle, 1987, und Verf., 1994.

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v In Alfieris 1786 entstandenen Dialog La virtu sconosciuta, mit dem er seines gerade verstorbenen Freundes Francesco Gori gedenkt, lehnt dieser es vehement ab, von "Vittorio" mit einer Biographie bedacht zu werden. Habe er sich doch - in Ennangelung einer 'vera patria' - nur einer privaten 'virtU' befleißigen können und im Gegensatz zu den großen Griechen und Römern nichts fiir das Wohl der Allgemeinheit bewirkt: Tu vedi dunque ehe le vite vogliono essere seritte di coloro soltanto, ehe 0 gran bene 0 gran maIe agli uomini han fatto. E, degli antiehi serivendo, perfetto modello di eio ne ha laseiato iI divino Plutareo: e a serivere dei modemi (di eui un volume d'assai minor mole farebbesi) non e sorto aneora un Plutarco novello. (Alfieri, 1951,111,266)

Hier und anderswo hält Alfieri mit seiner Verachtung fiir die politischen Verhältnisse, in die er hineingeboren wurde, nicht hinter dem Berg. Die schlechte Gegenwart spielt er gegen eine ruhmreiche Vergangenheit aus, mit der ihn vor allem Plutarchs Bioi paralleloi bekannt gemacht hatten. Nun ist dies ein wohlfeiler Topos: Bereits Petrarca hatte im Vorwort zu seiner Zusammenstellung iIIustrer Männer (De viris illustribus) bedauert, daß er in Ennangelung zeitgenössischer beispielhafter Gestalten auf historische zurückzugreifen genötigt sei. Diese Perspektive auf die Geschichte ist mit Nietzsche "monumentalisch" zu nennen: Schöpft Petrarca doch aus der "Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten" die Zuversicht, daß das Große, das "einmal möglich war [... ] deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird" (Nietzsche, 61969, 1,221). Anders Alfieri: Er beklagt ein ums andere Mal in seiner Vita, daß seine Zeit eine imitatio der plutarchischen Exempla nicht mehr zulasse: AII'udire certi gran tratti di quei sommi uomini, spessissimo io baIzava in piedi agitatissimo, e fuori di Me, e lagrime di dolore e di rabbia mi seaturivano daI vedermi nato in Piemonte ed in tempi e govemi ove niuna aIta cosa non si poteva ne fare ne dire, ed inutilmente apena forse ella si poteva sentire epensare. (Alfieri, 1977, 90)

Wortreich beschreibt er, wie ihn das Mißverhältnis von antikem Ideal und moderner Realität, das er bei der Lektüre Plutarchs verspürte, schier in den Wahnsinn getrieben habe: "Ed alcuni di quelle (le vite di Plutarco, A.M.R.), come Timoleone, Cesare, Bruto, Pelopida, Catone, ed altre, sino a quattro e cinque volte le rilessi con un tale trasporto di grida, di pianti, e di furori pur anche, che chi fosse stato a sentirmi nella camera vicina mi avrebbe certamente tenuto per impazzato" (90). Welche Mittel können nun aufgeboten werden, um sich mit einer Lebenswelt zu arrangieren, in der 'virtU' und 'gloria' a la 13 Engler I MUller

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Plutarch nicht mehr zu verwirklichen sind? Diese Frage beantwortet der Adelssproß aus reichem Hause, der sich erfolgreich den Pflichten, die mit seinem Stand verbunden waren, zu entziehen wußte, ja, sogar den größten Teil seines Erbes der Schwester übereignete, in seiner Autobiographie. 1790 in Paris begonnen hat sie Alfieri bis zu seinem Tod im Jahre 1803 beschäftigt. Über die Vorrede ist ein (leicht abgewandeltes) Zitat aus Tacitus' Agricola gesetzt: "Plerique suam ipsi vitam narrare, fiduciam potius morum, quam adrogantiam, arbitrati sunt". In dieser Laudatio auf seinen verehrten, im Jahre 93 n. Chr. gestorbenen Schwiegervater erinnert Tacitus seinerseits an frühere bessere Zeiten, in denen verdienstvolle Menschen über das eigene Leben berichten konnten, ohne in den Geruch übersteigerter Selbstliebe zu geraten. Wenn Alfieri dies an herausragender Stelle anführt, legitimiert er damit seine positive Umwertung des von der Moralistik als geflihrlich gebrandmarkten 'amor di se stesso': Müssen doch gerade Dichter, "in soverchia dose" (3) mit dieser Liebe ausgestattet, das Recht in Anspruch nehmen dürfen, ausführlich über sich selbst zu sprechen. Umso mehr, als sie ein besonderes Interesse an ihrer Person vermuten können. Niemand aber ist laut Alfieri als Informationsquelle vertrauenswürdiger als der Autobiograph: Wie Rousseau betrachtet er seine Vita, die er bewußt als Itinerarium eines Schriftstellers konzipiert hat, als 'seul monument sur' seines Charakters. Wie ein bloßes Rousseauzitat nimmt sich demgegenüber die Ankündigung aus, mit dem eigenen individuellen Leben auch zum "studio dell'uomo in genere" (5) beitragen zu wollen. Dreh- und Angelpunkt der Vita bildet die Konversion des Müßiggängers zum Poeten. Entsprechend betrachtet er sein früheres Ich - analog zu Augustin, der das ruhige Herz des schreibenden Christen unablässig mit dem unruhigen des beschriebenen Gottlosen konfrontiert - unter der Perspektive eines 'noch nicht'. Aus "ineducazione" und "dissolutezze" bestand sein Leben bis zu seiner 'Bekehrung', fUr die berühmte Vorbilder - von Augustins Gartenlektüre bis zu Rousseaus "illumination de Vincennes" - offenkundig Pate gestanden haben. Dabei ist es ausgerechnet Plutarch, der den Stein ins Rollen bringt: es sind zwei aus den Bioi paralleloi wohlbekannte Figuren, Antonius und Kleopatra, die in dem melancholischen gelangweilten Lebemann, zu dem Alfieri sich stilisiert, einen nun qualitativ anderen Wahnsinn, eben einen 'furor poeticus', auslösen. In der letzten Phase einer lähmenden Liebesbeziehung, aus deren "vili catene" (143) er sich aus eigener Kraft nicht zu befreien vermag, geht Alfieri, hier ganz der Tradition exemplarischen Denkens verhaftet, die Analogie zwischen seinem Zustand und demjenigen des Antonius, den Kleopatra mit ihren Netzen umgarnt hatte, auf. Über die Verführungskünste der Königin und deren durchschlagende - fatale - Wirkung hatte Plutarch ausfUhrlich in seiner Antonius-

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Biographie berichtet. 15 Zugleich aber durchzuckt ihn die Erkenntnis, daß mit diesem Exemplum nefaster Liebe auch produktiv umzugehen sei: [... ] ed a1lora soltanto quasi come un lampo insortami la somiglianza dei mio stato di cuore con quello di Antonio, dissi fra me stesso: '[... ] in somma sviluppare in questa tragedia gli affetti che mi divorano, e farla recitare questa primavera dai comici che ci verranno.' Appena mi entro questa idea ch'io [... ] cominciai a schiccherar fogli, rappezzare, rimutare, troncare, aggiungere, proseguire, ricominiciare, ed in somma a impazzare in a1tro modo [... ]. (146)

Hier liegt der Ausgangspunkt seiner 'vita nova'. Indem Alfieri hinfort die plutarchischen Exempla in seine Tragödien verlagert, zeigt er - in einer Art Selbsttherapie - die Möglichkeit ästhetischer Bewältigung seiner Wirklichkeit auf, die freilich mangels überzeugender Alternativen zwangsläufig auf die kulturelle Vergangenheit bezogen ist: Antonius, Kleopatra, Cäsar, vor allem aber Timoleon, Brutus und Cassius erstehen neu, dem "popolo italiano futuro" ein Ansporn, die langersehnte Freiheit zu erlangen.

VI Wo Rousseau und Alfieri sich selbst in ihren autobiographischen Schriften thematisieren, wird der traditionelle exemplarische Diskurs brüchig. Sie nehmen sich nicht mehr vornehmlich als Träger vorgeordneter Qualitäten wahr, sondern haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Individualität aus Versatzstücken des Exemplarischen zu konstruieren, freilich nicht ohne dabei für sich selbst mit Nachdruck Exemplarität einzufordernP6 Rousseau, der zwischen dem Historiker und dem Romancier nur einen graduellen Unterschied sieht, verfaßt seine Confessions als romaneske Einlösung eigener anthropologischer Theoreme. Das schließt nicht aus, daß er hierfür nicht auch plutarchische Gestalten aufbietet: der Römer Fabricius führte ihm die Feder, als es galt, der Sittenverderbnis seiner Zeit ein anderes Bild entgegenzustellen. Ähnlich behandelt Alfieri, in der Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit, der nicht zuletzt

15 "Bei dem so gearteten Charakter des Antonius kam als letztes Übel über ihn seine Liebe zu Kleopatra, brachte viele Leidenschaften, die noch verborgen in ihm schlummerten, zu hellem Auftlammen, und wenn noch etwas Gesundes und Heilsames in ihm sich dem widersetzen wollte, unterdrückte und vernichtete sie das vollends" (V,324).

16 Rousseau gibt zum Beispiel an, allein zum Schutz seiner Leser die triftigen Gründe, die ihn zur Aussetzung seiner Kinder veraniaßt hätten, filr sich behalten zu haben: "Si je disois mes raisons, j'en dirois trop. Puisqu'elles ont pu me seduire elles en seduiroient bien d'autres [... ]" (1,357).

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seine Tragödien Vorschub leisten sollen, die Gestalten der Bioi paralleloi als bloßes ästhetisches Material, mit dem er den Grundstock für seine neue Identität als Schriftsteller legt.17

Literatur Alfieri, Vittorio (1951), Opere, Hg. Pietro Cazzani, Asti. Alfieri, Vittorio (1957), Le tragedie, Hg. Pietro Cazzani, Milano. Alfieri, Vittorio (1977), Vita, Hg. Giulio Cattaneo, Milano. Aristoteles (1972), Die Nikomachische Ethik, Hg. OlofGigon, München. Battaglia, Salvatore (1967), Mitografia dei personaggio, Napoli. Berschin, Walter (1983), "Sueton und Plutarch im 14. Jahrhundert", in: August Buck (Hg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance, Wiesbaden, 35-43. Boswell, James (1980), Life 0/ Johnson, Hg. Robert W. Chapman, Oxford. Costa, Simona (1983), Lo specchio di Narciso: Autoritratto di un "homme de lettres", Roma.

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Exemplarität bei Rousseau und Alfieri

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GÜNTER NIGGL

Erzählspiegel in Goethes Werther Was hat Goethe veraniaßt, im Werther (1774) seinen Helden nicht nur die eigenen Erlebnisse, Empfmdungen und Entschlüsse berichten, sondern dazwischen auch mehrere Parallelgeschichten erzählen zu lassen? War Werthers Schicksal filr sich allein nicht deutlich genug? Man könnte die Auffassung vertreten, daß die eingeschalteten Exempla filr das Verständnis der Haupterzählung nicht notwendig sind und auf den Umstand verweisen, daß die Bauerbursch-Episode erst in die zweite Fassung des Romans (1787) eingebaut worden ist. Dagegen ließe sich wieder einwenden, daß jede Einlage dem Roman durchaus einen neuen Akzent verleihen kann. Auf jeden Fall bilden Erzählspiegel in Goethes Romanschaffen lebenslang ein wichtiges und typisches Kompositionsprinzip.1 Er liebt solche Spiegelungen, weil sie ihm geeignet erscheinen, Gesinnung und Geschick des Helden durch Konfrontation mit fremden, aber vergleichbaren Schicksalen schärfer zu konturieren oder gar zu beeinflussen. Um daher den vielleicht mehrfachen Sinn der eingelegten Geschichten im Werther genauer zu erfassen, sollen im folgenden die Art ihres Einbaus, der Grad ihrer Parallelität, ihre Deutung schon im Roman selbst und ihre etwaige Wirkung auf die Haupthandlung näher untersucht werden.

Die Geschichte der jungen Selbstmörderin Das erste Beispiel ist die Geschichte der jungen Selbstmörderin (Brief vom 12. August 1771). Werther erzählt sie gegen Ende seines langen und teilweise sehr erregten Diskurses mit Albert über den Selbstmord (45-50),2 um seine These von der "Krankheit zum Tode" zu illustrieren und den Selbstmord als eine rettungslose Überwältigung der Seelenkräfte zu entschuldigen. Ausgelöst wird das Gespräch durch eine Bitte Werthers an Albert, ihm filr eine Reise seine Pistolen zu borgen, und durch eine grillenhafte Geste, mit der I

Nllheres dazu bei Hass, 1957, 100f.

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Die Seitenangaben beziehen sich aufGoethe, 1958.

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sich Werther eine dieser Pistolen an die Stirn drückt. Auch wenn der Leser Bitte und Geste an dieser Stelle noch nicht als Präfigurationen von Werthers späterem Selbstmord erkennen kann, ist die scheinbar spielerische Gebärde doch ein deutliches Vorzeichen fiir Position und Urteil Werthers in dem sich nun daraus ergebenden Disput über den Selbstmord. Albert nennt solche Tat eine Torheit und kann überhaupt jede Leidenschaft nur abwertend als Trunkenheit und Wahnsinn verstehen, während Werther sich vehement zu solch exzentrischer Haltung bekennt und sich in ironischer Predigt von allen "vernünftigen Leuten" (47) distanziert. Nach einem kurzen erfolglosen Versuch, den Selbstmord gegen die Meinung Alberts nicht als Schwäche, sondern als Kraft zu werten, springt Werther rasch zu einer neuen, fast gegenteiligen These, die den Selbstmord nicht mehr moralisch rechtfertigen, sondern nur noch als pathologisches Phänomen verständlich machen will. Werther verweist jetzt auf die Grenze menschlicher Leidensfilhigkeit und diagnostiziert eine "Krankheit zum Tode" (48), die die natürlichen Lebenskräfte unaufhaltsam verzehren muß, wenn jene Grenze überschritten wird. Indem er dabei diese Erscheinung von der Physis auf den "Geist" (48) überträgt, setzt er den Selbstmörder mit einem Fieberkranken gleich und attestiert auch ihm eine totale Ohnmacht und Willenlosigkeit gegenüber den Naturgesetzen, weshalb es unsinnig sei, ihn feige zu nennen: "Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet."(48) Diese noch recht allgemeine Defmition der seelischen Krankheit zum Tode ist so weit abstrahiert, daß sie nicht nur filr die nachfolgende Geschichte der jungen Selbstmörderin paßt, sondern Werther damit zugleich, vielleicht erst halb bewußt, sein eigenes Schicksal umreißt3 und im voraus entschuldigt. Wenn er freilich jetzt dieses Schema, weil es Albert noch "zu allgemein gesprochen" (48) ist, mit dem Beispiel der jungen Selbstmörderin filllt, muß vorerst offen bleiben, wieweit auch noch solche Konkretisation als Spiegel filr sein eigenes Schicksal taugen kann. Werther konzentriert sich in seiner kurzen Erzählung (49) ganz auf die seelischen Regungen und Empfmdungen des "guten, jungen Geschöpfes", das nach 3 Vgl. die bis in die Syntax hinein verwandte Charakteristik von Werthers Wesensart und seines daraus entspringenden Geschicks in Goethes Brief an Schönbom, l. Juni 1774: "Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: die Leiden des iungen Werthers, darinn ich einen iungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwännende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zulezt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopfschiesst." (Goethe, 1962, 161)

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bescheidenen Freuden im engen häuslichen Kreis endlich von einem ihr bisher "unbekannten GefUhl" zu einem Manne ergriffen wird, in der wachsenden Sehnsucht nach diesem einzigen die übrige Welt vergiBt und, von Versprechen und Liebkosungen ermutigt, eine "ewige Verbindung" mit ihm wünscht, weil sie darin alles Glück und alle Lebenserfilllung erhofft. In dieser höchsten GefUhlsspannung verläßt sie ihr Geliebter, und dem bisherigen Schweben in einem "dumpfen Bewußtsein" und "Vorgefühl aller Freuden" entspricht nun eine Erstarrung "ohne Sinne" vor dem Abgrund der Verzweiflung: wie sie zuvor die Welt vergessen hat, so vermag sie auch jetzt ihre Weite nicht wahrzunehmen, keinen Trost oder Ersatz zu fmden, da sie mit dem Geliebten ihr inneres Dasein verloren hat; in dieser "entsetzlichen Not ihres Herzens" stürzt sie sich in den Tod, um "alle ihre Qualen zu ersticken". Werther trägt diese Erzählung mit auffillliger Emphase vor. Lange, erregte Satzperioden korrespondieren mit anaphorischen Worthäufungen ("nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn") und lassen ein entschiedenes Engagement für die Geschichte, ja eine affektive Solidarität mit ihrer HeIdin erkennen. Diese deutliche Sympathie Werthers läßt vermuten, daß er selbst durchaus eine Parallele zwischen der fremden und der eigenen Geschichte erblickt. Um diese Parallelität zu festigen, ist er am Eingang der Erzählung bemüht, die Geschichte des Mädchens als objektiven Befund auszugeben, als stadtbekanntes Ereignis, woran er Albert nur zu "erinnern" braucht (48) und das er ihm hier lediglich "wiederholt" (49). Den Inhalt seiner Erzählung konnte aber kein Außenstehender jemals wissen oder erfahren. Vielmehr ist diese Herzensgeschichte vollständig der Phantasie Werthers entsprungen. Dieser vermag sich während seiner Erzählung in die Situation der Unglücklichen so einzufUhlen und deren seelische Empfmdungen sich so intensiv vorzustellen, daß er in dieser fremden Geschichte schließlich den eigenen Pulsschlag klopfen hört und in solcher selbstgeschaffenen Übereinstimmung die gewünschte Objektivität, ja Allgemeingültigkeit des Erzählten bestätigt glaubt. Nur so ist es erklärlich, daß Werther am Ende der Erzählung mit dem Satz: "Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen!" (49) ihren Charakter als Exemplum eigens betont. Ja, er verteidigt ihn sogar nachdrücklich, als Albert das Gehörte nur für ein "einfältiges Mädchen", nicht aber für einen "Menschen von Verstande" gelten läßt (50): da behauptet Werther pathetisch die Gleichheit aller Menschen in diesem Punkt, dergegenüber das "biBchen Verstand" nichts bedeute, "wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen" (50) - mit welchem Satz er das Gespräch vor Erregung abbrechen muß. Werther beharrt also bis zuletzt darauf, daß das von ihm imaginierte und detailliert ausgemalte Beispiel allgemeinen Modellcharakter beanspruchen dürfe. Nun wäre er freilich leicht zu widerlegen, wenn er auch die konkreten Umstände seines Beispiels für repräsentativ erklären wollte. Gerade gegenüber

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seiner eigenen Situation ergäben sich erhebliche Differenzen, die es ihm verböten, seine Erzählung noch tur einen Spiegel der eigenen Leidensgeschichte zu halten. Schon die Grundkonstellation ist jeweils denkbar verschieden: dort begründete Hoffnung auf eine durchaus mögliche ErfUllung der Liebe und des Ehewunsches, die erst durch die unerwartete Treulosigkeit des Geliebten zerstört wird, hier dagegen ständige Ungewißheit und zunehmende Hoffnungslosigkeit in der Liebe zu Lotte, die mit gleichbleibend freundlicher Distanz von vornherein keine falsche Erwartung wecken will. Wenn also Werther seine Erzählung als Exemplum fUr sich und andere verstanden wissen will, muß er von der speziellen Ausgangslage und Personenkonstellation, ja von den Charakteren der Betroffenen völlig absehen. Er muß sich aber auch nicht auf jene allgemeine Defmition der Krankheit zum Tode zurückziehen, die er kurz vor seiner Erzählung formuliert hatte. Tertia comparationis bleiben vielmehr die weltvergessene Leidenschaft tur den geliebten Menschen, eine träumerische Verzauberung und Verfallenheit und der zwingend daraus folgende Untergang. Denn auch diese noch immer relativ konkreten Merkmale der Krankheit treffen sowohl auf die junge Selbstmörderin als auch auf Werther selbst zu, der sich schon zuvor (seit dem 16. Junius) auch fUr seine eigene Person ebendieser Stufen eines unaufhaltsamen Abstiegs immer klarer, zuletzt (am 26. Julius) hellsichtig im Gleichnis des Märchens vom Magnetenberg bewußt geworden ist. Diese mittlere Linie mit ihren weder zu abstrakten noch zu speziellen Vergleichspunkten erweist also die Erzähleinlage durchaus als Spiegel fUr Werthers eigene Geschichte, der damit dem Leser deutlicher als zuvor eine Ahnung seiner düsteren Zukunft vermittelt. Solange sich Werther damit begnügt, mit Albert nur auf abstrakter Ebene über den Selbstmord zu diskutieren, kommen zwar wichtige Begriffe und Argumente zur Sprache und geben der Auseinandersetzung durchaus Konturenschärfe. Dadurch aber, daß Werther seine Auffassung vom Selbstmord als dem unausweichlichen Resultat einer Krankheit zum Tode mit einem konkreten Beispiel illustriert, wird am Ende ein leibhaftiges Schicksal gegenwärtig, das sich als lebendige Geschichte viel eher zum prophetischen Spiegelbild von Werthers eigenem Schicksal qualifiziert, als dies eine bloße These je vermöchte, zumal die makabre Geste des Anfangs und das sich steigernde Engagement des Erzählers diese Qualität zusätzlich bestätigen.

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Die Geschichte des irren Blumensuchers Wenn Werther das zweite Beispiel, die Geschichte des irren Blumensuchers (Briefe vom 30. November und 1. Dezember 1772), mit dem Ausruf "0 Schicksal! 0 Menschheit!" (88) einleitet, so weist er diesmal schon im vorhinein auf ihren repräsentativen Charakter hin, ohne daß damit schon entschieden wäre, ob es sich zugleich um ein Exemplum fiir seine eigene Situation handelt. Werther schildert im ersten der beiden Briefe zunächst seine zufilllige Begegnung mit einem "Menschen von geringem Stande" (88) auf einem seiner Spaziergänge im Tal an einem naßkalten Novembertag (88-89). Aus dem Gespräch mit ihm, in direktem Dialog vergegenwärtigt, erfilhrt Werther, daß er Blumen suche, sie aber weder im Garten noch hier zwischen den Felsen fmden könne. Die weiteren Auskünfte: daß er seinem Schatz einen Strauß versprochen habe, daß sie Juwelen und eine Krone besitze, und die Klage, daß er ein anderer Mensch wäre, "wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten" (89), machen Werther den traurigen Geisteszustand des Fremden rasch klar. Zuletzt wünscht sich der Irre in eine frühere Zeit zurück, in der ihm "so wohl" war. Von der hinzukommenden Mutter des Blumensuchers erfilhrt Werther schließlich, daß er mit dieser glücklichen Zeit jenes Jahr meine, da er "rasend" "an Ketten im Tollhause gelegen" und "nichts von sich wußte" (89). Werther, von dieser Entdeckung wie von einem "Donnerschlag" berührt, sucht in Selbstgesprächen auf dem Nachhauseweg (90) sich über die Bedeutung dieser Geschichte klar zu werden - allgemein wie für sich selbst. Zuerst stellt er sich die Frage, ob Gott es denn zum "Schicksale der Menschen" bestimmt habe, daß sie nur ohne Verstand glücklich sein können. Daraus folgt rur Werther, daß er diesen "Elenden" um seinen "Trübsinn" und die "Verwirrung seiner Sinne" nur beneiden kann, und so erblickt er im Schicksal des Irren vorerst ein Gegenbild zur eigenen Situation. Denn dieser gehe "hoffnungsvoll" auf Blumensuche ft1r seine "Königin" und begreife nicht den Grund seines Mißerfolgs; er hingegen gehe "ohne Hoffnung, ohne Zweck" hinaus und kehre ebenso wieder heim. Ja, er preist den Irren ein "seliges Geschöpf', weil er in einem äußeren Hindernis (den Generalstaaten) und nicht in seinem "zerstörten Herzen" und "zerrütteten Gehirne" den Grund für den Mangel seines Glückes suche. Werther empfmdet den Wahn dieses Irren als eine Folie, vor der ihm das eigene Elend um so trüber erscheint, da er, wie es kurz darauf der Brief vom 6. Dezember ergänzend formuliert, "eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder zurückgebracht" wird, "da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte" (92). Fast klagt hier Werther darüber, daß er nicht auch den Verstand verlieren könne, da er nur noch im Wahn und Selbstverlust das ersehnte Glück fmden zu können glaubt.

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In diesem ersten Brief erscheint also die Geschichte des irren Blumensuchers als ein Kontrast-, nicht als ein Spiegelbild rur Werthers Schicksal. Das ändert sich, sobald Werther im nächsten Brief (vom 1. Dezember 1772) (91) die auch ihn überraschende Nachricht bringt, daß der "glückliche Unglückliche" Schreiber bei Lottens Vater gewesen und aus Leidenschaft zu ihr rasend geworden sei. Werther enthält sich jeden Kommentars dazu, er bittet den Briefempfiinger Wilhelm nur, mitzufiihlen, "mit welchem Unsinne mich die Geschichte ergriffen hat". Im nachhinein wird so Wilhelm (und jeder andere Leser) aufgefordert, die zuvor gehörte Geschichte unter diesem neuen Gesichtspunkt zu verstehen. Wenn jetzt als Ursache fiir den Irrsinn des Blumensuchers eine unglückliche Leidenschaft, und überdies noch zu Lotte, bekannt wird, gewinnt die ganze Geschichte mit einem Schlag rur Werther eine bestürzende Nähe. Plötzlich wird auf eine bedrängende Weise ihr Charakter als Exemplum offenbar. Denn jetzt erscheint die Geschichte des Blumensuchers nicht nur als ein Beispiel rur die Gefahr, durch unglückliche Liebe dem Irrsinn zu verfallen. Der Umstand, daß es sich auch hier um eine Leidenschaft zu Lotte handelt, verwandelt fiir Werther das allgemeine Gleichnis in ein ihn unmittelbar bedrohendes Menetekel, das abzuwehren ihm fast schon die Worte fehlen. Und so muß offen bleiben, ob er angesichts dieses ihm schier auf den Leib rückenden Spiegelbildes den Irren noch immer um seine Unvernunft beneidet und sich nach ähnlichem Wahnglück sehnt oder ob ihn vor solcher realen Gefahr künftigen Dahindämmerns schaudert. Während die frei erfundene Geschichte der jungen Selbstmörderin trotz allen Engagements ihres Erzählers auf der Ebene der Erörterung blieb und innerhalb eines Streitgesprächs den diskursiven Zweck hatte, die Übermacht der Leidenschaft als rettungslose Krankheit zu erweisen und zu entschuldigen, verharrt diese zweite Geschichte einer Leidenschaft nicht mehr in der Theorie, sondern "ergreift" Werther als reale Geschichte aus nächster Nähe mit unmittelbarer Gewalt. Weit entfernt, nur "Symbolisierung seines Seelenzustandes" zu sein und ähnlich wie die Überschwemmungsszene eines späteren Briefes (vom 12. Dezember 1772) nur "den Hintergrund zu Werthers Stimmung" zu geben (so Gerhard [1916], 1994,32), greift die Geschichte des Blumensuchers mit der Erkenntnis ihrer bedrohlich engen Parallelität direkt in Werthers Schicksal ein und beschleunigt seine ohnehin fortgeschrittene seelische Zerrüttung, die schon nach wenigen weiteren Briefen den Herausgeber nötigen wird, das Zerbrechen der Korrespondenz durch eigene Berichte aufzufangen.

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Die Geschichte des Bauerburschen Unmittelbare Wirkung auf die seelischen Zustände des Romanhelden hat auch die dritte und umfangreichste Erzähleinlage im Werther, die Geschichte des Bauerburschen. Sie wird erst 1783/86 für die zweite Fassung (1787) geschrieben und dort in drei Abschnitten auf den Roman verteilt. Im Unterschied zu den beiden anderen Erzählungen, die als punktuelle Spiegelbilder jeweils nur an einer Stelle der Brieffolge eingelegt sind, begleitet die BauerburschEpisode als einzige Parallelgeschichte im buchstäblichen Sinn den ganzen Roman und zeigt dabei eine zur Haupthandlung analoge Entwicklung. Werther erfährt die einzelnen Phasen der Geschichte bei seinen drei Begegnungen mit dem Bauerburschen in Wahlheim; die ersten beiden Teile erzählt Werther selbst in den Briefen vom 30. Mai 1771 und vom 4. September 1772, die dritte Begegnung fmdet Anfang Dezember 1772 statt und wird vom Herausgeber in seinem Bericht an den Leser mitgeteilt.

Die erste Begegnung mit dem Bauerburschen (18-19) erlebt Werther im Frühling, und er kündigt ihre Erzählung (im Brief vom 30. Mai 1771) als "die schönste Idylle von der Welt" (17) an, als ein weiteres Zeugnis für die unverdorbene Natur seines Wahlheim, das sich Werther schon bald nach seiner Ankunft zum ländlichen Lieblingsaufenthalt erwählt hat. Wie die junge Familie, die er kurz zuvor dort kennengelernt hatte, gehört auch der Bauerbursch zu jener "Art Leuten" von geringem Stand, mit denen Werther rasch "vertraut" wird (18). So erfährt er schon im ersten Gespräch mit ihm das zarte und zugleich lebhafte Bekenntnis der Liebe des Bauerburschen zu seiner verwitweten Herrin, wobei dieser ganz unbefangen auch von der erotischen Seite seiner Zuneigung spricht. Werther gibt dieses Gespräch nur in indirekter Rede wieder und beschränkt sich dabei vielfach auf die Nennung von Stichpunkten aus der Erzählung des Knechtes und auf die Mimik des Sprechenden. Denn überlagert wird der ganze Bericht von dem Eingeständnis Werthers, daß seine eigenen "plumpen" Worte außerstande seien, die "reine Neigung" dieses Menschen, die "Zartheit" "in seinem ganzen Wesen und Ausdruck" (18) angemessen wiederzugeben. Durch solche Betonung der eigenen Sprachnot steigert Werther noch den Ausdruck seines Enthusiasmus für diese ihm bisher ungeahnte "Reinheit" der Liebe (19). Zugleich führt ihn diese Sprachnot dazu, daß er das Gehörte "nur in meiner innersten Seele wiederholen" kann. Damit wechselt er unmerklich von der Erzählung zu ihrer Wirkung auf ihn selbst und kommt am Ende folgerichtig zu dem Bekenntnis, "daß bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht, und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte" (19).

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Werther deutet damit diese erste Begegnung mit dem Bauerburschen als Teilnahme an einer "Naturerscheinung" (18), sein sentimentalischer Charakter erblickt in der Naivität dieses "sehnlichen Verlangens" ein idyllisches Idealbild der Liebe, das er selbst weder "gedacht" noch "geträumt" hat (19) und das ihn gerade wegen seiner Fremdheit fasziniert. Werthers Erstaunen bleibt aber nicht bloße Schwärmerei; vielmehr weckt das neu empfangene Bild nun auch in ihm selbst eine heftige, aber noch unbestimmte Liebessehnsucht, und diese Erweckung erhält im Zusammenhang des ganzen Romans die Bedeutung einer Initiation und inneren Vorbereitung Werthers auf seine Bekanntschaft mit Lotte, die er schon im nächsten Brief (vom 16. Junius) schildern wird. Damit erhält die erste Begegnung mit dem Bauerburschen eine wichtige Funktion für die seelische Entwicklung des Romanhelden (vgl. Hass, 1957, 110), und darin liegt zugleich der Exemplum-Charakter dieses ersten Abschnitts der Bauerbursch-Episode begründet. Denn wie schon in den anderen Beispielen ist der Unterschied, ja Gegensatz in den einzelnen konkreten Umständen und Verhältnissen zwischen Haupthandlung und Parallelgeschichte für deren Tauglichkeit als Exemplum unerheblich. Wesentlich ist, daß Werther dank des Idealbildes der Liebe, das er sich aus dem Bekenntnis des Bauerburschen geschaffen hat, auch selber für ein solch reines und zartes Erlebnis empflinglich geworden ist. Die zweite Begegnung mit dem Bauerburschen fmdet erst im Herbst des folgenden Jahres statt (Brief vom 4. September 1772). In der Zwischenzeit hat Werther nach wenigen glücklichen Sommerwochen im Umgang mit Lotte eine wachsende Unruhe und Verzweiflung in seiner Liebe zu ihr erfahren, seine Flucht in die Tätigkeit bei der Gesandtschaft in der Residenz hat keine Rettung gebracht, sondern endet mit der verhängnisvollen Rückkehr zur inzwischen mit Albert verheirateten Lotte im Sommer darauf. Es ist keine Rückkehr zum vorjährigen Glück, vielmehr ein Rückfall in jene willenlose Verzauberung, aus der sich Werther ein Jahr zuvor durch abrupten Abschied hatte befreien wollen. Auch ist die Freundschaft zu Albert einem gespannten Verhältnis gewichen; das Eifersuchtsmotiv, schon im Hochzeitsglückwunsch (20. Februar) hörbar, tritt jetzt sehr stark hervor und steigert sich bis zum Traum von Alberts Tod (21. August). Entsprechend erscheint Werther nun auch die vertraute Umgebung entfremdet: "Alles, alles ist vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines damaligen Gefühles." (76) Selbst sein geliebtes Wahlheim wird ihm jetzt zum "Ort des traurigen Andenkens" (76). Denn sowohl seine Wiederbegegnung mit der jungen Familie (4. August) als auch mit dem Bauerburschen (4. September) bestätigen ihm die Verwandlung der Welt ins Düstere, und zwar nicht nur auf Grund seines subjektiven Empfmdens sondern auch auf Grund objektiver Tatsachen.

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Gerade dies berechtigt Werther, zum Auftakt seines Berichts über die zweite Begegnung mit dem Bauerburschen (77-78) ihrer beider Schicksale unter dem Bilde der vorgerückten Jahreszeit gleichzusetzen: "Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen." (76-77) Der erste Satz betont das gemeinsame Sinken der beiden Lebensbogen, der zweite Satz deutet zudem einen zeitlichen Vorsprung der Parallelhandlung an. Dem entspricht die Geschichte des Unglücks, das inzwischen über den Knecht hereingebrochen ist: Seine täglich wachsende "Leidenschaft zu seiner Hausfrau" habe ihn endlich so verwirrt, daß er "sich ihrer mit Gewalt [habe] bemächtigen wollen" (77), worauf er von ihrem Bruder, der ihn wegen des drohenden Erbverlustes ohnehin gehaßt habe, aus dem Hause gestoßen worden sei; doch sei er entschlossen, ihre mögliche Heirat mit einem neuen Knecht nicht zu erleben. Auch diese Geschichte gibt Werther nur in indirekter Rede wieder und läßt dabei den Knecht das karge Handlungsgerüst mit einem ausfilhrlichen Bekenntnis seines willenlosen Getriebenseins ("wie von einem bösen Geist verfolgt", "er wisse nicht, wie ihm geschehen sei", 77), aber auch mit lebhaften Beteuerungen seiner redlichen Absichten und seiner unverbrüchlichen Liebe filllen. Darüber hinaus betont Werther selbst die schüchterne und doch offene Art dieser Beichte und gesteht erneut seine Unfähigkeit, "mit unsem hergebrachten sittlichen Worten" (78) die Treue und Aufrichtigkeit dieses urwüchsigen Menschen recht vorzustellen. Denn nach wie vor erblickt Werther bei dieser unverbildeten Natur die Leidenschaft "in ihrer größten Reinheit" (78) verwirklicht, mehr denn je erscheint ihm hier das Musterbild des Liebenden. Warum noch immer diese Verklärung? Werther ist deshalb so fasziniert, weil er im Wesen des Bauerburschen deutlicher als zuvor diejenigen Tugenden verkörpert fmdet, die auch filr ihn lebensbestimmende Werte sind: Unbedingtheit und Geradlinigkeit. Zu dieser Bewunderung tritt ein tiefes Mitgefilhl filr den Unglücklichen, weil dessen Verfallenheit an die geliebte Frau und seine Eifersucht auf den Nebenbuhler Werther gleichfalls an die eigene Situation erinnern. Schon in diesen Punkten kann also Werther auch den zweiten Teil der Episode als Exemplum filr sich selbst bestätigt sehen, zumindest filr seine bisherige Geschichte. Diese filr die Vergangenheit und Gegenwart gültigen Parallelen zieht Werther nun aber weiter in die eigene Zukunft, wenn er am Schluß seines Berichts an Wilhelm das allgemeine Resümee, "daß es auch die Geschichte deines Freundes ist", durch den Zusatz: "Ja so ist mir's gegangen, so wird mir's gehn" präzisiert (79). Denn die Erzählung des Bauerburschen hat ihn nicht nur "gerührt", sondern "ängstigt" ihn auch (77). Der gewalttätige Ausbruch der Leidenschaft, die schimpfliche Verbannung von der Geliebten und nicht zuletzt der Entschluß, den Erfolg des Rivalen nicht zu erleben, sind Aspekte der fremden Geschichte, die Werther filr seine eigene Zukunft filrchten lassen. Im Unglück des Knech-

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tes erkennt Werther die notwendigen Folgen jener ihnen beiden gemeinsamen Unbedingtheit und muß daher in der fortschreitenden Geschichte seines Leidensgenossen immer klarer das eigene Schicksal vorgebildet fmden. Dabei sieht Werther wie schon bei der ersten Begegnung von den eklatanten Unterschieden in den äußeren standesbedingten und ökonomischen Umständen und Personenbeziehungen4 bewußt ab und beachtet nur die gemeinsamen GrundzUge in Wesensart und Geschick. Dies gilt nur zum Teil auch für die dritte und letzte Begegnung mit dem Bauerburschen. Sie fmdet bei einbrechendem Winter, Anfang Dezember 1772, statt, wird aber nicht mehr von Werther selbst erzählt, sondern vom Herausgeber seiner Briefe in den Anfang des langen, abschließenden Berichts über die letzten Tage des Romanhelden eingelegt. Damit nimmt die Bauerbursch-Episode als einzige Parallelgeschichte im Werther an dem Erzählerwechsel teil, der sich durch den Herausgeberbericht am Ende des Romans vollzieht. Dabei wird die subjektive Ich-Perspektive Werthers durch eine auktorial-allwissende Ich-Perspektive des Herausgebers abgelöst. Dieser gibt zwar vor, daß ihm nur übrig bleibe, "dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe erfahren können, gewissenhaft zu erzählen" (92f.); in Wirklichkeit aber kennt er sogar die geheimsten Gedanken und Regungen der Beteiligten einschließlich Werthers,s so daß durch den Wechsel der Erzähler die intime Sicht Werthers nicht verlorengeht, sondern innerhalb der auktorialen Perspektive des Herausgebers erhalten bleibt. Mit dem Wechsel der Erzähler fmdet also nicht so sehr ein Wechsel der Perspektiven als ihre Verdoppelung statt. Aus diesem Grunde ist der Herausgeberbericht im Unterschied zu den Briefen Werthers in der Lage, konträre Wertakzente bei der Beurteilung der Charaktere und des Geschehens einander gegenüberzustellen, welche Möglichkeit er gerade in der zweiten Fassung des Romans nach Kräften nutzt. Im Falle der Schlußphase der Bauerbursch-Episode werden dabei die verschiedenen Ansichten so kunstvoll ineinander verschränkt, daß wir im folgenden Schritt ftlr Schritt vorgehen müssen, um die exemplarische Bedeutung dieser Schlußphase für die Geschichte Werthers recht zu erfassen. Die dritte Begegnung mit dem Bauerburschen baut der Herausgeber in einen neu hinzugefügten Besuch Werthers im Jagdhause des Amtmarms ein. Der Weg dorthin wird mit einem Selbstgespräch Werthers gefilllt, das ganz vom Motiv der Eifersucht gegen Albert beherrscht ist. Im Hause selbst erfiihrt Werther von einem Mord in Wahlheim und karm aus den Nachrichten schließen, daß dort der ihm bekarmte Bauerbursch zum Mörder an seinem Rivalen ge4

Vgl. dazu im einzelnen Flaschka, 1987,202.

5 Es trifft also nicht zu, daß in der zweiten Fassung des Romans "die Allwissenheit des Erzählers abgeschafft wird" (so aber Welz, 1973,56).

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worden sei. Werther muß erkennen, daß die gleiche Empfmdung, die ihn im Augenblick selbst erfilllt, in der Geschichte des Bauerburschen soeben ihre letzte, furchtbare Konsequenz gezogen hat. Es ist darum verständlich, daß er sofort und in großer Erregung nach dem Dorfe aufbricht, wo noch vor seiner letzten Begegnung mit dem Bauerburschen ihr Schauplatz geschildert wird, den sie mit der ersten Begegnung gemeinsam hat: vor dem damals so idyllischen Ort muß sich Werther "entsetzen", weil er nun "mit Blut besudelt" ist (95), und statt eines Frühlingstages unter Linden bildet ein schneebedeckter Kirchhof die symbolische Kulisse. Dem entspricht das knappe, wertende Resilinee über die gesamte Episode, noch bevor sich Werthers Vermutung bestätigt: "Liebe und Treue, die schönsten menschlichen Empfmdungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt." (95) Dieses lapidare, die Schlußszene vorwegnehmende Urteil kann sowohl vom unheilahnenden Werther als auch vom auktorialen Herausgeber stammen. Ob Werther damit auch seinen eigenen Lebensbogen vorgezeichnet fmdet, bleibt ungewiß; sicher aber ist, daß der Herausgeber hier auf das Ende des Romans vorausdeutet, insofern er nämlich auch den Selbstmord als eine gewalttätige Konfliktlösung betrachtet. Wenn nunmehr der Bauerbursch gefangen herbeigefUhrt wird und auf die Frage Werthers nach seiner Tat "ganz gelassen" antwortet: "Keiner wird sie haben, sie wird keinen haben" (95), ist Werther vor allem vom Motiv der Tat getroffen, das ihn mit dem Bauerburschen so stark verbindet. Nur so ist die überraschende Reaktion Werthers verständlich, von dem es heißt, daß er "durch die entsetzliche, gewaltige Berührung" aus seiner Lethargie "auf einen Augenblick herausgerissen" und von einer "unsäglichen Begierde" ergriffen worden sei, "den Menschen zu retten", weil sein tiefes Mitgeftlhl mit dem Unglücklichen diesen auch als Verbrecher "schuldlos" gefunden habe (96). Denn inzwischen ist auch Werther selbst so stark von den Empfmdungen der Eifersucht beherrscht, daß er nicht nur ftlr die gleichen Geftlhle des Bauerburschen, sondern auch ftlr die daraus entspringende Mordtat Verständnis aufbringt, statt sie wie den früheren Gewaltversuch des Knechtes als ein schlimmes Zeichen ftlr die eigene Zukunft zu nehmen und sich davor zu ängstigen. Ja, er faßt sogar den Vorsatz, den Bauerburschen zu verteidigen, und fUhrt nach der Rückkehr ins Jagdhaus ein heftiges Gespräch mit dem Amtmann und Albert, womit der Herausgeber die Gelegenheit schafft, Werthers Meinung direkt mit gegenteiligen Ansichten zu konfrontieren. Denn wenn Werther jetzt "mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit" den Täter zu entschuldigen sucht, erfährt er sofort den "eifrigen" und tadelnden Widerspruch des Amtmanns, der umgekehrt das Gesetz und die "Sicherheit des Staats" verteidigt (96). Auch Albert tritt auf die Seite des Amtmanns und nicht zuletzt der Herausgeber selbst, wenn er mit der Parenthese "wie sich's leicht denken läßt" (96) den Widerstand des Amtmanns ankündigt und damit nicht nur selbst dessen Position als die normale und vernunftgemäße betrachtet, sondern das glei14 Engler I MUller

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che Urteil auch vom Leser erwartet (vgl. Welz, 1973,47). Damit isoliert der Herausgeber Werthers bedingungslose Solidarität mit einem Mörder gegen die Auffassung aller Beteiligten und lehnt sie wie alle anderen als unvernünftige und gefiihrliche Verstiegenheit ab. 6 Erklärlich wird diese eindeutige Kritik an Werthers Haltung aus einem Vergleich mit seiner bisherigen Reaktion auf die Parallelgeschichte. Bei seinen früheren Begegnungen hatte er die Bauerbursch-Episode immer nur auf einer allgemeinen, halb abstrahierenden Ebene als Exempel der eigenen Geschichte verstanden, indem er die äußeren Umstände und Fakten unbeachtet und nur die Grundzüge in Charakter und Schicksal als Vergleichspunkte gelten ließ. Jetzt aber solidarisiert er sich nicht mehr nur mit der Gesinnung des anderen, sondern auch mit deren konkreten Folgen und verläßt damit die bisherige Vergleichsebene. Zudem vertraut er dieses Engagement nicht mehr einsamen Briefen an, sondern bekundet es in direkter, zielgerichteter Auseinandersetzung mit einer Amtsperson. Durch diese beiden Schritte überanstrengt er die Beispielgeschichte und muß - analog zum Bauerburschen - mit der gesetzlichen Gegenseite in Konflikt geraten. Werther wird überstimmt und kehrt daraufhin zum einsamen schriftlichen Bekenntnis zurück. In einer vereinzelten, erst im Nachlaß auf einem "Zetteichen" gefundenen Notiz greift er den wiederholten Ausspruch des Amtmanns über den Mörder: "Nein, er ist nicht zu retten!" (96) wieder auf: "Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! ich sehe wohl, daß wir nicht zu retten sind." (97) Mit der Hereinnahme des "nicht zu retten" ins gleichsetzende "wir" hebt er die Unrettbarkeit beider ins Grundsätzliche und bezieht sie dabei nicht nur auf die gemeinsame Situation der unglücklichen Liebe (vgl. Flaschka, 1987, 207), sondern auch auf die sie verursachende gemeinsame Haltung der Unbedingtheit, die in beiden Fällen zum Untergang fUhren muß. So kehrt Werther in diesem kurzen Fazit am Ende der Bauerbursch-Episode zur adäquaten Identifikation auf mittlerer Ebene zurück, was der Herausgeber denn auch ohne jede Kritik, ja ohne Kommentar registriert.

6 Dieter Welz (1973, 46f.) hat gezeigt, daß Werthers Plädoyer den neuen Humanismus der zeitgenössischen Rechtslehre und Gerichtspraxis repräsentiert, wie ihn eine historische Skizze des damaligen ]ustizwesens in Dichtung und Wahrheit erläutert: "Gefllngnisse wurden gebessert, Verbrechen entschuldigt, Strafen gelindert" (Goethe, 1959, 565). Der kurz darauf zusammenfassende Satz: "ein Damm nach dem andem ward durchbrochen" (ebda, 566) zeigt dabei den rückblickenden Goethe auf der gleichen Seite, auf der im Roman Amtmann, Albert und Herausgeber stehen. - Die abwegige These Peter Müllers (1969, 231), Werther wolle den Bauerburschen in einem die Standesgrenzen überschreitenden "Altruismus" vor der "feudalen Macht und Gesetzlichkeit" retten, hat schon Flaschka (1987, 204f.) widerlegt.

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Zugleich gehört diese Notiz in eine Reihe von Ausrufen ("ich bin dahin!", "mit mir ist's aus": 85,91), die seit Anfang November in den Briefen Werthers begegnen und immer deutlicher sein tragisches Ende ankündigen. Bisher standen solche Äußerungen im Zusammenhang seiner Verfallenheit an Lotte, jetzt sieht Werther seinen unaufhaltsamen Niedergang auch durch das Exemplum der Bauerbursch-Geschichte bestätigt. Darüber hinaus aber wirkt wie die früheren Phasen der Episode auch ihr Schluß unmittelbar auf die Haupthandlung, indem sie den Tod des Helden beschleunigt. Denn der Herausgeber weiß zu berichten, daß der vergebliche Rettungsversuch "das letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden Lichtes" gewesen und Werther danach "desto tiefer" in seine Apathie zurückgesunken sei, worin er sich endgültig seiner "wunderbaren Empfindung" und selbstzerstörerischen Leidenschaft hingegeben habe und so einem "traurigen Ende" immer näher gerückt sei (98). In der ersten Fassung des Romans hatte der Herausgeber für diesen Rückfall in die Untätigkeit den Verdruß bei der Gesandtschaft verantwortlich gemacht, in der zweiten Fassung tritt an dessen Stelle der Mißerfolg in der Sache des Bauerburschen, allerdings nur als letztes Glied in der Reihe aller Kränkungen und Vergeblichkeiten, die Werther jemals in seinem wirksamen Leben hatte erfahren müssen und an die er sich angesichts des jüngsten Mißlingens wieder erinnert. So wird die Depression über den vergeblichen Rettungsversuch zwar nicht, wie Müller (1969, 231) gemeint hat, zum Anlaß für Werthers "endgültigen Selbstmordentschluß" (diesen führt erst das vorletzte Gespräch mit Lotte am Sonntag vor Weihnachten herbei: 102f.), wohl aber füllt sie das Maß seiner Leiden an der Welt und treibt ihn endgültig in den lethargischen Zustand der "Lebensmüde" (98), worin sein schon lange gehegter Wunsch reifen wird, diese Welt zu verlassen.

* Überblickt man am Ende die drei untersuchten Beispielgeschichten der jungen Selbstmörderin, des irren Blumensuchers und des Bauerburschen und fragt nach ihrer generellen Bedeutung für den Roman und seinen Helden, so kann man festhalten: Jede der drei Einlagen erzählt die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die zur Katastrophe führt. Doch sind die Charaktere und Lebensumstände ihrer Hauptgestalten derart verschieden, daß auch ihre Schicksale weder untereinander noch mit Werthers Leiden vergleichbar scheinen. Dennoch empfmdet und deutet Werther jede der drei Geschichten als Exemplum für sein eigenes Schicksal. Es ist ihm möglich, weil er von den evidenten Unterschieden in den äußeren Umständen und Personenbeziehungen absieht und nur die Grundzüge in Wesensart und Geschick beachtet, die er mit der jeweili14·

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gen Beispielfigur gemeinsam hat, so daß er auch die Katastrophen der Parallelgeschichten als Gefahren für die eigene Zukunft fUrchtet. Nun hat man vor allem in Untersuchungen der Bauerbursch-Episode des öfteren die Auffassung vertreten, Goethe habe diese Geschichte in den Roman eingefügt, um im Sinne seiner späteren Tendenz zur Typisierung das Schicksal Werthers "in die Reihe menschlicher Geschicke überhaupt" zu stellen, es "als etwas allgemein Menschliches erscheinen zu lassen".1 Eine solche Deutung träfe sicher zu, wenn ein auktorialer Erzähler Haupt- und Seitenhandlung nebeneinandersteIlte und damit beide stillschweigend typisierte. Komplizierter wird jedoch die Sachlage, wenn der Held der Haupthandlung selber die Seitenhandlung erzählt und auch deutet. Dann ist genau darauf zu achten, ob und wieweit der Betroffene selbst mit dem von ihm erzählten Beispiel die eigene Geschichte verallgemeinern will. Im Falle Werthers wäre also zu fragen, ob er das Exemplarische der fremden Geschichten deshalb so stark betont, weil er die eigene exzentrische Haltung und Situation als eine allgemein menschliche Erscheinung darstellen, d.h. relativieren und also entschuldigen will. Eine solche apologetische Intention wird tatsächlich im Streitgespräch mit Albert spürbar; Werther behauptet dort im Anschluß an die Geschichte der jungen Selbstmörderin eine allen Menschen gemeinsame Grundsituation des Beispiels, um seine Auffassung von der Unvermeidlichkeit des Selbstmords zu begründen und zu verteidigen. Aber schon die Geschichte des irren Blumensuchers wird für Werther erst zum Exemplum, als er von dessen Leidenschaft zu Lotte erfiihrt. Hier handelt es sich also um eine ganz spezifische Parallele, die keine Verallgemeinerung zuläßt. Vielmehr entdeckt Werther im Blumensucher einen Leidensgenossen, dessen extreme Liebesverzweiflung ihn ausschließlich an die eigene Situation erinnert und in seinen Augen nur sie beide miteinander vergleichen läßt. Hingegen scheint dem Bericht über das Unglück des Bauerburschen (nach der zweiten Begegnung) wieder eine apologetische Absicht zugrunde zu liegen. Bei genauerem Zusehen wird jedoch deutlich, daß Werther hier zwar die ihm und dem Knecht gemeinsame Haltung der Unbedingtheit rechtfertigt, aber weder von dieser Gesinnung noch von ihren Folgen behauptet, sie seien allgemein und repräsentativ. Vielmehr ist er von der Vergleichbarkeit ihrer beider Schicksale überrascht und bestürzt, weshalb es ihn auch "besonders zu diesem Unglücklichen hinzieht" (78). Wenn Werther ihrer beider Geschichten gleich1 So schon Gerhard [1916], 1994, 31, der sich F1aschka, 1987, 201 anschließt. Vgl. auch Lämmert, 1955, 55, der das Zusammenspiel von Haupt- und Seitenhandlung als Manifestation eines "überpersönlichen Lebensgesetzes" deutet, und Müller, 1969, 230, rur den der Einbau der Episode dem Schicksal Werthers den "Sondercharakter" nimmt und es "zum Schicksal der gesamten von der Feudalgesellschaft bedrückten [... ] Nation verallgemeinert".

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setzt, geschieht es nicht, um ihre allgemein menschliche Repräsentanz zu behaupten, sondern um ihr gemeinsames Außenseitertum zu betonen. Das Exzentrische der eigenen Situation wird also durch das verwandte Beispiel nicht abgeschwächt oder gar geleugnet, sondern bekräftigt und seine Bedrohlichkeit durch den Ausblick in die Zukunft noch gesteigert. Das gleiche gilt für die letzte Begegnung mit dem Bauerburschen nach der Mordtat. Denn Werthers Resümee, "daß wir nicht zu retten sind" (97), gilt wieder nur für sie beide, nicht filr jeden unglücklich Liebenden, geschweige für den Menschen allgemein. Und erst recht beabsichtigt der auktoriale Herausgeber in seinem Bericht über den Schluß der Episode nirgends eine Typisierung. Gerade in der zweiten Fassung des Romans übt er ja deutlich Kritik an Werthers Solidarität mit dem Mörder und ist bemüht, ihn als extremen Charakter zu isolieren. Damit betont auch der Herausgeber die Nähe Werthers zum Bauerburschen; im Maße er jedoch ihre Vergleichbarkeit als zweier exzentrischer Naturen erhöht, entfernt er sie zugleich beide von der allgemein menschlichen Situation. Somit gibt Werther nur der von ihm selbst erfundenen Geschichte der jungen Selbstmörderin eine generelle Bedeutung; die beiden anderen, von Werther als real erfahrenen Geschichten sind für ihn überraschende Spiegelbilder der eigenen Extremsituation und gelten als Beispiele nur filr ihn selbst. Erst solche Exklusivität verleiht diesen Parallelgeschichten dann auch die Kraft, die Haupthandlung zu beeinflussen, so daß sie nicht nur Erzählspiegel mit bestätigender oder vorausdeutender Funktion bleiben, sondern an ihrer jt; besonderen, für das Romangefilge bedeutsamen Stelle eine unmittelbare Wirkung auf Werthers seelische Entwicklung und den Fortgang seines Schicksals ausüben. Damit werden diese Exempla integrierende Teile des Romans, die den Charakter des Helden, die Atmosphäre seiner Welt und den Weg zu seinem tragischen Ende mitgestalten.

Literatur

Flaschka, Horst (1987), Goethes Werther: Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München. Gerhard, Melitta (1994), "Die Bauerburschenepisode im Werther", Zeitschrift für Asthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11, 1916, 61-74. - Wieder in: Hans Peter Herrmann (Hg.), Goethes Werther: Kritik und Forschung, Bd. 607: Wege der Forschung, Darmstadt, 23-38.

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Goethe, Johann Wolfgang von (1958), Die Leiden des jungen Werther [Zweite Fassung, Erstdruck 1787], in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz. Bd. 6. 3. Auflage. Hamburg, 7-124. Goethe, Johann Wolfgang von (1959), Autobiographische Schriften. Erster Band: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1.-13. Buch, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz. Bd. 9. 3. Auflage. Hamburg. Goethe (1962), Briefe der Jahre 1764-1786, in: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hg. Karl Robert Mandelkow. Bd. 1. Hamburg. Hass, Hans-Egon (1957), "Werther-Studie", in: Richard Alewyn, Hans-Egon Hass und Clemens Heselhaus (Hgg.), Gestaltprobleme der Dichtung, Bonn, 83-125. Lämmert, Eberhard (1955), Bauformen des Erzählens, Stuttgart. Müller, Peter (1969), Zeitkritik und Utopie in Goethes Werther, Germanistische Studien, Berlin. Welz, Dieter (1973), Der Weimarer Werther: Studien zur Sinnstruktur der zweiten Fassung des Werther-Romans, Bd. 135: Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bonn.

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Joel Barlows "Dissertation on the Genius and Institutions ofManco Capac" als historisches Exemplum Als Joel Barlow (1754-1812) nach sechzehn Jahren in Europa 1804 als berühmter und reicher Mann in seine Heimat zurückkehrte, boten ihm Präsident Jefferson und sein Secretary of State James Madison an, Archive zu öffnen und ihre eigenen Papiere für eine Geschichte der amerikanischen Revolution zur Verfügung zu stellen. Barlow zog es vor, eine weitere Fassung seines 1787 als The Vision 0/ Columbus erschienenen Gedichts fertigzustellen. The Columbiad: A Poem erschien 1807. James Woodress als Barlows Biograph kommentierte: "The event was parturition with great labor - a literary anticlimax but a graphic arts triumph" (1958, 245). Ein solches Urteil in einer noch lange als "standard" angesehenen Biographie (z.B. Camfield, 1986, 142, n.2) wiegt schwer. Auch war der Prachtband wirklich ein Werk der Eitelkeit, dessen Antiquariatspreis noch anderthalb Jahrhunderte unter dem Neupreis von $ 20 lag! Bei der Klage über die versäumte Gelegenheit wird Woodress eloquent: "Vanity and lost opportunity! Barlow squandered his months in fanning the thin, feeble coals of poetic fITe when he might have been writing the history of the United States" (245). Läßt sich die Ironie angesichts der letzten Fassung noch nachvollziehen, macht das Urteil über die erste nachdenklich: "In view of Barlow's hard work and eventual triumph one hates to introduce a discordant note. But the fact remains that the Vision 0/ Columbus is a dinosaur in the clay pits of literary history" (86). Könnte es sein, daß Prestige nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft von der Literatur eine Rolle spielt, daß Amerikaner sich ihrer frühen Literatur schämen? Wird das Prestigemotiv, das unsere gesamte Untersuchung durchzieht, von der akademischen Kritik systematisch übersehen oder unterschätzt, dann ließe sich das nur mit dem Heideggersatz erklären, daß das ontisch Nächste das ontologisch Fernste ist. Woodress' Urteil trifft die gesamte erste Dichterschule, die Hartford oder Connecticut Wits, die von den Zeitgenossen auch schon mal als "Wicked Wits" apostrophiert wurden: "They wrapped their poetic mantles about them, retired to their ivory towers, and spun out attenuated verse suitable only for wall hangings in museum attics. They never managed to establish the link

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between literature and life" (86). Es geht nicht falscher. Man ist versucht, nach dem tu-quoque-Prinzip zu urteilen und dem Biographen vorzuwerfen, er habe seine Energien verschwendet und hätte statt der vierten oder fünften Biographie über Barlow besser die vierzigste oder fünfzigste über einen seiner Mühe würdigen Autor schreiben sollen. Ein Blick in die Literaturgeschichten vom ersten Band der alten Cambridge History 0/ American Literature (1917) bis zum ersten der neuen (1994) gleichen Titels zeigt uns das Dilemma einer Literaturgeschichte, die Geschichte der Literatur schreiben möchte, aber von der Geschichte - den historischen Ereignissen - immer wieder gestört wird. Im Falle Barlows entsteht eine Diskrepanz zwischen seiner Allgegenwart als öffentliche Persönlichkeit, vom Ende der amerikanischen Revolution bis zum Rückzug Napoleons aus Moskau, und dem mangelnden Unterhaltungswert seiner Kolumbiaden. S. M. Tucker läßt eine der Irritationen des geplagten Literarhistorikers heraus: "Outrageously long poems on aesthetic subjects were rife in America toward the close of the [eighteenth] century" (CHAL I, 165). Er bewundert Barlow: "No other member of the Hartford group, indeed no other man of letters of his time, lived a life so active and varied as Joel Barlow" (169). Er berichtet wahrheitsgemäß von dem Erfolg des amerikanischen Autors in England und Frankreich und urteilt dennoch: "Barlow was misled by his temporary success into the fatal error of expanding the 4700 lines into the 8350 lines of The Columbiad' (170). Schon 1792 hatten englische Freunde dem Autor geraten: "Surely if the Poem could be reduced to six Books it would be better: and if it was then printed in Quarto it would cut a more respectable Appearance. The Dissertation on Capoc [sie] might then be placed as an Appendix at the End, where I think it would look better than in the middle ofthe Poem" (Leary, 1949,331). Der Streit, ob The Vision o/Columbus oder The Columbiad das bessere Gedicht sei, oder gar die lange Zeit unbeachtete fünfte Auflage von 1793 (Paris), für die sich Arthur L. Ford stark gemacht hat (Ford, 1971,68-74), ist relativ müßig. Es mangelt an Zeugnissen, daß eine der Fassungen imstande war, ästhetisches Vergnügen hervorzurufen. Kenneth Silverman, der am meisten dazu beigetragen hat, die Vision von 1787 zu rehabilitieren, gibt zu: "The originality [ ... ] is undeniable, but it is also largely synthetic. Barlow formed his response to specific postwar issues out of material then at hand but now virtually forgotten" (Silverman, 1976,521). Er setzt sogar noch einmal nach mit: "Like the America it defends, Barlow's epic is an impure, embryonie work, seen most clearly in hindsight" (536). Als sprachliche Kunstwerke sind alle Fassungen bestenfalls mittelmäßig; Barlow selbst hat es gewußt. Die Auseinandersetzung, die in Joseph Dennies Zeitschrift The Port Folio über The Columbiad erschien, hat die rein ästhetischen Optionen so gut wie erschöpft. Eine erste Kritik aus amerikanischer Feder (Anon., Jan. 1809), vom Herausgeber vier Monate spä-

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ter als "caustic criticism" (Series III, Vol. I, 432) charakterisiert, ist schon so ironisch wie Woodress: "Our readers will doubtless perceive from this brief analysis, what the readers of the Columbiad may leam from a much more laborious operation, that the poem, however brilliant in its parts, must necessarilyas a whole be devoid ofinterest" (62). Der anonyme Verfasser betreibt mit Barlows nationalem und humanitärem Pathos, was man später als "debunking" bezeichnen sollte und nimmt, schaudernd-ahnend, das Zeitalter von P.T. Barnum vorweg: Mr. Barlow's work is a sort of poetical magic lantem; and while ten thousand gaudy figures dance rapidly along the wall of Columbus's dungeon, the Genius of America kindly officiates as a showman [... ]. Presently a map ofNorth America flits before us; and then come Washington and Manco Capac, the river Delaware and Lord Comwallis, the Genius of Cruelty, and General Greene. They 'come Iike shadows, so depart,' leaving the mind bewildered and the memory confused. (62-63)

Ernsthafter, aber immer noch schneidend, artikuliert der Kritiker "our decided disapprobation of the argument of Mr. B's poem" und bietet, obwohl er dazu nicht verpflichtet sei, ein besseres an: "We would advise him to follow where Virgilleads the way" (64). In der Tat erschiene ein Epos als GrUndungsmythos angemessen fUr eine Zeit, in der sich die amerikanische Republik konsolidiert hatte. Von den einzelnen Ratschlägen des Kritikers artikuliert der letzte, was wir schon mehrfach gehört haben: "Finally, perhaps, the future glories of America might be opened in splendid vision to the hero, and that brilliant story, which is now feebly expanded through ten long books, might shine with condensed lustre in a single canto" (64). Anstelle von Taten und Leiden eines Helden werden wir mit Geographie geflittert: "At length a total indifTerence, bordering on disgust, creeps upon us" (65). Warum die amerikanische Erde Barlow so teuer ist, weiß der Kritiker nicht oder will es nicht wissen; vom Standpunkt der Ästhetik aus ist er nicht dazu verpflichtet. "Next after geography, philosophical declamation seems to be Mr. B.'s favourite employment for his muse" (66). Der Kritiker verbirgt nicht seinen Abscheu vor einer ganzen Richtung, die ihm nicht paßt; zwar fmdet er "original and ingenious theories" im Gedicht, aber auch "the cant of the Darwinian and Parisian schools" (66). Seine Kritik an der Diktion und an der Verskunst interessiert hier nicht, bis auf seine Breitseite gegen Barlows Neologismen: Then he thunders upon us with his crasse, condependent, cosmogyre, cosmogyral, colon (not in a grammatical or anatomical sense, but in a French idiom, for cultivator, colonist) croupe, role, fluvial, multifluvian, brume, impa1m, beamful, fulminents, imbeaded, ludibrious, and many more, which, to pronounce, would require the lungs of Stentor, and the mouth of Garagantua [sic). (68)

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Der Kritiker schließt mit dem wenig schmeichelhaften Kompliment, "our American bard" gehöre nicht "to the rank ofthe DU majorum gentium ofpoetry" (68), aber auch nicht auf das Niveau der Helden der Dunciad. In einer langen Vorbemerkung zur zweiten Kritik (Anon., Mai 1809) hat der Herausgeber, dessen ultrareaktionäre Einstellung nicht unbekannt war - er hielt die Unabhängigkeit zumindest filr eine kulturelle, wenn nicht gar politische Katastrophe - , den Verdacht von sich gewiesen, er habe den "caustic criticism" gebracht, um "an American production" schlecht zu machen (433); "in our unbiased opinion, we think most ofhis strictures perfectly correct [... ]" (432). Ästhetische Kritik und Engagement filr die Nationalkultur sind nicht Gegensätze: "The Port Folio most manifestly is, in all strictness, a Literary Journal, expressly intended to aggrandize the national character" (433). Um die andere Seite zu hören, wird ein Artikel aus der britischen Zeitschrift The Monthly Magazine nachgedruckt: "The public, after hearing both critics, will be prepared to decide the question, and from that opinion there is no appeal" (433). Der britische Kritiker bringt ein Argument, das spätere amerikanische Nationalisten benutzt haben: Amerika ist selbst ein Poem; der Nachsatz - also braucht der Dichter nichts zu können - wird nicht immer ausgesprochen. "Tbis magnificent work" werde im Rahmen der Modeme nur von Paradise Lost übertroffen. In der Gattungsfrage schließt sich der Kritiker dem Dichter an, der sein Werk als "a patriotic poem; the subject is national and historical" vorgestellt hatte. Was Addison zu Paradise Lost gesagt hat, trim auch auf The Columbiad zu: "If it is not an epic poem, it is something better" (435). Wo der amerikanische Kritiker nur angeödet ist, urteilt der britische: "It may now be said that the mountains and rivers of the new world have been better sung than those of the old" (436). Die Darstellung der peruanischen Ereignisse gefällt; 1000 Zeilen mit "a variety ofheroic action, savage manners, sublime scenery, and a beautiful sentiment" (437). So geht es weiter bis zum Höhepunkt der Bücher IX und X: "Tbe ninth dweIls on what is past, the tenth is on the future; and nothing can excel the grandeur of these views, of the philanthropy and benevolence of the sentiments" (439). Nur die I1ias, die Aeneis und Paradise Lost stehen über The Columbiad (440). Es folgen seitenlange Zitate. Gegen Schluß werden die Anmerkungen - "They abound in original matter, and cannot but excite the deepest reflections" (449) - gelobt. Desgleichen Barlows Prosastil; der Kritiker erlaubt sich den patriotischen Schlenker, vielleicht nicht so ernst gemeint, daß dies auf Barlows langen Englandaufenthalt ZUTÜckzufilhren sei. Aber die Neologismen mag er so wenig wie sein amerikanischer Kollege. Die Wertungsprobleme sind uralt und lassen sich am besten an Werken festmachen, deren literarische Größe unbestritten ist. Darf sich der Christ am

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heidnischen Homer erfreuen? Kann der Nichtchrist Paradise Lost oder Klopstocks Messias goutieren? Bei Werken minderen Ranges ist Sympathie für die Botschaft Voraussetzung für Freude an der Lektüre, wobei es nicht um Zustimmung geht, sondern nur um Einfühlung. Für den Historiker sind diese Fragen irrelevant. Gilt es, ein Werk zu verstehen, muß es auch als Arbeitspensum hingenommen werden; wenn es zudem getallt - umso besser. Der Verfasser geht von der - nicht mehr sehr umstrittenen - These aus, daß es sich sowohl bei The Vision 0/ Columbus als auch bei The Columbiad um zentral wichtige und interessante Werke handelt. Diese Einsicht hat, nach der Vorarbeit von Kenneth Silverman (1976) und Cecelia Tichi (1979) nun auch die Literaturgeschichten erreicht. In der Columbia Literary History 0/ the United States (I988) bedient sich John Mc Williarns der Genrebezeichnung "prospect poem" und schlägt vor, The Columbiadnicht als Epos anzusehen but as a gigantic expansion of the rising glory orations with which his versifying began [ ... ). Although The Columbiad prornptly became a safe target for ridicule, few of its few readers have ever noticed that its last book predicts the Panama CanaI, submarines, airplanes, the United Nations, and a universal language, a11 the while waming the reader that international commerce might finally be man's only deterrent to global war (161).

Michael T. Gilmore mokiert sich zurecht über die quasi-typologischen Rechtfertigungen literarischer Werke der frühen Republik: Most Iiterary histories still try to recuperate the earlier writing by invoking continuities to the canon: they validate Charles Brockden Brown as a forerunner of Herrnan Melville and praise Joe\ Barlow because he wrote an epic about the United States that somehow looks ahead to Hart Crane's The Bridge (1930). The strategy is misconceived because it places post-revolutionary literature in the context ofthe history ofautonomous art (CHAL, 1994,542).

Allerdings verfUhren die Siebenmeilenstiefel der Literaturgeschichte den Verfasser zu einer der vielen unhaltbaren Aussagen, die auch die besten Artikel über Barlow beeinträchtigen: Ludwig der XVI. sei "a most incongruous sponsor for a work of fervent republicanism" (601). Jedem europäischen Leser ist klar, daß die "18th century matrix", von der Gilmore (542) spricht, für The Vision o/Columbus der aufgeklärte Absolutismus ist; an der Aufrichtigkeit der Widmung an Ludwig XVI. und der artigen Komplimente für den großen Friedrich und die große Katharina brauchen wir nicht zu zweifeln. Die jahrhundertlange Belustigung über den Dichter Barlow l und die verschämten Hinweise auf die frühe amerikanische Literatur überhaupt hatten eiI Es ist zwar logisch, einen Dichter nach seinem Hauptwerk zu beurteilen, aber im Fall Barlow irreftlhrend. John P. McWilliams, Jr., hat gezeigt, daß kein amerikanisches Epos gelungen ist, während das komische Epos in Barlows Zeit blühte (Kap. 3). "The Hasty Pudding" wurde

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ne fatale Folge. Während die Archivbestände in Sachen Barlow reich sind, blieben die Hilfsmittel dürftig. Wir müssen froh sein, eine unkritische zweibändige Ausgabe seiner (faksimilierten) Hauptwerke in Prosa und Poesie zu besitzen. Dabei müßten den Textkritikem die Finger jucken, wie aus Tichis Beschreibung des Columbiad-Manuskripts hervorgeht: The basic script is Barlow's earlier Vision 0/ Columbus (1787), but interlined, emended, excised, arnended. It is a book fattened by sewn-in leaves. Above all, it is worried over. The tip sheets ofvarying sizes, the papers of different stock, the alternately crabbed and free handwriting in inks from different wells - all suggest Barlow's compulsion to return to a poem that had been with hirn since his graduate days. In one form or another it bracketed his adult Iife, and he never let it go, quite. (1979, 115)

Es gibt kaum einen Autor, dessen (scheinbar minimale) Textrevisionen größere Sinnesänderungen markieren. 2 In der Fassung von 1787 heißt es über Moses: As that great Seer, whose animating rod Taught Israel's sons the wonder-working God, [... ] (7)

Daraus wird 1807: As that great seer, whose animating rod Taught Jacob's sons their wonder-working God [... ] (10)

Der große Seher ist von Groß- auf Kleinbuchstaben gesetzt. Gott ist vom bestimmten Artikel - unter dem Leser in Connecticut den lebendigen Gott erkennen mußten - durch distanzierendes Possessivpronomen zum Stammesgott der Juden degradiert worden. Die Änderung von Israeliten zu Jakobsöhnen ist auch nicht unschuldig; wir werden daran erinnert, durch welche Mittel

Barlow stets als eine Art Trostpreis gutgeschrieben, aber auch als schlichte Heimatkunst und Improvisation (Howard) mißverstanden. Nach den Artikeln von Amer und vor allem Lemay ist deutlich geworden, wie komplex es ist: Sprecher ist "an extraordinary cosmopolitan who, Iike FrankIin, pretends to be a 'Homespun' hick [... ]" (Lemay, 1982, 18). Der Dichter parodiert sein eigenes Mythologisieren: "If 'twas Oella whom I sang before, Il'd here ascribe her one great virtue more" (331-32). Lemays Aussage, "In 'The Hasty Pudding', Barlow attempted to fulfill the role that he had, in his 1787 'Dissertation on the Genius and Institutions of Manco Capac' ascribed to the Inca sun-king Manco Capac [... ]" (19), verkennt allerdings die politische Dimension und ist ein weiteres Beispiel rur unnötiges Typologisieren. - Zu Barlows zweitem großen Gedicht s. Anmerkung 5. 2 Nachfolgende Zitate und Textverweise nach Joel Barlow (1970a), The Columbiad, Hgg. Bottorffund Ford.

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Jakob an sein Erbteil gekommen ist. Weitere Beispiele fmden sich im BarlowKapitel von Mason I. Lowance, Jr. (1980). Obwohl etliche Briefe von und an Barlow ediert sind, gibt es keine Briefgesamtausgabe, so wenig wie eine zureichende Bibliographie der Sekundärliteratur. Diese ist reichhaltig, aber hat für den Europäer den Nachteil, daß sie nur auf Fragen antworten kann, die sich die amerikanischen Autoren selbst gestellt haben, und das sind zu wenige. Kritiker haben die Archivalien teils durchgearbeitet, teils benutzt, teils stützen sie sich nur auf die veröffentlichten Texte. Für den vorliegenden Artikel bedeutet das ein gewisses Maß an Spekulation und offenbleibenden Fragen, die erst durch Benutzung des Archivrnaterials verifiziert oder falsifiziert werden können. Als poeta doctus hat Barlow eine sehr große Zahl von Büchern gelesen; Verzeichnisse nachgewiesener eigener Bestände, Ausleihen, Quellen und Anspielungen wären sehr hilfreich.

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Woodress' amüsierte Empörung über Barlows Wahn, Dichter sein zu wollen, wo er hätte Historiker sein dürfen, übersieht, daß es gute Gründe gab, die von Jefferson und Madison angetragene Ehre abzulehnen. In Less Than Glory hat es Norman Gelb unternommen zu zeigen, daß die amerikanische Revolution nicht so gefeiert wird, wie sie verlaufen ist - und vice versa: "It was plagued from beginning to end by misery, hardship and devastation" (1984, 11). Ginge es nur um Greuel, litte der versuchte Nachweis unter dem naheliegenden Vergleich mit der französischen Revolution. Ideologisch liegen die Dinge jedoch anders: während sich die französische durch den Terror, den mangelnden republikanischen Charme des korrupten Directoire und die Herrschaft Napoleons gleichsam selbst destruierte, mündete die amerikanische nach Krisen in eine stabile, expandierende und wirtschaftlich erfolgreiche Nation. Die Verehrung der Gründerväter wurde damit obligatorisch. Barlow war nicht der erste, der die Ehre ablehnte. Gelb zitiert den ersten Sekretär des ersten Kongresses, Charles Thomson: "I could not tell the truth without giving great offense. Let the world admire our patriots and heroes. Their supposed talents and virtues ... , by commanding imitation, will serve the cause of patriotism and our country" (17). In diesem Sinne hat der Advokat und Politiker Rufus Choate 1833 in Salem, vielleicht in Anwesenheit Hawthornes, zur Scott-Nachahmung aufgerufen, aber davor gewarnt, die kleinliche, wörtliche Wahrheit zu sagen. Philosophisch gipfelt das Problem der lebensfreundlichen Illusion und der schädlichen Wahrheit, von Ibsen, Dostojewski und Nietzsche bearbeitet, im Pragmatismus von William James: wahr ist, was sich bewährt. Barlow gehört in diese Tradition. Einer der angesehensten Historiker der Revolution und frühen Republik,

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Gordon S. Wood (1969) hat sich auf ihn berufen: "Joel Barlow, in his Advice to the Privileged Orders in the Several States 0/ Europe, published in 1792, suggested that what really separated the free from the oppressed of the world was simply a 'habit o/thinking [... ]" (vii). Für Wood war das "a profound insight, and one that I have attempted to exploit [... ]" (vii; vgl. Howard, 1943, 282). Da immer wieder und nicht zu unrecht die Widersprüche in Barlows Philosophie herausgearbeitet werden, muß man umso deutlicher auf den übrigens auch mit neuesten Theorien kompatiblen - Kern seiner Strategien hinweisen. Seine Philosophie ist Geschichtsphilosophie, die sich jedoch als Philosophie nur behaupten kann, wenn sie zur Geschichte gebührenden Abstand hält, gewissermaßen einen cordon sanitaire. So erlaubte sich Barlow worauf Howard hingewiesen hat (1943, 318) - in The Columbiad eine erstaunliche Lücke: die französische Revolution kommt nicht vor, während später Hegel die amerikanische nicht ernst genommen hat. Die Interpretation Barlowscher Texte muß sich mit zwei Schwierigkeiten abgeben. Zum einen verlief seine Entwicklung eher kontinuierlich als sprunghaft. Seine Wandlung vom Connecticut Yankee zum American in Paris ist von Yvon Bizardel (1975) dargestellt worden; doch ehe Paris ihn verändern konnte, mußte er hingehen, also Paris schon in sich haben. Auch die kurz danach ausbrechende Revolution, deren Apologet er wurde, ohne die Augen vor ihren Greueln verschließen zu können, fand ihn vorbereitet filr ihre Botschaft. So kommen Interpreten immer wieder in Versuchung, spätere Texte in frühere hineinzulesen und umgekehrt. Die zweite Schwierigkeit ist fundamentaler: Barlow hat als Autor nicht alles gesagt, was er als Privatmann gedacht hat. Henry F. May hat in The Enlightenment in America weitgehende Schlüsse aus einem Skandal des Jahres 1795 gezogen. Durch Indiskretion war ein Brief Barlows in die Öffentlichkeit geraten, in dem es hieß: I rejoice at the progress ofGood Sense over the damnable imposture ofChristian mummery. I had no doubt of the effect of Paine's Age of Reason ... I am glad to see a Translation ... of Boulanger's Christianisme Devoilt ... I wish Mr. Johnson would go on, and give us the next volume, the History ofthat famous Mountebank called St. Paul. (in May, 1976,241)

Mays Kommentar: "Like Jefferson or Freneau, Barlow usually claimed in public that he opposed only the historical trappings of Christianity and not its true spirit. Like Freneau and Franklin, however, in private he went far beyond this stance, and also beyond even the fervent revolutionary deism of Volney and Paine" (241). Nur entzieht sich Barlows Denken - worauf zurückzukommen sein wird - jeglicher Festlegung auf einen Ismus. Die akademische Illusion, nach der Theismus, Deismus, Pantheismus, Panentheismus, Atheismus einen festen Tauschwert haben, ist meist zur Textinterpretation untauglich, besonders wenn deduziert wird. Es ist leicht, Barlow 'einzuordnen', wenn

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man die Stellen wegläßt, die sich nicht einordnen lassen. Nachdem sich Howard in The Connecticut Wits (1943) mit Barlows Widersprüchen geplagt hatmit einer Tendenz, ihm deswegen böse zu sein -, hat er ein Jahrzehnt später die Widersprüchlichkeit als Zug des Zeitalters erkannt: "Tbe Late Eighteenth Century: An Age ofContradictions" (1953). Barlows Dichtung ist zugleich seltsam abgehoben von geschichtlichen Ereignissen und dann wieder nur verständlich als zeitbezogen. Er entwarf 1779 ein großes Kolumbusgedicht, als ob der Ausgang des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges keine Rolle spiele; das Fehlen der französischen Revolution in der Endfassung ist bereits erwähnt worden. Dagegen schreibt Silverman über unseren Haupttext, die "Dissertation", die er als "long prose digression" charakterisiert, sie sei "rife with suggestions for the soon-to-be-convened Constitutional Convention. In effect Barlow asks that the delegates look to Capac for a model rather than to the much admired but far less durable classical constitutions" (524). Tichi nennt Leon Howards The Connecticut Wits zurecht "unsurpassed" (115). Daher ist es sinnvoll, mit dessen Interpretation der Vision ofColumbus im Kontext seines Milieus zu beginnen, wobei allerdings auch die Defizite der Darstellung zur Sprache kommen müssen. Für Howard spielt die "Dissertation" kaum eine Rolle; sie rückt in den Mittelpunkt des Interesses bei zwei Forschern, die es unternehmen, Howard zu revidieren (11). Da immer noch Unklarheiten bleiben, muß der - mangels Vorarbeiten prekäre - Versuch gemacht werden, das Verhältnis von Barlow zu seinen Meistem Voltaire und Robertson neu zu bestimmen (III). Eine genauere Behandlung der "Dissertation" als ihr gemeinhin zugestanden wird, sowie ein Versuch, ihre Funktion im Gedicht als "historisches Exemplum" zu bestimmen, folgen (IV). Da das Betrugsmotiv in der Sekundärliteratur heruntergespielt wird, muß als Frage aufgeworfen werden (sie bleibt vorerst unbeantwortet), wann Barlow mit dem Grundgedanken der Schrift über die "drei Betrüger" Moses, Christus und Mohammed bekannt war (V). Abschließend wird die "Dissertation" in ihrer neuen Form als Endanmerkung in The Columbiad und ihrer neuen Funktion mit ihren Textänderungen untersucht (VI).

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Howards Darstellung im Kapitel V des zweiten Teils, "Tbe Flowery Road to Fame", ist eine Synthese aus Biographie, Literaturkritik und Quellenforschung (letztere gelegentlich im etwas zu passiven Sinn, so als ob ein Autor nicht eine Quelle benutze sondern von ihr determiniert werde). Vorgestellt wird ein

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Dichter als Sozialaufsteiger, der es zugleich schwer und leicht hatte. Schwer, weil er, mittellos und unerheblicher Herkunft, trotz Collegeausbildung, seine Berufung mit dem Broterwerb zu vermitteln hatte, auch weil er nicht an Werke herankam, die er als Vorbilder gebraucht hätte; leicht, weil er Mentoren und Freunde fand und weil sein Genie in der intellektuell noch dünn besiedelten kolonialen Landschaft Connecticuts sogleich auffiel. Nachdem er sich entschlossen hatte, Armeekaplan zu werden - er erhielt am 6. August 1780 die volle Kommunion in der College Church von Yale und wurde nach Examen von einer "special association of New Haven ministers, some of whom were irritatingly suspicious ofthe new convert's motives" (140-41) als Prediger zugelassen -, saß er bereits am 17. Oktober beim Diner zur Rechten General Washingtons. Es begann ein unaufhaltsamer Aufstieg mit Arbeiten, die anderswo unbeachtet geblieben wären. Howard bemerkte hierzu tadelnd: "Had the commencement poem [12. September 1781] received the severe criticism it deserved, its author might have been able to take sufficient thought to clear up the obscurities and incoherences that have prevented his major work from receiving serious consideration as the philosophical poem it was supposed to be" (142). Paradoxerweise ist es die hohe philosophische Bildung Howards, die es ihm schwer macht, Barlow zu verstehen, obwohl er nur dessen von ihm selbst zitierten Brief an einen anderen unermüdlichen Aufsteiger, Noah Webster, beachten müßte: You and I are not the first men in the world that have broke loose from college without friends and without fortune to puff us into public notice. Let us show the world a few more examples of men standing upon their own merit, and rising in spite of opposition [... ]. Literary accomplishments will not be so much noticed till some time after the settlement of Peace and the people are more refined. More blustering characters must bear the sway at present, and the hardy veteran must retire from the field before the philosopher can retire to the c1oset. (138)

Wiewohl sich Barlow zu den "philosophers" gesellen wollte, war er unter diesen selbst ein "more blustering character" als Howard lieb war, der ihm immer wieder mit Logik beizukommen versuchte, wo Psychologie und Soziologie und die Berücksichtigung revolutionärer Umstände am Platze gewesen wären. So beklagt er, daß Barlows Ruf "uncritically high throughout the Army" (143) war. Die Subskriptionsliste der endlich 1787 fertiggestellten Vision wurde von Ludwig XVI. angeführt, dem das Gedicht gewidmet ist. Nach Washington und Lafayette folgten, als des Dichters "most loyal support", "twelve generals, three major generals, thirty-three colonels, seventeen majors, and fifty-iwo captains; and, since they averaged nearly three copies apiece, over one-fourth of the subscribed copies went into the upper ranks of the army and to their friends. It was their greatest exhibition of patriotism since the siege at Yorktown [... ]" (159). Die vielen Schlachtszenen in einem grundsätzlich pazifistischen Gedicht waren angebracht.

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Da Howards Monographie der ersten amerikanischen Dichterschule gewidmet ist, überrascht nicht der zunächst vorwiegend literarische Ansatz. Bei Barlow wie bei andern Ependichtern stand die Ambition vor der Sache: Es mußte ein großes Gedicht her, die schwere Wahl des Themas kam hernach. Vor dem nächsten Zitat muß bemerkt werden, daß Howard nur summarische "Bibliographical Notes" rur jedes Kapitel vorgesehen hat, keine Einzelnachweise: By April, 1779, he apparently had tentatively decided upon an American epic with Columbus as his hero. The opening couplets he composed for this version indicate that he planned a thoroughly conventional epic treatment until he realized that his hero's personal adventures were neither sufficiently exciting for a "great" epic action nor sufficiently heroic to dominate the story of "this new-bom empire", which, according to epic plan, he would have had to present by means ofvisions and subordinate episodes." (139)

Diese Vorentscheidung, falls von Howard richtig rekonstruiert, hatte fatale Folgen ftir die 'epische' Qualität; wie oft bemerkt, ist Columbus nur der nominelle Held seines Gedichts; Columbia (Amerika) ist das Thema, wie vom Dichter selbst bekannt: a plan for a poem on the subject of America at large, designed to exhibit the importance ofthis country in every point ofview as the noblest and most elevated part ofthe earth, and reserved to be [the] last and greatest theatre for the improvement ofmankind in every article in which they are capable of improvement. (139; der gesamte Plan bei Todd, 1886, 15-17)

Während "this country" eher auf die 13 Staaten zielt, meint "America at large" offensichtlich den Doppelkontinent. Er wurde von Europa aus als Einheit betrachtet, was dann, begriffsrealistisch und deduktiv, zu den groteskesten Fehlurteilen über einzelne Gegenden ftihren konnte. 3 Es ist die größte Schwäche von Howards Darstellung, daß er offenbar von der nach einer französischen Akademiepreisaufgabe mit dem Thema "Was America aMistake?" genannten Kontroverse nichts wußte oder ihre Tragweite unterschätzte. Sie wurde am gründlichsten von einem Italiener dargestellt, der, in seiner Muttersprache und auf Spanisch schreibend, bis zur Übersetzung seines fundamental wichtigen Buches 1973 in den USA so gut wie unrezipiert blieb: Antonello Gerbi, The 3 Harold S. Jantz hat ein spätes köstliches Beispiel bei Claire Goll (1921) gefunden, die "Büffel und Elefanten" durch die amerikanischen Urwälder stampfen sah und über die Sprache "des" Amerikaners folgendes von sich gab: "Reich und unerschöpflich die Sprache, dies Amalgam aus Englisch, Mexikanisch, Spanisch, Indianisch, Neger- und Inka-resten" (Jantz, 1962,7). Leider hat Jantz in "The Myths About America: Origins and Extensions" die Oe Pauw-BuffonRaynal-Thesen nur erwähnt und durch den bestimmten Artikel des Titels (später heißt es: "Let us examine a few ofthe myths [... ]") wider Willen dazu beigetragen, daß die Rezeption der Polemik verzögert wurde.

15 Engi... I MW1...

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Dispute olthe New Wor/d The History 01 a Po/emic, 1750-1900. So fmden sich Abhandlungen über Barlows Kolumbiaden, in denen weder Südamerika noch Europa vorkommen; die "eighteenth-century matrix" ist auf die Neuenglandstaaten geschrumpft, ein Provinzialismus, der bedeutend schlimmer ist als der der damaligen Kolonie. Howard fährt mit seiner alten Klage fort: "Barlow's plans for the philosophical sections ofthe poem [... ] were by no means clear or coherent; and, in fact, the most practical part of the outline was the geographical and historical section taken over from William Robertson's The History 01 America" (140). Es wäre besser gewesen, gleich auszugehen von der Einsicht, daß "tbe form of Barlow's work was frequently determined by his materials and the non-literary sources from which they were derived" (148). Howard hält für denkbar, Barlow habe nicht nur Lord Kames' Sketches 01 the History 01 Man gelesen, sondern auch Voltaires Essay on the Manners and Spirit olNations (149), aber er befaßt sich zunächst mit Voltaires Essay on Epic Poetry, dessen Benutzung zu einer frühen Zeit der Planung der Vision sicher ist. Hier hörte er von den Lusiaden des Camot!ns und Don Alonzo de Ercillas Araucana, die ihn brennend interessieren mußten, ohne daß es ihm gelang, der Bücher habhaft zu werden (146). Im folgenden Zitat ist zu beachten, daß Howard, in Kategorien des Epos denkend, nicht auf die Idee kommt, das peruanische Thema könne essentiell mit den geschichtsphilosophischen Anliegen Barlows zusammenhängen; dabei war das Inkareich nicht nur literarische Mode, sondern politischer Streitpunkt (Hanke, 1967,71-118). Für Howard bleibt es "episodisch": Various friends apparently were suggesting episodic stories to Barlow during the spring planning of 1780, but the book which finally caught his fancy and directed his purpose was one of the very few works in the Yale library on the subject of American history - Garcilasso de la Vega's The Royal Commentaries 0/ Peru in the London, 1688, folio edition of the English translation made by Sir Paul Rycault. (148)

Da Einzelnachweise fehlen, wird nicht völlig klar, ob die Benutzung dieses Werks nachgewiesen ist oder nur angenommen, aber selbst wenn wir der Annahme zustimmen, kommen wir mit Howard nur wieder auf das politische Thema: "Thus Barlow found tbe suggestion for the major episode in his poem - an episode designed to suggest a contrast between the best that unassisted nature could do for civilization in America and the achievement of the English colonists who operated in the light of revelation" (148). Die Unterscheidung ist bekannt aus der Literatur zur Utopia des Thomas More. Da die Episode und hier geht es wirklich nur um eine solche - einer Sonnenfmsternis während einer Schlacht bei Garcilasso nicht vorkommt, nimmt Howard Barlows Bekanntschaft mit Marmontels The Incas: or the Destruction olthe Empire 01 Peru an (149). Er interessiert sich bedeutend mehr für die 'epischen' Teile in

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den Büchern 11 und III als filr die dazwischengeschobene "Dissertation", die nicht einmal als solche genannt wird: "Barlow wanted to represent, in the political and religious system of the Incas, a remarkable achievement for 'the unenlightened efforts of human wisdom'; and that single purpose dominated the entire episode with its colorless intellectuality" (150). Bei näherer Bekanntschaft mit der von Gerbi beschriebenen Polemik wäre Howard klar geworden, daß der "lackluster Christian" Barlow (Tichi, 1979, 117) vor allem an der kulturellen Fruchtbarkeit der amerikanischen Erde interessiert war, die ja von Buffon bis Raynal und De Pauw geleugnet wurde, und über diese hinaus. So mißversteht er auch Barlows spezifischen Ärger über Voltaire am Ende der "Dissertation" und münzt ihn um in mangelnde Bewunderung des Franzosen (149). Barlow hatte nicht die Fähigkeit Popes, philosophische Gedanken in elegantdurchsichtige Reimpaare zu gießen; man muß nur hinzufilgen, daß Popes Philosophie ja auch hinlänglich gemeinplätzlich war, während sich der Amerikaner mit vielen damals gängigen neuen Theorien herumschlug, nicht ahnend, daß das Lehrgedicht - wie auch das Epos! - auslaufendes Modell war. Howards Ärger über ein "philosophisches Gedicht" "so thin in substance and fluid in style that the reader fmds its philosophical content elusive to the point of obscurity" (145) ist verständlich. Als Ausweg bieten sich die glasklaren Prosapassagen an, von denen die eine - eine längere Anmerkung im Buch IX (227-30) - von Howard auch ausgiebig benutzt wurde, während er die "Dissertation" vernachlässigt. Der Grund ist offensichtlich: die Anmerkung läßt sich in die Geistesgeschichte Neu-Englands einordnen, während die "Dissertation" befremdlich wirkt, aber als "Episode" oder "Digression" auch vernachlässigt werden darf. Zu der Zeile And one wide interest sways the peaceful race,

schrieb Barlow einen langen Kommentar, der in rührender Art seinen Anfängerstatus bekennt: "Since fmishing the Poem (the whole of which, except a small part of the seventh Book, was written previous to the conclusion of the late war) the Author is happy to fmd that his general ideas, respecting the future progress and fmal perfection of human society, are supported by those of so respectable a character as Dr. Price" (227). Er endet mit einer Beichte: The author first ventured upon these ideas, in the course of the Poem, with a11 the timidity of youth; determining not to risk a serious illustration of the sentiment in prose. But finding that a theory so pleasing to himself has not been unnoticed by others, he feels a greater confidence in the subject, and hopes the importance of it will apologize to the reader for so lengthy a note. (230)

IS"

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Sagt Barlow die Wahrheit, woran zu zweifeln kein Grund besteht, dann muß die "Dissertation" entweder vor 1783 geschrieben sein oder später als die zitierte Anmerkung. Vieles spricht filr letzteres. Barlow ist so beschwingt, weil "the language of Canaan" (Lowance, 1980) und der hoffnungsfrohe Glaube des Revolutionszeitalters zusammenzugehen scheinen: "It is possible that some considerable revolutions are yet to happen, before the progress will be entirely free from embarassements. But the general system appears so rational and complete, that it furnishes a new source of satisfaction, in contemplating the apparent dispensations of Heaven" (230). Howard kommentiert Barlows "vision ofprogress" in den letzten beiden philosophischen Büchern so, daß schottische Common Sense-Philosophie, millenniare Tendenzen der Neuengland-Theologie und die Ideen der pro-amerikanischen (später meist auch pro-französischen) Fortschrittsideologen Englands zur Dekkung kommen. Es ist nützlich daran zu erinnern, daß selbst eine so säkularisierte Weltanschauung wie der Nationalsozialismus auf die in vielen Hitlerreden beschworene 'Vorsehung' nicht verzichten wollte, wiewohl eine Auskunft darüber, wer denn vorsieht, nicht vorgesehen war. Barlow ist nicht allein, wenn er sich in ähnlicher Zweideutigkeit bewegt; er konnte kein Interesse daran haben, die Orthodoxie vor den Kopf zu stoßen. So kommt Howard zu dem zusammenfassenden Urteil: "The Vision 0/ Columbus was neither a profound nor an entirely coherent 'philosophical poem.' But it was a safe one. Barlow called upon the greater part of Iiterate Connecticut, at one time or another, for advice; and his work was read by a dozen or more of his friends and acquaintances without giving offense to any" (158). Das ist übertrieben; Howard selbst hatte ja das Mißtrauen der Geistlichen, die Barlow zum Predigeramt zuließen, erwähnt; Silverman hat Belege filr Tadel des Gedichts gesammelt, von denen Noah Websters handschriftliche Glosse zur Zeile "fair fountain of redeeming love" die interessanteste ist: "The author has adopted the system of Epicurus" (522). Aber Howards Ansicht ist auch nicht gänzlich falsch; es bedurfte der französischen Revolution, um die Connecticut Wits auseinanderzudividieren; auf der einen Seite der "Citizen Joel Barlow", auf der andern Erzreaktionäre, die an die Illuminatenverschwörung gegen Thron und Altar glaubten. 4 Allerdings blieb Barlow auch vor 1789 offen filr neue Ideen. Howard hat gezeigt, wie er die der Vision zugrundeliegende Naturrechtsphilosophie, die als 'common sense' der Revolution rezipiert worden war, selbst noch in Frage stellte, bevor sein Gedicht gedruckt werden konnte (163)! Da er Jura zu studieren angefangen hatte, war er besonders empfänglich für die Strafrechtsreformen und die ihr zugrundeliegende Philosophie von Beccaria. 4 Das Hauptwerk ist Vemon StautTer, New England and the Bavarian Illuminati (New York 1918). Zum Gegensatz Dwight- Barlow vgl. Howard, 1943,347-49.

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"Three years before he went to France he was beginning to look forward toward the perfectibility ofman" (164). Für seine Zeit war Howards Darstellung - von der nur ein Teil wiedergegeben werden konnte - die umfassendste und überzeugendste. Doch blieb Howards Verständnis fiir den pragmatischen Aktivisten Barlow begrenzt; er warf ihm eine "extremely passive idea of progress" und "an equally passive optimism" (152) vor; das gleiche Mißverständnis, das später den Marxismus rur einige Philosophen unverständlich machte. Was logisch als Widerspruch erscheint, eine als notwendig angenommene Entwicklung und zugleich ein Aufruf zur persönlichen Aktivität, ist psychologisch überhaupt keiner; nichts befUgelt Aktivität mehr als das Gefilhl, im Einklang mit einer 'notwendigen' Entwicklung handeln zu dürfen. Der fundamentalste Unterschied zwischen Howard (und vielen, die ihm methodologisch folgten) und Barlow ist im Umgang mit Ideen zu suchen. Gewiß ohne es zu beabsichtigen behandelt Howard Barlows Geist oft als tabula rasa; ein Pragmatiker geht souveräner mit ihnen um, was eine rastlose Wahrheitssuche nicht ausschließt. Nur wenn Fragen offen bleiben - und in dem von Howard selbst später so getauften "Age of Contradictions" blieben die meisten offen (zum Teil bis heute) - entscheidet die Nützlichkeit. Howards Darstellung war hervorragend, aber auch revisionsbedürftig. Eine mißglückte Revision fmdet sich in Merton A. Christensons "Deism in Joel Barlow's Early Work: Heterodox Passages in The Vision of Columbus" (1956). Sie stützt sich auf einen glänzenden Aufsatz von.Arthur O. Lovejoy, "The Parallel of Deism and Classicism" (1960), eine tour de force mit dem ehrgeizigen Ziel, "a set of preconceptions which you will find taken for granted by most philosophers, and determining [!] the opinions, on all manner of subjects, of the majority of educated men for more than two centuries, in so far as they were emancipated from the dominance of tradition and authority" (Lovejoy, 78) aufzuzeigen. Zu beachten ist, daß "deism" hier und bei Christenson nicht der strengere Begriff des Philosophischen Wörterbuchs ist - "eine Religionsauffassung, derzufolge es zwar einen persönlichen, übernatürlichen Gott gibt, aber (im Gegensatz zum THEISMUS) keine Eingriffe dieses Gottes nach der Schöpfung auf die Welt stattfmden" (Ulfig, 1993, s.v. Deismus) - sondern, wichtig aber unpräziser, ein geistesgeschichtliches 'Klima' bedeutet. Ein Allgemeinbegriff, der sowohl Voltaire als auch Rousseau einschließt, hat aber nur begrenzten Erklärungswert; Barlow hielt sich von Rousseauismus völlig frei, aber war, wie zu zeigen sein wird, geschichtsphilosophisch ein Schüler Voltaires. Christenson wendet sich gegen Howards 'Herunterspielen' heterodoxer Züge beim frühen Barlow, verwechselt aber oft Heterodoxie mit dem 'linken' Flügel der Orthodoxie, weil er Orthodoxie mit Konservatismus gleichsetzt. Der Aufsatz ist in unserem Zusammenhang vor allem deshalb erwähnenswert, weil er

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die Ausklammerung der "Dissertation" aus Howards Darstellung als Fehler erkennt; die eigene Interpretation der "Dissertation" unter Lovejoys Merkmalen 8 und 9 widerspricht jedoch dem Text. Für Christenson ist das insofern kein Problem, als er offen zugibt, die "Dissertation" enthalte "auch" orthodoxe Züge. Ein Text, in dem "Our Saviour" vorkommt, kann in strengen Sinn nicht deistisch sein, während im weiteren Sinn 'deistische' Tendenzen bei Barlow keine Neuigkeit sind. LetzIich kann auch Christenson bei Barlow nur Konfusion finden (520), aber das ist etwas anderes als WidersprUchlichkeit. Jedes System qua System ist widersprüchlich, worauf übrigens Lovejoy am Ende seines Aufsatzes (98) hinweist. Wichtiger als Christensons Versuch ist Robert D. Richardsons "The Enlightenment View ofMyth and Joel Barlow's Vision olColumbus" (1978). Mit der von Voltaire eröffneten säkularisierten Sicht der Weltgeschichte, besonders unter dem Wahrheitskriterium (was war wirklich so, was war erfunden oder erlogen?), rUckten Mythologien in den Vordergrund des Interesses, und zwar sowohl die religiösen als auch die Mythen über StaatsgrUndungen, sofern nicht beide ohnehin zusammenfielen. Richardson beginnt mit dem Hinweis, daß "myth" dem 18. Jahrhundert als Wort noch nicht zur Verfügung stand; die Rede war entweder von "mythology" als System (nach der Encyclopedia Britannica von 1771 sogar "a science") oder von einzelnen Mythen, für die mehrere Ausdrücke verwendet wurden, vor allem 'fable'. Nach einer Übersicht über die der Zeit zur Verfügung stehenden Hilfsmittel unterscheidet der Verfasser die skeptische Linie der Mythenbetrachtung von Bayle bis Voltaire, die nach der französischen Revolution gewaltigen Auftrieb hatte. Für Paine (The Age 01 Reason, 1794) ist Mythologie identisch mit "silly fraudulent stories" (Richardson, 36). Vor Paine war es Voltaire, dessen Philosophical Dictionary (englisch zuerst 1765, amerikanische Ausgabe 1790), die Quelle für Skeptiker abgab: "it is clear that Barlow already knew and was favorably impressed by Voltaire's writings when he was writing The Vision olColumbus" (37). Die skeptische Tradition "was being tempered and offset by a positive or affmnative view of myth, the view that myth embodies and conveys the real or necessary truth of things" (37). Mit der Aussage, "Myth was, in this view, the natural expression of the human imagination in its wild, natural state" (38), wird der Zeitfaktor eingeführt, aber die mit ihm auftretenden Probleme werden nicht ausdiskutiert. Gestützt auf S. Bercovitch nimmt Richardson an, die Typologie habe "a climate of acceptance for mythic thought" schaffen helfen (38), aber wir wissen von Lowance (den Richardson noch nicht kennen konnte), daß die "Puritan handbooks of exegesis" bei kleineren Differenzen doch alle scharf zwischen "type" and "trope" unterschieden (5); die Offenbarung garantiert die Richtigkeit einer Beziehung vom Typ zum Antityp, alles andere Typologisieren ist menschliches Konstrukt. Da nicht alle biblischen Typen wirklich abge-

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sichert sind, steht freilich auch die puritanische Typologie unter diesem Verdacht. Man versteht, daß Richardson sich weigert, "the relationship between mythology and typology" weiterzuverfolgen; es sei "too complex a problem to do justice to here" (38). Dennoch versucht er sich an einer neuenglischen Interpretation, die zugleich eine Anpassung an die herrschende, legitime und wichtige, aber eben auch dogmatisch-provinzielle Bercovitchschule bedeutet: "Joel Barlows comparison of the Peruvian Manco Capac to both Moses and Lycurgus is certainly made easier by the American tradition oftypological interpretation" (38).

The Vision 0/ Columbus wird vorgestellt als Werk mit "a complex and intentional mythic structure that makes it a more interesting poem than is generally thought" (34). Oder: "[ ... ] the fIrst major self-conscious efIort to write a national epic rooted in native American myth" (39). Allerdings kommt die Genrebezeichnung gleich wieder ins Rutschen: [... ] it is not so much an epic as avision or prophecy; its subject is the founding of a New World civilization and the progress ofmankind toward total enlightenment, which is to be accomplished mainly through science. The poem's dominant image is the rising sun as the symbol of enlightenment (39).

Kein Zweifel, daß Barlow seinem modemen Zeitgenossen eine symbolische Brücke zur Vergangenheit baut, aber die Aussage, "The Story of Manco Capac is, for Barlow, the basic indigenous myth of the New World" (39), verwendet die umfassende modeme Bedeutung von "myth", die zwei Fragen offenläßt: kann man einen Mythos, der mit Betrug am Volk verbunden ist, ernstlich seinen Zeitgenossen anbieten? Wird die Inkastory von Barlow als Mythos präsentiert oder nicht vielmehr auch als Verfassungsvorbild? Unzweifelhaft ist, daß die Wahl von Capac "neither a foolish nor an arbitrary choice for an American mythic hero" war (40). Richardson weist auf Fontenelle und Voltaire hin (40-42) und darauf, daß noch 1857 Melville im ersten Satz seines Confidence-Man die Bekanntschaft mit Capac voraussetzen durfte. Richardson scheut sich nicht, den Tatbestand des "benevolent fraud" (40) klar zu bezeichnen: "Barlow clearly approved of Capac's little [!] device to mythologize sun-worship to further his agrarian idealism and to make it acceptable to the common people" (41). Es folgen die wichtigsten Sätze: "The sun is the crucial link between Capac's Peruvian civilization and the eighteenth-century enlightenment. Capac himselfbecomes the New World's mythical founder of the earliest form of the enlightenment. His is [sic], we might say, a type ofthe later enlightenment" (41). Typology to the rescue! Als modeme Leser eines alten Gedichts können wir uns mit dieser Interpretation zufriedengeben, ja sie als letztes Wort über das Problem ansehen. Unter dem

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zeitgenössischen Aspekt betrachtet - also wenn Silvennan recht hat -, muß über Capacs "trick to consolidate power in his own hands" (40) noch mehr gesagt werden. Auch bleibt die Aussage "Barlow seems himself to have shared both the skeptical and the affInnative viewpoints toward myth" (42) biographisch höchstwahrscheinlich richtig, aber sollte die Verwunderung über den seltsamen Heiligen Capac nicht zum Schweigen bringen. Richardsons Hinweis auf "the standard eighteenth-century Euhemerist view" (42) und die Aussage "Barlow is thus skeptical about the existence of real gods but not at all skeptical about the social usefulness of myth" (42) klingt modem und insoweit fUr uns überzeugend, aber fUr einen Aufklärer doch beängstigend jesuitisch. Zynismus hat seinen Platz am Ende von Mythen, nicht am Anfang. Sehen wir von dieser Schwierigkeit ab, können wir dem Verfasser zustimmen: "Barlow is trying to show that America need not look to Europe or to antiquity for gods, heroes, law or civilization; he aimed, deliberately, to write a poem that would show that there was American myth adequate to the American adventure" (4243). Das hier angesprochene Prestigemotiv, das den "rising glory"-Auslassungen, in Abwehr der aus Europa kommenden, das ganze Amerika betreffenden Breitseiten, zugrunde liegt, kann vielleicht manche Seltsamkeit erklären. Daß Barlow wirklich von ihm angetrieben wurde, zeigt eine von Silvennan zitierte Briefstelle aus dem Jahr 1787 an Jefferson. Barlow möchte Amerika sehen als "vindicated from those despicable aspersions which have long been thrown upon us and echoed from one ignorant Scribbler to another in all the languages ofEurope" (520).

III

Richardson läßt