Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes 9783110506662, 9783828253230

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Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes
 9783110506662, 9783828253230

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Bauer und Herrschaft
Bauer und Gemeinde
Bauer und Landschaft
Bauer und Widerstand
Bauer und gesellschaftlicher Wandel
Nachweis der Erscheinungsorte
Sachregister

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Peter Blickle Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes

Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Günther Franz und Peter Blickle Band 35

Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes

von Peter Blickle

3 Abbildungen und 1 Tabelle

Gustav Fischer Verlag Stuttgart • New York • 1989

Adresse des Autors: Prof. Dr. Peter Blickle Universität Bern Historisches Institut Engehaldenstr. 4 C H - 3 0 1 2 Bern

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Blickle, Peter: Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes / von Peter Blickle. - Stuttgart ; New York : Fischer, 1989 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte ; Bd. 35) ISBN 3-437-50323-5

NE: GT ISSN 0481-3553

© Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • New York • 1989 Wollgrasweg 49 • D-7000 Stuttgart 70 (Hohenheim) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Filmsatz Jovanovic, Ruhstorf/Rott Druck und Bindung: Wilhelm Röck, Weinsberg Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

VII

Bauer und Herrschaft Leibherrschaft als Instrument der Territorialpolitik im Allgäu Grundlagen der Landeshoheit der Klöster Kempten und Ottobeuren Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten

19

Wem gehörte der Wald ? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungsund Eigentumsansprüche

37

3

Bauer und Gemeinde Die staatliche Funktion der Gemeinde die politische Funktion des Bauern Bemerkungen aufgrund von oberdeutschen Ländlichen Rechtsquellen . . . .

51

Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne

69

Bauer und Landschaft Politische Repräsentation der Untertanen in südwestdeutschen Kleinstaaten Die Funktion der Landtage im «Bauernkrieg»

85 95

Bauer und Widerstand Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlichen deutschen Reich

109

Nochmals zur Entstehung der Zwölf Artikel im Bauernkrieg

133

Das göttliche Recht der Bauern und die göttliche Gerechtigkeit der Reformatoren

155

Bauer und gesellschaftlicher Wandel Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag

171

Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus

191

Von der Leibeigenschaft in die Freiheit Ein Beitrag zu den realhistorischen Grundlagen der Freiheitsund Menschenrechte in Mitteleuropa

213

Nachweise der Erscheinungsorte

227

Sachregister

229

Vorwort

Der Titel der vorliegenden Aufsatzsammlung sucht das Anliegen der Beiträge möglichst präzis zu umschreiben. Die Überzeugung von der «geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes» ist das Ergebnis empirischer, vorwiegend archivalisch fundierter Forschungen. Deren Ausgangspunkt waren zunächst mit «Staat» und «Herrschaft» durchaus herkömmliche und in den 1960er und frühen 1970er Jahren vorherrschende Gegenstände, die neue Perspektive erbrachte der struktur- und landesgeschichtliche Ansatz des ganzheitlichen Zugriffs auf kleine Regionen. Daraus nämlich ergab sich, in welch hohem Maße «Herrschaftsstrukturen» und «Herrschaftsbildung» auch von den Reaktionen der «Untertanen» abhängig waren. Angesichts der Konzentration meiner Forschungen auf kleinere Territorien innerhalb des Alten Reiches traten naturgemäß die «bäuerlichen» Untertanen, die Bauern schlechthin, in den Mittelpunkt des Interesses (Bauer und Herrschaft). «Den Bauern» zum Forschungsgegenstand zu machen, und zwar den Bauern als Subjekt historischer Prozesse, war angesichts des Geschichtsbildes und der Forschungsschwerpunkte der deutschen Geschichtswissenschaft keineswegs naheliegend. Die erste Erprobung des zunächst noch sehr ungenauen und eher heuristisch gemeinten Ansatzes erfolgte über die Frage nach dem Grad politischer Repräsentation von Bauern in deutschen Territorien. Daraus sind eine Fülle abgeleiteter, aber deswegen für den Gegenstand nicht minder wichtiger Problemfelder entstanden. Sie alle sind weder in einem deutschen, noch in einem europäischen Kontext abschließend beantwortet. Diese noch offene und aktuelle Diskussion und die naheliegenden möglichen Querverbindungen zu den neueren Forschungsschwerpunkten der «Alltagsgeschichte» und «Volkskultur», von «Regionalismus» und «Entstaatlichung» sind der Grund, die Aufsätze im Zusammenhang nochmals zu präsentieren. Man weiß heute, daß Fragen von Konsens und Partizipation in deutschen Territorien nicht mehr in der Engführung auf Geistlichkeit, Adel und Bürgertum diskutiert werden können, vielmehr Bauern definitorisches Merkmal des Ständestaats sind, zumindest im Süden des Reiches (Bauer und Landschaft). Seitdem gilt die These als widerlegt, der Bauer sei nach dem Bauernkrieg von 1525 aus dem politischen Leben der Nation ausgeschieden. Dieser Befund verlangt dringlich, die Grundlagen politischer Repräsentation neu zu reflektieren, zumal bäuerliche Vertretung weder eine auf den Süden des Reiches noch auf die Territorien beschränkte Erscheinung ist: der Umstand, daß bäuerliche Repräsentanten die Landtage des Kurfürstentums Trier beschicken, müßte zur Lösung dieser prinzipielleren Frage ebenso berücksichtigt werden, wie der unbekannte Tatbestand, daß die Bauern der «universitates» von Schwyz und Dithmarschen auf Reichstage geladen wurden. Die weiterreichende Perspektive freilich besteht darin, komparatistische Untersuchungen auf europäischer Ebene anzustellen, und die

VIII • Vorwort «bäuerliche Repräsentation» im Reich mit jener in Skandinavien oder der des «tièrs état» in den französischen General- und Provinzialständen zu vergleichen. Mit der «Landstandschaft der Bauern» tauchten alsbald lohnende Folgeprobleme auf, die es in Angriff zu nehmen galt. Zunächst blieben die rechtlichen Grundlagen der Repräsentation unklar ; noch heute ist nicht eindeutig entschieden, ob es sich bei der ständischen Repräsentation von Bauern um eine solche von «Untertanen» oder «Gemeinden» handelt. Das erklärt das Interesse für die Gemeinde (Bauer und Gemeinde) - ein zugegebenermaßen traditionsreicher Forschungszweig der deutschen Geschichtswissenschaft, der allerdings zur strukturellen Beschreibung des Reiches und seiner Territorien oder deren Entwicklung gänzlich ungenutzt blieb. Nimmt man den deutschen Territorialstaat über die Gemeinde wahr, wird ein Beziehungsgeflecht erkennbar, das man als vorkonstitutionelles «Modell» der Gewaltenteilung bezeichnen könnte. Da die ländliche Gemeinde nicht nur Wirtschaftsverband ist, sondern über (wenn auch beschränkte) Satzungsgewalt, Gerichtsbarkeit und Friedenssicherung wichtige «staatliche» Funktionen wahrnimmt, rückt sie näher an die städtische Gemeinde. Diese Gemeinsamkeiten, die unter dem Konzept «Kommunalismus» heute verhandelt werden, genauer aufzuarbeiten, bleibt eine dringliche Aufgabe, und zwar wegen der damit verbundenen Perspektive : Falls es sich nämlich bei der Stadtgemeinde und der Landgemeinde um prinzipiell analoge und vergleichbare Verbände handelt, dann war der Grad der «Selbstverwaltung» in Deutschland erheblich, und über den Stellenwert von Reich und Territorien wäre nochmals zu diskutieren, auch in vergleichender Perspektive auf Formen des «selfgovernment» in England und Schweden, den Niederlanden und der Eidgenossenschaft, in Südfrankreich und Norditalien. Die bäuerliche «Landstandschaft» entstand nicht zwangsläufig, gewissermaßen einer «staatsbiologischen» Gesetzmäßigkeit folgend, sie mußte oft, wenn nicht mehrheitlich von den Bauern erkämpft werden, und zwar mittels Widerstand gegen wachsende herrschaftliche Ansprüche. Das legte es nahe, den bäuerlichen Widerstand, zunächst in thematischer Engführung auf den Bauernkrieg von 1525, systematischer zu erfassen (Bauer und Widerstand). Die Bedeutung der Bauern für geschichtliche Entwicklungen - das ist mittlerweile das weitergehende Ergebnis der auf breiter Basis erfolgten Widerstandsforschung - ist nicht nur gegeben, wo sie institutionelle Gestalt in Form der Gemeinde oder der Landschaft annimmt, sie erweist sich auch in Revolten, Aufständen und Prozessen; denn sie waren, unbeschadet ihres häufigen Scheiterns, für das System als Ganzes und seine Entwicklung keineswegs folgenlos. Interessante Belegstücke sind noch in der Diskussion, beispielsweise die These, daß die Theologie der Reformatoren über die bäuerliche (und bürgerliche) Lebensform Gemeinde angeeignet und mittels Revolten und Unruhen durchgesetzt wurde, jedenfalls im «ersten Akt» des reformatorischen Prozesses. Die Faszination liegt in der möglichen Weiterung dieses nicht gänzlich unbegründeten Verdachts - die Sozialgeschichte wird enger verknüpfbar mit der Geistes- und Ideengeschichte, ja sozialgeschichtliche Phänomene lassen sich über die Geistesgeschichte erst decodieren und umgekehrt. Landschaft, Gemeinde und Widerstand als politische Artikulationen von Bauern sind von mir hauptsächlich an süddeutschem Material untersucht worden. Von

Vorwort • IX

daher verlangte der Titel eigentlich eine gehörige räumliche Einschränkung. Auf der anderen Seite ist offenkundig - der Hinweis auf künftige Forschungsaufgaben deutet das an - , daß Landschaft, Gemeinde und Widerstand keine ausschließlich süddeutschen Besitzstände darstellen. Insofern mag von der Sache her der weitere Titel gerechtfertigt sein. Für die dringliche regionale und zeitliche Differenzierung kann er nur werben. Die allgemeinsten Aspekte, die mit dem Konzept der «geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes» verbunden sind, werden in drei Punkten zusammengefaßt (Bauer und gesellschaftlicher Wandel). Nochmals werden der weiteren Diskussion als Vermutungen unterbreitet, daß die Entwicklung von der hochmittelalterlichen Leibeigenschaft in die moderne Freiheit durch den permanenten Widerspruch der leibeigenen Bauern gegen das Rechtsinstitut der Leibherrschaft befördert wurde, daß die Durchsetzung des bäuerlichen Erbrechts (in dessen Logik das Eigentum an Grund und Boden liegt) ohne das Interesse der Bauern selbst nicht möglich gewesen wäre und daß die primäre Form der Vergesellschaftung der Bauern (nach der Familie) in Gestalt der Gemeinde Weiterungen in Richtung auf Parlamentarismus und Republikanismus hatte. Faszinierend scheinen mir die Beobachtungen vor allem hinsichtlich ihrer Parallelisierbarkeit mit der Stadt. Was folgt aus der Beobachtung, daß die in den Städten ausgebildeten Kategorien persönliche Freiheit und Eigentum ein abgeschwächtes, aber vernehmliches Echo in der bäuerlichen Sphäre im Abbau der Leibeigenschaft und im Fortschreiten des Erbrechts haben? Wie «republikanisch» war das Reich, wenn nicht nur die Städte, sondern auch die bäuerlichen Gemeinden in ihrem Widerstand immer wieder die Chance testen, den «Feudalismus» mittels ihres «Kommunalismus» auszuhebein? Damit wird das eigentliche Interesse des Fragens und Forschens schärfer. In Wahrheit geht es nicht darum, die Bedeutung eines bislang unterschätzten «Standes» hervorzuheben, sondern insofern die Bauern im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit die «einfachen Leute» repräsentieren, geht es darum zu zeigen, was deren Geschichte zur strukturellen Beschreibung des gesellschaftlichen und politischen Systems und seiner Veränderung abwirft. Daß sie etwas abwirft, ist heute eine gewiß verbreitetere, wenn auch noch keineswegs allgemeine Überzeugung. Es scheint mir aber das Geschäft einer «demokratischen» Geschichtsschreibung zu sein, über die «bürgerliche» Geschichtswissenschaft, ihre Annahmen hinsichtlich der bewegenden Kräfte der Geschichte und damit der Auswahl der Forschungsgegenstände hinauszukommen. Wenn die «Utopie» Demokratie eine Hoffnung auch für die Zukunft ist, sollte die Geschichtswissenschaft die Berechtigung dieser Hoffnung aus der Vergangenheit prüfen. Die «geschichtliche Bedeutung des deutschen Bauernstandes» zu belegen ist dazu ein Beitrag. Bern, im August 1988

Peter Blickle

Bauer und Herrschaft

Leibherrschaft als Instrument der Territorialpolitik im Allgäu Grundlagen der Landeshoheit der Klöster Kempten und Ottobeuren In seinem 1933 erschienenen Werk «Der deutsche Bauernkrieg» hat Günther Franz die revolutionäre Erhebung der Allgäuer Bauern, insonderheit die der Untertanen des Fürstabts von Kempten, vornehmlich als eine den Intensivierungsmaßnahmen der Allgäuer Herrschaften immanente Bewegung begriffen und in der Verschärfung der Leibherrschaft das Movens der mehrmaligen Aufstände gesehen. 1 In einem zeitlich weiter gespannten Rahmen zeigt sich der Bauernkrieg von 1525 im Kemptener Raum als letzter Versuch der gesamten Untertanenschaft 2 , einer zum Objekt vorabsolutistischer Willkür mißbrauchten Leibherrschaft zu entgehen. 3

1 GÜNTHER FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, M ü n c h e n 1933, S. 16FF., 171 ff. Eine 7. Auflage ist 1965 in D a r m s t a d t erschienen. Im folgenden wird nach der ersten Auflage zitiert. 2 In den folgenden J a h r h u n d e r t e n wurden Differenzen wegen der leibherrlichen Rechte ausschließlich zwischen dem Ausschuß der Kemptener Landschaft und dem Kloster ausgetragen. Vgl. dazu die Darstellung von FRANZ LUDWIG BAUMANN, Geschichte des Allgäus, 3. Bd., Kempten 1894, S. 290 ff. 3 Auf dem sogenannten Tag von Obergünzburg (9.-14. J a n u a r 1525) brachten die Kemptener Untertanen ihre Beschwerden gegen den A b t von Kempten vor. D r u c k bei FRANZ LUDWIG BAUMANN, Akten zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges aus Oberschwaben, Freiburg i. Br. 1877, N r . 6 2 , S . 5 1 - 7 5 . Original: H S t A M ( = Hauptstaatsarchiv M ü n c h e n , Abteilung I, Allgemeines Archiv), K L ( = Klosterliteralien) Kempten M ü B ( = M ü n c h e n e r Bestand) 411. Darin heißt es u . a . : Kempten h a b e sich unterstanden «frey zinser vnd zinserin, auch iren etlichen Kinder durch gefengknus vnd verschreibung zu aigen personen . . . dem gotzhus zu machen.» - «So sich ain freyer zinser oder zinserin mit ainer aigen des gotzhus person verheyrat, so wirt im bey ainer pen der kirchgang verspotten.» - «Wann ain freye person, m a n n oder frow, ain freyen zinser oder zinserin zu der ee g e n o m m e n hat, alßbald hat sich die frey person nach der zinserin oder dem zinser in die zinserschaft dem . . . gotzhus . . . ergeben mueßen.» - «Wann ain aigen man oder frow des gotzhus abgestorben ist, so begehrt (des gotzhus l a n d a m m a n n ) alle h a b und guter, beweglicher vnd vnbeweglicher.» Die Beschwerden der U n t e r t a n e n , die sich auf die Verschärfung der Leibherrschaft beziehen, ließen sich um ein mehrfaches erweitern. - Vgl. dazu die Quellenbelege bei GÜNTHER FRANZ, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, München 1963, Nr. 26, S. 124-133.

4 • Bauer und Herrschaft 1.

Der Strukturwandel der Herrschaft im 15./16. Jahrhundert, grundlegend für die Landeshoheit 4 der beiden Allgäuklöster 5 Kempten und Ottobeuren, soll hier am Beispiel eines Herrschaftselements, der Leibherrschaft, aufgezeigt und analysiert werden. Die Gegenüberstellung von Kempten und Ottobeuren scheint deswegen sinnvoll, weil durch die unmittelbare Nachbarschaft einerseits und durch die grundlegend unterschiedliche Siedlungs- und Herrschaftsstruktur andererseits, eine vergleichende Betrachtung die verschiedenartigen Herrschaftsmethoden und die Bedeutung der Herrschaftselemente deutlicher hervortreten läßt. Damit wird etwas von der Vielfalt der Rechts- und Verfassungswirklichkeit der kleinen schwäbischen Territorien sichtbar, die in ihrer Gesamtheit aufzuzeigen einer Herrschaftsgeschichte des Südwestens vorbehalten bleibt 6 , entsprechend ähnlichen Arbeiten über Österreich 7 , die Schweiz 8 und Bayern. 9 Die Benediktinerklöster Ottobeuren und Kempten haben, obwohl ihre Territorien nahtlos ineinander übergehen und beide ihre wirtschaftliche (und politische) Potenz, wenn auch in verschiedenem Maße, wesentlich dem fränkischen Königtum verdanken 10 , bis zum 15./16. Jahrhundert eine differierende herrschaftliche Entwicklung durchlaufen. Grund dieser Divergenz ist einmal die unterschiedliche Siedlungsstruktur. Während der Kemptener Raum sein landschaftliches Gepräge

4 Zur Begriffsbestimmung von Landeshoheit vgl. die Ausführungen in Abschnitt 4. 5 Wiewohl der LandschaftsbegrifF Allgäu in jüngster Zeit erneut diskutiert und dynamischer als früher gesehen wird, hält sich die vorliegende Darstellung an die von Franz Ludwig Baumann rekonstruierten Grenzen des Allgäus. Vgl. F. L. BAUMANN, Geschichte des Allgäus, l.Bd., Kempten 1883, S. 7ff. Vgl. dazu an neueren Untersuchungen vor allem U L R I C H CRÄMER, Das Allgäu, Wesen und Werden eines Landschaftsbegriffs, Remagen 1 9 5 4 . - Des weiteren W . J A H N , Strukturwandel und Abgrenzung der voralpinen Allgäuer Kulturlandschaft (Allgäuer Heimatbücher, 43. Bd.), Kempten 1954. 6 Den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung hat K A R L SIEGFRIED BADER mit seiner Arbeit Der deutsche Südwesten, Stuttgart 1950, unternommen. Ergänzend zur Problematik der schwäbischen Verhältnisse ist unbedingt seine Studie Territorialbildung und Landeshoheit, in Blätter für deutsche Landesgeschichte 90 (1953), S. 109-131 heranzuziehen. Sachlich und territorial begrenzter ist die Studie von H A N S E R I C H FEINE, Die Territorialbildung der Habsburger im deutschen Südwesten, in Z R G GA 67 (1950), S. 176-308. 7 O T T O BRUNNER, Land und Herrschaft, Wien/Wiesbaden 4 1959. 8 A D O L F GASSER, Entstehung und Ausbildung der Landeshoheit im Gebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Aarau/Leipzig 1930. 9 MAX SPINDLER, Die Anfänge des bayerischen Landesfürstentums (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 26), München 1937. - KARL BOSL, Die historische Staatlichkeit der bayerischen Lande, in Wege der Forschung, Bd. LX (Zur Geschichte der Bayern, hg. v. K A R L BOSL), Darmstadt 1 9 6 5 , S. 6 4 4 - 6 6 4 . - Dazu auch P A N K R A Z FRIED, Grafschaft, Vogtei und Grundherrschaft als Grundlagen der wittelsbachischen Landesherrschaft in Bayern in ZbLG 26 ( 1 9 6 3 ) , S. 1 0 3 - 1 3 0 ; neuerdings in überarbeiteter Form unter dem Titel Verfassungsgeschichte und Landesgeschichtsforschung in Bayern, in Wege der Forschung, Bd. LX, S. 5 2 8 - 5 6 4 . - Für Franken vgl. H A N N S H U B E R T H O F M A N N , Adelige Herrschaft und souveräner Staat (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 2), München 1962. 10 Vgl. F.L. BAUMANN, Geschichte des Allgäus, l . B d . passim. - HANSMARTIN SCHWARZMAIER, Königtum, Adel und Klöster im Gebiet zwischen oberer Iiier und Lech, Augsburg 1961.

Leibherrschaft im Allgäu • 5

durch Weiler- und Einödsiedlungen erhalten hat 1 1 , war der Herrschaftsbereich des Klosters Ottobeuren zum größeren Teil durch geschlossene Dörfer bestimmt. Verfügte Kempten nachweislich schon zur Zeit der Karolinger über ein beachtliches grundherrschaftlich geschlossenes Gebiet 1 2 , das es allerdings durch Rodung innerlich zu erschließen galt 13 , so mußte Ottobeuren ein solches «territorium clausuni» erst schaffen. 14 Während Kempten durch Schenkungen und vielfache Privilegierungen seit Karl dem Großen zu einem mächtigen Reichskloster avancierte 15 , erfreute sich Ottobeuren, im Schatten seines mächtigeren Nachbarn Kempten, nicht derselben Vorteile. 16 Der Aufbau des Ottobeurer Territoriums aus Streubesitz ist, anders als bei Kempten, das Verdienst einer Reihe profilierter Äbte und das Produkt des Spätmittelalters. Die Ministerialität Ottobeurens hat dem Kloster die weitgehend unerschlossenen Waldgebiete um Ottobeuren und im Süden des Herrschaftsbereichs, in dem an Kempten angrenzenden Gebiet, erschlossen. 17 Erst als es Ottobeuren gelang, beim Aussterben seiner Dienstmannen deren Besitz an sich zu ziehen, entstand um das Kloster ein grundherrschaftlich geschlossener, als Erblehen 18 an die Rodungsbauern vergebener Herrschaftsraum, der über alle finanziellen Krisen hinweg zur wirtschaftlichen Grundlage des Klosters wurde. 19 In Kempten dagegen hat sich das Institut der Klosterministerialität gerade in das Gegenteil des-

11 Das gegenwärtige Siedlungsbild des Allgäus ist nicht ausschließlich Ergebnis des Vereinödungsprozesses. Schon vor dem 17. Jahrhundert überwogen die Weiler- und Einödsiedlungen. Die Vereinödung hatte nicht generell zur Folge, daß die vereinödeten Höfe aus dem Dorf ausgesiedelt wurden. Im Vordergrund stand die Befreiung vom Flurzwang. Dazu die zusammenfassende Darstellung von G E R H A R D ENDRISS, Die Separation im Allgäu, in Morphogenesis of the agrarian cultural Landscape (Papers of the Vadstena Symposium at the XIXth International Geographical Congress, August 14-20, 1960), S. 46-56. 12 Die seit dem 9. Jahrhundert urkundlich zu belegende «marca Campidonensis» ist als Grundherrschaftsbezirk des Klosters anzusprechen, MG D D Ludwig d. Dt. 107. 13 Die Kolonisationstätigkeit Kemptens ist u. a. am Ortsnamenbefund abzulesen. Annähernd 300 Ortsnamen, darunter über 200 elliptische Namen, weisen auf Rodung hin. Vgl. R I C H A R D DERTSCH, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern, Schwaben, Stadt und Landkreis Kempten, Kaufbeuren 1966. - DERS., Die stark flektierten genitivischen Ortsnamen im Allgäu und seiner Umgebung, in Blätter für oberdeutsche Namenforschung 1 (1958), S.4ff. 14 Guten Einblick in Umfang und Verbreitung des Ottobeurer Grundbesitzes im Hochmittelalter gibt das Chronicon Ottenburanum. MG SS 23, S. 611 ff. 15 Kempten wurde als Objekt der Reichspolitik mehrfach den Großen des Reiches verliehen. Vgl. HANSMARTIN SCHWARZMAIER, Königtum, Adel und Klöster, S . 137ÌT. 16 Das erste, mit hoher Wahrscheinlichkeit echte Privileg für Ottobeuren stammt von Ottol. MG D D Otto I. 453. 17 Das beweisen die vielen Dienstmannensitze auf beiden Seiten der oberen Günz. Vgl. dazu die Karte bei TILMAN BREUER, Stadt- und Landkreis Memmingen (Bayerische Kunstdenkmale IV), München 1959. 18 Die Güter im südlichen Teil des Ottobeurer Territoriums, der eine dem Kemptener Raum verwandte Siedlungsstruktur aufweist, hatten eine durchweg homogene Leiheform, im Gegensatz zum Raum der großen Dörfer. St AN ( = Staatsarchiv Neuburg). Rentamt Ottobeuren 4, 6, 26, 28, 29, 41 (Grundsteuerkataster). 19 Der Ottobeurer Urkundenbestand im HStAM läßt erkennen, daß das Einöd- und Weilergebiet um den Herrschaftsmittelpunkt Ottobeuren von der Gütermobilität des 14./15. Jahrhunderts nicht betroffen wurde.

6

Bauer und Herrschaft

sen verkehrt, was die Äbte erstrebt hatten. Der verglichen mit Ottobeuren mächtigeren Dienstmannschaft Kemptens gelang vielfach der Aufstieg zur Reichsritterschaft und damit die Lösung aus dem hofrechtlichen Verband. 20 Aus ursprünglichen Dienstlehen wurden echte Lehen, gegenüber denen Kempten nur selten und mit Mühe ein Heimfallsrecht durchsetzen konnte. 21 Folge dieser Entwicklung war eine völlige Durchlöcherung und Zersetzung der ehemals geschlossenen Klostergrundherrschaft; der dem Kloster unmittelbar unterstehende Grund und Boden wurde auf einen Bruchteil seines früheren Umfangs reduziert. Hatte Ottobeuren durch adelige Schenkungen im 12. Jahrhundert 22 und durch gezielte Territorialpolitik seit dem 13. Jahrhundert seinen Herrschaftsraum allmählich vergrößern und arrondieren können, so trat in Kempten seit dem 13./^.Jahrhundert eine entgegengesetzte Entwicklung ein. Die im 15. Jahrhundert bestehende andersgeartete Herrschaftsstruktur beider Klöster legt es nahe, daß Kempten den Weg zum Territorialstaat 23 und zur Landeshoheit mit anderen Mitteln beschreiten mußte als Ottobeuren. Weder in Kempten noch in Ottobeuren tritt die Leibeigenschaft vor dem 15. Jahrhundert als besonders qualifiziertes Element der Herrschaft in Erscheinung. Mit ihrer Mobilisierung beginnen im Herrschaftsbereich der Kemptener Äbte die Territorialisierungsbestrebungen und führen durch ihre Realisierung zur klösterlichen Landeshoheit. Damit sollen Territorialstaat und Landeshoheit keineswegs monokausal begriffen werden - die folgenden Ausführungen werden die enge Verflechtung mit anderen Herrschaftselementen deutlich genug hervorheben - , es gilt lediglich, die Priorität einzelner Herrschaftsobjekte für die Ausbildung einer vollwertigen «Staatlichkeit» zu erweisen.

2. Kempten hat, wie die meisten Allgäuer Herrschaften im 15./16. Jahrhundert, in der Form des «Allgäuischen Gebrauchs» eine bemerkenswert potentielle Leibherrschaft ausgeübt. «Allgäuischer Gebrauch» 24 , aus einer Vielzahl von Prozeß-

20 Dazu gehören die Herren von Hirschdorf, Sulzberg, Wagegg, Werdenstein, Langenegg und Rothenstein, um nur die wichtigsten zu nennen. Vgl. F. L. BAUMANN, Geschichte des Allgäus, 2. Bd., S. 500f. Die Klosterministerialität hat ihre Rechtsgeschäfte seit dem 14. Jahrhundert mehr und mehr vor dem kaiserlichen Landgericht auf Leutkircher Heide abgewickelt ; sie mußte also frei sein. 21 Beim Aussterben der männlichen Linie der Ritter von Rothenstein konnte das Kloster nicht verhindern, daß die Kemptener Mannlehen Rothenstein und Kalden an die Marschälle von Pappenheim fielen. Vgl. J. SEDELMAYR, Geschichte des Marktfleckens Grönenbach, Kempten 1910, S. 17f. 22 MG SS 23, S. 611 ff. 23 Die Vollendung des Territorialstaats ist in dem hier untersuchten schwäbischen Gebiet das territorium clausum mit ausschließlicher Herrschaftsgewalt eines Herrn. Der Begriff wird auch für Erscheinungsformen gebraucht, die diesem Hochziel nahekamen.

Leibherrschaft im Allgäu • 7

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8 - Bauer und Herrschaft

akten zu ermitteln, besagt, daß dem Leibherrn Gerichts-, Steuer- und Wehrhoheit zustanden 25 , unabhängig vom Aufenthaltsort des Leibeigenen, unabhängig auch von seinem Grundherrn.26 Ein solcher Begriff konnte sich allerdings erst bilden, als diese Dreiheit der leibherrlichen Rechte ernsthaft in Frage gestellt wurde. Auf den Allgäuischen Gebrauch beriefen sich die Herrschaften, als die Grafen von Montfort den Hochgerichtsbezirk der Herrschaft Rothenfels in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum Territorialstaat ausbauen wollten, indem sie die dort ansässigen Leibeigenen anderer Allgäuer Herren, darunter eine Vielzahl kemptischer Eigenleute, zunächst unter ihre Gerichtshoheit zu zwingen suchten. Als Folge der über Jahrhunderte unbestrittenen Freizügigkeit der Leibeigenen 27 , gefördert durch die Unbeschränktheit der ungenossamen Ehe, waren die Leibeigenen des Klosters weit über den engeren territorialen Rahmen der Grafschaft Kempten hinaus verstreut. Innerhalb der Hochgerichtsgrenzen - und sie waren im 15. Jahrhundert überhaupt die einzigen festgelegten Grenzen 28 - bot sich ein entsprechend verwirrendes Bild. Um das Gesagte zu verdeutlichen, sollen sowohl die Streuung von Leibeigenen wie auch die innere Struktur eines Herrschaftsraumes kartographisch dargestellt werden. Dazu gibt es zwei ausgezeichnete Quellen: das Leibeigenen Verzeichnis der Montfort'schen Herrschaft Rothenfels 29 als Modell für alle Allgäuer Herrschaften hinsichtlich der Verbreitung der Leibeigenen30 und das in seiner Art wohl einmalige Leibeigenenbuch des Klosters Ottobeuren 31 , das nicht nur die 24

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Dazu R U D O L F WIEDEMANN, Der «Allgäuische Gebrauch» einer Gerichtsbarkeit nach Personalitätsprinzip (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 11), München 1932. Die im Titel schon enthaltene Begriffsbestimmung von Wiedemann ist zu einseitig, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Hierzu nur ein Beleg für viele. HStAM, Reichskammergerichtsakten 7565, I. «Item wahr, daß nach außweisung des Algewischen Gebrauchs ein Jeder Aigen Man dem gerichts Zwang bei Ime . . . trege, unnd vermög desselben uralten gebrauchs Jeder unnderthan Allein seinem Leibherren gerichtbahr, steuerbahr, gehorsamb unnd gewerttig sein solle.» «Allgäuischer Gebrauch» war es, um diesen Begriff wenigstens in Anmerkung noch zu verdeutlichen, daß ein stift-kemptischer Leibeigener, der mit einem Montforter Gut in der Grafschaft Rothenfels belehnt war, der klösterlichen Gerichtsbarkeit unterstand. Ein im Hochgerichtsbezirk der Truchsessen von Waldburg sitzender Eigenmann des Klosters mußte die Steuer (seiner Fahrnis) an Kempten entrichten etc. HStAM, KU ( = Klosterurkunden) Kempten 4 0 , 397, 517. - Belege auch bei R. WIEDEMANN, Allgäuischer Gebrauch, S. 19ff. Noch im ausgehenden 16. Jahrhundert war die Erinnerung an die frühere Freizügigkeit lebendig. So heißt es in HStAM, KU Kempten 4573 bezüglich der Freizügigkeit der Leibeigenen des Klosters Kempten und der Herrschaft Rothenstein: «Item wahr, das vor dem, Ee die verwechßlung der leibaigenen leüt, Ins werckh gezogen worden, Es von allters her ain solchen Prauch zwischen dem Stifft Kempten und der Herrschaft rotenstein gehabt. Namblich daß beederseits underthanen, von ainer in die ander herrschafft Irs gefallens heyraten und ziehen dörffen.» Der Gerichtsbezirk des kaiserlichen Landgerichts der Grafschaft Kempten, das dem Kemptener Abt unterstand, deckte sich mit der alten «marca Campidonensis». A L F R E D WEITNAUER, Das Rotenfelser Urbar und Leuteverzeichnis von 1 4 5 1 (Alte Allgäuer Geschlechter 2), Kempten 1938. Vgl. Karte 1. St AN, KI Ottobeuren 600. «Leibaigen Leuth Buoch geschriben worden anno inn acht unnd Vierzigsten» (1548). - Ein zweites, undatiertes Leibeigenschaftsbuch unter StAN, KL Otto-

Leibherrschaft im A l l g ä u • 9

klösterlichen Leibeigenen verzeichnet, sondern alle in den Gerichtsbezirken Ottobeurens wohnhaften Leute mit Angabe ihrer leibherrlichen Zugehörigkeit. 32 Vergegenwärtigt man sich nochmals, daß Leibherrschaft Gerichts-, Steuer- und Wehrhoheit nach sich zog, und hält dagegen die Vielzahl von Eigenleuten verschiedenster Herrschaften, die in einem Dorf beisammen wohnten, dann wird offenkundig, daß diese Herrschaftsstruktur zusammenbrechen mußte, sobald im Geltungsbereich des Allgäuischen Gebrauchs einer der mächtigeren Adeligen oder Äbte eine Neuorganisation der Herrschaft auf territorialer Grundlage durchsetzte. Durch gemeinsames Vorgehen beim Reichskammergericht und Reichshofrat verweigerten die Allgäuer Herrschaften den Bemühungen der Montforter für ein halbes Jahrhundert die Realisierung. Sie erkannten aber wohl, und an erster Stelle ist hier das Stift Kempten zu nennen, daß die bestehende Herrschaftsstruktur nicht unmodifiziert behauptet werden konnte, wollte man den Anschluß an die weit vorangeschrittene Territorialisierung in benachbarten Herrschaften nicht verlieren. 33 Voraussetzung und Ansatzpunkt aller Bemühungen um eine Zusammenfassung der Hoheitsrechte in einem um den Herrschaftsmittelpunkt gelagerten Raum war die Überwindung des Allgäuischen Gebrauchs unter formaler Wahrung der bestehenden Rechtsverhältnisse. Die schier unmöglich erscheinende Vereinigung dieser beiden Prinzipien - Territorialstaat auf der einen, personal gebundene Herrschaftsform auf der anderen Seite - hat das Allgäu dadurch gelöst, daß die Leibherrn seit dem 16. Jahrhundert in vielen Verträgen ihre Leibeigenen zu Hunderten untereinander austauschten. Dadurch schrumpfte wohl der Herrschaftsbereich ganz beachtlich zusammen, er gewann jedoch als Äquivalent an Geschlossenheit durch Verdrängung auswärtiger Leibherrn. Ehe Kempten allerdings daran denken konnte, mit den benachbarten Herrschaften über einen Austausch der Leibeigenen zu verhandeln, mußte die Voraussetzung dafür durch rechtliche Nivellierung der klösterlichen Untertanen geschaffen werden - das heißt, die rechtlich besser gestellten Freizinser mußten in die Leibeigenschaft gezwungen werden. 34 Da durch die einmal in Frage gestellten Rechte des Leibherrn von Seiten der Montforter Grafen die Leibherrschaft in ihrer vollen Bedeutung offenkundig geworden war und bei den vielfachen Herrschaftsbefugnissen des Leibherrn allein das Menschenpotential die Machtposition entschied, ergriff das Stift alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, eine einheitliche Untertanenschaft zu schaffen - dies natürlich nicht nur, um den Leibeigenenwechsel zu ermöglichen, sondern auch, um sich mit Herrschaftsrechten anzureichern. Kempten begann zunächst noch im 15. Jahrhundert, das Prinzip beuren 601. Ein gleiches Verzeichnis hat Richard Dertsch ediert: Das Einwohnerbuch des Ottobeurer Klosterstaates vom Jahre 1564 (Alte Allgäuer Geschlechter 34), Kempten 1955. 32 Vgl. Karte 2. 33 Bestes Beispiel für eine erfolgreiche Konzentrierung aller Herrschaftsrechte auf einen geschlosnen Raum war das Territorium der Reichsstadt Memmingen. 34 Eine rechtliche Gleichstellung aller Klosterleute war deswegen unerläßlich, weil sich z.B. die Grafen von Montfort nicht darauf einlassen konnten, einen Freizinser Kemptens gegen einen ihrer Leibeigenen auszutauschen.

10 - B a u e r u n d H e r r s c h a f t

der ärgeren Hand einzuführen 35 , demzufolge die Kinder dem Stand des rechtlich schlechter gestellten Elternteils folgten, während bisher ausschließlich der Stand der Mutter den der Kinder bestimmt hatte. 36 Damit war abzusehen, daß die noch verbliebenen Freien und die zahlreichen Freizinser nach einigen Generationen in die Leibeigenschaft absinken würden. Nach anfänglichen Versuchen, die Kinder aus ungenossamen Ehen zu teilen, entschloß sich Kempten, die ungenossame Ehe ganz zu verbieten.37 Zwar hoben ähnliche Erlasse anderer Leibherrn den Effekt dieses Verbotes wieder auf, doch wurde damit immerhin erreicht, daß die Freizügigkeit nicht de jure aufgehoben, aber de facto unmöglich war. Mit dem Verbot der ungenossamen Ehe verband Kempten nicht nur die Absicht, die Abwanderung seiner Leibeigenen zu verhindern, sondern hoffte - da unter ungenossamer Ehe auch die Verheiratung von Freizinsern mit Leibeigenen oder mit Freien verstanden wurde 38 - dadurch auch den Nivellierungsprozeß indirekt 39 zu beschleunigen. War die Rechtsstellung der Freizinser durch die vom Kloster geführten Prozesse schon äußerst unsicher geworden 40 , so war doch ihre Widerstandskraft noch ungebrochen 41 , wie die mehrfachen Erhebungen der Kemptener Bauern zeigen. Das in der Krisensituation geschärfte bäuerliche Rechtsempfinden widersetzte sich in einem nicht erwarteten Maße den Gleichmachungsversuchen des Klosters, so daß allein mit dem Prinzip der ärgeren Hand und dem Verbot der ungenossamen Ehe das Ziel eines rechtlich einheitlichen Untertanenverbandes, wie ihn Kempten möglichst rasch erstrebte, nicht zu erreichen war. So griff denn Kempten neben dem Mittel der Setzung neuen Rechts auch zum Rechtsbruch, indem es durch brutale Einkerkerungen und wirtschaftliche Benachteiligungen die Freizinser scharenweise zur Unterzeichnung von Ergebbriefen zwang. 42 Ein Versuch, diesem Schicksal zu entgehen, wurde 1492 vom Schwäbischen Bund durch Brandschatzung der kemptischen

35 Dazu G.FRANZ, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Nr.4, S.26 und F.L. BAUMANN, Akten Nr. 62. 36 Anstelle der Kemptener Urkunden sei hier auf das schon genannte Leuteverzeichnis der Herrschaft Rothenfels verwiesen (A. WEITNAUER, S. 78). Dort heißt es: «Item ouch welher ain wib hat, die min ist und der man nit, so sind wib und kind min; welher ouch miner arm man ainer ain wib hat, die nit min ist, so hörent die kind der muter nach.» 37 Ungenossame Ehen wurden nur gestattet, wenn der Kemptener Leibeigene seinen Ehepartner zur Verschreibung an das Kloster veranlassen konnte, womit eine Ungenossame im strengen Sinn schon nicht mehr gegeben war. 38 Dazu als Beleg nur ein Beispiel: Erhart Hewß, Zinser des Klosters Kempten, ergibt sich dem Kloster als Leibeigener, da er sich mit einer klösterlichen Leibeigenen vermählt hat. StAN, Urkunde F IV L 5 Fasz. 60. 39 Vgl. Anm. 37. 40 Seit Beginn des 15. Jahrhunderts lassen sich Prozesse belegen, weil sich die Freizinser, im Glauben auf ein ihnen gebührendes Recht, andere Schutz- und Schirmherren suchten. HStAM, K U Kempten 2 1 1 , 2 8 1 , 8 1 2 . 41 Vgl. G.FRANZ, Bauernkrieg, S.21 f. Hier eine eingehende Schilderung des Aufstandes von 1491/92. 42 Ein Libell nennt weit über 1000 Freizinser und Freizinserinnen, die in wenigen Jahren in die Leibeigenschaft gedrückt wurden. HStAM, KL Kempten (MüB) 411. Auszugsweise gedruckt bei G. FRANZ, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Nr. 26, S. 124f.

Leibherrschaft im Allgäu

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Dörfer und nie eingehaltene vertragliche Versprechungen erstickt. 43 Die völlige Rechtsunsicherheit wandelte sich nach dem kläglichen Zusammenbruch der bäuerlichen Erhebung 1525 insofern, als nun Freizinser und Leibeigene praktisch «gleichgeschaltet» waren. Was folgte war verfassungsgeschichtlich gesehen das entscheidende Ereignis in der Geschichte des Klosters Kempten: Mit den Grafen von Montfort 4 4 , dem Hochstift Augsburg 45 , dem Erzhaus Österreich als Inhaber der Herrschaft Hohenegg 4 6 , den Klöstern Isny 47 und Ottobeuren 48 , der Reichsstadt Kempten 49 , den Rittern von Laubenberg als Inhabern von Wagegg 50 , den Herren von Werdenstein 51 und den Truchsessen von Waldburg als Inhabern von Trauchburg 52 wurden Leibeigene getauscht 53 , ohne daß die Betroffenen dadurch ihren Wohnort hätten wechseln müssen. Eine Kette von Vertragsabschlüssen, denen teilweise mühsame Vermögensberechnungen der Leibeigenen zugrunde lagen 54 , führte in vielen Fällen zu einer ausdrücklichen Aufhebung des Allgäuischen Gebrauchs. 55 Mit wenigen Ausnahmen hatte Kempten in der Zeit von 1525 bis etwa 1560 alle fremden Leibherrn aus seiner Grafschaft verdrängt. Hochgerichtsherrschaft und Leibherrschaft waren territorial identisch geworden. Ein weitgehend geschlossener 56 Gerichts-, Steuer- und Wehrbezirk war konstituiert. Allein die wenigen, 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

54

55

56

HStAM, KU Kempten 1429. HStAM, KU Kempten 2824, 2958, 3629. HStAM, KU Kempten 2501, 3110, 3609, 4232. HStAM, Klosterakten Kempten (Neuburger Abgabe) 1811. HStAM, KU Kempten 2979. HStAM, KU Kempten 3767. HStAM, Reichsstädteurkunden Kempten 924, 1006, 1027, 1050, 1077, 1155. HStAM, KU Kempten 2431, 2847, 3308, 3475, 3527, 4031. HStAM, KU Kempten 4621. Fürstl. Waldburg-Zeil'sches Gesamtarchiv Schloß Zeil, Archivkörper Trauchburg, Urkunden 132, 432, 800. Den ersten nennenswerten Leibeigenenwechsel vollzog Kempten mit den Grafen von Montfort 1528. HStAM, KU Kempten 2472. - Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den durch den Leibeigenentausch herbeigeführten Strukturwandel stellt eine Urkunde von 1558 dar, HStAM, KU Kempten 3632. 2732 Leibeigene des Grafen von Montfort, die vorwiegend innerhalb der Kemptener Grafschaftsgrenzen ansässig waren, wechselten durch diesen Vertrag in die Leibeigenschaft von Kempten über. So beispielsweise zwischen Kempten und den Rittern von Laubenberg (Wagegg). Hier wurden Männer, Frauen und Kinder gegeneinander aufgerechnet, nicht die Leibeigenen schlechthin. Die Fahrnis als Grundlage für die Steuer wurde für jeden Untertanen einzeln verzeichnet und mußte beim Tausch bei den Vertragspartnern gleich hoch sein. Anderenfalls blieb sie als Schuld auf der Herrschaft stehen, bis zum nächsten Leibeigenen Wechsel. HStAM, KU Kempten 3475 und HStAM, Klosterakten Kempten (Neuburger Abgabe) 757. Eine ausdrückliche Aufhebung des Gebrauchs konnte Kempten mit den Klöstern Isny (HStAM, KU Kempten 243), Weingarten (HStAM, KU Kempten 2987 - Hauptstaatsarchiv Stuttgart, B 519 Urkunde 3) und Ottobeuren (HStAM, KU Kempten 3767) erreichen. Im Falle Ottobeurens ist es unerläßlich hinzuzufügen, daß hier die einseitigen Ansprüche Kemptens auf seine Leibeigenen im Ottobeurer Gebiet dadurch beseitigt wurden, daß Ottobeuren faktisch 1015 stift kemptische Leibeigene (mit ihren Steuern) um rund 6000 fl erkaufte. Das Prinzip des Austauschs wurde formal dadurch gewahrt, daß Kempten von Ottobeuren 30 Leibeigene erhielt. Der Aufhebung des Allgäuischen Gebrauchs hatte sich, nach anfänglich groß angelegten Wechselgeschäften, lediglich das Hochstift Augsburg verschlossen.

12

Bauer und Herrschaft

innerhalb der Grafschaftsgrenzen verbliebenen Adelsherrschaften konnten noch einige Jahrzehnte das herrschaftliche Relief am Rande mitbestimmen. Die Territorialpolitik Kemptens hat sich über ein Jahrhundert nahezu ausschließlich der Leibherrschaft als Instrument bedient. Die Hochgerichtsgrenzen gaben für diesen Prozeß den territorialen Rahmen, die Hochgerichtsbarkeit selbst wurde aus der Leibherrschaft abgeleitet, wenn der Leibherr mit dem Blutbann belehnt war 5 7 , die Grundherrschaft hatte nur subsidiären Charakter. Durch den Vergleich mit Ottobeuren wird die Tatsache noch plastischer hervortreten, daß der Kemptener Territorialstaat durch die optimale Ausnutzung der Leibherrschaft entstanden ist - einer Leibherrschaft allerdings, die bei der Vielfalt der Hoheitsrechte über das bekannte Maß der leibherrlichen Rechte in anderen Teilen des Reiches weit hinausging. 58

3. In den Niedergerichtsbezirken des Klosters Ottobeuren gab es, wie auch die Karte andeutungsweise zeigt, dieselbe Vielfalt fremder Leibeigener wie im übrigen Allgäu. 59 Ein Vergleich der Leibeigenschaftsbücher von 1548 und 1564 macht offenbar, daß Ottobeuren am Leibeigenentausch, der in dieser Zeit noch in vollem Gange war, nur sehr bedingt partizipiert hat. 60 Daraus kann man schließen, daß der Allgäuische Gebrauch das Kloster Ottobeuren nicht mehr erreicht hat. Diese Folgerung erhärtet ein Blick in den klösterlichen Urkundenbestand des fraglichen Zeitraums. Nur in sehr wenigen Fällen und nur mit den dem Allgäu im engeren Sinne 61 zugehörenden Herrschaften (Kempten, Montfort, Pappenheim), hatte Ottobeuren Differenzen beizulegen. Ein Austausch von Leibeigenen ist selten mit der Maßgabe erfolgt, den Allgäuischen Gebrauch außer Kraft zu setzen; wenn er vorgenommen wurde, dann meist auf Initiative der benachbarten Herrschaften. Das Kloster bezeichnete den Allgäuischen Gebrauch für sein Ge57 Der scheinbare Widerspruch zwischen territorialer und personaler Zuständigkeit löst sich, wenn man berücksichtigt, daß das Kemptener Grafschaftsgericht im 13. Jahrhundert ein Freiengericht war, das auf die Kemptener Mark beschränkt blieb. Dadurch hat es nie die Bedeutung erlangt wie das kaiserliche Landgericht auf der Leutkircher Heide oder das kaiserliche Landgericht der Grafschaft Marstetten, die beide eine territoriale Zuständigkeit von der Donau bis zum Alpenrand und vom Lech bis an den Schwarzwald postulierten. Vgl. H A N S E R I C H FEINE, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben im Spätmittelalter, in ZRG GA 66 (1948), S.233ff. 58 Für die Bedeutung der Leibherrschaft spricht, daß die Erbhuldigung dem Abt von Kempten von den Leibeigenen und Freizinsern (nur in Ausnahmefallen von den Grundholden) geleistet wurde. 59 ST AN, KL Ottobeuren 600.1548 saßen in den Ottobeurer Gerichten Leibeigene von Ottobeuren, Kempten (Kloster), Augsburg (Bischof), Memmingen (Stadt und Spital), Ochsenhausen (Kloster), Weingarten (Kloster), Rot an der Rot (Kloster), Irsee (Kloster), Mindelheim (Stadt), der Fugger (Grafen), Montfort (Grafen), Pappenheim (Marschälle), Stein (Ritter), Vöhlin (Patrizier, Memmingen), Heimenhofen (Ritter), Waldburg (Truchsessen) und Laubenberg (Ritter). 60 Vgl. Anm.31. 6 1 U . CRÄMER will das Allgäu im 1 6 . Jahrhundert auf jenen Raum beschränkt wissen, in dem der Allgäuische Gebrauch gegolten hat.

Leibherrschaft im Allgäu

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ZeichenerklärungI

I Ottobeurer Leibeigene

HHH

Kemptener Leibeigene

Leibeigene v e r s c h i e d e n e r Herren: A u g s b u r g {Bischof), F u g g e r (Graf), M e m m i n g e n (Stadt und Spital), Montfort (Graf), Pappenheim ( M a r s c h a u ) u.a.

Niederrieden

Gönz Grabus

Unterwesterheim Oberwesterheim!

Frechenrieden Benningen

^y-0

OTTOBEUREN

Ober-und Untermoosbach

\

Hauptmannschaft Dennenberg Hauptmannschaft Halbersberg Hauptmannschaft Ölbrechts Hauptmannschaft Eheim

Hauptmannschaft Böglins 1-99 Einwohner

100-249 Einwohner

Hauptmannschaft Schoren N

Hauptmannschaft /Oberried Pfarrei Böhen

250-500 Einwohner

— Grenzen d e s Ottobeurer Niedergerichtsbezirks (stark v e r e i n f a c h t )

14 • Bauer und Herrschaft biet immer als unanwendbar 62 und konnte damit selbst bei den höchsten Reichsgerichten durchdringen. Sicher ist, daß Ottobeuren seine Gerichts-, Steuer- und Wehrhoheit nicht, oder wenigstens nicht in erster Linie, auf die Leibherrschaft gründete. Allein schon der Umstand, daß die territorialstaatlichen Bestrebungen Ottobeurens bereits um 1500 zum Abschluß gekommen waren, während sie in Kempten zu diesem Zeitpunkt noch in den Anfangen steckten, weist auf verschiedene Methoden des „Staatsaufbaus" der beiden Klöster. Neben der Siedlungsstruktur dürften hier, so paradox das auch klingen mag, vornehmlich die Bürgerschaft und das Spital der benachbarten Reichsstadt Memmingen verantwortlich zu machen sein. Die Reichsstadt provozierte insofern eine gezielte klösterliche Territorialpolitik, als sie dank ihres rapiden wirtschaftlichen Aufstiegs im 14. Jahrhundert zu einem potentiellen Käufer von Gütern und Herrschaften wurde. Nach dem Ausverkauf des Memmingen benachbarten reichsritterschaftlichen Adels63 hat die Reichsstadt - und damit sind gleichermaßen das Bürgertum, wie auch das Spital und die Stadt selbst gemeint - ernstzunehmende und wiederholt erfolgreiche Versuche unternommen, sich in den vorwiegend ottobeurischer Grundherrschaft unterstehenden Dörfern einzukaufen. 64 Daß schließlich Ottobeuren in einem mehr als hundert Jahre währenden wechselseitigen Ringen die Oberhand behielt, ist einmal der Tatsache zu verdanken, daß es früh genug durch den Verkauf entlegener Besitzungen finanzielle Reserven mobilisierte; zum anderen zeichnet dafür einfach die wirtschaftliche Stagnation der Reichsstadt verantwortlich. Ottobeuren hat aus dieser Entwicklung zweifachen Nutzen gezogen: es hat am Ausverkauf der Reichsritterschaft, eingeleitet durch die Reichsstadt, partizipiert, und es konnte schließlich von Memmingen Besitzkomplexe erwerben, die dank der politischen Dynamik der Stadt von fremden Herrschaftsrechten befreit waren. Die Erkenntnis, daß der Leibherrschaft im Ottobeurer Herrschaftsbereich nur eine bescheidene Bedeutung beizumessen sei 64a , drängt nach einer Beantwortung der Frage: warum. Sie liegt keineswegs offen zutage, doch läßt sich nach den am Kemptener Material gewonnenen Kenntnissen vermuten, daß auch für den Ottobeurer Raum ein zentrales Herrschaftselement von besonderem Schwergewicht war. Das Herrschaftselement, das aus der Ottobeurer Klosterherrschaft den Ottobeurer Territorialstaat entstehen ließ, und damit für die Landeshoheit des Klosters im Katalog der Herrschaftsrechte Priorität beanspruchen darf, war die Grundherrschaft. Der Begriff Grundherrschaft ist allerdings so indifferent, daß 62 Es soll «in der ottenpeurischen oberkhait und gerichten mit Inventieren, bevögten, und dergleichen Handlungen nit nach Algewichschem gebrauch, Sonder nach des ottenpeurischen Gottshaus alter Gewonhait und gemainen Rechten gehalten werden.» HStAM, Klosterakten Kempten (Neuburger Abgabe) 1020. 63 Vgl. LUDWIG MAYR, Geschichte der Herrschaft Eisenburg, Steinbach 1918. 64 Dazu F. L. BAUMANN, Geschichte des Allgäus, Bd. 2 und 3 passim. 64 a In Anmerkung sei wenigstens auf die Tatsache hingewiesen, womit die oben aufgestellte These erhärtet werden soll, daß Ottobeuren nach Ausweis der Leibeigenschaftsbücher weder die ungenossame Ehe verbot, noch das Prinzip der ärgeren Hand durchzusetzen suchte. Interessant ist auch die Feststellung, daß nach einem Vergleich der Leibeigenenbücher von 1548 und 1564 der prozentuale Anteil der Freien an der Gesamtbevölkerung nahezu konstant geblieben ist.

Leibherrschaft im A l l g ä u • 15

ihm zur Seite das Prädikat geschlossen treten muß, um die herrschaftliche Entwicklung Ottobeurens verständlich zu machen. Urkunden belegen zur Genüge, daß mit der geschlossenen (oder wenigstens überwiegend geschlossenen) Grundherrschaft in einem Dorf eine Fülle von Herrschaftsrechten verknüpft war. Der dominierende Grundherr besaß «Zwing und Bann, Gebot und Verbot und das Gericht», wie sich die Urkunden ausdrücken. 65 Mit einer geschlossenen Grundherrschaft war somit die niedere Vogtei, die Niedergerichtsbarkeit, verbunden, deren sachliche Kompetenz im Ottobeurer Raum weit über das bekannte Maß hinausgeht, da das Niedergericht Fälle bis zu den fließenden und beinschrötten Wunden an sich zog. 66 Damit war der dominierende Grundherr auch Dorfherr. 67 Die territorial abgegrenzten Dorfgerichte scheinen für alle Dorfbewohner zuständig gewesen zu sein; eine Exemtion fremder Leibeigener vom Dorfgericht läßt sich quellenmäßig nicht belegen. 68 Der Anspruch der Ottobeurer Prälaten, in ihren Gerichten gelte der Allgäuische Gebrauch nicht, wurde also zu Recht behauptet.

4. Am Modell der beiden Klöster Kempten und Ottobeuren zeigt sich, daß - entsprechend der unterschiedlich gearteten herrschaftlichen Struktur - recht verschiedene Herrschaftsmittel zum Aufbau eines Territorialstaates eingesetzt werden konnten und mußten; entscheidend war vornehmlich, ob politische Dynamik hinter den Herrschaftsobjekten stand 6 9 und deren Möglichkeiten zu voller Entfaltung brachte. Auf eine vereinfachte Formel gebracht, gilt für Kempten: die volle Ausnutzung der Leibherrschaft ermöglichte den Kemptener Territorial-

65 Z.B. HStAM, KU Ottobeuren 93, 162, 172, 195, 304, 497. Gelegentlich läßt sich noch greifen, daß das Dorfgericht mit dem Maierhof verbunden war. Dieser Unterschied hat sich allerdings faktisch nicht ausgewirkt, da der Grundherr des Maierhofes stets mehrere Höfe im Dorf besessen hat und somit ein natürliches Übergewicht hatte, zumal zum Maierhof oftmals noch andere Rechte gehörten (Hirtenstab u.a.). 66 Klosterarchiv Ottobeuren, Akten 6/1. 67 Der Dorfherr übte schließlich, den früh- und hochmittelalterlichen Eigenkirchenherren ähnlich, dank der Inkorporation der Dorfkirche eine faktische Kirchenhoheit aus. Den engen Zusammenhang von Dorfherrschaft und Inkorporationen erweisen eine Vielzahl von Beispielen im Ottobeurer Gebiet. War Ottobeuren in einem Dorf zur Ortsherrschaft vorgestoßen, so konnte es zumeist ohne Schwierigkeiten die Inkorporation der Kirche erreichen. 68 Es finden sich auch keine Hinweise darauf, daß die Dorfrichter ausschließlich Ottobeurer Leibeigene gewesen wären - im Gegensatz zur Praxis der Kemptener Dorfgerichte. Für die personale Zuständigkeit der Dorfgerichte im Kemptener Raum z.B. HStAM, Klosterakten Kempten (Neuburger Abgabe) 1337. 69 Vgl. WALTER SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in Wege der Forschung, Bd. II (Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. v. HELMUT KÄMPF), D a r m s t a d t 1 9 6 4 , S. 1 8 6 .

16 • Bauer und Herrschaft Staat - und für Ottobeuren: die Grundherrschaft bildete die Basis des Klosterstaates. D a ß die Entscheidung für ein Herrschaftselement wohl begründet und an den strukturellen Gegebenheiten orientiert war, sollte das Beispiel Ottobeuren in sehr groben Zügen zeigen. Für Kempten bleibt jedoch noch zu beweisen, d a ß die Leibherrschaft, und sie allein, geeignet war, eine flächenstaatliche Herrschaft zu schaffen. Im 15. Jahrhundert bot sich Kempten kaum eine Möglichkeit, das durch die Klosterministerialität aufgelöste «territorium clausuni» des Hochmittelalters wieder herzustellen. Der reichsritterschaftliche Adel erkannte in Kempten den eigentlichen Rivalen seiner Machtstellung. Solange der Adel finanziell gesund war, bestand keine Aussicht, in die erstarrten grundherrlichen Verhältnisse Bewegung zu bringen. 7 0 Sah sich ein Adeliger aber gezwungen, seine wirtschaftliche Position aufzugeben, so neigte er viel eher dazu, seinen Besitz dem aufstrebenden Bürgertum der Reichsstadt Kempten zu überlassen, als dem Kloster, denn bei der starken Schwankungen unterworfenen Finanzkraft einzelner städtischer Bürgerfamilien bestand bei einer Konsolidierung der eigenen Verhältnisse eine größere Wahrscheinlichkeit des Rückkaufs. Dieser Situation stand das Stift ohnmächtig gegenüber. Über den Weg der Grundherrschaft einen geschlossenen Herrschaftsraum aufzubauen, sah Kempten keine Möglichkeit. So war es verständlich, wenn das Fürststift die Leibherrschaft als Instrument für seine territorialstaatlichen Zwecke einsetzte, zumal das angestrebte Ziel auf diese Weise ohne große finanzielle Investitionen erreichbar schien. Bisher wurde nur am Rande die Frage der Landeshoheit berührt und fast ausschließlich vom Territorialstaat gesprochen. Dies, weil der Begriff der Landeshoheit - das ergibt schon ein Blick in die umfangreiche Literatur 7 1 - u m einiges komplexer ist als der des Territorialstaates. F ü r Kempten wie für Ottobeuren ist nun jedoch festzustellen, d a ß nach der Konstituierung des Territorialstaats, die für Ottobeuren spätestens auf 1500, für Kempten auf frühestens 1550 datiert werden darf, nur noch unbedeutende herrschaftliche Veränderungen stattgefunden haben. Das innenpolitische Engagement der Prälaten, um es modern auszudrücken, beschränkte sich in der Folgezeit darauf, die einmal gefundene F o r m zu vollenden, die nur mehr bedeutungslosen Relikte fremder Herrschaftsrechte auszutauschen oder abzulösen und die Grenzen nach außen zu befestigen. Als Konsequenz dieser Feststellung ergibt sich: der Territorialherr besitzt die Landes-

70 Ein rein quantitativer Vergleich des Kemptener Urkundenbestandes, der auch die Urkunden der später an das Stift Kempten gekommenen Adelsherrschaften umfaßt, zeigt sehr deutlich, daß (im Vergleich zu Ottobeuren beispielsweise) eine Gütermobilität kaum vorhanden war. So weit Grund und Boden überhaupt verkauft wurden, kursierten sie unter Adelsfamilien oder den Bürgern der Stadt. 71 Eine Auswahl der wichtigsten Literatur bei KARL BOSL, Artikel «Landeshoheit» im Sachwörterb u c h z u r d e u t s c h e n G e s c h i c h t e , h g . v o n HELLMUTH RÖSSLER u n d GÜNTHER F R A N Z , M ü n c h e n

1958, S. 598 f. und THEODOR MAYER, Analekten zum Problem der Entstehung der Landeshoheit vornehmlich in Süddeutschland, in Blätter für deutsche Landesgeschichte 89 (1952), S. 92-100; neuerdings auch in Wege der Forschung II, S. 316-325. - Eine Zusammenstellung der älteren Literatur bei ADOLF GASSER, Landeshoheit der Schweizerischen Eidgenossenschaft, S . X V I f f , S.4ff.

Leibherrschaft im A l l g ä u

17

hoheit. Setzt man die Kemptener (Ottobeurer) Daten in diese Formel ein, so heißt das: die Leibherrschaft (Grundherrschaft), die den Territorialstaat ermöglicht hat, ist die Grundlage der klösterlichen Landeshoheit. Der Einwand, die Wurzeln der Landeshoheit für Ottobeuren und Kempten zu monistisch gesehen zu haben, läßt sich durch die Ergebnisse neuerer Forschung entkräften, wonach wenige Rechte zur Landeshoheit führen konnten: Dazu gehören Gebot und Verbot als Kern der Herrschaft 7 2 , Steuer- und Wehrhoheit, Gerichtsbarkeit ohne Blutgericht und Polizei. 73 Diese Rechte hat Ottobeuren aus der Grundherrschaft, Kempten von der Leibherrschaft her entwickeln können. Aus der Leibeigenschaft, deren Äquivalent Schutz und Schirm heißt, wurde eine Vogtei abgeleitet, wie Gerichts- 74 , Steuer- und Wehrhoheit des Leibherrn bestätigen. Daß Leibherrschaft auch ein Gebots- und Verbotsrecht nach sich zog, zeigen allein schon die Verordnungen Kemptens, wenn es die ungenossame Ehe «verbot». Ganz ähnlich hat Ottobeuren durch die Verdichtung der Grundherrschaft in einzelnen Punkten, sprich Dörfern, die existenziellen Voraussetzungen für seine Landeshoheit geschaffen. Die beharrliche Steigerung des Ottobeurer Anteils an Grund und Boden in bestimmten Orten führte konsequenterweise zur Dorfherrschaft und sie wiederum legitimierte Gerichts- 75 , Steuer- und Wehrhoheit, sowie das Gebots- und Verbotsrecht und, was in der Niedergerichtsbarkeit hier mit eingeschlossen war, die Polizei. Die mögliche Wertsteigerung eines Herrschaftsobjekts, beispielsweise der Grundherrschaft, beweist, daß bei ausgeprägter Herrschaftsdynamik und konsequent verfolgter politischer Zielsetzung über den Territorialstaat die Landeshoheit durch ein potentielles Herrschaftsrecht zu erreichen war. Daß Grundherrschaft nicht Grundherrschaft und Leibherrschaft nicht Leibherrschaft ist, daß sie vielmehr im Koordinatensystem von Raum und Zeit gesehen werden müssen, ergibt sich nebenbei. Darüber hinaus ist es allerdings wert festgehalten zu werden, daß auf kleinstem Raum 7 6 so grundlegend verschiedene Elemente, die freilich in der Schutz- und Schirmfunktion, der Vogtei 77 , ihre Wurzeln hatten, zur Landeshoheit führten. Obwohl der Kemptener Leibherrschaft bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert eine räumliche Begrenzung fehlte, obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft 72 KARL BOSL, Herrscher und Beherrschte im Reich des 10.-12. Jahrhunderts, in Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München 1964, S. 137. 73 K. BOSL, Artikel «Landeshoheit» im Sachwörterbuch z. dt. Gesch., S. 599. 74 Eine Hochgerichtsbarkeit über seine Leibeigenen konnte der Leibherr natürlich nur dann geltend machen, wenn er Stock und Galgen besaß. Der reichsritterschaftliche Adel in der Grafschaft Kempten hat nicht bis zur Hochgerichtsbarkeit vorstoßen können; er mußte somit die Aburteilung von Mord, Brand und Diebstahl Kempten überlassen. 75 Die mit der Dorfherrschaft korrespondierende Gerichtsbarkeit war natürlich das Niedergericht. Auch für den untersuchten Raum wäre es ein leichtes, die untergeordnete Bedeutung des Hochgerichts zu erweisen, eine Auffassung, die sich in der Literatur immer mehr durchsetzt. Vgl. K . S . BADER, S ü d w e s t e n , S . 1 6 . - D E R S . , T e r r i t o r i a l b i l d u n g , S. 1 2 5 . - K . BOSL, F r ü h f o r m e n , S. 2 1 5 .

76 Der untersuchte Raum umfaßt ein Gebiet in der Größe von zwei bis drei heutigen Landkreisen. 7 7 V g l . K . BOSL, D i e a l t e d e u t s c h e F r e i h e i t , in F r ü h f o r m e n , S . 2 1 5 . - O T T O BRUNNER, L a n d

Herrschaft, passim.

und

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andere Wege zum Territorialstaat beschritten wurden - und das sollte das Ottobeurer Beispiel zeigen - , hat sich Kempten ausschließlich an seiner spezifischen Siedlungs- und Herrschaftsstruktur orientiert und sich zielsicher und erfolgreich für seinen Territorialstaat eingesetzt. Es hat damit viele seiner bisher wenig wirksamen Rechte durch Akkumulation im begrenzten Raum zu voller Entfaltung bringen können und die dem Mittelalter verhaftete Herrschaftsform ohne Neuerwerb von Rechtstiteln zur Landeshoheit verdichtet.

Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten Die Untersuchung setzt folgende Daten als gesichert voraus: 1. Der krisenhafte Charakter der spätmittelalterlichen Agrarwirtschaft bedeutete Einkommenseinbußen für die Grundherren und - teilweise - für die Bauern. 2. Durch die Prosperität von Handel und Gewerbe übten die Städte auf die ländliche Bevölkerung eine starke Attraktion aus. 1 Für die Grundherren ergab sich daraus das zweifache Problem, die Einkommensverluste möglichst gering zu halten, wenn nicht gar durch andere Einkünfte zu kompensieren, und die Abwanderung zu verringern, wo nicht ganz zu bannen. Welche Möglichkeiten standen den Grundherren zur Verfügung, die Rückläufigkeit der Erträge aus der Landwirtschaft aufzuhalten und die Landflucht zu unterbinden? War die Leibherrschaft ein taugliches Instrument - das ist die Fragestellung dieser Untersuchung - , dieser Krisensituation zu begegnen. Ohne Zweifel liegt der Beitrag an der Peripherie des Generalthemas, doch ist er wiederum für die Gesamtproblematik insofern nicht irrelevant, als mit dieser Frage auch beantwortet werden kann, welche Herrschaftselemente einsetzbar waren, um über die Wirtschaftsstruktur des eigenen Territoriums bestimmen zu können.

1. Eine kausale Verknüpfung von Leibeigenschaft und Agrarkrise herstellen zu wollen, scheint gewagt, nach allem, was bis heute über die südwestdeutsche Leibeigenschaft bekannt ist. LÜTGE charakterisiert sie als «nichts anderes als die Rechtsbasis für eine Abgabenerhebung oder eine Besteuerung», die eine kaum erwähnenswerte Belastung für die bäuerliche Wirtschaft darstellte und «nicht im mindesten diffamierend oder auch nur ehrenmindernd» war. Sie diente vorrangig dazu, dem zur Landeshoheit fortschreitenden Territorialstaat einen einheitlichen Untertanenverband zu schaffen. 2 L Ü T G E stützt sich auf Detailforschungen, die vorwiegend dem Herzogtum Württemberg und den markgräflich-badischen Be-

1 W. ABEL, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswissenschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 2 1966, 42-96. 2 F. LÜTGE, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte, Bd. 3), 2 1966, 106 f. N o c h deutlicher herausgearbeitet in 3 F.LÜTGE, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1966, 123f. - Einen Zusammenhang zwischen Leibeigenschaft und Agrarkrise sieht LÜTGE in Westdeutschland gegeben (Laten); vgl. F.LÜTGE, Agrarverfassung, 105.

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Sitzungen galten. Für Württemberg liegen Untersuchungen von THEODOR K N A P P 3 und OTTO HERDING 4 vor; für Baden - von jüngsten Veröffentlichungen abgesehen5 - Arbeiten von THEODOR L U D W I G 6 und JÜRGEN TACKE 7 . Aufgrund dieser Untersuchungen lassen sich über die südwestdeutsche Leibeigenschaft verallgemeinernd folgende Aussagen machen: Die wirtschaftliche Belastung der Leibeigenschaft besteht in einer Leibsteuer oder einem Leibhuhn als Rekognitionszins8 und in der Todfallabgabe, die in der Regel auf Besthaupt und/oder Gewandfall beschränkt ist.9 Rechtlich bedeutet die Leibeigenschaft eine Beschränkung der Freizügigkeit10 im Zuge der Territorialstaatsbildung und - was eng damit zusammenhängt - eine Erschwerung der ungenossamen Ehe.11 Gemeinsam ist allen genannten Arbeiten, daß sie frühestens mit dem 16. Jahrhundert einsetzen.12 Die für die frühe Neuzeit gut belegte Vorrangigkeit der herrschaftlich-politischen Komponente der Leibeigenschaft gegenüber der wirtschaftlichen wird nun auch in das Spätmittelalter13 übertragen,14 wiewohl man hier für den deutschen Süd3 TH. KNAPP, Über die vier Dörfer der Reichsstadt Heilbronn, in: ders., Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vornehmlich des deutschen Bauernstandes, 1902 (Neudruck 1964), 1—84. — DERS., Bemerkungen über südwestdeutsche Leibeigenschaft (Kurbayern und Reichsstadt Heilbronn), ebd. 85-95. - DERS., Das ritterschaftliche Dorf Haunsheim in Schwaben, ebd. 261-330. DERS., Über Leibeigenschaft in Deutschland seit dem Ausgang des Mittelalters, ebd. 346-388. DERS., Neue Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des württembergischen Bauernstandes, 1919 (Neudruck 1964), hier 128-136 (Der Bauer und der Leibherr). 4 O. HERDING, Leibbuch, Leibrecht, Leibeigenschaft im Herzogtum Wirtemberg, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 11 (1952), 157-188. 5 H. OTT, Studien zur spätmittelalterlichen Agrarverfassung im Oberrheingebiet (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 23), 1970, bes. 128 -133. - A. STROBEL, Agrarverfassung im Übergang. Studien zur Agrargeschichte des badischen Breisgaus vom Beginn des 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte Bd. 23), 1972, bes. 33-38. 6 TH. LUDWIG, Der badische Bauer im 18. Jahrhundert (Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Straßburg, H. 14), 1896. 7 J. TACKE, Studien zur Agrarverfassung der oberen badischen Markgrafschaft im 16. und 17. Jahrhundert, in: Das Markgräferland 18 (1956), bes. 54ff. 8 Zu Leibhuhn und Leibsteuer allgemein TH. KNAPP, Heilbronn, 9. - Den Charakter als Rekognitionsgebühr unterstreichen neben KNAPP auch TH. LUDWIG, Badischer Bauer, 36; O . HERDING, L e i b b u c h , 1 6 0 ; A . STROBEL, A g r a r v e r f a s s u n g , 3 5 f .

9 Nach dem Vermögen wird das Hauptrecht in Württemberg, Heilbronn, Baden-Baden erhoben. Vgl. T H . KNAPP, H e i l b r o n n , 1 3 ; O . HERDING, L e i b b u c h , 163F.; T H . LUDWIG, B a d i s c h e r B a u e r , 4 2 .

- Für Abweichungen vgl. TH. KNAPP, Haunsheim, 327; DERS., Neue Beiträge, 130. 10 Die Freizügigkeit setzt Freilassung voraus, die nach Entrichtung eines Abzugsgeldes nach TH. KNAPP, Heilbronn, 15, in der Regel nicht verweigert wurde. A. STROBEL, Agrarverfassung, 38, betont, daß die Freizügigkeit gelegentlich verweigert wurde, um Abwanderungen (etwa nach dem Dreißigjährigen Krieg) zu verhindern. Die Abzugsgebühren betragen durchschnittlich wohl 5 10 % des Vermögens, werden gelegentlich aber auch recht willkürlich erhoben, wie im Heilbronner Gebiet; hier schwanken die Summen zwischen 3,9-33,3 % des Vermögens; TH. KNAPP, Heilbronn, 15. Ergänzend DERS., Neue Beiträge, 129; TH. LUDWIG, Badischer Bauer, 36; A. STROBEL, Agrarverfassung, 37. 11 T H . KNAPP, H e i l b r o n n , 2 6 . - H . O T T , O b e r r h e i n g e b i e t , 130.

12 Das gilt auch für die Untersuchung von O. STOLZ, Die Bauernbefreiung in Süddeutschland im Zusammenhang der Geschichte, in: V S W G 3 3 (1940), 1 - 6 8 , bes. 15-35. 13 Für die spätmittelalterliche Leibeigenschaft vgl. zusammenfassend K.BOSL, Artikel Leibeigenschaft, in: H. RÖSSLER - G. FRANZ, Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, 1958, 623f.

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westen nur von rudimentären Forschungsansätzen sprechen kann. 15 Der in der westdeutschen Historiographie vernachlässigten spätmittelalterlichen Leibeigenschaft hat sich hingegen die marxistisch-leninistische Historiographie im Rahmen ihrer Erforschung der frühbürgerlichen Revolution angenommen. Sie kam zu der im wesentlichen von S M I R I N begründeten Auffassung, die Leibeigenschaft sei für die Feudalherren des Spätmittelalters ein Instrument gewesen, «sich das Mehrprodukt der Bauernwirtschaften maximal anzueignen». 1 6

2. Ob die Leibeigenschaft tauglich war, Einkommenseinbußen auszugleichen und Abwanderungen zu verhindern, soll zunächst an zwei Grundherrschaften überprüft werden: an der oberschwäbischen Klosterherrschaft Schussenried und an der oberrheinischen Klosterherrschaft St. Blasien. Kriterien für diese Auswahl sind einmal die relativ gute Quellenlage, zum anderen die Nähe zu wirtschaftlich bedeutenden Städten: Bei der unbestreitbaren Landflucht des Spätmittelalters 17 dürften Untersuchungen in einer städtereichen Landschaft besonders erfolgversprechend sein. Schussenried liegt im engeren Einzugsbereich der Reichsstädte Biberach und Ravensburg, St. Blasien im Kraftfeld der Hoch- und Oberrheinstädte. Die Ergebnisse dieser Fallstudien sollen in einem zweiten Arbeitsgang auf 14 F. LÜTGE, Wirtschaftsgeschichte, 123 f. - S o a u c h K . S . BADER, Bauernrecht u n d Bauernfreiheit im späteren Mittelalter, in: Historisches J a h r b u c h 61 (1941), 65, 74f. 15 D a z u die Arbeiten von H . OTT, Oberrheingebiet u n d D . W . SABEAN, Landbesitz u n d Gesellschaft a m V o r a b e n d des Bauernkriegs (Quellen u n d F o r s c h u n g e n zur Agrargeschichte, Bd. 26), 1972. Sie hat W. ABEL z u s a m m e n g e f a ß t u n d d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß die Mittel des G r u n d h e r r n , den Bauern zu halten, sowohl der Anreiz wirtschaftlicher Erleichterungen wie L a s t e n e r m ä ß i g u n g , Besitzrechtsverbesserung u n d Antrittserleichterung sein k o n n t e n , als auch der Z w a n g . Vgl. H a n d b u c h der deutschen Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, Bd. 1, 1971, 327. 16 M . SMIRIN, D e u t s c h l a n d vor der R e f o r m a t i o n . A b r i ß des politischen K a m p f e s in D e u t s c h l a n d vor der R e f o r m a t i o n , 1955, 47-101, hier bes. 74. -DERS., D i e Volksreformation des T h o m a s M ü n z e r u n d der g r o ß e Bauernkrieg, 1956. Die B a u e r n k r i e g s f o r s c h u n g der D D R hält, wiewohl sie in vielen P u n k t e n über SMIRIN h i n a u s g e k o m m e n ist, a n dieser I n t e r p r e t a t i o n der «zweiten Leibeigenschaft» fest. Vgl. z u s a m m e n f a s s e n d M. STEINMETZ, Die frühbürgerliche Revolution in D e u t s c h l a n d (1476-1535); in R. WOHLFEIL (Hg.), R e f o r m a t i o n oder f r ü h b ü r g e r l i c h e Revolution ( n y m p h e n burger texte zur Wissenschaft modelluniversität 5), 1972, 45 f. - O b u n d inwieweit SMIRIN hier a u f g r u n d der negativen B e f r a c h t u n g des Begriffs Leibeigenschaft d u r c h Engels u n d Lenin einem K o n s t r u k t i o n s z w a n g unterliegt, wird sich zeigen. D a r a u f h i n z u w e i s e n ist, d a ß SMIRIN mit einem f ü r diese Fragestellungen nicht i m m e r ausreichenden Material, den Weistümern u n d bäuerlichen Beschwerden, arbeiten m u ß . 17 G . KIRCHNER, P r o b l e m e der spätmittelalterlichen K l o s t e r g r u n d h e r r s c h a f t in Bayern. Landflucht und bäuerliches Erbrecht. Ein Beitrag zur Genesis des Territorialstaates, in: Z B L G 19 (1956), 1 - 9 4 , bes. 86. - E r g ä n z e n d speziell f ü r M ü n c h e n H . RUBNER, Die L a n d w i r t s c h a f t der M ü n c h e n e r E b e n e u n d ihre N o t l a g e im 14. J a h r h u n d e r t , in: V W S G 51 (1964), 4 3 3 - 4 5 3 , bes. 441, 445f. Einige wenige A n h a l t s p u n k t e bei G . WUNDER - G . LENCKNER, Die Bürgerschaft der Reichsstadt Hall von 1 3 9 1 - 1 6 0 0 ( W ü r t t e m b e r g i s c h e Geschichtsquellen, 25. Bd.) 1956, 7 8 - 8 3 . - Allgemein F . LÜTGE, W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e , 2 1 1 f.

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ihre Allgemeinverbindlichkeit für den deutschen Südwesten geprüft werden, soweit dies beim gegenwärtigen Stand der Quelleneditionen und Forschungen möglich ist.18 In Schussenried19 ist bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts in den Quellen von Leibherrschaft kaum die Rede. Da dies kein Zufall der Überlieferung ist, dürfte die Leibherrschaft für das Kloster recht peripher gewesen sein. Ein erheblich stärkeres Interesse des Klosters an seinen Eigenleuten wird seit 1386 greifbar: In einem knappen halben Jahrhundert lassen sich mehrere hundert Personen namentlich feststellen, die eidlich auf eine offensichtlich verschärfte Form der Eigenschaft verpflichtet wurden. Der weitaus größte Teil dieser Leute ist in Gruppen von 60-100 Personen in vier formulargleichen Urkunden erfaßt. 20 Die Eigenleute21 gehen gegenüber dem Kloster folgende Verpflichtungen ein: 1. Sie versprechen, sich, ihre Frauen und Kinder, sowie ihre Güter dem Kloster nicht zu entfremden. 2. Um den Anspruch des Klosters auf den Halbteil der Verlassenschaft sicherzustellen, haften alle in einer Urkunde genannten Personen für den (oder die) Flüchtigen. 3. Unbeschadet des Halbteils hat das Kloster das Recht, alle Vermögenswerte eines Flüchtigen einzuziehen.22 4. Die Urkunde hat Vorrang vor Stadtrecht, Landrecht und anderen Rechtsnormen. 5. Das Kloster ist berechtigt, die Flüchtigen unbeschadet ihres Aufenthaltsorts (Land, Stadt oder Burg) zurückzurufen. Das heißt: als rechtliche Folgen der Leibeigenschaft sind Freizügigkeit und freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn verboten. Die Ausschaltung anderer Rechtskreise sichert dem Kloster eine exklusive Gerichtshoheit über seine Eigenleute. Als wirtschaftliche Folge der Eigenschaft beansprucht das Kloster den Halbteil der Verlassenschaft eines Leibeigenen, und ihn nicht nur vom fahrenden Vermögen, sondern - wie alle Urkunden nachdrücklich bestätigen - auch von den liegenden Gütern. Wenn - was aufgrund dieser Formulierungen wohl geschlossen wer18 Ausgewertet wurden die städtischen Urkundenbücher und alle monographischen Darstellungen, die vom Titel wenigstens einen Hinweis zum Problem erwarten ließen. 19 Hier werden nur die wichtigsten Belege geboten. Für eine ausführlichere Behandlung der Schussenrieder Leibeigenschaft vgl. SAARBRÜCKER ARBEITSGRUPPE, Die spätmittelalterliche Leibeigenschaft in Oberschwaben, in: ZAA 21 (1973), H. 2. 20 HStASt (Hauptstaatsarchiv Stuttgart), B505 U (Urkunde) 391, 392; 1386 XI.4. - U 3 7 9 ; 1421 XII. 13. - U 4 0 3 ; 14271.18. - Es ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß der Eid das Ferment herrschaftlicher Abhängigkeiten darstellt und im bäuerlichen Rechtsbewußtsein und Religionsverständnis eine nicht übertretbare Verpflichtung darstellte. Die eidliche Absicherung personaler Abhängigkeiten ist auch in anderen Herrschaften üblich. Vgl. TH. KNAPP, Heilbronn, 4ff. - TH. LUDWIG, Badischer Bauer, 36. - A. STROBEL, Agrarverfassung, 34. 21 Der Begriff begegnet hier im Schussenrieder Herrschaftsbereich zum ersten Mal: «Wir die nachpenempten (es folgen 72 Namen) verichent a l l e . . . als wir alle der Libe recht aigent sigent...» HStASt, B 505 U 391. 22 « g u o t e r . . . ligendz oder varends». HStASt, B 505 U 391. Aus satztechnischen Gründen werden hier und im folgenden überschriebene Vokale in uo, ae etc. aufgelöst.

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den darf - Teile der landwirtschaftlichen Nutzungsfläche nicht grundherrlich gebunden waren, sondern den Bauern als Eigenbesitz gehörten, erfuhr damit die klösterliche Grundherrschaft von Generation zu Generation eine Ausweitung. Schon allein diese Überlegung macht es wahrscheinlich, daß die Leibeigenschaft in der Form, wie sie um 1400 begegnet, eine erhebliche Verschärfung darstellte: Denn wäre der Einzug des Halbteils über mehrere Generationen hin praktiziert worden, hätte es wenig Sinn gehabt, in den Urkunden immer wieder von «liegenden Gütern» zu sprechen, weil es bäuerlichen Eigenbesitz de facto nicht mehr hätte geben dürfen. Wenn von den Grundholden der Halbteil als Todfall schon im 14. Jahrhundert eingezogen wurde, dann zweifellos nur von der Fahrhabe, 2 3 da die durchgehend leibfalligen Güter ja ohnehin dem Kloster heimfielen. Die rigorosen Maßnahmen des Klosters - Einzug des Vermögens, Enterbung der Kinder, Gesamthaftung durch die Nachbarn, hohe Bürgschaften und eidliche Verpflichtung - lassen keinen Zweifel daran, daß sich die Schussenrieder Bauern 24 vor und nach 138 6 25 scharenweise durch die Flucht dem Kloster entzogen. Es liegt nahe, eine Erklärung für dieses Phänomen im Umkreis der spätmittelalterlichen Agrarkrise zu suchen 26 und die Abwanderungsbewegung durch die Verdienstmöglichkeiten in der Stadt motiviert zu sehen. Ist es ein Zufall, daß drei Jahrzehnte nach der Pest schlagartig die Leibherrschaft zum zentralen Problem des Klosters Schussenried wird ? Die rechtlichen und wirtschaftlichen Repressalien Schussenrieds haben es den Bauern auf die Dauer zweifellos schwer, wenn nicht unmöglich gemacht, sich dem Kloster zu entziehen. Das gespannte Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertanenschaft konnte seit etwa 1430 kaum mehr dadurch entschärft werden, daß sich die Unzufriedenen dem Zugriff Schussenrieds entzogen; die Spannungen mußten innerhalb der Klosterherrschaft ausgetragen werden. So kam es 1439, möglicherweise im Anschluß an einen Aufstand, zu einem Vertrag zwischen dem Kloster und der Untertanenschaft, der unter anderem folgende Bestimmungen enthielt : 27 1. Anstelle des Halbteils bezieht das Kloster künftig den (Gewand-) Fall und das Besthaupt. 2. Die ungenossame Ehe wird bestraft: Wer sich außerhalb der Genossenschaft verheiratet, entrichtet - neben den üblichen Todfallgebühren - beim Tod zwei Drittel (der Mann) bzw. ein Drittel (die Frau) seiner Verlassenschaft als Strafe an das Kloster und verzichtet auf alle Ansprüche aus dem elterlichen Erbe.

23 Belege bietet W. MÜLLER, Freie und leibeigene St. Galler Gotteshausleute vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (101. Neujahrsblatt, hg. v. Historischen Verein des Kantons St. Gallen), 1961,9FF. Vgl. für Kempten R. DERTSCH (Hg.), Das stiftkemptische Salbuch von 1527 (Alte Allgäuer Geschlechter 24), 1941. 24 Die farblose Bezeichnung wird gebraucht, um für die vielen möglichen Formen rechtlich-sozialer Abstufung vom freien Muntmann bis zum Leibeigenen Raum zu lassen. 25 HStASt, B505 U 4 0 9 ; 1445 II. 3. 26 W.ABEL, Agrarkrisen,

48-96.

27 HStASt, B505 U 4 0 8 ; 1439 1.10. - Untertanenschaft = «geburschaft gemainlich rych und arm, man und frowen, so zuo d e m . . . gotzhus zuo Schussenried... von aigenschaft wegen gehören». Zum Aufstand vgl. O. FEGER, Geschichte des Bodenseeraumes, Bd. 3, 1963, 365.

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3. Die Bauern bleiben bei gleicher Abgabenhöhe ihr Lebtag auf den Gütern. 4. Freizügigkeit und freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn sind verboten. Ein gewisser Interessenausgleich zwischen der Gesamtuntertanenschaft und der Herrschaft schien hergestellt: Die Bauern hatten das Kloster zwingen können, auf den Halbteil zu verzichten; das Kloster hatte die weitgehende Identität von Grundherrschaft und Leibherrschaft erreicht und damit seine Herrschaftsrechte territorialisiert und intensiviert. Vor diesem Vertrag wird zwischen «Leibeigenschaft» und «Guteigenschaft» unterschieden: Die durch Verschreibungen enger an das Kloster gebundenen Leute waren lediglich «der libe recht aigen». 28 Die Urkunde von 1439 jedoch spricht von einer «Eigenschaft», die sich auf Leib und Gut bezieht. Das läßt vermuten, daß der bäuerliche Eigenbesitz «vergrundherrschaftet» worden ist. 29 Die folgenden Jahrzehnte bis 1500 stehen im Zeichen verbindlicher Auslegungen dieses Vertrags von 1439, die von einer Entlastung der Bauern begleitet wurden. Die gefundenen Kompromißformeln waren offenbar geeignet, für das weitere Zusammenleben von Herrschaft und Untertanenschaft eine brauchbare Grundlage zu schaffen. Die Schussenrieder Bauern verzichteten im Bauernkrieg in ihrer Beschwerdeschrift auf jeden Hinweis auf die Leibeigenschaft; 30 in den Urkunden des 16. Jahrhunderts ist von der Leibeigenschaft kaum mehr die Rede. Aus der Entwicklung der Schussenrieder Leibeigenschaft zwischen dem Ende des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: 1. Aus einer vermutlich losen persönlichen Abhängigkeit der Klosterleute wird «die Leibeigenschaft». 2. Die Leibherrschaft in der skizzierten scharfen Ausprägung wird ausgebildet, um die Abwanderung zu verhindern. 3. Durch die Todfallabgabe des Halbteils der liegenden und fahrenden Güter erweitert das Kloster seine Grundherrschaft und schafft so - falls diese Abgabe im 14. Jahrhundert noch nicht üblich gewesen sein sollte - einen Ausgleich für die krisenbedingten Einkommenseinbußen. 4. Aus der Leibherrschaft entwickelt das Kloster eine exklusive Gerichtshoheit, die mit der Vereinigung von Grundherrschaft und Leibherrschaft eine qualitativ neue Art von Herrschaft hervorbringt, die in Verbindung mit dem Territorialitätsprinzip den Weg frei macht zu Landeshoheit und Reichsunmittelbarkeit.

28 HStASt, B 5 0 5 U 4 0 3 . - Für weitere Belege oben S . 4 2 A n m . 2 1 . 29 Bei der durchschnittlichen Lebenserwartung um 1400 ist wohl damit zu rechnen, daß zwischen dem Einsetzen der Leibeigenschaftsurkunden und dem Vertrag von 1439 zwei Generationen liegen. D a m i t könnte der Eigen besitz auf ein Viertel des U m f a n g s v o n 1386 reduziert worden sein. Vgl. D.W.SABEAN, Landbesitz, 88ff. - Eine weitgehende Identität der in dieser Urkunde genannten Leute und der Untertanenschaft ist wahrscheinlich. Vgl. SAARBRÜCKER ARBEITSGRUPPE, L e i b e i g e n s c h a f t .

30 G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 2), 1963, 164 Nr. 36.

Agrarkrise und Leibeigenschaft • 25 D e r herrschaftlich-politische Aspekt der Leibeigenschaft, der zweifellos nicht übersehen werden darf, m u ß im folgenden u m einer möglichst klaren Linienführung willen unberücksichtigt bleiben. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich für die Klosterherrschaft St. Blasien auf d e m Schwarzwald nachweisen, die w e g e n der auffallenden Parallelen zu Schussenried knapp skizziert werden kann. Vor 1370 kam es zwischen d e m Kloster und seinen Gotteshausleuten in der Herrschaft Hauenstein w e g e n der Leibeigenschaft zu Auseinandersetzungen, die in einen Aufstand umschlugen. 3 1 D i e Eigenleute suchten sich durch A b w a n d e r u n g in die Städte d e m Kloster zu entziehen 3 2 und verweigerten die Leibeigenschaftsabgaben, die mit «Erbe» in den Urkunden u m schrieben werden. 3 3 D e r Begriff des Erbes i m Kontext der Leibherrschaft ist schwer exakt zu definieren, 3 4 d o c h ist a n z u n e h m e n - wenigstens deutet der A u f stand in die Richtung - , daß das Kloster seine leibherrlichen Ansprüche zu erweitern suchte, möglicherweise sogar liegendes G u t als Todfallabgabe beanspruchte. In einem Schiedsspruch des österreichischen L a n d v o g t s über die leibherrlichen Rechte St. Blasiens 3 5 wurde festgehalten, d a ß v o n sogenannten «aintragenden» Leibeigenen das Kloster als Todfall die fahrende H a b e erhält, während das liegende G u t an die nächsten Verwandten fällt. 3 6 D i e s e B e s t i m m u n g in einen Schiedsspruch a u f z u n e h m e n , wäre überflüssig, hätte das Kloster nicht Ansprüche auf die Liegenschaften geltend gemacht. N a c h längeren Differenzen wurde zwischen den Gotteshausleuten und d e m Kloster in der Öffnung des W a l d a m t e s v o n 1383 ein gewisser Ausgleich gefunden. 3 7 Freizügigkeit bestand in jenen Städten, in denen das Kloster die Todfall-

31 Vgl. G.FRANZ, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. J a h r h u n d e r t (Deutsche Agrargeschichte, Bd. 4), 1970,133. - J. BADER, Urkundenregesie über d a s e h e m a l i g e sankt-blasische W a l d a m t , in: Z G O 6 (1855), 2 2 6 - 2 5 0 , 3 5 8 - 3 8 2 , 4 6 6 - 4 8 7 ; hier 364.

- Es kann kein Zweifel darüber bestehen, d a ß die von BADER vorgelegten U r k u n d e n im Einzelfall genau überprüft werden müßten, weil nicht klar ist, o b er sich auf Originale, Kopialbücher oder möglicherweise sogar chronikalische Berichte stützt. Eine Ü b e r p r ü f u n g des archivalischen Materials im Generallandesarchiv Karlsruhe war mir jedoch im M o m e n t nicht möglich. 32 J. BADER, Urkundenregeste, 358. - D a ß auch der Schwarzwald das Problem der Landflucht kannte, steht nach den urkundlichen Belegen ganz außer Frage. Vgl. J. BADER, Urkundenregeste, 376, 377, 473, 480 und ergänzend H.OTT, Oberrheingebiet, 128f. 33 Die Eigenleute St. Blasiens widersetzten sich dem Kloster «vnd verhueben j m ane recht die Erbe vnd anderi recht vnd gueten gewonheiten». 34 Vgl. W. MÜLLER, Die Abgaben von Todes wegen in der Abtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte des sankt-gallischen Klosterstaates (Rechtshistorische Arbeiten, Bd. 1), 1961, 8 f. 35 J.BADER, U r k u n d e n r e g e s t e ,

369.

36 «Wenn ain aintragender mensch sines guots, der des gotzhus aigen ist, abgestirbet, es sig m a n oder wip, k n a b oder tochter, den sol das gotzhus erben an allem sinem varnden guot.» J. BADER, Urkundenregeste, 369. Ein Weistum des Klosters Allerheiligen in Schaffhausen über die Rechte in Eisenharz gibt für den Begriff folgende Definition: «Item ain antragend hand ist, es sie wip alls m a n , das des g o t z h u ß aigen ist es sie j u n g oder alt das sin sunder brot hat und us gesundert ist das es mit nieman weder tail noch gemain hat und sin gut auch gen niemand verfügt hat das haissent antragend hend die sol ouch das gotzhus erben an allen Stetten da sie seshaft sind an alle irrung.» ZATr (Fürstlich Waldburg-Zeilsches Gesamtarchiv Schloß Zeil, Archiv Trauchburg) U 75; 1452 II. 4. 37 J.BADER, D a s ehemalige sankt-blasische Waldamt, in Z G O 6 (1855), 96-125, hier 112ff.

26 • Bauer und Herrschaft

abgaben einfordern konnte. Entzog sich ein Eigenmann der Herrschaft, konnte das Kloster sein fahrendes und liegendes Vermögen 38 einziehen. Gotteshausleuten, deren Kinder nicht mehr in ihrem Haushalt lebten, wurde als Todfall abgenommen «was sy hant». Die Zusatzverträge, die in den folgenden Jahrzehnten noch geschlossen wurden 3 9 und eine zunehmende Entlastung für die Bauern brachten, lassen in ihren Formulierungen an mehreren Stellen erkennen, daß es in bestimmten Fällen üblich gewesen sein muß, liegendes Gut einzuziehen. So wird noch in einer Urkunde Erzherzog Albrechts von Österreich 1455, welche die Reduzierung der Todfallabgabe auf das Besthaupt brachte, ausdrücklich betont, «daz ... das ... Gotzhaws aigenlewte von dem vorgenannten Abbt und conuent und jren nachkomen nicht mehr geerbt werden sullen weder an harnasch noch allen andern jren ligenden und varenden gueter». 40 Die Gegenüberstellung von Schussenried und St. Blasien zeigt, daß die Entwicklungsstufen der Leibeigenschaft parallel verlaufen. Unverkennbar ist allerdings eine zeitliche Phasenverschiebung: In St. Blasien fällt die Verschärfung der Leibherrschaft in die Zeit von 1370, in Schussenried liegt sie rund 50 Jahre später; der Ausgleich herrschaftlicher und bäuerlicher Interessen erfolgt auf dem Schwarzwald mit der Waldamtsoffnung von 1383, in Schussenried mit dem Vertrag von 1439; in einer Abgabenleibeigenschaft erstarren die persönlichen Abhängigkeiten nach schrittweiser Reduzierung der wirtschaftlichen Belastung auf dem Schwarzwald um 1450, in Schussenried um 1500. Es ist kaum zu bestreiten, daß diese Verlaufskurven auch von der herrschaftlichen Gesamtentwicklung mitbestimmt sind, soweit die Leibeigenschaft als Instrument der Territorialisierung gedient hatte. 41 Auffallend jedoch ist, wie gut sich die Entwicklung im ländlichen Bereich mit dem städtischen Bereich synchronisieren läßt. Soweit für die Städte des Ober- und Hochrheins Einwohnerzahlen greifbar sind, läßt sich zeigen, daß dort die Bevölkerung seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts rückläufig war. 42 Für die Aufnahmebereitschaft der Städte ist dies nicht ohne Folgen geblieben. Freiburg schloß 1368 einen Vertrag mit den benachbarten Grundherren des Breisgaus, deren Leute nicht mehr als Bürger oder Ausbürger aufzunehmen. 43 Eine ähnliche Abschließung gegenüber dem Umland ist für Konstanz, Kenzingen und Villingen

38 « . . . es si ligends oder varndes, wa es daz vint oder e r f r a g t . . . » J. BADER, Waldamt, 113. 3 9 J . B A D E R , U r k u n d e n r e g e s t e , 374FF„ 3 7 8 , 4 8 0 f . 4 0 J. BADER, U r k u n d e n r e g e s t e , 4 8 0 .

41 Vgl. neben den einleitend genannten Untersuchungen ergänzend P. BLICKLE, Leibeigenschaft als Instrument der Territorialpolitik im Allgäu, in: Wege und Forschungen der Agrargeschichte, Festschrift für Günther Franz, 1967, 5 1 - 6 6 . 4 2 Freiburg-1385:9000-9500E.;

1450:6135; 1500:6000-6500.Zürich-1357:12375;

1 4 1 0 : 1 0 5 7 0 ; 1 4 6 7 : 4 7 1 3 . Basel

-

1429: 7 8 0 0 - 1 0 4 0 0 ;

1446: 9 0 0 0 - 1 2 0 0 0 ;

1454:

1374:11050; 6300-8400;

1471/75: 6750. Neuenburg verzeichnet zu Beginn des 14. Jahrhunderts 3000 Einwohner; seitdem geht die Bevölkerung ständig zurück. Vgl. E. KEYSER (Hg.), Badisches Städtebuch (Deutsches Städtebuch, Bd. IV/2), 1959 und H. FLAMM, Der wirtschaftliche Niedergang Freiburgs i. Br. und die Lage des städtischen Grundeigentums im 14. und 15. Jahrhundert (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, 8. Bd., 3. Erg.-Bd.), 1905, 27, 36ff. 43 H. FLAMM, Niedergang Freiburgs, 12.

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nachzuweisen. 44 Dagegen stehen die oberschwäbischen Reichsstädte zur selben Zeit in voller Blüte. Hier ist ein Stagnieren der Bevölkerungsentwicklung und des Wirtschaftswachstums wohl seit der Mitte des 15. Jahrhunderts anzusetzen. 45 Das Schussenrieder und St. Blasier Material läßt zwei Probleme der spätmittelalterlichen Leibeigenschaft klar erkennen, die abschließend systematisch für den deutschen Südwesten behandelt werden sollen: 1. Wie begegnen die Grundherren der Landflucht? 2. Welche Möglichkeiten der Einkommenssteigerung bietet die Leibherrschaft?

3. Die spätmittelalterliche Landflucht ist eine Erscheinung, die es allerorten gegeben hat. Unterschiedlich nur waren die Mittel der Betroffenen, ihr zu begegnen. 46 So stößt man auch im südwestdeutschen Raum auf eine Vielzahl von Abwehrmaßnahmen der Grundherren: Die Gesamthaftung mehrerer Bauern reicht vom Breisgau 47 bis in den bayerisch-schwäbischen Grenzbereich. 48 Verbreitet sind Leibeigenschaftsreverse, die sich der Herr von seinem Eigenmann unter eidlicher Bekräftigung ausstellen ließ. 49 U m die wirtschaftlichen Abgaben aus der Leib44 Vgl. E. GOTHEIN, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, 1. Bd., 1892, 1 4 7 , 153, 155. 45 Ravensburg - 1300: 1500; 1380: 3000; 1500: 4500. Weitere Belege bei E. KEYSER (Hg.), Württembergisches Städtebuch (Deutsches Städtebuch, Bd. IV/2), 1962. Vgl. auch die Angaben bei P. EITEL, Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft, 1970. - Die Abschließung der Reichsstädte gegen das U m l a n d beginnt relativ f r ü h in Ulm, das seit 1423 die A u f n a h m e in das Bürgerrecht erschwert. E. NÜBLING, Die Reichsstadt Ulm am Ausgange des Mittelalters (1378-1556), l . B d . , 1904, 266 und 2. Bd., 1907, 375. 46 In Bayern etwa ist die Leibeigenschaft das letzte Mittel, um die Landflucht zu verhindern; zunächst wird die G r u n d h e r r s c h a f t als Instrument der A b w a n d e r u n g s d ä m p f u n g eingesetzt. Vgl. G. KIRCHNER, Landflucht und bäuerliches Erbrecht, 1 - 9 4 . - In Tirol schaltet sich das Landesfürstentum mit einer entsprechenden Gesetzgebung ein. Vgl. K. MOESER, Die drei Tiroler Wirtschaftsordnungen aus der Pestzeit des 14. J a h r h u n d e r t s , in: Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Tirols. Festschrift f ü r F r a n z Huter (Schlern-Schriften 207), 1959, 2 5 3 - 2 6 3 . 47 H. FLAMM, Niedergang Freiburgs, 12f. FLAMM bietet Belege für Mengen und Achkarren. 48 G.KIRCHNER, Landflucht und bäuerliches Erbrecht, 65f. - Die Belege, die KIRCHNER f ü r Steingaden und andere benachbarte Klöster mitteilt, decken sich inhaltlich auffallend mit den Schussenrieder U r k u n d e n . Gleiches gilt f ü r das Hochstift Augsburg: Füssen erhält das Privileg, Gotteshausleute Augsburgs als Bürger a u f n e h m e n zu können; soweit diese Leute der «fluochtsaemi verbuergt» sind, werden sie aus der Bürgschaftsverpflichtung entlassen. Vgl. W. E. VOCK, Die Urkunden des Hochstifts Augsburg 769-1420 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte, Reihe 2a, Bd. 7), 1959, 330 Nr. 661; 1407. IV. 8. 49 ZATr U 16; 1410 VI. 20. Heinz Bach, seine Ehefrau und deren Tochter von Friesenhofen schwören dem Truchsessen J o h a n n zu Waldburg und dem Gotteshaus Isny einen Eid, d a ß sie dem Truchsessen leibeigen seien und setzen f ü r ihre Leibeigenschaft 15 Gewähren. (Als ein Beispiel für viele.) J.BADER, Urkundenregeste, 377f.: 1397. G e r t r u d , Witwe des Klaus Maier, ihre eheliche Tochter Verena und deren ehelicher M a n n Bartholomä empfangen ein G u t und geloben, dem Kloster St. Blasien weder ihren Leib noch ihr G u t zu entfremden, «weder in stett noch vff bürgen, vnd gemainlich an kain w o n u n g oder gesaess», bei einer Strafe von 100Pfd. h.

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eigenschaft sicherzustellen, mußten in diesen Reversen meist mehrere Bürgen benannt werden,50 die gegebenenfalls für eine enorm hoch angesetzte Summe haften mußten.51 Innerhalb der jeweiligen Grundherrschaft gab es durchaus mehrere Wege, sich im Falle der Flucht des Bauern schadlos zu halten. 52 Doch forderte die anhaltende Krise, in hofrechtlichen oder hofrechtsähnlichen Kodifikationen für die Gesamtuntertanenschaft einheitliche Normen festzulegen: Aus der Kollision der bäuerlichen und herrschaftlichen Interessen sind nicht nur in St. Blasien und Schussenried Ordnungen und Verträge entstanden, sondern - um nur im schwäbischen Bereich zu bleiben - auch in Weingarten53, Weissenau 54 , Rot an der Rot 55 , Ochsenhausen 56 , Kempten 57 und Montfort-Staufen 58 . Sie gingen dann als fester Bestandteil der Agrarverfassung in die Dorfordnungen und Weistümer ein. 59 Dessen ungeachtet blieben die Unterschiede zwischen einzelnen Grundherrschaften beachtlich: Die Strafen für Flucht lagen auch jetzt zwischen der mäßigen Mehrbelastung mit einem zweiten Hauptrecht 60 und dem Einzug der gesamten Erbschaft 61 . Die Maßnahmen der Grundherren reichten in der Regel nicht aus, die Mobilität der Untertanen zu verhindern.62 Im schwäbisch-bayerischen Grenzgebiet 50 Für Schussenried HStASt, B505 U398, 399, 401, 405. 51 Vgl. als ein Beispiel für viele die 1546 abgefaßten, aber zweifellos älteres Recht festhaltenden Statuten des oberschwäbischen Klosters Heggbach. P. GEHRING, Nördliches Oberschwaben (Württembergische Ländliche Rechtsquellen, 3. Bd.), 1941, 248. - Als urkundlicher Einzelbeleg für viele HStASt, B486 U793; 1441 X. 23. 52 So etwa in Weingarten; vgl. D.W. SABEAN, Landbesitz, 93. G.KIRCHNER, Landflucht und bäuerliches Erbrecht, hat daraufhingewiesen, daß man die Lehen einzieht, um zu verhindern, daß die Bauern Pfahlbürger werden. Damit mag es zusammenhängen, daß das vor den Toren der Reichsstadt Ravensburg gelegene Kloster Weingarten die Güter einzog, während dieses Problem in Schussenried nicht aktuell gewesen zu sein scheint. 53 HStASt, H 14/15 Nr.266, fol.20-22'; 1432. 54 HStASt, H14/15 Nr. 277, fol. 22-27'; 1448. 55 HStASt, B486 U 154; 1456 II. 13. 56 G.FRANZ, Quellen Bauernkrieg, 28ff. 57 A. WEITNAUER, Die Bauern des Stifts Kempten 1525/26 (Alte Allgäuer Geschlechter 25), 1949, 21-55.

58 P. BLICKLE, Personalgenossenschaften und Territorialgenossenschaften im Allgäu, in: Anciens Pays et Assemblées d'Etats ( = Standen en Landen) 53 (1970), 181-241; hier 197ff. 59 Vgl. P. GEHRING, Oberschwaben. - Die weitgehende Freizügigkeit, die in einigen Weistümern und Dorfordnungen des 16. Jahrhunderts gerade in Reichsstädte gestattet ist, dürfte ein Ergebnis der seit dem späten 15. Jahrhundert veränderten Verhältnisse sein : Die Landflucht gibt es nicht mehr. Vgl. für die entsprechenden Bestimmungen des St. Galler Kellhofes Weiler J. GRIMM, Weisthümer, 6.Teil, bearbeitet von R.SCHRÖDER, 1957, 300f. 60 H.OTT, Oberrheingebiet, 129. 61 HStASt, H 14/15 Nr. 277, fol. 2-27'. Vertrag des Klosters Weingarten mit seinen Leibeigenen von 1448. 62 In Anmerkung ist wenigstens darauf hinzuweisen, daß sich die in den Quellen so bezeichnete «Flucht» nicht allein auf die Städte erstreckte. Besonders Gotteshausleute versuchten sich dem herrschaftlichen Druck zu entziehen, indem sie sich andere Schutzherren - in der Regel Adelige suchten. Einen Anspruch auf freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn erhoben vor allem jene Leute, deren persönliches Abhängigkeitsverhältnis zu einem Herrn mit Leibeigenschaft zu negativ charakterisiert wäre. In der Regel waren es Zinser oder ihnen gleichgestellte Leute, die sich ihrer Klosterherrschaft zu entziehen suchten. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Kampf der

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wurden die Herzöge von Bayern 63 , am Oberrhein die Herzöge von Österreich 64 , im herrschaftlich stärker zerklüfteten schwäbischen Gebiet die Kaiser 65 veranlaßt, auf die Städte Druck auszuüben und sie zu zwingen, auf die Aufnahme von Leibeigenen als Bürger oder Ausbürger zu verzichten. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen darf man freilich nicht zu hoch veranschlagen. Aus der Tatsache, daß diese Gebote immer wiederholt werden mußten, wird deutlich genug, daß Wege gefunden wurden, die grundherrlichen und kaiserlichen bzw. landesherrlichen Gebote zu unterlaufen. Als überwunden konnte diese Krise der Leibeigenschaft erst dann gelten, als die Städte aufgrund ihrer inneren Probleme sich gegenüber dem Umland verschlossen.

Kemptener Freizinser, ihre Freizügigkeit und die freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn zu behaupten. Vgl. P. BLICKLE, Kempten (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Heft 6), 1968. Zusammenfassend G.FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 91972, 11 ff. - Freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn und Freizügigkeit standen offensichtlich den Kornelierleuten des Stifts Buchau zu, die schließlich dieses Recht auch nicht mehr behaupten konnten und im Zuge der Verschärfung der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse in die Leibeigenschaft herabsanken. Vgl. dazu die Beschwerden bei G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, Aktenband, 1968,150ff. und P. HÄRLE, Die zwölf Abteimaierhöfe des Stifts Buchau (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte, Bd. 27), 1937, 51. - Um die Mitte des 15. Jahrhunderts versuchten die Gotteshausleute von Rot sich dem Schutz des Landvogts von Schwaben zu unterstellen, mußten aber aufgrund kaiserlicher Intervention sich wieder dem Kloster unterwerfen. HStASt, B 488 Bü 1600. - Die häufigste Form der Flucht - darauf ist abschließend noch hinzuweisen - bestand in der Form der ungenossamen Ehe, die denn auch mit besonders harten Strafen in allen Grundherrschaften belegt wurde. Die Bestimmungen von Schussenried und St. Blasien lassen sich weitgehend verallgemeinern: der ungenossam verheiratete Leibeigene zahlt neben den in der Herrschaft üblichen Todfallabgaben - meist handelt es sich um Besthaupt und/oder Gewandfall 2 /3 bis 1 /i seiner gesamten Verlassenschaft und ist selbst nicht fähig, das elterliche Erbe anzutreten. - Für Weissenau: HStASt, H 14/15 Nr. 277, fol. 22-27'. - Für Weingarten: HStASt, H 14/15 Nr. 266, fol. 20-22'. Für den Schwarzwald: H. OTT, Oberrheingebiet, 130f. Für den ostschweizerischen Raum W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 63. 63 G. KIRCHNER, Landflucht und bäuerliches Erbrecht, 71 und passim. 64 J. BADER, Urkundenregeste, passim. 65 1274 verbietet König Rudolf I. auf Bitten des Grafen von Ottingen u.a. den Städten Dinkelsbühl und Nördlingen, Leibeigene des Grafen aufzunehmen; R. DERTSCH - G. W U L Z , Die Urkunden der Fürstl. Öttingischen Archive in Wallerstein und Öttingen 1197-1350 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft, Reihe 2a, Bd. 6), 1959, 27 Nr. 67. - König Sigmund verbietet allen Angehörigen und Städten des Reiches, Eigen-, Munt- und Erbvogtleute des Klosters Kempten aufzunehmen. HStAM (Hauptstaatsarchiv München, Abt. I Allgemeines Archiv), KU (Klosterurkunden) Kempten 399; 1431 X4. - 1431 erwirkte das Kloster Rot ein Privileg, daß seine Eigenleute, Untersassen und Untertanen nicht als Bürger angenommen werden dürfen. HStASt, B486 U95; ergänzend U821. - 1479 erhält das Kloster Ochsenhausen das kaiserliche Privileg, daß auf Anfordern alle Reichsstände und Städte verpflichtet sind, die klösterlichen Leibeigenen herauszugeben. HStASt, B481 U19. 1434 und 1496 verbieten die Kaiser der Stadt Kempten, Eigenleute und Zinser des Klosters Kempten in Schutz zu nehmen. HStAM, KU Kempten 439 (1434IX. 27) und 1537 (1496 VI. 3). Für St. Gallen vgl. W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 28. - Unter dem Druck Württembergs muß sich Eßlingen bereit erklären, auf die Aufnahme von Pfahlbürgern 1388 zu verzichten. Vgl. F. BERGER - O.R. ETTER, Die Familiennamen der Reichsstadt Eßlingen im Mittelalter (Eßlinger Studien, Bd. 7), 1960, 7.

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4. Der kumulative Effekt, den Agrarkrise und Landflucht bewirkten, mußte die Grundherren um so härter treffen, als der zur selben Zeit laufende Territorialisierungsprozeß eine starke Anspannung der finanziellen Kräfte erforderte. Es ist naheliegend, daß die Grundherren unter diesen Umständen versuchten, Einkommenseinbußen auszugleichen, ja wenn möglich, ihre Einkünfte zu erhöhen. Soweit sich der südwestdeutsche Raum bis heute überblicken läßt, ist keine spürbare Höherbelastung des ausgegebenen Grund und Bodens erfolgt. 66 Zu prüfen bleibt, inwieweit über die persönlichen Abhängigkeiten die Einkünfte gesteigert werden konnten. Hierbei sind aufgrund des Schussenrieder und St. Blasier Materials zwei mögliche Wege zu unterscheiden: die Erhöhung alter oder die Einführung neuer Abgaben und der Einzug liegender Güter. Es ist außerordentlich schwierig festzustellen, welche Abgaben etwa im 13. und frühen 14. Jahrhundert aufgrund persönlicher Abhängigkeiten vom Herrn gefordert werden konnten. Die zur Bereinigung der Leibeigenschaftskrise zwischen Untertanen und Herren abgeschlossenen Verträge erwecken den Eindruck, daß unberechtigte Forderungen die Konflikte provoziert hatten. 67 Dieser Gesamteindruck läßt sich mit weiterem Material absichern: So verbot König Albrecht dem Abt von Ottobeuren, die gesamte Verlassenschaft an Stelle von Gewandfall und Besthaupt einzuziehen; er verbot ihm auch, die Bauern mit überhöhten Schätzungen und Steuern zu belasten 68 . In einem Prozeß beschwerte sich ein Teil der Gotteshausleute des Schwarzwaldklosters Friedenweiler, daß sie die Besthauptabgabe leisten müßten, obwohl sie bisher nur das beste Gewand und die Waffen als Todfall hätten geben müssen 69 . Als St. Gallen die Vogtei der Freiweibelhube Degersheim um die Mitte des 15. Jahrhunderts erworben hatte, wurden die Freien fallpflichtig, während sie zuvor an die weltlichen Vögte keinen Fall entrichteten 70 . Die Freizinser des Fürststifts Kempten wurden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mit gleichen Steuern und Todfallabgaben wie die Leibeigenen belastet, wiewohl sich ihre Verpflichtung nach ihren Angaben auf Zinspfennig und Fall beschränkte 71 . Der Abt von St. Gallen beanspruchte von einem Gotteshausmann in Oberschwaben die gesamte fahrende Habe und ein Drittel des liegenden Gutes, was seine Witwe mit dem Hinweis verweigerte, ihr Mann sei ein freier Zinser und habe als solcher nur das Besthaupt oder den Gewandfall zu entrichten 72 . Die als 66 Vgl. D.W.SABEAN, Landbesitz, passim. 67 Vgl. die oben mehrmals genannten Quellen für Schussenried, St. Blasien, Kempten, Weingarten, Weissenau, Rot an der Rot und Ochsenhausen. 68 W.E. VOCK, Urkunden Augsburg, 85f. Nr. 163; 1299 II. 6. 69 K.S. BADER, Das Benediktinerinnenkloster Friedenweiler und die Erschließung des südöstlichen Schwarzwaldes, in: ZGO 52 (1939), 90. 70 W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 40. - Ähnliche Verhältnisse gelten für die Freigerichte Mörschwil und Untereggen. Vgl. auch K . H . GANAHL, Gotteshausleute und freie Bauern in den St. Galler Urkunden, in: Adel und Bauern im deutschen Mittelalter, 1943, 150fT. 71 So im Prozeß von 1463. HStAM, KU Kempten 812. 72 W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 21, 35, 65. Dieses Beispiel ist jedoch atypisch für die

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Kornelierleute bezeichneten Zinser des Damenstifts Buchau beschwerten sich im Bauernkrieg über die vor Jahren eingeführten Todfallabgaben Hauptrecht, Fall und Laß 7 3 . Dem Kloster Rot wurde durch eine kaiserliche Schiedskommission geboten, beim Tod die Erbschaft nicht einzuziehen, vielmehr sich auf die Erhebung von Besthaupt und Gewandfall zu beschränken 74 . In einem Prozeß der Tigenleute von Oberstaufen gegen den Grafen von Montfort erhielt der Graf die umstrittene Leibeigenschaft der Tigenleute bestätigt. Es folgte unmittelbar die Umwandlung der pauschal entrichteten und fixierten Tigensteuer in eine Vermögenssteuer. 75 - Es fallt auf, daß die höhere Belastung vorwiegend Leute traf, deren Rechtsstand nicht ohne weiteres mit Leibeigenschaft bezeichnet werden kann. Sie wurden höher belastet und damit - wie es in den Beschwerden immer wieder heißt - den Leibeigenen gleichgestellt. Bei allen regionalen Unterschieden läßt sich doch soviel sagen: Die Zinser zahlen in der Regel einen jährlichen Zinspfennig als Rekognitionsgebühr und beim Tod einen Fall meistens in der Form des Besthaupts oder des Gewandes 7 6 ; hingegen wird vom Leibeigenen im engeren Sinne die Verlassenschaft oder ein Teil der Verlassenschaft eingehoben. 77 Der Leibeigene wird zur Steuerkonkurrenz

St. Galler Leibeigenschaft, die sich d u r c h Freizügigkeit u n d niedrige T o d f a l l a b g a b e n auszeichnet. I m St. Galler Bereich w a r m a n sich d u r c h a u s im klaren, d a ß die Leibeigenschaftsverhältnisse hier viel weniger scharf ausgeprägt w a r e n als im b e n a c h b a r t e n O b e r s c h w a b e n . Vgl. W . MÜLLER, Die E r n e u e r u n g der H e i r a t s g e n o s s a m e geistlicher H e r r s c h a f t e n des Bodenseeraumes im J a h r e 1560, i n : Allemannisches J a h r b u c h 1970, 1971, 120f. 73 G . FRANZ, Bauernkrieg, A k t e n b a n d , 150. 74 H S t A S t , B 486 U 154; 1456 II. 13. 7 5 P . BLICKLE, P e r s o n a l g e n o s s e n s c h a f t e n , 1 9 8 .

76 Kempten: Zinser zahlen einen jährlichen Zinspfennig u n d im Todesfall einen (nicht u n u m s t r i t t e nen) Fall in F o r m v o n H a u p t r e c h t u n d / o d e r B e s t h a u p t : H S t A M , K U K e m p t e n 812. F . L . BAUMANN, Akten zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges aus O b e r s c h w a b e n , 1877, N r . 62. Buchau: Kornelierleute auf Korneliergütern geben Besthaupt u n d G e w a n d f a l l als T o d f a l l a b g a b e ; wer kein Korneliergut bewirtschaftet, ist kein Besthaupt schuldig, « s o n d e r den leibfal als klayder u n d jarlichen u n d gottespfennig zu geben». G . FRANZ, Bauernkrieg, A k t e n b a n d , 160. - Rot an der Rot: Zinser zahlen jährlich 1 d e n . auf den Altar (jeweils der Älteste der Familie) u n d beim Der Tod d a s beste G e w a n d (vgl. auch Buchau). H S t A S t , B 486 U 290; 1515 IX. 1. - Reichenau: Abt von Reichenau entläßt 1373 Leute aus der Leibeigenschaft u n d n i m m t sie als rechte Zinser a n ; dabei werden 5 Sch. Pfg. beim T o d e des Ältesten als Fall geschuldet. W . MÜLLER, A b g a b e n von Todes wegen, 21 A n m . 77. - Pfronten: Die Freien zahlten als Todfall d a s B e s t h a u p t . J. GRIMM, Weisthümer VI, 296f. - F ü r E r g ä n z u n g e n u n d Abweichungen vgl. W . MÜLLER, A b g a b e n v o n Todes wegen, 19, 21, 65. - Die B e o b a c h t u n g e n im südwestdeutschen Bereich decken sich trotz gelegentlicher Abweichungen - im Kern mit den Ergebnissen, die H . KLEIN f ü r Salzburg vorgelegt h a t . N a c h seinen U n t e r s u c h u n g e n zahlen die Freizinser die A n e r k e n n u n g s a b g a b e des Falls, w ä h r e n d die Eigenleute den ganzen N a c h l a ß oder d o c h g r o ß e Teile d a v o n entrichten. Vgl. H . KLEIN, Die Salzburger Freisassen, i n : D a s P r o b l e m der Freiheit in der deutschen u n d schweizerischen Geschichte (Vorträge u n d F o r s c h u n g e n , Bd. 2), 1963, 7 7 - 8 7 ; bes. 86f. 77 Kempten: H . KLEIN, Freisassen, 86. - Rot an der Rot: H S t A S t , B 486 U 154. Ochsenhausen: G . FRANZ, Quellen Bauernkrieg, 28ff. - Weingarten: H S t A S t , H 14/15 N r . 2 6 6 , fol. 2 0 - 2 2 ' . Weissenau: H S t A S t , H 14/15 N r . 277, fol. 2 2 - 2 7 ' . - Salem: H . GERLACH, D e r englische Bauerna u f s t a n d v o n 1381 u n d der deutsche Bauernkrieg. Ein Vergleich, 1969, 30. - St. Gallen: W . MÜLLER, A b g a b e n von Todes wegen, 15, 25f., 29, 58. - Ein Leibeigener des Ritters K o n r a d von Heimenhofen wird 1408 verkauft mit allen Rechten «an s t u r a n , a n diensten, an v a s n a c h t h u e n r e n , an h o p t r e c h t e n , an vaellen, an erbtail». W. E. VOCK, U r k u n d e n A u g s b u r g , 339 N r . 681. - Vom

32 • Bauer und Herrschaft

herangezogen, wo eine Steuer üblich ist 78 , der Zinser offensichtlich nicht. Wenn die um 1400 noch zahlreich nachweisbaren Freien, Freizinser, Muntleute und Gotteshausleute 79 um 1500 mit dem Stand der Leibeigenen verschmolzen sind, dann folgt daraus, daß den Vogt- und Grundherren auf diesem Weg auch Einkünfte zuflössen, über die sie ursprünglich nicht verfügten. Daß dieser Vorgang nicht auf eine numerisch unbedeutende Schicht beschränkt war, bestätigt der Autor der Reformatio Sigismundi, der leidenschaftlich das «eigen machen» seiner Zeit anprangert. 80 Eine zweite Möglichkeit der Bereicherung der Grundherren bestand, wie an Schussenried deutlich und bei St. Blasien wahrscheinlich wurde, offensichtlich darin, Eigenbesitz der Bauern einzuziehen. Diese Feststellung scheint zunächst recht unwahrscheinlich, da es als gesichert gilt, daß die landwirtschaftliche Nutzfläche fast ausschließlich grundherrlich gebunden war 81 . Somit ist zunächst zu fragen, ob es bäuerlichen Eigenbesitz überhaupt gegeben hat. Für den oberschwäbischen Bereich ist in vielen Herrschaften noch im 15. und 16. Jahrhundert Eigenbesitz nachzuweisen 82 . Im Tettnanger Gebiet umfaßte er

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oberschwäbischen scheint sich der oberrheinische Raum dadurch zu unterscheiden, daß hier seltener ein bestimmter Anteil am Erbe eingezogen wird, sondern die todfallpflichtigen Vermögenswerte genau bestimmt wurden (Besthaupt, Gewand, Waffen, Bettstatt, Garn, Leinen etc.), was unter Umständen eine gleich hohe Belastung sein konnte. Vgl. H. OTT, Oberrheingebiet, 128-133. Für Normabweichungen in Oberschwaben sind meistens außerhalb des oberschwäbischen Raumes sitzende Grundherren (Allerheiligen, St. Gallen) verantwortlich. Für Eisenharz: ZATrU75. Für Weiler und Scheidegg: J.GRIMM, Weisthümer VI, 300ff. - Für den schweizerischen Raum vgl. F. v. WYSS, Studien zu einer Geschichte der Leibeigenschaft in der deutschen Ostschweiz, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 48 (1909), 1-108, bes. 57ff. - Die unterschiedliche Belastung der bäuerlichen Wirtschaft durch Besthaupt bzw. Laß und Erbe konnte W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 102f., für St. Gallen errechnen: Während der auf Besthaupt beschränkte Todfall dem Kloster im späteren 15. Jahrhundert durchschnittlich 4fl bringt, betragen die Einkünfte bei Laß und Erbe 8-13 fl. Vgl. die Belege für die zentraloberschwäbischen Klöster bei D.W. SABEAN, Landbesitz, 95ff. Für Rot HSt ASt, B 486 U 821. Für Kempten HSt AM, KL (Klosterliteralien) Kempten, Münchener Bestand 217; dort die 21 Artikel. Für die Zinser und Freien vgl. die Belege oben. Muntleute sind Freie, die sich zeitlich befristet in den Schutz eines Klosters ergeben, dafür einen bestimmten Jahreszins zahlen und gerichtsbotmäßig und wehrpflichtig werden. Als Beispiele HStAM, KU Kempten 1108 (1479 VII. 19) und 1596 (14991.4).- Die Hinweise sind zahlreich, daß Gotteshausleute nicht mit Leibeigenen gleichgesetzt werden können. In Weingarten wird erst seit 1523 von Leibeigenen gesprochen, zuvor ist immer von Gotteshausleuten die Rede. HSt ASt, H 14/15 Nr. 266, fol. 20-22', 175. Der Begriff leibeigen fehlt auch noch in Ochsenhausen um 1500; G. FRANZ, Quellen Bauernkrieg, 28f. Ähnliches gilt für viele oberschwäbische Klöster. In St. Blasien scheint Gotteshausmann der Oberbegriff für Leibeigene und Grundholden zu sein. H. KOLLER (Hg.), Reformation Kaiser Sigmunds (MGH, Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 6), 1964, 276-281. Besonders interessant in diesem Zusammenhang die Handschrift V, die auf die Todfallabgaben und die eidlichen Verschreibungen hinweist: «Sie sprechen nit allain: sie machen witwen und waisen; wann die vater absterbent, so erben sie ir gut und peraueben die rechten erben ir erbschaft und machents waisen; sie haissen in dannoch sweren fuer aigen ...»; ebd. 281. Vgl. K. S. BADER, Staat und Bauerntum im deutschen Mittelalter, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, 1943, 114. Für den zentraloberschwäbischen Raum vgl. neuerdings die überzeugenden Belege bei D.W. SABEAN, Landbesitz, 72, 86, 90 f. Für das Memminger Gebiet P. BLICKLE, Memmingen (Histori-

Agrarkrise und Leibeigenschaft • 33

noch im 18. Jahrhundert 30%, im Allgäu 65% der landwirtschaftlichen Nutzfläche83. Im weiteren Einflußbereich des Klosters St. Gallen ist bäuerlicher Eigenbesitz in beachtlichem Umfang festgestellt worden 8 4 ; auch im Oberrheingebiet fehlt er nicht 85 . Diese Beobachtungen decken sich mit Ergebnissen der bayerischen Atlasforschung 86 , welche die Vermutung LÜTGES bestätigen, daß der geringe Eigenbesitz im bayerischen Herzogtum im 18. Jahrhundert das Ergebnis eines Feudalisierungsprozesses des 14. und 15. Jahrhunderts sein könnte 87 . Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie dieser bäuerliche Eigenbesitz «vergrundherrschaftet» worden ist. 1432 wurde im Auftrag des Kaisers ein Streit zwischen den Gotteshausleuten und dem Kloster Weingarten beigelegt, der den Todfall bei ungenossamen Ehen folgendermaßen festsetzte: Beim Tod einer Gotteshaus-Frau erhält das Kloster nach Abzug des Gewandfalls ein Drittel ihrer Verlassenschaft; beim Tod eines Gotteshaus-Mannes bezieht das Kloster vorab Gewandfall und Hauptrecht und die Hälfte seiner Verlassenschaft am Fahrenden und Liegenden 88 . Noch schärfer waren die Bestimmungen im Markt Altdorf: Von den dort lebenden Leibeigenen forderte Weingarten bis 1523 «alles irs verlassen guts ligends und varends in einem val den halbtail und in dem andern val den drytteil». 89 1 448 schloß das Kloster Weissenau mit seinen Leibeigenen einen Vertrag, in dem es auf «Erbschaflft unndt fahl» verzichtete und den Todfall auf Gewandfall und Besthaupt beschränkte. Nach Abzug des Todfalls sollte das «verlaussen guet, alles, es seye ligendt oder

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scher Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Heft 4), 1967, 216, 346. F ü r den Herrschaftsbereich des Klosters Marchtal vgl. P. GEHRING, Oberschwaben, 413f. Vgl. P. BLICKLE, Bäuerliches Eigen im Allgäu, i n : Z A A 17 (1969), 57-78. In einem Bericht des L a n d a m m a n n s von Rettenberg an den Augsburger Bischof von 1535 heißt es: «Die gueter im Algew sein alle frey und der pauern aigen.» Zitiert nach R. WIEDEMANN, Der «Allgäuische Gebrauch» einer Gerichtsbarkeit nach Personalitätsprinzip (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 11), 1932, 16. - F ü r das Pfrontener Gebiet J. GRIMM, Weisthümer VI, 296ff. K . H . GANAHL, Gotteshausleute, 150FF. - W. MÜLLER, Abgaben von Todes wegen, 68F. J. BADER, Urkundenregeste, 477f. So auch nach § 37 der Waldamtsoffnung von 1383; vgl. J. BADER, Waldamt, 113. - 1461. Klaus Tempflin von Waldshut bekennt und beurkundet, d a ß er sich, d a er «aigens herren nit enhab, h a r u m b mit frygem muet, und guetem willen, gerecht siner sinne und gueter Vernunft, mit zitlichem rat, mit gesundhait des libs» dem Stifte St. Blasien «mit sinem lib und guet ergeben und aigen gemacht», also d a ß dasselbe an seinem Leib und G u t e alles Recht haben soll, wie an anderen gotteshäusischen Eigenleuten. J. BADER, Urkundenregeste, 482. - Ergänzend ebd. 477f. Die verschiedenen Nachweise von bäuerlichem Eigenbesitz in den Bänden zum Historischen Atlas von Bayern, zusammengestellt bei P. BLICKLE, Erträge der bayerischen Atlasforschung für die Agrargeschichte, in: Z A A 20 (1972), 226f. F. LÜTGE, Die bayerische G r u n d h e r r s c h a f t , 1949, 74, 86. HStASt, H 14/15 N r . 266, fol. 20-22'. D e r fehlende Hinweis auf die Liegenschaften beim Tode der F r a u ist damit zu erklären, d a ß in Oberschwaben die Güter geschlossen vererbt wurden und damit an die Frauen äußerst selten liegendes G u t im Erbgang gefallen sein dürfte. Eine weitere Erklärung besteht darin, d a ß die Kinder dem Stand der M u t t e r folgten und d e m g e m ä ß das G u t dem Kloster so nicht entfremdet wurde. D . W . SABEAN, Landbesitz, 91 f. Hinweise auf Einzelabsprachen mit dem Kloster ebd. 90: Ein Bürger von Altdorf schließt mit Weingarten einen Vertrag, u m eine Leibeigene des Klosters heiraten zu können. Stirbt er vor seiner Frau, so fällt die Hälfte seines Liegenden und Fahrenden an das Kloster. N a c h dem Tod der F r a u fallt der Rest des gemeinsamen Besitzes an das Kloster.

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fahrendt gueth» an die nächsten Erbberechtigten gehen. 90 Nach dem Eisenharzer Weistum des Klosters Allerheiligen von 1452 zog das Kloster von Unverheirateten die liegende und fahrende Habe als Todfall ein.91 1502 fällte der Schwäbische Bund ein Urteil in den Streitigkeiten zwischen den Untertanen und dem Kloster Ochsenhausen 92 : Abt und Konvent, die «bi den gedachten armen Lütten und irn Vordem erblicher Anfal und Gerechtigkeit halb an ligender und farender Hab gehöpt», erhielten hinkünftig Besthaupt und Gewandfall. Im Falle Ochsenhausen läßt sich auch annäherungsweise errechnen, wie lange schon Liegenschaften beim Tod eingezogen wurden: 1453 hatte das Kloster ein päpstliches Privileg erwirkt, das es ihm erlaubte, von Leibeigenen Liegendes und Fahrendes einzuziehen, falls keine Kinder vorhanden oder diese schon verheiratet wären.93 Die Zinser des Stifts Buchau schließlich beschwerten sich während des Bauernkriegs, daß ihre Korneliergüter mit Naturalabgaben belastet worden seien, die bisher nicht üblich waren. 94 Gelegentlich scheint es auch vorgekommen zu sein, daß freieigene Güter als Strafe für ungenossame Ehen vergrundherrschaftet bzw. mit der Ergebung in die Leibeigenschaft dem Lehens verband des Herrn integriert wurden.95 Wenn die Belege nicht hinreichen, den Umfang der Vergrundherrschaftung zu quantifizieren, an der Tatsache des Einzugs liegender Güter über die Leibherrschaft ist wohl nicht zu zweifeln.

90 HStASt, H 14/15 Nr. 277, fol. 22-27'. Daß es sich bei dem liegenden Gut nicht um Klostergüter handeln kann, geht aus der einschränkenden Bemerkung hervor, daß das liegende Gut von den Erben außerhalb des Weissenauer Herrschaftsbereiches an Leibeigene des Klosters verkauft werden muß. 91 ZATr U 75. 92 Druck bei G. FRANZ, Quellen Bauernkrieg, 28FF. Nr.5. 93 HStASt, B 481 Bü 10. 94 «Item weyter haben wir freye kornoelgergueter, die von ainer aeptissin von Bucho frey lehen sind, die wir ererbt und erkauft haben, die beschwaert sy uns auch gwaltigklich, das ain arm man mit seim aignen gut sein nutz nit schaffen kan und darauf weder entlehnen noch versetzen darf, und muß menger by seim aigen gut hungers sterben. Sy hat uns auch der vermelten gueter beschwart mit dem jauchrogen, und waist niemand, warumb man ier den schuldig sein sol, darab wir auch barlich bschwart sind.» G. FRANZ, Bauernkrieg Aktenband, 150. - Die Gegenargumentation der Äbtissin ebd. 160. Immerhin betrug der Jauchroggen, der 1699 in den Mittelbiberacher Maierhof geliefert werden mußte, 13 Malter, 4 Viertel, 31 ¡2 Imi und überstieg damit die Abgaben, die der Maier nach Buchau zu liefern hatte. P. HÄRLE, Abteimaierhöfe, 112f. 95 Ein Zinser des Klosters Kempten verschreibt einen Notzins aus seinem freieigenem Gut dem Kloster Kempten, weil er seine Frau nicht hinter sich bringen kann. HSt AM, KU Kempten 1401; 1491 VI. 3. - Ein etwas seltsamer Fall ist für die Herrschaft Grönenbach überliefert: Thomas Leybinger und seine Schwester von Altusried verschreiben ihrem Leibherrn Alexander von Pappenheim zwei von fünf Teilen ihres freieigenen Gutes, um ledig bleiben zu können. HStAM, KU Kempten 1620; 1500 II. 21. - Die Freien Melchior Claus zu Ebersbach und seine Hausfrau verkaufen ihren freieigenen Hof daselbst um 435 Pfd. h an Peter Abt zu Irsee und ergeben sich ihm zu Leibeigenen. HStAM, KU Kempten 2124; 1520 I. 18.

Agrarkrise und Leibeigenschaft

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5. Die Leibeigenschaft hat im deutschen Südwesten ihre volle Ausprägung im 14. Jahrhundert erfahren, spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert ist sie sowohl rechtlich wie wirtschaftlich irrelevant. Das zeitliche Zusammenfallen von Agrarkrise und Verschärfung personaler Abhängigkeit ist kausal zu verknüpfen: Landflucht und Einkommenseinbußen des Herrn, die beide dieselbe ökonomische Wurzel haben, erzwingen als herrschaftliche Reaktion die Herausbildung «der Leibeigenschaft». Leibeigenschaft ins Rechtliche übersetzt heißt: beschränkte Freizügigkeit, beschränkte Heiratsfähigkeit und Verbot der freien Wahl des Schutz- und Schirmherrn. Leibeigenschaft ins Wirtschaftliche übersetzt heißt: Erhöhung der Abgaben, Ausdehnung hergebrachter Abgaben auf neue Untertanenschichten und - das war von besonderem Gewicht, weil irreversibel - Einzug von Grund und Boden. Mit der Dämpfung der Agrarkrise und dem Stagnieren des städtischen Wirtschaftswachstums konnten die leibherrlichen Abgaben reduziert und die faktische Freizügigkeit wieder gestattet werden.

Wem gehörte der Wald? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungs- und Eigentumsansprüche Von dem international bekanntesten deutschen Nationalökonomen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts stammt der einprägsame Satz, «daß die Kultur vor dem 19. Jahrhundert ein ausgesprochen hölzernes Gepräge» getragen habe 1 . Werner Sombart, der diese aphoristische Wendung in die Welt setzte, wollte damit zum Ausdruck bringen, daß Alltags- und Hochkultur Alteuropas vom wichtigsten verfügbaren Rohstoff, dem Holz, geprägt wurden. Aus Holz waren der Pflug, das Haus, der Etter um das Dorf, die Schüssel und der Löffel, aus Holz waren die Schiffe der Portugiesen und Venezianer, die nach Amerika und Indien segelten, die Madonnen der Oberammergauer Schnitzer und die Violinen und Celli der Cremonenser Geigenbauer. Der Wald war schlechterdings unentbehrlich für das Leben. Naheliegend also, daß um ihn gestritten wurde, und zwar unter jenen, die an ihm besondere Rechte zu haben glaubten - den Herren, denen die Wälder und Forsten als ursprünglich unkultiviertes Land nach und nach von den deutschen Königen und Kaisern verliehen worden waren, und den Bauern, die eben diese Forsten für ihr Bedürfnis zum Bauen, Zäunen, Heizen und zur Waldweide für die Schweine und das Jungvieh nutzten. Der hypothetische Satz, daß jede bäuerliche Gemeinde Konflikte mit ihrer Obrigkeit um den Wald austrug, dürfte schwerlich zu widerlegen sein. Gestritten wird, wo Güter knapp und die Rechte an diesen Gütern umstritten sind 2 . Hinsichtlich des Waldes war das nicht immer so. Noch im Spätmittelalter waren die Rechte der Bauern am Wald vergleichsweise wenig begrenzt. Wo die Quellen nähere Einblicke gestatten, zeigt sich, daß sich die ländliche Gesellschaft nahezu unbegrenzt aus dem Forst unentgeltlich mit Bau-, Brenn- und Zaunholz versorgen konnte, ja ihr auch die kommerzielle Nutzung des Waldes gestattet war, so etwa, wenn die Bauern der Herrschaft Zeil Erlöse durch die Verkohlung von Buchenholz erzielten 3 oder den Hintersassen des Reichsklosters Kempten und des Hochstifts Augsburg das Recht zum Verkauf 1 Zitiert nach J. RADKAU, Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 513-543, hier S. 514. - Der Text stellt die um einen Anmerkungsapparat erweiterte Fassung eines Vortrages dar, den ich im November 1984 im Arbeitskreis für Landes- und Ortsforschung in Stuttgart gehalten habe. 2 Den folgenden Überlegungen liegt Material zugrunde, das ich in anderen Fragezusammenhängen schon verwendet habe. Vgl. P. BLICKLE, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes, 1973, bes. S. 553-559. - DERS., Die Revolution von 1525, 2 1981, S . 5 8 - 6 5 , 116-121. 3 F. v. HORNSTEIN, Wald und Mensch. Theorie und Praxis der Waldgeschichte. Untersucht und dargestellt am Beispiel des Alpenvorlandes Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, 2 1958, S. 48.

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von Holz aus den Forsten urkundlich zugesichert wurde 4 . Das änderte sich ausgangs des Mittelalters, und zwar ziemlich schnell. Um 1500 entstehen beispielsweise im Kurfürstentum Sachsen und im Herzogtum Württemberg, in der Grafschaft Tirol und im Hochstift Salzburg Forstordnungen 5 , die durch ihre detaillierten Regelungen einerseits und die vielen Kopien in anderen Territorien andererseits deutlich machen, daß der Wald interessant geworden war. Allein das Fürststift St. Gallen hat zwischen 1483 und 1507 sechs Forstordnungen mit allerdings nur lokaler Reichweite erlassen6. Was beinhalten solche Ordnungen? Im Altdorfer Wald um Ravensburg dürfen nur mehr Erlen und Hainbuchen geschlagen werden 7 , in den Forsten des Klosters Schussenried wird das Fällen von Eichen und Buchen verboten 8 . Im Umkreis der Reichsstadt Ulm wird es üblich, Holz nur mehr gegen Geldzahlungen zuzuteilen9, das Kloster Rot beschränkt den Viehtrieb in die Wälder auf eine bestimmte Zahl von Tieren pro Hof 1 0 , in der Klosterherrschaft Ochsenhausen wird er für einzelne Dörfer gänzlich verboten 11 . Die Aufzählung der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Allerorten werden seitens der Obrigkeiten die Nutzungsrechte der Bauern normiert, reduziert und kommerzialisiert. Die Herren wollen den Bauern aus dem Wald haben. Weshalb? Es ist offensichtlich, daß viele Klöster - nachweislich etwa Kempten, Isny, Ochsenhausen und Gutenzell 12 - um 1500 durch den Holzverkauf ihre Einkünfte deutlich steigerten. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts verkauft das kleine Kloster Gutenzell für 3000 fl Holz an die Reichsstadt Ulm 13 . Etwa zeitgleich veräußern die Fugger an Ulm um 7000 fl Buchenholz aus ihrer Herrschaft Boos, die sie erst drei Jahre zuvor um die vergleichsweise lächerliche Summe von 29 000 fl erworben hatten 14 . Für 7000 fl hätten die Fugger - um einen Vergleichswert anzubieten - eine private Armee von 1000 Fußknechten zwei Monate lang unterhalten können. Augsburg und Kaufbeuren versuchen, sich durch den Ankauf von Wäldern von ihren bisherigen Zulieferern unabhängig zu machen 15 . Das Kloster 4 Ebd., S. 151. 5 M. ENDRES, Die Waldbenutzung vom 13. bis Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Forstpolitik, 1888, S. 73. - W. WIRZ, Die Forstpolitik der südwestdeutschen Forstordnungen. Masch. Diss. Freiburg 1953, S. 26-31. - A. BÜHLER, Wald und Jagd zu Anfang des 16. Jahrhunderts und die Entstehung des Bauernkriegs, 1911, S. 9 f. - H. OBERRAUCH, Tirols Wald und Waidwerk. Ein Beitrag zur Forst- und Jagdgeschichte (Schlern-Schriften 88), 1952, S.48. 6 M. GMÜR (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen, 1. Teil : Öffnungen und Hofrechte, 1.Bd.: Alte Landschaft, 2.Bd.: Toggenburg (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen 14), 1903/6, S. 159, 316, 330, 343, 472, 562. 7 F . v. HORNSTEIN, W a l d ( w i e A n m . 3), S . 3 9 f .

8 Ebd., S. 89. 9 P. GEHRING (Hg.), Nördliches Oberschwaben (Württembergische ländliche Rechtsquellen 3), 1941, S.95.

10 W. NUBER, Studien zur Besitz- und Rechtsgeschichte des Klosters Rot von seinen Anfängen bis 1618. Masch. Diss. phil. Tübingen 1961, S. 312ff. 11 HStASt ( = Hauptstaatsarchiv Stuttgart), B 486 U 199 [mit beschränktem Geltungsbereich auf Waltenhofen]. 12 F . v. HORNSTEIN, W a l d ( w i e A n m . 3), S. 26, 92, 9 5 .

13 Ebd., S.106f. 14 Fuggerarchiv Dillingen 153, 4. - F. v. HORNSTEIN, Wald (wie Anm. 3), S. 158. 15 F. v. HORNSTEIN, Wald (wie Anm. 3), S. 1 5 4 , 1 7 0 f .

Wem gehörte der Wald?

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Ochsenhausen erwirbt 1510 die Herrschaft Wain an der Iiier ausdrücklich mit dem Verweis auf die bedeutenden Waldbestände dieser Herrschaft 1 6 . Forstordnungen und Holzverkäufe belegen von zwei Seiten den nämlichen Sachverhalt: Holz, der wichtigste Rohstoff, war spätestens um 1500 knapp geworden. Seitdem ist das Verhältnis zwischen Bauern und Obrigkeit belastet durch die Auseinandersetzungen um die Forsten und Wälder. Zwischen 1500 und 1800 häufen sich die Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um die prinzipielle Frage: Wem gehört der Wald? Bei näherem Zusehen läßt sich der Problemfall Wald in zwei Segmente zerlegen: Einerseits geht es um die Abgrenzung der bäuerlichen Nutzungsrechte, andererseits geht es um die herrschaftlichen Jagdrechte. Beides betraf die bäuerliche Wirtschaft elementar, tangierte aber auch die Einkommen der Obrigkeiten und die herrschaftlichen Statussymbole. Motiv der Forstschutzpolitik der Obrigkeiten war nämlich nicht nur die langfristige Sicherstellung des Holzbedarfs, sondern auch die langfristige Sicherstellung der Jagd der Herren. Zweifellos haben die nie abreißenden Klagen der Bauern in Tirol über die Beschränkung der Nutzungsrechte ihren Grund im enormen Holzbedarf des Landes für den Bergbau und das Seigern von Kupfer und Silber mittels Holzkohle 17 . Den gleichen Klagen in Vorarlberg liegt hingegen ein gänzlich anderes Motiv zugrunde: Die Forstschutzpolitik diente dort lediglich der Sicherung der Wildbestände für die landesherrliche Jagd. Zweifellos sind die Beschwerden der Untertanen in Württemberg während des Aufstandes des Armen Konrad von 1514 auf Engpässe in der Holzversorgung dieses besonders dicht besiedelten Landes zurückzuführen, in der Markgrafschaft Baden hingegen dienten die Forstordnungen vorrangig dem Schutz von Hoch- und Niederwild 18 . Mehr als 300 Jahre blieb der Wald strittiger Gegenstand herrschaftlicher und bäuerlicher Interessen. Das änderte sich erst, als das Holz nicht mehr konkurrenzlos war, seitdem substituierende Rohstoffe zur Verfügung standen: Kohle und Stahl. Das änderte sich erst, als der Adel seine privilegierte Stellung definitiv eingebüßt hatte und damit auch das herrschaftliche Statussymbol der Jagd für eine bürgerliche Gesellschaft zunehmend unerträglich geworden war. In Württemberg - beispielsweise - haben diese Entwicklungen ihren gesetzlichen Niederschlag im wesentlichen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden: Die Ablösung der Holzberechtigungen von Bauern erfolgte erst 1848/49 19 , die Waldweiderechte wurden gar erst 1873 abgelöst 20 , die Beseitigung der Jagd auf fremdem Grund und Boden und damit verbunden die gehörige gesetzliche Absicherung der Schadensregulierung im Interesse der Landwirtschaft 1849 21 . Erst damit waren eindeutige Eigentumsverhältnisse geschaffen. 16 Ebd., S. 98. 17 H. WOPFNER, Das Almendregal des Tiroler Landesfürsten (Forschungen zur neueren Geschichte Österreichs 3), 1906, S. lOOf. 18 Herausgearbeitet a u f g r u n d württembergischer und badischer F o r s t o r d n u n g e n von W. WIRZ, Forstpolitik (wie A n m . 5 ) , S. 25-29. 19 W. v. HIPPEL, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde. (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 1), 1977, hier 1. Bd., S.576. 20 Ebd., S. 574. 21 Ebd., S. 503.

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Fragen wir also, wie sich die Auseinandersetzung um die Nutzungsrechte am Wald einerseits (1) und die Konflikte um die herrschaftliche Jagd andererseits (2) gestalteten, um abschließend einige prinzipiellere Überlegungen an die so gewonnenen Ergebnisse zu knüpfen (3).

1. «Zum fünften seien wir auch beschwert der Holzung halb», heißt es in den bekannten Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauern aus dem Bauernkrieg von 1525, «dann unsere Herschaften habend inen die Hölzer alle allain geaignet» 22 . Der Vorwurf der Privatisierung wird damit gegen die Obrigkeiten schon früh erhoben; er hat seine Berechtigung über mehrere Jahrhunderte. An drei Beispieln aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert soll das Problem der Waldnutzung erörtert werden. Schon um 1500 hatten die Grundholden des Klosters Ochsenhausen sich beschwert, der Abt sperre ihnen den Wald, wohingegen Abt und Konvent sich hartnäckig mit ihrem angeblichen Eigentumsrecht am Wald verteidigten. In einem Prozeß vor dem Schwäbischen Bund konnte das Kloster seine Position allerdings nicht behaupten 2 3 . «So je ain Gotzhausmann Holz bedörftig, welherlai von Aichen- Buchen- oder Tanholz das ist», entscheiden die Bundesverordneten, «der soll zu ainem Abt des Gotzhaus Ochsenhausen komen, den darumb ersuchen, bitten und seine Notdurft anzaigen, alsdann soll ain Abt obgemelt demselben zimlich Holz durch sein Holzwarten ze geben verordnen und verschaffen» 24 . Es stand fortan nicht im Belieben des Abtes, ob er seinen Bauern das Holz zuteilte, sondern es war seine Pflicht und Schuldigkeit, dies zu tun. Was hier in einem Vertrag urkundlich festgeschrieben wurde, haben die Bauern behaupten können. 1620 nämlich entstanden Interpretationsdifferenzen zwischen dem Kloster und der Untertanenschaft über die Holzbezugsrechte, die dadurch bereinigt wurden, daß die Bestimmungen von 1502 ohne Einschränkung bestätigt wurden 2 5 . Urkundliche Sicherung der Nutzungsansprüche war für die Bauern ein Weg, langfristig zu befriedigenden Regelungen zu kommen. 300 Jahre haben die Ochsenhauser mit diesem Vertrag leben können. In den 1680er Jahren kam es zwischen den Ammergauer Bauern und dem Kloster Ettal zu spektakulären Auseinandersetzungen 26 . Die klösterlichen Unter22 G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 2), 1963, S. 177. 23 Für die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge vgl. P. BLICKLE, Landschaften (wie Anm.2),

s. ii2fr.

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G . FRANZ, Q u e l l e n (wie A n m . 2 2 ) ,

S.35F.

25 P. BLICKLE, Landschaften (wie Anm.2), S. 115. 26 Das Material wird ausgebreitet und in weiteren Zusammenhängen interpretiert bei RENATE BLICKLE, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: G. BIRTSCH (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 42-64.

Wem gehörte der Wald? • 41 tanen nahmen den herrschaftlichen Amtleuten die Äxte ab, schlugen die klösterlichen Holzmarken aus den gefällten Stämmen und kennzeichneten sie mit ihren eigenen Holzmarken. Vor einer kurfüstlich-bayerischen Kommission, die den Streit schließlich zu entscheiden hatte, erklärten sie, der Verkauf von Holz durch das Kloster gefährde ihre Nutzungsrechte - ja in Wahrheit sei der Wald ihr Eigentum. Die kurfüstliche Kommission machte sich diesen Standpunkt keineswegs zu eigen, im Gegenteil bestätigte sie 1684 dem Kloster sein Eigentum, und zwar als ein durch bäuerliche Nutzungsrechte beschränktes Obereigentum. Was freilich die Bauern wollten, war eine ganz andere Art von Eigentum. Im weiteren Verlauf des Konflikts nämlich forderten sie 1726 die Wälder zu «freier Disposition und als freyes gmain aigenthumb», in dem sie in «freier Willkür schalten» wollten. N u r Eigentum im heutigen privatrechtlichen Sinn schien den Ammergauern eine hinreichende Garantie für die Sicherstellung ihrer Bedürfnisse an Holz. Grundsätzliche Streitigkeiten um die Nutzungsrechte im Wald gab es auch zwischen der Gemeinde Egg an der G ü n z und dem Reichskloster Ottobeuren 2 7 .1518 und 1521 hatten die Bauern in zwei Reichskammergerichtsprozessen ihre Beholzungsrechte durchgesetzt, 1594 erwarben sie aus dem angeblich klostereigenen Egger Forst 80 Jauchert um 1700 fl, um Weg und Steg unterhalten zu können und in Notfällen der Gemeinde eine wirtschaftliche Reserve zu haben. Seit 1787 verweigerte der Abt von Ottobeuren völlig überraschend den Eggern alle Nutzungsrechte am Wald mit der Begründung, für die Beholzung und Waldweide hätten sie auf ihren eigenen Gemeindewald zurückzugreifen. In einem Bericht versuchte der Egger Pfarrer dem Abt klar zu machen, d a ß in Egg «einer wie der andere auf ihren alten, schon mehr als dritthalbhundert Jahre ohne alle herrschaftliche Anfechtung genossene Rechte solche Versessenheit» bezeugen, d a ß es sich empfehle, die alten Rechte zu respektieren, zumal «der gemeine M a n n ohnehin keinen Kreutzer ohne N o t verbaut» 2 8 , wie der Pfarrer nicht vergaß hinzuzufügen. Die Erfolgsaussichten seiner Forstpolitik testete der Ottobeurer Abt mit einer formlosen Anfrage bei einem ihm bekannten Reichskammerrichter in Wetzlar und erhielt von dort eine unmißverständliche Antwort: «Es sind eigne Unterthanen, mit welchen Euer Hochwürden G n a d e n den Prozeß aufnehmen müßten. In den jetzigen Zeiten in welchen der Unterthan fast allenthalben die F a h n e des Aufruhrs schwingt, um längst verlorene Rechte wieder zu erringen, wünscht und erwartet man, selbst an den Reichsgerichten, von jedem Landesherrn, d a ß er ihnen wenigstens die hergebrachten ungeschmälert lasse, und in dem gegenwärtigen Augenblick würde ohnfehlbar eine jede Klage, welche die Absicht hätte, zum Nachtheile der Unterthanen das Herkommen zu verrücken, wäre sie auch sonst noch so billig und gerecht, voraussichtlich wenig Glück machen. Nach dem Geiste des jetzigen Zeitalters alsdann am wenigsten, wenn der Landesherr ein Geistliches Stift wäre» 2 9 . 27 Für die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge vgl, P. BLICKLE, Ortsgeschichte von Egg an der Günz (Memminger Geschichtsblätter, Jahresheft 1971), 1973, S. 88-96. 28 Klosterarchiv Ottobeuren [ohne Signatur]. Schreiben des Pfarrers Abele an den Abt vom 20.1. 1790. 29 Ebd. Schreiben an den Abt von Ottobeuren vom 31. XII. 1790.

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Bauer und Herrschaft

Diese unzweideutige Auskunft mag den Abt veranlaßt haben, einen anderen Weg zu suchen, seinen Forst unbeeinträchtigt von bäuerlichen Nutzungsrechten zu bewirtschaften. Den Kompromiß fand eine Kommission in der Abtrennung von 323 Jauchert von dem insgesamt 900 Jauchert umfassenden klösterlichen Wald zugunsten und zur ausschließlichen Nutzung der Gemeinde 30 . Die drei Beispiele sind gewiß repräsentativ in dem Sinn, daß einerseits die bäuerlichen Nutzungsrechte immer wieder bedroht waren, andererseits der Forstbann nicht hinreichte, den Anspruch der Herren auf ausschließliche individuelle Nutzung durchzusetzen.

2. «Zum vierten», maulen die oberschwäbischen Bauern in den Zwölf Artikeln, «ist bisher im Brauch gewesen, das kain armer Man nit Gewalt gehabt hat, das Wiltpret, Gefigel oder Fisch in fließenden Wasser nit zu fachen zü gelassen worden, welchs uns ganz unzimlich und unbrüderlich dunkt, sunder aigennützig und dem Wort Gots nit gemeß sein. Auch in etlichen Orten die Oberkait uns das Gewild zü Trutz und mechtigem Schaden haben, wir uns das Unser (so Got dem Menschen zü Nutz wachsen hat lassen) die unvernünftigen Tier zü Unutz verfretzen mütwiliglich, leiden müssen, darzü stillschweigen, das wider Gott und dem Nechsten ist» 31 . Nicht der Jagd um der Jagd willen gilt das Interesse der Bauern, sondern der Jagd zur Verhütung des Wildschadens auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen 32 . Wenn ausgangs des 16. Jahrhunderts gelegentlich 30 bis 50 Wildschweine in Rudeln auf den Feldern standen, wenn die Belastung durch den Wildschaden für den einzelnen Bauern in Württemberg zeitweise rund zehnmal so hoch war wie seine Belastung durch die Ordinari-Steuer oder wenn Ende des 18. Jahrhunderts allein für Feldhüterdienste im Herzogtum 75000 Arbeitstage im Jahr verloren gingen 33 , wird man schwerlich daran zweifeln können, daß der Forst nicht nur wegen der Nutzungen für den Bauern unentbehrlich, sondern wegen der Überhegungen mit Wild durch die Herren auch gefährlich war. 50 % der Ernte seien durch Wildschaden vernichtet worden, ist in Süddeutschland eine wiederholte Klage der Landstände und Landschaften 34 , die landauf, landab vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu hören ist. Was konnten die Bauern tun, um sich und ihre Kulturen zu schützen? Wenig, wo die Jagdleidenschaft der Fürsten und des Adels große Wildbestände wün30 31 32 33

Originalurkunde im Klosterarchiv Ottobeuren [ohne Signatur]. 1791 III. 29. G. FRANZ, Quellen (wie Anm. 22), S. 177. Die Belege für den Beweisgang im einzelnen bei P. BLICKLE, Revolution (wie Anm. 2), S. 65. Alle Belege bei H.W. ECKARDT, Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 48), 1976, S.92, 102, 105. 34 Vgl. P. BLICKLE, Landschaften (wie Anm. 2), S. 553.

W e m g e h ö r t e der W a l d ?

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sehenswert erscheinen ließ. Die Kulturen durften nicht immer eingezäunt werden, so daß die jungen Saaten von Rotwild und die erntereifen Felder von Schwarzwild verwüstet wurden, das Halten von Hunden blieb ein vergleichsweise wenig erfolgreiches Unternehmen, solange die Hunde Bengel tragen mußten und damit das Wild nicht verfolgen konnten. Generell war es den Bauern verboten, auf den eigenen Grundstücken das Wild zu erlegen. Als es dennoch ein Bauer wagte, einen Hirsch auf seinem Acker abzuschießen - so eine hartnäckig sich haltende Überlieferung im Salzburgischen - , wurde er von der erzbischöflichen Jagdgesellschaft in das Fell des erlegten Tieres eingenäht und von den Hunden der hochwürdigen Jagdgesellschaft zerfleischt 35 . Unter solchen Umständen feierten es die Landstände der Markgrafschaft Baden-Baden schon als einen Erfolg, als sie 1582 durchsetzen konnten, daß den Bauern gestattet wurde, Wächter anzustellen und Hunde zu halten, um das Wild von den bebauten Feldern zu vertreiben. Freilich verursachten die zahlreichen Wildhüter höhere Kosten als die Wildschäden, so daß die leidige Wildschadensfrage bereits sechs Jahre später wieder auf der Tagesordnung eines badischen Landtags stand 3 6 . Im Hochstift Basel fand sich der Bischof Ende des 18. Jahrhunderts endlich bereit, nach jahrzehntelangem Drängen der Landstände eine Jagdordnung zu erlassen, die den städtischen und ländlichen Gemeinden das Abschießen des Wildes auf den Kulturen gestattete, aber unter welch prohibitiven Bedingungen: Der Standort des Wildes mußte dem Ortsvorgesetzten angezeigt werden; dieser hatte den zuständigen Revierförster zu benachrichtigen, der dann die ganze Gemeinde zur Jagd des Tieres aufbot 3 7 . Es ist wenig Phantasie nötig, um sich die bescheidene Wirksamkeit eines derart umständlichen Vorgehens vorzustellen. Anschaulicher wird das Interesse der bäuerlichen Gesellschaft an der Lösung des Wildschadensproblems in den in Süddeutschland verbreiteten Forstpachtverträgen, von denen drei zur Verdeutlichung etwas näher dargestellt seien. Den Bauern der Landvogtei Schwaben gelang es um 1680 über ihre genossenschaftliche Organisation, die Landschaft, den herrschaftlichen Forst von der Obrigkeit, den Habsburger Landvögten, zu pachten 3 8 . Damit verstummten für die Laufzeit des Pachtvertrags die Klagen über Wildschaden, denn fortan war es den Bauern gestattet, auf ihren eigenen Feldern Rot- und Schwarzwild zu erlegen, und die von der Landschaft beschäftigten Forstknechte wurden angehalten, den Wildbestand niedrig zu halten. Es scheint einsichtig, daß den Bauern solche Abmachungen dort gelangen, wo die Landesherrschaft, in diesem Fall die Habsburger, die Jagdhoheit wegen zu weiter räumlicher Entfernung gar nicht nutzen konnte. Doch auch unter weniger 35 F. URBAN, Wirtschaftliche Grundlagen der Bauernkriege unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen und südwestdeutschen Länder, Masch. Diss. phil. Erlangen 1924, S.25. Dazu auch den kritischen Kommentar von H . W . ECKARDT, Herrschaftliche Jagd (wie Anm.33), S.132f. 36 G L A K ( = Generallandesarchiv Karlsruhe) 74/5114, 5117, 5123-5126, 5128. 37 G L A K 85/180. Dort die dem Landtagsabschied von 1791 inserierte Jagdordnung. 38 Zur Datierung Landesregierungsarchiv für Tirol, Handschrift 1646. - Zur Interpretation der wirtschaftlichen Bedeutung W. GRUBE, Vogteien, Ämter, Landkreise in der Geschichte Südwestdeutschlands, 2 1960, S. 52.

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günstigen herrschaftlichen Voraussetzungen ist es zu solchen Jagd- und Forstpachtverträgen gekommen. 1739 pachteten die Bauern der Herrschaften Tettnang und Langenargen über ihre Landschaft den herrschaftlichen Forst 3 9 . Der Wildbann ging an die Landschaft über, die fortan eine Reihe von Leuten auf eine weidmännische Pflege des Wildes verpflichtete. Den Bauern stand es selbstverständlich frei, auf ihren Feldern das Wild abzuschießen. Alle geschossenen Tiere wurden an die Landschaft ausgeliefert und von ihr zur Bestreitung der Kosten verkauft. Mit dem Vertrag verbesserten sich auch die bäuerlichen Trieb- und Trattrechte sowie die Nutzungsrechte im Wald. Wildfrevel wurden zwar vor dem gräflich-montfortschen Oberamt verhandelt, die Strafgebühren allerdings der Landschaft überwiesen. Lediglich dem Montforter Grafen selbst wurde ein persönliches Jagdrecht zugebilligt, besonders auf Enten, Biber, Otter und Rebhühner. Besonders günstig für die Bauern war ein Vertrag, der 1730 mit den habsburgischen Amtleuten von Hohenberg geschlossen wurde 4 0 . Mit ihm wurde den Untertanen nicht nur die Jagd eingeräumt, sondern auch die Holzaufteilung und der Holzverkauf freigestellt. Zwar enthält der Vertrag Sicherheiten, die dem Raubbau am Wald vorbeugen und eine weidmännische Jagd sicherstellen sollten, insgesamt jedoch ging die Verwaltung der Forsten in die Eigenverantwortung der bäuerlichen Landschaft über. Aus jedem Dorf wurden drei bis vier Bauern gewählt, die - unbeschadet des individuellen Jagdrechts auf den eigenen Feldern - berechtigt waren, das Wild zu schießen und den Forst zu verwalten. Lediglich drei ehemals landesfürstliche Jäger wurden von der Landschaft übernommen. Der kurze Blick auf die Forstverwaltung der Hohenberger bäuerlichen Landschaft gibt Anlaß, gewissermaßen in einem Exkurs auf ein äußerst wichtiges Problem zu sprechen zu kommen, das auf weite Strecken legitimierender Ausweis der obrigkeitlichen Forstpolitik und ihrer forstpolizeilichen Maßnahmen gewesen ist - den Vorwurf nämlich, Bauern würden Raubbau am Wald treiben 41 . Wie wenig berechtigt dieser Vorwurf war, zeigt zunächst eine Aussage der Spaichinger Oberamtleute, die für eine Verlängerung des Pachtvertrags mit den Hohenberger Bauern bei der vorderösterreichischen Regierung mit dem Argument eintraten, die Personalkosten für eine ordnungsgemäße Pflege des Hohenberger Forstes seien bei der Landschaft viel niedriger, als sie bei herrschaftlicher Regie je sein könnten 4 2 . Wo nähere Einblicke in verwaltete Forsten möglich sind, bestätigt sich durchaus die Leistungsfähigkeit der bäuerlichen Forstverwaltung. Im elsässischen Hattgau verwalteten vier Dorfgemeinden noch um 1800 einen Forst von rund 2800 ha Fläche, und sie taten das nach Ausweis der ersten urkundlichen

39 HStASt, B 123 (II) Bü 177. 4 0 HStASt, B 19, Bü 35, fol. 1 - 6 . 41 Der Vorwurf wird häufig, w o nicht regelmäßig erhoben. Vgl. die Hinweise bei J. RADKAU, Holzverknappung (wie Anm. 1), S. 516FT. - Ein eindrucksvolles Quellenbeispiel sind die Vorwürfe der landvogteiischen Beamten gegenüber der bäuerlichen Forstverwaltung. Vgl. HStASt, B 60 Bü 60 und B 61 (II) Bü 307, sowie ein ausführlicher Bericht über die Forstverhältnisse in der Landvogtei im Haus-, H o f - und Staatsarchiv Wien, Handschrift W 236, 2. Bd., fol. 829ff. 42 Bericht v o m 16. VIII. 1765 in HStASt, B 38 Bü 74.

Wem gehörte der Wald?

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Belege bereits seit dem 14. Jahrhundert. Von den vier Gemeinden wurde 1469 ein Waldbrief erlassen, der 1572 schließlich zu einer 76 Artikel umfassenden Forstordnung fortgeschrieben wurde. Über Forstfrevel urteilte ein eigenes 20köpfiges bäuerliches Gericht, das gleichzeitig Aufsichtsbehörde der Forstverwaltung war, dessen Personal, die sogenannten Waldmeister und geschworenen Knechte, von ihm bestimmt wurde 4 3 . Der pflegliche Umgang der vier bäuerlichen Gemeinden mit ihrem Wald kommt darin zum Ausdruck, daß allein der kapitalisierte Gegenwert für die Schweinemast deutlich höher lag als das gesamte Steueraufkommen des Hattgaus 4 4 , ja daß er über drei Jahrhunderte der wirtschaftliche Rückhalt blieb, mit dem der Hattgau über 30 Prozesse gegen seinen Landesherrn, den Grafen von Hanau-Lichtenberg, vor dem Reichskammergericht finanzierte. Vor solchem Hintergrund klingt die Behauptung der Bauern im Bauernkrieg nicht unglaubhaft, wenn sie selbst die Forsten und Wälder verwalteten, würde «hieraus nit Ausraitung des Holz geschehen», zumal eigene dörfliche Verordnete für eine sachgemäße Bewirtschaftung des Waldes und eine sparsame Zuteilung von Bau-, Brenn- und Zaunholz sorgen würden 4 5 . Das war zweifellos nicht nur ein leeres und realitätsfremdes Versprechen, sondern eine Auskunft, die auf realen Erfahrungen der ländlichen Gesellschaft fußte. Wo immer bäuerliche Gemeinden über eigene Gemeindewälder verfügten, beweist das eigens geschaffene dörfliche Amt des Forstwarts, daß keineswegs jeder Bauer sich nach Belieben im Wald bedienen konnte, sondern daß die tägliche Erfahrung der Knappheit aller Ressourcen zu einem ausgesprochen umsichtigen und vorsichtigen Umgang mit dem Rohstoff Holz führte. Anders wäre auch schwer erklärbar, weshalb sich die Obrigkeiten immer wieder bereit fanden, die zeitlich immer befristeten Forstpachtverträge mit den Bauern zu verlängern. Der Effekt der Forstpachtverträge - um auf sie zurückzukommen - war immer der nämliche: Die Klagen über Wildschaden verstummten naturgemäß, die Erträge der Landwirte stiegen, offensichtlich auch nach herrschaftlicher Ansicht, erheblich. Das Spaichinger Amt befürwortete beim kaiserlichen Hof eine Prolongierung des Forstvertrags mit der Hohenberger Landschaft 1765 auch mit dem Argument, die Gülten von den Gütern seien viel regelmäßiger und ungeschmälerter eingegangen, seit der Forstpachtvertrag den Bauern vergleichsweise hohe landwirtschaftliche Erträge sichere 46 . Der Stellenwert des Wildschadens in der Betriebsrechnung der bäuerlichen Wirtschaften wird durch die hohen Summen ausgedrückt, die die Bauern bzw. Landschaften für die Forsten aufbrachten. In der Landvogtei Schwaben belief sich allein der Pachtschilling auf 1650 fl jährlich, mit den übrigen Nebenkosten für die Besoldung der 22 Jäger, die Unterbringung der Forstknechte und anderes hatte die Landschaft insgesamt annähernd 3000fl bereitzustellen. Als 1798 die vorderösterreichische Regierung den Forst wieder einzog, weil sie glaubte, aus 43 SAARBRÜCKER ARBEITSGRUPPE, Huldigungseid und Herrschaftsstruktur im Hattgau (Elsaß), in: J a h r b u c h für w e s t d e u t s c h e L a n d e s g e s c h i c h t e 6 (1980), S. 1 1 7 - 1 5 5 , bes. 1 4 5 - 1 4 9 .

44 Ebd., S. 129. 45 G. FRANZ, Quellen (wie Anm.22), S. 177 [das Zitat steht marginal zum Text], 46 Wie Anm.42.

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dem Wald mehr erwirtschaften zu können, als der Forstschilling einbrachte, fand sich die Landschaft bereit, allein für die Hochwildjagd unter Verzicht auf alle bisherigen Nutzungsrechte die nur um 150 fl geringere Summe von 1500 fl zu bezahlen 47 . Ähnliche Beobachtungen lassen sich für Tettnang-Langenargen und Hohenberg machen. Verfügten die Montforter Untertanen 1739 praktisch über eine unbeschränkte Nutzung des Waldes für einen jährlichen Pachtschilling von 3000 fl, so wurden bei einer Reformulierung des Vertrags 1765 die Bedingungen erheblich verschlechtert. Lediglich für das Recht, Hoch- und Schwarzwild in eigenen Äckern, Wiesen und Weinbergen erlegen zu dürfen, bezahlten die Untertanen insgesamt die vergleichsweise exorbitant hohe Summe von 2200 fl48. In der Grafschaft Hohenberg wurde nach Ablauf der zwanzigjährigen Laufzeit der Pfandschilling von 730fl auf 1500fl erhöht 49 . Die Beispiele zeigen dreierlei: Die Herrschaften waren nicht bereit, das Jagdrecht und den Forst definitiv an die Bauern zu übergeben. Alle Verträge sind zeitlich befristet abgeschlossen worden; selbst als in den 1780er Jahren die Hohenberger einen Vertrag auf «ewige Zeiten» anstrebten, weigerte sich die vorderösterreichische Regierung wegen grundsätzlicher Bedenken, auf einen solchen Vorschlag einzugehen. Zur Sicherung ihrer Kulturen fanden sich die Bauern zu hohen finanziellen Opfern bereit. Kosten von etwa 3000 fl, wie sie in TettnangLangenargen oder der Landvogtei Schwaben aufliefen, entsprachen - um versuchsweise Vergleichszahlen anzubieten - den ständigen Naturaleinnahmen des Heilig-Geist-Spitals zu Schwäbisch Gmünd oder den ständigen Geldeinnahmen der Grafschaft Trauchburg 50 . Von den Obrigkeiten wurden elementare Bedürfnisse der Bauern für eine ordentliche Wirtschaftsführung durch kurze Laufzeiten der Verträge und ständige Steigerungen der Pachtkosten schamlos ausgenutzt.

3. Die Auseinandersetzungen um die Nutzungsrechte am Wald und die Forstpachtverträge verbindet - und damit komme ich zum Schluß - ein gemeinsames Grundanliegen : Tendenziell geht es darum, die konkurrierenden Rechte zu entflechten und zu bereinigen. Die Abtrennung eines Waldteils von einem klösterlichen Forst zugunsten eines Dorfes ist der sprechende Ausdruck für den starken Wunsch, den lästigen Nutznießer loszuwerden. Um nichts anderes geht es im Ammergau, wenn Kloster und Bauern wechselseitig am gleichen Wald Eigentumsrechte reklamieren. Herrschaftliche Rechte aus der Welt zu räumen, wenn auch nur vorübergehend, und damit im Wald schalten und walten zu können, ist die tiefere Logik 47 48 49 50

Zusammenstellung des Zahlenmaterials bei P. BLICKLE, Landschaften (wie Anm. 2), S. 554. Die Landschaft zahlt eine einmalige Summe von 22 000 fl für 10 Jahre. HSt ASt, B 123 (II) Bü 225. HStASt, B 38 Bü 74. Vgl. entsprechendes Zahlenmaterial bei W. v. HIPPEL, Bauernbefreiung (wie Anm. 19), 2. Bd., S. 12, 21.

Wem gehörte der Wald?

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der Forstpachtverträge. Eigentum im Sinn einer unbeschränkten Nutzung und Verfügungsgewalt scheint die schließlich einzig befriedigende Lösung der permanenten Spannungen. Allein Ochsenhausen entzieht sich der Einordnung in dieses sonst einheitliche Gesamtbild, ist aber deswegen noch lange kein atypischer Fall. Eine Möglichkeit, Konflikte zu lösen, war die vertragliche Festschreibung und damit die gerichtliche Einklagbarkeit präzis umschriebener Nutzungsrechte. Zwischen mittelalterlichem Nutzungsdenken und moderner Eigentumsauffassung bewegt sich die Auseinandersetzung um den Wald. Die bäuerliche Wirtschaft war unter den Bedingungen, unter denen sie im Mittelalter angetreten war und antreten mußte, ohne den Wald nicht lebensfähig; und die bäuerliche Ehre blieb nicht ungekränkt, wo der Herr zu seiner «Gemütserquickung», wie die Hausväter die Jagd einschätzten 51 , den Wald derart überhegte, daß die Arbeit auf dem Felde umsonst getan war. Die im Mittelalter wechselseitig anerkannte Nutzung des Waldes hielt dem Bewährungsdruck und den Versuchungen nicht stand, den eine wachsende Bevölkerung, steigende Holzpreise und zunehmende adelige Jagdleidenschaft dem traditionellen Rechtsverständnis abverlangten. Im wesentlichen wird man von einer herrschaftlichen Aneignung und von einer Einschränkung bäuerlicher Gerechtsame sprechen müssen 52 , denn natürlich verfügten die Herren mit ihren vielerlei Herrschaftstiteln über die bessere Machtausstattung, um ihre Interessen durchzusetzen. Aber auch die Bauern verhielten sich, soweit sie konnten, nicht anders: Die Hattgauer bestanden gegenüber dem elsässischen Adel auf der Qualität ihres riesigen Waldes als «aigen ahmend» 5 3 und verwehrten allen Interessenten den Zugang. Der Wald teilt die Geschicke einer Entwicklung, die mit der Abbreviatur «von der zur (Eigentumsgesellschaft)» skizziert werden kann. Thomas Müntzer polemisierte gegen die Auflösung alter Ordnungen, wenn er den Fürsten und Herren vorwarf, sie «nemen alle creaturen zum aygenthumb. Die visch im wasser, die vögel im luflft, das gewechß auf erden muß alles ir sein» 54 , und Johannes Brenz meinte wohl ähnliches, wenn er sagte, zwar «leyt got dem obersten Herrn nichtz daran, ob die Herschaft allein oder die vnderthon allein die wolder besitzen ..., aber daran leyt Im, das die herschaft den vnderthon helflf zu gemeinem nutz» 55 . Nur wo der gemeine Nutzen und die gemeinsame Nutzung als Norm anerkannt sind, nur wo die res ut communes behandelt werden, wie Thomas von Aquin sagt, verwirklicht sich die beste Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert sah das ganz anders. Für Hegel war das Eigentum Recht der Persönlichkeit als solcher, für Rotteck ist es Emanation der persönlichen Freiheit 56 . Etwas

51 Vgl. zur adeligen Ideologisierung der Jagd H. W. ECKARDT, Herrschaftliche Jagd (wie Anm. 33), S.47. 52 So die Gesamtinterpretation von W. v. HIPPEL, Bauernbefreiung (wie Anm. 19), 1. Bd., S. 118. 53 SAARBRÜCKER ARBEITSGRUPPE, H u l d i g u n g s e i d ( w i e A n m . 4 3 ) , S. 146.

54 G. FRANZ (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 33), 1968, S.329. 55 H. KIRCHNER, Der deutsche Bauernkrieg im Urteil der Freunde und Schüler Luthers, Masch. Habil. Greifswald 1969, S.93. 56 Vgl. D . SCHWAB, Artikel Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2.Bd., 1975, S . 8 2 f .

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einfacher hat 1808 die Oberfinanzkammer in einem Gutachten an das württembergische Finanzministerium die nämliche Auffassung vertreten: es gelte möglichst breit «Eigentum» herzustellen «und durch die unverkennbaren Vorteile einer möglichst freien Benützung und Veräußerung» desselben «zu einem größeren Wohlstande» zu kommen und damit der «Veredelung des moralischen Charakters» zu dienen 57 .

57 W. v. HIPPEL, Bauernbefreiung (wie Anm. 19), 2. Bd., S. 87.

Bauer und Gemeinde

Die staatliche Funktion der Gemeinde die politische Funktion des Bauern Bemerkungen aufgrund von oberdeutschen Ländlichen Rechtsquellen Es gibt kaum eine Studie über Ländliche Rechtsquellen, die nicht einleitend Jacob Grimm Referenz erweisen würde. Ich will mich diesem «guten, alten Brauch» anschließen, allerdings in der Absicht, damit an die Hypothek zu erinnern, die den Umgang mit Ländlichen Rechtsquellen bis heute belastet. Seit Grimm dem an sich sehr engen Begriff Weistum Ländliche Rechtsquellen verschiedenster Art (Öffnungen, Rödel, Ehaften, Dorfordnungen u.a.) unterordente, haben Definitionsprobleme die «Weistumsforschung» beschäftigt, wenn nicht gar beherrscht. In der Tat ist es bemerkenswert, welcher Scharfsinn darauf verwendet wurde, das Weistum von der Öffnung, das Taiding vom Dingrodel, die Ehaft vom Jahrding abzugrenzen. Der terminologische Eifer hat einerseits eine Fülle von Fragen stimuliert - ist dieser oder jener Quellengruppe das höhere Alter zuzusprechen, lassen sich hier oder dort mehr herrschaftliche oder mehr genossenschaftliche Elemente nachweisen - , damit zu einer vielseitigen Abspiegelung des Materials geführt und die Erkenntnis über Breite und Tragfähigkeit der Ländlichen Rechtsquellen in Einzeluntersuchungen deutlich gefördert. Der Ansatz der Fragen, der darauf zielte, das vorfindbare Material «auf den Begriff» zu bringen, hat aber andererseits auch den Zugang zu den Quellen erschwert. Man kann das an einem Beispiel verdeutlichen: Am Weistum zu betonen, daß es die Rechte der Herrschaft umschreibt, «nicht die der Bauern» 1 , könnte von der Erkenntnis ablenken, daß die Weistumsbestimmung: der Huber hat dem Herrn drei Tage zu fronen, auch bäuerliches Recht festhält, derart, daß er eben nicht mehr als drei Tage zu fronen hat. Angedeutet sei damit, daß der terminologische Streit um die Ländlichen Rechtsquellen gerade verhindert hat, den Charakter der Ländlichen Rechtsquellen voll zu erkennen, in ähnlicher Weise wie die langwierige Diskussion um den «Staat des Mittelalters» eher von einer Erfassung wegführte als zu ihr hinlenkte, wie Otto Brunner gezeigt hat 2 . Die Abhängigkeit der inhaltlichen Ausschöpfung von der terminologischen Bewältigung wird - wenn ein Beispiel als signifikant herausgegriffen werden darf - an dem jüngst erschienenen Artikel «Ländliche Rechtsquellen» von Dieter Werkmüller deutlich 3 : Er benötigt vier Fünftel des Umfangs 1 H.STAHLEDER, Weistümer und verwandte Quellen in Franken, Bayern und Österreich, in: Z B L G 3 2 (1969), S.553. 2 O. BRUNNER, Land und Herrschaft, 6 1970. 3 D. WERKMÜLLER, Ländliche Rechtsquellen, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 14. Lieferung, 1976, Sp. 1515ff.

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für die Diskussion begrifflicher Abgrenzungen. Der Inhalt, auf den es für die historische Forschung vorrangig ankommt, wird nach Werkmüller «geprägt durch die im Vordergrund stehenden wirtschaftlichen Beziehungen der Genossenschaft zu dem Herrn, die Sorge des Herrn um die Aufrechterhaltung seines Besitzstandes und die Sorge der Bauern um die Erhaltung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage (Flur-, Allmend- und Marknutzung). Daneben enthalten die Weistümer (!) häufig auch zivilrechtliche Rechtssätze (Familienrecht, Erbrecht, Kaufrecht, Dienstrecht) sowie strafrechtliche Normen und Vorschriften über die Gerichtsverfassung» 4 . Diese inhaltliche Bestimmung, die in der Bewertung den gegenwärtigen Forschungsstand korrekt wiedergibt, scheint mir zu eng, wie der durchaus programmatisch gemeinte Titel meines Beitrags andeutet. Ich will nachweisen, daß die Gemeinde eine staatliche und der Bauer eine politische Funktion haben, die sich über Weistümer und Dorfordnungen - nicht nur über sie, aber auch über sie und jedenfalls nicht ohne sie - ermitteln lassen. Solche Überlegungen sind selbstverständlich aufgrund von Forschungen über oder mit Ländlichen Rechtsquellen 5 angestellt worden: Karl Kollnig hat dies mit dem Hinweis angedeutet, daß es in den Weistümern «um die rechte Ordnung der Gemeinschaft, in der jeder Mensch steht» 6 , gehe. Helmuth Stahleder hält es für unmöglich, «noch weiterhin über mittelalterliche Staatlichkeit zu sprechen ohne die Weistümer, die Verfassungsgrundlage dieser Staatlichkeit auf unterster Ebene, gebührend mit einzubeziehen» 7 . Dieter Werkmüller thematisiert ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte in einer eigenen Kapitelüberschrift seiner Monographie «Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer» 8 . Hier handelt es sich vorerst um Forderungen. Sie sind nur einzulösen, wenn Landesgeschichte, Verfassungsgeschichte und allgemeine politische Geschichte die Forschungsergebnisse, wie sie von Karl Siegfried Bader 9 , zum Teil auch von Günther Franz 1 0 vorgelegt wurden, für die Charakterisierung und Interpretation des «frühmodernen Staates» 11 nutzbar machen. Darüber hinaus wird es nötig sein, eine Verbreiterung der empirischen Basis anzustreben, die über eine systematische Auswertung der Ländlichen Rechtsquellen relativ rasch zu erreichen ist, um so prüfen zu können, seit wann, wie lange und mit welchem Gewicht die von

4

D . WERKMÜLLER ( w i e A n m . 3 ) , S p . 1 5 1 6 .

5 Die Unterscheidung von Forschungen über Weistümer, Forschungen in Weistümern und Forschungen mit Weistümern hat Gehring eingeführt. Vgl. P. GEHRING, Weistümer und schwäbische Dorfordnungen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 4 (1940), S. 54. 6 K. KOLLNIG, Probleme der Weistumsforschung, in: Heidelberger Jahrbücher 1 (1957), S. 1 3 - 3 0 ; neuerdings wiederabgedruckt in: G. Franz (Hg.), Deutsches Bauerntum im Mittelalter (Wege der Forschung 416), 1976, S. 3 9 4 - 4 2 3 ; danach hier und im folgenden die Belege, zit. 416. 7

H . STAHLEDER ( w i e A n m . 1 ) , S . 5 7 5 .

8 D. WERKMÜLLER, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer nach der Sammlung von Jacob Grimm, 1972, S. 59. 9 K.S.BADER, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde, 1962. 10 G. FRANZ, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2 1976. 11 G. OESTREICH, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969.

Funktion der Gemeinde

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Bader als politischer Verband und Rechtspersönlichkeit qualifizierte Gemeinde als integraler Bestandteil territorialstaatlicher Verfassung gewertet werden kann. Weil in der bisherigen allgemeinen Diskussion um den Territorialstaat die ländliche Gemeinde kaum als beachtenswerte Größe angesehen wurde, scheint es angezeigt, die Absicht der folgenden Überlegungen zu präzisieren: Zunächst sollen zwei Einzelbeispiele vorgeführt werden, die eine staatliche Funktion der Gemeinde und eine politische Funktion des Bauern signalisieren könnten (1), dann wird die Brauchbarkeit des Staats- und Politikbegriffs für die Einordnung dieser Belege geprüft (2) und letztlich ein Entwurf der staatlichen Funktion der Gemeinde (3) und der politischen Funktion des Bauern anzufertigen gesucht (4), der möglicherweise nutzbar gemacht werden könnte, um in der Diskussion über den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Staat eine neue Qualität zu erreichen (5).

1. Für das schwäbische Dorf Buxheim wurde 1553 eine Dorf- und Gerichtsordnung erlassen. Sie bringt unter der Rubrik «Von Strafen der frävel» folgende Bestimmungen: «Ob aber erwerfung, aufstöß, und unainigkait sich erhieben, ainer wider den andern, oder ain parthey wider die anndere, wölcher darbey ist, er sey aman, vierer, hauptleüt oder ain andrer, wer der ist, der soll bey sein aid frid bietten, wie in bedunckt gutt zusein, an 5 Pfd. h an 10 Pfd. h oder an 10 fl, auch wo nott an leib und an gutt, und als hoch ain herrschaft zugebietten hat. Wölcher dann der ist, der die bott ains oder mer überfüer, und nit gehalten hett, wie im dann gebotten worden wär, so will die herrschaft daz gelt deß botts von ainem jettlichen nemen on alle gnad» 1 2 . Hier wird dem Dorf und der Gemeinde die Friedewahrung zur Pflicht gemacht. Ich halte die Friedewahrung für eine der elementarsten Funktionen des Staates. Zwei Jahre später, 1555, wurde für den Bregenzerwald eine Polizeiordnung erlassen. Sie hat folgende Präambel: «Zuwissen und künd sey menigelichen, das Landaman, Ratt und gemaind uff unser Lieben Frawen Verkündigungstag ... diese nachvolgende artickeln uff und fürgenomen und für ainen ehewigen lanzprauch zuhalten. Und darmit es kreftig und stett gehalten werd, so solli dieser Brieff mit des Lantz Sigel verfertiget werden und ehewiglich zwüschend Sant Martins und Sant Kathreinen tag an den cantzlen verleßen werden» 13 . Hier erstellt eine Gemeinde eine Ordnung, ohne den vorgesetzten habsburgischen Vogt in Feldkirch oder die Innsbrucker Regierung beizuziehen. Bemerkenswert ist, daß vornehmlich Polizeimaterien behandelt werden, denen herkömmlicherweise be-

12 Klosterarchiv Ottobeuren, Archivkörper Buxheim, Lit. Nr. 10. 13 P. BUCKLE, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, 1973, S.300.

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stätigt wird, sie entsprängen herrschaftlichem Interesse 14 . Das Gegenteil ist hier der Fall. Auf die Gesetzgebung einwirken oder sie gar allein vornehmen zu können, halte ich für eine elementar politische Funktion. Dies sagen, heißt mit einem landläufigen, vor-wissenschaftlichen Staats- und Politikbegriff arbeiten, der freilich wie jeder umgangssprachliche Begriff noch einen gemeinsamen harten Kern mit dem wissenschaftlichen Begriff unserer Disziplin hat. Es bleibt zu prüfen, ob bei einem gesteigerten Anspruch an begriffliche Schärfe von einer staatlichen Funktion der Gemeinde und einer politischen Funktion des Bauern gesprochen werden kann.

2. An einer Formaldefinition der Begriffe Staat und Politik ist nichts gelegen, zumal es einen zeitlos gültigen Begriff von Staat und Politik nicht gibt 15 . Das kann allerdings kein Hinderungsgrund sein, Wesensmerkmale von Staat und Politik zu benennen und zu fragen, ob sie der ländlichen Gemeinde oder dem Bauern zugeordnet werden können. Man wird einen breiten Konsens voraussetzen dürfen, wenn man zum Wesen des Staates, zumindest in seiner konkreten Erscheinungsform im europäischen Bereich, die Realisierung von Gemeinschaftsinteressen zählt, die vorrangig und lange Zeit in der Friedewahrung und der Herstellung von Rechtssicherheit bestanden. Man kann Staat auch instrumental und formal bestimmen und, damit Max Weber folgend, «das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit» in den Vordergrund rücken 16 . Mit beidem ist der Staat nicht erschöpfend definiert, aber wesentliche staatliche Funktionen sind damit benannt. Sie alle finden sich auch in der Verwahrung der ländlichen Gemeinde: die Friedewahrung; die Herstellung der Rechtssicherheit in Form einer geordneten Rechtsprechung (Dorfgerichte, z.T. Landgerichte); die «legitime physische Gewaltsamkeit» in Zwing und Bann (Gebot und Verbot) 17 . Was gemeint ist, wird rasch klar, wenn man von diesen staatlichen Funktionen der Gemeinde ein Negativbild, das es in concreto auch

14 So auch für Vorarlberg K.H. BURMEISTER, Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung, 1970, S.86. Vgl. zur Diskussion zuletzt die neueren Beiträge von W. BRAUNEDER, Das Wesen des Strafrechts in den österreichischen Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jageilkonskiego 411 (1976), S.21-25; DERS., Zur Gesetzgebungsgeschichte der niederösterreichischen Länder, in: Festschrift Heinrich Demelius zum 80. Geburtstag, 1973, S. 2-23, bes. 12ff. - DERS., Der soziale und rechtliche Gehalt der österreichischen Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 3 (1976), S. 205-219, bes. 209. 15 Vgl. dazu das von E. FRAENKEL und K.D. BRACHER herausgegebene Fischer-Lexikon Staat und Politik, 1957, S. 14. 16 M.WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 5 1972, S. 30, 822. 17 Vgl. dazu auch O. BRUNNER (wie Anm. 2), S. 113.

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gibt, vorweist: Es zeigt die Friedenssicherung, die Rechtsprechung und die Gebots* und Verbotsgewalt in der Hand eines herrschaftlichen Beamten mit einem ihm zugeordneten Apparat ohne den räumlichen Bezug zur Gemeinde und den sozialen Bezug zum Bauern 1 8 . Wenn der Gemeinde des Bregenzerwaldes an der Mehrung der guten Polizei gelegen war, wie die Zeitgenossen gesagt haben würden, und sie in praxi ein obrigkeitlich-landesfürstliches Recht wahrnahm, betrieb sie gewiß Politik. Gleichgültig ob man von einem normativ-ontologischen Begriff ausgeht, der Politik als etwas Aufgegebenes in einem ethischen Bezugsrahmen begreift oder ob man nun in Analogie zum Staatsbegriff wieder Max Weber folgend - einem eher als «realistisch» zu qualifizierenden Begriff folgt, der das «Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung» 19 als Politik qualifiziert: in dem, was Adolf Waas den «Kampf um Gerechtigkeit» genannt hat 2 0 , oder in dem, was ich selbst als die «landschaftliche Verfassung» Oberdeutschlands bezeichnet habe 2 1 , präsentiert sich ein Bauer mit politischen Funktionen. Sie sind in den Weistümern und Dorfordnungen sicher schwerer auszumachen als die staatlichen Funktionen der Gemeinde, doch sind sie nachweisbar. Beide Bereiche sollen im folgenden konkretisiert werden, wobei allerdings berücksichtigt werden muß, daß sich die beiden bisher als selbständig gedachten Kreise vielfach übereinanderschieben und die Schnittmenge der Funktionen groß werden kann.

3. Die drei gemeindlichen Funktionsbereiche Friedewahrung, Rechtsprechung und Zwing und Bann waren in Abhängigkeit von naturräumlichen, siedlungsgeographischen und herrschaftsstrukturellen Vorgegebenheiten in den einzelnen Gebieten Oberdeutschlands unterschiedlich stark ausgeprägt. Verbreitungsschwerpunkte kartographisch zu erfassen, ist naturgemäß bei den unvollständigen Editionsreihen nicht möglich, ihr Gewicht zu messen nur in begrenztem Rahmen dort angängig, wo für ein größeres Gebiet ein geschlossener Bestand Ländlicher Rechtsquellen vorliegt oder von mir selbst durchgearbeitet wurde 22 . Dieser Umstand erfordert ein angemessenes methodisches Vorgehen: An größeren Räumen, für die lückenlos Editionen vorliegen, soll die Bedeutung eines gemeindlichen Funktionskreises ermittelt werden; die Reichweite hingegen kann nur andeu18 Solche Erscheinungen, wenn auch nicht in reiner Form, reichen sicher bis ins Spätmittelalter zurück, sind aber wohl kaum als der verbreitete Typus zu begreifen. Die heute zur Verfügung stehenden Ländlichen Rechtsquellen kennt Weber augenscheinlich nicht. Seine doch bemerkenswert ausführlich gehaltenen Bemerkungen zum Dorf und zur Gemeinde lassen diesen Schluß zu. Vgl. M . WEBER (wie A n m . 16), S. 2 1 7 f . , 417. 1 9 M . WEBER ( w i e A n m . 1 6 ) , S. 8 2 2 .

20 A.WAAS Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit 1300-1525, 1964. 21 P. BLICKLE (wie Anm. 13), bes. S. 565-569. 22 Das gilt für Vorarlberg und Bayerisch-Schwaben.

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tungsweise mit Hilfe einer kursorischen Durchsicht des Quellenmaterials und der Literatur erschlossen werden. Damit wird angestrebt, Gedanken von Karl Siegfried Bader weiterzuentwikkeln und für die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Verfassungsgeschichte insgesamt nutzbar zu machen. Der Anspruch auf Originalität hält sich damit in bescheidenen Grenzen, es sei denn, man würde dem Versuch, die ländlichen Verfassungsverhältnisse mit Hilfe eines quantifizierenden Ansatzes in ihrer Bedeutung für staatliche Strukturen zu lokalisieren, ein solches Attribut zubilligen. Um die Bedeutung der Gemeinde bei der Friedewahrung zu ermitteln, rekurriere ich auf die Edition von Paul Gehring, die das nördliche Oberschwaben abdeckt 23 . Von den Ordnungen für 20 Herrschaften mit knapp 50 Dörfern verzichten nur 11 auf eine detaillierte Behandlung der Friedenssicherung. Für 80% der Dörfer kann der Friede als ein zentrales Problem gewertet werden, das vom Spätmittelalter bis zum Ende der altständischen Gesellschaft gleichermaßen aktuell blieb 24 . Im einzelnen hatten bei auftretenden Streitfällen im Dorf die Gemeindemitglieder Frieden zu bieten. In der Regel kam die Pflicht zum Friedebieten zunächst dem Ammann, dann den Richtern und letztlich allen Gemeindegenossen zu, wie es in den Statuten von Heggbach heißt: «Item sezen und wollen wir, daß unser hoffmaister, aman oder püttel und ob deren kainer da wäre, ain jeder geschworner richter und ob kain richter auch da were, ain ieder unser einsäß und gerichtsgehöriger, ob aufrüerer und gezanck ... entstienden, früd zu gebieten haben» 2 5 . Offensichtlich hatte die größere Autorität der Amsträger hier zu einer «Hierarchisierung» der Pflicht, Friede zu bieten, geführt; häufig genug findet sich wie in der Ordnung von Dieterskirch von 1600 noch die allgemeine Bestimmung: «Item ob aufruor und zwytrachtigkeit zue Dieterskürch und derselben zwing und bännen entstienden, so soll ein jeder, so zue seinen tagen kommen, zulaufen, dieselben helfen zue friden und recht bringen und geloben lassen oder inen bey dem ayd frid bieten» 26 . Das Friedensgebot im Streitfalle war gestaffelt, richtete sich nach der Schwere der Auseinandersetzung und nach ihrer Dauer. «So sich zwischen haimbischen oder frembden hinfüro Schlaghandlungen oder uffruehren begeben oder zutragen wurden», heißt es in der Ordnung von Dietenheim von 1588, «so soll alßdann dem- oder denselben durch den amptman oder geschwornen richter oder, wo deren keiner zugegen, durch yeglichen richter erstlich bei 5 Pfd, zum andern mal bei 10 Pfd und, da daß nit verfahren, bei leib und gut frid gebotten werden, do sich aber yemand so frevenlich und unfridlich erzaigen und ye kainen frid halten

23 P. GEHRING (Hg.), Nördliches Oberschwaben (Württembergische Ländliche Rechtsquellen, 3. Bd.), 1941. Bei der zeitraubenden Aufbereitung des Materials hat mir mein Mitarbeiter, Herr Alfons Louis, geholfen, dem ich dafür an dieser Stelle danke. 24 Die Ordnungen, soweit sie die Friedenssicherung behandeln, wurden in der Zeit zwischen 1473 und 1712 abgefaßt. 25

P. GEHRING ( w i e A n m . 2 3 ) , S. 2 4 6 .

26 Ebd., S. 442.

Funktion der Gemeinde

57

wolt, soll meniglich erlaubt sein, gegen ime fürzunemben, damit er zu frid und ruehe gebracht werde. Doch soll man die rechte maß nit uberschreiten» 27 . Wo ungeachtet solcher Bemühungen «ainer oder mehr das bott verachten und nit frid halten woltend», hält die Gerichtsordnung von Albersweiler fest, «so sollen all einsäßen und gerichtsgehörige bey iren glüpten und aiden ohne Verzug und fürwort zueylen und helfen, den oder die, so dem gebotten nit gehorsam sein und nit frid geben wolten, annemen und fahen. Und ob sich der oder die ungehorsamen nit gefangen geben wolten, welcher dann den oder die ungehorsamen schlecht, stoßt oder sonst beschädiget, ußgenommen den todschlag, daran hat auch niemand gefrevelt» 28 . Das hier untersuchte Gebiet deckt ganz oder teilweise die Territorien der Reichsstädte Ulm und Biberach, der Grafen Fugger und Stadion, der Klöster Buchau, Gutenzell, Heggbach, Heiligenkreuztal, Kaisheim, Marchtal, Ochsenhausen, Söflingen und Wiblingen, Herrschaften, die angesichts ihrer Kleinräumigkeit und ihrer geringen wirtschaftlichen Ressourcen kaum Verwaltungs- und Polizeiapparate ausbilden konnten. In diesem Umstand den Grund für die Betonung der gemeindlichen Friedewahrung zu suchen, scheint zutreffend, wenn man zum Vergleich die Edition der Ländlichen Rechtsquellen der östlichen schwäbischen Landesteile heranzieht 2 9 : Die Ordnungen aus den Dörfern des Fürstentums Öttingen und des Herzogtums Württemberg treffen nämlich keinerlei Bestimmungen über die Friedenssicherung in Form des Friedegebots, während Friedegebote in den Dörfern kleinerer Herrschaften wie dem Kloster Kirchheim oder der Reichsstadt Nördlingen durchaus üblich sind. Diese Beobachtungen bestätigt von den edierten Württembergischen Ländlichen Rechtsquellen der Band über das Remstal, das mittlere Neckargebiet und die Schwäbische Alb 30 . Aus den altwürttembergischen Ämtern Cannstatt, Göppingen, Kirchheim, Münsingen, Neuffen, Nürtingen, Schorndorf, Stuttgart, Urach, Waiblingen und Winnenden gibt es keine oder nur vage Bestimmungen über das Friedegebot, während sie in den kleineren Herrschaften, den Dörfern des reichsritterschaftlichen Adels, der Reichsstädte und Klöster üblich sind 31 . Solche Beobachtungen könnten ein Zufall der Überlieferung oder vom unterschiedlichen Charakter der Ländlichen Rechtsquellen abhängig sein, doch ist auffallig, daß dort, wo Oberschwaben verwandte Herrschaftsstrukturen anzutreffen sind, die Bestimmungen über das Friedebieten sehr ausführlich gehalten sind, wohingegen sie in größeren Territorien fehlen: Die St. Galler Offnungen beispielsweise umschreiben in ähnlicher Weise und gleicher Breite wie die oberschwäbischen Dorfordnungen das

27 Ebd., S. 576. 28 Ebd., S. 636. 29 F. WINTTERLIN (Hg.), Die östlichen schwäbischen Landesteile (Württembergische Ländliche Rechtsquellen, l . B d . ) , 1910. 30 F. WINTTERLIN (Hg.), D a s Remstal, das Land am mittleren Neckar und die Schwäbische Alb (Württembergische Ländliche Rechtsquellen 2), 1922. 31 Die U b e r p r ü f u n g erfolgte über die Registerbelege.

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Friedegebot 32 , während die Taidinge des Erzstifts Salzburg nur drei Belege33 und die kurpfälzischen Weistümer offensichtlich34 gar keine bieten 35 . Gewiß reichen die hier angebotenen Begründungen - sie sind allerdings auch im Kontext der Frage- und Problemstellung von marginalem Charakter - nicht aus. Denn auch in Vorarlberg fehlen offenkundig eigene Friedensgebotsbestimmungen 36 , wiewohl der herrschaftliche Überbau durch die Herzöge von Österreich recht schwach ausgebildet war 37 ; auch finden sie sich nach kursorischer Durchsicht des Materials in den Weistümern der Westpfalz und an der Saar nur vereinzelt38. Daß das Problem als solches allerorten selbstverständlich von größter Aktualität war, bestätigen die Bußenkataloge, die durchgängig den Friedbruch mit unterschiedlich hohen Strafen ahnden 39 . Nur bleibt in den meisten Fällen unklar, ob das Schlichtungsverfahren, die Überstellung des Friedbrechers an die Herrschaft oder seine gewaltsame Überwindung den Gemeindegenossen zukamen oder nicht doch durch exklusiv herrschaftliche Organe wahrgenommen wurden. Frägt man nach der staatlichen Funktion der Rechtssicherung, so findet man sie nun in noch stärkerem Maße in gemeindlicher Hand als die Friedewahrung. Denn von Salzburg bis in die Pfalz und von Franken bis in die Schweiz gibt es eine Gerichtsbarkeit, die von der ländlichen Gemeinde wahrgenommen wird. Daß dies nicht überall so war und nicht immer so sein mußte ist bekannt: In Bayern scheint die Verbreitung der Dorfgerichte gering gewesen zu sein: Die bayerischen Landgerichte waren schon seit dem Spätmittelalter vornehmlich mit Urteilern aus den Städten und Märkten besetzt, Bauern wurden offensichtlich von ihnen ferngehalten 40 ; in der Grafschaft Nassau-Saarbrücken haben die lan32 M.GMÜR (Hg.), Die Rechtsquellen des Kanton St. Gallen, Öffnungen und Hofrechte, 2 Bde. (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen 14), 1903/06. Die Belege sind leicht über die Register zu erschließen. 33 H.SIEGEL - K.TOMASCHEK (Hg.), Die Salzburgischen Taidinge (Österreichische Weistümer 1), 1870. Im Landgericht Raschenberg kommt das Friedegebot nur der Obrigkeit zu (S. 99), nach dem Landrecht von Lofer und Unken kann jeder Untertan Friede bieten «als het in die obrigkait oder fronpot selbs gepoten» (S. 246); eine nur allgemeine Bestimmung bietet das Landrecht für Langberg (S. 328). 34 Das edierte Material ist bis heute zu schmal, um endgültige Aussagen zu erlauben. Auch konnte bei den edierten Bänden der hier gestellten Frage nur über die Sachregister nachgegangen werden. 35 C. BRINKMANN (Hg.), Reichartshausen und Meckesheimer Zent (Badische Weistümer und Dorfordnungen, l . A b t . : Pfälzische Weistümer und Dorfordnungen 1), 1917. - K.KOLLNIG (Hg.), Die Weistümer der Zent Schriesheim. Badische Weistümer und Dorfordnungen, 2. Bd., 1968. 36 H. BURMEISTER (wie Anm. 14). Ders. (Hg.), Vorarlberger Weistümer, 1. Teil (Österreichische Weistümer 18), 1973. 3 7 R BLICKLE ( w i e A n m . 1 3 ) , S . 2 5 5 ff.

38 W. WEIZSÄCKER (Hg.), Pfälzische Weistümer (Veröffentlichung der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 36), 1. Bd.: Abtfischbach bis Eygersheim, 1962, S. 185. - Für das Saarland beziehe ich mich auf die im Druck befindliche Dissertation von I. EDER, Die Saarländischen Weistümer. Dokumente der Territorialpolitik, Diss. phil., Saarbrücken 1975. 39 Auf Einzelbelege kann hier verzichtet werden, da solche Bestimmungen aus allen Landschaften Oberdeutschlands bekannt sind. 40 E. WOHLHAUPTER, Hoch- und Niedergericht in der mittelalterlichen Gerichtsverfassung Bayerns (Deutschrechtliche Beiträge XII, 2), 1929, S. 168ff., 175ff. (für die Dorfgerichte), 38ff. (für die

Funktion der Gemeinde • 59

desfürstlichen Ämter in der Zeit der absoluten Monarchie schließlich den Dörfern alle gerichtlichen Kompetenzen bis auf geringe kommunale Belange entzo41

gen . Der Zuständigkeitsbereich der ländlichen Gemeinde in der Gerichtsbarkeit soll exemplarisch am Beispiel Vorarlbergs dargestellt werden 42 . Soweit Vorarlberg zu Habsburg-Österreich gehörte, war es, älteren Einteilungen folgend und sie übernehmend, in 20 bzw. 21 ländliche Gerichte unterteilt. Naturräumliche und herrschaftliche Gegebenheiten wurden dafür verantwortlich, ob ein Gericht ein Tal (Bregenzerwald, Montafon) oder ein oder mehrere Dörfer mit Weilern und Einöden umfaßte. Die Kompetenzen der Gerichte reichten unterschiedlich weit: von der Aburteilung kleiner Frevel und der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Hofrieden, über die gesamte erstinstanzliche Zuständigkeit in Mittelberg bis zur Blutgerichtsbarkeit in Jagdberg. Die Appellation vom Gericht der ländlichen Gemeinde an ein solches der Herrschaft war vorgesehen, wurde aber wo immer möglich erschwert und unterbunden. Nach Ausweis der älteren Landsbräuche fand zunächst jährlich nur eine Gerichtssitzung statt, seit dem 17. Jahrhundert sind es drei oder vier Termine, die sich über das ganze Jahr verteilen, zu denen zusätzlich Gastgerichte kamen, wenn die fordernde Partei die Kosten zu übernehmen bereit war. So bestimmt etwa der Landsbrauch von Sonnenberg, «welcher undertan der vier zeitgerichte nit erwarten möchte und die haubtsachen iniurj, schachreden oder andere ansprachen, so 3 Pfd. Pfg. oder darob anbetreffen und dem cleger solliches an ainem wachsenden schaden liegen möchte, so ist der riechter ainem ieder haimbischen und frembten auf seinen uncosten gastgericht zue halten schuldig» 43 . Die Rechtsprechung erfolgte durch 12 bis 24 Richter, je nach der Größe und Ausdehnung des Gerichts. Dabei wurde darauf geachtet, daß alle Siedlungen innerhalb des Gerichts angemessen vertreten wurden. Bestimmt wurden die Richter durch unterschiedliche Verfahren: Wahl durch ein engeres Gremium der Gemeinde, Ernennung durch den Ammann, Ernennung durch die Herrschaft nach einem Vorschlag von Ammann und Gerichtsleuten. Den Vorsitz im Gericht führte der Ammann, der gleichfalls in nach Raum und Zeit unterschiedlichen Verfahren Landgerichte). Zusammenfassung neuerer Forschungsergebnisse bei W. VOLKERT, Staat und Gesellschaft. Erster Teil: Bis 1500, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, hg. von M. SPINDLER, 2. Bd., 1974, S. 536f., 540f. - P. FRIED, Zur Geschichte der bayerischen Landgemeinde, in: Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, Bd. 1 (Vorträge und Forschungen Bd. 7), 1964, S. 7 9 106. 41 N. M. SCHERER, Die Landgemeindeverwaltung im Fürstentum Nassau-Saarbrücken 1735-1893, Diss. jur., Saarbrücken 1971, bes. S.99fF. und G. W. RUMSCHÖTTEL, Verwaltungsorganisation und Gerichtsverfassung im Bereich der Grafschaft Saarbrücken im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. jur., Saarbrücken 1972, S. 192ff. - Ergänzend, auch für das Kurfürstentum Trier einschlägig, vgl. H. VAN HAM, Die Gerichtsbarkeit an der Saar im Zeitalter des Absolutismus, 1938. 42 Eine auf den Vorarlberger Landsbräuchen basierende Auswertung bei K.H. BURMEISTER (wie Anm. 14), S.92ff. und P. BLICKLE, (wie Anm. 13), S . 2 9 3 - 3 1 5 . - K.H. BURMEISTER, Die Verfassung der ländlichen Gerichte Vorarlbergs vom Spätmittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Z A A 1 9 (1971), S . 2 6 - 3 9 . Nach der hier gegebenen Literatur den folgenden Abriß. Auf Einzelnachweise wird, ausgenommen bei Quellenbelegen, verzichtet. 4 3 K . H . BURMEISTER ( w i e A n m . 36), S . 2 1 1 .

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Bauer und Gemeinde

bestellt wurde, mehrheitlich in der Form, daß die Gerichtsgemeinde ihn wählte und die Innsbrucker Regierung durch ihre Vögte ihn nur bestätigte. Der Anteil der Obrigkeit an der Rechtspflege ist, wie diese Bemerkungen zeigen, in Vorarlberg ausgesprochen bescheiden. Darauf kommt es hier allerdings nicht an, sondern auf das Prinzip, demzufolge die ländliche Gemeinde, nicht ein bloßer landesherrlicher Amtsträger die Gerichtsbarkeit wahrnimmt. Für die benachbarten österreichischen Gebiete, dies gilt vor allem für Tirol 4 4 und schließlich auch für Salzburg 45 , ist hinreichend nachgewiesen, daß die Landgerichte von Bauern besetzt wurden und eine nach oben nahezu unbegrenzte Kompetenz hatten. Bescheidener in ihrer Größe und beschränkter in ihrer sachlichen Zuständigkeit waren die 34 Niedergerichte 46 in der «Alten Landschaft» innerhalb der St. Galler Klosterherrschaft. Dennoch zeigen Gerichtsbesetzung und das Verfahren hier, wie auch im st. gallischen Toggenburg, erstaunliche Parallelen zu Vorarlberg 47 . In Schwaben 48 und im Elsaß 49 hat sich das Dorfgericht als verbreitete Erscheinung durchgesetzt 50 . Oft bis ins 18. Jahrhundert konnte bäuerliche Präsenz im Nieder-, ja gelegentlich sogar im Hochgericht behauptet werden. Komplizierte Gerichtsverhältnisse herrschten in Franken angesichts vielfacher Überlagerungen von grund- und gerichtsherrlichen Kompetenzen. Dorfgerichte sind allerdings ausgebildet, die in der Strafgerichtsbarkeit bis an die Kompetenz der fränkischen Zent heranreichen 51 . Friede und Recht in der ländlichen Gesellschaft zu sichern war nur dann möglich, wenn es ein anerkanntes Normengefüge gab, das notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Der räumliche Bezugsrahmen solcher legitimen Gewaltsamkeit mußte nicht, konnte aber die ländliche Gemeinde im Umfang des Dorfes oder eines größeren Bezirks sein. Der oberdeutsche Raum umschreibt die im Rahmen der ländlichen Gemeinde ausgeübte legitime Gewaltsamkeit verbreitet mit Gebot und Verbot, Zwing und Bann. Welche Bedeutung ihnen zukommt, 44 Vgl. H.BALTL, Die österreichischen Weistümer, in: MIÖG 59 (1951), S. 365-410; 61 (1953), S. 38-78, bes. 75 f. 4 5 H . SIEGEL - K . TOMASCHEK ( w i e A n m . 3 3 ) .

46 W. MÜLLER, Landsatzung und Landmandat der Fürstabtei St. Gallen, 1970, S. 163 f. 47 Die Belege liefern die Editionen von M. GMÜR (wie Anm. 32). Die neueren Studien von MÜLLER betonen m. E. zu stark den Einfluß des Klosters für die staatliche Struktur. 48 Neben P. G E H R I N G (wie Anm. 23), vgl. die Auswertung bei P. BLICKLE, Bauer und Staat in Oberschwaben, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 31 (1972), S. 116f. 49 F. HECKER, Eine vollständig erhaltene elsässische Dorfordnung aus dem Jahre 1544, in: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 1913, S. 301-309. 50 Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Herzogtum Württemberg ein, dessen Dörfer unter einer früh ausgeprägten Amtsverfassung in ihren Kompetenzen beschränkt blieben, schließlich jedoch im 17./18. Jahrhundert nochmals einen bemerkenswerten Zuwachs an Funktionen durch die Neuschaffung von Dorfgerichten erfuhren. F. BENZING, Die Vertretung von «Stadt und Amt» im altwürttembergischen Landtag, Diss. jur., Tübingen 1924 (MS), S. 74. W. GRUBE, Dorfgemeinde und Amtsversammlung in Altwürttemberg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 13 (1954), S. 208. 51

H.

Die Zenten des Hochstifts Würzburg, 2. Bd., 1907, S . 141 ff., 255FF., 279ff. (wie Anm. 1 ) , S . 5 3 6 3 " . - Zur Einordnung H . H . H O F M A N N , Bauer und Herrschaft in Franken, in: G . F R A N Z (Hg.), (wie Anm. 6), S . 424-467. Vgl. dazu auch den Beitrag von R. E N D R E S in diesem Band [vgl. Nachweis der Erscheinungsorte], KNAPP,

H . STAHLEDER

F u n k t i o n der G e m e i n d e • 61

soll zunächst wieder an einem Fall exemplarisch untersucht werden: dem von Friedrich Wintterlin für das Remstal, das mittlere Neckargebiet und die Schwäbische Alb herausgegebenen Material 5 2 . Ein erster Überblick zeigt, daß nur ganz wenige der edierten Quellenstücke darauf verzichten, über «Gebot und Verbot» Aussagen zu treffen. In der Regel war dem Ammann ein Gebots- und Verbotsrecht von der Herrschaft übertragen. Die weitgehend standardisierte Formel lautet: «Item was geboten und verboten wirt durch mein amptman oder wem ich oder er das zu thun bevelchen öffentlich vor der gemaind oder dem merertail der gemaind, gebuetend oder verbuetend, das soll von menigclichem, er sie bei dem gebot oder verbot gewesen oder nit, gehalten und volenzogen werden bei berwürckung der straf und peen, die dann dazumall darauf gesetzt ist» 53 . Mit anderen Worten: den Ammann und die von ihm Beauftragten, die Zweier, Vierer, Fünfer oder wie immer sie heißen mögen 5 4 , steuerten mit ad hoc erlassenen Geboten und Verboten, deren Übertretung mit Geldbußen oder gegebenenfalls Überstellung an die Obrigkeit geahndet wurde, akut werdende Fragen und Probleme. Dieses Gebot durch die lokalen Amtsträger hat für den Bereich der ländlichen Gemeinde dieselbe Funktion wie das Polizeimandat in den größeren Territorien - einem auftretenden Übelstand rasch und wirksam zu begegnen. Entscheidend ist im Problemzusammenhang des Themas: die Radizierung der Gebots- und Verbotsgewalt auf den Raum der ländlichen Gemeinde, die in der Regel nur durch die herrschaftlichen Rechte selbst begrenzte Satzungs- und Strafgewalt der gemeindlichen Organe und die Verantwortlichkeit auch gegenüber der Gemeinde. Die Ordnung des zweiherrigen Dorfes Emeringen von 1458 bringt dies in folgender Formulierung zum Ausdruck: «Item des ersten so haben wir [die Herren] ainen gemainen amann gesetzt, ... derselbig amptmann haut vor ainen gelerten aid zu Gott und den Hailigen geschworn, ain glicher amann zü sind baiden herren und dem dorf, auch den armen lüten darin gesessen, ir zwing und bänn helfen ze halten nach altem herkommen mit raut und hilf des gerichtz zü Emeringen ...; er soll ouch all Sachen, die dann ainen gemainen nutz antreffent, mit des gerichts hilf und raut verhandeln und tun one all geverde» 55 . Und auf entsprechende Weise «haut die gemaind auch dem obgenannten amptmann in aides wiße gelopt, sinen gebotten gehorsamb zü sind und gewärtig und im und dem gericht zwing und bann helfen zu halten nach ir alter herkommende». Eine scharfe Unterscheidung zwischen delegierter herrschaftlicher und originär gemeindlicher Zwing- und Banngewalt treffen zu wollen, mag für eine genetische Analyse hilfreich sein, birgt aber die Gefahr, hier einen realen sozialen Zusammenhang zu zerreißen 56 . Insofern der Ammann in Schwaben ein Bauer aus dem

52

F. WINTTERLIN ( w i e A n m . 30).

53 Ebd., S. 760. 54 Als ein Beleg für viele sei die Ordnung von Frankenhofen aus dem 16. Jahrhundert herangezogen. Sie hält fest: «Item was die zwaier welen bieten oder verbieten, das sol mit wisen des amas beschenchen und der ama sol schuldig sein inen die bot helfen zö thon bi sein aid.» (F. W I N T T E R L I N (wie Anm. 30), S.731). 55

F. WINTTERLIN ( w i e A n m . 30), S. 7 0 3 .

56 K . S . BADER (wie A n m . 9), S. 341 f., 3 6 7 - 3 8 3 .

62 • Bauer und Gemeinde

Dorf ist - dies gilt gleichermaßen auch für die übrigen Funktionsträger der ländlichen Gemeinde - und sein Aufgabenfeld auf diese Gemeinde (und sie allein) beschränkt bleibt, ist die ländliche Gemeinde eine Institution, die auch unter dem Aspekt der legitimen Gewaltsamkeit ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesamtheit Staat sein kann. Nicht sein muß, wie gerade die Württembergischen Ländlichen Rechtsquellen beweisen. Denn es fallt auf, daß für die altwürttembergischen Dörfer über Gebot und Verbot keinerlei Bestimmungen getroffen werden. Sieht man sich nach einem Grund dafür um, wird man auf die württembergische Amtsverfassung verwiesen, die jene staatlichen Funktionen, die anderwärts in der Gemeinde wahrgenommen werden, dem Vogt als vom Herzog eingesetzten Vorsteher des württembergischen Amtes zuweist 57 . Nicht jede ländliche Gemeinde, um das zu unterstreichen, hat staatliche Funktionen. Die Vermutung, allein die Kleinstaatlichkeit reichsritterschaftlicher oder reichsstädtischer Prägung sei für solche Verhältnisse verantwortlich, ist naheliegend, als Erklärung aber nicht ausreichend, weil sich auch in der territorial sehr viel großzügiger ausgestatteten Klosterherrschaft St. Gallen 58 , ja sogar in der Grafschaft Tirol 59 ähnliche Verhältnisse in den Gerichten und Teilgemeinden finden. Die Belegsammlung kann hier abgebrochen werden, wobei nochmals in Erinnerung gebracht werden sollte, daß die punktuellen Hinweise nicht hinreichen, räumlich und zeitlich in zufriedenstellender Weise zu differenzieren. Selbst wenn man die arbeitsökonomisch kaum vertretbare Belastung einer systematischen Durchsicht aller edierten Ländlichen Rechtsquellen anstreben würde, was angesichts oft unzureichender Register eine Sisyphusarbeit sein müßte, wäre dies beim gegenwärtigen Editionsstand und seiner Zufälligkeit ein methodisch fragwürdiges Unterfangen. Letztlich zufriedenstellende Ergebnisse können nur erwartet werden, wenn das Material, das unter dem Begriff Ländliche Rechtsquellen im engeren Sinn zusammengefaßt wird, geschlossen unter Zuhilfenahme der elektronischen Datenverarbeitung ediert, gespeichert und für die wissenschaftliche Auswertung unter verschiedensten Fragestellungen bereit gehalten wird 60 . Das Ziel dieser Ausführungen ist allerdings erreicht, wenn der Frageansatz als solcher als relevant gebilligt wird. Mehr soll und kann auch über die politische Funktion der Bauern nicht gesagt werden.

57 W. GRUBE, Dorfgemeinde und Amtsversammlung in Altwürttemberg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 13 (1954), S. 194-219. 58 M . G M Ü R (wie Anm. 32). Die Nachweise sind leicht über die Register zu erschließen. 59 F . H U T E R , Bäuerliche Führungsschichten in Tirol vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: G. F R A N Z (Hg.), Bauernschaft und Bauernstand 1599-1970, 1975, S.46. 60 Im Rahmen des Rundgesprächs, in dem auch der vorliegende Vortrag gehalten wurde, hat Herr Dr. H A N S JOACHIM K Ö H L E R unter dem Titel «Der Einsatz der Elektronischen Datenverarbeitung bei der Bearbeitung ländlicher Rechtsquellen - mögliche Leistungen und notwendiger Aufwand» in überzeugender Weise auf solche Möglichkeiten aufmerksam gemacht.

Funktion der Gemeinde

63

Die staatliche Funktion des Dorfes ist gegenüber der politischen Funktion des Bauern nicht immer scharf abzugrenzen, zumal die folgenden Ausführungen eine notwendigerweise verengende Perspektive in Kauf nehmen müssen, geht es doch darum, die politischen Zuständigkeiten über die Ländlichen Rechtsquellen nachzuweisen. Daß sie als gewissermaßen «statische» Quellen dynamische Prozesse, wie sie politische Aktivitäten naturgemäß darstellen, nur bedingt wiedergeben können, es sei denn, es gäbe Ländliche Rechtsquellen für einen Ort in größerer Dichte, liegt auf der Hand. Ich beschränke mich damit notwendigerweise in diesem zweiten Teil auf einige Bemerkungen zum Problem, die schon deswegen nur marginalen Charakter haben können, weil Vorarbeiten fast völlig fehlen und die greifbaren Belege sich der quantifizierenden Interpretation entziehen 61 . Die Weistumsforschung selbst hat, allerdings nicht explizit und ohne in der verfassungs- und sozialgeschichtlichen Forschung rezipiert worden zu sein, auf die Funktion des Bauern nachdrücklich aufmerksam gemacht. Wiewohl es mit Helmuth Stahleder 62 einen jüngeren Exponenten für die Interpretation der Ländlichen Rechtsquellen nach der herrschaftlichen Seite hin gibt, überwiegt mit Walter Müller 63 , Hermann Baltl 64 , Karl Heinz Burmeister 65 und Helmuth Feigl 66 doch eine Richtung, die dem Bauern eine wichtige Funktion im Spätmittelalter und der Neuzeit zubilligt - eben die der Beteiligung bei der Fortschreibung und Entwicklung des Rechts.

61 Auf Territorialstaatsebene ist eine Quantifizierung der politischen Bedeutung einzelner Stände möglich, weil hier der kausale Z u s a m m e n h a n g von Landesgesetzen (Landesordnung, Landrecht, Polizeiordnung) und Landtagsbeschwerden in der Regel nachgewiesen werden kann, die Landtagsbeschwerden ihrerseits meist bestimmten Ständen zugeordnet werden können. Vgl. dazu P. BLICKLE (wie A n m . 13), bes. S. 190-227. Ein methodisches Verfahren, die D o r f o r d n u n g e n und Weistümer in analoger Weise auf ihren Anteil an bäuerlicher Initiative zu befragen, müßte noch entwickelt werden. Vgl. ansatzweise I. EDER, Die saarländischen Weistümer. D o k u m e n t e der Territorialpolitik, 1977 (Die Arbeit erscheint in den «Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung»). 6 2 H . STAHLEDER ( w i e A n m . 1), S . 5 3 0 , 5 3 8 , 5 5 5 .

63 W. MÜLLER Die Öffnungen der Fürstabtei St. Gallen, 1964, S. 187f. - Bei Müller wird man eine Modifikation seiner hier formulierten G r u n d a u f f a s s u n g feststellen können, die besonders deutlich in seinen neueren Arbeiten zum A u s d r u c k k o m m t , die nun stärker das herrschaftliche Element betonen (wie A n m . 46). 64 H. BALTL (wie A n m . 44), S.389, 391, 404. Baltl hat geltend gemacht, d a ß 6 0 - 7 0 % der österreichischen Weistümer (Taidinge) nicht für einen herrschaftlich geschlossenen Bezirk gelten, folglich das herrschaftliche Interesse nicht d o m i n a n t sein könne. Aus dem engen Z u s a m m e n h a n g von Gerichtsverfassung und Weistum erschließt er bedeutenden bäuerlichen Einfluß, weil die Gerichtsverfassung in Osterreich stark genossenschaftlich geprägt ist. D a s Taiding orientiert also auf den Raum, die Nachbarschaft, nicht die Person, die Herrschaft, was schließlich dadurch unterstrichen wird, d a ß 83 % der Weistümer Österreichs Angelegenheiten von « ü b e r w i e g e n d . . . öffentlichem Interesse» regeln. 65 K . H . BURMEISTER (wie A n m . 14), S. 67. Burmeister betont stark den Einfluß der Juristen bei der Redaktion der Vorarlberger Landsbräuche (ebd., S. 6 3 - 6 7 ) , er geht aber m. E. zu weit, wenn er resümiert, «daß e s . . . letzten Endes doch die Juristen gewesen sind, die eine solche Kulturleistung geschaffen haben» (ebd., S. 63). 66 H. FEIGL, Rechtsentwicklung und Gerichtswesen Oberösterreichs im Spiegel der Weistümer, 1974, S. 106.

64 • Bauer und Gemeinde

Nun kann man freilich Recht und Politik kausal verknüpfen. Man kann dies etwa mit dem Rechtssoziologen Theodor Geiger tun, der die Rechtsnormen als Funktionen sozialer Interdependenzen versteht 67 . Angewandt auf den konkreten Fall heißt dies, daß man dem Bauern eine politische Funktion bescheinigt, wenn man nachweist, daß er an der Formulierung von Rechtsnormen beteiligt ist. Es genügt, diesen allgemeinen Gedanken, der die Weistumsforschung in die verfassungs- und sozialgeschichtliche Forschung hereinholen will, nur anzudeuten und rasch auf konkrete Möglichkeiten der Nachweisbarkeit politischer Funktionen des Bauern aufmerksam zu machen. Das «Hochfürstlich-Berchtesgadensche Landrecht» des 18. Jahrhunderts stellt eine Weiterentwicklung der mittelalterlichen Taidinge dar 6 8 . Inhaltlich ist es weitgehend identisch mit dem Landbrief von 1377 und einem Vertrag von 1506: Der Landbrief verbesserte die Besitzrechte der Bauern, der Vertrag von 1506 war der Schiedsspruch einer kaiserlichen Kommission in einem Prozeß, den die Berchtesgadener Landgerichtsgemeinde gegen ihre Herrschaft angestrengt hatte. 1629 hatte der Fürstpropst eine Polizeiordnung erlassen, 1667 wurden 18 der 47 Artikel aufgrund der bäuerlichen Beschwerden revidiert. Es ging in Berchtesgaden nicht darum, wie man vermuten würde, ein Weniger an wirtschaftlicher und sozialer Reglementierung zu erreichen, sondern herrschaftliche Satzungsansprüche in ihre Grenzen zu verweisen. Weitere Beispiele bezeugen im Gegenteil, daß die Bauern an einer Polizeigesetzgebung oft stärker interessiert waren als die Herrschaften: Auf Wunsch der Bauern sollte 1526 im Erzstift Salzburg die Polizeiordnung der Stadt Salzburg bezüglich der «Gotsschelltung und des schnöden zuetrinckhens» auf die ländlichen Gerichte übertragen werden 69 . Die Hauensteiner forderten im 17. Jahrhundert für den Schwarzwald eine Ordnung gegen exzessive Gastereien bei den Hochzeiten, Taufen und Jahrtagen. Die Forderung begründeten sie damit, daß der wirtschaftlich schlechtgestellte Bauer solche Mißbräuche bis zum Ruin seiner Existenz mitmachen müsse, um nicht sozial diffamiert zu werden 70 . Dies sind Beispiele, die mit dem Polizeiwesen absichtlich eine Rechtsmaterie herausgreifen, die üblicherweise als vorrangig landesfürstlich-obrigkeitliches Interesse interpretiert wird. Der Einfluß der Bauern ist evident, wenn auch nicht immer unmittelbar den Ländlichen Rechtsquellen anzusehen. Inhaltliche Veränderungen wie sachliche Kontinuitäten müssen in der Regel im Einzelfall daraufhin geprüft werden, wessen Interesse für Kontinuität oder Diskontinuität verantwortlich ist, was sich meist über die Vorakten zu Ländlichen Rechtsquellen erschließen läßt. Nur vereinzelt weisen die Ordnungen selbst auf die bäuerlichen Aktivitäten hin wie im Berchtesgadener Landrecht. Einfacher liegen die Dinge, wo die Ländliche Rechtsquelle unmißverständlich ihren Entstehungshintergrund mitliefert, wie bei der Änderung des Erbrechts im

67 68 69 70

TH. GEIGER, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 21970. Dazu P. BLICKLE (wie Anm. 13), S. 534ff. Ebd., S. 528. Ebd., S. 550.

Funktion der Gemeinde

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Unteramt der ostschweizerischen Grafschaft Toggenburg 71 . Fünf Bevollmächtigte der Gemeinde des Niederamts werden 1502 zu ihrem Landesherrn, dem Abt von St. Gallen, abgefertigt «und brächten unns», berichtet der Abt, «die benannten fiinff botten für: wie die benempten amman und gemaind im Undern Ampt uff berürter versamlung zü Lütißburg mit guter betrachtung, och mitt rat ir guten, getrüwen lanndtlüten der gemellten unser graffschafft für sich und ir ewig nachkomen ain zimlich, billich lanndtrecht, das hinfür in ewigkait in allen gerichten und tzwingen im Undern Amt diser nachvolgenden dryer artickeln halben zehalten und dem nachzekomen, doch inen sust an ir fryhaiten, landts- und hoffs recht in allen andern artickeln, stucken, puncten, mainungen und begryffungen gantz unabzügig, unvergriffen und unschädlich, mitt der meren hand uff sich genommen habint.» Daraufhin tragen die Bevollmächtigten den Inhalt der Artikel vor, die ihnen der Abt bestätigt und siegelt, weil sie «in vorbestympter wyß und maß nitt unzimlich, sunder göttlich, billich und recht sin». Das Beispiel, in der Ostschweiz zweifellos kein Einzelfall"72, in Vorarlberg sogar die Regel 73 , verweist deutlich auf die Durchsetzbarkeit bäuerlicher Interessen und damit auf die politische Funktion der Bauern. Sie kommt vielleicht noch stärker in der Abwehr herrschaftlicher Einflüsse zum Ausdruck, die freilich deswegen nicht weniger politisch ist. 1683 wurden die Dorfbräuche des schwäbischen Ertingen, über das Kloster Heiligkreuztal die Niedergerichtsbarkeit hatte, offensichtlich von einem herrschaftlichen Beamten aufgezeichnet, der sich darüber beklagte, daß «sy ihre schlaghändel und frävel nicht für die obrigkeit (bringen), sondern wellen alles vor ihrem groben bisselhirnigen paurengericht urtailen und aussprechen, auch darbei behaupten, das sy befuegt und berechtiget, alle gebotten und straffen ohnmaßgeblich der obrigkeit zue sezen und zue annembsen, item auch wann ainer den andern wie über mit straichen tractiere und nur nit bluet gebe, seye solches nit höcher dann umb 5 bazen straffbar» 7 4 . Solchen und ähnlichen 75 konservierenden Bemühungen steht eine aggressivere Politik gegenüber, die sich etwa in Tirol nachweisen läßt, wo Erna Patzelt 76 zeigen konnte, daß die Landesordnung von 1526, die als ausgesprochen bauernfreundlich eingestuft werden muß 7 7 und unter größtem Einsatz von den aufständischen Bauern und Städtern gegen Erzherzog Ferdinand durchgesetzt worden war, in die Taidinge und Dorfordnungen übernommen wurde. Hier zeigt sich zu wiederholten Malen, daß die Ländlichen Rechtsquellen, auch wenn die Präambeln dies nicht ausdrücklich sagen, die politische Funktion des Bauern doku-

71

M . G M Ü R ( w i e A n m . 32), II, S. 2 8 3 .

7 2 D i e B e l e g e bei M . GMÜR ( w i e A n m . 32), I, II. 73 P. BUCKLE ( w i e A n m . 13), S. 2 9 5 - 3 0 3 . 7 4 P. G E H R I N G ( w i e A n m . 2 3 ) , S . 5 4 7 .

75 Für Vorarlberg etwa ist äußerst wahrscheinlich; daß eine von der Innsbrucker Regierung entworfene Polizeiordnung am Widerstand der einzelnen Gerichtsgemeinden scheiterte. Vgl. P. BUCKLE ( w i e A n m . 13), S. 2 9 0 f .

76 E. PATZELT, Entstehung und Charakter der Weistümer in Österreich, 1924, S. 54. 77 P. BLICKLE, Die Funktion der Landtage im «Bauernkrieg», in: HZ221 (1975), S.8ff.

66 • Bauer und Gemeinde

mentieren können. Daß zur Lösung dieser Frage die Ländlichen Rechtsquellen nur einen Einstieg bieten, ist offenkundig, aber gerade darin liegt auch ihre Bedeutung : Sie bieten die Chance, rascher die regionalen Schwerpunkte politischer Aktivitäten der Bauern zu ermitteln.

5. Wer von staatlicher und politischer Bedeutung der Gemeinde und des Bauern spricht, stößt heute immer noch weitgehend auf Unverständnis und Ablehnung. In der deutschen Geschichtswissenschaft und im deutschen Geschichtsbewußtsein ist der Topos vom «unpolitischen» Bauern tief verwurzelt. Er ist so alt wie die kritische Geschichtswissenschaft in Deutschland selbst und hat für die Frühneuzeit eine Verfestigung durch die Bauernkriegsmonographie von Günther Franz 7 8 erlangt, dessen Urteil von der politischen Entmündigung des Bauern durch die Ereignisse von 1525 um so schwerer wog, als er unbestreitbar als der führende Agrarhistoriker in Deutschland gelten kann 7 9 . Unter Berufung auf Franz ist der Bauer gelegentlich sogar, aller unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und nationalen Strukturen ungeachtet, per definitionem als «unpolitisch» eingestuft worden 8 0 . Das deckt sich mit der Bewertung und Einschätzung des Bauern durch die ältere Volkskunde 81 . Auch die Weistumsforschung hat das Ihre zu einer solchen Auffassung beigesteuert. «Warum soll es sich mit dem Bauernrecht anders verhalten als mit Bauernkunst und Bauerntracht», frägt und das muß hier interessieren - Johannes Kühn rhetorisch in seiner methodisch wegweisenden Weistumsstudie. Mit seinem Votum für eine hohe Bewertung des herrschaftlichen Anteils am Inhalt des Weistums antwortet er «zugleich auch auf die allgemeine Frage, wieweit eine sozial niedere Klasse überhaupt kulturell schöpferisch zu sein vermag» 82 . Wechselseitig stützen so verschiedene Forschungsrichtungen ein Urteil, das das «Unpolitische» des Bauern zur anthropologischen Konstante erhebt. Diese Einschätzung hat verhindert, den Bauern und die von ihm wesentlich geprägte Gemeinde als historisch relevanten Faktor für Strukturen und Prozesse

78 Erstmals formuliert in G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 1933, für die Jahrhunderte zwischen Bauernkrieg und 20. Jahrhundert. Diese Beurteilung unverändert noch in der 10. Auflage von 1975, S. 2 9 4 - 3 0 0 . 7 9 G . FRANZ ( w i e A n m . 10).

80 H.RÖSSLER, Über die Wirkungen von 1525, in: Wege und Forschungen der Agrargeschichte, Festschrift Günther Franz, 1967, S. 111. 81 Vgl. dazu H. W U N D E R , Zur Mentalität aufständischer Bauern in: H.-U. W E H L E R (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526, 1975, S.9-37, hier S. 13. 82 J.KÜHN, Zur Kritik der Weistümer, in: Festgabe Gerhard Seeliger, 1920, S. 29-50, wieder abgedruckt in: G. F R A N Z (Hg.) (wie Anm. 6), S. 374-393, hier S. 393. - Vgl. dazu die kritischen Ausstellungen von K.R. KOLLNIG, Elsässische Weistümer (Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt 26), 1941, S. 165f.

Funktion der Gemeinde

67

in der Frühneuzeit ernsthaft ins Auge zu fassen. Die Diskussion um den Territorialstaat ist institutionengeschichtlich auf Regiments- und Amtsverfassung, sozialgeschichtlich auf das Problem Landesfürst - Stände verkürzt worden 8 3 . Gemeinde und Bauer existieren in dieser Diskussion nicht. Ich habe vor Jahren versucht, mit einem Beitrag über die Bedeutung der Bauern in den Landtagen oder, wenn man die terminologische Präzision vorzieht, der Gerichte, Ämter und Dörfer - der ländlichen Gemeinde eben - , auf diese verkürzte Perspektive deutscher Verfassungsgeschichte aufmerksam zu machen 8 4 . Gleichzeitig ist von der marxistischen Geschichtswissenschaft der D D R , die angesichts ihrer Ableitung politischer Prozesse von sozialökonomischen Erscheinungen ein besonderes Interesse am Bauern hat, auf seine politische Funktion mit dem Wort von der niederen Form des Klassenkampfes oder vom täglichen Klassenkampf hingewiesen worden 8 5 . Solche Ansätze weiterzuentwickeln, gibt es derzeit von Seiten soziologisch und anthropologisch interessierter jüngerer Forscher Bemühungen 86 , unter denen der Ansatz von Winfried Schulze größere Beachtung verdienen dürfte. Er arbeitet mit der These, daß in der frühen Neuzeit, bedingt durch Bauernkrieg und latente bäuerliche Aufstandsbereitschaft, neue Formen der sozialen Konfliktregulierung entwickelt wurden, die für die Ausbildung territorialstaatlicher Strukturen letztlich nicht belanglos waren 87 . Wenn ich solche Überlegungen besonders hervorhebe, so deswegen, weil sie dazu beitragen können, ein Geschichtsbild zu überprüfen, das - wie ich es sehe - Harmonisierungen liebt. Denn eine gesellschaftliche Schicht in der Größenordnung von 80-90 % der Bevölkerung über Jahrhunderte als unpolitisch und quasi außerhalb des Staates stehend einzustufen, ist nur möglich, wenn man eine konfliktfreie Gesellschaft unterstellt. Sie hat es gewiß gegeben, aber schwerlich über viele Jahrhunderte. Man wird also gewissenhaft prüfen müssen, ob nicht Jacob Grimms intuitiv geprägtes Urteil über die Funktion des Bauern im Recht eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf, ja in einem richtig verstandenen Sinn «wahr» ist. Er war Zeitgenosse jener Leute, die im 19. Jahrhundert das Problem der Sozialen Frage als Bedrohung ängstigte und als Aufgabe faszinierte.

83 Darin liegt mit der Grund, daß die deutsche Agrargeschichte des hier in Frage stehenden Zeitraums eine solche der Landwirtschaft und der Agrarverfassung ist. Die Beiträge in der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie bringen diese Dominanz eindeutig zum Ausdruck. 8 4 P. B U C K L E ( w i e A n m . 13).

85 Vgl. zuletzt H. HARNISCH, Klassenkämpfe der Bauern in der Mark Brandenburg zwischen frühbürgerlicher Revolution und Dreißigjährigem Krieg, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 5 ( 1 9 7 5 ) , S. 1 4 2 - 1 7 2 .

86 Vgl. bes. H.WUNDER (wie A n m . 8 1 ) . - DIES., Der samländische Bauernaufstand von 1525. Entwurf für eine sozialgeschichtliche Forschungsstrategie, in: R. WOHLFEIL (Hg.), Der Bauernkrieg 1524-26, 1975, S. 143-176. D.SABEAN, The Communal Basis of Pre- 1800 Peasant Uprisings in Western Europe, in: Comparative Politics, Apr. 1976, S. 355-364. - Volker Press meldet diesbezügliche Interessen an. Vgl. V.PRESS, Der Bauernkrieg als Problem der deutschen Geschichte, in: Nassauische Annalen 86 (1975), S. 170, Anm. 53. 87 W.SCHULZE, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17.Jahrhundert, in: H . - U . WEHLER ( H g . ) ( w i e A n m . 8 1 ) , S . 2 7 7 - 3 0 2 .

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Bauer und Gemeinde

Immer wieder hört man in den Reden der süddeutschen Abgeordneten und liest man in den Schriften der Liberalen wie der Konservativen die Hilflosigkeit gegenüber einem Phänomen, dem der sozialen und politischen Desintegration, das es offensichtlich bis dahin nicht gegeben hatte. «Die Revolutionierbarkeit oder Entzündbarkeit der Sozietät» hielt Franz von Baader für vermeidbar, wenn den «Proletairs» ihr Recht eingeräumt würde, «das Recht in den Ständeversammlungen ihre Bitten und Beschwerden in öffentlicher Rede vorzutragen ..., dieses Recht [muß ihnen] in konstitutionellen Staaten dermalen unmittelbar zugestanden werden, weil sie es selbst bereits früher, wenn schon nur mittelbar, nämlich beim Bestand ihrer Hörigkeit, effektiv genossen haben. Diese Vertretung muß ihnen außer [in] den Ständeversammlungen, zum Beispiel bei den Landräten, distriktweise oder provinzweise ... eingeräumt werden» 88 . Baaders Urteil über die Hörigkeit hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand, gewiß, aber es transportiert eine allgemeine historische Erfahrung aus dem 18. Jahrhundert in seine hier artikulierte Übersetzung: Der politische Zustand der altständischen Gesellschaft war insofern ein besserer als der gegenwärtige, als er das Auseinanderbrechen von Staat und Gesellschaft verhinderte. Daß dies möglich sei, ist eine Erfahrung des 19. Jahrhunderts, und es mag als Frage am Ende dieser Ausführungen getrost offen bleiben, ob der «unpolitische» Bauer nicht das Produkt zeitgenössischer Erfahrungen ist - der «unpolitische» Bauer außerhalb des Staates als eine Rückwärtsprojektion des «unmündigen» Arbeiters. Es ist aufgrund der vorgeführten Belege, wenn man der angebotenen Art der Interpretation folgt, wohl schwerlich möglich, die staatliche Funktion der Gemeinde und die politische Funktion des Bauern zu leugnen. Dieses noch nicht abschließende Ergebnis wird sich dann vertiefen und nach Raum und Zeit differenzieren lassen, wenn die Ländlichen Rechtsquellen für den deutschen Raum ediert vorliegen sollten. Die hier implizit angebotene, aber in ihren Konturen durchaus noch unscharfe «Theorie des frühmodernen Staates» will nicht mehr erreichen, als die Diskussion über den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Staat um eine neue Variante zu bereichern: Die Institutionengeschichte des Territorialstaats muß neben Regiments- und Amtsverfassung die Gemeindeverfassung miteinbeziehen, die sozialen Implikationen territorialstaatlicher Prozesse müssen aus dem verengenden Antagonismus Landesfürst - Landstände durch eine Berücksichtigung der politischen Funktion des Bauern erweitert werden. Damit erweisen sich die Ländlichen Rechtsquellen als unentbehrliches Material zur Überprüfung und Korrektur traditioneller Vorstellungen über den frühmodernen Staat.

88 Zitiert nach F. J. STEGMANN, Der soziale Katholizismus und die Mitbestimmung in Deutschland, 1 9 7 4 , S. 29.

Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne «Kommunalismus» - der Begriff ist weder in der Alltagssprache noch in der Wissenschaftssprache vorhanden. Meine Absicht ist es, ihn in einer für Sie plausiblen Form zu entfalten, meine Hoffnung ist es, ihn für Historiker als Wissenschaftsbegriff zu etablieren 1 . Das Thema hat viel mit dem ehrenvollen Ruf an die Universität Bern zu tun, und insofern mag es ein angemessener Gegenstand für eine Antrittsvorlesung sein. Kommunalismus nämlich bezeichnet das gedankliche Abstraktum und begriffliche Konstrukt von Beobachtungen, die ich auf einer Reise von Saarbrücken nach Bern gemacht habe. Sie war deswegen für mich als Historiker so ergiebig, weil mein Sohn seine Renitenz gegen Bern nur um den Preis einer ersten Besichtigungsfahrt per Fahrrad aufzugeben bereit war. Also wechselte ich einigermaßen grimmig vom bequemen Schreibtischsessel in den harten Fahrradsattel, suchte, möglichst geschickt den Windschatten meines Sohnes ausnützend, mit einigem Anstand die mittelschweren Pässe des Pfälzer Berglandes, der Vogesen und des Schweizer Jura zu bewältigen, was sich mit Hilfe der hervorragenden Reproduktionsmittel der rustikalen und Urbanen Gastronomie dieser Regionen bewerkstelligen ließ. Väter verfolgen bei solchen Gelegenheiten die oft zweifelhafte pädagogische Absicht, ihre Kinder zu bilden. So auch ich. Gerüstet mit historischen und kunsthistorischen Führern machten wir uns auf die Reise. Was war zu sehen? Eine Landschaft, in der einige verfallene Burgen und verlassene Klöster wie abgegriffene Zitate aus der Vergangenheit standen, eine einzige Barockanlage, das Schloß der Straßburger Bischöfe in Elsaß-Zabern; beherrschend hingegen war die von Dörfern und Städten geprägte Kulturlandschaft. Zweierlei war besonders bemerkenswert: die Bausubstanz stammte aus der Zeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert; Städte und Dörfer waren von ihrem äußeren Erscheinungsbild her oft kaum zu unterscheiden. Der Tachometer wies im Stadthof in Bern einen Stand von 480 km auf, wir hatten einen guten Teil Mitteleuropas von der Mosel bis zu den Alpen durchquert; das konnte eigentlich für den Charakter Mitteleuropas nicht ganz atypisch sein. Beim Ordnen der Eindrücke fiel mir auf, daß die für mich landschaftsprägenden Dörfer und Städte für die begriffliche Erfassung der Epoche zwischen Mittelalter und Moderne völlig unberücksichtigt geblieben sind. Als Epochen begriff, der allerdings das Mittelalter einschließt, hat sich eigentlich nur Feudalismus durchgesetzt und bis heute behauptet. In Frankreich spricht man vergleichsweise

1 Die hier entwickelten Überlegungen sind eine gedankliche Weiterführung eines Argumentationsstranges, den ich in einer kleineren Monographie (Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981) dargelegt habe. Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Problemkreis sei auf die dort verzeichnete Literatur verwiesen; ebd., S. 143-159.

70 • Bauer und Gemeinde

unbefangen von «abolition de la féodalité», um den Übergang von der altständischen zur modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen 2 . «Féodalité» hat eine angelsächsische Entsprechung in «feudalism» 3 . Der Feudalismusbegriff, wie er heute länder- und disziplinenübergreifend gebraucht wird, zeigt deutlich die Spuren der Auseinandersetzung mit Karl Marx, der den auf die Rechts- und Sozialfigur des Lehens begrenzten Sinn erweitert um eine ökonomische Dimension, die - ich zitiere ein Philosophisches Wörterbuch des Marxismus 4 - «durch das Eigentum der Feudalherren (Adel und Geistlichkeit) am damaligen Hauptproduktionsmittel, dem Boden, und durch das beschränkte Eigentum der Feudalherren an den unmittelbaren Produzenten, den hörigen und leibeigenen Bauern, charakterisiert» wird. Feudalismus ist ein Begriff mit offenen Rändern und Unscharfen - ein echter Historikerbegriff im Sinne Werner Kaegis5 -, aber er hat in seiner heutigen Verwendung doch einen harten Kern. Mit ihm eine Epoche zu belegen, heißt vertikale Ordnungen, von oben nach unten gestaffelte Abhängigkeiten mit entsprechenden Ausbeutungsformen oder - wie es neudeutsch heißt - «Surplus»-Abschöpfungen als charakteristisch für die vormoderne Zeit anzunehmen. Gehe ich von meinen Reiseerfahrungen aus, so hat der Begriff Feudalismus eine partielle Treffsicherheit, aber eben nur eine partielle ; meine Beobachtungen und damit die Epoche zwischen Mittelalter und Moderne bringt er nicht auf den Begriff. Im 13. Jahrhundert, in dem die folgenden Überlegungen einsetzen müssen, vollzieht sich - ich spreche zunächst von Mitteleuropa - ein bemerkenswerter Prozeß im agrarischen Bereich : an die Stelle der Weiler und lockeren Höfegruppen treten vielfach Dorfsiedlungen; zeitlich parallel zu dieser Siedlungskonzentration geht die Hausbauweise von den gewöhnlichen Gruben- und Pfostenhäusern zur Anlage von Ständerhäusern auf Steinfundamenten über und zeigt so eine größere Seßhaftigkeit an 6 . Der Veränderung des Siedlungsbildes entsprechen neue Formen der Wirtschaftsorganisation. Der Getreidebau nimmt zu, und Rotations- und Fruchtfolgesystem werden erkennbar ; Ackerland wird scharf vom Weideland getrennt, und die Dörfer grenzen Dorfmarken gegeneinander ab - Zeichen für die intensivere Nutzung der durch das hochmittelalterliche Bevölkerungswachstum zuneh-

2 Vgl. etwa L'abolition de la «Féodalité» dans le monde occidental. Colloques Internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique, Toulouse 1 2 - 1 6 novembre 1968,2 Bde., Paris 1971. 3 D a z u zuletzt die in «Past and Present» 1978 geführte Diskussion (im Anschluß an R. BRENNERS Studie (Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe>) von R . H . H I L T O N , M . M . POSTAN, J . HATSCHER, P . C R O O T , D . P A R K E R u n d H . W U N D E R .

4 Artikel «Feudalismus» in: G. KLAUS-M. BUHR (Hgg.), Philosophisches Wörterbuch, L.Bd., Berlin 8 1972, S. 366. 5 W. KAEGI, Über den Kleinstaat in der älteren Geschichte Europas, in: DERS., Historische Meditationen, Zürich o.J. (1946), S. 4 5 - 8 0 . 6 D a z u demnächst R. SABLONIER, D a s Dorf: Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im 13. Jahrhundert. Vortrag Göttingen 1978 [mittlerweile erschienen in: Festschrift Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, S. 727-745],

Kommunalismus als Gestaltungsprinzip • 71

mend beschränkten Landressourcen. Die Landwirtschaft verlagert ihren organisatorischen Mittelpunkt vom Hof des Herrn, vom Fronhof, auf das Dorf 7 . Dieser, kurz als «Verdorfungsprozeß» bezeichnete Vorgang war bedingt und wurde begleitet von Veränderungen in der politischen Organisation und Arbeitsverfassung. Die vergleichsweise komplizierte Wirtschaftsweise der zeigengebundenen Fruchtwechselwirtschaft erlaubte keine individuelle Fruchtfolgewahl, sondern verlangte die Unterwerfung unter kollektive Entscheidungen aller an der Flur berechtigten Dorfgenossen. Flurstreitigkeiten, die nicht ausbleiben konnten, erforderten gerichtliche Instanzen zur Abklärung konkurrierender Ansprüche. Das engere Zusammenleben im Dorf verlangte ein Minimum an Geboten und Verboten zur Sicherung des dörflichen Friedens. Aus solchen Bedingungen entstanden die dörfliche Selbstverwaltung, die dörfliche Gerichtsbarkeit und die dörfliche Satzungsautonomie als autogene Rechte des Dorfes. Das Dorf wurde, um eine Abbreviatur von Karl Siegfried Bader zu verwenden, zum «Friedens- und Rechtsbereich»8. Friedenssicherung und Rechtswahrung sind elementare staatliche Funktionen, so daß man - pointiert gesprochen - von «staatlichen Funktionen» des Dorfes sprechen kann 9 . Politische Rechte kamen nun nicht mehr exklusiv dem König, den Fürsten, dem Adel und der hohen Geistlichkeit zu, vielmehr erweiterte sich die politische Berechtigung um eine solche der Bauern. Bis zum Durchbruch der Volkssouveränität in und nach der Französischen Revolution sind derart fundamentale Veränderungen im staatlichpolitischen Bereich nicht mehr erfolgt. Das Dorf entsteht zeitlich an der Nahtstelle von der fronhofsorientierten auf die grundherrschaftlich orientierte Agrarverfassung. Die fronhofsorientierte Agrarverfassung basiert - idealtypisch beschrieben - auf der Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Herrn mittels Frondiensten überwiegend unfreier Höriger nach den Weisungen des Herrn. Im Prinzip verfügt der Feudalherr unbeschränkt über die Arbeitskraft seines unfreien Hintersaßen. Die grundherrschaftlich orientierte Agrarverfassung fußt auf der Grundrente in Form von Natural- oder Geldabgaben der Hintersaßen an den feudalen Grundherrn. Das setzt voraus, daß das herrschaftliche Eigenland an die Bauern ausgegeben ist. Damit entfielen im Prinzip auch die Frondienste mit der Konsequenz, daß der bisher Unfreie über seine Arbeitskraft frei verfügen konnte. Erst damit wird der Unfreie zum Bauern 10 . Die freie Verfügung über die eigene Arbeitskraft und damit den Ertrag dieser Arbeitskraft markiert eine Epochenwende in der Geschichte der Arbeitsverfas7 Zusammenfassend und gewissermaßen abschließend K. S. BADER, Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes 3), Wien-Köln-Graz 1973. 8 K. S. BADER, Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes 1), Weimar 1957. 9 Zur begrifflichen Pointierung P. BLICKLE, Die staatliche Funktion der Gemeinde - die politische Funktion des Bauern. Bemerkungen aufgrund von oberdeutschen Ländlichen Rechtsquellen, in: Ders. (Hg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977, S. 2 0 5 - 2 2 3 . 10 Die mir im Zusammenhang der weiteren Argumentation äußerst wichtige These verdankt viel den

72 • Bauer und Gemeinde

sung. Die einzig vergleichbare Parallele ist der Übergang von der altständischen Gesellschaft mit ihrer korporativ-ständisch gebundenen, selbstverantworteten Arbeit des Bauern und Handwerkers in die lohnabhängige Arbeit des Industriearbeiters. Sozialgeschichtlich gesehen bedeutet der Wandel im Mittelalter einen Aufbruch aus der Unfreiheit in die Freiheit, aus der Fremdbestimmung in die Selbstbestimmung. In den skizzierten Grundstrukturen besteht das Dorf vom ausgehenden Hochmittelalter bis zu den umwälzenden Reformen des frühen 19. Jahrhunderts. Es beschränkt sich auch nicht - um gleichfalls zunächst wieder aus dem mitteleuropäischen Raum zu argumentieren - auf bestimmte Regionen. Im 14. Jahrhundert jedenfalls ähnelt sich die ländliche Verfassung in den verschiedenen Teilen Mitteleuropas so sehr, daß man von einem Idealtypus Dorf in der skizzierten Form sprechen kann 1 1 . Das einheitliche Bild freilich löst sich in den folgenden Jahrhunderten rasch auf. Hervorstechend ist die unterschiedliche Entwicklung im Osten und Westen des Reiches. Die ostdeutsche Entwicklung ist verallgemeinernd dahingehend beschrieben worden, daß vom 14. bis 17. Jahrhundert ein Prozeß abläuft, der - um eine Formulierung Karl-Heinz Blaschkes zu gebrauchen - als «Entmündigung» des Dorfes bezeichnet worden ist 1 2 . Institutionell wirkt sich diese Entmündigung vornehmlich derart aus, daß die Zuständigkeiten des dörflichen Gerichts einem akademisch ausgebildeten Juristen übertragen werden. Die Schöffen verkümmern zu Statisten, wo sie nicht ganz abgeschafft werden, der dörfliche Richter führt nur mehr die Voruntersuchung, während die Urteile in der Kanzlei des Gutsoder Grundherren gefallt werden. Die dem Dorf entzogenen Funktionen machen mit anderen auf legalem oder usurpatorischem Weg erworbenen Herrschaftsrechten das Wesen der Patrimonialgerichtsbarkeit ostdeutscher Rittergutsbesitzer aus 1 3 . Wo sich diese ostelbische Patrimonialgerichtsbarkeit herausbildet, entspricht ihr in der Wirtschaftsorganisation das Rittergut mit seinen Vorwerken. Es wird mit der Arbeitskraft und den Produktionsmitteln der abhängigen Bauern und

Überlegungen von E. R. WOLF, Peasants, Englewood Cliffs, New Jersey 1966, und A. V. CHAYANOV,

The

Theory

of

Peasant

Economy,

ed.

D . THORNER

-

B . KERBLAY

-

R . E . F. SMITH,

Homewood, Illinois 1966, und R.WENSKUS, «Bauer» - Begriff und historische Wirklichkeit, in: R.WENSKUS - H. JANKUHN - K.GRINDA (Hgg.), Wort und Begriff Bauer (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge 89), Göttingen 1975, bes. S. 17. - Thesenschaft vorformuliert habe ich die Zusammenhänge in einer kleinen Studie: «Handarbeit», «gemeiner Mann» und «Widerstand» in der vorrevolutionären Gesellschaft, in: H. MOMMSEN - W. SCHULZE (Hgg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 234-239. 11 Vgl. die Regionalbeiträge in TH. MAYER (Hg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, 2 Bde. (Vorträge und Forschungen 7, 8), Sigmaringen 1961/64. 12 K. BLASCHKE, Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, germanistische Abteilung 82 (1965), S. 272 f. 13 Zusammenfassend G. FRANZ, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 4), Stuttgart 2 1976, S. 67.

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den Diensten der Bauernkinder bewirtschaftet, kaum jedoch mit freien Arbeitskräften. Erbuntertänigkeit für die Bauern zur Sicherung der Frondienste und Gesindezwangsdienst für deren Kinder zur Bestreitung der auf dem Rittergut anfallenden Arbeiten werden die bestimmenden Merkmale der ostelbischen Agrarverfassung 14 . Im Westen des Reiches, vom Niederrhein bis in die Schweiz sind ähnliche Entwicklungen nicht zu erkennen. Zweifellos gibt es auch hier Tendenzen, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, die staatlichen Kompetenzen der Dorfgemeinde herrschaftlichen Beamten zu übertragen. So beklagt sich etwa im 17. Jahrhundert ein schwäbischer Gerichtsherr, daß die Bauern «ihre Schlaghändel und Fräfel nicht vor die Obrigkeit bringen, sondern alles vor ihrem groben, bisselhirnigen Paurengericht urteilen und aussprechen wellen» 15 . Die Gemeinde Laupheim wirft ihrem Herrn, dem Reichsritter von Weiden, vor «wider alle Observanz ... in der Gerichtsbesetzung ... authoritative zu werk» zu gehen und «die Abhaltung deren Gemeinden ... wider das Herkommen» 1 6 zu behindern. Die Tatsache, daß diese Klage erst wenige Jahrzehnte vor der Bauernbefreiung des frühen 19. Jahrhunderts formuliert wurde, belegt, wie schwer die dörflichen Rechte außer Kraft zu setzen waren. Aufs Ganze gesehen bleiben dem Dorf im Westen des Reiches seine Funktionen erhalten 17 . Und auch die ihm eigene Arbeitsverfassung. Die Agrargeschichtsforschung spricht für den Westen des Reiches von der «versteinerten Grundherrschaft» und beschreibt damit eine im Prinzip unveränderte Agrarverfassung seit dem ausgehenden Mittelalter. Freilich hat es auch hier nicht an Versuchen des Adels gefehlt, seine Einkünfte über vermehrte Fronen zu steigern. Für Brauhäuser, Ziegelbrennereien, Mühlen, ja schließlich sogar die repräsentativen Barockbauten des Adels und der Kirche wurden Frondienste gefordert, allerdings scheiterten solche Ansprüche meist am Widerstand der Betroffenen 18 . Wie erklärt sich die unterschiedliche Entwicklung im Osten und Westen des Reiches? Einen Zugang zur Beantwortung dieser Frage liefert zunächst die Beobachtung, daß das Dorf in der von mir beschriebenen Form sich dort nicht behaupten oder entwickeln konnte, wo der Adel stark vertreten ist. Das gilt nicht nur für Mecklenburg, Brandenburg und Böhmen, sondern mit Modifikationen auch für Bayern und große Teile Österreichs. In den Territorien im Westen des Reiches spielt der Adel weder wirtschaftlich als Grundherr noch politisch als Gerichtsherr eine nennenswerte Rolle. Ein den Patrimonialherren in den ostdeutschen Territorien vergleichbarer Ritterstand hat sich im Westen nur in Form der Reichsritterschaft erhalten. Wie bedeutungslos sie insgesamt gewesen ist, ergibt

14 Die wichtigsten Daten bei W.ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2), Stuttgart 3 1978. 15 P. GEHRING (Hg.), Württembergische ländliche Rechtsquellen, 3. Bd.: Nördliches Oberschwaben, Stuttgart 1941, S. 547. 16 Laupheim 778-1978, hg. von der Stadt Laupheim, Weißenhorn 1979, S. 547. 17 Noch immer grundlegend B. HUPPERTZ, Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland. Ein Beitrag zur Deutschen Bauerngeschichte, Bonn 1939. 18 Dazu demnächst die Berner Dissertation von H. ZÜCKERT, Soziale Grundlagen der Barockkultur [mittlerweile erschienen, Stuttgart 1988].

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Bauer und Gemeinde

sich aus zwei Vergleichszahlen: Im 18. Jahrhundert gibt es im Reich 1600 reichsritterschaftliche Güter, allein in Bayern jedoch gibt es 1400 adelige und kirchliche Gutsherrschaften (Hofmarken), die von der Besitzausstattung mit einer Reichsritterherrschaft zu vergleichen wären 19 . Die Entwicklungsmöglichkeit und Lebensfähigkeit des Dorfes ist aber nicht nur abhängig von der regionalen Bedeutung des Adels. Die Beobachtung drängt sich geradezu auf, daß Zonen hoher Verdorfung mit Zonen hoher Verstädterung zusammenfallen. Der Westen des Reiches ist eine städtereiche, der Osten eine städtearme Landschaft. Das erfordert eine Antwort auf die Frage, wie Dorf und Stadt zusammenhängen. In der jüngeren Forschung hat Karl Siegfried Bader den polemisch-programmatischen Satz formuliert: «Es gehört zu den hartnäckig wiederholten Fehlern stadtgeschichtlicher ... Forschung, daß sie vorab die großen, als Wirtschaftszentren hervorragenden Städte vor Augen hat, während die zahllosen Kleinstadtsiedlungen vielfach übergangen oder doch für die gesamte Problematik der mittelalterlichen» - und man darf ergänzen: der frühneuzeitlichen - «Stadt viel zu gering eingeschätzt werden. Gerade in den Klein- und Zwergstädten, deren Rechtscharakter als Stadt unbestreitbar ist, ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte und Verwandtschaften zwischen Stadt und Dorf» 20 . In der Tat muß man sich vergegenwärtigen, daß Städte wie Köln, Nürnberg oder Straßburg nicht schlechthin als repräsentativ für die Stadt gelten können. Für das 15. Jahrhundert ist errechnet worden, daß von den 3000 Städten im Reich 2800 eine Bevölkerung zwischen 100 und 1000 Einwohnern hatten, also mehr als 90 % zu den sogenannten Kleinstädten gehören, die sich in der Bevölkerungszahl kaum vom großen Dorf unterscheiden. Rund die Hälfte der Dörfer der schwäbischen Klosterherrschaft Ottobeuren zählt um 1500 zwischen 250 und 500 Einwohner. Auch sollte man sich daran erinnern, daß sich Dorf und Stadt im Reich etwa zeitgleich seit dem 13. Jahrhundert entwickeln; um 1200 gibt es in Deutschland erst 50 Städte. Daß sich der Phänotyp Stadt vom Phänotyp Dorf eher graduell denn prinzipiell unterscheidet, läßt sich mit dem Hinweis auf gemeinsame Bauprinzipien belegen. Der dörfliche und städtische Siedlungsraum ist aufgeteilt in areae, die unter der Bezeichnung Hofstatt auftreten; nur auf der Hofstatt darf gebaut werden. Nutzungsrechte an der Dorf- wie an der Stadtmark hat nur der Hofstattbesitzer; dörfliche Allmende entspricht der städtischen Allmende. Der Siedlungsraum im engeren Sinn ist ein besonders geschützter Friedensbereich in der Stadt wie im Dorf: dem Stadtrecht als eigenem Rechtskreis, das vom Landrecht oder Territorialrecht abgehoben ist, entspricht das Dorfrecht. Gemeindeversammlung, Repräsentationsorgane, Satzungshoheit, Gericht u.a. sind Institutionen und Zuständigkeiten, die sich in der Stadt wie im Dorf finden21. 19 D i e Daten bei E.V. WAECHTER, D i e letzten Jahre der deutschen Reichsritterschaft, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 40 (1934), S. 245, und F. LÜTGE, Geschichte der deutschen Agrarverfassung v o n frühem Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 3), Stuttgart 2 1967, S.245. 20 K . S . BADER, D o r f (wie A n m . 8), S. 230. 21 D i e wichtigsten Belege bei B.HUPPERTZ, Kulturformen (wie A n m . 17), S. 55ff., 108ff., 129ff., 249ff. - K.S.BADER, D o r f (wie A n m . 8 ) , S . 2 3 0 - 2 3 8 - H.PLANITZ, D i e deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, G r a z - K ö l n 1954, S. 2 9 5 - 3 3 1 .

Kommunalismus als Gestaltungsprinzip

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Damit sollen Unterschiede zwischen Stadt und Dorf nicht verschliffen werden. Für die städtische «coniuratio» gibt es keine dörfliche Entsprechung. Doch war sie nur für einen kleineren Teil, keinesfalls jedoch für die Masse der im 13. und 14. Jahrhundert entstandenen Städte von Bedeutung. Selbst die städtische Freiheit, die unter dem Rechtssprichwort «Stadtluft macht frei» als wesentliches Definitionsmerkmal für die Stadt herangezogen wurde, gibt relativ wenig her, wenn man sich vergegenwärtigt, daß - um den Freiheitsbegriff mit Karl Bosl zu umschreiben - freie Verfügbarkeit über die Arbeit 22 sich im Prinzip auch für die bäuerliche Gesellschaft nach Auflösung der Fronhofsverbände durchgesetzt hat. Das Spätmittelalter selbst unterstützt die Leseart von den gemeinsamen Bauprinzipien, wenn es sagt: «Bürger und Bauer scheidet nichts als die Mauer» 2 3 . Die strukturellen Gemeinsamkeiten von Dorf und Stadt haben eine begriffliche Entsprechung in dem Wort Gemeinde. Von der Gemeinde des Dorfes und von der Gemeinde der Stadt ist in den Quellen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert die Rede. Primär bringt das Wort horizontale Bezüge und Zuordnungen von Menschen zum Ausdruck, bezeichnet es Gleichheit und Gleichwertigkeit. In letzter Instanz entscheidet im Dorf und in der Stadt immer die Gemeindeversammlung. Insofern die Gemeinde staatliche Funktionen entwickeln und an sich ziehen kann, die bis zur vollwertigen Staatlichkeit der Stadtstaaten Straßburg, Ulm oder Bern gehen können, entsteht ein alternatives Prinzip zu den vertikalen Bezügen des Feudalismus. Die Verfassungsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne ist die Geschichte der Spannung zwischen dem horizontalen Prinzip der Gemeinde und dem vertikalen Prinzip des Feudalismus. Von «einander entgegengesetzten Ordnungsprinzipien» spricht Ernst Walder und erläutert den Gegensatz dahingehend, daß er - bezogen auf das Dorf - der Gemeinde den «Willen zur Autonomie» bescheinigt 24 . «Die Einrichtung der Gemeinden», sagt schon Alexis de Tocqueville, «trägt die demokratische Freiheit mitten in die Feudalmonarchie hinein» 25 . An zwei «großen» Themen der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichtswissenschaft, die durchaus den hohen und weitgehenden Anspruch hatten und haben, die europäisch-abendländische Geschichte mit umfassenderem Geltungsanspruch zu erklären, will ich das erläutern - am Ständestaat und am Widerstand. Beim Ständestaat handelt es sich der Sache nach um eine gesamteuropäische Erscheinung. Zur Staatlichkeit zwischen Mittelalter und Moderne gehört der polare Charakter des staatlichen Verbandes: das «monarchische Prinzip» in der Person des Kaisers, des Königs oder des Fürsten und das «ständische Prinzip» in Form von Reichstagen, Parlamenten und Landtagen sind wechselseitig aufeinander bezogen. Die Verfaßtheit dieses Staates ist von Werner Näf'm die schon 22 K. BOSL, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München 1964, passim. 23 Vgl. H.PLANITZ, Stadt (wie Anm.21), S.229. 24 E. WALDER, Der politische Gehalt der Zwölf Artikel der deutschen Bauernschaft von 1525, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 12 (1954), S. 21. 25 A. DE TOCQUEVILLE, D e la Démocratie en Amérique, tom. 1, Paris 1951, S. 3: «L'institution des communes introduit la liberté démocratique au sein de la monarchie féodale».

76 • Bauer und Gemeinde klassisch gewordene Formel gebracht worden : «Fürst und Land stehen nebeneinander, gleichberechtigt und eigenberechtigt; aus doppelter Quelle fließt die Staatsgewalt. Dualistisch ist die Praxis in Verwaltung, Gesetzgebung, Finanzwesen ; erst durch das Zusammenwirken von Fürst und Ständen kommt Staatstätigkeit zustande» 26 . Was aber sind die Stände? In der voll entfalteten Form präsentiert sich das «ständische Prinzip» im Staat als politische Berechtigung von Adel, Geistlichkeit und Gemeinden. Der «tiers état» in Frankreich besteht aus Repräsentation von Gemeinden. Schweden bildet im Reichstag das Vierkammersystem aus, in dem bäuerliche und städtische Gemeinden je eine eigene Kurie bilden 27 . Die Territorien des Reiches integrieren die Gemeinde in Form der Dorfund Stadtgemeinde, vorausgesetzt die Gemeinde übt staatliche Funktionen aus 2 8 . Standschaft kommt eigentlich nicht Bürgern und Bauern zu, sondern Gemeinden. Die Einladung zum Landtag geht an die Gemeinde; sie bzw. ihre repräsentativen Organe «Bürgermeister und Rat» respective «Ammann und Gericht» bestimmen den Landtagsboten und fertigen für ihn die Vollmacht aus 2 9 . Im Unterschied zum Mittelalter ist die politische Standschaft erweitert. Otto Brunner hat das ältere Ständewesen des Hochmittelalters als das «gemeinsame Handeln» von Fürst und Ständen im Heer und Gericht beschrieben, das durch das Landrecht festgelegt ist. Landrecht jedoch gilt nur für den Adel, so daß die politische Berechtigung der Stände in Wahrheit eine politische Berechtigung des Adels darstellt. Das «gemeinsame Handeln» wird abgelöst durch das «Verhandeln miteinander», und dieses Verhandeln führt zur Institutionalisierung des «ständischen Prinzips» in Form von Parlamenten, Reichstagen und Landtagen 3 0 . Der Vorgang selbst liegt - regional unterschiedlich - im 13., 14., gelegentlich auch noch im 15. Jahrhundert, fallt zeitlich jedenfalls zusammen mit der Herausbildung der Gemeinde als einer weiter verbreiteten politischen Formation. Läßt sich diese zeitliche Koinzidenz kausal verknüpfen? Das Verbreitungsgebiet des voll entwickelten Ständestaats mit einer adelig geistlich - bürgerlich - bäuerlichen Repräsentation reicht in Mitteleuropa von Tirol über Schwaben, den Oberrhein, die Pfalz, das Kurfürstentum Trier bis nach Ostfriesland. Es deckt im wesentlichen den Westen des Reiches und damit jene Regionen, in denen Stadt und Dorf besonders hoch entwickelt sind. Im Osten fehlt in der Regel diese Voraussetzung. Dementsprechend haben Dorfgemeinden nirgendwo Standschaft und selbst den Städten - Sachsen ist dafür ein Beispiel kommt sie nicht generell zu; der Adel beherrscht hier eindeutig die Landtage. 26 W. NÄF, Der geschichtliche Aufbau des modernen Staates, in: DERS., Staat und Staatsgedanke. Vorträge zur neueren Geschichte, Bern 1935, S.37. 27 Überblicksweise H. RAUSCH (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, 2 Bde. (Wege der Forschung 469, 196), Darmstadt 1974/80. 28 P. BLICKLE, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973. 29 M. MITTERAUER, Grundlagen politischer Berechtigung im mittelalterlichen Ständewesen, in: K. BOSL (Hg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 11-41. 30 O. BRUNNER, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 6 1970.

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Hingegen läßt sich für die Landtage Westdeutschlands nachweisen, daß die städtischen und dörflichen Vertreter in bewußter Frontstellung zu Adel und Geistlichkeit gemeinsame Ziele verfolgten und erreichten, wo nicht der Adel überhaupt dem ständischen Corpus ausgegliedert wurde wie in Württemberg, Baden und Kurtrier. Im Westen des Reiches werden Adel und Geistlichkeit in der Regel zur Steuer herangezogen, im Osten nicht. Die territorialen Rechtskodifikationen, beispielsweise Tirols und Ostfrieslands, tragen eindeutig den Stempel bäuerlicher und bürgerlicher Politik. Das ist verständlich bei der weitgehend gleichen Interessenlage, waren doch die Städte vielfach auch Ackerbürgerstädte und das Land stark mit Gewerben durchsetzt. In Westdeutschland war die Gewerbeverfassung offen, wirtschaftliche Schranken zwischen Stadt und Land gab es - im Gegensatz zum Osten - nur sehr bedingt. Besonders deutlich kommt die gleiche Interessenlage darin zum Ausdruck, daß in vielen Ständeversammlungen - so in den habsburgischen Vorlanden, in Württemberg und in Trier - die städtischen und ländlichen Vertreter gemeinsam eine Kurie bilden. Daß es sich bei der Standschaft der Gemeinden nicht um eine Erscheinung marginalen Charakters handelt, bestätigt die staatstheoretische Diskussion der Frühneuzeit. Denn in Konkurrenz zur Theorie der Fürstensouveränität tritt seit den Monarchomachen des 16. Jahrhunderts die Theorie der Magistratssouveränität, welche die Souveränität bei den inferioren Magistraten, den untergeordneten Obrigkeiten, lokalisiert. Einer der Hauptvertreter der Magistratssouveränitätstheorie ist Althusius31. Er hat in seinem Hauptwerk «Politica methodice digesta» eine Theorie der Ständesouveränität entwickelt, in der die Gemeinde voll integriert ist. Althusius begreift Staat als umfassende «consociatio», die sich aus dem freiwilligen Zusammenschluß politischer Einheiten ergibt. Zu ihnen gehört auch die «consociatio publica particularis», die in ihrer konkreten Gestalt als Landgemeinde oder Stadtgemeinde auftreten kann. Als membra der res publica verfügen beide mit Adel und Geistlichkeit als Gesamtheit über die Souveränität. Die Brauchbarkeit dieses theoretischen Konzepts hat kürzlich Michael Mitterauer32 bestätigt, und die geistreichste Abstraktion des Ständewesens seit Otto Hintze33 und Emile LousseiA geliefert. Mit Blick auf Europa insgesamt kommt er zu der Auffassung, daß konstitutiv für Standschaft sind: der unmittelbare Bezug zum Fürsten und die Wahrnehmung «eigenständiger Herrschaftsrechte». Letztere können wie beim Adel, den Bischöfen und Prälaten persönlicher Art sein, sie können wie bei den Stadt- und Landgemeinden kollektiver Art sein. Mitterauer nennt das die «autonome Stadt- und Landgemeinde» und meint damit dasselbe, was ich zur Verdeutlichung die Gemeinde mit «staatlichen Funktionen» nenne.

31 J. ALTHUSIUS, Politica Methodice Digesta, 3 1614 [Nachdruck Aalen 1961 ], bes. Kap. 6, 8 und 9. 32 M . MITTERAUER, G r u n d l a g e n ( w i e A n m . 29).

33 O. HINTZE, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, in: DERS., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen, l.Bd., Göttingen 2 1962, S. 120-139. 34 Als Einführung in die Lousse'sche Konzeption vgl. E. LOUSSE, Parlamentarisme ou corporatisme? Les origines des assemblées d'états, in: Revue historique de droit français et étranger 14 (1935), S. 683-705.

78 • Bauer und Gemeinde

Die Gemeinde ist also für die politischen Formationen in Europa keine zu vernachläßigende Größe. Das bestätigt sich auch, wenn man die Formen des Widerstandes untersucht. Unter der perspektivischen Verengung auf bäuerlichen Widerstand - die Stadt der Frühneuzeit ist unter diesem Aspekt kaum untersucht - ist das seit zwei Jahrzehnten ein Thema, das von Porschnev und Mousnier, Hilton und Le Roy Ladurie, Vogler und Bercé diskutiert wird. Den Stellenwert des bäuerlichen Widerstandes zwischen Mittelalter und Moderne hat Marc Bloch dahingehend bestimmt, daß er ihn mit dem Streik in Industriegesellschaften parallelisiert. Der Konflikt in Form der Bauernrebellion figuriert in dieser Diskussion als konstitutives Epochenmerkmal 35 . Der originäre Beitrag der Geschichtswissenschaft in Mitteleuropa besteht darin, daß sie die Gemeinde als Trägerin des Widerstandes nachgewiesen hat 36 . In Aufständen tritt die Gemeinde ihrer Herrschaft immer geschlossen gegenüber, die Entscheidung, ob Widerstand praktiziert wird oder nicht, erfolgt vorab durch Gemeindeversammlungen; führend treten in den Revolten die Ammänner und Schultheißen auf, die Repräsentationsorgane der Gemeinde; finanziert werden die oft erheblichen Kosten für Prozesse und Gesandtschaften zum Landesherrn oder Kaiser über die Gemeindekasse. Das erklärt, weshalb Regionen mit hochentwickelten Gemeinden die größte Revoltendichte aufzuweisen haben. Die Schweiz ist auch in diesem Punkt in Europa eindeutig führend. Versucht man, die Revolten zu kategorisieren, so lassen sich zwei Haupttypen herausstellen: Revolten gegen die Grund- und Gutsherrschaft einerseits und Steuerrevolten andererseits : Revolten gegen die Grund- und Gutsherrschaft verteilen sich gleichmäßig über alle Jahrhunderte, zeigen aber auf der Zeitachse eine bemerkenswerte räumliche Schwerpunktverlagerung. Im Spätmittelalter konzentrieren sich die Unruhen im Südwesten, in der Frühneuzeit im Osten und Südosten des Reiches. Die Aufstandsmotive sind in beiden Fällen ähnlich: Der Bauer wehrt sich jeweils gegen neue Formen der Unfreiheit. Im Südwesten wurde nochmals der ältere, längst überwundene Unfreienstatus von den Feudalherren reaktiviert, um einer ökonomischen Schwierigkeit der sog. Agrarkrise zu begegnen. In Schlesien, den Lausitzen, Böhmen, Bayern und Österreich kommt es vornehmlich wegen der enorm ansteigenden Fronen seit dem 17. Jahrhundert zu Rebellionen. Das fallt zeitlich zusammen mit der Ausbildung der Gutswirtschaft im Osten und einer der Gutswirtschaft verwandten Großgrundherrschaft in Österreich. Mit ihrem Widerstand suchen die Bauern die von mir als typisch dörflich bezeichnete Arbeitsverfassung zu retten, die auf Abgaben statt auf Diensten, eigen-

35 Anstelle einzelner Titelnachweise genügt hier der summarische Hinweis auf den kursorischen Forschungsüberblick bei W. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6), Stuttgart - Bad Canstatt 1980, S. 21-48. 36 Führend ist in der Diskussion H. HARNISCH. Anstelle seiner vielen Einzelstudien sei auf die abschließende Monographie Bauern - Feudaladel - Stadtbürgertum (Abhandlungen zur Handelsund Sozialgeschichte 20), Weimar 1980, bes. S. 81-99, verwiesen. - Für die westdeutsche F o r s c h u n g s u m m a r i s c h : P. BLICKLE - P. BIERBRAUER - R . BLICKLE - C . ULBRICH, A u f r u h r u n d

Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980.

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verantwortlichem Handeln statt weisungsgebundenem Handeln, kurzum: auf der freien Verfügung über die eigene Arbeitskraft begründet war. Refeudalisierungstendenzen über eine «zweite Leibeigenschaft» zu verfolgen, war ein prinzipiell ungeeignetes politisches Konzept für den erreichten Bewußtseinsstand der ländlichen Gesellschaft. Er äußert sich als Bauern Weisheit in vielen Rätseln, etwa folgendem: « E i n frag. W o für die b a u r e n v n s e r n h e r g o t a m m a i s t e n bitten. A n t w u r t . F ü r d i e R e y s i g e n p f e r d t . d a n n w o die s e l b i g e n a b g i e n g e n w u r d e n d i e edelleut d i e b a u r e n mit s p o r e n r e y t e n » 3 7 .

Der Typus der Steuerrebellionen folgt der Ausbildung des Steuerwesens im Staat, nimmt also seit der Frühneuzeit zu. Die Steuerrebellion ist die direkteste Antwort des Bauern auf die Institutionalisierung eines frühmodernen Staates zu dessen definitorischen Merkmalen die Steuer gehört. Bezeichnenderweise lassen sich die Volksaufstände Frankreichs überwiegend diesem Typus zuordnen. Die Ziele der Aufständischen in Mitteleuropa erschöpfen sich nicht in der bloßen Abwehr herrschaftlicher, staatlicher Anforderungen. Sie sind konstruktiv in dem Sinn, daß sie über den konkreten Anlaß hinaus einen rechtlich oder institutionell abgesicherten Interessenausgleich anstreben. Im Kontext der Rebellionen gegen die Grund- und Gutsherrschaft geht es mehrheitlich um eine rechtliche Fixierung der Agrarverfassung, im Kontext der Steuerrevolten ist als Ziel deutlich die Integration in die Landstände auszumachen, um so über die Höhe und Verwendung der Steuer mitentscheiden zu können. Unter solchen Perspektiven steht etwa der Salzburger Bauernaufstand von 1462, die Rebellion in der Steiermark 1469/71, der Arme Konrad in Württemberg 1514 oder der Oberösterreichische Bauernkrieg von 1595. Auch wenn die Aufstände militärisch gescheitert sind, für die politische Ordnung waren sie keineswegs ohne Bedeutung. Die Revolten gegen die Grundherren im deutschen Südwesten endeten in der Regel mit einem Vertrag, der über die Frage der Leibeigenschaft hinaus die Agrarverfassung in umfassender Weise rechtlich festlegte 38 . Sie blieben elementarer Bestandteil der Verfassung im deutschen Südwesten und sind in zahllosen Prozessen bis ins 18. Jahrhundert vom Kaiser (Reichshofrat) immer wieder bestätigt worden. Diese Verträge sind ein Analogon zu den umfassenden Rechtskodifikationen in größeren Territorien wie Tirol, Baden oder Ostfriesland. Folge von Revolten, der Steuerrevolten vornehmlich, war gelegentlich die Institutionalisierung der politischen Berechtigung der Bauern in Form der Landstandschaft. Das gilt für das Hochstift Salzburg und das Fürststift Kempten und eine Reihe weiterer kleinerer Territorialstaaten. Als Fazit ergibt sich aus diesen Beobachtungen, daß sich die Gemeinde als horizontales Ordnungsprinzip im staatlichen und sozialen Bereich seit dem 37 Zitiert bei P. SEIBERT, Aufstandsbewegungen in Deutschland 1476-1517 in der zeitgenössischen Reimliteratur (Reihe Siegen 11), Heidelberg 1978, S. 89. 38 Dieser Gesichtspunkt ist für den Argumentationsrahmen von großer Wichtigkeit. Vgl. dazu P. BLICKLE, Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag, in: H. PATZE (Hg.), Grundherrschaft im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 27), Sigmaringen 1982.

80 • Bauer und Gemeinde 13. Jahrhundert Geltung verschafft. Ich nenne das Kommunalismus. Auf den Begriffgebracht werden soll damit die Beobachtung des wechselseitig kausalen Zusammenhalts von: selbstverantworteter Arbeit des Bauern und Bürgers einerseits und der Gemeinde mit staatlichen Funktionen andererseits. Diese komplementären Prinzipien werden zum Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne insofern, als sie sich eine angemessene Berücksichtigung in den staatlichen Verbänden via Repräsentation oder Widerstand sichern können. Feudalismus und Kommunalismus sind zwei Prinzipien, die sich nur mühsam harmonisieren ließen. «Der Bauer ist an Ochsen statt, nur daß er keine Hörner hat», war ein gleichermaßen verbreiteter Spottvers der Herren wie der zur Scheidemünze der Feudalismuskritik gewordene Zweizeiler: «Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann ?» Der Antagonismus Feudalismus - Kommunalismus erklärt den antithetischen Prozeß der Geschichte - zumindest Mitteleuropas - möglicherweise besser als das Begriffspaar Feudalismus - Kapitalismus. Der Kommunalismus war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert ein dynamisches Prinzip. Das zeigt der Vorstoß der Städte zur Reichsunmittelbarkeit, in dessen Gefolge schließlich die Stadt die nämlichen Funktionen ausübte wie ein Reichsfürst. Das zeigt die Staatsbildung auf kommunaler Grundlage, wie sie im Zusammenschluß ländlicher und städtischer Gemeinden in der Schweizer Eidgenossenschaft manifest wird. Das zeigt - um summarisch zu verfahren - die Geschichte Dithmarschens, des Appenzells und Graubündens. Einen gewissen Höhe- und Scheitelpunkt der Entwicklung bildet der sogenannte Bauernkrieg von 1525, der auf der Basis von Dorf- und Stadtgemeinden, unter Ausschluß der feudalen Herrenschicht Adel und Geistlichkeit, staatliche Verbände errichten wollte. Metapher für solche Entwicklungen wird das «neue Schweizerland», das die deutschen Fürsten überall dort entstehen sehen, wo die feudale Herrschaft in Frage gestellt wird. Das Morgarten-Syndrom der Habsburger erweitert sich zum Trauma der deutschen Fürsten. Begleitet wurde diese Entwicklung von der Entfaltung einer kommunalen Ideologie. Die Reichsreformer und Utopisten des 14. bis 16. Jahrhunderts, von der Reformatio Sigismundi über den Oberrheinischen Revolutionär, Eberlin von Günzburg bis zur anonymen «Neuen Wandlung eines christlichen Lebens» erwarten eine Reorganisation des Reiches zunächst von der städtischen, dann zunehmend von der ländlichen Gesellschaft 39 . Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert die Reformation. Sie wird in ihrer Frühform heute in Anlehnung an A.G. Dickens als «urban event» verstanden 40 - ein meines Erachtens unzureichendes Kürzel, das durch «Gemeindereformation» als präzisere Realitätsbeschreibung ersetzt werden sollte 41 . Denn 1523 sagt Luther in seiner Schrift «Das ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift»: Um «lere tzu urteylen, lerer odder seelsorger eyn und ab zu setzen, mus 39 Überblicksweise F. SEIBT, Utopica. Modelle totaler Sozialplanung. Düsseldorf 1972. 40 A.G. DICKENS, The German Nation and Martin Luther, London 2 1976, S. 182. 41 Die folgenden Ausführungen und die begriffliche Festlegung auf «Gemeindereformation» bei P. BUCKLE, Die Reformation im Reich. Stuttgart 1982.

Kommunalismus als Gestaltungsprinzip • 81 man sich gar nichts keren an menschen gesetz, recht, alltherkommen, brauch, gewonheyt etc., Gott gebe, es sey von Bapst odder Keyser, von Fürsten odder Bischoff gesetzt, es habe die halb odder gantze wellt alßo gehallten, es hab eyn oder tausent jar geweret». Eine tausendjährige Tradition wird hier hinweggefegt. Die Gemeinde entscheidet über die richtige Lehre. Der Apostel Paulus, so interpretierte Luther den Thessalonicherbrief, «will ... keyne lere noch satz gehalten haben, es werde denn von der gemeyne, die es horett gepruffet, und für gutt erkandt» 42 . Eine Gemeinde, die über die richtige Auslegung des Evangelismus entscheidet und Grundlage der Kirche ist, sollte nicht auch über die richtige Gestaltung der politischen Ordnungen entscheiden können und die Grundlage des Staates werden? Dem Gemeindeprinzip hat niemand eine treffendere ideologische Begründung geliefert als Luther. Unter dem Eindruck der theologischen Differenzierung der reformatorischen Bewegung - Müntzer, Karlstadt, die Täufer sind hier zu nennen - revidiert Luther seine Gemeindevorstellung. Der Landesfürst wird zum Notbischof, er visitiert die Kirche und «reformiert» sie, der Pfarrer wird dem Staatsbeamten zum Verwechseln ähnlich, kurz: die Reformation wird für den Staat in Pflicht genommen. Am Ende steht das Prinzip «cuius regio eius religio» des Au'gsburger Reichstags von 1555. Diese Kurzformel bezeichnet den nochmaligen Sieg des Feudalismus über den Kommunalismus - freilich in regional beschränktem Rahmen. Denn nur die lutherischen Landeskirchen werden nach dem Urteil Max Webers zu «kirchlichen Gemeinschaften ..., welche ... in besonders starkem Maße mit fürstlichen und adeligen, autoritären Interessen verknüpft und von ihnen abhängig sind» 43 . Der Osten des Reiches, das Gebiet ausgeprägter Adelsherrschaft, rezipiert das Luthertum in stärkerem Maße als der Westen. Das Luthertum macht die Obrigkeit in viel höherem Maße sakrosankt als das die römische Kirche getan hatte. Kontrollinstanz des Fürsten sind nicht mehr politische Institutionen, sondern sein privates Gewissen - eine, wie man weiß, zweifellos fragwürdige Instanz. Auf dem Boden des lutherischen Deutschland entsteht zwischen 1670 und 1750 die Hausväterliteratur, die einseitig die Verantwortlichkeit für wirtschaftliche, soziale und politische Ordnungen dem Hausvater überträgt. Dabei handelt es sich um eine enorm wirksame Literatur, wie Otto Brunner gezeigt hat 4 4 . Der Hausvater hat eine auffällige Parallele zu einer Zentralfigur von Luthers Sozialethik: der Hausvater nämlich repräsentiert bei ihm das erste diesseitige gottgewollte Gewalt Verhältnis. Adelige und fürstliche Herrschaft sind für ihn nichts anderes, als ins Große gedehnte Haushaltungen. Die Untertanen stehen zum Fürsten wie die Kinder zum Hausvater. Damit wird der überwiegende Teil der Gesellschaft minorenn.

42 M.LUTHER, Luthers Werke (Kritische Ausgabe 11), Weimar 1900, S.408-411. 43 M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1972, S. 2 8 7 . 44 O. BRUNNER, Das «ganze Haus» und die alteuropäische «Ökonomik», in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Soziaigeschichte, Göttingen 21968, S. 103 -127.

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Hingegen hat der Westen eine erkennbare Affinität zum Zwinglianismus und Calvinismus, wohl aufgrund der von beiden favorisierten Gemeindeautonomie. Die Niederlande, Ostfriesland, Nassau, Pfalz-Zweibrücken und Kurpfalz orientieren sich an Genf nicht an Wittenberg; die oberdeutschen Städte von Konstanz über Basel bis Straßburg an Zwingli nicht an Luther. Das als schieren Zufall zu bezeichnen, verbietet sich spätestens seit Max Weber, auch wenn man an der kausalen Verknüpfung von Stadt, Rationalität, Calvinismus und Kapitalismus Korrekturen anzubringen hat. In die Moderne weist der Kommunalismus, nicht der Feudalismus. Kommunalismus und Feudalismus trennt nicht nur ihr je inneres Bauprinzip hier vertikale, dort horizontale Ordnung. Beide trennt auch eine unterschiedliche Auffassung vom Menschen. Der Feudalismus «hält» den Untertanen in einer «servilen» Position. Die Interessen des adeligen Herrn stecken dem Untertanen den Spielraum ab, in dem er selbstverantwortlich wirtschaften und politisch handeln kann. Der Kommunalismus hingegen macht den Untertanen in der Weise frei, daß er über seine Arbeitskraft und seinen Arbeitsertrag relativ frei verfügen kann, in einem organisatorischen Rahmen, der auf politische Mündigkeit orientiert. In Kommunalismus und Feudalismus präsentieren sich damit auch zwei unterschiedliche Formen von Humanität und politischer Kultur. Kommunalismus versus Feudalismus ist das bestimmende Thema der politischen Auseinandersetzung zwischen Mittelalter und Moderne. Das impliziert, daß mit Feudalismus allein die Epoche zwischen Mittelalter und Moderne nicht auf den Begriff zu bringen ist. Der Epochenbegriff Feudalismus kann nicht durch den Epochenbegriff Kommunalismus ersetzt, aber komplementär ergänzt werden. Die These stützt sich bislang vorwiegend auf den mitteleuropäischen Bereich ; inwieweit das Modell für eine Periodisierung und Erklärung historischer Prozesse Europas nutzbar gemacht werden kann, bleibt abzuwarten.

Bauer und Landschaft

Politische Repräsentation der Untertanen in südwestdeutschen Kleinstaaten «Die landständische Verfassung des Fürstenthums Kempten gehört ohnstreitig unter die merkwürdigen Erscheinungen der Regierungs-Normen in Schwaben, und verdient schon insofern, als sie nach der Geschichte aus dem langwierigen Kampfe des Landes mit seinen Fürsten hervorgegangen ist, einen höheren Grad der Aufmerksamkeit und Würdigung», schrieb 1806 der bayerische Landeskommissar Preuss, und er erläutert die «landständische Verfassung» Kemptens so : «Die ... gewählten und von der Landesherrschaft bestättigten Landausschüsse machten - stehts das Grund-Gesetz der Verfaßung im Auge - der Regierung zu jeder Zeit heilsame auf das Beste des Landes abzielende Vorschläge, achteten auf die Verfügungen der Regierung, halten selbe gegen die errichtete Landes-Verträge, vergleichen sie mit ihrem, und dem bäuerlichen Intereße Aller, berathen sich hierüber mit Männern, die vorzügliche Sachkenntniß haben, und denen sie ihr Zutrauen schenken können, - pflegen vorzüglich in wichtigen Angelegenheiten Rücksprache mit ihren Gemeinden und resolviert sodann aus ihren Verhandlungen, und Berathschlagungen, welche stets unkollegialisch sind, daß die von der Regierung getroffenen Verfügungen mit den Verträgen des Landes oder dessen Wohlfahrt überhaupt contrastieren; so machen sie dagegen gegründete schriftliche oder mündliche Vorstellungen und bitten um Remedur, und im Falle ihnen dieses versagt würde, nehmen sie ihren Rekurs zu den ... Justizstellen, ... Von dem Ausspruch dießer hängt es sodann ab, ob die Regierung die landschaftl. Vorschläge zu genehmigen hat, oder ob sie solche modifizieren, oder gar vervvoerfen kann; ob einmal erlassene Verfügungen der Regierung aufzuheben, oder in ihren ganzen Weßen zu belassen sind.» Ähnlich könnte sich ein württembergischer oder badischer hoher Beamter zu Beginn des 19. Jahrhunderts geäußert haben, denn im gesamten deutschen Südwesten finden sich in den Kleinstaaten vom Zuschnitt Kemptens (es ist also hier nicht zu sprechen von den größeren Territorialstaaten der Habsburger, Württemberger und Badener) ähnliche Verfassungsverhältnisse. In den Adelsherrschaften Altshausen, Eglofs, Rothenfels, Tettnang, Trauchburg, Wolfegg, Wurzach, Zeil und in den Klosterherrschaften Buchau, Gutenzell, Heggbach, Ochsenhausen, Rot an der Rot, Rottenmünster, Weingarten, Weissenau und Zwiefalten, ja gelegentlich auch in den Stadtstaaten wie Rottweil gab es nach Auskunft der württembergischen Behörden des frühen 19. Jahrhunderts »landständische Verfassungen» im Sinne von Preuss bzw., wie die württembergische Regierung zu sagen pflegte, «Landschaften». Das Gutachten von Preuss spricht von «gewählten Landausschüssen», vom «bäuerlichen Interesse», das diese Ausschüsse verfolgen, und von «Rücksprache mit den Gemeinden» und bringt damit deutlich zum Ausdruck, daß es im Fürststift Kempten eine Repräsentation der Untertanen gab. Wenn er als Kompetenzen der Repräsentanten der Untertanen ihr Recht zur Gesetzesinitiative und ihr

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Kontrollrecht gegenüber Regierungsmaßnahmen hervorhebt, unterstellt er damit zweifellos eine politische Repräsentation. Preuss macht am Beispiel Kemptens Aussagen über die Entstehung der üblicherweise Landschaft genannten Untertanenrepräsentation, wenn er behauptet, die Landschaft sei aus dem «Kampfe des Landes mit seinen Fürsten hervorgegangen», er macht Aussagen über die Organisation der Landschaft, wenn er von Wahlen und der Rückbindung von Entscheidungen der Gewählten an die Gemeinden spricht, und er macht schließlich Aussagen über die Funktionen der Landschaft, wenn er ihr weitgehende Kompetenzen im Bereich der Gesetzgebung und damit der politischen Ordnung schlechthin zugesteht. Seine Einschätzung soll für die folgende Darstellung die leitende Fragestellung abgeben.

Die Entstehung der Landschaften Die Entstehung der Landschaften vollzieht sich in einem zeitlich langgestreckten Prozeß, der im 15. Jahrhundert einsetzt, wie etwa in den Klosterherrschaften Ochsenhausen, Schussenried und Rot an der Rot, und spätestens im 17. Jahrhundert seinen Abschluß findet, wie im reichsstädtischen Territorium von Rottweil. Der zeitliche Schwerpunkt der Entstehung von Landschaften fallt zweifellos ins 15. und frühe 16. Jahrhundert. Wie das im einzelnen vonstatten gegangen ist und was «Landschaft» eigentlich bedeutet, läßt sich beispielhaft an der Klosterherrschaft Ochsenhausen zeigen. Im ausgehenden 15. Jahrhundert kommt es in Ochsenhausen verstärkt zu Prozessen zwischen Bauern und der Herrschaft um das bäuerliche Erbrecht - sowohl an den Gütern wie an der Fahrhabe. Da diese Aktionen offensichtlich weitgehend erfolglos blieben, entsandten 1496 sämtliche Ochsenhauser Gerichte, d.h. mit anderen Worten die Dörfer, eine gemeinsame Delegation an den Abt mit der Bitte, ihre Ansprüche zu erfüllen. Da dieses Vorgehen ohne Resonanz blieb, verweigerten die Ochsenhauser Untertanen - es handelt sich ausschließlich um Bauern - dem 1498 neugewählten Abt die Huldigung und stellten damit faktisch das bestehende Herrschaftsverhältnis in Frage. Die Bauern forderten die Vererbbarkeit der Güter, eine drastische Herabsetzung der Besitzwechselgebühren (von den bisher üblichen 50% auf 10% des Gutswerts), die Erbfähigkeit der Kinder für die fahrende Habe der Eltern (nur unter diesen Bedingungen waren sie bereit, Reichssteuern zu bezahlen) und die Aufhebung der klösterlichen Gerichtssatzungen, die den Dorfgerichten ihre rechtsschöpferische Funktion entzogen hatten. Hinter diesen Forderungen stand die Behauptung und Überzeugung der Bauern, der Abt habe ihnen ihr älteres, besseres Recht entzogen. In einer Reihe von Schiedsverhandlungen suchten Abt und Untertanen, zu einem Ausgleich zu kommen, freilich vergeblich, weil das Kloster die bäuerlichen Forderungen als unberechtigt zurückwies. Als sich die Verhandlungen über drei Jahre ergebnislos hinzogen, schlössen die Bauern 1501 heimlich eine «Einung», verweigerten dem Abt die Abgaben und drohten dem Klostervogt mit bewaffne-

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tem Vorgehen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Das führte zur militärischen Intervention des Schwäbischen Bundes (der seit mehr als zehn Jahren bestehenden Organisation der oberdeutschen Obrigkeiten zur Sicherung des Landfriedens) und zur Niederwerfung der Bauern. Dessen ungeachtet war der Schwäbische Bund an einem dauerhaften Ausgleich interessiert und setzte einen Vertrag durch, der den Interessen der Bauern weitestgehend entgegenkam: Ihr Erbrecht an Gütern und Liegenschaften wurde festgeschrieben und zwar in Form einer Urkunde, von der die Untertanenschaft ein gesiegeltes Exemplar ausgehändigt erhielt; die Steuerfrage wurde in der Weise gelöst, daß die Untertanen zwei Drittel, das Kloster ein Drittel der auf Ochsenhausen entfallenden Reichssteueranteile übernehmen sollten. Ochsenhausen darf weitgehend verbindlichen Charakter für die Art der Entstehung von Landschaften im deutschen Südwesten beanspruchen. Allerorten nämlich geht es um Differenzen über die grund- und leibherrlichen Rechte der Obrigkeit (einschließlich ihres nicht unbestrittenen Anspruchs, Steuern zu erheben), die mehr oder minder gewaltsam ausgetragen werden - mit Abgaben Verweigerungen, Huldigungsverweigerungen und dem korporativen Zusammenschluß der Gesamtuntertanenschaft, gesichert durch einen Einungseid, der gewissermaßen in Konkurrenz zum Huldigungseid gegenüber der Herrschaft tritt. Zu verallgemeinern ist auch die Form der Beilegung solcher Konflikte durch einen Vertrag, mit dem die gesamte Untertanenschaft als Vertragspartner der Herrschaft anerkannt wird. Damit konstituiert sich die Untertanenschaft als Landschaft. «Landschaft», so läßt sich der seit dem 15. Jahrhundert den Quellen geläufige Begriff definieren, «ist die genossenschaftlich organisierte, korporativ auftretende Untertanenschaft einer Herrschaft». Wie läßt sich das Entstehen von Landschaften im Spätmittelalter erklären? Auffallend ist, daß die Landschaftsbildung zeitlich mit den südwestdeutschen Bauernaufständen zusammenfällt, ja die Landschaft oft, wie in Ochsenhausen, Rot, Schussenried, Kempten oder Zeil, einem Aufstand geradezu ihre Existenz verdankt. Daraus ergibt sich als erste allgemeinere Aussage, daß Landschaften ohne den Willen der Untertanen nicht denkbar sind und zunächst in einem scharfen Interessengegensatz zu ihren Herrschaften standen. Wodurch ist dieser Interessengegensatz bestimmt? Dazu bedarf es einer etwas weiter ausholenden Argumentation. Im Spätmittelalter erfolgte im Südwesten ein entscheidender Wandel in der politischen und wirtschaftlichen Ordnung, der mit einem Kürzel als «Verdorfungsprozeß» charakterisiert werden kann. Inhaltlich läßt sich der Begriff dahingehend auffüllen, daß dem Dorf autogene politische Rechte zukamen - in der Verwaltung, in der Gesetzgebung (Gebot und Verbot) und in der Gerichtsbarkeit. Verbunden mit dem Verdorfungsprozeß war eine bedingte Freisetzung der Bauern in der Weise, daß die fronhofsgebundene Eigenwirtschaft der Herren nach und nach aufgegeben wurde und der Bauer zum selbstverantwortlich wirtschaftenden Subjekt wurde; Frondienste und deren rechtlicher Hintergrund, die Leibherrschaft, spielten seitdem eine vergleichsweise geringe Rolle, und die Organisation der Landwirtschaft über relativ selbständige bäuerliche Familienwirtschaften tendierte dazu, den Ertrag der bäuerlichen Arbeit zu vererben. Wirtschaftliche

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und politische Eigenverantwortung im Rahmen des Dorfes charakterisieren die Stellung der Bauern im 14. Jahrhundert. Gegenläufige Bewegungen, die Rechte der Bauern zu schmälern und die Tendenzen der Entwicklung abzublocken, entstanden mit der Wirtschaftskrise des Spätmittelalters, die im ausgehenden 14. Jahrhundert einsetzte und sich über das ganze 15. Jahrhundert erstreckte. Die Herrschaften, deren Einkünfte zurückgingen, reagierten auf zweifache Weise: mit der Reaktivierung ihrer älteren Rechtstitel, vornehmlich der Leibherrschaft, und einem Ausbau ihrer Herrschaftstitel, was schließlich in der Reichsunmittelbarkeit ihren besonders signifikanten Ausdruck fand und dazu berechtigt, solche unmittelbar zu Kaiser und Reich stehenden Adels- und Klosterherrschaften als Kleinstaaten zu bezeichnen. Der Gegensatz war prinzipieller Art und konnte dauerhaft nur in Form einer angemessenen Integration der Untertanen in dem sich neu konstituierenden und definierenden politischen Verband - der Begriffswechsel von Herrschaft zu Obrigkeit deutet das an - gelöst werden. Die südwestdeutsche Entwicklung steht zweifellos im größeren Zusammenhang der ständischen Bewegungen in Europa, die im Spätmittelalter einen deutlich erkennbaren Aufschwung nimmt. Der in der europäischen Rechtstheorie unbestrittene Satz «Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet» (was alle betrifft, muß von allen gebilligt werden) hat im deutschen Südwesten seine weitestgehende Ausprägung in der Untertanenrepräsentation gefunden, wohingegen üblicherweise im Reich sich die landständischen Körperschaften aus Adel, Geistlichkeit und Städten zusammensetzten.

Die Organisation der Landschaften Die Organisation der Landschaften gestaltete sich in allen Kleinstaaten vergleichsweise ähnlich. An ihrer Spitze stand ein sog. Landschaftskassier (Rechnungsgeber, Rechenmeister, Steuereinnehmer), der nicht nur die Steuergeschäfte der Landschaft besorgte, sondern dem Gesamtbereich der landschaftlichen Verwaltung vorstand. In der Namengebung freilich kommt seine primäre Funktion der Steuereinziehung und -Verrechnung zum Ausdruck. Sie erklärt sich daraus am Beispiel Ochsenhausen wurde das bereits angedeutet - , daß die Landschaften einen fixierten Anteil der Reichs-, später auch der Kreissteuern aufzubringen hatten, die Technik der Steuerumlage und -einhebung allerdings der Verantwortung der Landschaften überlassen wurde. In der Regel wurde der Landschaftskassier von den Landschaftsausschüssen, von denen gleich noch ausführlicher zu reden ist, gewählt, wobei der Kreis der Wahlfähigen durchaus unterschiedlich war: Häufig mußte die Landschaft ihren Kandidaten unter den herrschaftlichen Beamten wählen, erst wenn der Kompetenzenkreis ihrer Tätigkeit weit genug gezogen war, was üblicherweise erst im 18. Jahrhundert erreicht wurde, gelang es zusehends, Verwaltungsbeamte auch außerhalb des Territoriums für solche Positionen zu interessieren und damit den herrschaftlichen Einfluß zurückzudrängen.

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Das Kontrollorgan des Kassiers bildete der Landschaftsausschuß. Seine Zusammensetzung unterschied sich von Landschaft zu Landschaft, folgte aber den gleichen Prinzipien. In Schussenried stellten Gerichtsammänner, Hirtenmeister, Dorfpfleger und sog. «Bauernschaftsabgeordnete» den Ausschuß, in Rottenmünster die Ortsvögte und gewählte Vertreter aus den Dörfern, in Rot an der Rot die Ammänner. Diese und andere Beispiele erlauben die Verallgemeinerung, daß repräsentative Organe der dörflichen Gemeinden und der ländlichen Gerichte (solche waren die Ammänner und Ortsvögte), die unter Beteiligung ihrer Gemeinden in ihr Amt gekommen waren, als hinreichend legitimiert galten, die Interessen und politischen Rechte des Landschaftsverbandes wahrzunehmen. Offensichtlich wurden eigene Gemeindedeputierte neben den Orts- und Dorfvorstehern nur dort bestimmt, wo der herrschaftliche Einfluß auf die Amtsbesetzung des Dorf- oder Gerichtsvorstehers besonders groß war. Die Kooperation von Landschaft und Herrschaft institutionalisierte sich in jährlichen Rechnungstagen, bei denen der Landschaftskassier gegenüber den Landschaftsverordneten und der Herrschaft über seine Geschäftsführung Rechenschaft ablegte. Das freilich gab auch Gelegenheit, landschaftliche Interessen gegenüber der Obrigkeit zu vertreten. Darüber hinaus fanden offensichtlich je nach Bedarf Verhandlungen zwischen Obrigkeit und Untertanenvertretern statt. Im Gegensatz zu größeren Territorien, wo sich der Landesherr immer das Einberufungsrecht der Landstände vorbehielt, konnten sich die Landschaftsvertreter offensichtlich auch ohne obrigkeitliche Initiative versammeln. Jedenfalls haben sie ein solches Recht in Anspruch genommen, wie sich aus der Tatsache ergibt, daß bei nicht überbrückbaren Gegensätzen zwischen Herrschaft und Landschaft die Deputierten Prozesse beim Kaiser bzw. den höchsten reichischen Gerichten, dem Reichshofrat und dem Reichskammergericht, führten, was zweifellos ein Selbstversammlungsrecht der Landschaften voraussetzt. Angesichts der bisher beschriebenen Organisationsstrukturen könnte sich der Eindruck aufdrängen, nicht Untertanen würden in den Landschaftsausschüssen repräsentiert, sondern Gemeinden. Die generelle Gültigkeit dieses Satzes läßt sich allerdings nicht behaupten, weil es, wenn auch vereinzelt, durchaus Fälle gegeben hat, wo eindeutig von einer Untertanenrepräsentation gesprochen werden muß: so in Kempten, wo für die Bestimmung der landschaftlichen Organe Wahlen im Bereich der Pfarreien nachzuweisen sind, so in der Landvogtei Schwaben, wo im 17. Jahrhundert anläßlich einer Landschaftsversammlung von den herrschaftlichen Kommissaren die Bildung von Ausschüssen angeregt wurde, allerdings «mit dem beysaz, das doch einem Jeden in particulari bevorstehen solle, wan er schon kheiner auß denen also ausgeschossenen were, auf verlangen nichts desto weniger (bei den Verhandlungen) zu verbleiben». Der scheinbare Widerspruch zwischen Gemeinderepräsentation einerseits und Untertanenrepräsentation andererseits läßt sich in der Weise auflösen, daß die politische Berechtigung allen Untertanen zukommt, die in einem unmittelbaren Verhältnis zu ihrem Landesherrn, zum Inhaber der Landeshoheit im Kleinstaat, stehen, wobei Gemeinde, Pfarrei und Amt lediglich unterschiedliche administrative Einheiten zur Bestimmung der Landschaftsverordneten darstellen. Da die Pfarrei und das Amt im Gegensatz zum Dorf in der Regel keine repräsentativen Organe der Unter-

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tanen kannten, lag es nahe, hier eigens Wahlen durchzuführen. Unbeschadet der möglichen unterschiedlichen Lesarten darf als gesichert gelten, daß die politische Tätigkeit der Landschaftsausschüsse auf einem breiten Konsens der Untertanen ruhte, der über Wahlen - sei es der Ammänner durch die Dorfgemeinde, sei es der Delegierten durch eigene Wahlversammlungen - vermittelt wurde. Der Begriff Untertanenrepräsentation bedarf noch einer Präzisierung, um möglichen falschen Vorstellungen vorzubeugen. Untertanen im Sinne der altständischen Gesellschaft dürfen nicht mit Bevölkerung gleichgesetzt werden. Untertanen im Bezugssystem von Herrschaft und Landschaft waren die Hausväter, nicht die Frauen, nicht die Knechte und Mägde, ja nicht einmal immer die nachgeborenen Söhne. Die Ochsenhauser Landschaft von 1502 bestand allein aus den Hofinhabern. Wie das Gemeinderecht am bäuerlichen Hof haftete, so auch das «Landschaftsrecht». Der Hausvater war Bezugsperson für die Herrschaft und Untertan der Obrigkeit, während der weitere Kreis der bäuerlichen Familie (einschließlich des Gesindes) der Hausherrschaft des Hausvaters unterstand. So kann man hinsichtlich der Landschaften allenfalls von einer «Hausväterdemokratie» sprechen.

Die Funktionen der Landschaften Die Funktionen der Landschaften hängen aufs engste mit deren Entstehen zusammen: Fragen der agrarischen Ordnung und des Steuerwesens stehen über alle Jahrhunderte im Mittelpunkt, wobei sich bei der ständigen Ausweitung der steuerlichen Belastung der Untertanen schließlich die alltägliche politische Tätigkeit der Landschaften zunehmend auf das Steuerwesen verlagerte. Die Konflikte zwischen Herrschaft und Untertanenschaft hatten sich an der Agrarverfassung entzündet: In allen Auseinandersetzungen ging es vornehmlich um Probleme der Grundherrschaft und der Leibherrschaft; die Rechtsform der Güter und das Erbrecht der Bauern standen zur Diskussion, die Leibeigenschaftsbelastungen im Todesfall sowie die Freizügigkeit und die Heiratsfähigkeit. Der definitive und normative Interessenausgleich erfolgte durch Verträge oder richterlichen Urteilsspruch, der in Urkundenform gebracht wurde und damit zum positiven Recht des jeweiligen Kleinstaates wurde. Solche Übereinkommen kann man begrifflich als «Agrarverfassungsverträge» fassen, weil mit ihnen auf Jahrhunderte die agrarische Ordnung normiert wurde. Die «Versteinerung der südwestdeutschen Grundherrschaft» erklärt sich auch aus diesen Verträgen, die etwa für Schussenried, Weissenau, Rot an der Rot, Zeil, Wurzach und Wolfegg nachgewiesen werden können. Als positives, fixiertes Recht ließen sich diese Verträge von seiten der Herrschaft nur schwer, wenn überhaupt ändern, geschweige denn völlig außer Kraft setzen, obwohl es an entsprechenden Versuchen der Obrigkeiten keineswegs gefehlt hat. Die Reaktion der Landschaften auf solche Versuche der Aushöhlung ihrer Rechtsposition erfolgte in der Regel rasch und entschieden man wandte sich beschwerdeführend an den Kaiser und erreichte damit in der

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Regel ein Eingreifen des Reichshofrats, kaiserlicher Kommissionen oder des Schwäbischen Reichskreises. Das kaiserliche Oberhaupt des Reiches hatte naturgemäß ein Interesse daran, älteres Recht zu sichern und ständische Positionen zu schützen, weil an der Dignität tradierten Rechtes zu rütteln und die absolutistischen Tendenzen der Kleinstaaten zu befördern, die kaiserliche Position im Reich nur schwächen konnte. Um ihre Rechte zu behaupten, haben die Landschaften höchste finanzielle Anstrengungen unternommen, um ihre Positionen zu sichern, die Juristen der Universitäten bemüht und um ihre Ansprüche durchzusetzen, das Instrumentarium der politischen Propaganda in Form von gedruckten Flugschriften, Deduktionen und Relationen ausgeschöpft, wie die Landschaften von Kempten und Rottweil. Erreicht wurde auf diese Weise immerhin, daß die aus dem 15. und 16. Jahrhundert überkommene Rechtsordnung von der Herrschaft nicht einseitig verändert, sondern allein in einem abgestimmten Konsensverfahren mit den Landschaften weiterentwickelt und so zeitbedingten Erfordernissen angepaßt wurde. Im Geschäftsbereich der Landschaften trat seit dem 16. Jahrhundert das Steuerwesen zusehends in den Vordergrund. Ausgangspunkt bildeten diesbezügliche vertragliche Vereinbarungen zwischen Untertanenschaft und Herrschaft seit dem Entstehen der Landschaften, die in der Regel die Anteile für die Reichssteuern festgelegt hatten. Dabei ergaben sich unterschiedliche Aufteilungsmodi, etwa derart, daß die Herrschaft ein Drittel der Reichsanlagen übernahm, wie in Ochsenhausen, Rottweil und Rottenmünster, oder daß die Landschaft die Reichssteuern trug, die Herrschaft die Beiträge für das Reichskammergericht, wie in Schussenried. In allen Fällen jedoch - und das ist für den Funktionsbereich der Landschaften konstitutiv - wurde angesichts solcher Absprachen und Übereinkommen die Landschaft für die Umlage und Einhebung der Steuern zuständig. Ihr kam unbestritten eine Steuerhoheit zu, ja sie wurde die alleinige Steuerbehörde dort, wo Landsteuern nicht üblich waren. Das Steuerwesen im Alten Reich war mit vielerlei Schwierigkeiten verbunden, die schließlich auch erklären, weshalb die Steuerhoheit Ausgangspunkt weiterer landschaftlicher Aktivitäten werden konnte. Das Reich kannte, von den Beiträgen zum Reichskammergericht abgesehen, keine regelmäßig wiederkehrenden Steuern in relativ gleichbleibender Höhe, vielmehr bestimmten die akuten Bedürfnisse des Reiches, vor allem die Kriege, die Anforderungen an die deutschen Territorien. Eine relativ geringe Belastung in Friedenszeiten kontrastierte mit einer enorm hohen Belastung in Kriegszeiten. Die zum Teil exorbitant hohen Summen konnten nicht unmittelbar über Steuern aufgebracht werden. Geistliche Korporationen wie die Jesuiten und andere Orden, wohlhabende Bürger der Städte Schwabens, Österreichs, der Schweiz, ja sogar Italiens und schließlich die Landschaftsmitglieder selbst wurden zu Geldgebern und Gläubigern der Landschaften. Das bedeutete zunächst eine höhere Belastung der Untertanen, weil die aufgenommenen Kapitalien verzinst werden mußten; das bedeutete aber auch eine erhebliche Erweiterung des Aktionsspielraums der Landschaftskassen, die nun mit einer weiteren zeitlichen Perspektive operieren konnten, hochverzinsliche Kapitalien mit kurzer Laufzeit in günstigere mit langer Laufzeit umwandelten, insgesamt jedoch angesichts der

92 • Bauer und Landschaft Sicherheiten, die sie mit dem Gesamtvermögen der Landschaftsmitglieder bieten konnten, in der Regel äußerst günstig zu den benötigten Summen kamen. Da lag es nahe, vorrangige Interessen der Landschaft über das Institut der Landschaftskasse zu finanzieren. Die Landschaft Tettnang-Langenargen konnte so mit ihrer Herrschaft einen Jagdpachtvertrag abschließen, der es den Bauern erlaubte, Wild auf den Feldern abzuschießen, so daß die ständige Klage der Bauern über Wildschäden gegenstandslos wurde. In Königsegg-Aulendorf und Trauchburg wurden mit Hilfe der Landschaftskassen die bäuerlichen Frondienste für die Herrschaft abgelöst. Anderwärts verwandte man die Mittel zur Errichtung von Schulen, zur Besoldung von Ärzten, zum Unterhalt einer Polizeitruppe gegen Landstreicher und zur Armenunterstützung - Sozialmaßnahmen, die der Kleinstaat nicht ergreifen wollte oder konnte. Letztlich ist auch daraufhinzuweisen, daß die Landschaftskassen ihren Mitgliedern in schwierigen Fällen - etwa bei einer Viehseuche oder bei Abbrennen des Hofes - Kredite zu äußerst günstigen Bedingungen einräumten. Die württembergische Regierung äußerte sich 1808 dahingehend, die Landschaftskassen hätten «die Stelle einer Staatsbank oder LandesCreditkasse» vertreten und seien «in dieser Hinsicht ... die wohltätigsten Institute» gewesen. Die Funktionen der Landschaften bildeten sich an den zentralen Schnittpunkten herrschaftlicher und bäuerlicher Interessen aus - an der Agrarverfassung und am Steuerwesen. Unbeschadet des Kompromißcharakters, der alle Absprachen, Vereinbarungen und Verträge zwischen Herrschaft und Landschaft kennzeichnet, gewährte die Untertanenrepräsentation doch einen gewissen Schutz vor übermäßiger wirtschaftlicher Belastung und herrschaftlicher Willkür. Die Klosterherrschaften Elchingen, Roggenburg, Petershausen und Mettenhausen, in denen es keine Landschaften gab, haben alle Reichs-, Kreis- und Reichskammergerichtssteuern auf ihre Untertanen überwälzt. Bewertet man historische Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungen auf die Gegenwart - eine gerade in der ständegeschichtlichen Forschung beliebte Perspektive, sieht man doch im Ständewesen den Vorläufer des parlamentarischen Systems - , wird man die Untertanenrepräsentation im südwestdeutschen Kleinstaat kaum als formierendes Prinzip bezeichnen können. Die Diskussion um die «landständischen Verfassungen» in den Rheinbundstaaten des 19. Jahrhunderts knüpfte an die altwürttembergischen und die altbayerischen Landtage an, nicht aber an Repräsentativkörperschaften in den neuwürttembergischen, neubayerischen und neubadischen Landesteilen. Der Bezugspunkt einer angemessenen Würdigung und Bewertung kann freilich auch nicht allein aus der verkürzenden Perspektive der Gegenwart gewonnen werden, sondern muß in der Zeit selbst gesucht werden. Die politische Repräsentation der Untertanen ist keine auf den Kleinstaat im deutschen Südwesten beschränkte Erscheinung. Untertanenrepräsentation gibt es, im Gesamtrahmen adeliger, geistlicher und städtischer Repräsentation, nicht nur in den größeren Herrschaftskomplexen Südwestdeutschlands (Vorderösterreich), sondern darüber hinaus auch in Salzburg, Tirol, Trier, Ostfriesland und Bremen; Untertanenrepräsentation solcher Art ist auch nicht eine auf das Reich beschränkte Erscheinung, sie gibt es - wenn auch nicht als Regelfall - in vielen europäischen

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Staaten oder Regionen: in Schweden, in den südlichen Provinzen Frankreichs, in Friaul. Die Besonderheit des deutschen Südwestens besteht darin, daß sich im Kleinstaat eine eigene Untertanenrepräsentation herausbildet, die sich in anderen vergleichbar verfaßten Herrschaftsräumen des Reiches und Europas nicht nachweisen läßt. Qualifizieren läßt sich die Untertanenrepräsentation im Kleinstaat im Vergleich zu jener im Großstaat dahingehend, daß die Untertaneninteressen in höherem Maße zur Geltung kommen konnten als im Großstaat, wo die Bauern immer Gefahr liefen, von den Herrenständen und den Vertretern der Städte in den Hintergrund gedrängt zu werden. Die Kategorien «Konsens» und «Partizipation» verbinden die älteren Repräsentationsformen des Ständestaats mit den Repräsentationsformen des Parlamentarismus. Im deutschen Südwesten erreichen «Konsens» und «Partizipation» eine besonders starke Verankerung in den «unteren» Schichten der Gesellschaft. Das ist ein entscheidendes Bestimmungsmerkmal für den «deutschen Südwesten», der im Gehäuse eines noch feudal geprägten Europa neue, in die Zukunft weisende Perspektiven politischer Repräsentation ausbildete.

Die Funktion der Landtage im «Bauernkrieg» Die Aufgabe der Landtage bestand nach Intention und Konstruktion der landständischen Verfassung darin, im Miteinander von Ständen und Landesherrn Rechtssicherheit und Frieden zu gewährleisten 1 , anders gewendet: Ordnungsprobleme des Staates zu bewältigen. Damit waren die Landtage auch Foren, um Konflikte auszutragen. Ein Konflikt ohne vergleichbare Vorgänger und Nachfolger war der sogenannte Bauernkrieg von 1525. Seine antifeudale Stoßrichtung bedrohte naturgemäß auch den landständisch verfaßten Staat, der seine Funktionsfahigkeit und Belastbarkeit zu beweisen hatte. Die Fragestellung - um sie zunächst nur ganz grob zu umreißen - heißt: Waren die Landtage angemessene Instrumente, die Krise von 1525 zu meistern; anders und allgemeiner formuliert: inwieweit ließen sich die Ziele des Bauernkriegs mit der bestehenden landständischen Verfassung harmonisieren. Die Landtage von 1525 zeigen in ihrer Zusammensetzung ein ungewohntes Bild: Neben den traditionellen Ständen - Adel, Geistlichkeit und Städten - sind nicht nur die Bauern überall vertreten 2 , sondern mancherorts auch die Bergknappen 3 ; ja es gibt vereinzelt sogenannte Sonderlandtage, auf denen nur Bauern, Bürger und Bergknappen anwesend sind 4 . Diese Beobachtung macht es nötig, die Vorfrage zu klären, ob mit dem Begriff Bauernkrieg als Bezeichnung für die Revolution - nennen wir sie einmal so - auszukommen ist. Eine Untersuchung der Sozialstruktur der Revolution zeigt, daß sie, wenn nicht schon in ihrer ersten Phase, so doch wenige Tage oder Wochen nach Beginn des Aufstandes nicht nur von Bauern, sondern auch von den Städtern und Bergknappen getragen wurde. Knappen aus Schwaz kämpften auf dem Innsbrucker Mai-Landtag mit Bürgern und Bauern um die Verkündigung des reinen Evangeliums 5 ; Knappen aus der Rauris und von Gastein belagerten mit den Bauern die Festung Hohensalzburg 6 . Die landesherrlichen Städte in Salzburg 7 , Tirol 8 , Vor-

1 O. BRUNNER, Land und Herrschaft, 6 1970, bes. S. 4 2 5 - 4 4 0 . 2 Einzelnachweise unten an entsprechender Stelle. 3 Innerhalb des Aufstandsgebietes waren die Bergknappen allein in Tirol, Salzburg, Thüringen und Sachsen numerisch von Bedeutung; nur in Salzburg und Tirol kam es zu Landtagsverhandlungen, an denen Knappen beteiligt waren. Für Tirol vgl. J. HIRN, Die Tiroler Landtage zur Zeit der großen Bauernbewegung, in: Jahrbuch der Leo-Gesellschaft 1893, und J.MACEK, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, 1965, S. 196f. - Für Salzburg LAS ( = Landesarchiv Salzburg), Geheimes Archiv XVI/1 und Landschaft Kasten I. 4 Wie oben Anm 3. 5 J. MACEK, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, S. 125, 197f. 6 G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 8 1969, S. 170. 7 Vgl. A. HOLLAENDER, Studien zum Salzburger Bauernkrieg 1525, mit besonderer Berücksichtigung der reichsfürstlichen Sonderpolitik, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger L a n d e s k u n d e 7 2 ( 1 9 3 2 ) , S. 1 - 4 4 u n d 7 3 ( 1 9 3 3 ) , S. 3 9 - 1 0 8 .

8 In Südtirol paktieren nahezu alle Städte mit den Aufständischen; vgl. die bei H.WOPFNER,

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derösterreich9, Württemberg10, Franken11 und Thüringen12 waren oft ohne erkennbare Mühe zum Anschluß zu bewegen - ihre nach der militärischen Niederlage eingebrachte Entschuldigung, sie seien zum Anschluß mit Gewalt gezwungen worden 13 , entlarvt sich bei näherem Zusehen als wenig glaubwürdig und gilt allenfalls für die städtische Ehrbarkeit. Der empirische Befund zeigt, daß der Begriff Bauernkrieg das Phänomen als solches nicht voll abdeckt 14 . Eine Begriffsanalyse, die sich von daher empfiehlt, erbringt das interessante Ergebnis, daß von «Bauernkrieg» ausschließlich in Korrespondenzen der adeligen und geistlichen Herren, in klösterlichen und städtischen Chroniken gesprochen wird 15 . Aus der Perspektive des Adels und der Prälaten war die Empörung von 1525 ein Landfriedensbruch der Bauern; aus der Retrospektive der Städte wurde eine solche Auffassung unterstützt, galt es doch den begründeten Verdacht möglichst zu kaschieren, die Städte hätten die Vorgänge wohlwollend geduldet oder gar aktiv unterstützt. Die Revolution als Bauernkrieg zu buchstabieren war zwar verbreitet, aber nicht allgemeinverbindlich. Abt Johann von St. Blasien, dessen obrigkeitliche Position von den revoltierenden Schwarzwäldern energisch in Frage gestellt wurde, spricht nicht von «Bauern», sondern vom «gemeinen Mann» 16 und Markgraf Philipp von Baden, der kaiserliche Statthalter beim Reichsregiment, der die Interessen der Obrigkeiten nur bedingt vertrat, einfach von einer «samblung des gemeinen manns» 17 . Gleicherweise verstanden die Aufständischen selbst ihr Vorgehen nicht als eine ständisch auf Bauern beschränkte Erhebung: Der Schwarzwälder Artikelbrief Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Deutschtirol 1525, 1. Teil, 1908 [Nachdruck 1973] gesammelten städtischen Beschwerdeschriften. Wo es nicht zum Aufstand kommt wie in Nordtirol, vertreten die Städte schließlich doch auf dem Landtag mit den Südtirolern ein gemeinsames Programm; vgl. J. MACEK, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, 173ff. 9 Von den vorderösterreichischen Städten leisten allein Freiburg, Breisach, Stockach und Villingen den Bauern Widerstand. 10 Im Herzogtum Württemberg schließen sich lediglich 6 Amtsstädte (4 Ämter) nicht der Erhebung an; vgl. G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 217-221. 1 1 R . ENDRES, Der Bauernkrieg in Franken, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109 (1973), S.53ff. ENDRES kann «nur in gewissem M a ß . . . eine Verbrüderung des Bürgertums mit den aufständischen Bauern» erkennen; diese Interpretation steht allerdings im Kontext seiner Relativierung des Begriffs «frühbürgerliche Revolution». 12 H. MÜLLER, Die Forderungen der thüringischen Städte im Bauernkrieg, in: G. BRENDLER (Hg.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, 1961, S. 138-144, G.FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, S. 238-276. - In Thüringen stellen Städte, die sich an der allgemeinen Erhebung nicht beteiligen, durchaus die Ausnahme dar. 13 M.KREBS, Die Rechtfertigungsschriften der vorderösterreichischen Städte vom Jahre 1526, in: Z G O 9 3 ( 1 9 4 1 ) , S. 9 - 7 7 .

14 Eine breitere Fundierung bei P. BLICKLE, Die Revolution von 1525, 1975. 15 Für die chronikalischen Berichte vgl. auswahlweise A. BERNOULLI, (Hg.), Basier Chroniken, Bd. 6,1902, S. 465. - F. J. MONE (Hg.), Quellensammlung der badischen Landesgeschichte, 2. Bd., 1854, S. 46,119,122. - Für die Korrespondenzen siehe z. B. H. GÜNTER (Hg.), Gerwig Blarer, Abt von Weingarten 1520-67, Briefe und Akten, l.Bd., 1914, S.40 Nr. 61. 16 H. SCHREIBER (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, gleichzeitige Urkunden, 3 Teile, 1864-66, hier II, S. 33 f. Nr. 169. 17 H. VIRCK (Hg.), Politische Correspondenz der Stadt Strassburg im Zeitalter der Reformation, l.Bd., 1882, S.211 Nr. 364.

L a n d t a g e im Bauernkrieg

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um nur dieses eine, überregional wirksame Programm zu zitieren - versteht die Erhebung als eine solche des «armen gemeinen Man[s] in Stetten und uf dem Land» 1 8 . Es dürfte sich angesichts solcher Beobachtungen empfehlen, den Begriff Bauernkrieg möglichst nur mit präzisierenden Zusätzen zu verwenden, weil er den Zugang zum Wesen der Revolution von 1525 eher blockiert als erleichtert. Soviel läßt sich sagen: Der Konflikt von 1525 wird nicht nur zwischen Bauern und Feudalherren im Sinne von Grund-, Leib- und Gerichtsherren ausgetragen, sondern zwischen Beherrschten und Herrschern, zwischen Untertanen und Obrigkeiten. Insofern mag man, wenn es denn sein muß, mit Günther Franz19 und Horst Buszello20 von einer «politischen Revolution» sprechen, die - und das zeigen nun die größeren Territorien mit landständischer Verfassung besonders deutlich - von Bauern, Bürgern und Bergknappen getragen wurde 2 1 . Sie verbanden gemeinsame Interessen, die recht eigentlich erst der «frühmoderne Staat» 22 geschaffen hatte, indem er die älteren feudalen Abhängigkeiten zurückdrängte, Stadt- und Hofrecht einander anglich und damit die rechtlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land verwischte, in die Autonomie von Stadt-, Land- und Dorfgerichten gleichermaßen eingriff, unterschiedliche leibherrliche Zuordnungen zugunsten eines einheitlichen landesfürstlichen Untertanenverbandes auflöste, so unterschiedslos Bauern, Bürger und Knappen mit Steuern belastete, sie zur Landesverteidigung und zu entsprechenden Geldzahlungen heranzog 23 . Nicht alles, was das Landesfürstentum auf den Weg brachte, diente der guten Polizei, dem gemeinen Nutzen, geschweige denn dem gemeinen Mann. Der frühmoderne Staat - unfertig wie er war und damit in hohem Maße unvollkommen - bildete ein schier unerschöpfliches Reservoir für Beschwerden, die 1525 in aller Deutlichkeit formuliert wurden: gegen Eigenmächtigkeiten der landesfürstlichen Beamten, gegen unerträglich hohe Belastungen mit Steuern, gegen Mängel in der Gerichtspflege, um hier nur Vorrangiges zu benennen 24 . Auf das Konto des «frühmodernen Staates» geht überschlagsweise die Hälfte der Beschwerden in den Stände18 Hier zitiert nach dem leichter zugänglichen Druck bei G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, 1963, S.235 Nr. 68. 19 G . F R A N Z , D e r d e u t s c h e Bauernkrieg,

S.288.

20 H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, 1969, S. 144. 21 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der österreichische Generallandtag von 1525/26 in seiner Empörerordnung sein besonderes Augenmerk auf die Bergknappen in den habsburgischen Erbländern insgesamt richtet. Vgl. M.MAYR, Der Generallandtag der österreichischen Erbländer zu Augsburg (December 1525 bis März 1526), in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge, 38. H. (1894), S. 66ff. 22 G. OESTREICH, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 5 f. 23 Eine Dokumentation dieses Prozesses lege ich in einer Monographie über den vor; vgl. Anm. 14. 24 Genannt seien nur die wichtigsten Gravamina aus den landständisch verfaßten Territorien, die hinreichend die Struktur der Beschwerden erkennen lassen. Für Tirol: H.WOPFNER (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Deutschtirol, 3 5 - 4 7 [Meraner Artikel]; die Innsbrucker Zusätze ebd. 50-67. Für Salzburg: G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, S. 295-309 Nr. 94. - Für Württemberg kann man, da lokale und regionale Gravamina fehlen, auf die 1514 im Aufstand des Armen Konrad formulierten Beschwerden zurückgreifen, zumal bemerkenswerte Veränderungen zwischen 1514 und 1525 nicht erfolgten; G.FRANZ (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, Aktenband, 2 1968, 77-110.

98 • Bauer und Landschaft

Staaten von 1525. Der Rest fallt auf den agrarischen Bereich, dessen Strukturprobleme die Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern in geradezu klassischer und abstrakter Art formuliert hatten, so daß sie, wie ihre Rezeption bis ins Elsaß und nach Thüringen zeigt, als Basisforderungen nahezu für das gesamte Aufstandsgebiet brauchbar waren 25 . Selbst in landständisch verfaßten Territorien konnten sie in complexu übernommen werden, wenn, wie in Württemberg, die Landstädte noch vorwiegend agrarischen Charakter besaßen 26 . Ohne regionale Abweichungen leugnen zu wollen, lassen sich als überregional verbindliche Forderungen für alle landständisch verfaßten Territorien festhalten: Entlastung der Landwirtschaft durch Abgabenermäßigung, Aufhebung der Leibeigenschaft, Wiederherstellung der Nutzungsrechte an Forst und Allmende, Freigabe der Jagd zur Verhütung des Wildschadens, Reduzierung und gerechtere Verteilung direkter und indirekter Steuern, Verbesserung der Rechtspflege, Einschränkung willkürlicher Amtsführung der Richter und Pfleger. Adressaten dieser Forderungen waren zunächst die landsässigen Prälaten und der landsässige Adel, nachgeordnet das Landesfürstentum selbst. Wenn schließlich dieser ganze Beschwerdekatalog mit dem Evangelium und dem Göttlichen Recht legitimiert wurde, gab dies den Forderungen nicht nur den Charakter der Unabdingbarkeit, sondern es stellte auch das bisher kaum bestrittene Rechtsprinzip des Alten Herkommens in Frage. Die gemeinsame Sehnsucht aller nach reiner Verkündigung des Evangeliums, aus der schließlich die Forderungen nach göttlicher Wahrheit, göttlicher Gerechtigkeit, Göttlichem Recht herauswuchsen, überbrückte die letzten Gegensätze zwischen Bürgern, Bauern und Knappen. Durch die gleichförmige Belastung aller Untertanen seitens des frühmodernen Staates, durch den Charakter vieler Landstädte als Ackerbürgerstädte, schließlich durch Evangelium und Göttliches Recht war der Zusammenhalt von Bauern, Bürgern und Knappen in mehrfacher Weise gesichert. Auf die Zusammenrottungen von 1525 reagierten die Landesherrn, teils gedrängt durch den Adel und die Geistlichkeit, mit einer fieberhaften Aktivität der Landtage und Landtagsausschüsse 27 . Salzburg, Tirol 28 , Württemberg 29 , Vorder-

25 Für die Verbreitung vgl. G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg (1. Aufl. 1933), S. 219, 222, 236, 297, 309, 311, 319, 340, 346, 348, 351, 357, 361 f., 394f„ 400, 402f„ 436, 453. 26 W. VOGT (Hg.), Die Correspondenz des schwäbischen Bundeshauptmannes Ulrich Artzt von Augsburg aus den Jahren 1524-1527, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 6 (1879), S.281-404; 7 (1880), S . 2 3 3 - 3 8 0 ; 9 (1882) S. 1 - 6 2 ; 10 (1883), S. 1-298; hier Nr. 226b. 27 Die Aktivitäten der Landstände gehen über das eigentliche Aufstandsgebiet hinaus. Vgl. etwa für das Land ob der Enns die Hinweise bei G. FRH. V. PÖLNITZ, Jakob Fuggers Zeitungen und Briefe an Fürsten des Hauses Wettin in der Frühzeit Karls V. 1519-1525, in: Berichte und Studien zur Geschichte Karls V., 2. Bd., 1942, 145 (142). 28 Für Tirol und Salzburg vgl. oben Anm. 3 und unten Anm.41. 29 G. FRANZ (Hg.), Aus der Kanzlei der württembergischen Bauern im Bauernkrieg, in: Württemb e r g i s c h e V i e r t e l j a h r e s h e f t e für L a n d e s g e s c h i c h t e 41 ( 1 9 3 5 ) . S. 8 3 - 1 0 8 , 2 8 1 - 3 0 5 ; hier S. 3 0 4

Nr.90. - W.GRUBE, Der Stuttgarter Landtag, 1957, S. 140.

Landtage im Bauernkrieg

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Österreich30 und Würzburg 31 boten den Aufständischen Landtagsverhandlungen an, ja selbst in den Territorien, in denen Landtage nicht üblich waren, wie in der Kurpfalz, wurden Sonderlandtage zur Bereinigung der Differenzen ins Auge gefaßt 3 2 . Nicht überall ist es zu den vorgesehenen Landtagen gekommen, weil durch das militärische Vorgehen des Schwäbischen Bundes die Konflikte in einer eindeutigeren Art gelöst wurden, als sie Verhandlungen je hätten lösen können. Die Aufständischen reagierten auf die Angebote unterschiedlich: die Würzburger Bauern im Taubertaler Haufen und die Württemberger lehnten Landtage ab; die Salzburger, Tiroler, Vorderösterreicher und die Würzburger im Bildhäuser Haufen waren bereit, sie zu beschicken 33 . Derart unterschiedliche Verhaltensweisen lassen sich sowohl aus der Zusammensetzung der Landtage als auch der Programmatik des Aufstandes erklären. Wo nicht nur Bürger, sondern auch Bauern - oder um genauer zu sein - die unmittelbar landesfürstlicher Herrschaft unterstehenden Untertanen Landstandschaft besaßen wie in Tirol, Vorderösterreich, dem Markgräflerland und mit Einschränkung auch in Salzburg, bestand dank der Erfolge, die der gemeine Mann dort, wenn auch nicht ohne Rückschläge, hatte erreichen können, ein politischer Erwartungshorizont, der den Landtagen noch einen großen Vertrauenskredit einräumte 34 . Deswegen auch blieben die Aufstände in den meisten dieser Territorien - Buszello hat darauf nochmals mit Nachdruck hingewiesen 35 - räumlich auf das jeweilige Land beschränkt. Wo hingegen die Landtage deutlich die obrigkeitlichen Interessen favorisierten, wie

30 Vom Sommer 1524 bis Sommer 1525 tagen die vorderösterreichischen Stände bzw. deren Ausschüsse in wechselnder Zusammensetzung (seit 1525 ohne Beteiligung der landtagsberechtigten Kameraluntertanen) in Permanenz. Vgl. H. SCHREIBER, Der deutsche Bauernkrieg, gleichzeitige U r k u n d e n 1,112 Nr. 77, 113f. Nr. 78, 117f. Nr. 8 2 , 1 1 9 N r . 83,135f. Nr. 9 8 , 1 3 7 f . Nr. 100 und II, 7f. Nr. 147, 39 Nr. 175 und III, 175 Nr. 306; sowie HStASt ( = Hauptstaatsarchiv Stuttgart), B 17-18 Schwabenbücher, Abt. Schwaben Bd. 15 und Abt. Vorlande Bd. 1. 31 H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, S. 21 f. 32 G. FRANZ (Hg.), Peter Harers W a h r h a f t e und gründliche Beschreibung des Bauernkriegs, 1936, S . 52F.

33 Die beste Übersicht bei H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, bes. S. 1 9 - 3 4 . 34 Summarisch seien einige Belege zur Abstützung dieser Aussage verzeichnet: In Tirol werden 1404, 1474 und 1489 Teil-Landesordnungen erlassen, hinter denen der Druck auch der bäuerlichen Vertreter steht. Sie bringen vornehmlich Verbesserungen f ü r die Landwirtschaft und die Rechtspflege. Mit dem Landlibell von 1511 gelingt es den Tiroler Gerichten und Städten schließlich, eine relativ angemessene Belastung des Adels und der Geistlichkeit bei der A u f b r i n g u n g der Steuer und der M a n n s c h a f t durchzusetzen. - Die Salzburger Gerichte erreichen in den 1460er Jahren wirtschaftliche Entlastungen bescheidenen Ausmaßes und - was wichtiger ist - ihre faktische L a n d s t a n d s c h a f t ; damit ist es ihnen möglich, ihr Hauptanliegen, die Ausarbeitung einer Landesordnung, über die Landtage weiter zu betreiben. - Der dritte Stand in Vorderösterreich kann 1500 eine Polizeiordnung nach seinen Vorstellungen durchsetzen. - Die Landschaft der Herrschaften Rötteln, Sausenberg und Badenweiler schaltet sich 1490, 1503 und 1511 energisch und erfolgreich in Erbschaftsverhandlungen und -vertrage der M a r k g r a f e n von Baden ein und setzt 1517 eine L a n d e s o r d n u n g durch. Einzelnachweise bei P. BLICKLE, Landschaften im Alten Reich, 1973. 35 H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, S. 19-34.

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Bauer und Landschaft

in Württemberg, das nach dem Aufstand des Armen Konrad 1514 den Bauern endgültig aus den Landtagen ausgestoßen hatte 3 6 , oder in Vorderösterreich, dessen Landtag in der Auseinandersetzung zwischen Erzherzog Ferdinand und Waldshut schließlich eindeutig für den Landesherren und gegen Hubmaier Partei ergriff 37 , waren Landtage herkömmlicher Art zum Scheitern verurteilt. Wo schließlich die Repräsentation des gemeinen Mannes keine Tradition besaß wie in Würzburg oder in der Kurpfalz, konnte der überterritoriale Charakter der Erhebung, der notwendigerweise auch sehr viel stärker das Göttliche Recht als Kriterium jeglicher gesellschaftlichen und staatlichen Neuordnung betonte, die alten herrschaftlichen Abhängigkeiten paralysieren und damit auf Landtage verzichten. Die Landtagsverhandlungen im einzelnen zu schildern müßte in eine ermüdende Faktographie ausmünden. U m zu erkennen, inwieweit die Landtage geeignet waren, den Konflikt zu lösen, der 1525 allerorten aufbrach, genügt es, die Ergebnisse der Landtage festzuhalten, die - das sei unbestritten und muß im Hintergrund mitgedacht werden - natürlich in hohem Maße davon bestimmt wurden, inwieweit die militärischen Operationen der Reichsstände erfolgreich waren 3 8 . In Tirol - um es in wenigen Sätzen zu sagen - wurden die Beschwerden auf einem eigenmächtig von Bauern und Bürgern einberufenen Landtag in Meran formuliert, in Innsbruck auf einem von Erzherzog Ferdinand einberufenen Landtag erweitert und den Verhandlungen zugrundegelegt 39 . Sie gaben der ersten großen Tiroler Landesordnung Richtung und Maß, die nach Ratifizierung durch die Stadt- und Landgerichte 1526 in Kraft trat 4 0 . Sie war seitens der Land- und Stadtgerichte seit Jahrzehnten gefordert worden, über Einzelmandate und Teilordnungen aber nicht hinausgediehen. Von den nahezu 100 Beschwerdeartikeln wurden 60% durch die Landesordnung ganz oder teilweise im Sinne der Forderungen entschieden 41 . Die Rechts36 W. GRUBE, Der Stuttgarter Landtag, S. 79-86. - Das Interessenbündnis von Herzog und städtischer Ehrbarkeit auf Kosten des , des gemeinen Mannes, kommt besonders eindrucksvoll in der dem Tübinger Vertrag von 1514 inserierten Empörerordnung zum Ausdruck; leicht zugängliche Edition bei W. NÄF (Hg.), Herrschaftsverträge des Spätmittelalters (Quellen zur neueren Geschichte, hg. vom Historischen Seminar der Universität Bern, H. 17), 1951, S. 7177, bes. 74ff. 37 Die Landstädte Vorderösterreichs, denen auch die unmittelbar habsburgischer Herrschaft unterstehenden Bauern angehören, versuchen seit dem Sommer 1524 den Konflikt zwischen Waldshut (Hubmaier) und Erzherzog Ferdinand beizulegen [HStASt, B 17-18 Schwabenbücher, Abt. Schwaben Bd. 15, fol. 74f.] Doch während noch die «Gesandten von Stetten, Emptern und Landtschaflten» im Oktober mit Waldshut verhandeln (H. SCHREIBER, Der deutsche Bauernkrieg, gleichzeitige Urkunden I, S. 110 Nr. 75), votieren Ritterschaft und Adel Vorderösterreichs für eine Bestrafung der Stadt [ebd. S. 106ff".Nr. 71]. Das endgültige Auseinanderfallen des ständischen Körpers von Vorderösterreich dürfte auf Dezember 1524 zu datieren sein, als der Landtag beschließt, gegen die Aufständischen kriegerisch vorzugehen [ebd. S. 137f. Nr. 100 und HStASt, B 17-18 Schwabenbücher, Abt. Vorlande Bd. 1, fol. 42ff.]. 38 Für Tirol etwa besonders deutlich herausgearbeitet bei J. MACEK, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, S. 221-290. 3 9 H. W O P F N E R (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Deutschtirol 1 5 2 5 , S . 5 0 - 6 7 . 40 Der Fürstlichen Grafschaft Tirol Landesordnung [1526].

Landtage im Bauernkrieg

101

pflege verbesserte sich durch eine Neuordnung des Instanzenzugs, durch eine staatliche Besoldung der Richter anstelle der bisherigen, zum Amtsmißbrauch verleitenden Beteiligung an den Gerichtsbußen, durch Eingliederung der privilegierten adeligen und landesherrlichen Diener in die ordentliche Gerichtsbarkeit der Stadt- und Landgerichte und durch Aufhebung der Freiungen für Hochgerichtsverbrecher. Agrarverfassung und Agrarwirtschaft gewannen durch die Umsetzung aller grundherrlich gebundenen Güter auf die bestmögliche Leiheform des Erbzinsrechts, die Aufhebung der Besitzwechselgebühren, teilweise Beseitigung der Roboten und Aufhebung des Kleinzehnten. Der städtischen und ländlichen Bevölkerung gleichermaßen dienten die Vereinheitlichung von Maß und Gewicht, das Verbot des Vorkaufs, das Verbot des Viehexports, die stärkere Kontrolle der Handelsgesellschaften und die faktische Aufhebung der Zünfte. Es ist entbehrlich, in der Aufzählung fortzufahren. Sie sollte nur eine grobe Vorstellung davon vermitteln, welche Probleme 1525 via Landtag gelöst werden konnten. Ein vollends abgerundetes Bild von der Leistungsfähigkeit des Tiroler Landtags erhält man, stellt man dem gegenüber, welche Forderungen nicht durchsetzbar waren: Aufhebung der Bistümer und Klöster, politische Entmachtung der Geistlichkeit und des Adels, Verstärkung der kommunalen Autonomie durch Pfarrer- und Richterwahl. Die Ergebnisse der Tiroler Landtagsverhandlungen lassen sich so zusammenfassen: Die Beschwerden, die das Substrat des Aufstandes bildeten, wurden gegenstandslos, alle weitergehenden revolutionären Forderungen, die nicht nur die Beschwerden, sondern gleichzeitig auch die Ursache der Beschwerden für immer beseitigen wollten, scheiterten am Widerstand und der Autorität des Landesfürsten. Die Tiroler Ergebnisse sind mit Modifikationen und Einschränkungen verbindlich für alle Landtagsverhandlungen von 1525. Der Ansbacher Landtag erfüllte, indem er die Jagd und die Forsten weitgehend freigab, den Aufwechsel abschaffte und die Geistlichkeit den kommunalen Belastungen unterwarf, die vorrangigsten Forderungen der markgräflichen Aufständischen 42 . Ergebnis der Salzburger Verhandlungen war ein erzbischöfliches Mandat 4 3 , das die Beschwerden der Salzburger Untertanen 4 4 in ähnlicher Weise wie die Tiroler Landesordnung beantwortete und für Jahrzehnte eine Landesordnung ersetzte 45 .

41 Für die Auswertung der Beschwerden und der Landesordnung vgl. P. BLICKLE, Landschaften im Alten Reich, 1973, S. 2 0 2 - 2 1 3 . 42 G. FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 1. Aufl., S. 348 f. - R. ENDRES, Der Bauernkrieg in Franken, S. 41. 43 F. LEIST (Hg.), Quellen-Beiträge zur Geschichte des Bauern-Aufruhrs in Salzburg 1525 und 1526, 1888, S. 1 2 7 - 1 4 3 .

44 Der Landtag bringt 32 Beschwerden ein, die bis jetzt nicht ermittelt werden konnten. Ihr Inhalt läßt sich rekonstruieren aus einer Antwort der Herrschaft, die mit dem Titel «Sumari Auszug der Saltzburgischen Lanndschaft Beswerungen» im LAS, Landschaft Kasten I, liegt. Die Forderungen der 24 Artikel der Salzburger Aufständischen sind offensichtlich, wie ein inhaltlicher Vergleich ergibt, in die 32 Artikel übernommen worden, freilich mit unterschiedlicher rechtlicher Begründung: Im Landtag argumentiert man mit dem alten Herkommen, bei den Aufständischen mit dem göttlichen Recht. 45 R BLICKLE, Landschaften im Alten Reich, S. 525-534.

102 • Bauer und Landschaft Salzburg zeigt nun aber auch, d a ß die Aufständischen innerhalb eines Landes nicht durchgängig bereit waren, einem K o m p r o m i ß in der skizzierten F o r m zuzustimmen, der nicht mehr bot als wirtschaftliche Zugeständnisse und Verbesserungen im Bereich des Gerichtsverfassungsrechts. 1524 hätten derartige Konzessionen vermutlich ausgereicht, den Ausbruch des Aufstandes zu verhindern. Mittlerweile war das Programm freilich energisch weiterentwickelt worden, begnügte sich nicht mehr mit der Aufstellung von Beschwerden, sondern bot - u m es in einem Satz zusammenzuziehen - in der totalen politischen und wirtschaftlichen Entmachtung der Geistlichkeit und in der partiellen politischen Entmündigung des Adels Alternativen zum bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftssystem an 4 6 . U m dies durchzusetzen, hielten die aufständischen Bauern und Bergknappen in Salzburg selbst «Landtage» ab, beanspruchten eine «Landesordnung» auszuarbeiten und reklamierten für sich den Begriff «Landschaft». Empört stellten der Salzburger Erzbischof und der Landtag fest, die Aufständischen hätten «aygen Lanndtag und gespräch gehalten on willen und erlaupnuß der oberkayt» 4 7 ; «sie vermessen sich auch für sich selbst ein Lanndsordnung zumachen, was sy den herrn thun wellen» 4 8 , sie hätten «sambt anndern hergeloffen unruebigen und aufruerischen Lewten . . . sich des namens der Saltzburgischen Lanndtschaft, auch des Stifts Ämter und Oberkayten . . . angemasst unnd unbillich gebraucht» 4 9 «und khan auch solcher zusammengerotter Hauff kain Landtschaft bedewtten noch representiren, und sonderlich dieweil unnder Inen gar kain gemäßer Stanndt ainer Lanndtschaft desselben mals gegenwurttig gewesen ist» 5 0 . Die terminologischen Querelen zwischen Landtag und Aufständischen in Salzburg eröffnen dem Thema eine neue und interessante Dimension jenseits des notwendigen, aber einfältigen Addierens von positiv und negativ entschiedenen Forderungen. Zu fragen bleibt, ob und inwieweit die in Salzburg andeutungsweise erkennbare Okkupation der Begriffe Landtag, Landesordnung, Landschaft durch die Aufständischen Indiz d a f ü r ist, d a ß die Landtage, im weiteren Sinn die landständische Verfassung, für die politischen und gesellschaftlichen Ziele der Revolution ein brauchbares Modell lieferten. Weil die landständische Verfassung prinzipiell Ordnungsprobleme in einem großflächigen Staat im Zusammenwirken von Landesherr und Landschaft meistern konnte, war sie als Vorwurf für die Staatsvorstellungen der Revolution nicht völlig unbrauchbar. Freilich mußte garantiert sein, d a ß der Landesherr seine

46 H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, S. 133f. Wiewohl das politische « A u f b a u p r o g r a m m » in Salzburg wesentlich durch die Stadt Salzburg formuliert wird, kann man ihm die weiterreichende Verbindlichkeit f ü r Bauern und Bergknappen k a u m absprechen, wenn man die folgenden Belege (vgl. A n m . 4 7 - 5 0 ) ins Auge faßt. 47 LAS, Geheimes Archiv XI/5, fol. 30'. 48 Ebd. fol. 31'. 49 So in einem Ausschreiben des Landtages an das ganze Land, das folgendermaßen beginnt: «Wir die Prelaten von der Ritterschaft unnd Adl, auch allen Stetten und M ä r c k h t e n , alls die Stännde, gemainer Saltzburgischen Lanndtschaft, auch wir von den Gerichten gemainclich des Stiffts unnds L a n n d s zu S a l t z b u r g . . . » LAS, L a n d s c h a f t Kasten I; 1526 III. 9. 50 LAS, Landschaft Kasten II.

Landtage im Bauernkrieg • 103

Zuständigkeiten nicht in seinem Interesse mißbrauchte, sondern seine Regierungshandlungen an den Kategorien gemeiner christlicher Nutzen und brüderliche Liebe orientierte - den beiden zentralen Forderungen der Revolution von 1525 an jede staatliche Ordnung 5 1 . Dies zu gewährleisten, gab es den Landtag, der nur in seiner Zusammensetzung anders strukturiert werden mußte, sollte er den Interessen der Allgemeinheit dienen können. Salzburg, das Markgräflerland, Württemberg, Bamberg und Würzburg haben diese Probleme theoretisch dadurch gelöst - und nur um die Staatstheorie der Aufständischen geht es hier, wenn dieses anspruchsvolle Wort erlaubt sein sollte daß sie relativ konkrete Alternativen zur landständischen Verfassung herkömmlicher Art entwickelten. Nach den Vorstellungen des radikalen Flügels in Salzburg wäre der Landtag von einem adelig-geistlich-bürgerlichen Gremium zu einer Institution der Bauern, Bürger und Bergknappen geworden. Autonome Landgemeinden, Berggemeinden, Stadt- und Marktgemeinden hätten gewählte Vertreter in den Landtag entsandt, der seinerseits durch Wahl ein Landschaftsregiment bestimmt hätte, dem die gesamten Kompetenzen von Erzbischof und Domkapitel übertragen worden wären 5 2 . Das Markgräflerland im südlichen Oberrheingebiet hob die Polarität von Landschaft und Herrschaft durch ein Landschaftsregiment auf 5 3 . Unter Landschaft verstand man wie schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Gesamtheit der Untertanen des Markgrafen von Baden 54 , die nun durch Wahl ein Landschaftsregiment bestimmen sollte, um die Funktion der bisherigen Landvögte, näherhin deren faktische Regierungsgewalt zu übernehmen. Die via Wahl gesicherte Rückbindung der Politik -des Regiments an den Gesamtwillen der Landschaft schien Garantie genug, die Prinzipien des gemeinen Nutzens, der brüderlichen Liebe und des Göttlichen Rechts verwirklichen zu können 5 5 . In Württemberg setzte sich bereits eine Woche nach Beginn der Erhebung die Bezeichnung Landschaft für die Gesamtheit der aufständischen Ämter durch 5 6 . 51 Dies im einzelnen zu dokumentieren ist nicht möglich. Als Beleg sei auf den überregional verbindlichen Artikelbrief der Schwarzwälder Bauern verwiesen; G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, S.235f. Nr. 68. - Die Zielsetzung geht auch deutlich aus den Korrespondenzen der Aufständischen hervor, von denen als wichtigste nur genannt seien: H. SCHREIBER (Hg.). Der deutsche Bauernkrieg, gleichzeitige Urkunden. - F. L. BAUMANN (Hg.), Akten zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges aus Oberschwaben, 1877. - H.VIRCK, Politische Correspondenz der Stadt Strassburg im Zeitalter der Reformation. 1. Bd. 52 Durch die Fülle der Details und die Zurückhaltung gegenüber Abstraktionen weniger deutlich erkennbar bei A. HOLLAENDER, Studien zum Salzburger Bauernkrieg von 1525, bes. 4 3 - 5 1 . Instruktiv H. BUSZELLO, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, S. 133f. 53 H.SCHREIBER (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, gleichzeitige Urkunden II, S. 85 f. Nr. 216. 54 J.GUT, Die Landschaft auf den Landtagen der markgräflich badischen Gebiete, 1970, S. 67ff. 55 Marginal sei wenigstens auf den Schwarzwald hingewiesen, wo die Aufständischen gleichfalls einen oder mehrere «Landtage» abhielten; offensichtlich sollten die bisherigen Abhängigkeitsverhältnisse auf den Kopf gestellt werden, wenn der