Exegetische Aufsatze 9783161535369

English summary: In this volume, Ulrich Luz presents 32 exegetical studies, nearly all of which were written between 198

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German Pages 565 [576] Year 2016

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Exegetische Aufsatze
 9783161535369

Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Studien zu Jesus
1. Einleitung
2. Jesus from a Western Perspective. State of Research. Methology
I. Introduction
II. The First Quest
III. The „New“ or Second Quest
IV. The Third Quest
V. Conclusions
3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“
I. Matthäus, ein Historiker?
Ι. 1 Beispiele matthäischer Fiktionen
I. 2 Matthäus als traditionsorientierter Erzähler
I. 3 Wie versteht Matthäus die Wahrheit seiner Jesusgeschichte?
ΙΙ. Matthäus im Kontext heutiger und antiker, griechischer und biblischer Konzepte von Geschichtserzählung
II. 1 Heutige Konzepte von Geschichtserzählung nach dem linguistic turn
II. 2 Das Matthäusevangelium und antike Geschichtsschreibung
II. 3 Die grosse Distanz des Matthäus zu griechischer Geschichtsschreibung
II. 4 Die Wahrheit der Jesusüberlieferungen im Matthäusevangelium
III. Das Matthäusevangelium und der „historische Jesus“
III. 1 Matthäus als „traditionaler Geschichtserzähler“
III. 2 Matthäus ist ein jüdischer Autor und steht dem jüdischen Milieu Jesu nahe
III. 3 Matthäus und unsere Weisen, Jesus zu systematisieren
III. 4 Johannes der Täufer und Jesus
III. 5 Jesus als ein wahrer Jude
4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte
I. Beruhen die Geburtsgeschichten auf historischen „Fakten“?
II. Hielten die Evangelisten die Geburtsgeschichten für „wirkliche“ Geschehnisse?
II. 1 Die Quellen der Geburtsgeschichten
II. 2 Ein Seitenblick auf die antike Literatur
II. 3 Zur Forschungslage
II. 4 Die matthäischen Kindheitsgeschichten
II. 5 Die lukanischen Geburtsgeschichten
5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters
I. Introduction
II. How Much Did the Authors of Early Christian Letters Know about Jesus?
III. A Look at Paul
IV. Paul and the Later Letters
V. Final Remarks
6. Jesus im Vergleich mit neueren japanischen Religionsstiftern
I. Einleitung
II. Nyoraikyô, Tenrikyô and Konkôkyô
III. Analogien zu Jesus in Leben und Lehren der Religionsstifter
IV. Das postmortale Leben des Stifters und die Lehre über den Stifter („Christologie“)
V. Schlussfolgerungen und Fragen
7. Warum zog Jesus nach Jerusalem?
I. Fragestellung und Forschungsgeschichte
II. Jerusalem – ein für einen Propheten gefährlicher Ort
III. Jesu Verhalten in Jerusalem
IV. Der Sinn von Jesu Tod
8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem?
I. Einige Grundthesen von Eckhard Rau
II. Warum ging Jesus nach Jerusalem?
III. Zusammenfassung und Schlussreflexion
II. Studien zur Logienquelle
9. Einleitung
10. Ein Q-Text
Εinleitung
Nr. 1: Das Auftreten des Täufers
Nr. 2: Die Busspredigt des Täufers (Lk 3,7–9 / Mt 3,7–10)
Nr. 3: Ankündigung des Stärkeren (Lk 3,16 f / Mt 3,11 f; vgl. Mk 1,7 f)
Nr. 4: Taufe Jesu
Nr. 5: Die Versuchung Jesu (Lk 4,1–13 / Mt 4,1–11; vgl. Mk 1,12 f)
Die Feldrede Lk 6,20–49)
Nr. 6: Die Seligpreisungen (Lk 6,20–23 / Mt 5,3–12; vgl. EvThom 54)
Nr. 7: Feindesliebe (Lk 6,27–36 / Mt 5,38–42; 7,12; 5,43–48)
Nr. 8: Vom Richten (Lk 6,37–42 / Mt 7,1–5)
Nr. 9: Von den Früchten (Lk 6,43–45 / Mt 7,15–20; 12,33–35)
Nr. 10: Gerichtsdrohung und ‑verheissung. Hausbauergleichnis (Lk 6,46–49 / Mt 7,21–27)
Nr. 11: Abschlussbemerkung (Lk 7,1; vgl. Mt 7,28 a; 8,5 a)
Nr. 12: Der Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,2–10 / Mt 8,5–10.13)
Die Täuferrede (Lk 7,18–35)
Νr. 13: Die Anfrage des Täufers (Lk 7,18–23 / Mt 11,2–6)
Nr. 14: Jesu Zeugnis über den Täufer (Lk 7,24–28 / Mt 11,7–11)
Nr. 15: Das Gleichnis von den spielenden Kindern (Lk 7,31–35 / Mt 11,16–19)
Die Jüngerrede (Lk 9,57–10,24)
Nr. 16: Nachfolgeworte (Lk 9,57–62 / Mt 8,19–22)
Nr. 17: Die Aussendungsrede (Lk 10,1–12 / Mt 9,37 f; 10,7–15)
Nr. 18: Wehe über Chorazin und Betsaida (Lk 10,13–14 / Mt 11,20–24)
Nr. 19: Sendungswort (Lk 10,16, vgl. Mt 10,40)
Nr. 20: Jubelruf (Lk 10,21 f / Mt 11,25–27)
Νr. 21: Seligpreisung der Jünger (Lk 10,23 f / Mt 13,16 f)
Vom Gebet (Lk 11,1–13)
Nr. 22: Das Unservater (Lk 11,1–4 / Mt 6,9–14)
Nr. 23: Erhörung des Gebets (Lk 11,9–13 / Mt 7,7–11)
Die Wunder Jesu (Lk 11,14–32)
Nr. 24: Das Bündnis mit Beelzebul (Lk 11,14–23: vgl. Mt 12,22–30; Mk 3,22–27)
Νr. 25: Rückfallspruch (Lk 11,24–26 / Mt 12,43–45)
Nr. 26: Jonazeichen (Lk 11,29–32 / Mt 12,38–42; vgl. Μk 8,11 f)
Nr. 27: Lichtsprüche (Lk 11,33–35 / Mt 5,15; 6,22 f; vgl. Μk 4,21)
Nr. 28: Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Lk 11,37–52 / Mt 23)
Die Jünger in Erwartung des Menschensohns (Lk 12,2–59?)
Nr. 29: Bekenntnis zum Menschensohn (Lk 12,2–9 / Mt 10,26–33)
Nr. 30: Die Sünde gegen den Heiligen Geist (Lk 12,10 / Mt 12,31 f)
Nr. 31: Die Hilfe des Geistes (Lk 12,11 f; vgl. Mt 10,19 f; Mk 13,11)
Nr. 32: Nicht Sorgen (Lk 12,22–32 / Mt 6,25–34)
Nr. 33: Vom Schätze Sammeln (Lk 12,33 f / Mt 6,19–21)
Nr. 34: Das Gleichnis vom Einbrecher (Lk 12,39 f / Mt 24,43 f)
Nr. 35: Allegorie vom wiederkommenden Herrn (Lk 12,42–46 / Mt 24,45–51)
Nr. 36: Gerichtswort und Spaltungen vor dem Ende (Lk 12,49–53 / Mt 10,34–36)
Nr. 37: Zeichen der Zeit (12,54–56 / Mt 16,2–3)
Nr. 38: Versöhnung vor dem Ende (Lk 12,57–59 / Mt 5,25 f)
Vereinzelte Logien ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang (Lk 13,18–35; 14.26 f.34 f; 16,13–18; 17,1–6.33)
Nr. 39: Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig (Lk 13,18–21 / Mt 13,31–33; vgl. Mk 4,30–33)
Nr. 40: Die enge Tür (Lk 13,22–24 / Mt 7,13 f) (Verszahlen nach Mt)
Nr. 41: Die Abweisung im Gericht (Lk 13,25–27 / Mt 7,22 f)
Nr. 42: Die Mahlzeit im Gottesreich mit den Patriarchen (Lk 13,28 f / Mt 8,11 f) (Verszahlen nach Mt)
Nr. 43: Klage über Jerusalem (Lk 13,34 f / Mt 23,37–39)
Νr. 44: Hassen der Eltern und Kreuztragen (Lk 14,26 f / Lk 17,33 / Mt 10,37–39; vgl. Mk 8,34 f Parr.)
Nr. 45: Salzwort (Lk 14,34 f / Mt 5,13; vgl. Mk 9,49 f)
Nr. 46: Mamonswort (Lk 16,13 / Mt 6,24)
Nr. 47: „Stürmerspruch“ (Lk 16,16 / Mt 11,12 f)
Nr. 48: Ewige Geltung der Torah (Lk 16,17 / Mt 5,18)
Nr. 49: Gegen die Ehescheidung (Lk 16,18 / Mt 5,32; vgl. Mk 10,11 f)
Nr. 50: Warnung vor Ärgernis (Lk 17,1 f / Mt 18,6 f; vgl. Mk 9,42) (Verszahlen nach Mt)
Nr. 51: Vom Vergeben (Lk 17,3 f / Mt 18,21 f)
Nr. 52: Glauben wie ein Senfkorn (Lk 17,6 / Mt 17,19 f)
Das Kommen des Menschensohns (Lk 17,23–37 / Mt 24,26–28.37–41; vgl. Mk 13,21)
Νr. 53: Der Menschensohn kommt wie ein Blitz (Lk 17,23 f / Mt 24,26 f)
Nr. 54: Die Tage Noahs (und Lots) (Lk 17,26 f.(28–30) / Mt 24,37–39)
Nr. 55: Die Schrecken der Endzeit (Lk 17,34–378 / Mt 24,40 f.28)
11. Matthäus und Q
I. Zum Umfang von Q
I. 1 Methodische Überlegungen
I. 2 Unsichere Q-Texte
I. 3 Von Mt weggelassene Q-Texte
II. Zur Version Qᴹᵗ
III. Wie hat Matthäus Q in sein Evangelium eingearbeitet?
Summarische Übersicht über die Einarbeitung von Q in Mt
IV. Die theologische Bedeutung von Q für Matthäus
12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her
I. Voraussetzungen
II. Q und die mündliche Tradition
III. Verschiedene Versionen von Q?
IV. Die Gattung von Q aus matthäischer Perspektive
V. Die „People of Q“ in matthäischer Perspektive
III. Studien zum Matthäusevangelium
13. Einleitung
14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9
I
II
III
IV
V
15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie oder: Exegetische Prolegomena zu einer dynamischen Ekklesiologie
I. Exegetische Beobachtungen: Die grundsätzliche Gültigkeit der Aussendungsrede
II. Grundlegende „notae“ der Kirche nach Mt 10
1. Für Matthäus ist Kirche missionierende, verkündigende Kirche
2. Für Matthäus besteht die Gemeinde aus potentiellen Wanderradikalen
3. Für Matthäus ist Armut um des Gottesreichs willen ein konstitutives Merkmal der Jüngerschaft
4. Für Matthäus ist das Leiden konstitutives Merkmal der Jüngerschaft
5. Jüngerschaft als christusgestaltiges Leben
III. Die ekklesiologische Bedeutung der matthäischen Jüngerrede
16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie
I. Die narrative Christologie
II. Davidssohn
III. Menschensohn
IV. Gottessohn
V. Schluss
17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze
I. Ein Gang durch das Matthäusevangelium
II. Ein Blick auf Mt 21–28
II. 1 Kapitel 21–23
II. 2 Die Passionsgeschichte
III. Historische und humanwissenschaftliche Überlegungen
III. 1 Der „Familienkonflikt“
III. 2 Die Verarbeitung eines Traumas
III. 3 Der „Geschwisterkonflikt“
III. 4 Vorurteile
III. 5 Ein Nachentscheidungskonflikt
IV. Entlastungsversuche für Matthäus
V. Theologische Überlegungen: Der matthäische Antijudaismus und Jesus
18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur
I. Einleitung
I. 1 Definition
I. 2 Übertragung auf das Matthäusevangelium
II. Der Befund bei Matthäus
II. 1 Der Ausgangspunkt: Matthäus als der Tradition verpflichteter Autor
II. 2 Verdoppelungen von Einzelperikopen
II. 3 Neugeschaffene Erzählungen
II. 4 Beobachtungen zum Erzählungsfaden
III. Vergleich der matthäischen Fiktionen mit griechischen Literaturtheorien
III. 1 Die Anfänge eines Bewusstseins von Fiktionalität
III. 2 Das Wahrheitsverständnis der Historiographie
III. 3 Die Mythen der alten Dichter
III. 4 Die Entdeckung des Unterschieds zwischen μῦθος und πλάσμα
III. 5 Fiktivität in den Romanen
III. 6 Fiktionen in Biographien
IV. Folgerungen für Matthäus
IV. 1
IV. 2
IV. 3
IV. 4
19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?
I. Matthäus als Tradent und Neuerer
II. Afterthoughts
20. Intertexts in the Gospel of Matthew
Ι. Introduction
I. 1 Definitions and models
I. 2 Gérard Genette and Manfred Pfister
II. Intertexts in the Gospel of Matthew: Introductory Remarks
II. 1 The Gospel of Mark as Intertext
II. 2 The Sayings Source (Q) as Intertext
II. 3 The Bible as Intertext
a) Reminders of biblical stories, persons, and places; the genealogy
b) The title of the Gospel and its pentateuchal structure
c) Allusions
d) Quotations
e) Fulfillment quotations
III. Concluding Remarks
21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa
I. Zu unserer hermeneutischen Situation
II. Sinnpotenzen der matthäischen Passionsgeschichte für Westeuropa
II. 1 Die Passionsgeschichte ist eine Erzählung
II. 2 Die Erzählung vom Immanuel
II. 3 Die ethische Dimension der matthäischen Passionsgeschichte
III. Epilog: Matthäus und Israel
22. Matthäus und das Judentum seiner Zeit
I. Die Stellung des Matthäusevangeliums im zeitgenössischen Judentum
II. Matthäus – ein jesuanischer Jude oder ein jüdischer Christ?
23. Die neue Jesus-Christus-Geschichte des Matthäus. Matthäus und Markus
I. Matthäus, Markus und Q
II. Die Jesusgeschichte des Matthäus
III. Zur Aktualität des Matthäusevangeliums heute
IV. Studien zu den übrigen Evangelien
24. Einleitung
25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition
I. Einleitung
II. Methodische Fragen
III. Die Eschatologie der vormarkinischen Überlieferung
III. 1 Doppelüberlieferungen in Mk und Q
III. 2 Die vormarkinische Wunderüberlieferung
III. 3 Die Paränese
III. 4 Gleichnisse
III. 5 Legenden
III. 6 Mk 13 als Schwierigkeit
III. 7 Fazit
IV. Die Christologie der vormarkinischen Überlieferung
IV. 1 Doppelüberlieferungen in Markus und Q
IV. 2 Wundergeschichten
IV. 3 Apophthegmen
V. Ergebnisse und Fragen
26. Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17). Ein Gespräch mit Jean Zumstein
I. Hinführung und These
II. Gegenargumente und Argumente
III. Zwei Themastränge: Verherrlichung und Liebe
IV. Schlussbemerkungen
V. Studien zum Corpus Paulinum
27. Einleitung
28. Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsaussagen der Paulustradition
I. Einführung
II. Der Kolosserbrief
III. Der Epheserbrief
IV. Die paulinischen Briefe
V. Schlussbemerkungen
29. Paulus als Mystiker
I. Zur Definition von „Mystik“
II. Sechs Thesen zum Profil der paulinischen Mystik
III. Rückblick
30. Paulus als Charismatiker und Mystiker
Eine persönliche Einleitung
I. Paulus als Charismatiker: 1. Die Erfahrungen
II. Die Frage nach der Mystik
III. Paulus als Charismatiker: 2. Die Interpretation
IV. Ausweitung: Grundlinien paulinischer „Mystik“
V. Schluss
31. Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development. A Sketch
I. Introduction
II. The Pre-Christian Paul
III. The Earliest Texts
IV. Galatians
V. Romans
VI. Philippians
VII. Afterthoughts
32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese
I. Einführung
II. Das Gebet im Epheserbrief
III. Der Epheserbrief als Rückerinnerung an Paulus
IV. Ausblicke
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Stellenregister (Auswahl)
1. Altes Testament
2. Apokryphen und Pseudepigraphen
3. Qumrantexte
4. Rabbinische Literatur
5. Jüdisch-hellenistische Literatur
6. Neues Testament
7. Apostolische Väter
8. Neutestamentliche Apokryphen
9. Gnostische Texte
10. Patristische Texte
11. Mittelalterliche Texte
12. Pagane antike Texte
Autorenregister (Auswahl)

Citation preview

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

357

Ulrich Luz

Exegetische Aufsätze

Mohr Siebeck

Ulrich Luz; geb. 1938; Studium der Ev. Theologie in Zürich, Göttingen und Basel; 1963 Ordination; 1967 Promotion; 1968 Habilitation; 1969–1971 Dozent an der International Christian University und an der Aoyama Gakuin University Tokyo; 1972–1980 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen; 1980–2003 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern; seit 2003 im Ruhestand.

e-ISBN PDF 978-3-16-154547-4 ISBN 978-3-16-153536-9 ISSN  0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Times New Roman gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Das Erscheinen des ersten Bandes meiner gesammelter Aufsätze gibt mir Gelegenheit, zu danken. Am Anfang soll der Dank stehen für alles, was ich in den vielen Jahren seit meinem Studium gelernt habe: der Dank an meine Lehrer Eduard Schweizer, Hans Conzelmann und Gerhard Ebeling; der Dank an unzählige Studentinnen und Studenten in Göttingen und Bern, von denen ich vieles gelernt habe; der Dank an Kollegen und Freunde in der ganzen Welt für alles, was ich im Austausch mit ihnen empfangen habe. Und vor allem danke ich dafür, dass mich die biblischen Texte seit meinem Studium fasziniert, bewegt und nie losgelassen haben und zu meiner Lebensmitte wurden. Dafür danke ich Gott. Dieser Band enthält fünf ungedruckte und fünf weitere bisher nicht in deutscher Sprache oder nur in vorläufigen Fassungen gedruckte Texte. Jedem seiner fünf Kapitel ist eine Einleitung vorangestellt. Sie hat vor allem die Funktion eines „Editorials“ und gibt jeweils eine kurze Einführung in den Inhalt der einzelnen Aufsätze. Soweit dies nötig war, habe ich in den Einleitungen ausserdem angedeutet, wo sich meine Sicht gegenüber der damaligen verändert hat. Auf einen erneuten Abdruck von vor 1985 erschienenen Aufsätzen habe ich – von einer einzigen Ausnahme abgesehen – verzichtet, da sich die Forschungssituation seither zu stark verändert hat. Der Text wieder abgedruckten Aufsätze wurde in der Regel nicht verändert. Auf die Einarbeitung seither erschienener Literatur habe ich verzichtet – deren Fülle wäre zu gross gewesen. In absehbarer Zeit soll diesem Band ein zweiter folgen, der u. a. Aufsätze zur Hermeneutik, zur Theologie und zur Ekklesiologie enthalten soll. Ohne vielfältige Hilfe vor allem in Computerfragen und beim Erstellen der Register wäre das Entstehen dieses Buches nicht möglich gewesen. In erster Linie möchte ich hier Dr. Zbyněk Garský und Prof. Rainer Hirsch-Luipold in Bern und ihren studentischen Hilfskräften Dominik von Allmen, Pascal Handschin, Isabelle Knobel und Joëlle Ramseyer danken. Ohne ihren ganz grossartigen und uneigennützigen Einsatz wäre ich mit der Herstellung dieses Bandes völlig überfordert gewesen. Ein ebenso herzlicher Dank gilt auch dem Verlag Mohr Siebeck, vor allem Dr. Henning Ziebritzki, Frau Bettina Gade und Herrn Martin Fischer. Der Verlag hat das Layout von besonders schwierigen Texten, vor allem Nr. 10, Nr. 11 und Nr. 21 übernommen, und mich auch sonst in jeder Beziehung unterstützt, dies

VI

Vorwort

nicht zuletzt dadurch, dass er mich nie zeitlich unter Druck gesetzt hat, auch als alle Termine und Fristen längstens abgelaufen waren. Laupen / ​Bern, Oktober 2015

Ulrich Luz

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. Studien zu Jesus   1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3   2. Jesus from a Western Perspective. State of Research. Methology . . . . . 9   3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“ . 31   4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 55   5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters . . 75   6. Jesus im Vergleich mit neueren japanischen Religionsstiftern . . . . . . . 93   7. Warum zog Jesus nach Jerusalem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115   8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem? . 133

II. Studien zur Logienquelle   9. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 10. Ein Q-Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 11. Matthäus und Q . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her . . . . . . . . . . . . . 195

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Studien zum Matthäusevangelium 13. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie oder: Exegetische Prolegomena zu einer dynamischen Ekklesiologie . . . . . . 245 16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . 267 17. Der Antijudaismus im Matthäusevangeliumals historisches und theologisches Problem. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangeliumim Lichte griechischer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 20. Intertexts in the Gospel of Matthew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa . . 365 22. Matthäus und das Judentum seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 23. Die neue Jesus-Christus-Geschichte des Matthäus. Matthäus und Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

IV. Studien zu den übrigen Evangelien 24. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 26. Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17). Ein Gespräch mit Jean Zumstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Inhaltsverzeichnis

IX

V. Studien zum Corpus Paulinum 27. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 28. Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsaussagen der Paulustradition . . . . . . . . . 463 29. Paulus als Mystiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 30. Paulus als Charismatiker und Mystiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 31. Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development. A Sketch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese . . . . . . . . . . . . . . 529 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Stellenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Autorenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

I. Studien zu Jesus

1. Einleitung Ich bin kein Jesusforscher, jedenfalls kein Jesusforscher im Sinne des „Third Quest“. Eher verstehe ich mich als Nachgeburt des „Second“ bzw. des „New Quest“, der vor allem im deutschen Sprachgebiet die Theologen seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts umtrieb. Meine neutestamentlichen Lehrer waren kritische Schüler Rudolf Bultmanns; mein wichtigster systematischer Lehrer war Gerhard Ebeling. Ich verstehe mich also als verspäteten Vertreter des „Second Quest“ mitten in der gegenwärtigen Hochblüte des „Third Quest“. Damit möchte ich erklären, warum sich die Mehrzahl der in diesem ersten Hauptteil zusammengestellten Aufsätze nicht mit dem historischen Jesus beschäftigen, sondern mit der Frage nach dem historischen Jesus. Sie beschäftigen sich mit den theologischen Gründen dieser Frage und mit ihren – unseren! – Prämissen, Vorverständnissen und Voreingenommenheiten. Sie beschäftigen sich mit der Art und Weise, wie die Evangelien diese Frage stellen, oder besser: wie sie nicht diese, sondern eine analoge Frage stellen, die ich jetzt einmal andeutungsweise als Frage nach der Geschichte des Gottessohns Jesus Christus bezeichne. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie z. B. das Matthäusevangelium das, was wir heute als „historische Wahrheit“ bezeichnen, umschreiben würde. Nur die letzten zwei Aufsätze stellen die historische Frage nach Jesus im engeren Sinn in den Mittelpunkt. Doch dazu später. Der erste Aufsatz „Jesus from a Western Perspective“ (= Nr. 2) geht zurück auf einen Vortrag, den ich am fünften internationalen Ost-West Symposion 2010 in Minsk (Weissrussland) gehalten habe, das von der Osteuropakommission der „Studiorum Novi Testamenti Societas“ veranstaltet wurde. Wie in den anderen dieser alle drei Jahre stattfindenden Symposien stand auch hier das Gespräch mit Orthodoxen Neutestamentlern im Zentrum. Meine Aufgabe bestand darin, Orthodoxen Theologen verständlich zu machen, was wir westliche Neutestamentler tun, wenn wir nach dem „historischen Jesus“ fragen und warum wir das tun. Die Frage nach dem „historischen Jesus“, die wir an diesem fünften Symposion anzupacken wagten, ist für den Dialog zwischen westlichen und Orthodoxen Bibelwissenschaftlern eine Kernfrage: Nach traditionellem Orthodoxem Verständnis kann sie nur innerhalb des vom chalcedonensischen Dogma gesetzten Rahmens als Frage nach der menschlichen Natur Jesu gestellt werden. Genau hier setzt dieser Aufsatz ein. Er enthält nicht nur eine für Orthodoxe Theologen nötige Einführung in die wichtigsten Fragestellungen, Bücher und Ergebnisse

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des „First“, des „New“ und des „Third Quest“ nach dem historischen Jesus, sondern vertritt eine für Orthodoxe hoffentlich verständliche Grundthese: Die westliche Frage nach dem historischen Jesus hat keine andere Aufgabe als die, die das chalcedonensische Dogma stellt: Sie fragt nach dem wahren Gott im wahren Menschen Jesus unter den Bedingungen, die westlichem Denken durch die Aufklärung gesetzt sind. Und sie ist nur so lange theologisch relevant, als sie dies tut. Angeregt wurde ich zu dieser These durch das Jesusbuch des russischen Samisdat-Autors Aleksandr Men, der nach dem historischen Jesus fragte, um der vollständigen Mythisierung Jesu, die ein Hauptpfeiler der atheistischen Propaganda unter dem Kommunismus war, die Stirn bieten zu können. Blicke ich auf meine eigene theologische Entwicklung zurück, so erkenne ich eine erstaunliche Kontinuität zu einem Anliegen, das mich in einem meiner allerersten Aufsätze bewegte:1 Ich versuchte dort, Entmythologisierung, die ich grundsätzlich bejahte und für notwendig hielt, im Unterschied zu Bultmann als Aufgabe zu begreifen, die uns nicht nur der sog. „moderne Mensch“ stellt und die nicht nur durch den – recht verstandenen – Mythos gestellt ist, sondern als Aufgabe der Christologie, genauer, als Aufgabe, vor die das „vere homo“ im Chalcedonense und – in neutestamentlichen Kategorien – das Kreuz als „Widerhaken“ in der mythischen Christologie des Neuen Testaments stellt. Der zweite Aufsatz trägt den Titel „Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der historische Jesus“ (= Nr. 3). Er geht am Beispiel des ersten Evangeliums der Frage nach, in welcher Weise die Evangelien nach dem „historischen Jesus“ fragen. Für das Matthäusevangelium ist ein Ineinander von narrativen Fiktionen, die dem Evangelisten bewusst gewesen sein müssen, und grundsätzlicher Orientierung an der Tradition charakteristisch. Fiktionen im Dienste der Tradition? Das führt zur Frage, inwiefern der erste Evangelist als Historiker verstanden werden kann. Neuere Theorien über Geschichtserzählungen und über die Bedeutung von Fiktionen, etwa von Hayden White und Hans Robert Jauss, und die Untersuchungen von Jörn Rüsen über verschiedene Typen von Geschichtserzählungen eröffnen neue Möglichkeiten, diese Frage überhaupt zu stellen. Lässt sich von da her die Geschichtserzählung des Matthäusevangeliums verstehen? Es scheint nicht nur von klassischen Formen antiker Geschichtsschreibung, etwa von Thukydides und Polybius, weit entfernt zu sein, sondern auch von anderen Modellen, z. B. dem der moralistischen Geschichtsschreibung oder dem der rhetorischen Geschichtsschreibung. Matthäus ist vielmehr ein biblischer Geschichtsschreiber; er erzählt zwar Ereignisse der Zeitgeschichte, aber erzählt sie im Stil eines „Logographen“, d. h. als mythische Urgeschichte. Seine Geschichte Jesu kann nur verstehen, wer an ihr partizipiert; eine Aussenperspektive ist ausgeschlossen. Wichtige Kriterien für die „Wahr1 Ulrich Luz, Entmythologisierung als Aufgabe der Christologie, EvTh 26 (1966), 349– 368.

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heit“ seiner Jesusgeschichte, inklusive ihrer Fiktionen, sind die prophetische Weissagung, der die Wahrheit der Einzelüberlieferungen tragende „Rahmen“ der ganzen Jesusgeschichte und die Erfahrungen der Gemeinden mit Jesus. Der Schlussabschnitt dieses Aufsatzes versucht in zwei Richtungen Folgerungen zu ziehen: Einerseits verdient der „traditionale“ Geschichtserzähler Matthäus grundsätzlich Vertrauen, weil er als jüdischer ῾am ha ᾿aräz in grosser Kontinuität zu Jesus steht. Andererseits stellt der Erzähler Matthäus an neuzeitliche Jesus-Historiker grundsätzliche Fragen, zum Beispiel dadurch, dass seine Weise, die Aussagen Jesu zu systematisieren (bzw. gerade nicht zu systematisieren!) eine grundsätzlich andere zu sein scheint als diejenige neuzeitlicher westlicher Historiker. Der dritte Aufsatz mit dem Titel „Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte“ (= Nr. 4) beschäftigt sich in einem kurzen ersten Abschnitt mit der Frage, was in den Geburtsgeschichten Jesu historisch sein könnte. In einem zweiten, ungleich längeren Abschnitt geht es um die Frage, ob die Evangelisten die Geburtsgeschichten für wirklich geschehene Ereignisse hielten. Theoretisch könnten die Geburtsgeschichten ja auch bewusste Fiktionen sein, etwa nach der Art einer frei erfundenen Haggadah oder von gewissen midraschartigen Erzählungen.2 Ich rechne aber in den matthäischen Geburtsgeschichten höchstens mit einzelnen Fiktionen, z. B. in Mt 2,3–6 oder Mt 2,22. Vor allem die matthäischen Erfüllungszitate, die u. a. einzelne Etappen des Weges des Jesuskindes „belegen“, zeigen, dass der traditionsorientierte erste Evangelist damit rechnet, dass das, was er erzählt, wirklich geschehen ist. Auch für die lukanischen Geburtsgeschichten gilt Ähnliches: Lukas will nicht einfach Fakten erzählen, sondern erzählt sie neu. Hätten aber seine im Stil biblischer Geschichte gestalteten Neugestaltungen den Charakter blosser „Erfindungen“, so hätten seine Leserinnen und Leser ihre mangelnde ἀσφάλεια leicht entecken können. Akzeptanz seiner Jesusgeschichte durch die Leser ist aber, wie sein Vorwort Lk 1,1–4 zeigt, für den Historiker Lukas ein wichtiges Kriterium. Die an einer Konferenz über den historischen Jesus im April 2009 in Prag vorgetragene Skizze „The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters“ (= Nr. 5) nimmt ihren Ausgangspunkt bei den nachpaulinischen Briefen. In den meisten gibt es relativ wenige Anspielungen auf Jesustraditionen und ebenso relativ wenige Traditionen, die durch die Autoritätsbezeichnung „Wort des Herrn“ besonders herausgehoben sind. Dennoch setzen die meisten dieser Briefe die Kenntnis eines oder mehrerer Evangelien voraus. Man kann also auf keinen Fall aus den wenigen Texten, auf die sie anspielen, auf das schliessen, was sie von Jesus wissen. Sie wissen viel mehr! Entscheidend ist vielmehr die 2 Vgl. z. B. für Mt den Mt-Kommentar von Robert H. Gundry, Matthew. A Commentary on His Literary and Theological Art, Grand Rapids 1982, zu Mt 1–2 passim und Roger D. Aus, Matthew 1–2 and the Virginal Conception, Studies in Judaism, Lanham etc 2004; zu Lk vor allem Michael D. Goulder, Luke. A New Paradigm, JSNT.S 20, Sheffield 1989, bes. 205–269.

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Gattung: In einem situationsbezogenen Brief sind naturgemäss Anspielungen auf Jesusworte seltener als z. B. in einer Homilie, wie der 2. Klemensbrief zeigt. Bei Paulus ist es grundsätzlich ähnlich. Auch er kennt Anspielungen auf Jesusüberlieferungen und mit der Autoritätsbezeichnung „Wort des Herrn“ besonders herausgehobene Traditionen. In vielen Fällen lässt sich zeigen, dass er selber mehr von Jesus weiss, als er in diesen Überlieferungen direkt sagt, und dass er auch bei seinen Hörern / ​Lesern ein entsprechendes Wissen über Jesus voraussetzt. Die Unterscheidung zwischen einem grundsätzlich verschiedenen „jesuanischen“ Strom des frühen Christentums und einem „kerygmatischen“ Strom, der wesentlich auf Paulus als „zweiten Gründer“ des Christentums zurückgeht, ist m. E. ebenso ein Irrweg wie die Annahme einer grundsätzlichen Diskontinuität zwischen Jesus und dem nachösterlichen kerygmatischen Christentum. Er hat viel mit den Denkvoraussetzungen der von der Aufklärung geprägten Forschung des 19. Jahrhunderts und mit ihrer Vorliebe entweder für den undogmatischen Lehrer Jesus oder für die die Reformationskirchen prägende paulinische Theologie zu tun, aber nur wenig (aber nicht: nichts!) mit der historischen Wirklichkeit. Der fünfte Aufsatz trägt den Titel „Jesus im Vergleich mit neueren japanischen Religionsstiftern“ ( = Nr. 6). In Japan sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – parallel mit dem Neubeginn des Christentums – unzählige neue Religionen entstanden, deren Bedeutung im heutigen Japan ebenso gross ist wie die des Christentums in Südkorea und China. Ihre Gründergestalten und deren Lehren, ihre soziale Gestalt und ihre Entwicklung von charismatischen Anfängen zu einer dauerhaften Institution weisen unzählige Analogien zum frühen Christentum auf. Von japanischen christlichen Theologen wurden sie bisher leider kaum beachtet. Ich habe für den Vergleich mit Jesus und dem frühen Christentum zwei im 19. Jahrhundert entstandene Religionen gewählt, nämlich Tenri-kyô und Konkô-kyô. Die Parallelen zum frühen Christentum sind zahlreich. Zu ihnen gehören die soziale Herkunft der „Stifter“ aus dem einfachen Volk, die freiwillige Armut, die grosse Bedeutung der Frauen, ein mindestens funktionaler Monotheismus, Universalismus, die Bedeutung von Krankenheilungen, viele Parallelen in der Ethik, die (teilweise) Abwendung von ritueller Reinheit, die „Gottbesessenheit“ der Gründergestalten, die viele Analogien zur frühchristlichen Prophetie aufweist. Zu ihnen gehört auch die Vergottung der Stifter und die Bedeutung ihres Lebens als Modell und ein beide Dimensionen umschliessender Kanon. Mehr als dies: Sowohl im Okzident als auch in Japan ist mit dem Aufkommen des Christentums bzw. der „neuen Religionen“ ein neuer Religionstyp entstanden, der alle Bedürfnisse des Lebens abdeckte und andere Religionen mindestens tendenziell überflüssig machte. Er war universalistisch und missionarisch. Der religionswissenschaftliche Vergleich eröffnet m. E. zahlreiche Perspektiven und stellt vor Fragen, an denen christliche Theologie m. E. nicht vorbeigehen sollte.

1. Einleitung

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Nur in den letzten beiden Aufsätzen dieses Hauptteils geht es ausschliesslich um den „historischen Jesus“. Mein eigenes Jesusbild ist – verglichen mit den Jesuskonstruktionen anderer Neutestamentler – verhältnismässig konservativ: Ich denke wie z. B. Dale C. Allison,3 dass Jesus ein vor allem in der Apokalyptik verwurzelter galiläischer Landjude gewesen ist, der den nahe bevorstehenden und sich bereits jetzt anbahnenden Anbruch des Gottesreichs und damit verbunden das Weltgericht verkündet hat. M. E. stellte Jesus für seine Person und die Botschaft, die er verkörperte, einen sehr hohen, im Rahmen des antiken Judentums wahrscheinlich sogar einmaligen Anspruch: Er rechnete m. E. damit, im Anbruch des Gottesreichs eine entscheidende Rolle zu spielen und von Gott als Weltrichter-Menschensohn eingesetzt zu werden (Menschensohn designatus). Darin stimme ich mit sehr vielen Forschern überein. Einersits ist Jesus als Jude, der nichts anderes wollte als das Volk Israel zu seinem Gott zurückrufen – in den Kategorien von Mark R. Mullins4 – ein minor founder mit prophetischen Zügen. Andererseits aber trägt er gewisse Merkmale eines „überbietenden Religionsstifters“, der zwar keine neue Religion begründen wollte, dessen Wirksamkeit aber mit einer gewissen inneren Folgerichtigkeit zur Entstehung einer neuen Religion führte. Damit hängt zusammen, dass ich in Echtheitsfragen im Ganzen zuversichtlicher urteile als manche meiner Kollegen. Auf dem Hintergrund dieser Jesuskonstruktion, die ich hier leider nicht ausführlich begründen kann,5 sind die letzten beiden Aufsätze dieses Hauptteils zu lesen. Sie stehen beide im Gespräch mit dem viel zu früh verstorbenen Hamburger Neutestamentler Eckhard Rau, der, wie ich, sich intensiv mit den Jesusinterpretationen des 19. Jahrhunderts, darunter auch mit Albert Schweitzer, beschäftigt hat. Beide Aufsätze beschäftigen sich mit der Frage, warum Jesus nach Jerusalem zog und dort seinen Tod mindestens in Kauf nahm, wenn nicht sogar bewusst suchte. Der erste Aufsatz „Warum zog Jesus nach Jerusalem?“ (= Nr. 7) analysiert die Situation in Jerusalem während eines grossen Pilgerfestes und weist auf die Ablehnung hin, auf die Jesus schon in Galiläa offenbar häufig gestossen ist, wie die Verfolgungslogien dokumentieren. Er weist dann auf Jesu sehr auffälliges und sehr provokatives Verhalten in Jerusalem hin: Ging er vielleicht sogar darum nach Jerusalem, weil er dort sterben wollte? Die rätselhafte Stelle Lk 12,49 f und die Einsetzungsworte zum Abendmahl könnten darauf 3 Dale C. Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010. 4 Vgl. u. den Aufsatz Nr. 6: Jesus im Vergleich mit neueren japanischen Religionsstiftern, dort Anm. 6. 5 Ich kann hier nur pauschal auf meine Überlegungen zu Echtheitsfragen hinweisen, die ich jeweils in den Abschnitten zur „Herkunft“ eines Textes in den „Analysen“ meiner Matthäuskommentare gegeben habe; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​Düsseldorf 52002; ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, 42007; ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, 22012; ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, 2002.

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hinweisen, dass Jesus seinen Tod gesucht hat und ihn vielleicht als Sühnetod verstanden hat – aber die Indizien sind schwach und die Vermutung bleibt eine zwar mögliche, aber nicht beweisbare Hypothese. Der letzte Aufsatz dieses Hauptteils mit dem Titel „Der unbequeme Jesus“ (= Nr. 8) vertieft diese These im Gespräch mit dem letzten, nachgelassenen und unvollendet gebliebenen Buch von Eckhard Rau:6 Wie Eckhard Rau und andere, so denke auch ich, dass die Gerichtsverkündigung Jesus nicht einfach abgesprochen werden kann, sondern dass Jesus – der Schüler Johannes des Täufers – ein Gerichtsverkündiger war, der auch vor unbedingten Gerichtsankündigungen nicht zurückschreckte, wenn seine Botschaft und seine Person auf Ablehnung stiess. In Galiläa stiess Jesus offenbar zunehmend auf Widerstand und Ablehnung, sodass er genau das tat, was er in der Aussendungsrede seinen Jüngern in diesem Fall empfiehlt: Er schüttelte den Staub von seinen Füssen als Zeichen für die Endgültigkeit des kommenden Gerichts (Q 10,10–12). Eine kurze Analyse von Texten, die Rau nicht mehr untersuchen konnte (Lk 13,31–33; Q 13,34 f; der Austreibung der Verkäufer und Geldwechsler aus dem Tempel und der Ankündigung der Zerstörung des Tempels) bestätigen das Ergebnis: Jesus nahm seinen Tod nicht nur in Kauf, sondern er suchte ihn und führte ihn durch sein provokatives Verhalten herbei. Damit bin ich in grosse Nähe zu den Grundthesen Albert Schweitzers gekommen, auch wenn ich die Einzelheiten seiner Thesen, insbesondere die Verbindung von Jesu Sühnetod mit den messianischen Wehen, nicht teile. Wie Eckhard Rau bin ich der Meinung, dass es eine Konvergenz gibt zwischen den historischen Rückschlüssen, die aus vielen Gerichtsworten von Q möglich sind, und dem narrativen Aufriss der synoptischen Evangelien: Auch der „Rahmen der Geschichte Jesu“ ist m. E. nicht ohne Erinnerung an die Geschichte Jesu entstanden. Auch in den hermeneutischen Schlussüberlegungen dieses Aufsatzes treffe ich mich mit Albert Schweitzer: Wie dieser erschrecke ich über den „unbequemen Jesus“ und denke, dass man auf ihn nicht zurückgreifen kann, ohne ihn grundlegend zu verwandeln.

6 Eckhard Rau, Perspektiven des Lebens Jesu. Plädoyer für die Anknüpfung an eine schwierige Forschungstradition, hg. von Silke Petersen, BWANT 203, Stuttgart 2013.

2. Jesus from a Western Perspective State of Research. Methology I. Introduction 1.1 Why do we ask for the history of Jesus – historically? In 1969 a Russian priest published a book on the historical Jesus. It was part of the Samisdatliterature and was first published in Bruxelles. Only in 1997 it was published in Russia also, under the title “Сын Человеческий” – the Son of Man.1 Its author was Aleksandr Men. The answer he gave to our question was the following: Atheists always pretended that Jesus was a myth – for a long time only this answer was allowed in Soviet scholarship. I quote: “It is not in vain that Atheism sticks to the ‘Myth-Theory’ because this theory threatens the very existence of Christianity … If they say in the name of science that Jesus of Nazareth was a fiction … it is an attempt to destroy the whole building of the Church. Therefore this is the most serious of all attacks against Christianity led under the pretext of historical scholarship”. Then Men continues: “This question concerns concrete historical facts. Therefore it has to be examined exclusively on the basis of science. One may believe or not believe that God has revealed himself to the world through Christ – this question cannot be decided by archaeology or written monuments – but the historicity of Jesus Christ is a problem that is fully accessible to historical research.”2 Aleksandr Men makes two points: 1. The quest for the historical Jesus proves necessary because only with the methods of historical research can the theory that Jesus was only a mythological figure be refuted. This quest is necessary because we live in a secular world in a dialogue with atheists. 2. For believers – and only for believers – Jesus is more than a mere historical figure. Believers believe – and not historians prove or make plausible – that God has revealed himself through Jesus or – with the words of the Christological dogma – that Jesus Christ is true God and true man. This is a reality of faith which is not accessible to historical research. These two points are the two pillars upon which 1 Александр

Мень, Сын Человеческий, Москва 1997. Men, Der Menschensohn, trans. Monika Schierhorn, Freiburg 22006, 302 f. (English translation mine). 2 Alexander

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the modern, Western quest for the historical Jesus rests. These two pillars can neither be separated from each other nor should they be confused. I purposely allude to the ἀδιαιρέτως and the ἀσυγχύτως of the Chalcedonian dogma,3 because I understand my two points and their relation to each-other as an application of the Chalcedonensian dogma to a different paradigm of thinking. 1.2 In the eighteenth century a fundamental paradigm-shift transformed Western-European thinking. The traditional ontological and theozentric way of thinking was replaced by the new way of thinking of the Enlightenment. One of the basic characteristic of this new way of thinking was the separation of the divine world of God, or of reason, from the visible world, characterised through extension and time, the realm of the laws of nature and those of history. With Lessing’s sharp distinction between “accidental truths of history” and “necessary truths of Reason”4 and with Kant’s dissolution of the traditional proofs for God’s existence and the transformation of God into a postulate of practical reason it reached its peak in the last decades of the eighteenth century. Together with it came a split in the understanding of truth: In the realm of history the question for truth became identical with the question whether something was or was not a “historical fact”.5 However historical facts have nothing to do with the eternal truths of reason or with the ethical truths of life. For Christology this implied that it became more and more impossible to locate the Human and the Divine on the same level of “being”: What the fathers of Chalcedon meant when they said that Jesus Christ was “true God and true man” was no more directly expressible, because “true humanity” became a complete description of a being that excluded the addition of something else. “True divinity” had to be totally rethought and reformulated within a new paradigm of thinking in which “God” was available as word of human tradition and as a human interpretation of reality but not directly as supreme “being”. Using the categories of the Christological dogma, one can say that due to the Enlightenment, the two natures of Christ were separated. The human nature became independent and selfsufficient. The divine nature came into a whirlpool of continuing debates; it unterwent a continuing process of constructions, deconstructions and reconstructions, a process that continues till today and in which we theologians take part. This is only a very abridged interpretation of the paradigm-shift the Enlightenment brought about. By “paradigm-shift”, I mean a fundamental change of the dominant way of constructing the world. Such paradigm-shifts are historical and contextual. On the one hand, I don’t say that the “enlightened” way of constructing the world is the only or the only true way. Other cultures, for instance 3 DS36 Nr. 302.

4 Gotthold E. Lessing, On the Proof of Spirit and Power, in: Lessing’s Theological Writings, ed. Henry chadwick, Stanford 1956, 53. 5 Hans W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven 1974, 17–65.

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in Africa or in Asia, have different ways. Ways of constructing the world change continuously. On the other hand, to speak about a fundamental paradigm shift implies that we cannot escape it in our own thinking, in spite of the fact that we have to analyze it, criticize it, and to call for transformations. Albert Schweitzer began his “Quest for the historical Jesus” with Reimarus. With him it became clear that “God” cannot be conceived as one among other active agents in history or as a direct cause of historical events: Any mixture (σύγχυσις) of the human nature with a divine element was now apriori impossible. After Reimarus, the “true humanity” of Jesus is natural and evident, but the “true Divinity” is no more given and has to be explored anew.6 Therefore the fundamental theological question is: How can we express within this new paradigm of thinking that Jesus and God are undivisibly (ἀδιαιρέτως) one when human nature by definition excludes any σύγχυσις with God? I ask the same question in biblical terms: How can we speak about the historical Jesus as “Immanuel” or as the “incarnation of God” when “history” as a scientific concept excludes by definition any divine intervention as explanation of an event? In this sense the quest for the historical Jesus includes a theological exploration of the possibilities to speak about God in our modern world. As I examine the different “quests” for the historical Jesus, my leading question will be: How have these scholars posed this theological question, or did they bypass it, or even exclude it?

II. The First Quest 2.1 The First Quest began dramatically: Lessing published the “Fragments of an anonymous person from Wolfenbüttel” between 1774 and 1778. He knew well who their author was – Hermann Samuel Reimarus, a classical philologian and orientalist living in Hamburg till his death in 1768. The manuscripts published by Lessing were parts of a a large work, “Apology or Plea for Protection for the Rational Worshippers of God”, published in its full length only in 1972.7 For the quest for Jesus, the most important part was the fragment “About the Intention of Jesus and of His Disciples”, published by Lessing in 1778. Reimarus was a radical Deist: For him, Jesus was not a teacher of “great mysteries or tenets of the faith” … but of “moral teachings and duties intended to improve man inwardly 6 Gerhard Ebeling, Theologie und Verkündigung, HUTh 1, Tübingen 1962, 23 f, characterizes the new situation as follows: “Whereas traditional Christology departed from the statement ‘vere Deus’ as a given basis and explained from there the ‘vere homo’ as a not unproblematical statement of faith, now the ‘true God’ as a statement of Christological confession was entirely problematical” (English translation mine). 7 Hermann S. Reimarus, Apology or Plea for Protection for the Rational Worshippers of God; German edition of the full text: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, ed. Gerhard Alexander, Frankfurt 1972.

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and with all his heart”.8 Jesus’s Messianic ambition failed; his resurrection and the church’s new vision of Jesus as a spiritual, suffering redeemer were the result of a fraud, an invention of his disciples. Reimarus did not risk to publish his work in his own time. The fate of great radical scholars like David Friedrich Strauss or Bruno Bauer much later in the nineteenth century demonstrates that he was well advised. The reaction of the official churches was defensive and repressive. 2.2 Roughly speaking we can distinguish four “main roads” in the First Quest for the historical Jesus. The first is the way of rationalism. Its most important representative in Germany was Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, author of a book on Jesus and of an extensive commentary on the Synoptic Gospels.9 The main problem was the explanation of the miracles and of the resurrection of Jesus. The rationalists could not accept the traditional explanation of miracles as direct interventions of God into the laws of nature. Because they retained the traditional definition of a miracle as something extraordinary happening outside the laws of nature,10 they failed to open new theological perspectives, in spite of the fact that many of the rationalists, including Paulus himself, were very pious people. 2.3 The second way is the mythological interpretation of Jesus, represented by David Friedrich Strauss. With his mythological interpretation Strauss sought an approach to the interpretation of Jesus that was beyond rationalism and supranaturalism. For this pupil of Hegel, myth was the “creation of a fact out of an idea”. In the case of Jesus, “the history of the life of Jesus (is) of mystical formation, inasmuch as it embodies the vivid impression of the original idea which the first Christian community had of their founder.”11 The formative idea of the life of Jesus is, according to Strauss, the conviction that in the selfconsciousness of Jesus Christ “the unity of the Divine and the Human has appeared for the first time and with such an energy …” that the significance of Jesus became unique in world-history.12 With other words: Not history in the sense of “facts”, but its impact on the believers, the faith of the earliest church in the divine-human nature of Christ, has formed the lifes of Jesus as we have them in the Gospels. This sounds pretty modern and different from the negative image of Strauss upon his  8 Hermann S. Reimarus, The Intention of Jesus and His Disciples (1772), translated in: The Historical Jesus Quest. A Foundational Anthology, ed. Gregory W. Dawes, Leiden 1999, 62.  9 Heinrich E. G.  Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 2 vols., Heidelberg 1828; Idem, Kommentar über die drey ersten Evangelien, 4 vols., Lübeck 1800–1808. 10 Thomas v. Aquino, STh I qu 110 art 4: A miracle is happening “praeter ordinem totius naturae creatae” and therefore a prerogative of God. 11 David F. Strauss, The Life of Jesus critically examined, (trans. P. C.  Hodgson, London 1973), 62. (following J. George). 12 David F. Strauss, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet II, Tübingen 31839, 778 f. (only in this edition; translation mine)

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conservative theological contemporaries. Indeed, his intention has affinities with those of later theologians like Martin Kähler or even James D. G. Dunn. Probably the contemporary reception of Strauss was so negative because “myth” was taken in the sense of an “invention”, a fictive story without a historical core. The rediscovery of myths as foundational stories of life and religion, e. g. by Mircea Eliade, was not yet available in the early nineteenth century. Therefore I would say that David Friedrich Strauss has possibly opened a door to a rediscovery of the Divine in Jesus, but the time was not ripe for him. 2.4 The third way is the way of the liberal theologians, particularily in the second part of the nineteenth century. They are numerous, among them Karl Heinrich Weizsäcker, Bernhard Weiss, Wilhelm Bousset, Paul Wernle, Ernest Renan and – for the parables – Adolf Jülicher. For me the most impressive texts are Heinrich Julius Holtzmann’s New Testament Theology and – naturally – the relevant lectures in Harnack’s “What is Christianity?”13 For the liberals, neither the problem of the miracles of Jesus nor the resurrection were in the foreground, but his religion. Jesus is for them the great teacher of a religion for enlightened individuals – trust in the loving Father of the universe and an ethics of love. Holtzmann speaks in almost mystical terms about “the most living presence of God in his heart”14 that can be expressed ultimately only in images. For Harnack the kingdom of God is a purely religious reality, a gift from above for man: “It permeates and dominates his whole existence, because sin is forgiven and misery banished.”15 Yes, the liberals were religious people with a very personal, often almost mystical relation to God that was mediated to them through the religious genius Jesus. Nothing would be more unjust than to reduce their piety to mere ethics. One of the problems of their approach was that Jesus’s life, his healings, his death and his resurrection were not of primary importance. Another problem was their negligence of Jesus’s Jewishness; most of them tended to use what they called “late Judaism” as a negative background for the unique religion of Jesus. This feature is more or less common for the entire “First Quest”, Albert Schweitzer included. 2.5 The fourth way is consequent eschatology, as represented by Johannes Weiss, Albert Schweitzer, and others.16 For them, the kingdom of God was supraindividual, supraethical, with cosmic and apocalyptic dimensions, aiming “beyond the consummation and salvation of the individual to a consummation 13 Heinrich J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, Bd. I, Tübingen 1897; 21911; Adolf Harnack, What is Christianity? trans. Th. B. Saunders, New York 51957. 14 Holtzmann, Theologie I, 341. 15 Harnack, What is Christianity?, 62. 16 Johannes Weiss, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892; 21900; Albert Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, Tübingen 1906; new edition 1913 with the title: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913. Complete English translation: The Quest for the Historical Jesus, trans. John Bowden, London 2000.

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and salvation of the world”.17 Jesus’s preaching is far more radical than the pious liberal optimists believed; it is not only a foundational, but also a critical and destructive mythos. It is irrational, because it transcends the laws and the harmonies of this world. It is not by chance that Albert Schweitzer came to a deep cultural pessimism in the time of the publication of his “Quest”.18 Jesus’s eschatology was one of the keys that opened his eyes for the dark sides of European culture. For Schweitzer, a direct reference to Jesus is not possible for us. “Jesus of Nazareth will not let himself be modernized. He has no answer for the question: ‘Tell us your name in our speech and for our day!’. But he blesses those who have wrestled with him, so that, though they cannot take him with them, yet, like men who have seen God face to face and received healing in their souls, they go on their way with renewed courage, and fight with the powers of the world”.19 For Schweitzer, Jesus is an invaluable source of inspiration for the process of our constructing our own view of the real God. 2.6 Methodologically the most important document of the First Quest is the fundamental distinction between historical and dogmatic method in theology by Ernst Troeltsch.20 For Troeltsch there is no bridge between both, but rather, the historical method is “a leaven that … blows up lastly the whole set of traditional theological methods”.21 Why? Because the three basic principles of the historical critical method, criticism, analogy and correlation imply firstly, that there is no certitude in the realm of historical judgments, but only probability; secondly, that what happens historically is basically “similar” (“gleichartig”);22 and thirdly, that all historical events must be seen as part of a larger context. With regard to the miracles of Jesus and his resurrection, traditionally interpreted as events outside the laws of nature, but also with regard to the Christological dogma of the two natures, the consequences of these principles seem to be entirely negative. They are not necessarily so, if we realize that these principles of historical criticism have to be applied to themselves as well. They, too, are relative and contextual. They are not meant as ontological principles about reality, but as methodological principles about our own present possibilities of constructing and verifying historical reality. The principle of analogy in particular is very open because naturally every enlargement of our scientific, ethnological or historical knowledge leads to a widening of the horizon of possible analogies. The inten17 Schweitzer,

Quest, 480. first version of his cultural philosophy was written under the title “Wir Epigonen” between 1914 and 1918, but its basic idea goes back to 1899. “Wir Epigonen” was not published until 2005 (Albert Schweitzer, Wir Epigonen. Kultur und Kulturstaat, ed. Ulrich Körtner / ​Johann Zürcher, Werke aus dem Nachlass, München 2005. 19 Schweitzer, Quest, 277. 20 Ernst Troeltsch, Historical and Dogmatic Method in Theology, in: Ernst Troeltsch, Religion in History, (trans. James L. Adams / ​Walter F. Bense, Edinburgh 1991), 11–32. 21 Troeltsch, Historical and Dogmatic Method in Theology, 12. 22 Troeltsch, Historical and Dogmatic Method in Theology, 14. 18 The

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tion of Troeltsch in this classical essay was not at all to propagate a scepticism in history and to deny certitude of faith, but to give to both a proper basis. He says: “Faith interprets facts, but it cannot constate them”,23 and even less postulate them! In this way, the consequence of Troeltsch’s principles is that divine reality is a matter of interpretation, not a matter of facts. 2.7 Result: “Wrestling with God” – this could be a motto for the best representatives of the First Quest for Jesus in the nineteenth century. “Wrestling with God” who, after the collapse of the metaphysically understood union of the divine and the human nature in the christological dogma, was discernible for the scholars of the First Quest only indirectly through human interpretations and – especially – in the teaching and in the life of Jesus. No doubt, what they offered were only glimpses, hunches and human views on the living God, but their attempt was honest and important. 2.8 The fourty years between the first World War and 1953 have been called a period of “No Quest”. Albert Schweitzer’s book brought about desillusion for further questers. Martin Kähler’s influential contribution of 1896 reminded the scholars that the Gospels predicated the biblical Christ of history and not the historical Jesus.24 William Wrede’s “The Messianic Secret” shook the Markan basis of the quest.25 Form criticism revealed the formative character of the early transmission processes and the late date of the narrative framework of the Gospels.26 Dialectic theology conceived God as a reality totally different from any worldly reality and rejected any paths to God “from below”, including the quest for the historical Jesus. For Rudolf Bultmann, author of the most influential book about Jesus in the period between the wars,27 Jesus is not a part of New Testament theology, but its presupposition.28 He saw him as a radical Jewish prophet and teacher whose concrete proclamation of God calls for a human decision. With Easter, something totally new began – the Christian kerygma, the basis of Christian preaching and its theological reflection. After Jesus’s resurrection there was no possibility to see the risen and exalted Jesus κατὰ σάρκα (2 Cor 5:16).29 23  Ernst Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, 33. 24 Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, Leipzig 1896; new edition ed. Ernst Wolf, ThB 2, München 1956. 25 William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien: Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901. English: The Messianic Secret, Greenwood 1971. 26 Cf. Karl L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu, Berlin 1919. 27 Rudolf Bultmann, Jesus, Die Unsterblichen Bd. 1, Berlin 1929. English: Jesus and the Word, New York / ​London 1934. 28 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 31958 (1948), 1 f. English: Theology of the New Testament, London 1952. 29 Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, in: Idem, Glauben und Verstehen I, Tübingen 21958, 206 f.

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In spite of historical continuities between Jesus and the post-Easter Church, for Bultmann discontinuity prevailed.30

III. The „New“ or Second Quest31 3.1 In a famous lecture of 1953, Bultmann’s student Ernst Käsemann criticized Bultmann’s position and opened the debates of the “Second Quest”.32 This debate was primarily, but not exclusively, a debate among Bultmann’s pupils and friends. Its topic was not so much the history of Jesus, but the theological basis and the necessity for pursuing the quest for Jesus. Käsemann’s main problem was that of the identity of the risen Jesus proclaimed in the Christian kerygma. Why did the early Church proclaim Jesus as Lord and Redeemer? Why did the early Christians neither “allow myth to take the place of history nor a heavenly king to take the place of the man of Nazareth?”33 Käsemann’s answer: “To cleave firmly to history is one way of giving expression to the extra nos of salvation”.34 Käsemann emphasized the importance of the Synoptic Gospels, especially of Matthew and Luke. Their strong conviction of the identity of the earthly with the exalted Lord Jesus Christ was the reason why they narrated their story of the earthly Jesus. Consequently, the Gospels by no means enumerate bruta facta, but narrate a history as it is meaningful for the present church. Günther Bornkamm says in the introduction to his “Jesus of Nazareth”, in the sixtieth and seventieth the most popular book about Jesus: The Gospels testify “that faith does not begin with itself, but lives from past history.”35 In a similar way, the systematic theologian Gerhard Ebeling emphasizes that the explicit Christology of the post-Easter church needs a foundation in the implicit christology of Jesus, otherwise it is a 30 Rudolf Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, SHAW.PH 1960/3, Heidelberg 21961, 6 f. English translation: The Primitive Christian Kerygma and the Historical Jesus, New York / ​Nashville 1964. 31  James M. Robinson, A New Quest of the historical Jesus, London 1959 introduced the New Quest to the American public, taking up the title of the English translation of Schweitzer. Only in the light of the so called “Third Quest”, however, did it become customary to speak about a “Second Quest”. – An early and ample selection of articles of the time of the “Second Quest”, written by its representatives, its opponents and by outsiders, is printed in the collection by Helmut Ristow / ​Karl Matthiae (eds.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1961. Another important collection of contributions from ca 1900 onwards is James D. G. Dunn / ​Scot McKnight (eds.), The Historical Jesus in Recent Research, Winona Lake 2005. All the texts of the latter collection are written in (or translated into) English. 32 Ernst Kaesemann, The Problem of the Historical Jesus, in: Idem, Essays in New Testament Themes, (trans. W. J. Montague, London 1964, 15–47; cf. also: Ernst Kaesemann, Blind Alleys in the ‘Jesus of History Controversy’, in: Idem, New Testament Questions of Today, London 1969, 23–65. 33 Kaesemann, Problem, 25. 34 Kaesemann, Problem, 33; cf. Kaesemann, Blind Alleys, 63 f. 35 Günther Bornkamm, Jesus of Nazareth, London 1960, 23.

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mere invention, “without authority and without reality”.36 Because, for most of the pupils of Bultmann, Jesus did not have an explicit Christology, his so called “implicit” Christology was of crucial importance for the continuity between the earthly Jesus and post-Easter christology. For Gerhard Ebeling and Ernst Fuchs, Jesus’s appeal to have faith is so vital because faith is absolute, unconditioned trust in Jesus’s power. Ernst Käsemann emphasizes the absolute, God-like authority of Jesus’s “I say to you” in the antitheses of the sermon on the Mount; Jesus’s authority here surpasses that of Moses. For all of them, the quest for the historical Jesus is a theological quest. It is a necessary interpretation of the kerygma37 or even, as Käsemann said once, a criterion for the kerygma38 which prevents it from becoming a spiritual invention. Not all representatives of the “Second Quest” share this type of kerygmatic christology “from above”. In Herbert Braun’s famous little book “Jesus”39, the basic problem of the First Quest is very much alive: How can we speak about God in a secular world? His answer is that in the life and teaching of Jesus, God does not work on humans vertically from above. Rather, poor and guilty humans have the experience of love down here on earth – through fellow humans.40 This was what Jesus did, and in this he is representative of God. In a different way, Eduard Schweizer can speak about “Jesus, the parable of God”.41 For him, Jesus did not only teach in parables, but he himself, in his whole life and death, is the parable of the otherwise inaccessible God, a parable that does not allow distant knowledge, but engages human existence. Behind Schweizer’s formulation stands the basic insight, that parabolical language and human images might be more appropriate to give testimony for the biblical God than the discursive and conceptual language of human reason. 3.2 Methodologically a whole set of criteria was applied to determine the authenticity of a Jesus-tradition, such as the criterion of multiple attestation, the criterion of coherence, the criterion of dissimilarity or difference, the criterion of Semitic language background etc.42 Not all of them are applicable to every tradition. Sometimes they even lead to contradicting results. None of these criteria is neutral and objective. But taken together – so it was hoped for – a reliable 36 Ebeling,

Theologie und Verkündigung (note 6), 81. Theologie und Verkündigung, 55: not a legitimation of the kerygma. 38 Kaesemann, Blind Alleys, 47. 39 Herbert Braun, Jesus of Nazareth. The Man and his Time, trans. Everett R. Kalin, Philadelphia 1979. 40 Braun, Jesus of Nazareth, 127–136. 41 Eduard Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes, Göttingen 1995 (English: Jesus, the parable of God, Edinburgh 1997). 42 Critical surveys about the criteria are given in Norman Perrin, Rediscovering the Teaching of Jesus, London 1967, 15–48; John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, vol. I, New York 1991, 167–195; Gerd Theißen / ​Dagmar Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Fribourg / ​Göttingen 1997, 1–19. 37 Ebeling,

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and consensual picture of the historical Jesus would emerge. This hope was, for various reasons, only partially fulfilled. One reason lies in the criterion of dissimilarity that was very important for the scholars of the New Quest. Ernst Käsemann formulates it as follows: “On a really safe ground we are only in one single case, namely when a tradition for any reason cannot be derived from contemporary Judaism nor attributed to early Christianity, especially, when Jewish Christianity has eased or turned around a tradition as being too radical”.43 It is perfectly clear – and it was also clear for Ernst Käsemann – that this criterion is much to narrow to include all Jesus-traditions. With regard to early Christianity, it was extremely suitable for Bultmann, who presupposed a fundamental discontinuity between Jesus and the kerygma. It was, however, less suitable for his students who asked for continuity. With regard to contemporary Judaism, it was suitable for most scholars of that time because most of them were influenced by the liberal tradition of nineteenth century New Testament scholarship and its vision of Jesus as a universalistic religious and ethical teacher different from the Pharisees. Moreover, the scholars of the Second Quest sought to root the kerygma of the distinctive religion Christianity firmly in Jesus of Nazareth, and this made it difficult for them to see Jesus as a pious Jew rooted in main-stream Judaism. They preferred a “different” Jesus. Other criteria have their problems and weaknesses too. For example, the criterion of multiple attestation, a seemingly sober and neutral criterion, contradicts the dissmilarity-criterion to some degree: When a Jesus-tradition was embarassing and too radical for early Christianity, suppression rather than wide attestation is to be expected. Furthermore, the criterion of wide attestation could not be very conclusive as long as apocryphal Gospels were widely neglected and as long as there was a total disagreement among scholars whether the Qtradition, the Johannine tradition, the Thomas tradition and the Markan tradition were independent from each another or not. The safest part of the criterion of multiple attestation is the agreement between sayings and narrative tradition: If something is attested by sayings of Jesus and confirmed by the narrative, we are on fairly safe ground.44 The criterion of coherence presupposes that a researcher has already a rather concise idea about Jesus and his proclamation; only then it is possible to say something about the coherence of a Jesus-tradition with the rest of the possibly authentic traditions. Therefore, coherence is valid only as a secondary criterion. In addition, it excludes the possibility that Jesus changed or developed his views. The criterion of Semitic language-background is applicable only on the sayings of Jesus and even there only occasionally.

43 Kaesemann, 44 Cf.

Problem (note 32), 37. Ernst Fuchs, Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971.

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Last but not least the little interest of the “New-Questers” in Judaism, as well their emphasis on difference, had the consequence that something like a “criterion of contextuality” played no role. Does a tradition fit to the situation of contemporary Israel-Palestine and can it be explained in the context of contemporary Palestinian Judaism? Questions like these were hardly asked by the scholars of the New Quest – in spite of the fact that in the fifties, sixties and seventies of the last century Jewish studies and Palestinian studies were exploding. This explosion, however, occurred mainly in Israel and the USA, but not on the European continent, for obvious and tragic reasons. It was left to the so called “Third Quest” to open these doors. 3.3 Other problems of the Second Quest. Vague and diverging scholarly opinions about the oral tradition presented another difficulty. How much should be attributed to the creativity of the early transmittors of Jesus-traditions? Or were the transmitters rather interested in verbal tradition and in memorizing words of Jesus?45 How faithful, how creative, how selective is memory? Research in orality was still in its infancy then and scholarly ideas about the oral transmission both in early Christianity and early Judaism were partly fanciful. It was unavoidable, that presuppositions about the oral tradition had greatly impacted scholars’ attribution of a Jesus tradtion as possibly authentic or secondary. – Another problem is that the Second Quest was almost exclusively interested in the preaching of Jesus, and not in his life, largely because of the form critics’ discovery that the narrative file of the life of Jesus in the Gospels is basically a creation of the Evangelists. This is certainly correct, but does not prohibit questions for the sequence of events in the life of Jesus. 3.4 Result. Generally one can say that the “Second Quest” for the historical Jesus, as far as Bultmann’s school is concerned, was very important theologically. However, one cannot say that it has greatly advanced our historical knowledge about Jesus. Their Jesus looked very faint and abstract, like a construction determined by the needs of the kerygma, but not like a person of flesh and blood. The most important result of the Second Quest is a new insight into the theological importance of the quest for Jesus. 3.5 The conservative, non-Bultmannian “outsiders”. For the reconstruction of the historical Jesus much more influential were some scholars who shared the theological point of departure of the Bultmannians46 but held historically much more conservative views of history. They relied more on our sources; therefore, 45 This was the basic hypothesis of Birger Gerhardsson, Memory and Manuscript, Uppsala 1961, and the Scandinavian School. 46  Cf. e. g. Joachim Jeremias who reproached Bultmann: “We are close to the point to give up the phrase: ‘the Word became Flesh’. … We have come close to Docetism, and to a mere Christ-myth.” – “The historical Jesus is not just one prerequisite of the kerygma among many, but the one prerequisite, just like the call is the prerequisite for the answer” (Das Problem des historischen Jesus, CwH 32, Stuttgart 1960, 12. 24).

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they made more substantial contributions to the historical questions. To Joachim Jeremias we owe numerous insights into the Aramaic background of the words of Jesus and into many aspects of the proclamation and the self-consciousness of Jesus.47 We owe to the Roman Catholic scholar Heinz Schürmann, who was teaching in the German Democratic Republic, numerous insights, particularily into the origin of the Lords Supper and the way Jesus interpreted his death.48 And we owe many insights to Martin Hengel and his immense knowledge of early Judaism. One of the recurring melodies of the rich music of his theological work is the statement that kerygma and history are not oppositions. The kerygma is not an invention of a history of Jesus that never existed. Rather, history and kerygma are complementary, and one never existed without the other.49 Their different historical approach was also due to their different evaluation of the authenticity-criteria. Because they were interested in the continuity between Jesus and early Christianity, and because Hengel and Jeremias had a strong interest in the roots of Jesus in early Judaism, the criterion of contextuality (only that which can be explained from the context of Palestinian early Judaism is authentic) proved important.50 In addition, for Joachim Jeremias, Semitisms, especially Aramaisms, were an important criterion for authenticity. Once more, we see the interdependence of theological background, methodological approach, and assessment of the historical Jesus. In all this, they became important fathers of the “Third Quest”.

IV. The Third Quest51 The “Third Quest” differs from the Second the “Third Quest” by being a truly historical effort.52 It started from issues that the Second Quest had neglected 47 Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971; English: New Testament Theology, London 1971; cf. Idem, Jesus und seine Botschaft, Stuttgart 1976. 48 Heinz Schürmann, Jesu ureigener Tod, Leipzig 1975; Idem, Jesus. Gestalt und Geheimnis, Gesammelte Beiträge, ed. Klaus Scholtissek, Paderborn 1994. 49 Cf. Martin Hengel, Kerygma oder Geschichte, in: Idem, Jesus und die Evangelien, Kleine Schriften V, Tübingen 2007, 289–305 (the text was written in 1971). 50 Cf. Joachim Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, Leipzig 1923–1937; 3rd ed. Göttingen 1959. For Martin Hengel special references are not necessary. 51 Some important monographs representing different tendencies of the “Third Quest” are the following: Dale C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis 1998; Dale C. Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010; John D. Crossan, The Historical Jesus: The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991; John D. Crossan, Jesus. A Revolutionary Biography, San Francisco 1994; James D. G.  Dunn, Jesus Remembered. Christianity in the Making I, Grand Rapids 2003; Sean Freyne, Jesus. A Jewish Galilaean, London 2004; Richard A. Horsley, Jesus in Context, Minneapolis 2008; Craig S. Keener, The Historical Jesus of the Gospels, Grand Rapids 2009; John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, vol. I New York

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or where it was biased: The question of sources was reopened. The question of Jesus’s contexts became an issue of primary importance. Political and social history, archaeology, ethnology, anthropology and psychology became tools to contextualize Jesus as a Galilean Jew of the first century. The question of the Jewishness of Jesus became a matter of primary importance.53 Different from the First and the Second Quest, the Third Quest is a truly international effort: Anglosaxon scholars, particularily scholars from the USA, play a leading role; Jews, Christians, humanists, agnostics made important contributions. Because my primary interest is a theological one, I cannot give a detailed report on the historical debates. I concentrate on some major points of discussion and mark some main tendencies. 4.1 Literary Sources. In the beginning of the “Third Quest”, the interest turned away from the canonical gospels, particularily to the “fifth Gospel”54, the noneschatological Gospel of Thomas, which was seen as independent from the Synoptic Gospels by many scholars. For many, other non-canonical gospels, like the 1991; vol. II 1994; vol. III 2001; vol. IV 2009; Ed P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985; Ed P. Sanders, The Historical Figure of Jesus, London 1993; Jens Schröter; Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, BG 15, Leipzig 2006; Wolfgang Stegemann, Jesus und seine Zeit, BE 10, Stuttgart 2010; Gerd Theißen  / ​Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996; Gerd Theißen, Jesus als historische Gestalt, FRLANT 202, Göttingen 2003; Geza Vermes, Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels, London 1973; Geza Vermes, Jesus and the World of Judaism, London 1983; Geza Vermes, The Religion of Jesus the Jew, London 1993. 52 For most representatives of the “Third quest” “historical” does not simply mean “corresponding to the historical facts”, so that everything which is not “historical” is a “great fraud” – this is the conviction of Gerd Lüdemann, Der grosse Betrug: und was Jesus wirklich sagte und tat, Lüneburg 1998, who shares it with Reimarus, who wrote 230 years ago. A more differentiated and modern view is presented by John P. Meier who starts the first volume of his “opus maximum” with the paradox: “The historical Jesus is not the real Jesus. The real Jesus is not the historical Jesus” (A Marginal Jew, vol. I, 21). Why not? Historical reconstructions are always interpretations, i. e. constructions of historians on the basis of casual and fragmentary data. A truly scholarly presentation of the life and teaching of the “historical Jesus” cannot be more than the attempt to reach a provisional consensus in the dialogue of historians with different backgrounds, and this consensus will serve as a common starting point for new dialogues. In this sense J. P. Meier “propose(s) the fantasy of an ‘unpapal conclave’: a Catholic, a Protestant, a Jew, and an agnostic … are locked up in the bowels of Harvard Divinity School library, put on a spartan diet, and not allowed to emerge until they have hammered out a consensus document on Jesus of Nazareth” (Meier, A Marginal Jew, vol. II, 4 f). But maybe even this is a too high expectation. 53 The earlier Jewish contributions to the quest about the historical Jesus were hardly given the weight they deserve by the Christian scholars of the “Second Quest”. This is particularily true for Abraham Geigers important contribution in the nineteenth century: Abraham Geiger, Das Judentum und seine Geschichte, Breslau 21865; and in the 20th century for Joseph Klausner’s magisterial book: Joseph Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930 (orig. in Hebrew). 54 Robert W. Funk / ​Roy W. Hoover and the Jesus Seminar, The Five Gospels, San Francisco 1993; cf. Stephen J. Patterson / ​James M. Robinson, The Fifth Gospel: The Gospel of Thomas comes of Age, Harrisburg 1998.

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“Secret Gospel of Mark”, were thought to be important and early source-texts. Early, non-eschatological layers of the Sayings Source Q were reconstructed. The Gospel of Thomas and the so called “Gospel of the Cross”, a source text of the Gospel according to Peter, were believed by many to have a first century origin.55 Most of these hypotheses have lost their attractiveness today, even in the USA. A wide consensus has emerged that our canonical gospels remain by far the most important source-texts for the historical Jesus.56 By “canonical Gospels”, I mean the four canonical Gospels: Although most scholars do not deny that the Fourth Gospel has developed its own spiritual vision of Jesus and presents a quite special form of “Jesus-language”, which is very different from Jesus’s own way of speaking, there is a growing consensus that the Fourth Gospel also contains many historically valid traditions about Jesus, particularily from the South, from Jerusalem and Judea.57 Increasingly not only single narrative traditions, but also the narrative frame of the Gospels are taken as a source for historical insights. 4.2 Contextualizing Jesus. There is a general agreement today that Jesus’s social background was the lower classes of agricultural upper-Galilee, but that his family did not belong to the poorest of the poor. Less agreement exists about the Galilean background of Jesus: Most scholars agree that there is no special “Galilean Judaism” – but the Galilean background of Jesus remains important. Jesus lived in a rural area; his preaching and life resonates with his local58 and social contexts.59 Archaeology has been taken very seriously, particularily by American scholars who added new insights to our knowledge of the life in Galilean villages and towns.60 Methods of social science, cultural and ritual studies, and social anthropology were applied in order to shed new light upon other aspects of the “contextual Jesus”.61 55 An influential book propagating the importance of the apocryphal gospels was Helmut Koester, Ancient Christian Gospels. Their History and Development, Philadelphia 1990. For the so called “Cross-Gospel” cf. John D. Crossan, The Cross that Spoke. The Origins of the Passion Narrative, San Francisco 1988. Their basic hypotheses were taken over by many members of the “Jesus Seminar”. 56 Cf. Theißen / ​Merz, Der historische Jesus (note 51), 96–120; Keener, Historical Jesus, 71–161. For a very conservative position see Richard Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids 2006. 57 Cf. James H. Charlesworth, From Old to New: Paradigm Shifts concerning Judaism, the Gospel of John, Jesus and the Advent of ‘Christianity’, in: James H. Charlesworth / ​Petr Pokorny (eds.), Jesus Research, Grand Rapids 2009, 56–72. 58 Cf. Freyne, Jesus (note 51), and Sean Freyne Galilee, Jesus and the Gospel: Literary Approaches and Historical Investigations, Philadelphia 1988. 59 Cf. Horsley, Jesus (note 51), 20–34. 60 Cf. James H. Charlesworth (ed.), Jesus and Archaeology, Grand Rapids 2006; Carsten Claussen / ​Jörg Frey (eds.), Jesus und die Archäologie Galiläas, BThS 87, Neukirchen 2008. 61 Cf. Wolfgang Stegemann / ​Bruce J. Malina / ​Gerd Theißen (eds.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002.

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4.3 Jesus as a Jew. “A result of two hundred years historico-critical Jesusresearch is the discovery: Jesus is part of Judaism. Only after his death did he become founder of Christianity”.62 This statement of Gerd Theißen expresses a general consensus. An especially important point of the consensus is that Jesus did not abolish the Torah. Open questions are: What is the place of Jesus within Judaism? Is he close to the Pharisees, inspite of the harsh debates with Pharisees narrated in the Gospels, as many Jewish scholars since the nineteenth century have suggested?63 For Geza Vermes, he is a charismatic exorcist and healer like Hanina ben Dosa.64 For John Dominic Crossan, he is a Jewish peasant, propagating an open, inclusive form of Judaism, something like a Jewish variant of a cynic philosopher, or even an antic variant of a hippie.65 For Dale Allison, he is a Millenarian ascetic, understandable only from the background of worlddenying Apocalypticism.66 For Marcus Borg he is a Jewish mystic – whatever that means.67 For Richard Horsley he is a representative of popular Jewish resistance movements opposed to the educated elite.68 Other questions are: Is Jesus a central or a marginal Jew?69 According to Gerd Theißen, Jesus “is a marginal Jew in his style of life and in his ethical radicalism, but he is a central Jew with regard to his basic beliefs.”70 It is evident that the discussion about Jesus’s Jewishness depends on each scholar’s interpretation of contemporary Judaism, e. g. whether it is rather seen as a religion or as an ethnicity, whether the emphasis lies on common Judaism or on special movements within Judaism etc. There is no consensus in this respect, but one thing is clear: Jesus was a very distinct, in many respects a unique Jew within Judaism.

62 Gerd

Theißen, Jesus im Judentum, in: Jesus als historische Gestalt (ed. Annette Merz), FRLANT 202, Göttingen 2003, 35. 63 That Jesus was close to the Pharisees is a pointed thesis advocated by many (liberal!) Jewish scholars for whom the Pharisees were close to main-stream Judaism. Cf. Geiger, Judentum (note 53), 116–119; Klausner, Jesus (note 53), 161 f; David Flusser, Jesus, Reinbek 1968, 51–57; Schalom ben Chorin, Bruder Jesus, München 1967. 19–23. 64 Vermes, Jesus the Jew (note 51), 58–82. 65  Crossan, Historical Jesus (note 51), 421. 66 Allison, Jesus (note 51), 172–219; cf. also Bart D. Ehrman, Jesus, Apocalyptic Prophet of the New Millenium, Oxford 1999. 67 Marcus J. Borg, Jesus. A New Vision, San Francisco 1987. 68 Horsley, Jesus (note 51), esp.169–204. 69 An example of the first view is Sanders portrait of Jesus as representative of “Jewish restoration eschatology” that fits well into mainstream Judaism (cf. the survey in Sanders, Jesus and Judaism (note 51), 326 f). Contrarily, J. P. Meier calls Jesus a “marginal” Jew, but his intention is not to say that Jesus is somewhere near the borderline between Jews and Non-Jews, but that he was marginalized in several ways: he was not a “key-figure” of Judaism but for most of the leading Jews rather a side-figure, he “marginalized himself” through his life-style and some of his teachings, he was a poor layman and not a scribe, he suffered a shameful death (cf. Meier, A marginal Jew I (note 51), 6–9). 70 Theißen, Jesus im Judentum (note 62), 55 f.

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4.4 Eschatology. The old debate whether Jesus’s roots are sapiental or prophetic still goes on. In other words, was a transworldly eschatology of the coming kingdom fundamental for him or not? This debate is related to the question of sources. Those who see the Gospel of Thomas as an important and early source text and those who contend that the Sayings-Source Q got an strong apocalyptic and eschatological colouring only in the later stages of its development, will tend to minimize the importance of eschatology. Among them are the scholars of the Jesus-Seminar, notably John Dominic Crossan. Those who give preference to the canonical gospels favor an interpretation of Jesus teaching, in which eschatology is central. Among them are Ed P. Sanders, John P. Meier, Dale C. Allison and Craig Keener. At present, one gets the impression that the high-tide of the uneschatological Jesus of the Jesus-Seminar is over. 4.5 Jesus’s understanding of his own mission. There is a growing tendency to emphasize Jesus’s unique claim for authority. A majority of scholars would accept today that Jesus used the expression “the Son of Man” referring somehow to his own person and mission, not or not only as an Aramaic circumlocution of “a human being” or “I”. The way Jesus combines the coming of the kingdom of God with his own mission and person seems to be a unique phenomenon in ancient Judaism. Many scholars speak again about a “messianic claim” of Jesus in an open and untechnical sense.71 To speak about an “implicit Christology” of Jesus is not enough; there is an obious shift towards a greater continuity in the field of Christology. Post-Easter Christology seems to have Pre-Easter roots. Nonetheless, it is obvious that Jesus did not formulate his claim in a way that would correspond directly to a traditional Jewish Messianic pattern or to a traditional Messianic title.72 4.6 The death of Jesus as part of his mission.73 For Bultmann Jesus’s death was accidental. I hardly know anybody today who would still hold this position. It is striking that in almost all books about Jesus, the chapter about his death goes beyond a mere reconstruction of the events. For most authors, Jesus clearly did not do anything to escape his death – quite the opposite: he wanted to die. Then his death must have had a meaning for himself. However, there is no consensus

71 Cf.

Sanders, Historical Jesus (note 51), 248: Jesus saw himself as “viceroy”. God was king, but Jesus represented him and will represent him in the coming kingdom. Jörg Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: Jens Schröter / ​Ralph Brucker, Der historische Jesus, Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002, esp. 299–313: If Jesus had no ‘messianic’ claims at all, it would be difficult to understand why he was sentenced to death as “king of the Jews”. Cf. also Keener, The Historical Jesus (note 51), 256–268. 72 But perhaps contemporary Jewish Messianic expectations were not the clear and distinctive concepts that we often think they are. 73 Cf. Ulrich Luz, Warum zog Jesus nach Jerusalem?, in: Schröter / ​Brucker, Der historische Jesus, 409–428 (in this volume Nr. 7).

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about the problem of how Jesus interpreted his death, in particular, no consensus exists as to whether he interpreted it to have an atoning function. 4.7 Orality. James D. G. Dunn’s great book “Jesus remembered”74 has helped a lot to clarify the importance of the oral tradition. Most important for the sayings-tradition and a blow against classical “Formgeschichte”, is his insight that the oral tradition subverts the idea of an “original”.75 According to him, the oral tradition does not provide an access to a “historical” Jesus, but only to Jesus as he was remembered by his disciples. He was remembered only insofar he made an impact on the people around him.76 Consequently, it is impossible to separate the “historical Jesus” from post-Easter faith, because all traditions about the earthly Jesus are the result of the impact Jesus has made on the transmitters. In Dunn’s own summarizing words: “A characteristic and relatively dinstinctive feature of the Jesus tradition is most likely to go back to the consistent and distinctive character of the impact made by Jesus himself.”77 In other words, if there was not a basic continuity, there would be no tradition. For Richard Horsley, the communal aspect of the oral tradition is most important: Jesus must not be seen as an individual religious genius, but as a leader of a popular movement belonging to popular oral culture.78 4.8 New tendencies in methodology. The Third Quest has opened new dimensions in debates on method.79 The criterion of dissimiliarity, in particular, was attacked. I will summarize the most important results. Gerd Theißen and Dagmar Winter, in an important monograph80, proposed to supplement the criterion of dissimiliarity by a criterion that they call “criterion of plausibility”. It has two aspects. One is the plausibility of the context: “What Jesus aimed at and said, has to be compatible with Galilean Judaism of the first half of the first century C. E.”81 The other aspect is what they call “plausibility of effective history”: The chance of authenticity is greatest for traditions that early Christian sources transmit even if they are contrary to their own tendencies. The second innovation is what James D. G. Dunn calls the criterion of charactericity: “Any feature that is characteristic within the Jesus tradition, even if only relatively distinctive of the Jesus tradition, is most likely to go back to 74 Cf.

note 51. Cf also James D. G.  Dunn, A New Perspective on Jesus, Grand Rapids 2005. A New Perspective, 50 f. 96–98. 76 Dunn, Jesus remembered, 882 f. 77 Dunn, Jesus remembered, 884. 78 Horsley, Jesus (note 51), 56–145. 79 Cf. also Meier, A Marginal Jesus I (note 51), 167–195; Bruce Chilton / ​Craig A. Evans (eds.), Authenticating the Words of Jesus, NTTS 28/1, Leiden 1999, esp. 3–80; Bruce Chilton / ​Craig A. Evans (eds.), Authenticating the Activities of Jesus, NTTS 28/2, Leiden 1999, esp. 3–58. 80 Theißen  / ​Winter, Kriterienfrage in der Jesusforschung (cf. note 42). Cf. also: David S. du Toit, Der unähnliche Jesus, in: Schröter / ​Brucker, Der historische Jesus, 89–129. 81 Theißen  / ​Winter, Kriterienfrage, 216. 75 Dunn,

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Jesus”.82 This criterion – basically a developed version of the criterion of coherence – would replace the criterion of dissimilarity with respect to Judaism: “Characteristic” means important in the Jesus-tradition, regardless whether it is different from or central to contemporary, mainstream Judaism. In the same time it emphasizes the continuity between Jesus and the early Christian Jesus-tradition: What is characteristic for Jesus was transmitted because it was remembered. Although extensive comments on this issue cannot be offered now, one must remember that all methodological criteria are never absolute but in continuous development. The dominant tendencies of research, their results, and the methodological criteria are interdependent. All historical methods are an open set of scholarly tools that require constant reflection and development. The quest for the historical Jesus is a key-example for this. 4.9 Theological profits of the Third Quest. In the beginning of this section, I claimed the Third Quest is a truly historical quest. If I now ask after its theological value, the answer is difficult. The scholars participating in the debate are Jews, Christians of all denominations, humanists, atheists, scholars of religious studies, as well as theologians. Their common interest is in Jesus as a key figure of humanity. In many respects, the “Third Quest” reflects the changed situation of society in the West: our open society, the increasing importance of interreligious and particularily Jewish-Christian dialogue, and the decreasing centrality of Churches and theologies, who have become one of many partners in an open dialogue. In our societies Jesus ceases to be the exclusive possession of the Churches. In my opinion, the theological profit of the “Third Quest” is primarily an indirect one. Let me mention the following two points: 1. The first one is the rediscovery of the contextuality of Jesus. Jesus in the “Third Quest” is a man of the past. He lives in a different time and in a different culture from ours. In this respect, he is fully human. It has become more difficult to “transfer” Jesus to one’s own life or to adapt him for one’s own faith. In many respects, he remains a stranger for us; indeed, even his faith in God remains strange for us in many respects.83 Therefore, we cannot and should not try to legitimize our Christianity by direct appeal to Jesus. Rather, we have to transform consciently the historical Jesus into our Jesus and take the responsability for this transformation. This is exactly what the author of the Fourth Gospel did. After him the Fathers of the Christological dogma have consciently transformed Jesus, as did Albert Schweitzer centuries later. This is the task of our theologies.84 82 Dunn,

New Perspective (note 74), 69. in his preaching of the Final Judgement. 84 Geza Vermes ends his last book about Jesus: The Changing Faces of Jesus, London 2000, with a dream. Jesus returns to earth – at the beginning of the third millenium – and adresses 83 E. g.

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2. The second point is the rediscovery of Jesus as a Jew. It is a strange situation for us Christians to realize that our saviour was a Jew who did not intend at all to become founder of a new religion called Christianity. Whatever that means, we have to share Jesus with Israel. We have to realize that, at best, we are adopted children of the God of Israel. We have no monopoly on God; rather we are like the dogs under the table who eat the children’s scraps (Mark 7:27). Whatever that means for our understanding of the church and for our relation with Israel, this insight of the “Third Quest” should make us modest. And modesty is always good.

V. Conclusions During the last 240 years an amazing number of books about Jesus has come out. Their number has not diminished, in spite of the fact that the influence of the churches in the West has diminished substantially. Originally, the quest for Jesus was mainly a Protestant phenomenon. Protestants wanted to regain their Christian identity after the collapse of the traditional Christian dogma in the intellectual paradigm-shift of Enlightenment. They wanted to regain the foundation of their faith in God after the collapse of the traditional metaphysics whose summit was God. Today, the quest for Jesus is no longer merely a Protestant or even a Christian quest, but it remains a quest that has something to do with our identity. In almost all cases, the quest for Jesus is not merely a historical quest. I am amazed to what extent Jesus remains the most important projection-surface for people’s religious identity, even in the Post-Christian or at least Post-Ecclesial context of many countries in Western Europe. From the moment when the human Jesus was freed by historical criticism from the normative interpretationframe of the Church, he became the victim of projections of the questers’ own religious identity, which they wanted to legitimize through Jesus. This is the reason why the character of the historical Jesus changed so much according to the theological identity of the different questers. This is the reason why we can distinguish between the Jesus of radical – I would say – “fundamentalist” – “Enlighteners” like Reimarus or Lüdemann, the liberal Jesus of the nineteenth century, the mystical Jesus, the rather bloodless Jesus of the kerygmatic theologians, the revolutionary Jesus of 1968, Jesus the ideal man or Jesus a Jewish, a Christian and a post-religious public. To the Christians he says: “ … I feel I must exhort you to rely more on yourselves, on your own insights – you may call it the voice of the Holy Spirit – on your strength and goodness. You have been told to expect everything from me … Don’t forget the Kingdom of God is always at hand. Get on with it at once. You can do it, on your own, as you are children of our Heavenly Father who alone is God, blessed forever … You used to blame my Jewish brethren for turning the spirit into the letter. Aren’t you doing the same?”

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the psychotherapist,85 the uneschatological preacher or cynic hippie philosopher of sunny California, the advocate of the poor of Liberation theology, the pious Son of God surpassing all contemporary Jewish teachers of Pope Benedict,86 and even – as I have discovered in our library to my surprise – “Jesus in blue jeans”, meant as a “guide for everyday-spirituality”, and “Jesus CEO”, inspiring managers for “visionary leadership”, two books written, incidentally, by the same author.87 The deficiency and the disputed authenticity of our sources invites many kind of projections. We know well today – and after the linguistic turn we know it even better – that all “faces of the historical Jesus” are constructions of their authors and never direct representations of historical reality. Naturally, not all books on Jesus are of this kind. For many researchers, the face of Jesus resulting from their research was only partly or not at all an expression of their own religious identity. Albert Schweitzer, Johannes Weiss, or, when I take a recent exemple, the charismatic Jew Jesus of Geza Vermes are wonderful examples to demonstrate that it is possible that historical research can result in an image of Jesus that is at least partially contrary to one’s own wishes and useless as the direct foundation of one’s own piety. Nonetheless, the danger of the “trap of wishfulness” persists in historical research. Or to put it in another way, the “criterion of dissimilarity” – John Meier called it the “criterion of embarassment”88 – applied not to contemporary Judaism or early Christianity, but to the wishes of an author of a book on the historical Jesus himself or herself, is a very important criterion for his or her seriousness and relyability. How can we avoid the trap of our own wishes? I think we never can fully avoid it, because it is always we who interpret Jesus, but only partially, as much as possible. For this, in my view, two principles are necessary. The first is the principle of dialogue. Serious Jesus-research is a constant dialogue between us and our sources: In this dialogue we have to become conscious of our own situation, our cultural and theological background, our inherited biases and correspondingly our wishes. And with this in mind, we have to interrogate our sources and to open our eyes in particular for those features that are embarassing for us. And naturally, we have to be in constant dialogue also with our collegues, in particular those coming from other theological, ecclesiological and cultural traditions, and their views of Jesus. The second is the principle of relativity. We have to be aware of the fact that all our results and all our views of Jesus are relative, provisional and open to revi85 Hanna Wolff, Jesus der Mann, Stuttgart 1975; Hanna Wolff, Jesus als Psychotherapeut, Stuttgart 1978. 86 Joseph Ratzinger Benedikt XVI, Jesus von Nazareth, vol. I, Freiburg etc. 2007; vol. II 2011; vol. III 2012. 87 Laurie B. Jones, Jesus CEO: Using ancient wisdom for visionary leadership, New York 1995; Laurie B. Jones, Jesus in blue jeans: a practical guide to everyday spirituality, New York 1999. 88 Meier, Marginal Jew I (note 51), 168–171.

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sion. This is embarassing, because Jesus is our mediator to God, the guide of our faith in God. When Jesus, who is for us the way and the truth, is available only in the form of very relative human constructions, we cannot avoid the conclusion that our own faith, too, is affected by this relativity. God is never relative, but our human views and interpretations of him – and likewise our convictions of faith – always are. This insight may be the most important benefit we can gain from the quest for the historical Jesus. With this I have reached the theological center of the meaning of the quest for the so called “historical” Jesus. We started from the Chalcedonian dogma saying that theologically the quest for the “historical” Jesus has no other task than to discover the true God through the human Jesus under our modern conditions of thinking. We have used the Chalcedonensian dogma as a kind of guideline for our journey along the different quests for the historical Jesus. What is its result? Concerning the humanity of Jesus, we have found a great variety of human reconstructions of the historical Jesus, some more, some less plausible, some compelling in their interpretations, others through their austerity, some rather like novels. However, all of them are relative, human reconstructions – not more than this. Concerning the divinity, the result is even less. We have gained insights into the proclamation of God by the human Jesus, into his life with God, insights into the verbalisation of his relation with God – all this mirrored through human interpretations of human scholars. God is only available in the form of human interpretations. This is not a very solid rock to build a personal faith or even the faith of a church upon. Jesus-research resembles a very rugged and rocky landscape, well-nigh impossible to survey. Still, I think it is a gain, particularily for those numerous people for whom the Chalcedonian dogma is far away and who do not speak its language any more. What have we gained? If I interpret human life as a way to God, we have received glimpses on a relyable companion on this way, a man of flesh and blood, a Jew, who is neither a Christian nor a theologian, a man who is definitely different from us. Jesus research strives to maintain this difference and to prevent Jesus from becoming the embodiment of our own ideals and wishes or from becoming a mythological projection. On our way to God we can dialogue with this human companion of flesh and blood, with the Jew Jesus. In this dialogue our companion can introduce us into his own life with God and into his own God-language – the narrative, parabolical and metaphorical language of the Bible. We will realize that he lived in a situation which is different from ours, and this will encourage us to find our own perspectives and to go our own way. On our journey we will also find other people who walk with the same companion; we are on a common way with them. It is natural that they see this companion differently than we do, but since it is the same companion we will exchange our views about him and like this revise and widen our own horizons. Jesus, as a historical basis of Christian

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faith, is in the same time the basis of community among Christians that would neither be possible nor necessary without him.89 We might also discuss what this companion Jesus means for us: Maybe he is for us a kind of spiritual leader to God or a representative of God’s presence with us, and then a new understanding of biblical Christ-language, like ἀρχηγός or “Immanuel”, will be possible.90 Let me mention another chance of modern Jesus-research: In many European countries, the churches are no more in the market-places of society, the agora, where in antiquity people met, discussed, sold and bought, learned and tought. They are no longer in the mainstream of life of our societies. Their doors are open, but only a few people go in. Jesus, however, is in the market place. He is a public figure; many people discuss with and about him and identify through him. In the market place he is not an exclusive possession of any Christian Church. Jews, Christians of all colours, humanists, followers of other religions meet in the market-place of our societies in order to talk with Jesus. There, he is accessible through the secular methods of historical research, and no special revelation or confession of faith is required in order to get acquainted with him. In the market place of our secularized and pluralistic societies Jesus is present as a missionary for God, even when Christian Churches to a large extent have ceased to be effective missionaries for Christ and God. This is not an insignificant gain that we owe at least partly to modern research on the historical Jesus.

89 Ernst Troeltsch, in his 1911 paper about the significance of the historicity of Jesus for Christian faith (note 23), made a statement prophetic for our Western European situation. He spoke about the religious growing religious individualism that accompanies the dissolution of the faith into Christ and “that does not know what to do with community, church, cult and sermon … In any case it will be impossible to retain in the field of religion an individualism that one is forced to overcome in all other fields of life. Like this the energies of religion will be shattered, they will evaporate and get tired. There will be again a strong break-through of the need for community and cult – if inside our present churches or apart from them, is another question” (Troeltsch, Bedeutung der Geschichtlichkeit, 46 f). 90 It is one of the explicit goals of many books belonging to the “Third Quest” to bring different views of the “Jesus” into a dialogue with each-other, e. g. Schröter, Jesus von Nazareth (note 51), 361: “Historical criticism does not lead us to the ‘real’ Jesus. But it teaches us to understand how different images of Jesus came into being.”

3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“ Was ist das Verhältnis des Matthäus zu dem, was wir heute „historische Wahrheit“ nennen? In welchem Sinn kann sein Evangelium als „Geschichtsschreibung“ verstanden werden? Würde Matthäus überhaupt verstehen, was wir heute meinen, wenn wir nach dem „historischen Jesus“ fragen? Um solche Fragen zu klären, müssen wir das matthäische Verständnis von „Geschichte“ und „,historischer‘ Wahrheit“ mit antiken und mit heutigen Konzepten von „historischer Wahrheit“ vergleichen. Im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes möchte ich mich dem matthäischen Verständnis von „,historischer‘ Wahrheit“ in seiner Jesusgeschichte annähern. Das Ergebnis dieses Abschnittes wird sein, dass Matthäus zugleich ein sehr traditionsbezogener Autor ist, aber zugleich auch die von ihm erzählte Jesusgeschichte durch offenkundige, ihm wohl auch bewusste Fiktionen anreichert (I). Im zweiten Abschnitt möchte ich Matthäus mit modernen und einigen antiken – griechischen und biblischen – Konzepten von „Geschichtsschreibung“ vergleichen. Das Ergebnis dieses Abschnittes wird sein, dass Matthäus sich von der Art und Weise unterscheidet, wie antike Geschichtsschreiber „geschichtliche Wahrheit“ verstehen, aber biblischer Geschichtsschreibung relativ nahe steht, vor allem denjenigen biblischen Büchern, welche Israels Grundgeschichte erzählen. Blickt man auf gegenwärtige Konzepte der Geschichtsschreibung, so ist das matthäische Verständnis ‚historischer‘ Wahrheit nicht völlig verschieden von historiographischen Konzepten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem linguistic turn (II). Aber es ist völlig verschieden vom Verständnis ‚historischer‘ Wahrheit, das in den meisten Büchern des Third Quest zum historischen Jesus vorherrscht. Der Third Quest scheint von heutigen Theorien der Geschichtsschreibung kaum berührt zu sein! In den Schlussabschnitten dieses Aufsatzes versuche ich unter dem Titel „Matthäus und der historische Jesus“ die Ergebnisse zu bündeln (III).

I. Matthäus, ein Historiker? Celsus wirft den Verfassern der Evangelien vor, Fiktionen geschrieben zu haben, von denen sie selbst wohl wussten, dass sie nicht wahr seien.1 In gewisser Weise 1 Ἑγνωκότας

ὅτι οὐκ ἀληθῆ τὰ πλάσματα (Origenes, Cels II 26).

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ist dieser Vorwurf berechtigt. Die Evangelien sind keine Geschichtsberichte, denen es auf Faktentreue ankommt – höchstens für Lukas mag das in einer gewissen Weise gelten. Auf drei sehr grundsätzlichen Ebenen wird in ihnen das Ideal eines faktentreuen Geschichtsberichtes durchbrochen: 1. Theologisch berichten die Evangelien nicht einfach über vergangene Ereignisse, sondern sie erzählen die Geschichte des „geschichtlichen biblischen Christus“ bzw. die „Jesus-Christus-Geschichte“.2 Ihre Jesusgeschichte ist oft eine „inklusive Geschichte“ in dem Sinn, dass die vergangene Geschichte Jesu transparent ist für gegenwärtige Erfahrungen der Leserinnen und Leser mit ihrem auferstandenen Herrn oder für Erfahrungen der Gemeinden in ihrer nachösterlichen Geschichte.3 Dies wird möglich, weil der Protagonist ihrer Geschichte, Jesus, zugleich eine Gestalt der vergangenen Geschichte und der gegenwärtige auferstandene Herr ist, der seine Gemeinde begleitet bis ans Ende der Welt (Mt 28,20). 2. Die Formgeschichte hat gezeigt, wie Einzeltraditionen über Jesus im Prozess ihrer mündlichen und ihrer schriftlichen Überlieferung immer wieder neu und anders erzählt wurden. Sie wurden mannigfacher Weise erinnert, überliefert, aktualisiert, gebraucht, zensuriert und erweitert. „Erinnerungen“ sind immer aktualisierte, adaptierte, zensierte, erweiterte oder verkürzte Erzählungen. „Erinnerung“ ist also zugleich ein traditionsorientierter und ein kreativer Akt.4 Grundsätzlich gilt das für die mündliche und die schriftliche Überlieferung. Beide gehören in der Jesustradition eng zusammen: Mündliche Überlieferungen wurden schon sehr früh schriftlich festgehalten, um weitergegeben werden zu können. Schriftliche Überlieferungen waren aber immer der Ausgangspunkt neuer Vermündlichungen und Aktualisierungen. Sie wurden zudem laut gelesen; von den meisten Menschen wurden sie gehört und nicht gesehen. 3. Während dies eine Allgemeingut gewordene Erkenntnis ist, hat man viel weniger beachtet, dass auch der narrative Erzählungsfaden der Jesusgeschichte in den Evangelien immer wieder neu entworfen wurde. Nur die Eckdaten ([Geburt] – Johannes der Täufer – Jerusalemaufenthalt – Tod und Auferstehung) blieben stabil. An den synoptischen Evangelien lässt sich das schön beobachten: Die markinische Geschichte Jesu wurde durch die späteren Evangelisten zum Teil oder ganz neu arrangiert, aber immer als „Geschichte“ Jesu erzählt.

2 Die Formulierung stammt von Eckart Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven, Forum ThLZ, Leipzig 2003, 59–63, Zitat: 59. 3 Letzteres gilt nur für Markus, Matthäus und Johannes. Vgl. zu Matthäus David V. Howell, Matthew’s Inclusive Story, JSNT.S 42, Sheffield 1990; Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK 1/1, Neukirchen / ​Düsseldorf 52002, 36 f. 4 Vgl. James D. G.  Dunn’s Beschreibung der mündlichen Tradition als „combination of stability and flexibility“ (Jesus Remembered, Grand Rapids 2003, 254).

3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“

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Bei Matthäus wird das an seinen narrativen Fiktionen deutlich.5 Ich fasse die Hauptpunkte zusammen, ohne in Einzelheiten zu gehen. Ι. 1 Beispiele matthäischer Fiktionen 1. Matthäus stellte seiner Jesusgeschichte den Prolog voran (1,2–4,16).6 Er hat eine doppelte Funktion: Er erzählt einerseits den Anfang der Jesusgeschichte und nimmt andererseits den ganzen Weg Jesu von Betlehem, der Stadt Davids (2,6) ins „Galiläa der Heiden“ (4,15; vgl. 28,16–20) vorweg.7 2. Matthäus komponierte die fünf grossen Reden Jesu, die er an ihrem Ende mit der Formel ἐγένετο ὅτι ἐτέλησεν (es geschah, als er beendet hatte) kennzeichnete. Sie wenden sich direkt an die Leser / ​innen in der Gegenwart des Matthäus. Ihr Kompositeur / ​Autor, der Evangelist Matthäus, muss gewusst haben, dass sie nicht in dieser Weise von Jesus gesprochen worden waren, denn er selbst hat sie aus verschiedenen Quellen entnommen und nach thematischen Gesichtspunkten komponiert. 3. Matthäus war es auch, der die kürzeren Reden Jesu komponierte. Unter „kürzeren Reden“ verstehe ich einige andere Reden Jesu im Matthäusevangelium, die nicht durch eine besondere Formel an ihrem Ende markiert sind. Sie sind allerdings nicht in jedem Fall kürzer als die „grossen“ Reden. Solche kürzeren Reden sind Mt 11,7–19(30); 12,22–37(50); 21,28–22,14 und 23,1–39. Auch sie hat der Evangelist aus Markus‑ und Q-Stoffen komponiert. Auch in ihrem Fall muss sich der Evangelist darüber klar gewesen sein, dass Jesus sie nicht in der Weise gesprochen haben konnte, wie er, der Evangelist, sie arrangierte. Ihr fiktiver Charakter ist umso auffälliger, als diese „kürzeren Reden“ sich nicht direkt an die gegenwärtigen Leser / ​innen des Evangeliums wenden, sondern Reden „innerhalb“ der Geschichte Jesu sind. In diesen Reden interpretiert Jesus selbst seine eigene Geschichte, so wie sie vom Evangelisten konzipiert ist, und bringt zugleich den „plot“ dieser Geschichte voran. 4. Mt 8,1–9,34 ist ein besonders auffälliges Beispiel für die matthäische Fiktion eines Erzählungsablaufs. Dieser Abschnitt, in dem der Evangelist die heilende Tätigkeit des Davidsohns Jesus in seinem Volk erzählt, wurde bekanntlich vom Evangelisten komponiert, indem er zwei Erzählungsabschnitte 5 Unter

„narrativer Fiktion“ verstehe ich eine Erzählung, die keinen Anspruch auf Re­fe­ ren­tialisierbarkeit erhebt. Unter „narrativen Fiktionen innerhalb einer Geschichtserzählung“ verstehe ich – ganz vorläufig und an den Kategorien der von der Aufklärung geprägten neuzeitlichen Historiographie orientiert – Erzählungen, die sich an der geschichtlichen „Wirklichkeit“ des Berichteten nicht verifizieren lassen. 6 Im Unterschied zu Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 3), 34 f würde ich heute den Prolog mit 4,16 enden lassen. Der programmatische Vers 4,17 entspricht dem programmatischen Einleitungsvers zum zweiten narrativen Hauptblock (16,21) sehr deutlich. 7 Vgl. Ulrich Luz, Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?, in: Stephen Chapman u. a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, BThSt 44, Neukirchen 2001, 56–58 (in diesem Band Nr. 19).

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aus Markus (Mk 1,29–2,18; 4,35–5,43), zwei zusätzliche Wundergeschichten aus Q (Q 7,1–10; 11,14 f), eine Wundergeschichte aus einem anderen Teil des Markusevangeliums (10,46–52) und einen weiteren Q-Text (Q 9,57–60) miteinander verband. Er verband sie so, dass eine fast völlig neue Erzählsequenz entstand. Aber das Erstaunlichste ist, dass er dieses ingeniöse patch-work aus seinen beiden Quellen so gestaltete, dass daraus eine zeitlich und geographisch geschlossene Sequenz entstand. Mit anderen Worten: Es sieht nun bei Matthäus so aus, als ob Jesus am Anfang seiner Wirksamkeit, nach seiner programmatischen Rede, ununterbrochen Kranke und Besessene im Volk Israel geheilt hätte. Matthäus muss sich darüber klar gewesen sein, dass er selbst es war, der diesen Ablauf der Jesusgeschichte schuf und dass dieser Ablauf in diesem Sinne eine Fiktion war. Er fingierte ihn, um zu zeigen, dass Jesus, der Davidsohn und Messias Israels, wirklich „jede Krankheit und jedes Gebrechen in seinem Volke heilte“ (4,23; vgl. 9,35). So wird die jesaianische Prophezeihung, dass „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige rein werden und Taube hören, Tote auferweckt werden und Armen das Evangelium verkündet wird“ (Mt 11,5), vollständig erfüllt. Insgesamt bilden die Kapitel Mt 1–12 einen fast vollständig neu arrangierten Erzählungsfaden, welcher die matthäische Jesusgeschichte auf ihr Ziel hin ausrichtet.8 5. Matthäus hat Erzählungen verdoppelt9 und zwar aus Markus (10,46–52 = Mt 9,27–31; 20,29–34) und aus Q (Q 11,14 f = Mt 9,32–34; 12,22–24). Verdoppelung ist eine Technik, um „typische“10 oder „entscheidende“11 Szenen zu schaffen. Auch in diesen Fällen kommt man unmöglich um die Folgerung herum, dass Matthäus absichtlich eine Geschichte verdoppelt und sie das zweite  8 Umstellungen, die dem „plotting“ oder der Verdeutlichung des Gesamtsinns dienen, sind in den Evangelien (vgl. Lk 4,16–30; 5,1–11; 8,19–21; Joh 2,14–22) und in der biblischen Tradition (vgl. z. B. 1 Chr 11,10–41; 13,1–14,17) nicht selten und auch in der griechischen Geschichtsschreibung gelegentlich anzutreffen. Vgl. Knut Backhaus, Lukas der Maler: Die Apostelgeschichte als intentionale Geschichte der christlichen Erstepoche, in: ders. / ​Gerd Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen, BThSt 86, Neukirchen 2007, 30–66, dort 65 ein Beispiel aus Plutarch.  9 Verdoppelungen sind auch in der griechischen Geschichtsschreibung (zwar selten, aber immerhin) nachzuweisen; vgl. Klaus Meister, Die griechische Geschichtsschreibung, Stuttgart 1990, 88 f (Ephoros von Kyme). Im Ersten Testament wäre etwa auf 1 Sam 21,12; 29,12; vgl. 18,7 hinzuweisen: Saul hat seine Tausende geschlagen, David aber seine Zehntausende … (Hinweis von Walter Dietrich. Die Verdoppelung geht nach ihm auf denselben Autor zurück). 10 Für Mt „typische“ Szenen sind Blindenheilungen (9,27–31 + 20,29–34; vgl. 15,30 f (red.); 21,14 (red.?). In der Lehre Jesu gibt es ähnliche Fälle: Verdoppelungen sind Mt 10,17–22 // 24,9–14; 7,15–18 // 12,33–35), ferner die sechs Antithesen (Mt hat vermutlich nur drei in seiner Tradition in antithetischer Form vorgefunden). 11 Mt 9,32–34 ist eine „entscheidende“ Szene am Ende der Kapitel 8–9, in der als Resultat der in diesen Kapiteln geschilderten Begebenheiten die Spaltung zwischen dem Volk und seinen Führern festgehalten ist. Dasselbe gilt für Mt 12,22 f, die Episode, welche die folgende „kurze Rede“ 12,22–50 einleitet. Vgl. ähnlich die fünffache Wiederholung von Szenen vom „Rückzug“ Jesu von den Führern Israels in Mt 12,15 (= Mk 3,7); 13,36 (red.); 14,13 (= Mk 6,32); 16,5 (= red.) und schliesslich in 24,1 f.

3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“

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Mal in einer verschiedenen Weise erzählt hat, um den Eindruck zu erwecken, dass sie zweimal geschehen sei. Aber Matthäus wusste aus seinen Quellen, dass diese Begebenheiten nur einmal geschehen waren! Weniger auffällig ist, dass Matthäus ebenso absichtlich einige – nicht alle! – der ihm überlieferten Mk / ​ Q-Dubletten bewahrt hat.12 Verdoppelung von Texten ist übrigens in der synoptischen Tradition nicht ungewöhnlich: Dies geschah bereits in der vormarkinischen Überlieferung, wie die Verdoppelung der Speisungsgeschichte (Mk 6,34–44; Mk 8,1–10) zeigen kann. Auch der Evangelist Markus hat Traditionen verdoppelt: Aus vermutlich zwei traditionellen Leidenankündigungen (Mk 8,31; 9,31) hat er drei gemacht. Die dritte Leidensankündigung Mk 10,32–34 geht wahrscheinlich auf ihn selbst zurück. Ein ähnliches Beispiel ist in der Apostelgeschichte die dreimalige Erzählung der Bekehrung von Paulus (Apg 9; Apg 22; Apg 26). Der „Historiker“ Lukas macht allerdings klar, dass dieses Ereignis nur einmal passiert ist; beim zweiten und dritten Bericht in Apg 22 und 26 erzählt Paulus davon. 6. Gegen Ende der markinischen Passionsgeschichte hat Matthäus ziemlich viel neues Material eingefügt, teilweise mit traditioneller Basis, teilweise ohne. Ich bespreche hier nicht alle Zufügungen, sondern nur die spektakulärste, nämlich die Szene vom Händewaschen des Pilatus in Mt 27,24 f. In diesem Fall ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Evangelist über Traditionen verfügte: Er hat vermutlich diese Szene – eine Schlüsselszene in seiner Passionsgeschichte – frei erfunden. In späteren Jahrhunderten hatte sie einen prägenden Einfluss auf die christliche Sicht des jüdischen Volkes als „Gottesmörder“.13 Auch hier gilt, dass Matthäus vermutlich wusste, dass er eine neue Episode schuf, resp. dass er seine eigene theologische Interpretation des Todes Jesu und des Grundes für die Zerstörung Jerusalems und des Tempels in Gestalt einer „historischen“ Episode erzählte. Wenn wir unsere üblichen heutigen Urteilskategorien für das, was einem Historiker zu tun erlaubt ist, auf Matthäus anwenden würden, würde er die Probe nicht bestehen! Fazit: Wir halten fest, dass Matthäus verschiedenartige erzählerische Fiktionen geschaffen hat Der Schluss ist unumgänglich, dass er dies bewusst tat. Die Frage stellt sich: Was für ein Verständnis von Wahrheit hatte Matthäus, wenn so viele Episoden seiner Jesusgeschichte fiktiven Charakter haben und wenn sein Erzählungsfaden mindestens teilweise eine historische und geographische Fikti12 Dies ist der Fall bei der Zeichenforderung (Mt 12,38–40 [= Q] // 16,1–4 [= Mk] und bei Mt 5,32 f (= Q) // 19,9 (= Mk); bei Mt 10,32 f (= Q) // 16,27 f (= Mk), bei Mt 10,38 (= Q) // 16,24 (= Mk) und bei Mt 10,39 (= Q) // 16,25 (= Mk). Vergleichen wir diese Stellen mit denjenigen, wo Mt Mk / ​Q-Dubletten vermieden hat, so lässt sich wahrscheinlich ein Rückschluss darauf ziehen, welche der Worte Jesu für Mt von besonderer Bedeutung gewesen sind, sodass er sie zweimal brachte. Formal fällt auf, dass die aus Mk stammende Dublette jedesmal an zweiter Stelle folgt. Mt wollte nicht durch eine Dublettenvermeidung den mk Text verstümmeln. 13 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Neukirchen / ​ Düsseldorf 2002, 283–288.

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on ist? Zur seiner Jesusgeschichte gehören narrative Fiktionen, welche die Jesusgeschichte deuten. In welchem Sinn sind sie „wahr“? Oder sind sie „Lügen“? So würden es auch manche klassische griechische Geschichtsschreiber sagen.14 I. 2 Matthäus als traditionsorientierter Erzähler Dennoch ist der Evangelist Matthäus ein ausgesprochen traditionsorientierter Erzähler. Seine Jesusgeschichte orientiert sich an der Tradition. Auch hierfür gebe ich einige Beispiele: 1. Nachdem Matthäus seinen eigenen neuen Introitus zur Jesusgeschichte in Mt 1–11 komponiert hat, folgt seine Erzählung dem markinischen Erzählungsfaden in den Kap. 12–26 sehr treu  – erst in den beiden Schlusskapiteln 27 f scheint seine Kreativität zurückzukehren. Nach Kap. 12 ändert er die markinische Abfolge nie und fügt nur relativ wenige zusätzliche Stoffe hinzu. Warum? Man sollte dies nicht nur als Ausdruck einer Verlegenheit interpretieren.15 2. Matthäus lässt sehr wenig Stoff aus dem Markusevangelium weg. Nur vier Texte hat er nicht übernommen, nämlich Mk 1,23–26, die Heilung des Besessenen; Mk 4,26–29, das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat; Mk 9,38–40, die Geschichte vom fremden Exorzisten und Mk 12,41–44, die Geschichte von der Witwe. Diese spärlichen Auslassungen sind in allen Fällen gut erklärbar. Vergleichen wir Matthäus mit Lukas, der die Jesusüberlieferungen vollständig wiedergeben wollte und doch mit seinen Quellen viel grosszügiger umsprang als Matthäus, oder mit Johannes, der aus vielen ihm bekannten Überlieferungen nur wenige ausgewählt hat (vgl. 20,30 f), so ist der matthäische Befund auffällig. – Bei den Q-Stoffen fällt ein Urteil natürlich schwerer. Ich nehme aber an, dass Matthäus mit Q in ähnlicher, traditionsorientierter Weise umgegangen ist und nur ganz wenig weggelassen hat.16 3. Die matthäischen Reden sind traditionsorientiert. Seine fünf grossen und seine kleineren Reden komponiert Matthäus fast ausschliesslich so, dass er ihm überlieferte Jesusüberlieferungen zusammenstellt. Zu den traditionellen 14  … μέγιστον ἁμάρτημα περὶ τὴν ἱστορίαν εἶναι τὸ ψεῦδος (… der schlimmste Fehler im Bereich der Geschichtsschreibung sei die Lüge) (Polybius, Historiae XII 11,12) (ed. Theodor Buettner-Wobst, BiTeu, Polyb. vol. III, Leipzig 1893). 15 Robert H. Gundry, Matthew. A Commentary on his Literary and Theological Art, Minneapolis 1982, 10 denkt, dass nach den kreativen Eingangskapiteln „editorial fatigue set in“. Dale C. Allison, Matthew: Structure, Biographical Impulse and the Imitatio Christi, in: Frans van Segbroeck et al. (Hg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck, vol. II), BEThL 100, Leuven 1992, 206 stellt (an sich richtig) fest, dass Mt zu Beginn von Kapitel 14 bereits den grössten Teil seines Q-Stoffs aufgebraucht habe. Das, was noch übrig blieb, wollte er für Kap. 24–25 aufbewahren. Deshalb habe er gar keine andere Möglichkeit gehabt, als weniger kreativ zu sein. 16 Zu möglichen Auslassungen von Q-Stoffen bei Mt vgl. Ulrich Luz, Matthäus und Q, in: Rudolf Hoppe / ​Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 204 (in diesem Band Nr. 11).

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Jesusüberlieferungen fügt er nur ganz wenige eigene Jesusworte hinzu, wobei er die meisten mit spezifischen Merkmalen der jesuanischen „Meistersprache“ versieht. Darin unterscheidet er sich grundlegend von griechischen Historikern, welche meist Autoren, nicht Kompilatoren der Reden ihrer Protagonisten waren.17 Vergleichen wir Matthäus mit Thukydides: Dieser gibt zu, im Falle der Reden seiner Protagonisten keine andere Wahl zu haben als die, sie selbst zu schreiben, wobei er so nahe wie möglich beim „Hauptinhalt“ (σύμπασα γνώμη) dessen bleiben wolle, was sie in einer konkreten Situation gesagt haben könnten. Was aber die „Fakten“ (τὰ ἔργα) betrifft, lehnt er jeden Versuch, die nackte Realität zu verschönern oder auszumalen, ab, sogar wenn das für seine Leser lustvoller gewesen wäre.18 Matthäus dagegen macht genau das Gegenteil: In den Reden Jesu ist er gegenüber der Tradition ausserordentlich treu, in einem hohen Masse sogar in den einzelnen Formulierungen. Was aber die „historischen“ Situationen seiner Reden im Leben Jesu betrifft, hat er keine Hemmungen, sie notfalls zu erfinden, wie er es im Fall der Bergpredigt und im Fall des zweiten Teils seiner Parabelrede (Mt 13,36–50) getan hat. Ebenso frappierend ist der Unterschied zwischen Matthäus und dem vierten Evangelisten: Obwohl Johannes sein Evangelium in einer Situation nach dem Auseinandergehen der Wege seiner Gemeinden und der örtlichen Synagogen schrieb, die in mancher Hinsicht derjenigen des Matthäusevangeliums vergleichbar ist, ist die Art und Weise, wie er schrieb, eine völlig andere: Er wählte wenige Wundergeschichten aus, aber schrieb die Reden und Dialoge Jesu selbst, wobei er verhältnismässig wenige traditionelle Logien übernahm, sie aber stark „johanneisierte“. Matthäus machte dies ganz anders! Auch wenn wir Matthäus mit biblischen Geschichtsschreibern vergleichen, können wir im ganzen feststellen, dass ihre Freiheit gegenüber der Tradition grösser war, wenn sie das, was z. B. Mose oder Josua zum Volk sagten, neu formulierten. 4. Auch der grösste Teil des matthäischen Sonderguts beruht auf Traditionen, auch wenn die (in vielen Fällen erstmalige!) schriftliche Formulierung der Überlieferungen durch den Evangelisten sehr stark von seinen Spracheigentümlichkeiten geprägt ist. Dies gilt z. B. für den Erzählzyklus Mt 1,18–2,23, aber wahrscheinlich auch für die meisten Zufügungen zur Passions‑ und Ostergeschichte im Schlussteil des Evangeliums. Mt 27,24 f ist also eher eine Ausnahme. Wie lässt sich verstehen, dass Matthäus zugleich innovativ ist und Fiktionen nicht scheut, aber auf der anderen Seite sich durch grosse Traditionstreue auszeichnet? 17 Nur

Polybius, Historiae XII 25 a–b fordert in seiner Polemik gegen Timaios, dass auch die von den Protagonisten der Geschichte gehaltenen Reden ein Bericht sein müssten „über das, was in Wahrheit gesagt worden ist“ (τῶν κατ’ ἀλήθειαν εἰρημένων). 18 Thukydides, Historiae, I 22; Zitate 22,1 und 2) (BiTeu, hg. Carolus Hude, 1905). Obwohl „das nicht Mythologische weniger gefällig erscheint“ (I 22,4), möchte er keine mythologischen Geschichten in einem Geschichtswerk dulden.

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I. 3 Wie versteht Matthäus die Wahrheit seiner Jesusgeschichte? Für Matthäus scheint es keinen Widerspruch zwischen Wahrheit, verstanden im Sinne der Zuverlässigkeit seiner Jesusgeschichte, und Innovationen, neuen Arrangements und Hinzufügungen von fiktiven Texten zu geben. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Matthäus schuf seine eigene Fiktion der wirklichen Geschichte des Herrn Jesus. Sein Wahrheitsverständnis ist offensichtlich weit entfernt von einem modernen, durch die Aufklärung geprägten Verständnis historischer Fakten. Wodurch wird seine Jesusgeschichte zu einer „wahren“ Geschichte? Über sein Wahrheitsverständnis reflektiert Matthäus nirgendwo explizit – wir können deshalb nur mutmassen, was sein Verständnis von Wahrheit war. Im folgenden Abschnitt versuche ich, den eigenen Blickwinkel zu erweitern, indem ich das Matthäusevangelium mit heutigen Verständnissen von Geschichtserzählungen vergleiche und indem ich andere, „nichtklassische“ Modelle antiker Geschichtsschreibung und biblische Geschichtsschreibung einbeziehe.

ΙΙ. Matthäus im Kontext heutiger und antiker, griechischer und biblischer Konzepte von Geschichtserzählung II. 1 Heutige Konzepte von Geschichtserzählung nach dem linguistic turn Auf den ersten Blick scheint Matthäus gut in neuere Konzepte der Geschichtserzählung nach dem linguistic turn seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu passen. Heute hat sich das herrschende Verständnis von Geschichtsschreibung von einem Verständnis der Geschichte als blosser Rekonstruktion der Vergangenheit, „wie sie gewesen ist“, entfernt. Nach dem „linguistic turn“ wurde die Konstruktion von Geschichte und die Erzählung von Geschichte zu einem Brennpunkt des theoretischen Interesses. Geschichte wird als „ein Sinngebilde des Menschen“ verstanden,19 „Erinnerung“ als eine neue Konstruktion der Vergangenheit in und für die Gegenwart. Einsichten, wie sie etwa in Joh 14,26 aufblitzen, wo es der heilige Geist ist, „der euch an alles erinnern wird, was ich euch gesagt habe“, scheinen heute in gewisser Weise für den Umgang mit Geschichte überhaupt zuzutreffen. Geschichte ist immer erinnerte und damit gedeutete und vergegenwärtigte Geschichte. Hayden White und Hans Robert Jauss haben uns gelehrt, dass „Faktum“ und „Fiktion“ zusammengehören.20 Jede Geschichte, die mehr 19 Jörn Rüsen, Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft, in: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik 4, dtv 4389. Wiss. Reihe, München 1982, 27 f. 20 Hayden White, Auch Klio dichtet oder: Die Fiktion des Faktischen, Sprache und Geschichte 10, Stuttgart 1986, bes. 120–122; Hans R. Jauss, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte, in: Koselleck a. a. O. 415–427. Vgl. auch Yai’ra Amit, History and Ideology. An Introduction to Historiography in the Hebrew Bible, Sheffield 1999, 108.

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ist als ein blosses Archiv-Depot, muss durch Konstruktionen und Fiktionen gedeutet werden. „Res factae“ und „res fictae“ können nicht einfach voneinander getrennt werden, weil Geschichte nur als erzählte Geschichte lebendig ist. Es gibt keine Erzählungen ohne Fiktionen und ohne kreative Imaginationen. Nach Aleida Assmann ist – aus literaturwissenschaftlicher Perspektive – die Fiktion ein unentbehrliches Werkzeug, um die Welt individuell zu interpretieren. Sie schreibt: „Das von der Fiktion erstellte Modell (sc. der Realität) … ist individuell, von einem bewussten und persönlichen Geist geschaffen, und es ist explizit, es verarbeitet das unbewusste Weltbild in einem Meta-Diskurs.“21 Das gilt auch für erzählte Geschichte. Je nach Typ der Geschichtserzählung werden Erzähler von Geschichte auf unterschiedliche Formen von Fiktionen Gewicht legen. Jörn Rüsen unterscheidet vier Formen der Geschichtsschreibung: die „traditionale Erzählung“, die „exemplarische Erzählung“, die „kritische Erzählung“ und die „genetische Erzählung“.22 „Kritische Erzählungen“ sind dabei für ihn nicht die historisch-kritischen Rekonstruktionen von Geschichte, sondern Erzählungen von Geschichte, welche diese gegen ihren Strich bürsten und dadurch Kontinuität aufbrechen und traditionale Normen hinterfragen. Kritische Erzählungen sind also „Gegengeschichten“23. Insofern sind sie das Gegenteil von „traditionalen Erzählungen“, „die den Ursprung von Lebensumständen und ‑verhältnissen so erinnern, dass die … Adressaten der Geschichten ihre aktuellen Zeiterfahrungen als Impulse zur Erneuerung dieses Ursprungs verarbeiten und demgemäss Zukunft als dessen Wiederkehr erwarten.“24 Traditionale Geschichten stiften also Kontinuität zum erzählten Ursprung. Rüsen erwähnt hier ausdrücklich die „Geschichten, in denen Religionsgemeinschaften ihre Stiftung gegenwärtig halten“25 als Beispiele traditionaler Erzählungen. „Exemplarische Erzählungen“ folgen „der Devise historia magistra vitae“. Sie „aktualisier(en) Erinnerungen“ als Konkretisierungen „überzeitlich geltender Handlungsregeln“ und stiften so „Regelkompetenz“.26 Die Fiktionen stehen in diesen unterschiedlichen Formen der Geschichtsschreibung jeweils im Dienste der Absicht der Geschichtsschreiber: Sie dienen z. B. der Stiftung von Kontinuität, der Ermöglichung von Regelkompetenz oder der Verfremdung traditionaler Autorität.

Das alles bedeutet gegenüber Konzepten von Geschichtswissenschaft als Rekonstruktion objektiver Fakten, wie sie die historische Forschung von der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmt haben, eine gewaltige Erweiterung und zugleich eine Perspektivenverschiebung. Könnte dieses heutige Verständnis von „Geschichtserzählung“ auch eine Möglichkeit darstellen, die 21 Aleida Assmann, Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 55, München 1980, 16 f. Für Assmann ist der Gegensatz zu „Fiktion“ nicht „Faktum“, sondern die allgemein akzeptierte kollektive Wahrheit der Tradition. 22 Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Koselleck, Formen 514– 605 (o. Anm. 19), dort bes. 536–561. 23 A. a. O. 551 f. 24 A. a. O. 545. 25 A. a. O. 546. 26 A. a. O. 547 f.

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es erlaubte, nicht-klassische griechische, aber auch biblische und jüdische geschichtliche Bücher als Geschichtswerke zu rehabilitieren? Könnte eine solche Rehabilitierung nicht nur die Werke des Lukas und des Josephus, sondern auch das Matthäusevangelium einschliessen? Wenn Fiktionen und Geschichtserzählung sich nicht aus‑ sondern einschliessen, ist sowohl das Verhältnis vieler „nichtklassischer“ griechischer Historiker, als auch das der biblischen und jüdischen Geschichtsbücher zur „Geschichtserzählung“ neu zu bedenken. Dasselbe gilt für die Evangelien. II. 2 Das Matthäusevangelium und antike Geschichtsschreibung Das durch die Aufklärung wichtig gewordene Interesse an den „historischen Fakten“ bzw. an der Geschichte, wie sie „wirklich“ gewesen ist, wurzelt in den Idealen der klassischen antiken Historiographie, die seit der Aufklärung zum klassischen europäischen gymnasialen Bildungskanon gehörte und erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts mehr und mehr daraus verschwinden. Besonders wichtig sind hier Thukydides und Polybius. Nach Thukydides hat sich ein Historiker an die Evidenz der historischen Tatsachen zu halten (τῶν … γενομένων τὸ σαφές) (Historiae I 22,4). Polybius schreibt in seiner Auseinandersetzung mit Timaios, die Wahrheit (verstanden als Faktentreue) sei für ein Geschichtswerk was die Augen für einen lebendigen Leib sind: Fehle sie, so bleibe nur ein nutzloses Gerede (Historiae XII 12(7),3). Ein ähnlich klassisch-strenges Konzept vertritt Lukian in seiner Schrift „Wie man Geschichte schreiben muss“: Nur der historischen Wahrheit (ἀλήθεια) darf man verpflichtet sein – nichts anderes zählt. Wer sich an gegenwärtigen Bedürfnissen (τὸ παραυτίκα) orientiert, ist ein Schmeichler (κολακεύων).27

Die heutige Skepsis gegenüber dem Ideal einer „objektiven“ Rekonstruktion geschichtlicher Tatsachen und das neue Interesse an den vielfältigen Formen von Erinnerung und Geschichtserzählung könnte uns wieder offener machen für Ideale solcher antiker Geschichtsschreiber, für die nicht nur Faktentreue, sondern auch, oder sogar vor allem, andere Ziele im Vordergrund standen.28 Dies gilt etwa für den „moralistischen“ Typ der Historiographie, der dem modernen Typus der „exemplarischen“ Geschichtserzählung verwandt ist. Nicht nur das Erzählen der historischen Wahrheit, sondern auch das Bewerten, das Lob und der Tadel, gehört etwa nach Sallust zur Aufgabe der Historiker.29 Steht das Mat27 Lucianus, Quomodo 40 (hg. K. Kilburn, Lucian VI [LCL], Cambridge Mass. / ​London 1959). 28 Knut Backhaus, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichs­ römi­schen Geschichtsschreibung, in: Backhaus / ​Häfner, Historiographie (o. Anm. 8), 1–29, dort 4, sieht hellenistisch-römische Geschichtsschreibung überwiegend als „Mischtypus“, der „die Rekonstruktion extratextualer Sachverhalte mit ordnenden Konstruktionselementen aus Rhetorik, mimetischer Kunst … und paideutischem Traktat zur narrativen Kohärenz verbindet“. 29 So Sallustius, Coniuratio Catilinae 3,2; 5,9; (Editiones Helvetiae, Frauenfeld 1944); ders., Bellum Iugurthinum 4,6 (die Erinnerung an die Vergangenheit soll zur Tugend anspornen) und Tacitus. Nach diesem ist es die Hauptaufgabe der Historiographie, zu helfen, „dass die

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thäusevangelium diesem Typus von Geschichtsschreibung näher? Dafür könnte sprechen, dass auch die Grenze zwischen der Historiographie und der den Evangelien relativ nahe stehenden antiken Biographie heute fliessender gesehen wird als früher.30 Die Aufgabe sowohl von Biographen31 als auch einiger Historiker war es, Beispiele für Gutes und Schlechtes zu bieten. Beide haben also eine erzieherische Aufgabe. In ihrem Gebrauch von narrativen Fiktionen unterscheiden sie sich nur graduell.32 Zur neuen Nähe von Evangelien und Biographien in der heutigen Forschung würde eine Nähe zum „moralistischen“ Typ der Geschichtschreibung gut passen. Oder steht das Matthäusevangelium dem sog. „rhetorischen“ Typ der griechischen Historiographie nahe, wie er z. B. durch die Isokratesschüler Ephoros von Kyme und Theopomp von Chios repräsentiert wird? Charakteristisch auch für sie ist – abgesehen von ihrem rhetorischen Stil – das Gewicht, das sie auf die didaktische und moralische Bedeutung der Geschichte legen, und darüber hinaus ihre Betonung der einzelnen Persönlichkeiten.33 Heutige Konzepte von Geschichtserzählungen könnten sogar zu einer teilweisen Rehabilitierung der sog. „dramatischen“ Geschichtsschreibung führen, wie sie z. B. durch Duris von Samos repräsentiert wird. Er führte Momente von μίμησις und ἡδονή in die Geschichtsschreibung ein.34 Vielleicht führt die heutige Neubewertung der Erzählung und der Fiktionen in der Geschichtsschreibung sogar zu einer positiveren Bewertung solcher antiker Historiker, die Fakten mit Legenden und Fiktionen verbanden, wie Xenophon in seiner Kyroupädie oder sogar von Ktesias von Knidos,35 also von Historikern, die Tugenden nicht zum Schweigen gebracht werden“ (Annales III 65,1 [Editiones Helveticae, Frauenfeld 1946]). 30 Vgl. Backhaus, Spielräume 2 Anm. 6. Sogar Lucianus empfiehlt „to give a fine arrangement to the events and illuminate them as vividly as possible“ und so ein Pheidias der Geschichtsschreibung zu werden (Quomodo 51). 31 Albrecht Dihle, Zur antiken Biographie, in: Stephan M. Maul (Hg.), La biographie antique, Entretiens sur l’antiquité classique 44, Genève 1998, 124–140 (der Zweck von Biographien ist moralische Erziehung; intendierte Leser von Biographien sind Privatleute, nicht Staatsmänner. 32  Zur Bedeutung von Fiktionen in Geschichtswerken und Biographien vgl. Arnaldo Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge. Mass. 1971, 56 („the borderline between fiction and reality was thinner in biography than in ordinary historiography“). Christopher B. R.  Pelling, Truth and Fiction in Plutarch’s Lives, in: Donald A. Russell (ed.), Antonine Literature, Oxford 1990 fasst das Resultat seiner Untersuchungen über Plutarchs Fiktionen folgendermassen zusammen: „The boundary between truth and falsehood was less important than between acceptable and unacceptable fabrications … Truth matters; but it can sometimes be bent a little“ (43). 33 Meister, Geschichtsschreibung (o. Anm. 9). 83–93. Zu Cassius Dio vgl. Martin Hose, Erneuerung der Vergangenheit, Stuttgart 1994, 437–444. 34 Felix Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker II, Berlin 1926 138 frgm. 1. Cf. Backhaus, Spielräume (o. Anm. 28), 13–20 über die Kunst der Mimesis in hellenistischer Historiographie. 35 Ktesias wird von antiken und modernen Autoren sehr schlecht beurteilt; vgl. Felix Jacoby, Art. Ktesias. PW 11.2, Stuttgart 1922, Kol. 2032–73, hier Kol. 2046 f: „Um diese ,Persische Geschichte‘ zu schreiben, hätte er nicht nach Persien zu gehen brauchen.“

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wichtige Vorläufer der hellenistischen historischen Romane wurden, in denen historische Fakten fast völlig unerheblich wurden und das Vergnügen der Leser zu einem wichtigen, wenn nicht zum einzigen Ziel der Verfasser wurde.

Auch hinsichtlich der theologischen Dimension seiner Jesusgeschichte unterscheidet sich das Matthäusevangelium nicht grundsätzlich von allen griechischen Geschichtswerken. Befragt man antike Historiker nach ihrer „Theologie“, so ist der Befund unterschiedlich.36 Gewiss schreiben manche griechischen Historiker, unter ihnen besonders Thukydides und Polybius, von einem atheistischen Blickpunkt aus und sind insofern Vorläufer des methodischen Atheismus in der historisch-kritischen Forschung seit der Aufklärung. Doch gibt es auch andere Blickpunkte: Manche hellenistische Historiker sprechen von der τύχη (Schicksal),37 seltener auch von εἱμαρμένη (Bestimmung, Schicksal) oder πρόνοια (Vorsehung)38 als leitendem Prinzip in der Geschichte. Wieder andere Geschichtsschreiber, z. B. Herodot, Xenophon oder Appian, interpretieren die Geschichte als Feld der Aktivitäten von Göttern.39 Im Blick auf sie ist es nicht der theologische Blickpunkt an sich, der sie und biblisch-jüdische Geschichtsschreibung voneinander unterscheidet, sondern die Art und Weise, wie sie von Gott bzw. den Göttern sprechen.40 Für jüdische Geschichtswerke und für Matthäus ist Gott der Herr der Geschichte. Gott ist in der Welt gegenwärtig und „mit“ seinem Volk – für Matthäus in Jesus, der sein „Immanuel“ ist (Mt 1,23 f). Es gibt also mancherlei Berührungspunkte zwischen dem Matthäusevangelium und griechischen Historikern, wenn man sich nicht auf die dem aufklärerischen Ideal der Faktentreue am nächsten kommenden, etwa Thukydides und Polybius, beschränkt. Antike Geschichtsschreibung war sehr vielfältig; die Unterschiede zu anderen Gattungen sind bei weitem nicht immer klar. Das Ideal des Thukidides war auch in der Antike am besten bekannt, aber nicht einmal 36 Eine Monographie über die Rolle Gottes / ​der Götter bzw. von übernatürlicher Macht im Weltbild von antiken Historikern ist ein Desiderat! 37  Nach Otto Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1992, 233 subsumierte sogar Polybius unter τύχη alles, was er nicht rational erklären konnte. 38  Πρόνοια und εἱμαρμένη sind in Geschichtswerken selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme für beides ist Josephus. Eine Ausnahme für πρόνοια bildet auch Diodorus Siculus, Bibliotheca Historica, (hg. Fridericus Vogel, BiTeu I, 1888; III, 1893) I 30,1; XIV 67,2. 39 Z. B. Herodotus VIII 60 (ὁ θεός). 109 (θεοί τε καὶ ἥρωες) (hg. Henricus Stein, Berlin 1883ff). Xenophon’s Sicht der Geschichte ist ebenfalls religiös, bzw. sogar abergläubisch. Gegen die religiöse Weltsicht Herodots wendet sich Polybius, Historiae XXXVI 17,1. Zu Appian vgl. Barbara Kuhn-Chen, Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr., EHS 15/84, Frankfurt 2002, 100–112. Auch Lukas gehört natürlich in diese Gruppe. (Für die Materialien zu Anm. 37–39 danke ich Dr. Gunther Martin, Oxford) 40 Mit diesen Ausführungen unterscheide ich mich von Markus Witte, Von den Anfängen der Geschichtswerke im Alten Testament, in: Eve-Marie Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänger der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin 2005, 77, der in der theologischen Ausrichtung der alttestamentlichen Geschichtsschreibung an sich einen wesentlichen Unterschied zur griechischen Geschichtsschreibung sieht.

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alle, die ihn gern zitierten, folgten ihm durchwegs. Ein Beispiel dafür ist Lukian, der betonte, dass ein Geschichtsschreiber nur und ausschliesslich der Wahrheit verpflichtet sei. Dennoch, so denke ich, sind sie kein Schlüssel zum Verständnis des Evangeliums. Matthäus lebt in einer anderen Welt. II. 3 Die grosse Distanz des Matthäus zu griechischer Geschichtsschreibung Matthäus kennt keine griechischen Schriftsteller ausser der griechischen Bibel. Er lebt nicht in einer literarischen Welt und hat keine Kenntnis der verschiedenen Gattungen griechischer Literatur, auch nicht der verschiedenen Typen von Geschichtsschreibung. Ein kurzer Hinweis auf das Prooemium der Antiquitates seines Zeitgenossen Josephus zeigt, was in dieser Hinsicht bei anderen gebildeten Juden anzutreffen ist. Josephus schreibt: „Diejenigen, welche sich der Geschichtsschreibung befleissigen, thun dies nicht aus ein und denselben, sondern aus vielfachen, meist unter sich verschiedenen Beweggründen. Denn einige gehen an diese Art Arbeit, um ihre Redegewandtheit (λόγων δεινότης) leuchten zu lassen und dadurch berühmt zu werden, andere, um denen zu gefallen (χάριν φέρειν), über die sie schreiben … Wieder andere treibt ein gewisser Zwang, die Ereignisse, deren Zeugen sie waren, vor Vergessenheit zu bewahren; viele auch veranlasst die Erhabenheit wichtiger, im Dunkel verborgener Tatsachen (χρησίμων μέγεθος πραγμάτων ἐν ἀγνοίᾳ κειμένων), diese zum allgemeinen Besten (εἰς κοινὴν ὠφέλειαν) zu erzählen“.41

Matthäus dagegen verrät nicht den geringsten Hauch eines solchen Bewusstseins. Meine These ist deshalb, dass das Matthäusevangelium sich von allen Typen griechischer oder römischer Geschichtsschreibung grundlegend unterscheidet, nicht nur vom klassischen „thukydideischen“, sondern auch vom moralistischen, vom rhetorischen oder vom dramatischen. Sein Evangelium weist eine Reihe von grundlegenden Merkmalen auf, welche diesen Abstand verdeutlichen: 1. Matthäus schreibt über Ereignisse seiner eigenen Zeit, wie viele griechische Historiker, aber er erzählt sie im Stile einer mythischen Grundgeschichte der Vergangenheit. Zeitgeschichte ist der wichtigste Gegenstand für klassische griechische Geschichtsschreiber. Kehren wir nochmals zum „Klassiker“ Thukydides zurück. In Kap. 2–20 seines ersten Buches gibt er einen kurzen Überblick über die mythische Vorgeschichte Griechenlands (= τὰ παλαιά, τὰ προγεγενημένα)42. Um sie zu skizzieren muss er sich auf die Dichter und die alten Chronisten (λογογράφοι) verlassen. Seine eigene Aufgabe kann nur darin bestehen, das auszuwählen, was in ihren oft geschönten und mythologischen Berichten wahr sein könnte. Die eigentliche Aufgabe eines Geschichtsschreibers ist jedoch, über die Geschichte der jüngsten Zeit zu schreiben, deren Augenzeuge er ist, oder wo er mindestens 41 Josephus, Ant 42 Thukydides,

I 1–3 (= Prooem.); übers. Heinrich Clementz. Historiae I 20,1.

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I. Studien zu Jesus

die Möglichkeit hat, Augenzeugen zu befragen.43 Würde Thukydides das Matthäusevangelium lesen, so wäre wohl sein Eindruck: „Dieser Mensch schreibt über Zeitgeschichte im Stil eines Logographen oder eines Mythenerzählers.“ Matthäus unterscheidet zwischen mythischer Urgeschichte und Zeitgeschichte gerade nicht, sondern beginnt seine Jesusgeschichte mit der urzeitlichen Gestalt Abrahams und eröffnet seinen Lesern in 1,2–17 eine Linie der Kontinuität bis zu Joseph, dem Adoptivvater Jesu.

Die verbreitete Meinung, dass die Darstellung der Zeitgeschichte die wichtigste Aufgabe eines Historikers sei, scheint dagegen im Prolog des Lukasevangeliums einen Widerhall zu finden: Lukas will über die „Ereignisse, welche unter sich vollendeten“ (τὰ πεπληροφορημένα ἐν ἡμῖν πράγματα), schreiben und weist den Augenzeugen eine wichtige Rolle zu (Lk 1,1 f).44 Im Matthäusevangelium ist es anders: Obwohl auch Matthäus über Ereignisse berichtet, die der Zeitgeschichte angehören, erwähnt er, anders als Lukas, nie einen Augenzeugen und spricht nie von der historischen Genauigkeit seines Berichts. 2. Das Matthäusevangelium ist voll von programmatischen intertextuellen Rückverweisen auf die griechische Bibel, nicht zuletzt auf den Pentateuch. Matthäus kennt nicht nur die Bibel gut, sondern sie ist seine geistige Welt. Ich erinnere hier nur beispielhaft an die Genealogie in Mt 1, an die an den Pentateuch erinnernden fünf grossen Reden, in denen Jesus, wie weiland Mose im Deuteronomium, die gegenwärtigen Leserinnen und Leser direkt unterweist, an das Immanuelmotiv, an die Fülle der biblischen Anspielungen, an seine biblisch gefärbte Sprache und an die Erfüllungszitate. Vor allem macht Matthäus von Anfang an seinen Leser / ​innen und Lesern klar, was sie zu erwarten haben: Seine Absicht ist es, ein „Buch der Genesis Jesu Christi“ zu schreiben (1,1). Γένεσις bezieht sich auf das erste Buch der griechischen Bibel, das schon damals unter diesem Namen bekannt war.45 Matthäus will also ein neues Buch „Genesis“, aber über Jesus Christus, schreiben. Nicht in der Weise griechischer Historiker will er die jüngst geschehene Geschichte Jesu erzählen, sondern in der Weise der Bibel erzählt er die Grundgeschichte der Kirche, ähnlich wie der Pentateuch die Grundgeschichte Israels erzählt. 3. Kein Name eines individuellen Autors ist angegeben oder tradiert. Das Evangelium des Matthäus ist ein anonymer Text, und darin entspricht es nicht 43 Thukydides,

Historiae I 22,2. natürlichste Verständnis von τῶν πεπληροφορημένων ἐν ἡμῖν in Verbindung mit den „Augenzeugen“ in 1,2 ist nicht ein heilsgeschichtliches („die unter uns [von Gott] zur Erfüllung gebracht worden sind“); so Heinz Schürmann, Das Lukasevangelium I, HThK III/1, Freiburg 1969, 4; ähnlich die meisten Kommentatoren, z. B. Joseph A Fitzmyer, The Gospel according to Luke I–IX, AncB 28, Garden City 1983, 293; François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1–9,50), EKK III/1, Neukirchen / ​Zürich 1989, 35. Ich ziehe eine „historische“ Interpretation vor: „die Ereignisse, die sich unter uns vollzogen haben“ (W. Bauer, Wb6, s. v. πληροφορέω 1) und durch Augenzeugen bestätigt werden können. 45 Vgl. William D. Davies  / ​ Dale C. Allison, The Gospel according to St. Matthew I, ICC, Edinburgh 1988, 149–155 und Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–214. 44 Das

3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“

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nur den biblischen und den meisten frühjüdischen Grundgeschichten Israels von der Schöpfung bis zum Einzug ins verheissene Land, sondern auch anderen „traditionalen“ Erzählungen der auf sie folgenden Geschichte Israels.46 Generell gilt für anonyme „traditionale“ Geschichtsbücher: Nicht die Autorität eines Historikers ist für ihre Wahrheit entscheidend – weder sein Zeugnis als Augenzeuge noch seine Gelehrsamkeit noch seine Darstellungskunst noch die Autorität seiner Quellen47 – sondern die Autorität der Tradition selbst.48 Die Anonymität ist ein grundlegendes Kennzeichen von „traditionalen“ Grundgeschichten. 4. Es gibt kein Vorwort, welches die Absicht oder den Grund erklärt, warum Matthäus sein Evangelium schreibt. Nirgendwo hebt Matthäus seine eigenen Verdienste als Autor heraus. Er hebt auch nirgendwo die besondere Bedeutung der Geschichte Jesu heraus. Das muss er ja nicht, denn er erzählt sie nicht, weil sie historisch sehr wichtig, auch nicht, weil sie irgendwie exemplarisch oder gar besonders lustvoll wäre. Er braucht nichts zu sagen, weil seine Jesusgeschichte die Grundgeschichte einer religiösen Gruppe ist, deren Bedeutung nicht erst erklärt werden muss. Ebenso wenig erklärt Matthäus seinen Lesern, was das Besondere oder die besonderen Qualitäten seines Buches im Vergleich mit den Büchern anderer Autoren ist. Auch hier zeigt das Vorwort des „hellenistischen Historikers“ Lukas einen markanten Unterschied. 5. Das Matthäusevangelium lässt kein Bewusstsein für das, was historische Wahrheit ist, erkennen.49 Es kennt keine der damals verbreiteten griechischen Unterscheidungen zwischen μῦθος und ἀλήθεια, zwischen „Faktum“ und „Fiktion“ oder zwischen „Urgeschichte“ (ἀρχαιολογία, τὰ παλαιά), für die es keine Beweise gibt, und „Zeitgeschichte“, für die es Augenzeugen gibt.50 Matthäus beginnt sein Buch mit Abraham und führt seine Leser in einer kontinuierlichen Linie bis zu Joseph, der Jesus als seinen Sohn adoptierte (1,2–17), ohne irgend 46 Unter „Grundgeschichten“ verstehe ich Bücher wie den Pentateuch, das Jubiläenbuch oder die Tempelrolle. Sie entsprechen dem, was M. Eliade einen „Mythos“ nannte, der grundlegend für die religiöse Sinndeutung eines Volkes oder eines Stammes ist. Vgl. Mircea Eliade, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt 1988, 15 f. 20–22. Zur zweiten Gruppe traditionaler anonymer Geschichtswerke gehören z. B. 1/2 Sam, 1/2 Kön, 1/2 Chron, Esra, Neh, Ruth, Tobit etc. Zum Konzept „traditionaler“ Geschichtserzählung vgl. Jörn Rüsen (Anm. 22–25). 47 Mt erwähnt keine Quellen ausser der Bibel. 48 Erhhard Blum, Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: ders. (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?, Altes Testament und Moderne 10, Münster 2005, 65–86, dort 73: „Dieses Zurücktreten des Autors hinter bzw. in seinen Text (impliziert) dessen ,unmittelbaren‘ Geltungsanspruch“. 49 Vgl. Ulrich Luz, Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur, ZNW 84, 153–177, dort 162–176; in diesem Band Nr. 18). Für mich ist in diesem Zusammenhang unwichtig, ob griechische oder römische Historiker ihren eigenen Idealen von Geschichtsschreibung wirklich folgten. Wichtig ist mir nur die allgemeine Kenntnis der Unterscheidung zwischen Geschichte (= τὰ ἀληθῆ), Fiktionen (= argumenta, πλάσματα) und erfundenen Geschichten (fabulae, μῦθοι). Vgl. auch Andreas Mehl, Römische Geschichtsschreibung, Stuttgart 2001, 29–34. 50 Vgl. Thukydides, Hist I 20 f.

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ein Bewusstsein erkennen zu lassen, dass seine eigene Aufgabe eine sehr andere ist, sobald er Ereignisse seiner eigenen Zeit erzählt. 6. Matthäus redet seine Leser nicht an. Wer sind seine intendierten Leserinnen und Leser? Die Antwort ist klar: Matthäus schreibt für die Kirche. Er wird wohl geahnt haben, dass sein Buch abgeschrieben und an andere Gemeinden in Syrien und anderen Ländern geschickt werden würde, wie es mit seiner Hauptquelle, dem Markusevangelium geschah. Wichtig ist dabei: Das Matthäusevangelium war nicht primär für individuelle Leser und Leserinnen gedacht, sondern für den Gebrauch in Gemeindeversammlungen. Soweit es individuell gelesen wurde, verstanden sich seine Leser / ​innen als Glieder ihrer Gemeinden, als „Jünger Jesu“, als Glieder von Gottes erwähltem Volk Israel und zugleich als Glieder der ἐκκλησία Jesu. 7. Die partizipative Beziehung der Hörer / ​innen und Leser / ​innen zur Geschichte Jesu ist wichtig. Ihr wichtigster Ausdruck im Matthäusevangelium ist der „inklusive“ Charakter der Grundgeschichte Jesu: Was in der Geschichte Jesu geschah, wiederholt sich in der nachösterlichen Geschichte der Gemeinde und in vielen Fällen im Leben der einzelnen Gläubigen. Die lesende Gemeinschaft partizipiert an der Geschichte Jesu im Akt des Hörens oder Lesens. Diese Geschichte ist von Matthäus nicht in ihrer Distanz zur eigenen Situation gesehen und kann darum nicht zum Gegenstand einer Untersuchung, einer ἱστορία, werden. Alle diese Beobachtungen zeigen nicht nur eine relativ grosse Distanz des Matthäusevangeliums zu allen Formen hellenistischer Geschichtsschreibung, sondern zugleich auch eine sehr grosse Nähe zu den biblischen bzw. frühjüdischen Geschichtsbüchern. Alle die genannten Eigentümlichkeiten teilt das Matthäusevangelium in der einen oder anderen Weise mit jüdischen Erzählungen von Israels Grundgeschichte – vom Jahwisten bis zu Pseudophilo. Auch sein Buch erzählt die mythische Grundgeschichte einer Gemeinschaft. Es erzählt sie nicht, weil die Geschichte Jesu historisch besonders wichtig gewesen wäre, also weil sie nicht „in einem Winkel“ geschehen ist (vgl. Apg 26,26). Er erzählt sie auch nicht, weil sie in besonderer Weise exemplarisch oder lehrreich wäre, und schon gar nicht, weil sie besonders dramatisch oder besonders reizvoll wäre, sondern, weil sie die Grundgeschichte seiner Gemeinschaft ist. II. 4 Die Wahrheit der Jesusüberlieferungen im Matthäusevangelium Wir kehren zurück zur Ausgangsfrage: In welchem Sinn ist die mattthäische Jesusgeschichte – mit ihren Traditionen und Fiktionen „wahr“? Unser tour d’horizon durch heutige und antike Konzepte der Geschichtsschreibung hat uns einer Antwort nur indirekt näher gebracht. Wir haben den Verfasser des Matthäusevangeliums als „traditionalen“ Geschichtsschreiber verstanden, der in der Tradition biblischer und jüdischer Erzählungen der Grundgeschichte des

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Volkes Israels verwurzelt ist und nun für seine Gemeinde in biblischer Weise eine neue Grundgeschichte schreibt. Die Wahrheit der Jesusgeschichte ist darum etwas anderes als ihre historische Faktizität, wie sie manche griechische Historiker forderten. Die Jesusgeschichten sind nicht deswegen wahr, weil sie faktisch geschehen sind oder weil sie frei von mythologischen Elementen wären. Matthäus kennt das Wahrheitsverständnis der griechischen Geschichtsschreiber nicht. Obwohl er bewusst Erzählungen und Erzählungsabläufe schafft, die für unsere Wahrnehmung fiktiv sind, scheint er kein Bewusstsein für das Problem der Fiktivität zu haben. Und darum reflektiert Matthäus auch nie explizit über die Wahrheit seiner Jesusgeschichte. Er kann dies auch gar nicht, denn dazu müsste er eine Aussenperspektive gegenüber der ihn und seine Gemeinde tragenden Grundgeschichte Jesu einnehmen. Auch unsere Frage ist aus einer Aussenperspektive formuliert und wäre Matthäus kaum verständlich. Trotzdem möchte ich dazu – von aussen – einige Vermutungen äussern: Ich vermute, dass für Matthäus Ereignisse im Leben Jesu unter einer oder mehreren der drei folgenden Voraussetzungen „wahr“ sind: 1. Sie sind wahr, wenn sie in der Schrift prophezeit sind. Die Propheten kündigen nicht nur das Ganze der Jesusgeschichte, sondern auch Details an, z. B. die Jungfrauengeburt (1,23), dass die Familie Jesu sich in Nazareth niederliess (2,23), dass Jesus beim Einzug in Jerusalem auf zwei Eseln ritt (21,5). Sie formulieren, welches die Worte der Hohepriester waren, als sie den am Kreuz hängenden Jesus verspotteten (27,43). Sie erzählen, wie sie das Blutgeld loswurden, das Judas ihnen zurückgebracht hatte (27,9 f) etc. Die Lektüre der Bibel bestätigt für Matthäus die Wahrheit seiner Jesusgeschichte. 2. Sie sind wahr, wenn sie in den Hauptfaden der matthäischen Jesusgeschichte passen, d. h. wenn sie verstehen helfen, wie Jesus, der Messias Israels, von Israels böswilligen Führern und denen, die von ihnen irregeleitet wurden, abgelehnt wurde, und wie ihn dann Gott durch seine Auferweckung zum Weltenherrn gemacht hat. In diesen Gesamtzusammenhang passende Episoden hat Matthäus in seine Jesusgeschichte aufgenommen und in einzelnen Fällen auch geschaffen. Diesen Gesamtablauf hat er Jesus selbst in seinen „kleineren Reden“ deuten und vorantreiben lassen. 3. Sie sind wahr, wenn sie den Erfahrungen der matthäischen Gemeinde entsprechen: Die Kirche folgt in ihrer Geschichte und Gegenwart dem Modell Jesu. Auch sie wurde in Israel verfolgt, wie ihr Herr. Auch sie hat in der Gegenwart die Aufgabe, Jesu Gebote der ganzen Welt zu verkünden, wie die elf Jünger auf dem Berg in Galiläa (28,16–20). Auch in der Gegenwart erfahren die Gemeindeglieder, wie Blinde durch Christus sehend und Lahme aufgerichtet werden – physisch und in einem weiteren Sinn geistig-geistlich. Auch die Gemeindeglieder erfahren, wie Jesus seine rettende Hand zu denjenigen ausstreckt, die seinen Schutz in den Stürmen des Lebens suchen (vgl. 14,28–31).

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I. Studien zu Jesus

In all diesen Punkten scheint das Wahrheitsverständnis des Matthäusevangeliums ein sehr anderes zu sein als dasjenige der griechischer Historiker.51 Es ist das Werk eines vormodernen, traditionalen Autors, der sein Buch nicht für individuelle Leser und Leserinnen mit einem je eigenen Wahrheitsbewusstsein schreibt. Es ist vielmehr für eine Lesergemeinschaft geschrieben, deren besondere Identität durch eben die Geschichte gestiftet ist, welche der Evangelist erzählt. Es repräsentiert die „identitätsstiftende Leistung der mémoire collective“ einer „sie tragenden soziale(n) Gruppe“.52 Funktional – nicht gattungsmässig oder stofflich – sind seine nächsten „Verwandten“ in der griechischen Literatur nicht die Historiker, sondern die homerischen Epen. Auch die – ebenfalls anonymen – homerischen Epen enthalten „Grundgeschichten“, nämlich für die archaische aristokratische Gesellschaft Griechenlands. Auch Homers Verständnis von Wahrheit ist wesentlich vorkritisch.53 Gerhard von Rad hatte in einem berühmten Aufsatz die Griechen und die Israeliten als die zwei Väter der modernen westlichen Geschichtsschreibung bezeichnet.54 Aus meiner Sicht kann man nur ausrufen: Wie verschieden sind doch diese Väter! Wie verschieden ist ihr Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung!55 Das Matthäusevangelium hat sich voll und ganz als dem biblisch-jüdischen Kulturkreis und seinem Verständnis von Geschichte und Wahrheit zugehörig erwiesen.

51 Ein Vergleich mit den griechisch-sprachigen jüdischen Historikern zeigt, dass viele von ihnen (nicht nur Josephus), von griechischer Historiographie weit stärker beeinflusst sind als Mt. Zu den griechischsprachigen jüdischen Historikern vgl. die Übersicht bei Oda Wischmeyer, Orte der Geschichtsschreibung in der frühjüdischen Literatur, in: Eve-Marie Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin 2005, 157–170. 52 Wolfgang Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980) 283–319, dort 291 von den Anfängen der griechischen Literatur. 53  Nach Mario Puelma-Piwonka, Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik, in: ders., Labor et Lima, Basel 1995, 111–151, dort 119, sind die homerischen Mythen durch eine wesenhafte Einheit von poetischer Fiktion und Wahrheit charakterisiert. Hesiod (Theog 27) ist der erste, der erkennt, dass die Musen auch ψεύδεα πολλά sagen können, was Richard Kannicht, ,Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung‘, in: ders., Paradeigmata, Heidelberg 1996, dort bes. 200–203 auf Teile der homerischen Epen bezieht. 54 Gerhard v. Rad, Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel (1944), in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, TB 8, München 1958, 148–188, dort 148 f. 55 In diesem Ergebnis und in manchen einzelnen Thesen stimme ich mit dem schönen Aufsatz von Blum (o. Anm. 48) überein, auf den ich nochmals ausdrücklich hinweisen möchte. Auch für Thomas M. Bolin, The Use of the Past in the Hebrew Bible, in: Christina S. Kraus (Hg.), The Limits of Historiography, Mnemosyne 191, Leiden 1999, 113 f gibt es eine fundamentale Differenz zwischen antiker Geschichtsschreibung und der Bibel, die für ihn „an example of ancient antiquarian writing distinct from ancient historiography“ ist (131). Die hebräische Bibel „does not represent any kind of historiography“ (137), wie sie in der Antike verstanden worden ist.

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III. Das Matthäusevangelium und der „historische Jesus“ Was haben die Wege und Umwege, die wir bisher gegangen sind, für unsere Hauptfrage gebracht? Scheinbar nicht viel. Sie haben uns erstens gezeigt, wie unendlich fremd die moderne Frage nach dem „historischen Jesus“ für den Verfasser des Matthäusevangeliums gewesen wäre. Sie haben uns zweitens bewusst gemacht, wie vielfältig und vielschichtig die Frage nach der „Wahrheit“ von Geschichte und Geschichtserzählung gestellt wurde und gestellt werden kann. Jede Weise, nach Geschichte zu fragen, ist eine Frage nach menschlichen Konstruktionen von Geschichte, und jede Frage nach menschlichen Konstruktionen führt wieder zu Rückfragen nach den Konstrukteuren, deren Situation, Denkweisen und Interessen sie spiegeln. Und schliesslich wollte ich durch alle diese Wege und Umwege, die ich gegangen bin, als Drittes darauf aufmerksam machen, wie wenig die Frage nach dem „historischen Jesus“, wie sie im „Third Quest“ gestellt wird, von solchen Grundfragen nach dem Verständnis von Geschichte und Geschichtserzählungen geprägt ist. Kritische Rückfragen an sich selbst als Konstrukteure des historischen Jesus stellen die Vertreter des „Third Quest“ höchst selten. Die Vertreter des „New Quest“ haben zur historischen Erkenntnis Jesu vielleicht wenig beigetragen, aber sie wussten genau, aus welchen theologischen Gründen sie nach dem „historischen Jesus“ fragten. Nicht so die meisten Vertreter des „Third Quest“: Sie fragen vielmehr scheinbar unabhängig vom eigenen Ort, an dem sie stehen, nach dem „historischen Jesus“. John Meier hat es wunderbar bildlich formuliert: Sie fragen in einem wissenschaftlichen Konklave, das in einem abgeschlossenen Raum in der Bibliothek von Harvard stattfindet.56 Die Ergebnisse dieses „Konklaves“ mögen in manchem aufregend sein – aber man hat kaum den Eindruck, dass die ehrenwerten Historiker, die an diesem „Konklave“ über den historischen Jesus teilnehmen, öfters aus dem Fenster des Bibliotheksraums hinausgeschaut und sich für die Welt rund um ihre Bibliothek und die Gedanken der Menschen, die an der Bibliothek vorbeispazierten, interessiert hätten. Sie interessieren sich auch nicht für das, was Matthäus über unsere neuzeitliche Frage nach dem historischen Jesus gedacht hätte und dafür, welche kritischen Fragen er allenfalls an ihre Art, nach Jesus zu fragen, stellen würde. Trotzdem will ich mich in diesem Schlussabschnitt einmal auf diese Frage einlassen und zum eigentlichen Thema, dem „historischen Jesus“, aus dem Blickpunkt des Matthäusevangeliums einige Bemerkungen machen – Bemerkungen, die Matthäus selbst extrem merkwürdig und unverständlich vorkommen würden.

56 John P. Meier, A Marginal Jew, Rethinking the Historical Jesus, Vol. II: Mentor, Message, and Miracles, New York etc. 1994, 4 f.

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I. Studien zu Jesus

III. 1 Matthäus als „traditionaler Geschichtserzähler“ Mit der Formulierung „traditionaler Geschichtserzähler“ nehme ich die Terminologie von Jörn Rüsen auf.57 Matthäus ist ein „traditionaler“ Geschichtserzähler. Er erzählt die vergangene Geschichte Jesu als Quelle von Orientierung und Bedeutung. Er will die Kontinuität zur konstitutiven Vergangenheit betonen.58 Seine Neuinterpretationen der Vergangenheit inklusive seine Fiktionen wollen die Bedeutung der Vergangenheit herausstellen: die Fiktionen stehen im Dienste der Vergangenheitsinterpretation. Ein besonderes Charakteristikum des traditionalen Erzählers Matthäus ist, dass für ihn die in seinen fünf grossen Reden enthaltene Lehre Jesu direkt für seine eigene Zeit gültig ist: „Lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,20 a). Die Absicht des traditionalen Geschichtserzählers Matthäus ist es, seinen Lesern die vollständige Lehre Jesu zu überliefern. Darum überliefert er das Markusevangelium fast vollständig, und, soweit wir sehen können, auch die Stoffe der Logienquelle. In seinem Sondergut dürfte er Zugang zu einigen anderen schriftlichen Materialien gehabt haben, die er in sein Evangelium aufnimmt.59 Weil Matthäus ein traditionsorientierter Autor ist, verdient er grundsätzlich Aufmerksamkeit und Vertrauen als wichtige Quelle für die Rekonstruktion Jesu. III. 2 Matthäus ist ein jüdischer Autor und steht dem jüdischen Milieu Jesu nahe Es besteht ein weitgehender Konsens, dass der Evangelist Matthäus ein jüdischer Jesusanhänger ist und dass seine Gemeinden ihren Ursprung im Judentum Palästinas haben, auch wenn ich nicht glaube, dass wir genügend Hinweise haben, die es erlauben, das Evangelium in Galiläa, der Heimat Jesu, zu lokalisieren,60 und die übliche These vorziehe, dass eine syrische Stadt mit einer grossen jüdischen Minderheit (z. B. Antiochia oder eine andere Grossstadt) der wahrscheinliche Ursprungsort des Evangeliums ist. Trotzdem gibt es sehr viel Kontinuität zwischen dem jüdischen Milieu des Evangeliums und Jesus: Nicht nur Jesustraditionen, sondern auch vormatthäische judenchristliche Traditionen, welche der Evangelist übernommen hat, zeigen eine bemerkenswerte Distanz zu Reinheitsvorschriften und anderen rituellen Vorschriften.61 In einem solchen 57 Rüsen,

Vier Typen (o. Anm. 22). Vier Typen 545. 59 Schriftlich überliefert waren Mt eine Sammlung von Antithesen (Mt 5,21 f.; 27 f; (33–37) und die sog. „kultische Didache“ (Mt 6,2–6. 16–18) und vielleicht eine Sammlung von Parabeln. Vgl. Davies  / ​Allison, Mt I (o. Anm. 45), 125 f.; Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 3), 50 f. 60  Vgl. z. B. J. Andrew Overman, Church and Community in Crisis: The Gospel according to Matthew, NTC, Valley Forge 1996, 16–19. 61 Mt und seine Leser missverstehen das Weiss-waschen von Gräbern als Verschönerung (23,27) und nennen die Tefillin „Amulette“ (23,5). Das ist nur in einem Milieu von jüdischer Volksfrömmigkeit möglich, die von einem Verständnis dieser ritualgesetzlichen Vorschriften 58 Rüsen,

3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der „historische Jesus“

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Milieu stiess die Verkündigung Jesu, der kein Pharisäer und kein Schriftgelehrter war, sondern ein fromer ῾am ha᾿aräz, auf offene Ohren. Nicht nur für den galiläischen Juden Jesus, sondern auch für seine späteren Anhänger in Syrien war eine enge Nachbarschaft zu Heiden selbstverständlich und unvermeidbar. Es gibt auch eine Linie der Kontinuität zwischen Jesus, der Israel nicht in exklusiver Weise gegenüber Nicht-Israeliten definierte, und seinen späteren Anhängern, die sich in der Zeit des Jüdischen Kriegs in Syrien niederliessen, dort das heidenchristliche Markusevangelium übernahmen und sich selber der Heidenmission öffneten und diese durch den Missionsbefehl des Auferstandenen, alle Völker zu Jüngern zu machen, legitimierten. Es gibt schliesslich eine Linie der Kontinuität zwischen der Frömmigkeit Jesu, der Gottes Gegenwart in Israel in eschatologischen, nicht in kultischen Kategorien interpretierte, und der späteren Legende von Mt 17,24–27, die so etwas wie eine „positive Distanz“ zum Tempel zeigt. Ich halte das Matthäusevangelium für eine traditionale Geschichtserzählung, das die Jesustraditionen ohne einen radikalen Bruch im kulturellen und religiösen Milieu überlieferte. Radikale Brüche im kulturellen und religiösen Milieu gehen immer zusammen mit Umbrüchen in der Traditionsübermittlung. In einem solchen Fall können Traditionen obsolet werden; sie werden vergessen oder zensuriert. Neue Traditionen werden wichtig, welche neue Normen in neuen Kontexten zu legitimieren haben. Das paulinische urbane, überwiegend heidenchristliche Milieu ist ein Beispiel dafür. Die matthäischen Christen waren jüdische Jesusgläubige. Als solche verstanden sie sich – in ihrer jesuanischen Interpretation und Praxis der Torah und in ihrem Selbstverständnis – als Israeliten und noch nicht als Anhänger einer anderen Religion, die sich vom Judentum unterschied. In einem solchen Milieu konnte auch die Erinnerung daran bewahrt werden, dass Jesus ein Jude war und dass er zu Israel und nicht zu den Heiden gesandt war (Mt 10,5 f).62 In einem solchen Milieu wurden seine Menschensohnworte überliefert und waren mehr als blosse Archaismen. In einem solchen Milieu war Jesu Treue zur Torah nicht ein Problem, weil hier nicht nur die Torah als Zentrum der Frömmigkeit Israels, sondern auch ihre Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und Kontexte selbstverständlich war. Alles das führt zu einem positiven Vorurteil gegenüber dem Matthäusevangelium als einem Gefäss, in dem viel von dem, was Jesus für seine jüdischen Zeitgenossen bedeutete, überliefert wurde. Wir heutigen Heidenchristen sind oft mit dem Anspruch von Seiten jüdischer Freunde konfrontiert, dass sie den Juden Jesus besser verstehen können als wir, eben weil Jesus Jude war und einer von ihnen. An diesem Anspruch ist etwas dran. Mit meiner Annahme, dass der Evangelist Matthäus als Jude in einer kulweit entfernt ist. Die matthäischen Jesusjuden leben nicht in einem Milieu, das vom Pharisäismus geprägt ist. 62 Es bleibt bemerkenswert, dass Mt 10,5 f überliefert wird, obwohl der auferstandene Jesus dieses Gebot in 28,19 f aufhebt.

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turellen und religiösen Kontinuität zu Jesus lebte und darum den Juden Jesus besser verstand als viele andere frühe Christen, möchte ich zugleich eine gewisse Präferenz für solche heutige Jesusbilder formulieren, die in kultureller und religiöser Kontinuität zu ihm formuliert sind. Könnte dies ein Kriterium für die Jesusforschung sein, das wir weiter auszuarbeiten haben? III. 3 Matthäus und unsere Weisen, Jesus zu systematisieren Eines unserer Probleme mit Jesusbildern ist, dass jeder Interpret die verstreuten Einzelworte und ‑traditionen über Jesus systematisieren muss, und dann ein Gesamtbild Jesu formuliert, welches als Rahmen oder Konstruktionsprinzip wirkt, das die Einzelteile des ganzen Puzzles zusammenhält. Dies ist der Grund, warum unsere Jesusbilder oft sehr verschieden sind, sogar wenn wir uns über Authentizität oder Nichtauthentizität von einzelnen Worten oder Überlieferungen verständigen können. Meine Frage ist nun: Könnte es sein, dass manche der matthäischen Systematisierungen  – oder noch häufiger: der matthäischen Nicht-Systematisierungen – von Jesusüberlieferungen besonders nahe zu Jesus selbst kommen, weil sie Konstruktionen eines Juden sind, der Jesus zeitlich und kulturell nahe stand? Ich möchte zwei Beispiele geben: Erstens: Für Matthäus gibt es keinen Widerspruch zwischen der Feststellung, dass Jesus gekommen ist, um die Torah bis zum letzten Jota und Häkchen zu erfüllen (Mt 5,17 f), auf der einen Seite, und den Antithesen auf der anderen.63 Worin besteht hier die matthäische „Logik“? Ist Mt vielleicht gar nicht an logischer Kohärenz interessiert, sondern eher, wie manche Rabbinen, daran, eine Reihe von unterschiedlichen Worten nebeneinander zu stellen? Oder müssen wir unsere Konzepte von Logik und Kohärenz revidieren? Oder ist die jüdische Vorstellung von der lebendigen und sich verändernden Torah so offen, dass sogar das, was wie eine Abschaffung einer einzelnen Torah klingt (z. B. Mt 5,38 f; vgl. 31 f), für Matthäus eine Weise der Erfüllung ist? Oder sind die Einführungsformeln zu den Antithesen rhetorisch und nicht als implizit-christologische Aussagen zu interpetieren? Natürlich lässt sich alles das nicht direkt auf Jesus anwenden, weil einige der besonders sperrigen Logien von Mt 5 vielleicht nicht auf Jesus zurückgehen.64 Wie auch immer: Die matthäische Konstruktion von Jesu Torahverständnis in Mt 5 bleibt eine interpretatorische Herausforderung für unsere Konstruktionen des Verhältnisses Jesu zur Torah. Ein zweites Beispiel zeigt ebenfalls, wie Matthäus Gedanken zusammensehen kann, die für uns Moderne widersprüchlich zu sein scheinen. Er scheint überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben, Jesu – gerade in seinem Evangelium 63 Wahrscheinlich hat Mt selbst 5,17 formuliert und sorgfältig an der Formulierung von 5,18 f gefeilt. Auf der anderen Seite war es auch Mt, der die Zahl der traditionellen Antithesen von drei auf sechs erhöhte. Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 3), 306–308. 325–327. 64 Dies gilt für Mt 5,17. 20. 31. 33. 35 f. 38. 43.

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besonders pronocierten – Gerichtsaussagen mit seiner Verkündigung von Gottes Gnade und seiner segensreichen Gegenwart bei den Armen, den Blinden und den Besessenen zu harmonisieren. Ein Verständnis von Gottes bedingungsloser Gnade, die sich in eine Verurteilung verwandeln kann, wenn sie nicht angenommen wird, scheint für ihn kein Problem zu sein. Warum nicht? Selbstverständlich sind unsere eigenen Versuche, Gerichtsankündigung und Gnade zusammenzusehen, unsere Konstruktionen. Sie sind notwendig, wenn wir, von unseren Denkvoraussetzungen und Prämissen aus, das Matthäusevangelium verstehen wollen. Wir neigen oft dazu, Jesu Ankündigungen des kommenden Gerichts und des kommenden Endes der Welt auf diese oder jene Weise zu verflüchtigen, zu spiritualisieren oder an verdrängen und Jesus zu einem Prediger bedingungsloser Gnade und zu einem ethischen Lehrer zu reduzieren. Unsere gutgemeinten Versuche nehmen wenig ernst, dass Jesus – der „historische“ Jesus und der matthäische Jesus – ein Gerichtsprediger war und das nahe Weltende ankündigte. Aber dennoch, so denke ich, bedeuten die matthäischen Nicht-Systematisierungen für uns heutige westliche Interpreten Jesu eine Herausforderung: Denn auch unsere Systematisierungsversuche könnten letztlich noch ein Versuch sein, das Gericht als Gnade umzudeuten. Für mich besonders bedrängend ist die Frage, warum Matthäus oft an Punkten gar keine Probleme zu sehen scheint, wo wir moderne Interpreten uns vollkommen hilflos vorkommen. Ist in dieser Hinsicht Matthäus wie ein traditionsorientierter jüdischer Rabbi, der verschiedene Traditionen und Themen nebeneinander stellt und sie nicht zensuriert oder beurteilt?65 Oder liegt das daran, dass Matthäus von Jesus erzählt, während unsere eigenen Interpretationen seine Erzählungen mit begrifflich nach-zeichnen? Solche Fragen, die Matthäus an gegenwärtige (Re)Konstrukteure und Interpreten des historischen Jesus stellt, verdienen es, gehört zu werden. III. 4 Johannes der Täufer und Jesus Ein besonderer Punkt betrifft das Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus. Nur wenige Worte des Täufers sind erhalten; deswegen sind unsere Möglichkeiten, ein Gesamtbild des Täufers zu konstruieren, sehr vielfältig. Christlich-theologische Rekonstruktionen von Johannes dem Täufer neigen oft dazu, eine fundamentale Differenz zwischen dem Täufer und Jesus zu postulieren. Der Täufer ist dann ein Verkünder des nahenden Weltendes und des drohenden Vernichtungsgerichts; Jesus verkündet die Ankunft des Gottesreichs als bedingungs65 Mein

eigener tastender Versuch, die Gerichtsverkündigung des matthäischen Jesus in ein kohärentes Gesamtbild der matthäischen Christologie und Eschatologie zu integrieren, mag das illustrieren: Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Ostfildern 22012, 544–557. Der Unterschied zwischen meinem eigenen Bemühen, die matthäischen Aussagen zu systematisieren, und der Abwesenheit eines solchen Bemühens bei Matthäus ist auffällig!

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lose Liebe Gottes.66 Die matthäische Konstruktion des Täufers unterscheidet sich von solchen Ansichten: Nach Matthäus war zwar der Lebensstil beider sehr verschieden, aber ihre Verkündigung und ihr Schicksal war dasselbe. Könnte es sein, dass die matthäische Konstruktion der historischen Wahrheit näher kommt? III. 5 Jesus als ein wahrer Jude Mein letzter Punkt bezieht sich nicht auf die historische Rekonstruktion Jesu, sondern auf die gegenwärtige Bedeutung unserer Konstruktionen des Juden Jesus. Matthäus konstruiert ein Bild Jesu als eines wahren Juden: Er erfüllt die Torah und alle Gerechtigkeit; er ist der heilende messianische Davidsohn mitten in seinem Volk Israel; seine Sendung und sein Schicksal stehen in Kontinuität zur Sendung und zum Schicksal von Israels Propheten. Für Matthäus ist es gerade diese Sendung des wahren Juden Jesus, die ihn in Konflikte mit Israels Führern und in den Tod führte. Gerade sie ist es auch, die letztlich zum Auseinandergehen der Wege zwischen den Jesusgemeinden und den pharisäisch geführten Mehrheitssynagogen in Israel geführt hat. Darum geht es in der Jesusgeschichte des Matthäus. Diese Erfahrung war für Matthäus so katastrophal und einschneidend, dass er sie nur verstehen und verarbeiten konnte, indem er das Bild der jesusfeindlichen Führer Israels ganz schwarz malte. Für Matthäus waren sie keine wahren Juden, sondern Heuchler und – letztlich – Kriminelle, die mit Hilfe von Bestechung und Lügen ihre Ziele verfolgten (Mt 26,14–16; 27,5–10; 28,14 f). In seiner Jesusgeschichte gibt Matthäus den Pharisäern, Schriftgelehrten und Hohenpriestern keine Chance, dass auch sie ihre Sicht dessen, was wahres Judentum ist, darlegen konnten. Aber auch ohne dies ist das matthäische Bild von Jesus als wahrem Juden wichtig, weil es ein Bild eines zeitgenössischen Juden aus dem ersten Jahrhundert ist und eine Möglichkeit des Judentums dieser Zeit aufzeigt. Sein Bild kommt vielleicht dem Bild eines wahren Juden, das Jesus selbst hatte, nahe. Die Vision von wahrem Judentum, die Jesus und Matthäus hatten, sind für uns heute wichtig, weil sie eine jüdische Stimme im bis heute weitergehenden innerjüdischen Dialog über Judentum und Judentümer repräsentieren. Und – last but not least – die matthäische Sicht des wahren Juden Jesus könnte für uns nicht-jüdische Christen wichtig sein als Hilfe, um ein eigenes Jesusbild zu konstruieren, das nicht als Stein des Anstosses, sondern als Brücke zwischen Christen und Juden wirksam wird. 66 Diese

weitverbreitete Überzeugung ist schön zusammengefasst bei Jürgen Becker, Jesus von Nazareth, Berlin 1996, 98 f: „Ohne die Autorität des Täufers zu hinterfragen, nahm Jesus es also nicht hin, dass das Gericht, wie es Johannes ankündigte, das letzte Wort Gottes an sein Volk sei. Vielmehr war Jesus der Überzeugung, dass er dazu berufen sei, angesichts der Gerichtsverfallenheit von ganz Israel Gott als endgültigen Retter der Verlorenen auszurufen.“ (Zitat: 98)

4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte Zu diesem Thema einen Aufsatz schreiben zu wollen, mag fast absurd scheinen. Was haben denn die in den Evangelien überlieferten Geburtsgeschichten Jesu mit „Geschichte“ zu tun? Die Geburtsgeschichten Jesu in Mt 1,18−2,23 und Lk 1,5−2,40 sind unabhängig voneinander entstanden – so urteilen heute fast alle Forscher mit Recht. Ihre historische Basis ist allein deshalb sehr dünn und brüchig. Gilt dies schon von den kanonischen Evangelien, so umso mehr von den relativ wenigen apokryphen Evangelien aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert, welche eine Geburtsgeschichten enthalten. Das Protevangelium des Jakobus setzt die Kindheitsgeschichten des Matthäus‑ und des Lukaevangeliums voraus. Die Kindheitsgeschichten des Thomas füllen den durch Lk 2,40 überbrückten Zwischenraum und enden mit einer Variation der Erzählung vom Zwölfjährigen im Tempel (EvInfThom 19 = Lk 2,41−52). Das von den Ebioniten gebrauchte „Matthäusevangelium“ enthielt keine Kindheitsgeschichten: Epiphanius berichtet, ihr Evangelium beginne mit dem Auftreten Johannes des Täufers, der „in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, unter dem Hohenpriester Kajaphas“ am Jordan zu taufen begonnen habe (Epiphanius XXX 14,3; vgl. XXX 13,6)1. Diese Information passt zum Wissensstand des Irenäus: Nach ihm haben die Ebionäer ein Matthäusevangelium benutzt (haer I 26,2; III 11,7), aber die Jungfrauengeburt abgelehnt (III 21,1; V 1,3). Die jüngst von Brent Landau unter dem Titel „Offenbarung der Magier“ neu bekannt gemachte Chronik von Zuqnin, ein Text, der in seinem Kern ins 2. Jh. zurückgehen könnte, enthält eine theologisch hoch interessante Variation des Magierstoffs von Mt 2; sie ist gegenüber Mt 2 aber klar sekundär.2 Der einzige mir bekannte Text, der vielleicht von den mt Geburtsgeschichten unabhängige Traditionen enthält,3 ist die am Schluss der jüdisch-christlichen Ascensio Jesaiae eingefügte Vision des Jesaia. Sie ent1 Texte bei Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I. Evangelien, Tübingen 51987, 119. 140 f. Die Texte enthalten eindeutige Reminszenzen an Lk 3,2 f und setzen die Geburtsgeschichte des Johannes des Täufers nach Lk 1 voraus. 2 Enrico Norelli, Les plus anciennes traditions sur la naissance de Jésus, in: Claire Clivaz u. a. (Hg.), Infancy Gospels, WUNT 281, Tübingen 2011, 47–66, dort 47–50. Nach Norelli basieren der Text von Mt 1–2 und der Text von Asc Jes 11 auf einer gemeinsamen Quelle. 3 Vgl. Brent C. Landau, Revelation of the Magi, New York 2010 (englische Übersetzung und kurze Einführung). Eine vom Verfasser angekündigte ausführliche wissenschaftliche Untersuchung des Textes ist bisher nicht erschienen.

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spricht in ihrem ersten Teil der matthäischen Geburtsgeschichte Mt 1,18–25; 2,23, weiss aber von den Magiern, dem Kindermord und einer Flucht nach Ägypten nichts. Dafür enthält sie die bei Mt fehlende Schilderung der Geburt Jesu (Asc Jes 11,2–15). Kurz: Fragen wir nach dem, was die Geburtsgeschichten an historischen Informationen enthalten könnten, so müssen wir uns an die kanonischen Evangelien halten. Es empfiehlt sich, entsprechend dem Kriterium der Mehrfachbezeugung nach der Historizität derjenigen Informationen zu fragen, die in beiden Evangelien gleich überliefert sind. Es ist nicht ganz wenige,4 aber es fällt auf, dass die „Mehrfachbezeugung“ in der Regel nur eine Zweifachbezeugung ist, die sich auf die beiden Geburtsgeschichten beschränkt. Innerhalb des Neuen Testaments bleiben die Geburtsgeschichten isoliert; was sie erzählen, findet in anderen Texten kaum einen Niederschlag.5 An historischen Informationen gehört dazu: 1. die Geburt Jesu unter Herodes dem Grossen (Mt 2,1; vgl. Lk 1,5 [anders Lk 2,1 f]); 2. die Geburt Jesu in Betlehem (Mt 2,5 f; Lk 2,4.15) und die Übersiedlung / ​Rückkehr an den (neuen) Wohnort Nazaret (Mt 2,22 f; Lk 2,39); 3. Josef ist Davidide (Mt 1,6.16; Lk 1,27; 2,4; 3,23.32); 4. die Jungfrauengeburt als Wirkung des heiligen Geists (Mt 1,18–25; Lk 1,26–38); 5. Maria ist mit Josef verlobt (Mt 1,18–20; Lk 1,27; 2,5).

Darüber hinaus sind beiden Geburtsgeschichten eine ganze Reihe von Erzählzügen gemeinsam: Dazu gehören Angelophanien (mit vielen gemeinsamen Epiphanie-Motiven), Geburtsanzeigen mit Namengebung und die beiden Genealogien. Sehr ähnlich ist auch auch der christologische Skopus der beiden Geburtsgeschichten: In beiden wird Jesus als künftiger davidisch-messianischer König eingeführt. In beiden ist er „Retter“ seines Volkes von seinen Sünden (Mt 1,21; Lk 1,77; vgl. 2,11.30) und Sohn Gottes; beide kennen eine universalistische Perspektive: Jesus wird den Heiden den Zugang zum Gott Israels öffnen. Natürlich ist beiden Geburtsgeschichten auch der Rückbezug auf die Bibel gemeinsam, auch wenn die in ihnen zitierten oder evozierten Texte, Gestalten und Motive ziemlich verschieden sind. Alle diese Übereinstimmungen sind bemerkenswert: Sie zeigen ein hohes Mass an christlichen „common beliefs“ und weisen auf die prägende Kraft der Bibel Israels, ohne welche die Geburtsgeschichten gar nicht hätten erzählt werden können.

4 Übersichtliche Listen der Gemeinsamkeiten finden sich z. B. bei Raymond Brown, The Birth of the Messiah, New York 1977, 34 f; Joseph Fitzmyer, The Gospel according to Luke I–IX, AncB 28, Garden City 1981, 307; am ausführlichsten im von Jeremy Corley unter dem Titel „New Perspectives on the Nativity“, London 2009 herausgegebenen Sammelband, dort 200 f. 5 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, 11 weist darauf hin, dass sogar in den Zusammenfassungen der Geschichte Jesu in der Apg die lk Geburtsgeschichten keine Rolle spielen.

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Die Aufgabe, welche ich mir im Folgenden stelle, ist eine doppelte: Einerseits möchte ich nochmals die Frage stellen, was die Geburtsgeschichten an historischen Informationen enthalten. Dabei werde ich vom zum Klassiker gewordenen Lehrbuch von Gerd Theißen und Annette Merz ausgehen und fragen, ob sich über das hinaus, was sie dazu gesagt haben, irgend etwas sagen lässt (Abschnitt I). Wichtiger ist mir aber eine zweite, viel seltener gestellte Frage: Haben die Evangelisten selbst die Geschichten, die sie über die Geburt Jesu erzählten, für „wirklich geschehen“ gehalten? Wenn ja, in welcher Weise und wodurch waren sie für sie „Geschichte“? Damit ist die Frage nach dem Geschichts‑ und Wirklichkeitsverständnis der Evangelien gestellt, das sich von unserem eigenen wesentlich unterscheidet (Abschnitt II).

I. Beruhen die Geburtsgeschichten auf historischen „Fakten“? Theißen / ​Merz kommen fast nur in drei Zusammenhängen auf die Geburtsgeschichten zu reden. Der erste betrifft das 1. Geburtsjahr Jesu. Ihr vorsichtiges Fazit lautet: „Das Geburtsjahr Jesu lässt sich nicht ermitteln, eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht für die letzten Regierungsjahre Herodes des Grossen“.6 Ihre Argumente möchte ich nur kurz andeuten: eine vorsichtige Auswertung der übereinstimmenden Aussagen von Mt 2,1ff und Lk 1,5; eine ebenso vorsichtige Auswertung der astronomischen Überlegungen zum „Stern“ von Mt 2,2ff; Skepsis gegenüber dem lukanischen reichsweiten Zensus (Lk 2,1 f), der so wie ihn Lukas beschreibt zur Zeit, als Quirinius Legat in Syrien war (wahrscheinlich 6/7 n. Chr.), nicht stattgefunden hat. Kommt man hier weiter? Michael Wolter hat versucht, den zeitlichen Abstand zwischen der Geburt des Johannes und derjenigen Jesu zu verlängern und den Widerspruch zwischen Lk 1,5 und 2,1 f möglicherweise sogar aufzuheben: Er weist – mit Recht – darauf hin, dass ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις (Lk 2,1) auf den in Lk 1,80 genannten längeren Zeitraum des Heranwachsens des Täufers zurückverweise und kaum auf die weit zurückliegende Zeitangabe von Lk 1,5 („in den Tagen des Herodes …“). Weniger einleuchtend scheint mir seine These, dass die allgemeine Aussage der Elisabeth εὐλογημένος ὁ καρπὸς τῆς κοιλίας σου (Lk 1,42) keineswegs voraussetze, dass Maria bereits schwanger sei.7 Aber sowohl der der Leibesfrucht Marias in 1,42 direkt zugesprochene Segen als auch die Anrede Marias als „Mutter meines Herrn“ in 1,43 veranlasst m. E. die Leser / ​innen, die im Text bestehende Leerstelle so aufzufüllen, dass sie bereits schwanger ist. 6 Gerd Theißen  / ​Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 151. 7 Michael Wolter, Wann wurde Maria schwanger?, in: Rudolf Hoppe / ​Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin etc 1998, 405–422, bes. 410–416; vgl. ders., Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 98.121.

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Ausserdem müsste Wolter die Zeit der Verlobung Marias, die bereits Lk 1,27 erwähnt ist, auf mehrere, im Falle einer völligen Harmonisierung der Zeitangaben auf mehr als zehn Jahre verlängern, was doch wohl undenkbar ist.8 Ich bleibe also bei der traditionellen Interpretation und damit bei einem unaufhebbaren, von Lk nicht bemerkten Widerspruch zwischen den Zeitangaben von Lk 1,5 und 2,1 f. Damit bleibe ich auch beim vorsichtigen Urteil von Theißen: Jesus wurde wahrscheinlich in den letzten Regierungsjahren von Herodes dem Grossen geboren. 2. Die zweite von Theißen / ​Merz anhand der Geburtsgeschichten erörterte Frage betrifft den Geburtsort Jesu. Mt und Lk stimmen darin überein, dass Jesus in Betlehem geboren wurde. Damit hört die Übereinstimmung aber bereits auf: Mt 2 setzt voraus, dass der Davidide Josef dort wohnt und vermutlich sogar ein Haus hat (Mt 2,11). Nur wenn die Familie in Betlehem wohnt, macht es Sinn, dass Herodes alle Kinder aus Betlehem und Umgebung bis zum Alter von zwei Jahren töten lässt. Die Übersiedlung der Familie nach Nazaret in Mt 2,22 f ist also nicht, wie bei Lk, eine Rückkehr; vielmehr zieht die Familie Jesu erstmals dahin. Bei Lukas hingegen ist Nazaret Wohnort der Maria (Lk 1,26) und vermutlich auch ihres Bräutigams Josef. Von dort zieht sie ins Bergland von Juda, um ihre Verwandte Elisabeth zu besuchen (1,39); von dort zieht dann auch der Davidide Josef in „seine Stadt“, um sich mit seiner Braut einschätzen zu lassen (2,3–5). Nach ihrer Reinigung im Tempel kehren sie mit dem Jesuskindlein an ihren Wohnort Nazaret zurück (2,39). Theißen / ​Merz folgen dem Johannesevangelium und dem Markusevangelium, die voraussetzen, dass Jesus aus Nazareth stammt und die von einer Geburt in Betlehem nicht nur nichts wissen (Mk 6,1; Joh 1,45 f), sondern sie – so Joh 7,41 f – ausdrücklich verwerfen: Als Messias müsste Jesus ja aus Betlehem kommen; er ist aber Galiläer, also nicht der Messias. Das Fazit von Theißen / ​Merz ist eindeutig: „Jesus stammt aus Nazareth. Die Verlagerung des Geburtsortes nach Bethlehem ist ein Ergebnis religiöser Phantasie“.9 Auch dem ist nichts beizufügen. 3. Dass Josef Davidide war, wird nicht nur durch die beiden Geburtsgeschichten direkt bezeugt. Vielmehr ist die Überzeugung, dass Jesus „nach dem Fleisch aus dem Samen Davids stammt“ (Röm 1,3), im frühen Christentum weit verbreitet (vgl. Mk 10,47 f; 2 Tim 2,8) und wird auch durch die auf Hegesipp zurückgehende Überlieferung, dass Grossneffen Jesu in der domitianischen Verfolgung deswegen verhört worden seien (Euseb, h.e. III 20,1–6), gestützt. Allerdings scheint auch Jesu davidische Abstammung schon früh von jüdischer Seite bestritten worden zu sein (Joh 7,42). Auffällig ist, dass sie sowohl im alten Bekenntnis Röm 1,3 f als auch in den Geburtsgeschichten (Mt 1,18–25; Lk 1,32 f.35) in verschiedener Weise durch die Gottessohnschaft überhöht worden 8 In jüdischen Texten ist zwar nicht die Zeitdauer der Verlobung, wohl aber die Zeitdauer von der Aufforderung zur Heirat bis zur Hochzeit auf maximal zwölf Monate begrenzt (mKet 5,2). 9 Theißen / ​Merz, Jesus 158.

4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte

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ist. Ein selbständiges und übergeordnetes christologisches Interesse haftete also an der Davidssohnschaft Jesu nicht. Gerade deshalb muss man wie Theißen „mit der Möglichkeit rechnen, daß sich die Familie Jesu tatsächlich davidische Abstimmung zuschrieb“.10 4./5. Über die Historizität der Jungfrauengeburt, die in beiden Geburtsgeschichten auf das Wirken des heiligen Geistes zurückgeführt wird (Lk 1,35; Mt 1,18.20), und – damit zusammenhängend – über die Verlobung Marias mit Josef schweigen Theißen / ​Merz, obwohl gerade das Nebeneinander beider Informationen grosses historisches Interesse geweckt hat: Jesus wurde offensichtlich vor der Hochzeit des Josef und der Maria gezeugt. Zu den Informationen in den Geburtsgeschichten treten zwei auffällige und heiss diskutierte Bibelstellen: In der textkritisch umstrittenen11 Stelle Mk 6,3 sagen die Nazarener: „Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn Marias und Bruder des Jakobus, des Joses, des Juda und des Simon?“ Warum wird der Vater Josef hier – im Gegensatz zur üblichen Patronymie – nicht genannt? Es gibt hierzu viele Erklärungsversuche – die wahrscheinlichste ist nach wie vor die traditionelle, dass Josef damals nicht mehr lebte. Die andere, hier oft angeführte Stelle ist die Aussage der Juden in Joh 8,41: „Wir sind nicht aus Unzucht hervorgegangen; wir haben einen einzigen Vater, Gott!“ Auch hier liegt wahrscheinlich kein Hinweis auf eine uneheliche Geburt Jesu vor, sondern biblische Sprache (vgl. Hos 1,2; 2,6 etc). Trotzdem bleibt die Verbindung der Jungfrauengeburt mit dem Wissen darum, dass Maria mit Josef (nur!) verlobt war, auffällig. Jüdische Polemik hat sich dieses Wissen bekanntlich zunutze gemacht und es auf ihre Weise interpretiert: Es taucht in der Christenpolemik des Celsus auf, der sich auf einen jüdischen Gewährsmann beruft: Jesus sei der Sohn einer einfachen Spinnerin gewesen, die von ihrem Verlobten, einem Zimmermann, wegen Ehebruchs mit einem Soldaten namens Panthera verstossen worden sei (Origenes, Cels I 32; vgl. I 28). Die Jungfrauengeburt wird in Cels I 28 als von Jesus selbst in die Welt gesetzter Betrug erklärt, mit dem er seine illegitime Geburt verschleiern wollte. Diese Angabe wird in I 28 mit der Ägypten-Tradition verbunden; es ist also deutlich die Abfolge von Mt 1,18–2,21 vorausgesetzt. Eine ähnliche Erklärung der Geburt Jesu taucht später im babylonischen Talmud auf.12 Auch in moderner wissenschaftlicher Literatur sind solche Erklärungen nicht ausgestorben: Nach Morton Smith hat sich Jesus wahrscheinlich in Ägypten als Magier ausbilden 10 Theißen / ​Merz,

Jesus 184. Teil der textlichen Überlieferung, vielleicht schon p45, passt an Mt 13,55 an und liest: ΤΟΥ ΤΕΚΤΟΝΟΣ ΥΙΟΣ. Was auch immer die Gründe für diese mt Textänderung gewesen sein mögen: Es ging dem Evangelisten Mt, der die Jungfrauengeburt kannte und bejahte, sicher nicht darum, sie abzulehnen, und auch nicht darum, anzudeuten, dass eben die ungläubigen Nazarener Jesus für den Sohn des Zimmermanns Josef hielten (eine solche versteckte Ironie liegt auch in 13,55 b und 13,56 nicht vor). 12 BSanh 67 a; bSchab 104 b. Zur Interpretation Peter Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007, 29−49. 11 Ein

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lassen.13 Nach Bruce Chilton war er ein mamzer, ein Bastard, genauer: ein vorehelich gezeugtes Kind.14 Jane Schaberg vermutet, Maria könnte vergewaltigt worden sein. Wenn Matthäus und Lukas beide betonten, Jesu Zeugung sei ein Werk des heiligen Geistes, so höben sie bewusst den Makel auf, der durch ein aussereheliches Kind an Maria haftete. Ihre These von der Geistzeugung ist dann gleichsam eine Protestinterpretation.15 Die jüdische Tradition, die Celsus in seiner Polemik aufnimmt, setzt m. E. den Erzählungsfaden von Mt 1–2 eindeutig voraus, auch die Jungfrauengeburt. Sie ist also eine Reaktion auf die Jungfrauengeburt, nicht umgekehrt. Aber dennoch bleibt die Verbindung der Jungfrauengeburt mit dem Traditionswissen, dass Maria die Verlobte und noch nicht die Ehefrau Josefs war, auffällig. Hellenistische Parallelen, etwa die Geburtslegenden über Plato oder Alexander den Grossen, aber auch die mit Mt 1 viele Berührungen aufweisende jüdische Überlieferung von der „Jungfrauengeburt“ des Melchisedek durch die schon alte, bisher kinderlose Ehefrau des Nir, Sopanima, in slavHen 71 zeigen, dass Geburten durch göttliche Einwirkung auch von verheirateten Frauen erzählt werden konnten. Dass Maria mit Josef erst verlobt war, ist also kein typisches Begleitmotiv einer übernatürlichen Geburt, sondern muss erklärt werden. Aber wie? War Jesus vielleicht doch ein aussereheliches Kind, evt. ein voreheliches Kind von Maria und Josef? Ich weiss es nicht.

II. Hielten die Evangelisten die Geburtsgeschichten für „wirkliche“ Geschehnisse? Im zweiten Teil dieses Aufsatzes frage ich nach den Evangelisten. Waren die Evangelisten selbst der Meinung, dass das, was sie in den Geburtsgeschichten erzählten, „wirklich geschehen“16 sei? Oder haben sie die Geburtsgeschichten bewusst fingiert, etwa nach der Art einer frei erfundenen Haggadah oder einer im weitesten Sinn midraschartigen Erzählung? Ich gehe in mehreren Schritten vor. In einem ersten Abschnitt (II. 1) stelle ich die Vorfrage nach den Quellen, welche die Evangelisten benutzten. Haben sie Quellen benutzt, so waren es nicht sie, sondern frühere Erzähler, welche die Geschichten fingiert haben; für die Evangelisten waren sie dann bereits Teil der Tradition (welche sie natürlich auf unterschiedliche Weise verstehen konnten). In einem zweiten Abschnitt (II. 2) möchte ich mithilfe eines kurzen Rundblicks in die Umwelt die Frage 13 Morton

Smith, Jesus der Magier, München 1981, 86–88. Chilton, Rabbi Jesus. An Intimate Biography, New York 2000, 6–13. 15 Jane Schaberg, The Illegitimacy of Jesus, Sheffield 21995, 74–77.138–143.151–153. Sie findet in Lk 1,27.48 stehen gebliebene Anspielungen auf Dtn 22,23–27. 16 Ich setze dies in Anführungszeichen, um anzudeuten, dass die Frage nach der Faktizität eines Geschehens eine moderne Frage ist, welche die Evangelisten so gar nicht stellen konnten. 14 Bruce

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stellen, welche Möglichkeiten, einen narrativen Text als Fiktion zu erkennen, es damals überhaupt gab. Ein dritter Abschnitt (II. 3) gibt einen kurzen Forschungsüberblick. Ein vierter und fünfter Abschnitt schliesslich wendet sich den matthäischen (II. 4) bzw. den lukanischen Geburtsgeschichten (II. 5) zu. II. 1 Die Quellen der Geburtsgeschichten Für Mt 1,18–2,21 ist die Sachlage verhältnismässig einfach. Viele Forscher sind sich darin einig, dass Mt 1,18–2,21 nach dem Modell eines weit verbreiteten Erzählungskranzes von der Geburt, der Verfolgung und der Rettung eines königlichen Kindes erzählt ist, den es z. B. bei Abraham, Mose, Zarathustra, Kypselos, Kyros, Mithridates, Romulus und Remus, Gilgames, Krischna und anderen gibt. Am nächsten sind die Parallelen zu den Geburtsgeschichten des Mose, welche den ersten Erzählern von Mt 1,18–2,23 sicher bekannt waren. Man rechnet also mit einem traditionellen Erzählungskranz, der vermutlich vom Evangelisten Matthäus erstmals verschriftlicht wurde.17 Matthäus ist auch für die Einfügung der Erfüllungszitate verantwortlich, die zwar manchmal schon mit entsprechenden Erzählstoffen verbunden gewesen sein könnten, aber von ihm ausgewählt, mit seiner Erfüllungsformel eingeleitet und seinem christologischen und heilsgeschichtlich-geographischen Programm dienstbar gemacht wurden. Hierüber besteht ein relativ breiter Konsens.18 Weniger wahrscheinlich ist m. E., dass Mt 1,18–25 und Mt 2,1–21 in der Tradition voneinander ganz unabhängig waren.19 Nicht durchsetzen konnten sich auch weitergehende und detailliertere traditionsgeschichtliche Schichtungsvorschläge für einzelne Textabschnitte, wie sie z. B. R. Brown für Mt 1,18–25 und Davies / ​Allison für den ganzen Textabschnitt vorgeschlagen haben.20 Die durchgehende matthäische Bearbeitung des mündlich überlieferten Erzählkranzes erlaubt m. E. solche Thesen nicht. Sie sind für uns auch gar nicht wichtig. Wichtig ist allein die Feststellung, dass der Evangelist einen in der Gemeinde bekannten Erzählkranz verschriftlicht, akzentuiert und durch seine Erfüllungszitate mit dem Ganzen seiner Jesuserzählung verbunden hat: Sie setzen wichtige christologische Akzente, die durch den Fortgang der Erzählung vertieft werden.21 Ihre geographischen Angaben präludieren den Weg Jesu und seiner Jünger von Israel zu den Völkern.22 17 Deshalb

gibt es in Mt 1,18–2,23 überdurchschnittlich viel mt Vorzugsvokabular. William D. Davies / ​Dale C. Allison, The Gospel according to Saint Matthew I, ICC, Edinburgh 1988, 190–195; Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium I, HThK I/1, Freiburg etc. 1986, 15 f. 33–35. 47–49; Craig Keener, A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids 1999, 81–83; Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​Düsseldorf 52002, 125. 190–193. 19 So z. B. Donald A. Hagner, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas 1993, 23. 20 Brown, Birth (o. Anm. 4), 155–159; Davies  / ​Allison, Mt I, 194 f. 21 Gottessohn (1,23; 2,15): Vgl. 3,13–4,11; Immanuel (1,23). 22 Betlehem (2,6); Ägypten (2,15); Rama (2,18); Nazaret (2,23); am Ende des bis 4,16 reichenden Prologs: Galiläa der Heiden (4,15). 18  Z. B.

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Matthäus erzählt also in Kap 1–2 seinen Leser / ​innen und Hörer / ​innen vermutlich bekannte Geschichten vom Jesuskind. Dass sie bekannt waren, zeigt sich an diversen Leerstellen, welche sie aus ihrem Traditionswissen auffüllen können: Die wichtigste dieser Leerstellen ist die nicht erzählte Geburt Jesu (zwischen 1,25 und 2,1). Auffällig ist auch, dass in 1,18 Maria und Joseph nicht eingeführt werden. Auch über die Geistzeugung Jesu wissen die Leser Bescheid; der Engel braucht ihnen in 1,18 nicht zu erklären, was er in 1,20 dem Josef erklären wird. Sowohl 1,18−22 als auch 2,13–21 sind ausgesprochen knapp erzählt: Diese Episoden sind eher Erzählgerippe mit den wichtigsten Informationen als ausgeführte Erzählungen. Heutige Leser füllen die Leerstellen und diese Erzählgerippe selbstverständlich auf, z. B. durch bibelkundliches und anderes Wissen oder durch die Erfahrungsperspektive der Maria, die sie aus dem Lukasevangelium kennen. Hatten die Erstrezipient / ​innen von Mt 1–2 vergleichbare Möglichkeiten? Der Evangelist Matthäus hat also 1,18–2,21 nicht „ex nihilo“ erfunden. Die Frage lautet also: Wie hat er die ihm überlieferten Traditionen verstanden? Als Berichte über Geschehnisse oder als fromme Haggadah? Die allfälligen „Erfinder“ unserer Geschichten sind uns unbekannte Erzähler in den vormatthäischen Gemeinden. Komplexer und umstrittener sind die Quellenfragen bei Lk 1–2. Adolf Harnack schrieb im Jahre 1906, dass Lukas die ersten beiden Kapitel seines Evangeliums verfasst habe, weil ihr „Wortschatz, Sprachcharakter und Stil … total lukanisch“ sei.23 In seinem etwas mehr als hundert Jahre später geschriebenen glänzenden Lukaskommentar kommt Michael Wolter grosso modo zum selben Ergebnis: Fast überall stellt er fest, dass man „Lukas … für den ersten Erzähler auch dieser Episode zu halten habe“, auch wenn er durchaus auf christologische oder biographische Einzeltraditionen zurückgegriffen haben könne.24 Zu möglichen vorlk Quellen des Magnifikats stellt er beispielsweise fest, dass „die jeweiligen Entscheidungen“ der Forscher „sich durchweg ausserhalb eines objektivierbaren methodischen Plausibilitätssystems bewegen“.25 Ein hartes, aber m. E. im Wesentlichen zutreffendes Urteil! Die Quellenforschung an den lukanischen Geburtsgeschichten wurde wesentlich angestossen durch die Beobachtung von Martin Dibelius, dass eine wie auch immer geartete „Unterlegenheit des Täufers“ gegenüber Jesus „in der Geburtsgeschichte des Täufers überhaupt nicht hervor“trete, dass diese also täuferischer Herkunft sein müsse.26 Diese Beobachtung ist zwar richtig, die daraus gezogene Schlussfolgerung aber 23 Adolf

Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament. I Lukas der Arzt, Leipzig 1906, 69–74, Zitat 69. 24 Wolter, Lk (o. Anm. 7), 85 zu Lk 1,26–38. 25 Ebd. 99 26 Martin Dibelius, Jungfrauensohn und Krippenkind (1932), in: ders., Botschaft und Geschichte I, Tübingen 1953, 1–78, dort 3.

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nicht zwingend, denn in den lukanischen Geburtsgeschichten lässt sich fast ausnahmslos alles ungezwungen lukanisch deuten, auch die hohe Würde des Täufers: Joseph Verheyden hat jüngst gezeigt, dass nicht die Abwertung, sondern die Überbietung des Täufers lukanisch ist: Der Täufer ist gross; Jesus ist noch grösser; „the greater the first, the greater still the second“.27 Ist die Geschichte der Versuche, Quellen von Lk 1 und 2 zu isolieren, die Geschichte eines Holzweges? Ich denke: Zum grösseren Teil ja. Sie führte fast nur dann zu übereinstimmenden Resultaten, wenn die Thesen vage, allgemein und unscharf blieben.28 Man kann zwar postulieren, dass Lukas traditionelle Legenden neu erzählt,29 aber es ist schwer zu sagen, wie sie vor Lukas ausgesehen haben, da im heutigen Text alles, die Gestaltung im Einzelnen, das Vokabular, der Stil und die Komposition lukanisch ist. Der Text von Lk 1–2 ist sprachlich voller Semitismen, aber diese Semitismen sind alle als Septuagintismen verstehbar.30 Lukas beherrscht die Kunst der Stilvariation meisterhaft, sodass die Tatsache, dass in Lk 1–2 die Dichte der Septuagintismen viel höher ist als in anderen Teilen seines Evangeliums, ebenso gut auf seinen Gestaltungswillen zurückgehen kann wie auf von der LXX geprägte Quellen.31 Auf der anderen Seite gibt es auch in Lk 1–2 eine beachtliche Zahl von Gräzismen,32 die zeigen, dass es ein griechischsprachiger Schriftsteller ist, der hier biblisches Sprachkolorit schafft oder übernimmt. Es ist ferner unbestreitbar, dass die Geburtsgeschichten, vor allem diejenigen von Lk 1, in ganz hohem Masse von alttestamentlichen Vorbildgeschichten geprägt sind – vor allem Simson (Ri 13), Sarah (Gen 18) und Hannah (1 Sam 1 f) sind wichtig. Auch das kann sowohl auf Lukas, wie auf eine Quelle, wie auf die Harmonie beider weisen. Spannungen und Brüche, die wirklich deutlich auf das Vorhandensein von Quellen weisen, gibt es kaum. So 27 Joseph Verheyden, Creating Difference through Parallelism, in: Clivaz, Infancy Gospels (o. Anm. 2), 138–160, Zitat 160. 28 Beispiele für ins Detail gehende Vorschläge für Quellenscheidung, die sich nicht durchgesetzt haben: Schweizer, Lk (o. Anm. 5), 10 f nimmt an, dass Lk 1,5–24 a.46–48 a.49–​55.57– 66.68–75 aus Täuferkreisen stammen und wahrscheinlich bereits vor Lk durch Jesustraditionen ergänzt wurden. 2,8–20 sei eine Einzeltradition; auch 2,3–7.22–38.42–51 a sei wohl eine vorlk Tradition. Nach Walter Radl, Das Evangelium nach Lukas. Kommentar. Erster Teil: 1,1– 9,50, Freiburg – Basel – Wien 2003, 44.57 f.75–77.87–89.107–109.124 f sind wahrscheinlich lk: 1,5 a.10.13 c.15 c.20 a.21.23ab; ein Grossteil von 1,26–38; 1,39–41 a.(43–45).48 b.55 a (ursprünglich sei eine Angelophanie vor Elisabeth erzählt worden; das traditionelle Magnifikat sei ein Hymnus der Elisabeth). 65–67.69 f.80; 2,(1–7).(15).19.21.(22–24).(28–33).37 b.39 b.40. 29  So z. B. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1–9,50), EKK III 1, Zürich / ​ Neukirchen 1989, 47 f.; Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/3, Göttingen 2006, 46. 30 Chang Wook Jung, The Original Language of the Lukan Infancy Narrative, JSNT.S 167, London / ​New York 2004, 210: Es gibt in Lk 1–2 keine „hard core semitisms“. d. h. keine Semitismen, die nur vom hebräischen Text, nicht aber von der LXX her erklärbar sind. 31 Jung, Original Language 215 bejaht den Gebrauch von schriftlichen Quellen: „Greek source or sources for the infancy narrative, at least for some parts of it, and the source(s) was (were) composed in imitation of the LXX“ (215). 32 Radl, Lk I (o. Anm. 28), 38 f stellt eine eindrückliche Liste zusammen.

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I. Studien zu Jesus

bleibt es bei der Feststellung: Ein ausgezeichneter griechischer Stilist, der in der Sprache und in der Motivwelt der griechischen Bibel völlig zu Hause ist, erzählt die Geburt des Johannes und Jesu in biblischem Stil und als Teil der Geschichte Israels. Bedenke ich, was von der ganzen Quellenforschung an Lk 1–2 übrig bleibt, so ist es wenig: 1. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass Lukas, nachdem er in 1,1–4 von Vorgängern gesprochen und seine Absicht bekundet hat, selber alles, was sich ereignet hat, „von Anfang an“, „genau“ und „der Reihe nach“ aufzuschreiben und so „Sicherheit“ (ἀσφάλεια) für Theophilos zu schaffen, von V 5 an einfach freihändig, ohne direkten Anhalt an Überlieferungen, drauf los fabuliert. 2. Es ist denkbar, dass manches aus Lk 1,5–25.57–79 auf täuferische Kreise zurückgeht.33 3. Die chronologischen Angaben (Lk 1,5 a; 2,1 f)) und die einzelne Episoden verbindenden und Zeitabstände überbrückenden Summarien und Zeitangaben (Lk 1,24.26 a.56.80; 2,(3 f).(39).40.52) sind mit hoher Wahrscheinlichkeit lukanisch. Daraus folgt, dass eine vorlukanische Verbindung der Geburtsgeschichten des Johannes und Jesu eher unwahrscheinlich, jedenfalls aber unbeweisbar ist. 4. Von den Hymnen könnte das nicht direkt auf den Kontext bezogene Magnifikat weitgehend vorlk sein. Ähnliches mag für den ersten Teil des Benedictus (1,68–75) gelten. 5. Für die Interpretation gilt der methodische Grundsatz, dass alles, was sprachlich oder inhaltlich als lukanisch interpretiert werden kann, nicht ohne zwingende Gründe auf einen nur zu postulierenden und uns unbekannten Verfasser einer Quelle abgeschoben werden darf.

Mit diesen Feststellungen bewege ich mich in etwa auf den Bahnen, die Joseph A. Fitzmyer in seinem Lukaskommentar vorgespurt hat.34 II. 2 Ein Seitenblick auf die antike Literatur In der griechisch – lateinischen Literatur hat es klare Bestimmungen des Unterschieds zwischen Fakten und Fiktionen gegeben. Sie gehen zurück auf die Poetik des Aristoteles,35 der den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Poesie folgendermassen begründete: Erstere beschäftigt sich mit Geschehenem (τὰ γενόμενα), also mit Einmaligem; die Fabel eines Dramas aber muss sich mit etwas allgemein Gültigem, also mit Wahrscheinlichem, was geschehen könnte (οἷα ἂν γένοιτο), beschäftigen, um von den Zuschauern auf das eigene Leben bezogen werden zu können. Diese Unterscheidung war nicht nur für die Beschreibung von Literaturgattungen wichtig, sondern vor allem für die rhetorische 33 Das stärkste Indiz dafür scheint mir 1,17 zu sein, wo der Täufer als Vorläufer Gottes, nicht Jesu, erscheint. Das ist mir als lukanische Theologie – pace Wolter, Lk (o. Anm. 7), 81 – nur schwer verständlich. 34 Vgl. Fitzmyer, Lk I (o. Anm. 4), bes. 309. 35 Aristoteles, poet 9 (1451 b).

4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte

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Theorie von der narratio. Die Rhetorik unterschied drei Arten von narratio: die fabula (τὸ μυθικόν, τὸ ψευδές), das argumentum (τὸ πλασματικόν, τὸ ὡς ἀληθές) und die historia (τὸ ἱστορικόν, τὸ ἀληθές).36 „Geschichte“ wird also den Fakten und in diesem Sinn der „Wahrheit“ zugeordnet. Das entspricht der klassisch gewordenen Auffassung eines Thukydides oder eines Polybius.37 Fiktionen sind nach Lukian in der Geschichtsschreibung abzulehnen; sie sind entweder Absurditäten, also Poesie, oder Übertreibungen, die für Lobreden passen.38 Die Mehrzahl der hellenistischen Historiker ist allerdings mit diesen Grundsätzen eher locker umgegangen. Zum Ideal der Wahrheit traten das der ästhetischen Gefälligkeit, der dramatischen Gestaltung, das Interesse am Ausserordentlichen, Fremden und Exotischen, das patriotische Interesse für Lokales und für die eigene Geschichte bis hin zur Verherrlichung der eigenen Herrscher.39 Der erzieherische Gesichtspunkt, dass Historie nützlich sein müsse, hält sich von Thukydides bis Diodorus Siculus durch.40 Die Autoren hellenistischer Romane situieren ihre Erzählungen gerne „historisch“, um ihre historisch interessierten Leser zu packen, sie in eine sie interessierende fremde Welt zu entführen und um ihren Erzählungen die Aura „wahrer Geschichten“ zu verleihen.41 Während für die einen also der Übergang von der Historie zur Novelle und zum Roman offensichtlich fliessend ist, sind die beiden Gattungen für andere diametral verschieden.42 Nun ist natürlich die Frage, wer im frühen Christentum solche Unter­schei­ dungen gekannt hat und in der Lage und willens war, „Erfindungen“ von „wahren“ Berichten zu unterscheiden. Lukas, der eine Gymnasialbildung hatte, könnte man solche Kenntnisse an sich zutrauen, aber sein Werk verrät sie nirgendwo. Ein hochgebildeter Christ wie Origenes ist überzeugt, dass viele Geschichten der Bibel, vor allem des Alten Testaments, nur einen geistlichen Sinn haben und „sarkisch“, also historisch, nicht geschehen sind. Aufmerken lässt aber, dass dies bei solchen Geschichten, die wir als von der Aufklärung geprägte moderne Bibelleser gerne mit der Etikette „unhistorisch“ versehen, oft nicht der Fall ist. Ereignisse wie die Jungfrauengeburt oder der Stern von Betlehem sind für Origenes wirklich geschehen.43 Offen bleibt aber, wer unter Christinnen und 36 Nach

Cicero, de inventione I 27; vgl. Quintilian, inst or II 4,2; Rhet ad Her I 12 f. Hist I 22,4; Polybius, Hist II 56,11; XII 12,7. 38 Lucianus, quomodo 7. 39 Josephus gibt im Vorwort zu seinen antiquitates eine hübsche Übersicht über die unterschiedlichsten Interessen von Geschichtsschreibern, von denen er dann seine eigenen positiv abhebt (ant prooem 1,1–5). 40 Diodorus, Bibl I 2,7 (der Historiker muss positive Beispiele berichten). 41 Chariton von Aphrodisias’ Roman „Chaireas und Kallirhoe“, der vermutlich noch aus späthellenistischer Zeit stammt, ist dafür ein gutes Beispiel. 42 Z. B. für Lukian, der in seinem Vorwort zu den Ἀληθὰ διηγήματα Historiker aufs Korn nimmt, die nichts als Lügen erzählen. Er nennt leider nur Ktesias (Verae hist I 1–5). 43 Origenes, Cels I 40–48. 58–60; III 25; In Mt fragm. 11–13 II; umfassender und grundsätzlicher In Joh X 2–4; Princ IV 2,9. 37 Thucydides,

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Christen, die nicht der höchsten Bildungsschicht angehörten, solche Unterscheidungen überhaupt machen konnte. Im Judentum ist die Bibel selbstverständlich eine historische Quelle ersten Ranges. Das macht z. B. Josephus deutlich, für den die Bibel frei von Inkonsistenzen, Widersprüchen und Zufügungen ist.44 Seine „Antiquitates“ versteht er als eine „Übersetzung“ der heiligen Schriften.45 Nur Apostaten verstehen die Torah als Mythos.46 Das heisst allerdings nicht, dass jüdische Schriftsteller – Josephus eingeschlossen – nicht die biblische Geschichte sehr kreativ interpretiert hätte. Isaak Heinemann, dem ich hier folge, unterscheidet drei Arten von Haggadah.47 Die erste ist die auf die biblische Geschichte bezogenen Haggadah. Heinemann charakterisiert sie als „kreative Interpretation“. Dazu gehört, dass sie die Bibel nicht nur interpretiert; „it also expands and elaborates the biblical narrative“.48 Solche Erweiterungen füllen manchmal „Leerstellen“ in den biblischen Erzählungen; manchmal erweitern und verändern sie das Bild eines Ereignisses oder einer Person, um den Bedürfnissen einer neuen, veränderten Situation gerecht zu werden. Literarisch sind auf biblische Geschichten bezogenen Haggadot verschiedenen genres zuzuordnen: Targumim, parabiblischen Schriften, Neuentwürfen biblischer Geschichte, Biographien, haggadischen Midraschim etc. Die Erweiterungen haben – für uns – klar fiktiven Charakter. Ich nenne z. B. aus dem Bereich der besonders für Mt 1–2 wichtigen Geburts‑ und Jugendgeschichten des Mose die Heilszusage Gottes (nicht eines Engels!) an Amram mit „Geburtsanzeige“ (PsPhilo, ant 9,1–8) oder den – für eine Biographie typischen – Bericht Philos über den Bildungsgang und die Tugenden des Mose (Philo, vita Mos I 8–31). Sind das auch für die antiken Autoren Fiktionen? Für Philo sicher nicht; er selber verweist auf „Mitteilungen älterer Leute seines Volkes“ (ebd. I 4), und wir können auf Artapanus verweisen, der vor Philo schon Ähnliches schrieb.49 Was ursprünglich also einmal „Erfindung“ gewesen sein mag, wurde später sehr rasch zum Teil der traditionellen, altehrwürdigen Überlieferung, welche die Bibel ergänzt. Etwas anders steht es mit denjenigen Haggadot zu biblischen Geschichten, die in einem Kommentar zum Bibeltext enthalten sind und zum Teil unter dem Namen einzelner Rabbinen überliefert werden. Ich wähle als Beispiel aus den Geburtsgeschichten des Mose den Abschnitt bSota 11 a–13 a: Manche der hier erzählten Haggadot sind innovative Geschichten, die von Rabbinen z. B. durch 44 Josephus, Ap

I 37–43. I 54: ἐκ τῶν ἱερῶν γραμμάτων μεθερμήνευκα. 46 Vgl. Philo, conf ling 2 f. 47 Joseph Heinemann, The Nature of the Aggadah, in: Geoffrey H. Hartman / ​Sanford Budick (Hg.), Midrash and Literature, New Haven / ​London 1986, 41–55, dort 43. 48 Ebd. 45. 49 Artapanus, fr. 3,3–6 = JSHRZ I 131 f. 45 Ap

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einen Analogieschluss (gezerah sawah) erschlossen werden. Dazu gehört z. B. die schöne Geschichte, dass die hebräischen Frauen, wenn sie Wasser geschöpft hätten, in ihren Krügen viele Fische gefunden hätten, mit denen sie ihre arbeitenden und vom Pharao ausgebeuteten Männer nährten. Die schwangeren Frauen seien, wenn die Ägypter sie suchten, von der Erde verschluckt worden und nach dem Pflügen der Erde wie das Kraut des Feldes wieder zum Vorschein gekommen (bSota 11 b). Ob die damaligen Menschen solche nicht-traditionellen Geschichten für wirklich geschehen oder für erbauliche Erfindungen eines Rabbi hielten, ist schwer zu sagen. Letzteres ist durchaus möglich, denn sie mussten ja durch Bibelstellen begründet werden und wurden unter dem Namen bestimmter Rabbinen überliefert, manchmal auch anderen Auslegungen gegenübergestellt. Solche „kreativen Auslegungen“ hatten natürlich die Tendenz, im Laufe der Zeit wieder zu traditionellen, altehrwürdigen Geschichten zu werden, die man nicht mehr bezweifelte. Die zweite Gruppe Heinemanns sind die „‚historical‘ aggadot which tell of post-biblical personalities and events“.50 Es geht hier um biblische und ausserbiblische Erzählungen, die oft (nicht immer!) von nach der Urzeit Israels lebenden Personen handeln, also um Texte wie Tobit, Esther, Daniel 1–6, 2. und 3. Makk., Judit, den Aristeasbrief, Joseph und Aseneth etc. Sie werden in der Forschung meistens als „Fiktionen“ bezeichnet und sind es nach unseren heutigen Kriterien wohl auch.51 Manche von ihnen gehören deutlich hervortretenden Subgattungen an, wie z. B. die „höfischen Erzählungen“, die entweder einen „höfischen Konflikt“ oder einen „höfischen Wettstreit“ schildern.52 Schon das weist daraufhin, dass es sich hier um Traditionsliteratur handelt, die oft eine lange Überlieferungsgeschichte hat. Die Erzählungen des Danielbuches sind später durch eine einleitende historische Fiktion (Dan 1,1–7) als solche gekennzeichnet worden. Solche historische (fiktive!) Situierungen gibt es relativ oft, z. B. bei Esther (1,1–3), Judith (1,1–6), Tobit (1,1 f); im 3. Makkabäerbuch (1,1–5), im Aristeasbrief 53 und in Joseph und Aseneth (1,1 f).54 In der Regel werden die 50 Ebd.

43.  Vgl. die Aufsätze zu Ezechiel dem Tragiker, Dan 1–6 und 3 Makk im Sammelband von Joo-Ann Brant / ​Charles W. Hedrick / ​Chris Shea, Ancient Fiction. The Matrix of Early Christian and Jewish Narrative, JBL.SS 32, Atlanta 2005 52 John J. Collins, Daniel, Hermeneia, Minneapolis 1993, 42–47. Zu den ersteren gehören z. B. Dan 3 und 6 und Esther, aber auch schon die biblische Josephsgeschichte, zu den letzteren Dan 2, 4 und 5 und Ahikar. 53 Der Aristeasbrief muss als Fälschung bezeichnet werden: Sein Verfasser befürchtet, dass seine Fiktion von den Lesern durchschaut wird und schützt sich, z. B. durch fingierte Urkunden, vor der „Enttarnung“. 54 Joseph und Aseneth wird von den meisten Forschern als „Roman“ oder „Novelle“ bezeichnet, der – wie viele hellenistische Romane – unter der Gestalt eines Liebesromans eine religiöse Tiefendimension enthält. Christoph Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ II 5, Gütersloh 1983, 591, möchte es offenlassen, „ob der Verfasser Dichtung oder Wahrheit zu schreiben meinte und ob er selber zeichnete oder den Eindruck eines alten Buches erwecken wollte“. 51

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Leser solche haggadische Traditionsliteratur als solche akzeptiert und ihre Fiktionalität nicht empfunden haben; die letzten beiden Beispiele zeigen aber, dass man im Einzelfall differenziert urteilen muss. Schliesslich noch ein Wort zu Heinemanns dritter Gruppe, den „ethischdidaktischen“ Haggadoth.55 Dazu gehören sowohl Geschichten über Rabbinen, als auch ihre Bibelauslegungen, soweit sie erzählenden Charakter haben oder biblische Erzählungen betreffen. Für Chaim Milikowsky ist ihr fiktiver Charakter unbestreitbar.56 Woran ist er erkennbar? Milikowsky spricht insbesondere von denjenigen „midrashic stories“, die nicht als altüberlieferte Traditionen erzählt, sondern als Resultat einer kreativen Aktivität von Rabbinen präsentiert werden.57 Dale Allison fügt als weiteres Erkennungsmerkmal den humoristischen Charakter mancher Überlieferungen hinzu.58 Ich würde als drittes noch hinzufügen: Wenn ein geschichtlicher Tatbestand von einem Rabbi ausdrücklich exegetisch begründet wird, kann er u.U. als Fiktion erkannt werden.59 II. 3 Zur Forschungslage In der neueren Forschungsgeschichte wurden die Geburtsgeschichten beider Evangelien in Analogie zur Haggadah als Fiktionen verstanden. Für das Matthäusevangelium hat Roger David Aus diese These am konsequentesten vertreten. In seiner Studie „Matthew 1–2 and the Virginal Conception“ meint er: Ebensowenig wie die Rabbinen daran geglaubt hätten, dass Moses beschnitten geboren worden sei,60 habe Matthäus die Jungfrauengeburt für ein „Faktum“ angesehen. „As a typically Jewish Christian haggadic embellishment … it conveys a religious truth, that Jesus already at his birth was the Son of God.“ Die Geburtsgeschichten Jesu seien bei Mt nach dem Modell der Moselegenden erzählt; das Bild Marias sei nach dem Modell der Mutter des Mose, Jochebed gestaltet, die Gott in ihrem hohen Alter „restored to her youth, including virginity“.61 Er 55 Heinemann,

Nature (o. Anm. 47), 43.  Chaim Milikowsky, Midrash as Fiction and Midrash as History: What did the Rabbis Mean?, in: Brant, Ancient Fiction, 117–128. Er spricht allerdings von „Midrasch“ und nicht von Haggadah. 57 Ebd. 119. 58 Dale C. Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010, 446–449. Seinem sechsten Kapitel, überschrieben mit „Memory and Invention“, verdanke ich viel. 59 Beispiel: BTaanit 5 b: Rabbi Jizhaq sagt, dass der Patriarch Jakob nicht gestorben sei und begründet das mit Jer 30,10. Er erfährt prompt Widerspruch. Andere solche Beispiele sind die Geschichten o. aus bSota 11; vgl. o. S. 66 f. 60 BSotah 12 a und ExR 1,20 als Auslegung von Ex 2,2. Diese Auslegung ist aber schon traditionell. Bereits PsPhilo, ant 9,13 setzt voraus, das Mose beschnitten geboren wurde. 61 Roger D. Aus, Matthew 1–2 and the Virginal Conception, Studies in Judaism, Lanham etc 2004, 84.71. Allerdings stammen die jüdischen Belege dafür, dass Jochebed Mose erst in ihrem hohen Alter geboren habe, erst aus talmudischer Zeit (vgl. Aus, ebd. 51–53). Im übrigen impliziert die wunderbare Wiederherstellung der Geburtsfähigkeit einer alten Frau nicht die 56

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steht nicht allein mit solchen Thesen. Schon Robert Gundry rückte Matthäus mit seiner „mixture of the historical and unhistorical“ in die Nähe eines jüdischen Haggadisten.62 Und auch William D. Davies und Dale C. Allison fragen in ihren zusammenfassenden Überlegungen zu Mt 1,18–25: „Whether Matthew was persuaded that his infancy traditions, with their many parallels in the haggadic traditions about Moses, were more poetry than prose, how could one decide?“63 Auch für die lukanischen Geburtsgeschichten gibt es entsprechende Thesen. Michael Goulder vertritt in seinem grossen Lukasbuch64 die These, dass Mk und Mt die einzigen Quellen des Lk gewesen seien. Für Lk 1–2 heisst das: Lk waren die Eckpfeiler des mk Verständnisses von Johannes dem Täufer als Vorläufer Jesu vorgegeben, dazu die mt Geburtsgeschichten. Mit ihnen ging er sehr frei um: So habe er, der liberale und für Frauen offene Hellenist, Maria statt Josef in den Mittelpunkt gestellt, andere „Mütter“ für seine Geburtsgeschichte anstelle der vier im mt Stammbaum genannten Frauen gesucht und sei vor allem auf Sarah und Hannah gestossen. Die Hirten habe er anstelle der ihm verdächtigen Magier Jesus anbeten lassen usw. Lk ist für ihn nicht ein Midraschist im üblichen Sinn des Wortes, sondern ein sehr begabter, gebildeter, stilsicherer und sich im Judentum – mit gewissen Einschränkungen – gut auskennender frommer Erzähler. Die Frage, worin denn nun die ἀσφάλεια dieser so kunstvoll erfundenen Geschichten bestehe, beantwortet er auf seine Weise: Lk wolle seine beiden Quellen Mk und Lk miteinander verbinden „to reassure Theophilus that the apparently dissonant Gospel tradition is trustworthy“.65 Die beiden Extremthesen von Aus und Goulder halte ich nicht für wahrscheinlich. Ohne sie jetzt im einzelnen diskutieren zu können, stelle ich fest: Beide haben nicht versucht, sie wirklich umfassend in der antiken und jüdischen Literatur zu verankern. II. 4 Die matthäischen Kindheitsgeschichten Ich denke nicht, dass Matthäus seine Kindheitsgeschichten insgesamt als Midrasch oder als haggadische Fiktionen verstanden wissen wollte. Seine Absicht war es, für seine Gemeinden ein „Buch der Genesis Jesu Christi“ (1,1), also ein neues Buch Genesis mit bibelähnlicher Autorität zu schreiben.66 In Wiederherstellung ihrer Jungfräulichkeit, wie die Beispiele Elisabeths (Lk 1) und Sopanimas (slHen 71; vgl. o. S. 60) zeigen. 62 Robert H. Gundry, Matthew. A Commentary on His Literary and Theological Art, Grand Rapids 1982, 627–640 (Zitat 633); zu den Geburtsgeschichten 32.37.40 f. 63 Davies  / ​Allison, Mt I (o. Anm. 18), 221. 64 Michael Goulder, Luke. A New Paradigm, JSNT.S 20, Sheffield 1989, bes. 205–269. 65 Goulder, Luke, 200. 66 Zur Deutung des Titels vgl. Davies  / ​Allison, Mt I (o. Anm. 18), 149–155; Moisés Mayordomo-Marin, Den Anfang Hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–213; Luz, Mt 1–75 (o. Anm. 18), 117–119.

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ihm erzählt er eine neue, für seine Gemeinde konstitutive Grundgeschichte, die von Jesus Christus, dem Davidssohn und Abrahamssohn handelt. Diese neue Grundgeschichte ist in ganz intensiver und vielgestaltiger Weise auf die Grundtexte Israels, die Bibel, bezogen, nämlich durch Erfüllungs‑ und andere Zitate, Anspielungen, Denkmodelle, Motive, Typen. Aber die Bibel ist nicht selbst Grundtext dieser neuen Grundgeschichte, sondern ihr grundlegender Bezugstext, in deren Licht er sie deutet.67 Die matthäischen Geburtsgeschichten können also nicht als „Midrasch“ gedeutet werden, insofern ein Midrasch auf die biblischen Texte bezogen ist und für sie eine neue Bedeutung schafft.68 Eher könnte man das ganze Matthäusevangelium als eine „midraschartige“ haggadische Aktualisierung des Markusevangeliums bezeichnen. Ich möchte aber den Ausdruck „Midrasch“ nicht auf andere Grundtexte als die Bibel Israels beziehen. Die mt Geburtsgeschichte ist also nicht eine Neuerzählung oder Aktualisierung der Geburts‑ und Kindheitsgeschichten des Mose, sondern sie ist eine eigenständige Geschichte, die in vielfältiger Weise an die Mosegeschichten erinnern will, indem sie Züge aus ihnen wiederholt, variiert oder auf den Kopf stellt. Sie ist für den Evangelisten eine überlieferte, ehrwürdige, und – ähnlich wie die Geschichten der Bibel – grundsätzlich „geschehene“ und von Gott gewirkte Geschichte. Das wird am deutlichsten an den Erfüllungszitaten, die Matthäus selbst in sie einfügt. Manche von ihnen belegen geographische Etappen des Weges des Jesuskindes. Sie wären sinnlos, wenn der Evangelist nicht überzeugt gewesen wäre, dass Jesus wirklich in Betlehem geboren, nach Ägypten geflohen und von dort zurückgekehrt, und dann nach Nazaret und ins „Galiläa der Heiden“ gezogen wäre. Nur dann, wenn dies wirklich so geschehen ist, wird ein Prophetenwort durch eine Episode der Geschichte Jesu „erfüllt“. In diesem Sinn belegt das Jesaiazitat Mt 1,23 a auch die Jungfrauengeburt; sie ist für Mt kein „haggadic embellishment“.69 Am deutlichsten belegt Mt 21,5, das Reiten Jesu auf zwei Reittieren beim Einzug nach Jerusalem, das Interesse des Evangelisten an der faktischen Erfüllung der prophetischen Weissagungen in der Geschichte Jesu. Auch wenn natürlich die Auswahl der Erfüllungszitate durch den Makrotext der Jesusgeschichte bestimmt ist – Matthäus will in seinem Prolog den Weg des Messias Israels zu den heidnischen Völkern präludieren – , so heisst das nicht, dass für ihn die Geschichte nicht grundsätzlich so geschehen ist, wie er sie schildert. Allerdings: Diese grundsätzliche Feststellung schliesst nicht aus, sondern ein, dass Matthäus einzelne Episoden fingiert. In den Geburtsgeschichten 67 Vgl.

Ulrich Luz, Intertexts in the Gospel of Matthew, HThR 97, 119–137 (in diesem Band unten Nr. 20). 68 Vgl. Ithamar Gruenwald, Midrash and the ‚Midrashic Condition‘, in: Michael Fishbane (Hg.), The Midrashic Imagination, Albany 1993, 6–22, bes. 9. Ähnlich z. B. Brown, Birth (o. Anm. 4), 557–562. 69 Vgl. Aus, Matthew 1–2 (o. Anm. 61).

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rechne ich damit in zwei Fällen: Die Übersiedlung nach Nazaret Mt 2,22 f mit dem Erfüllungszitat „er wird Nazoräer heissen“ (dessen genaue Herkunft Matthäus selbst nicht kennt70) halte ich mit vielen für eine redaktionelle Zufügung des Evangelisten.71 Matthäus musste in irgend einer Weise seine Geburtsgeschichten, welche Betlehem als Wohnort der Familie Jesu voraussetzen, mit dem Erzählungsfaden seiner Hauptquelle, Markus, verbinden. Die andere Stelle, wo ich damit rechne, dass Matthäus eine neue Szene geschaffen haben könnte, ist 2,3–6: Matthäus wollte das Prophetenzitat Mi 5,1 / ​2 Sam 5,2, das von der Geburt Jesu in Betlehem spricht, einfügen, da es für seinen Erzählungsfaden grundlegend wichtig ist. Er hat es den jüdischen Hohepriestern und Schriftgelehrten in den Mund gelegt und seine Einführungsformel entsprechend modifiziert. Das bedeutet wohl, dass er es war, der im Prolog die einheitliche und historisch groteske Ablehnungsfront präludiert hat: „Ganz Jerusalem“ ist sich mit „allen Hohepriestern und Schriftgelehrten des Volkes“ und mit dem bösen König Herodes einig in der Ablehnung Jesu. Ganz ähnlich wird es später in Mt 27,15–25 sich wiederholen. Matthäus hat diese Episode „fingiert“, aber er hat in seinem Text kein Signal eingefügt, durch das seine Leser / ​innen seine Fiktion hätten erkennen können. Was er schreibt, soll als „Geschichte“ gelesen werden. Sind diese Vermutungen richtig, so passen sie gut zum Gesamtbefund im Matthäusevangelium:72 Matthäus ist im ganzen ein traditionsorientierter Autor. Er kann aber bewusst historische Fiktionen schaffen. Meistens geschieht dies durch eine neue Anordnung seiner Stoffe, die er vornahm, um die Richtung und das Profil seines eigenen, gegenüber dem Markusevangelium neuakzentuierten Erzählungsfadens zu verdeutlichen.73 Seltener geschieht es, dass Matthäus neue, von ihm erstmals formulierte Einzelepisoden in seinen Erzählungsfaden einfügt. Teilweise sind dies zusammenfassende Summarien,74 teilweise Episoden oder Zufügungen, die meist mit dem Erzählungsfaden der ganzen Geschichte eng verwoben und darum für Mt sehr wichtig sind.75 Gerade in diesen Fällen ist es sehr 70 Vgl.

Luz, Mt 1–75 (o. Anm. 18), 186–188.  Davies  / ​Allison, Mt I (o. Anm. 18), 191 f.; Gnilka, Mt I (o. Anm. 18), 49; Luz, Mt 1–75, 181. 72  Vgl. dazu Ulrich Luz, Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur, ZNW 84, 1993, 153–177, dort 155–162 (in diesem Band unten Nr. 18); ders., Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?, in: Stephen Chapman u. a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, BThS 44, Neukirchen 2001, 53–76, dort 55–66 (in diesem Band unten Nr. 19). 73 Das wichtigste Beispiel ist die neue Abfolge von Mt 8–9, aber auch die Komposition von Mt 11 und 12 und von Mt 23 gehören hieher. 74 Z. B. Mt 9,35; 15,29–31; 21,14–16. Auch die Verdoppelung der Blindenheilung Mk 10,46– 52 verbunden mit der Verdoppelung der Zahl der geheilten Blinden dürfte so zu verstehen sein: Dass Jesus Blinde heilt, soll als „typisch“ gelten. 75 Auffällig ist dies vor allem in der Passionsgeschichte: Mt 27,3–10.19.24 f. 51–53.62–66; 28,11–15.16–20. Dass die „mythische“ Zufügung von 27,51–53 als Bericht über etwas Geschehenes verstanden wurde, zeigt klar das merkwürdige, die Chronologie sprengende μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ in V 53. 71

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I. Studien zu Jesus

schwer, zu entscheiden, ob Matthäus völlig frei „erfindet“ oder ob er mündliche Traditionen aufnimmt. II. 5 Die lukanischen Geburtsgeschichten Hat Lukas seine Geburtsgeschichten für „wahr“, im Sinne von „faktisch geschehen“ gehalten? Auch bei ihm möchte ich diese Frage mit der Einschränkung bejahen, dass für Lukas „Wahrheit“ und Faktizität im Sinne neuzeitlicher Historiographie nicht einfach identisch sind. Ἀσφάλεια in Lk 1,4 bedeutet nicht einfach „Wahrheit“ im Sinne von Faktizität, sondern „Sicherheit“ z. B. im Sinne der Bonität eines Bankpapiers oder der „Sicherheit“ einer Bürgschaft oder eines Beweises.76 Dazu gehört auch die historische Zuverlässigkeit. Nachdem Lukas sich in 1,2 f auf Augenzeugen beruft und seinen Lesern Genauigkeit und Vollständigkeit seiner Erzählung versprochen hat, wird er kaum schon schon vom übernächsten Vers an seine Erzählung frei erfinden, wie dies z. B. Michael Goulder denkt. Die von Aristoteles begründete und für die Rhetorik wichtige Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion scheint er nicht zu kennen.77 Er berührt sich mit vielen griechischen und hellenistischen Historikern darin, dass für ihn nicht nur die Faktentreue, sondern auch die gegenwartsbezogene, erzieherische und identitätsstärkende Aufgabe des Historikers wichtig ist. Seine Verwandten unter den zeitgenössischen Historikern sind weniger Thukydides und Polybius, als Theopomp von Chios, Duris von Samos, Josephus oder Sallust.78 Worin gründet für Theophilus die ἀσφάλεια, die Lukas ihm vermitteln will? Wenn wir diese Frage von Lk 1–2 her beantworten wollen, so müssen wir von der unauflösbaren Einheit von Traditionen / ​Quellen und lukanischer Interpretation, also vom „lukanischen“ Charakter aller Traditionen ausgehen, welche denen, die nach den Quellen des Lukas fragen, so viel Mühe macht. Dazu einige knappe Überlegungen: 1. Wir haben vorher festgestellt, dass die chronologischen Angaben (Lk 1,5 a; 2,1 f; vgl. 3,1 f) und die für den Geschehensablauf wichtigen relativen Zeitangaben (1,26 a.56.80; 2,8 a.39 f) vermutlich rein lukanisch sind. Mit ihrer Hilfe „fixiert“ Lukas die von ihm erzählte Zeit im äusseren Zeitablauf der Geschichte. Zugespitzt gesagt: Mit Hilfe seiner chronologischen Fiktionen interpretiert er seine Erzählungen als „geschichtliche Tatsachen“. Er macht das auf für seine Leser plausible Art und Weise; Die kleinen Erinnerungsfehler, die ihm dabei, z. B. in 2,1 f, unterlaufen, fallen seinen Lesern kaum auf.

76 Vgl. James H. Moulton / ​George Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament, Nachdruck Grand Rapids 1980, s. v. 77 Vgl. o. S. 65. 78 Knut Backhaus, Lukas der Maler, in: ders. / ​Gerd Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen, BThSt 86, Neukirchen 2007, 30–66, dort 41 spricht von der „rhetorischmimetisch-paideutischen Funktionseinheit der hellenistisch-frühreichsrömischen Geschichtsschreibung“.

4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte

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2. Er erzählt den Anfang seiner Geschichte, die Geburtsgeschichten, als „Bestandteil der Geschichte Israels“79, also gleichsam als „biblische Geschichte“. Er tut dies mit grosser Meisterschaft, indem er 1. bewusst in biblischer Sprache erzählt, indem er 2. von seinen Protagonist / ​innen erzählt, was schon Sarah, Hannah, Simson etc. widerfahren ist, und indem er 3. sie die Gebote der Torah halten lässt. Er lässt sie nicht, wie griechische Historiker, Reden halten, auch nicht Predigten, wie später die Apostel, sondern er lässt sie mit biblischen Worten in biblischer Weise Gott lobpreisen und danken. Er lässt also seine Leser ganz bewusst in die Welt Israels und der Bibel eintauchen; die relativ wenigen Gräzismen und die kleinen Fehlerchen in seiner Schilderung jüdischen Torahgehorsams, die ihm, der kein palästinischer Jude ist, unterlaufen,80 fallen nicht auf. So erreicht er, dass seine Geburtsgeschichten auch an der besonderen Würde und Dignität der biblischen Geschichten partizipieren:81 Biblische Geschichte ist altehrwürdige Geschichte; die Bibel ist auch als Geschichtsquelle über alle Zweifel erhaben. Die ἀσφάλεια der Geburtsgeschichten wird dadurch erhöht. 3. Die Geburtsgeschichten machen deutlich, dass Gott die Geschichte lenkt. In seinen ersten beiden Kapiteln lässt Lukas, der Engel überhaupt liebt, sie besonders häufig auftreten. Sie lenken und deuten die Geschichte. Was sie ankünden, geschieht. Was geschieht, ist wunderbar: die Greisin und die Jungfrau, die schwanger werden; das Verstummen und Sprechen des Zacharias; der himmlische Lichtglanz, der die Hirten umleuchtet. Die lukanischen Geburtsgeschichten spielen in einem Raum, der zum Himmel offen ist. Dass Gott die Geschichte lenkt, ist für Lk nicht eine „Interpretation“ von „Fakten“, die auch anders gedeutet werden könnten, sondern ist Teil dieser Fakten und macht ihre Bedeutung – im Fall von Lk 2,1ff sogar ihre weltgeschichtliche Bedeutung – umso grösser. Auch manche hellenistische Historiker können von der göttlichen Lenkung der Geschichte sprechen;82 Lukas ist hier kein Sonderfall. Dass Gott in die Geschichte eingreift und sie lenkt, macht sie bedeutsam und erhöht für Theophilus die ἀσφάλεια des Berichteten.83 4. Die lukanischen Geburtsgeschichten sind voller Zeugnisse für die Bedeutung des Johannes (1,15–17.76 f) und Jesu (1,32 f.35.69–75; 2,10 f.30–32.34 f). Diese Zeugnisse haben literarisch die Gestalt von Engelankündigungen oder menschlichen Lobpreisen. Sie knüpfen – implizit – an prophetische Weissagungen an und weisen hin auf das, was Lukas – nach den Vorgeschichten – später erzählen wird. Sie verklammern also literarisch die Vorgeschichten mit dem Gesamtwerk des Lukas und zwar ausdrücklich – in 2,32.34 f – mit seinen beiden Büchern. Sie haben damit eine ähnliche Funktion wie die Erfüllungszitate in Mt 1–2. Die Leser / ​innen werden durch diese Zeugnisse nicht nur direkt und 79 Wolter,

FS P. Hoffmann (o. Anm. 7), 419. den Gräzismen vgl. o. bei Anm. 32. Kleine Fehlerchen sind: 1,9ff: kein Priester tut allein Dienst im Tempel; 2,22–24: der Reinigungsritus (nur der Frau!) und die Auslösung der Erstgeburt werden nicht richtig unterschieden. 81 Backhaus, Maler 54 f spricht m. E. ungeschickt von „Sakralisierung des Geschichtsbildes“. Es geht m. E. nicht um den sakralen, sondern um den biblischen Charakter der Vorgeschichte. 82 Ulrich Luz, Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium, EvTh 69 (2009) 194– 208, dort 204 weist auf Herodot, Xenophon, Diodorus Siculus, Appian und Josephus; Backhaus, Maler 53 erinnert ausserdem an Dionys von Halikarnass. 83 Claire Rothschild, Luke-Acts and the Rhetoric of History, WUNT II 175, Tübingen 2004, 142–211 weist darauf hin, dass Weissagung und Geschichtslenkung durch Gott auch eine rhetorische Funktion haben: Sie verstärken die Glaubwürdigkeit. 80 Zu

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indirekt auf die Hauptperson Jesus und ihre Bedeutung aufmerksam gemacht, sondern sie erkennen wieder, dass die Geschichte, die Lukas erzählt, von Gott geplant ist. Hier liegt der letzte Grund ihrer ἀσφάλεια. 5. Die lukanischen Geburtsgeschichten bieten ihren Lesern Modelle an. Am wichtigsten ist hier Maria, die für die Leser zum Modell des Glaubens wird. Sie ist die „Sklavin des Herrn“ (1,38), die annimmt, was Gott an ihr tut. Ihr darauf folgender – zutiefst biblisch-jüdischer – Lobpreis, das Magnifikat, ist gerade deshalb für Lukas auch ein zutiefst christlicher Lobpreis. Ein negatives (erzählerisch nicht ebenso plausibles!) Gegenmodell zu ihr ist der zweifelnde Zacharias. Modellcharakter haben vielleicht auch der gläubigwartende Simeon und die Asketin Hanna. Dieses Angebot von Modellen verankert die Vorgeschichten in der Lebenswirklichkeit der Leser. Erst in ihr werden sie „wirklich“. So nimmt Lukas die „paideutische“ Aufgabe der Geschichtsschreibung wahr.

Ich fasse zusammen: Lukas erfindet nicht Geschichte, sondern er gestaltet Geschichte.84 Er erzählt nicht einfach Fakten, sondern er erzählt sie neu. „Wirklichkeit“ ist für ihn mehr als blosses Faktum. Hätten aber seine Fiktionen bzw. genauer: seine Neugestaltung der ihm überlieferten Geschichte den Charakter von blossen „Erfindungen“, so hätten seine Leser sie leicht falsizieren können. Die Akzeptanz für seine Neugestaltungen ist ein Kriterium, das den Historiker und Erzähler Lukas zweifellos geleitet hat.

84 Backhaus, Maler 59 spricht von „kreativer Rekonstruktion“. Ebd. 65 formuliert er: Seine historiographische Kunst liegt „in der Ausarbeitung des vorgegebenen Stoffs, nicht aber in der Stoffschöpfung ex nihilo“.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters I. Introduction Paul’s use of Jesus-tradition has been a key issue in New Testament research of the last two centuries.1 Important studies have concentrated in this question: For Ferdinand Christian Baur and his Tübingen School, the apostle Paul is a representative of Christian universalism, which is opposed to Jewish particularism. This distinction caused a great distance between Paul and Jesus, whose teaching plays only a very minor role in the Pauline epistles. “Paul is not the kind of student who necessarily has to receive his doctrines and basic principles … from his master”.2 On the opposite side of the spectrum was Alfred Resch, a fervent opponent of the Tübingen Tendenzkritik and author of a 600-page book that “proves” that almost every verse in the Pauline letters is inspired by the sayings of Jesus as they were preserved in the earliest version of the Sayings-Source.3 For the “Religionsgeschichtliche Schule” the problem was the extent to which Hellenistic and Pauline Christianity – centered on the myth of the crucified, risen and exalted Lord Jesus Christ – was a new or partly new religion in comparison with the Palestinian Jewish Jesus-movement.4 In this case Paul, being rather independent of Jesus, is to be seen as a second founder of Christianity besides or instead of Jesus. A large part of Jewish research in Paul contended similar views: I first want to pay tribute to Joseph Klausner’s magisterial book on Jesus and Paul because it has been largely bypassed by Christian researchers.5 For Klausner, Paul was 1 Ferdinand

Christian Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der ersten drei Jahrhunderte, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben III, Stuttgart / ​Bad Canstatt 1966, 44–48. 2 Quotation ibid. 47 (translations into English mine). 3 Alfred Resch, Der Paulinismus und die Logia Jesu in ihrem gegenseitigen Verhältnis untersucht, TU NF 12, Leipzig 1904. 4 William Wrede’s clear verdict is representative of the “Religionsgeschichtliche Schule”; “Aus dem Eindruck der Persönlichkeit Jesu ist das Christusbild (sc. des Paulus) nicht entstanden” (William Wrede, Paulus, Religionsgeschichtliche Volksbücher I/5–6, Tübingen 21907, 84); for him the origin of Paul’s view of Christ is his belief in a heavenly saviour-figure which antedates his belief in Christ (ibid. 86). 5 Joseph Klausner, Von Jesus zu Paulus, transl. by Friedrich Thieberger, Jerusalem

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an urban Jew from the diaspora, an intellectual with a leaning towards doctrinal systematisation; Jesus, however, was a spontaneous Jew from the Palestinian countryside, full of natural wisdom. The two did not have much in common.6 Another famous example of Jewish research in Paul is the monograph on Paul by Hans Joachim Schoeps. For Schoeps it is clear “dass Paulus den geschichtlichen Jesus niemals gesehen hat und dass er sich den palästinensischen Traditionen vom irdischen Jesus gegenüber spröde verhielt”.7 He was not a student of the earthly Jesus, but a mandatary of the risen Lord. For Rudolf Bultmann, Pauline theology focused on the risen Lord Jesus preached in the kerygma and not on the personality, ethics and piety of a historical figure whom liberal theologians might find fascinating. For theological reasons Paul’s quotations or allusions to the earthly Jesus were of little importance.8 Bultmann’s students, however, would shift their concern to the historical level again. For example, Walter Schmithals identified two different streams of Christianity within the first century: on the one side was the kerygmatic main-stream, represented by all the documents of the New Testament with the exception of the Gospels and in the Apostolic Fathers, and on the other side was an originally Galilean Jesus-movement that left its traces in the Sayings-Source Q and partly in the Gospels. It was with Justin Martyr in the middle of the second century that the two streams merged together. According to Schmithals, Paul himself knew practically nothing about Jesus and his teaching.9 For more conservative scholars of the twentieth century, the tendency was the opposite, namely to bring Jesus and Paul as close together as possible and to discover as many allusions and traces of Jesus in Paul’s letters as possible10.

1950. This book has not found a wide reception – at least not in German scholarship, no doubt for the reason that Klausner did not like Paul very much – but he tried to be fair!  6 Klausner, Von Jesus zu Paulus, 535–543. Rom 12:14 seems to be the only Pauline allusion to the Jesus-tradition. His balanced conclusion is: “Ohne Jesus – weder Paulus noch Nazarenertum, aber ohne Paulus – kein Welt-Christentum. In diesem Sinne ist nicht Jesus der Stifter des Christentums” (543).  7  Hans Joachim Schoeps, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 51.  8 Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, in: idem, Glauben und Verstehen I, Tübingen 1933, 188–213, 208.  9 Walter Schmithals, Paulus und der historische Jesus, ZNW 53 (1962), 145–160, esp. 156–159; idem, Das Bekenntnis zu Jesus Christus, in: idem, Jesus Christus in der Verkündigung der Kirche, Neukirchen 1972, 67–72; cf. idem, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985, 99–126; similarly, but more moderately Ulrich Wilckens, Jesusüberlieferung und Christuskerygma – zwei Wege urchristlicher Überlieferungsgeschichte, ThViat 10 (1965/66), 310–339. 10 Recent representatives include, e. g., Peter Stuhlmacher, Jesustradition im Römerbrief? Eine Skizze, ThBeitr 14 (1983), 240–250; David Wenham, Paul, Follower of Jesus or Founder of Christianity? Grand Rapids 1995. Wenham enlarges the basis of materials by using not only quotations and allusions, but also texts with common themes and motifs.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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Unlike the Pauline letters, the Christian letters of the late first century and early second century were never the focus of debate for New Testament research in this aspect. However, these writings are interesting because many of them share common features with the Pauline letters in regards to their use of Jesustraditions.11 What can we learn from these similarities? What I want to do in this paper is first to give a short survey of how these texts use the Jesus traditions (II) and then – after looking at Paul in the third section (III) – to draw some conclusions from these texts for Paul (IV). Many of my conclusions are not new. I want to mention in particular two papers where I rediscovered many of my own ideas. One is a paper by James D. G. Dunn, originally published in 1994,12 and the other a paper by Rainer Riesner published in 1997.13

II. How Much Did the Authors of Early Christian Letters Know about Jesus? In some ways our thesis is not controversial. I first refer to some later letters that show close affinities to Paul with respect to their use of Jesus-traditions. For my evaluation of Jesus-traditions I use the criteria of Richard Hays for intertextual “echoes”, with some necessary adaptations.14 Especially important for me are the criteria of “recurrence” and “volume”. Recurrence means that if there are several recurrences of possible allusions to a specific Gospel in one document, the probability of an allusion is higher. By Volume, I normally assume that the occurrence of two characteristic words makes it likely that an allusion is intended by the author. Since the Gospels are traditional literature, the occurrence of at least one redactional feature in an allusion is an important additional argument for the claim that a text alludes to a written Gospel and not to an oral version of a Jesus-tradition. The question of whether a text from a later epistle alludes to one of our written Gospels is important, since a positive answer gives us information about what an author could have known about Jesus. First Peter, written towards the end of the first century in Asia Minor, seems to presuppose the final text of the Gospel of Matthew. The meticulous investi11 Schmithals,

who is aware of this, has also used the later New Testament Epistles and the Apostolic Fathers as proof-texts for his thesis that the Jesus-traditions became part of the kerygmatic main-stream Christianity only as late as the middle of the second century. This is an achievement of Justin, cf. Schmithals, Einleitung, 111–126. 12 James D. G.  Dunn, Jesus Tradition in Paul, in: Bruce Chilton / ​Craig A. Evans (eds.), Studying the Historical Jesus: Evaluations of the State of Current Research, Leiden 1994, 155–178; repr. in James D. G.  Dunn, The Christ and the Spirit, Grand Rapids 1998, 169–189. 13 Rainer Riesner, Paulus und die Jesus-Überlieferung, in: Jostein Adna / ​Scott J. Hafemann / ​Otfried Hofius (eds.), Evangelium – Schriftauslegung – Kirche (FS. P. Stuhlmacher), Göttingen 1997, 347–365. 14 Richard B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 29–32.

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I. Studien zu Jesus

gations of Rainer Metzner have convincingly demonstrated this.15 Especially important are 1 Pet 2:12 (cf. Matt 5:16) and 1 Pet 3:14 (cf. Matt 5:10) because the text of 1 Peter reflects the redactional phrasing of Matthew’s text. Naturally, the First Gospel was not used as a source-text by the author. Rather, a secondary oralization of Jesus-traditions on the basis of the text of the First Gospel has influenced him. This supports the conclusion that all that was written in the Gospel of Matthew could have been known in the churches of Asia Minor, from where 1Peter originated in the nineties. This is remarkable because it shows that the First Gospel was known in churches far away from its place of origin in Syria a short time after it had been written. 1 Peter also shows that the author basically follows the Pauline pattern of using Jesus-traditions, since the kerygmatic traditions were of fundamental importance for him (cf. 1:19–21; 2:21–24; 3:18–22). Sayings of Jesus are only alluded to (2:12; 3:8 f, 14; 4:13 f); they are part of the author’s own paraenesis. It is difficult to say whether the author expects his readers to recognize these allusions or not. The case of the Ignatian letters is similar. In Magn 13:1 Ignatius speaks about the authoritative δόγματα τοῦ κυρίου καὶ τῶν ἀποστόλων. It is not clear what he means exactly with this. Ignatius too must have read or heard the text of the First Gospel. Smyrn 1:1 takes up Matt 3:15; Philad 3:1 uses Matt 15:13; Eph 15:1 and 17:1 presuppose possibly Matt 23:8 resp. Matt 26:6–13. Eph 19:1–3, the new star and the dissolution of μαγεία, is another text which is full of overtones from Matthew, primarily from the narrative in Matt 2:1–12.16 Some more material could be added to this. Let me just mention that it is not impossible that Smyrn 3:2 takes up Luke 24:36–43. On the whole Ignatius seldom alludes to Jesustraditions in spite of the fact that he knows one or two of our Gospels. Naturally, he does not directly quote their texts. This would have been impossible on his journey to Rome where he wrote his letters. Rather he remembers their wording, illustrating once again the phenomenon of secondary orality. Ignatius’ theology is as different from Matthew’s perspective of Jesus as it could be. But still we have to admit that the content of Matthew’s Gospel was known to him. This is not at all unlikely for an Antiochean bishop writing some twenty years after the Gospel of Matthew’s composition. The content of Luke’s Gospel was possibly also known to him – this would be more striking since the third Gospel’s place of origin is not Syria. More so than for other writers, the kerygmatic traditions are the center of Ignatius’ theology. He often incorporates details from single stories about Jesus into his cosmic and mythological kerygmatic vision of Christ (e. g. Eph 19:1–3; Smyrn 1:1). But this feature does not exclude, but rather draws upon his knowledge of Gospel-texts. 15 Rainer Metzner, Die Rezeption des Matthäusevangeliums im 1. Petrusbrief, WUNT II 74, Tübingen 1995. 16 Cf. Matt 2:2.3.9.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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The First Epistle of Clement also seems to presuppose the Gospel of Matthew, evidenced most clearly by 46:8.17 In 13:2 the author uses a non-canonical collection of λόγοι τοῦ κυρίου Ἰησοῦ, which is also known to Polycarp (Phil 2:3) and to Clement of Alexandria (Strom II 91:2).18 We do not know if this collection was transmitted to Clement orally or as a written text. In any case he has several sources about Jesus at his disposal; in view of this it is remarkable how little he makes use of the Jesus-tradition in his long letter. His two ways of using Jesus-traditions – explicit references to sayings of the Lord and “anonymous” allusions – formally resemble Paul. However, there is a shift in quantity: In the majority of cases Clement marks a Jesus-tradition as authoritative with the phrase “word of the Lord” (13:2; 16:15 f; 46:8; cf. 15:2). Only twice does he “anonymously” make use of Jesus-traditions within his own argument (16:17; 24:5).19 Polycarp’s First letter to the Philippians cannot be assigned an exact date. Undoubtedly it is later than 1 Clement. In 2:3 the letter quotes two sayings from “the teaching of the Lord”, namely a shorter version of the non-canonical tradition of 1 Clem 13:2 and a combination of Luke 6:20 and Matt 5:3, 10. We can be sure that Polycarp had the Matthean text in mind because he alludes to the first and the last of the Matthean beatitudes, in spite of the fact that the wording is not a verbal quotation but the result of secondary orality. Another quotation of the “Lord” is 7:2 (= Matt 26:41; Mark 14:38). “Anonymous” allusions to Jesus-traditions are 6:2 (= Matt 6:12); 7:2 (= Matt 6:13); 12:3 (= Matt 5:44, 46). Once again there are two ways of using Jesus-traditions: Either they are explicitly marked as “words of the Lord” or they are only implicit allusions. In this Polycarp also resembles Paul. The concentration on traditions from the Sermon on the Mount that occurred as early as in First Peter is remarkable in this letter as well. Other letters do not allow such clear conclusions. Among the kerygmatic traditions used by the Pastoral Epistles, 1 Tim 2:5 f has affinities with Mark 10:45, but it remains unclear if the author uses a kerygmatic formula, including this 17 Cf. Matt 18:6 and 26:24. Cf. also Wolf-Dietrich Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT II 24, Tübingen 1987, 62–64. The use of καταποντίζομαι is a pretty clear signal for dependence from Matthew. 18 Whether this collection was known to Polycarp because of 1Clement or as an independent tradition is unclear. 19 1 Clement aptly overturns the belief that in early Christian catechetical tradition, the teaching of Jesus and scriptural, paraenetical and sapiental traditions of early Judaism were an indistinguishable unity. Jens Schröter thinks “dass es eine Form frühchristlicher Katechese gab, zu der die Lehre Jesu ebenso gehörte wie Schriftzitate und paränetische bzw. weisheitliche Traditionen des Frühjudentums” (Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? ZNT 10 (2007), issue 20, 47–53, esp. 48). Many early Christian authors, among them the author of 1 Clement, distinguish between traditions marked as an authoritative “word of the Lord”, scriptural traditions and other traditions.

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I. Studien zu Jesus

saying of Jesus, or if he draws directly on the Synoptic tradition. A similar case, where the first possibility is more likely, is the tradition of 2 Tim 2:11–13 (cf. Matt 10:33), marked with the authority-formula πιστὸς ὁ λόγος. Another saying of Jesus is at least indirectly quoted as γραφή (1 Tim 5:18; cf. Matt 10:10).20 1 Tim 6:13 betrays knowledge of the events before Pilate in the Passion narrative. That sayings of Jesus have influenced the paraenesis of the epistles in yet other cases is possible but not very probable. – As for the Letter of James, it is disputed how closely it is connected with the Synoptic tradition. Patrick J. Hartin postulates the letter’s dependence on the Jesus-tradition, in particular on the Sermon on the Plain in an early version of Q.21 However, to me it seems difficult to assume that there is a tradition-historical connection between the Letter of James and Jesus-traditions that extends beyond the common sapiental milieu.22 The only exception is Jas 5:12, the prohibition of oaths, a saying of Jesus that was transmitted anonymously as part of the author’s own paraenesis in a preMatthean form. – The situation in the 2 Peter is also unclear. 1:14 alludes to a prediction of the martyrdom of Peter in a way that resembles John 13:36; 21:18 f, but the verse is not a direct allusion to a Johannine text. 1:17 f is an allusion to the transfiguration of Jesus “on the holy mountain”, possibly in its Matthean version.23 3:10 uses the comparison of the “day of the Lord” with a thief 24 – again no clear textual basis is identifiable. 3:2 recalls the authority of the “command of the Lord and Saviour of your apostles”, without giving any specific reference. All this fits well into the general pattern: There are no formal quotations, but there are “authority-markers” for some words formulated in the authority of the Lord. In other cases Jesus-traditions have become anonymous and part of the Christian paraenetic tradition. Beyond this some episodes from the life of Jesus are remembered. I omit other letters here because they fit only superficially into the letter-genre. Among them is the Epistle to the Hebrews, a λόγος παρακλήσεως (13:22) with –  The introduction λέγει γὰρ ἡ γραφή refers to Deut 25:4. The second quotation from Matt 10:10 is added by means of καί. For both quotations 1 Tim 5:18 is dependent of 1 Cor 9:8–18. 21  Patrick J. Hartin, James and the Q-Sayings of Jesus, JSNT.S 47, Sheffield 1991, 140–198. 22 I follow Matthias Konradt, Der Jakobusbrief, in: Martin Ebner / ​Stefan Schreiber, Einleitung in das Neue Testament, Studienbücher Theologie, Stuttgart 2008, 496–510, esp. 500 f. 23 2 Pet 1:15–17 comes closest to the Matthean text of the transfiguration-story. These texts are alone in their phrase ἐν σοὶ εὐδόκησα (Matt 17:5) resp. εἰς ὃν ἐγὼ εὐδόκησα (2 Pet 1:17). I think that the explanation as a quotation by memory of Matt 17:1–9 (e. g. Anton Vögtle, Der Judasbrief. Der zweite Petrusbrief, EKK XXII, Düsseldorf / ​Neukirchen 1994, 169) is more feasible than that of an independent tradition (Richard Bauckham, Jude. 2. Peter, Word Biblical Commentary 50, Waco 1983, 205–210). 24 1 Thess 5:2; Rev 3:3; 16:15; Matt 24:44; Q = Luke 12:40. Only 2 Pet 3:10 and 1 Thess 5:2 apply the image of the thief to the “day of the Lord”, while the other versions apply it to the Son of Man resp. the Lord. In this, 2 Pet 3:10 preserves an old tradition. 20

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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as I think – a secondary epistolary conclusion in Pauline style. It contains two or three allusions to the history of Jesus, primarily the passion-narrative25, but no quotations or allusions to sayings of Jesus. – Also to this category belongs the Epistle of Barnabas, a theological treatise framed superficially as a letter. Mostly biblical quotations, but once also a saying of Jesus quoted as “Scripture”, are the basis of its theological argument.26 – The third “letter” to be mentioned here is the Epistle to Diognetus, which is a theological treatise and not a letter.27 – “The last letter” of this group is the so called 2 Clement, a homily that has become a letter only through its superscription28 and contains a lot of quotations both from the Bible and of words of the Lord.29 Among the canonical letters, 1 John is a somewhat special case. I take it as an epistolary document in a very general sense. In its genre it is somewhere between a letter and a homily. For our question it is important that 1 John presupposes the Johannine prologue (1:1–18) in its introduction (cf. 1 John 1:1–4) and the end of the Gospel (20:30 f) in its own original ending (cf. 1 John 5:13).30 In spite of this, traditions from the Fourth Gospel are never directly taken up, except for the “new command”, which in the Johannine epistles became the “old” command valid from the beginning of the Christian life of the recipients (2:7 f; 3:11; cf. 2 John 5). There are also no allusions to non-Johannine Jesus-traditions. To summarize this section I shall now make some concluding remarks: 1. In many cases the authors of letters had a good knowledge of Jesus-traditions because they knew one or more of our written Gospels, mainly Matthew, sometimes also Luke. This does not mean that they quoted or often alluded to the Jesus-tradition; they do this only rarely. It is not possible, therefore, to conclude what the author of a letter knew on the basis of his quotations.

25 Heb 13:12; 4:7 is an allusion to Gethsemane but in the author’s own wording. Heb 4:15 may allude to the temptation. 26  Barn 4:14 quotes Matt 22:15, introduced with ὡς γέγραπται. Barn 14:9 is a quotation of Isa 61:1 f (ὁ προφήτης λέγει), with no influence from Luke 4:18 f. 27  According to Horacio Lona, An Diognet, Kommentar zu den frühchristlichen Apologeten 8, Freiburg etc 2001, 21–24 the “letter” is a logos protreptikos. The original superscription is only πρὸς Διόγνητον and does not contain ἐπιστολή. It contains allusions to the Gospeltradition, but no explicit quotations. 28 According to Andreas Lindemann, Die Clemensbriefe, HNT 17, Tübingen 1992, 190, 2 Clement is a homily whose written text was read in the churches (cf. 19:1). Even Helmut Köster, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern, TU 65, Berlin 1957, 70–111 takes it for granted that the author uses the Gospels of Matthew and Luke as its main sources. However, the introductory λέγει … ὁ κύριος is an authority-marker and not a reference to a written source. Only rarely are references to written Gospels given. 29 I count more than a dozen “words of the Lord” that originate in our Gospels. 30 This is the most important argument against an early dating of the Johannine epistles, cf. Hans Josef Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXII/1, Zürich / ​Braunschweig / ​Neukirchen 1991, 31.

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I. Studien zu Jesus

2. I suspect, although I have not provided sufficient evidence, that the genre of a text is one of the elements that can be decisive for the frequency and the way in which Jesus-traditions are used. The frequency of explicit quotations is considerably higher in the homily of 2 Clement and in the theological treatise of the Epistle of Barnabas31 than in real letters where the author’s own dialogue with the recipients prevails and where a common tradition forms a common basis between author and his recipients, allowing them to recognize allusions and echoes to Jesus-traditions. 3. Whether an author depends only on oral tradition or whether he remembers Gospel-texts in the form of secondary orality is not important: The reference to “the Lord” is an authority-marker and not a reference to a written text.32 Only in 2 Clement33 and in the Epistle of Barnabas34 do we find the first indications that Jesus-traditions had become “Scripture”. 4. With this is congruent that the explicit references to the “Lord” are seldom verbal quotations of written texts. In most cases their wording is adapted to the context. 5. Regarding the content, allusions to sayings of Jesus transmitted in the Sermon on the Plain or in the Sermon on the Mount are common. Among the narrative traditions, many episodes from the Passion‑ and Resurrection-narratives were undoubtedly known and alluded to (1 Tim 6:13; 1 Clem 16:15; 46:8; Ign Eph 17:1 f; Smyrn 3:2 f; 2 Pet 1:14; Barn 5:11–13; 7:9; Polyk 7:2). Narrative materials from other parts of the Gospels, particularly from miracles stories and apophthegms, play no significant role.

III. A Look at Paul Our glimpse at Paul can be brief because the textual situation is well known. In the authentic Pauline letters we find both explicit references to sayings of the “Lord” and implicit allusions to Jesus-traditions. The latter are naturally disputed. There are four explicit references to words of the “Lord”, namely 1 Cor 7:10 f; 9:14; 11:23–25 and 1 Thess 4:16 f. In 1 Cor 14:37 Paul claims the authority of an ἐντολὴ κυρίου for what he writes. In this case, he probably claims the author-

31 Hebrews

fits this pattern with respect to its numerous OT quotations. 5:18 is only a relative exception because λέγει γὰρ ἡ γραφή introduces Deut 25:4 and Matt 10:10 only indirectly (if at all!). 33 Cf. 2 Clem 8:5: λέγει ὁ κύριος ἐν τῷ εὐαγγελίῳ. 13:4 refers to Luke 6:32, 35 with the introduction λέγει ὁ θεός. 2:4 quotes Mark 2:17parr. with the introductory formula: ἑτέρα δὲ γραφὴ λέγει. 34 Barn 4:14. 32 1 Tim

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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ity of a “commandment of the Lord” for the entirety of chs. 12–14 – there is no special traditional basis.35 Beyond this the Pauline letters contain allusions to sayings of Jesus, but the extent is much disputed among scholars. For William Wrede their number is minimal; he mentions only Rom 12:14 as a possible allusion to a saying of Jesus. Most revealing for him is that Paul does not use Jesus’ liberal attitude towards the law as a basis of his own theology of the law.36 In a survey article, Stephen G. Wilson enumerates only four examples of “plausible references”, namely 1 Cor 13:2; Rom 12:14; 13:9; 14:14.37 Hans Joachim Schoeps adds Rom 16:19 and Gal 5:14.38 A relatively moderate estimation by Victor Paul Furnish counts seven allusions as very probable or at least worth noting (Rom 12:14; 13:7; 13:8–10; 14:14; 1 Cor 4:12; 13:2; Gal 5:13 f).39 To Furnish’s list James D. G. Dunn adds 1 Thess 5:2; 5:13; Rom 14:17; 16:19 and Rom 15:1–5 – the latter being an allusion to Jesus’ life-style. To these I would add a few general echoes of Jesus-language, notably the prayer-address ἀββά (Rom 8:15; Gal 4:6)40 and the references to the βασιλεία (8x). But nowhere is this keyword from Jesus’ preaching combined with the authority-marker κύριος and nowhere is the content of Jesus’ proclamation of the kingdom recalled. I limit myself to these probable or at least possible allusions. But even then, what we have is more than a dozen references to Jesus-traditions, which is no small amount. Let me add four remarks: 1. Not all “anonymous” allusions to the sayings or the life of Jesus are completely anonymous. a) The allusion to the principle of purity (= Mark 7:15) in Rom 14:14 is emphasized by Paul: He is convinced “in the Lord Jesus” that nothing is unclean by itself. Is this a direct allusion to Mark 7:15 marked by ἐν κυρίῳ Ἰησοῦ, and thus equal to the phrase “the Lord says”? Not necessarily. Πέπεισμαι stresses Paul’s own Christian conviction and not that he received a commandment of the Lord. That Paul added Ἰησοῦ to ἐν κυρίῳ41 might indicate that he was aware of the fact 35  For Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17–14,40), EKK VII/3, Zürich / ​Neukirchen 1999, 459 this is very different from 1 Cor 7:25, 40 and rather comparable with 1Thess 4:2. 36 Wrede, Paulus (cf. note 4), 91 f. 37 Stephen G. Wilson, From Jesus to Paul: The Contours and Consequences of a Debate, in: Peter Richardson / ​John C. Hurd (eds.), From Jesus to Paul (Studies in hon. of F. W. Beare), Waterloo Ontario 1984, 1–21, 7. 38 Schoeps, Paulus (note 7), 49. 39 Victor P. Furnish, The Jesus-Paul Debate: from Baur to Bultmann, in: Alexander J. M.  Wedderburn (ed.), Paul and Jesus. Collected Essays, JSNT.S 37, Sheffield 1989, 17–50, 44. 40 According to Gal 4:6 ἀββά is uttered by the spirit of God’s son in the hearts of the believers. 41 Elsewhere only 1 Thess 4:1; Phil 2:19.

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I. Studien zu Jesus

that “the following dictum stemmed originally from Jesus”42, but this is not sure. In any case the Pauline formulation is “strikingly emphatic.”43 b) In the various references to the love-commandment, Paul’s accents are different. In Rom 13:9 and Gal 5:14, this commandment is a fundamental principle and fulfilment of the law. It is the center of Pauline ethics. Most probably he owes this center to Jesus. I don’t know any Jewish texts where the lovecommandment is not only a central commandment, but a πλήρωμα of the Torah, even a πλήρωμα of the totality of the Torah in one word (Gal 5:14). It is all the more astonishing that Paul neither mentions Jesus’ teaching on the matter nor refers to the famous Jesus-tradition of the double commandment of love (Mark 12:29–31). Rom 12:9–21 is similar: the paraenesis of love and non-violence is a key-issue in Pauline ethics, but it is transmitted anonymously in spite of obvious references to Matt 5:44, 39. The same is true for 1 Cor 13: “Love” becomes the way καθ’ ὑπερβολήν, but without any reference to Jesus. However, in Gal 6:2 the love-commandment is marked by Paul as νόμος τοῦ Χριστοῦ. What does he want to say with this? The weight of the formulation cannot be simply dismissed by the explanation that Paul might have borrowed this expression from his Galatian adversaries.44 It is also not enough to interpret it in the sense of “the law of the Messiah”.45 But it is certainly more than a mere reference to the teaching of the “historical Jesus” – then Paul would not have said τοῦ Χριστοῦ. I take Rom 15:1–3 as a paraphrase of Gal 6:2 and as an allusion to the love-command.46 If this is correct, it was not only the teaching of Jesus but even more Jesus’ example in his life and death that inspired the formulation ὁ νόμος τοῦ Χριστοῦ. The expression shows that Christ’s life and death are the “norm” of Pauline ethics. It also shows that neither a non-kerygmatic “historical Jesus” nor a mere “teaching of Jesus” isolated from the life and death of Christ can function as this norm. c) The tradition about “the day of the Lord coming like a thief in the night” in 1 Thess 5:2 is thought to be well known to the Thessalonians (ἀκριβῶς οίδατε). The image of the thief was only used by Jesus in an eschatological context, not in Jewish parables. How did the newly converted Thessalonians become familiar with the comparison of the Last Day with a thief? The conclusion that the apostle Paul must have narrated this parable of Jesus to them as it is transmitted to us in the form of Q 12:39 f is unavoidable. Here we have at least one conclusive example that Paul transmitted a Jesus-tradition in his apostolic preaching. There are also other examples where this is likely, but more difficult to prove. Thus, it

42 James

D. G.  Dunn, Romans 9–16, Word Biblical Commentary 38B, Waco 1988, 818; similarly Cranfield (note 43 below). 43 Charles E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans II, ICC, Edinburgh 1979, 712. 44 Hans Dieter Betz, Galatians. Hermeneia, Philadelphia 1979, 200 f. 45 Cf. Heinrich Schlier, Der Brief an die Galater, KEK VII, Göttingen 1951, 200. 46 Cf. τὰ ἀσθενήματα … βαστάζειν … πλησίον … καὶ γὰρ ὁ Χριστός.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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may be concluded in this case that Paul’s readers in Thessaloniki recognized the Apostle’s allusion to a Jesus-tradition. Conclusion: At least in some cases the paraenetic traditions of Jesus are not completely anonymous and the apostle Paul knew that and wanted his readers to realize this.47 2. There are several cases where Pauline quotations or Pauline kerygmatic formulations presuppose more knowledge about Jesus among the recipients than they tell. a) It is uncontested that 1 Cor 11:23–25 presupposes a general knowledge about the night when Jesus was “handed over”. The readers are not only familiar with the last supper, but also with the role of Judas. The same is true for 1 Cor 15:3–8: This creed summarizes the main points of a narrative. It presupposes a general knowledge of the passion-narrative and the appearance-stories and about the persons involved in them. Naturally, the kerygmatic significance of these events is most important for Paul, but this importance is based upon a concrete story. b) Phil 2:5–8 and 2 Cor 8:9 not only speak about the incarnation of a transcendent heavenly being, but include Jesus’ life-style, his humility and poverty.48 If this were not the case, the paraenetical application of this kerygma would be impossible.49 The same is true for Rom 15:3 (ὁ Χριστὸς οὐχ ἑαυτῷ ἤρεσεν). This verse presupposes a knowledge of the passion-narrative and of Psalm 69, which is a passion-psalm. In Rom 15:8 the phrase Χριστὸν διάκονον γεγενῆσθαι περιτομῆς presupposes that Jesus came as a saviour of the Jews only;50 the Gentiles were added later through the mercy of God (15:9). Another example is 2 Cor 10:1: How can Paul speak about the πραΰτης and the ἐπιείκεια τοῦ 47 Thomas Schmeller, Kollege Paulus. Die Jesusüberlieferung und das Selbstverständnis des Völkerapostels, ZNW 88 (1997), 260–283. Discussing the Pauline allusions to possible Jesus traditions, the author says on p. 263 that nowhere “(ist) sicher zu entscheiden, ob Paulus diese Tradition als Jesuswort kennt oder ob es sich um anonym umlaufende urchristliche Tradition handelt, die nur in bestimmten Kreisen, möglicherweise erst nach Paulus, Jesus zugeschrieben wurde”. I would say to the contrary: In some cases there are strong arguments for the first possibility. 48 Cf. Graham Stanton, Jesus of Nazareth in New Testament Preaching, MSSNTS 27, Cambridge 1974, 109: “Paul’s references to the character of Jesus cannot be interpreted merely as references to the preexistent Christ”. 49 In 1 Thess 1:6 Paul presents the Lord and the apostles as models to be imitated (μιμηταὶ ἡμῶν ἐγενήθητε καὶ τοῦ κυρίου). This would not be possible if “the Lord” did not refer to a concrete human being. Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus (note 8), 206 says rightly: “Nur der schon als Herr Anerkannte kann Vorbild sein, nicht aber macht die etwaige Vorbildlichkeit des historischen Jesus diesen zum Herrn”. However, one also has to add another accent: Only through his incarnation as a concrete human being can the preexistent Lord function as a model. 50 Eduard Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 387 points to the Ἰουδαίῳ τε πρῶτον in order to confirm this interpretation.

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I. Studien zu Jesus

Χριστοῦ without having told to the Corinthians anything about Christ’s life and life-style? All these texts presuppose the readers’ general knowledge about the life of Jesus so that Paul naturally does not have to go into detail in his letters. The conclusion is that Paul must have told his converts something about the life of his risen Lord, whose incarnation, death and resurrection he was proclaiming. Otherwise his kerygma would have been empty and inapplicable. About contents and details I do not want to speculate here.51 3. Paul links some Jesus-traditions with the authority-marker κύριος for different (mainly) contextual reasons. These “markers” do not set apart the marked traditions as authoritative over against the other allusions to Jesus-traditions as being non-authoritative. a) All four traditions marked as sayings of the Lord or traditions from “the Lord” (1 Cor 7:10; 9:14; 11:23–25; 1 Thess 4:16 f) are not part of a general paraenesis, but are special rules, traditions or revelations. In the case of 1 Cor 7:10 and 9:14, Paul refers to the “Lord” not only because prohibition of divorce and the principle of “living by the Gospel” are rooted in the tradition of Jesus, but also because they are rules which are valid in the whole church. These rules do not limit Paul’s own authority; rather, Paul applies them with great freedom to the Corinthian situation resp. to his own case. The eschatological revelation of 1 Thess 4:16 f, marked by Paul as “word of the (risen) Lord”, is again a very concrete revelation about the parousia of the Lord. Paul applies it to comfort the Thessalonians in their grief. In the case of the tradition in 1 Cor 11:23–25, Paul adds his own commentary in v. 26 with a direct address to the Corinthians; this commentary is the basis of the Pauline conclusion that follows in vv. 27–30.52 Specific content, universal validity, contextual application and the authority of the Lord Jesus seem to come together in these four cases where Paul explicitly marks a reference to Jesus-tradition as a “word of the Lord”. b) To this I want to add a negative statement: These references are not marked with κύριος because they are verbal quotations and contrast the “anonymous” references as mere allusions. Only the tradition in 1 Cor 11:23–25 is a verbal quotation, comparable with 1 Cor 15:3–5. As a liturgical tradition it is quoted verbally. 1 Cor 7:10 and 1 Cor 9:14 are not verbal quotations – neither of Mark 10:9 or 10 f nor of Luke 10:7. 1 Cor 7:10 is formally an “allusion” or an “echo”: In the use of the verb χωρίζω it comes close to Mark 10:9 Par.; in the form of a double prohibition it resembles Mark 10,11 f par. When it comes to wording, 1 Cor 9:14 is not an allusion to Luke 10:7 b – not a single word is common with Luke 10:7. Rather, it is a Pauline summary of the content of this commandment 51 But I want to recall what Luke the Paulinist says some 20–30 years after Paul’s death, namely that his Gospel is not something new for Theophilus, but confirms the ἀσφάλεια of the λόγοι that Theophilus knew already from the catechetical instructions he received (Luke 1:4). 52 Cf. the catch-words in vv. 26–29: ἐσθίειν ἄρτον, πίνειν ποτήριον, κυρίου.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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of the Lord. For Paul’s use of these two traditions it is not necessary to quote them verbally.53 In 1 Thess 4:16 f Paul transmits ἐν λόγῳ κυρίου an apocalyptic prophecy about the parousia that we cannot identify with any extant saying of Jesus. Paul first summarizes the prophecy in vv. 14 f and then quotes it with some textual modifications. In this case a verbal quotation is important in order to comfort the Thessalonians. In all four cases it is Paul’s use of a tradition that determines the way and the form in which he takes it up. If we take into account that Paul has other ways of adding weight to the traditions of Jesus to which he refers, especially in the case of general principles,54 it seems unwise to isolate the few explicitly marked echoes of Jesus-traditions from the other ones. Rather, they remind the hearers of what is generally true, namely that both sayings and the lifestyle and death of the Lord Jesus are of great importance. 4. My fourth remark is very brief: Paul’s allusions to Jesus-traditions show that evidence looks very different depending on how it is named. Jens Schröter emphasizes the fact that many allusions to Jesus-traditions are not marked as such and thus are merely part of a general catechetical and paraenetical tradition that was transmitted under the indirect authority of the Lord.55 Consequently he speaks about “analogies to the Synoptic Gospels” in Paul’s letters.56 James D. G. Dunn calls these allusions “echoes of Jesus’ teaching in Paul”.57 His point is that echoed-traditions are important. He recalls the numerous “echoes of Scripture” in Pauline epistles and other New Testament writings that are a testimony for the importance of Scripture, not the opposite.58 Much depends therefore on the terms chosen for describing a matter. I prefer Dunn’s more “positive” term. That he was inspired by Hays’ book about Paul’s use of Scripture is not without reason. Paul’s use of Jesus-traditions is not fundamentally different from his use of Scriptures: Many of them are explicit quotations with formal introductions, others – Hays calls them “echoes” – are invisible, unmarked and a part of the Pauline text. It is evident that the numerous allusions to Scripture in the Pauline letters underline the importance of Scripture for Paul and do not contradict it. – Another analogy that comes even closer to Paul’s use of Jesus-traditions is his use of kerygmatic traditions. Some of them are explicitly marked as tradition (1 Cor 11:23; 15:3), others are easily recognizable as quotations through their form and / ​or position in the text (e. g. 53 For details of the quotation and application of 1 Cor 7:10 f and 9:14 cf. Mirjam and Ruben Zimmermann, Zitation, Kontradiktion oder Applikation. Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe, ZNW 87 (1996), 83–100. 54 Cf. above remark 1. 55 Schröter, Der erinnerte Jesus (note 19), 48–51. 56 Ibid. 50. 57 Dunn, Jesus Tradition (note 12) 173. 187. 58 He is endebted to Richard B. Hays, Echoes of Scripture (note 14).

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I. Studien zu Jesus

Phil 2:6–11; Rom 1:3 f; Rom 4:25); others blend completely with the Pauline text (e. g. Rom 3:25; 8:3, 32). Regardless of the various ways in which kerygmatic traditions are used, all the different Pauline ways of using them underline their importance for Paul’s theological argument. Interpreted as “echoes”, the twelve (approx.) allusions to Jesus-traditions underline how Paul emphasizes the authority of the Lord.

IV. Paul and the Later Letters By looking back from the later letters to the Pauline letters, the following conclusions seem to be appropriate: 1. In all the letters – Pauline and later letters – the allusions to Jesus-traditions are not numerous. However, many of the later letters demonstrate how misleading it can be to draw conclusions from an author’s quotations or allusions to what he knew. If we only had the Johannine epistles and not the gospel of John, we would know nothing about Jesus. If we had only Acts and not the Lucan Gospel we would be in a very poor situation too. And if we did not possess the Gospel of Matthew but only the epistles of Peter, Ignatius and Polycarp, what would we know about Jesus? Therefore, it is very misleading to conclude from the paucity of Jesus-traditions in the Pauline letters that Paul knew very little about Jesus. 2. Not only for the later letters, but also for the Pauline letters their genre as letters is important: Letters are part of an ongoing communication between two partners and therefore are not normally the first communication. In an ongoing communication, a great deal of background information is presupposed. Thus, the genre of texts is an important vessel but also a limitation for the transport of information.59 3. Not only in Pauline letters but also in many later ones, explicit references to the authority of the Lord and to some of his commandments and sayings on the one hand, and implicit (“anonymous”) allusions to traditions of Jesus on the other hand, are placed side-by-side. The “side-by-side” nature of explicit references to the κύριος and implicit allusions is particularly evident in 1 Clement and in the letter of Polycarp. Neither in the case of Paul nor in the case of later letters does there seem to be a tension between Jesus-traditions that are explicitly authorized by the “Lord” and others that are “anonymous” echoes of Jesus-tradition. Rather, the “echoes” of Jesus-traditions in the paraenetical texts underline the authority of the Lord Jesus, although their authority is part of the letter-writer’s own authority. 59 It is also misleading to conclude from the Gospel of Mark that its author or its first readers had no other information about the διδαχή of Jesus (as it is preserved, for example, in Q) except for the little given in the Markan Gospel.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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4. Paul’s explicit references to commandments or words of the Lord are not verbal quotations. They are adapted to the situation; sometimes they are summarized or commented on by Paul. This corresponds to the way Paul uses kerygmatic traditions and to some extent even Scriptures. In later letters the situation is similar, although there is a gradual increase of the verbality of the references to Jesus-traditions due to their textual stabilisation through written Gospels. Until the middle of the second century, Jesus-traditions were rarely quoted as texts, but were rather “authorized” as “words of the Lord” and adapted to the situation.60 5. In some later letters we observed a special importance of the Sermon on the Mount / ​Plain and the Passion-narrative as “sources” of allusions and quotations of Jesus-traditions. To me it seems difficult to find an exact correspondence to this in the Pauline letters. Doubtlessly the Passion-narrative played an important role for him too, while the sermon on the Mount / ​Plain did not yet exist.61 For both Paul and the later letters, the absence of miracle stories and apophthegmatic traditions among the source-material is remarkable. 6. Paul never uses Jesus-traditions when he speaks about the history of Jesus as a whole. Instead, he condenses the whole history of Jesus into his kerygmatic formulations. This is not unusual in early Christianity: In many of the later letters, particularly in 1 Peter or in the Ignatian letters, something similar occurs. A related example for this is Luke: In his Gospel he narrates the stories about Jesus completely and exhaustively, but in the sermons of the apostles in his second volume he never refers to details, but summarizes his own history of Jesus in traditional kerygmatic style with only few additions that correspond to his first volume (e. g. Acts 10:37 f, 41; 13:27–29). Paul’s clear preference for the kerygmatic tradition is thus is no exception. Conclusion: If we take all these observations together, the continuity between Paul’s use of Jesus-traditions and the use of Jesus-traditions or oralized Gospel traditions in later epistles is remarkable. Paul is not an exception within early Christianity. He is not a special case, because allegedly he had practically no knowledge about Jesus. For me there is no special “Jesus and Paul” problem. Paul is neither the founder of a special “non-Jesus” type of Christianity that would later be enriched by Jesus-tradition, nor is he the founder of Christian60 This

is the reason for the debate between scholars who emphasize the use of oral traditions in the texts of the early second century (like Köster, Synoptische Überlieferung [note 28]) and others who emphasize the use of written texts (like Edouard Massaux, Influence de l’évangile de saint Matthieu sur la littérature chrétienne avant Saint Irénée, BEThL 75, Leuven 21986 and Köhler, Rezeption [note 17]). The phenomenon of secondary orality of written texts, which has become important in recent years, makes an either-or-solution impossible. 61 According to Dale C. Allison, The Pauline Epistles and the Synoptic Gospels: The Pattern of the Parallels, NTS 28 (1982), 1–32, 10–17 Paul used early forms of the collections from Luke 6:27–38; Mark 6:6 b–13; 9:33–50 and he was familiar with the Passion-narrative. I doubt that these early collections of sayings of Jesus were known to Paul. Not all of Allison’s allusions are convincing for me.

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I. Studien zu Jesus

ity as a whole. Rather, Paul is part of early Christianity, also with regard to his (limited) use of dominical traditions in his letters. In this aspect, Paul is well within the general norm.62

V. Final Remarks In light of the whole of early Christian letter writing it is astonishing that the problem “Paul and Jesus” has become such an important and key issue in New Testament research. Is the problem of “Paul and Jesus” a genuine problem or one that has arisen in modern times because of the lenses and presuppositions of contemporary scholarship? To a large extent this seems to be the case. The so called “historical Jesus” is a category of modern enlightened scholarship. The rift between the church’s dogma of Christ and Jesus, the great teacher of humanity, is a modern rift that has led contemporary scholarship to neglect not only the eschatological and apocalyptic dimension in Jesus’ preaching, but also the “Christological” dimension of Jesus’ mission, namely the singular importance he attributed to himself as messenger of God, including the significance of his own death. The predilection for the total discontinuity between Jesus and the post-Easter Christological kerygma grew on the soil of post-Enlightenment biblical scholarship. Hand in hand with this is the alleged discontinuity between the – seemingly – unmythological religious and ethical teaching of Jesus and the highly mythological and cosmic figure of the post-Easter son of God as he was constructed by the Religionsgeschichtliche Schule. It does not make a fundamental difference whether the sympathies of theologians were with the historical Jesus, as was the case for liberal theologians of the nineteenth and early twentieth century, or with the kerygmatic Christ viewed through the lenses of the Easter faith of the Church, as was the case for Martin Kähler and Rudolf Bultmann. The assumed rift between Paul and Jesus was inherited by both. I am not arguing that a problem does not exist. I find it unnecessary, however, to pose the issue in the radical form of an “either-or”. That Paul does not take up the most important sayings of Jesus in his letters and that he might have known less about Jesus than we think we know today does not exclude the fact that he had a deep interest in the life and the words of the Lord Jesus. That Paul looked at Jesus exclusively through the eyes of post-Easter faith and concentrates his vision of Jesus in his death and resurrection does not exclude the fact that this Jesus was for him a real man with a very concrete life before he died. Any “either-or” and any minimalist or maximalist position seems, in my estimation, unnecessary. With this I do not want to deny that I also have unresolved questions, although 62 This has been taken seriously by Schmithals, Paulus und der historische Jesus (note 9) 157, although he has interpreted his findings in his own way.

5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters

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they do not have such a fundamental character for me like for other colleagues. Like others, I find it strange that Paul frequently alludes to the βασιλεία τοῦ θεοῦ but that he hardly combines these allusions with what we think was the center of Jesus’ proclamation of the imminent basileia. It is strange for me that Paul does not refer more often and explicitly to the Lord Jesus when he takes up his ethical teaching. And it is strange for me that hardly any miracle-story and hardly any other episode from the life of Jesus before his passion is alluded to, both in Pauline letters and in many later ones. Such problems remain, but I do not want to exaggerate them.

6. Jesus im Vergleich mit neueren japanischen Religionsstiftern I. Einleitung Mein Anliegen in diesem Aufsatz ist es, den Anfang des Christentums als einer neuen Religion besser zu verstehen. Dazu werde ich Jesus mit neueren japanischen Religionsstiftergestalten vergleichen. Im besonderen möchte ich drei Interessen verfolgen: Mein erstes Interesse ist, die Bedeutung und die Rolle von sog. „Religionsstiftern“ zu verstehen. Dieser Begriff war einer der Schlüsselbegriffe in einer früheren Epoche der Religionswissenschaft. So unterschied zum Beispiel Gustav Mensching zwischen „gewachsenen“ und „gestifteten“ Religionen. „Gewachsene“ Religionen sind für ihn Volksreligionen, traditionale Religionen von Stämmen oder Völkern. „Gestiftete“ Religionen sind Religionen, an deren Ursprung „eine historisch feststellbare Persönlichkeit mit einer charakteristischen religiösen Schau“ stand, die „entscheidend auf die Gestaltung und den Geist der konkreten Religion für eine unabsehbare Dauer ihrer weiteren Entwicklung einwirkt“.1 Gestiftete Religionen sind universal. Zugleich setzen sie ein fortgeschrittenes Stadium der Individuierungsgeschichte der Menschheit voraus, denn der Beitritt zu ihnen erfolgt – zunächst – aufgrund einer Entscheidung von einzelnen Menschen.2 Auf der Basis dieser allgemeinen These schrieb Mensching seine wichtige Vergleichsstudie „Buddha und Christus“.3 Ähnlich unterscheidet Theo Sundermeier zwischen „primärer“ und „sekundärer“ Religionserfahrung: „Sekundäre Religionserfahrung“ geschieht, wenn traditionelle Religionen in einer veränderten gesellschaftlichen Situation nicht mehr greifen; diese Veränderung wird „durch die Seher, Propheten und Reformer erspürt, vorausgesagt, initiiert und bewältigt“.4 Eine sekundäre Religion löst die primäre nicht einfach ab, sondern setzt sie voraus, integriert, absorbiert, überlagert, verändert sie oder lehnt 1 Gustav

Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft, Heidelberg 21949, 151. ebd. 155. 3 Gustav Mensching, Buddha und Christus: ein Vergleich, Stuttgart 1978; Neuausgabe von Udo Tworuschka, Freiburg 2001. 4 Theo Sundermeier, Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext, ThB 96, Gütersloh 1999, 34–42; Zitat 36. 2 Vgl.

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sie punktuell ab. Eine sekundäre Religion stellt Wahrheitsansprüche; meistens ist sie missionarisch. Im heutigen religionswissenschaftlichen Diskurs spielt der Ausdruck „Religionsstifter“ keine bedeutsame Rolle mehr. Warum nicht? Ein Grund dafür könnte sein, dass viele der sog. „Religionsstifter“ gar nicht beabsichtigten, eine neue Religion zu „stiften“. Eher waren sie herausragende Charismatiker, Propheten oder Lehrer ihrer Religionen und wurden erst nach ihrem Tod zu Religionsstiftern, also durch die Interpretation ihrer Anhänger. In dieser Hinsicht hat der Ausdruck „Religionsstifter“ eine rezeptionsgeschichtliche Dimension. Dasselbe gilt für einen anderen Ausdruck, den ich im Anschluss an Mark R. Mullins brauche, nämlich den Ausdruck „minor founder“.5 Dies ist eine hilfreiche Bezeichnung für Charismatiker, die „Gründer“ von neuen religiösen Bewegungen, Schulen oder Sekten innerhalb einer Religion wurden, die bereits ihren „Gründer“ hatte. Im Christentum gehören Gestalten wie Franziskus von Assisi, Luther, Simon Kimbangu oder – in Japan – Uchimura Kanzo, der Gründer der „Nicht-Kirche-Bewegung“ (Mukyôkai) zu dieser Kategorie. Im japanischen Buddhismus können Shinran oder Nichiren so bezeichnet werden. Ein dritter Ausdruck, den ich gerne einführen möchte, ist „endgültiger Offenbarer“. So möchte ich Gründergestalten bezeichnen, die frühere Religionen mit ihren Gründergestalten überbieten wollten. Beispiele im Westen sind Mani oder Muhammad; ein Beispiel in der Geschichte der neueren japanischen Religionen ist Okada Yoshikazu, der Gründer von Mahikari.6 Dieser Ausdruck hat keine rezeptionsgeschichtliche Dimension, sondern bezieht sich auf das Selbstbewusstsein solcher Gründergestalten. Mein zweites Interesse ist weiter gefasst: Es gilt den Ähnlichkeiten und Unterschieden im frühesten Entwicklungsstudadium religiöser Bewegungen,7 die später zu einer „neuen Religion“ wurden.8 Zu solchen Ähnlichkeiten kann etwa die Entwicklung von einem charismatischen oder prophetischen Anfang hin zu einer grösseren Institutionalisierung gehören oder die Entwicklung von radikalen Anfängen hin zu grösserer Konformität. Zu solchen Gemeinsamkeiten könnte 5 Mark R. Mullins, Christianity as a New Religion. Charisma, Minor Founders and Indigenous Movements, in ders. / ​Shimazono Susumu / ​Paul L. Swanson (Hg.), Religion and Society in Modern Japan, Berkeley 1993, 257–272. – Im Japanischen wird der Familienname dem Vornamen vorangestellt. Ich folge in diesem Aufsatz bei Japanern diesem Usus. 6 Eine 1959 gegründete, straff und hierarchisch organisierte neue Religion in Japan. Der Name bedeutet „Wahres Licht“. 7 Ich brauche den Ausdruck „religiöse Bewegung“ in dem weiten Sinn, wie ihn heutige Religionssoziologie braucht; vgl. z. B. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, SG 2094, Berlin 1999, bes. 153–169. 8 Spezifischere religionssoziologische Kategorien, wie „Kirche“, „Sekte“ (im Sinn von Max Weber, Ernst Troeltsch oder Brian Wilson) oder „Denomination“ sollten auf japanische Religionen wie überhaupt auf aussereuropäische Religionen nur mit ganz grosser Vorsicht angewandt werden.

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auch die Entstehung einer Religion in einer Situation eines gesellschaftlichen Umbruchs gehören, wenn neue Bedürfnisse neue Antworten erforderten. Zu ihnen gehören oft auch die Vergöttlichung des Gründers, eine starke missionarische Aktivität besonders am Anfang oder ein mit der Zeit wachsendes Interesse an Tradition, das manchmal zur Niederschrift von heiligen Texten oder zur Fixierung einer Lehre führte. Dazu gehören schliesslich grundlegende Rituale, die für die Identität der neuen Gemeinschaft konstitutiv sind. Vergleichende Untersuchungen des frühen Christentums und anderer entstehender Religionen sind wichtig. Sie helfen zur Unterscheidung von dem, was mehr oder weniger allgemein für jeden Prozess einer Entstehung einer neuen Religion gilt, und dem, was dem Einfluss besonderer historischer, sozialer und kultureller Kontexte zuzurechnen ist. Für christliche Theologie mit ihrer Neigung, das Christentum als etwas Einzigartiges zu betrachten, bietet ein solcher Vergleich hilfreiche Korrektive. Mein drittes Interesse hat mit Japan zu tun und mit der Situation japanischer christlicher Theologie. Ich möchte besser verstehen, warum sich das Christentum in Japan nicht ausbreiten konnte, ganz anders als in Südkorea und in China. Ich möchte verstehen, warum in Japan die „neuen Religionen“ das religiöse Vakuum ausfüllen, welches in Südkorea und anscheinend auch in China mehr und mehr durch das Christentum ausgefüllt wird. Während der letzten zwei Jahrhunderte sind in Japan sehr viele wirklich neue Religionen entstanden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Japan sowohl von den christlichen Ländern des Westens als auch von seinen asiatischen Nachbarländern. Auch in Europa und in Nordamerika gibt es neue „religiöse Bewegungen“,9 aber sie sind viel stärker traditionsorientiert. Die meisten von ihnen sind entweder christlich oder muslimisch. Die japanische Situation ist aber auch sehr anders als diejenige in Süd-Korea oder in China. Südkorea ist heute ein zu einem Drittel christliches Land. Im heutigen China gibt es viele Indizien, die vermuten lassen, dass das Christentum in ähnlicher Weise expandieren wird wie in Korea. Die moderne Geschichte des Christentums in Japan begann in der Meiji-Zeit10, nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ungefähr zur selben Zeit beginnt die erfolgreiche Geschichte der „neuen Religionen“. Aber anders als die Geschichte der neuen Religionen kann die der christlichen Mission in Japan nicht als Erfolg bezeichnet werden. Die Zahl der Christinnen und Christen in  9 Natürlich ist es eine Interpretationsfrage, wie weit neue Formen des Christentums oder des Islam im Westen unter die Kategorie „neue religiöse Bewegungen“ fallen. Es gibt einige Analogien zwischen neuen religiösen Bewegungen in Ostasien und Afrika und solchen in Europa in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Ihre Voraussetzung liegt in der abnehmenden Bindungskraft der traditionellen institutionellen christlichen Denominationen einerseits und in der zunehmenden Individuierung und Globalisierung andererseits. 10 Kaiser Mutsu-hito (= Meiji) regierte von 1868–1912.

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Japan übersteigt kaum einen Prozent der Bevölkerung, während die Zahl der Mitglieder neuer Religionen auf inzwischen gegen 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird, und dies von Skeptikern, welche auf die Mitgliedschaftszahlen, welche die neuen Religionen selbst veröffentlichen, nicht viel geben.11 Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Sie sind komplex. Der Hauptgrund kann nicht nur sein, dass das Christentum im Unterschied zu traditionellen japanischen Religionen, Shinto und Buddhismus, eine exklusive Mitgliedschaft verlangt. Es gibt erfolgreiche neue Religionen des Typs „Bekehrungsreligion“, welche das auch tun, wie z. B. Sôka Gakkai; und viele der „neuen Religionen“ vertreten so etwas wie eine „weiche“ Forderung exklusiver Mitgliedschaft, weil sie von Hause aus monolatrisch sind. Der Hauptgrund kann auch nicht darin liegen, dass das Christentum in Japan sich nur in relativ geringem Ausmass indigenisierte und weitgehend eine „fremde“ Religion blieb, denn auch nicht-denominationelle indigene christliche Bewegungen wie die „Nicht-Kirche-Bewegung“ (Mukyôkai) oder die „Christ-Heart-Church“12 waren wenig erfolgreich,13 während in Korea gerade die konservativen Kirchen, die treu die Lehren ihrer westlichen Mutterkirchen bewahren, sehr erfolgreich zu sein scheinen. Wichtig ist, dass das Christentum in Korea einen grossen Vorteil hatte, weil es nicht japanisch war und eine Art oppositionelle Identität gegenüber der herrschenden japanischen Kolonialmacht darstellte. In Japan dagegen war es politisch ein Nachteil, nicht „japanisch“ zu sein. Vielleicht der wichtigste Grund ist aber, dass das Christentum in Japan von Anfang an eine Religion der mittleren und oberen Schichten war: Viele Christen im 19. Jahrhundert waren ehemalige Samurais und Intellektuelle, die eine neue Orientierung suchten. Die neuen Religionen des 19. Jahrhunderts dagegen hatten ihre Wurzeln in den Dörfern unter den Bauern. Die soziale Zusammensetzung der „neuen Religionen“ Japans hat sich im 20. Jahrhundert stark gewandelt: sie wurden zu städtischen Religionen, aber diejenige des Christentums blieb, was sie war. Ein weiterer Grund für den Misserfolg des Christentums könnte in der Mentalität der Japaner liegen: Kenner sagen, dass „Erlösung im Diesseits“ ein grundlegendes Kennzeichen aller japanischen Religionen sei.14 Allerdings ist dies nicht nur ein Kennzeichen japanischer Mentalität, sondern trifft weitgehend auch für China und für das heutige main-stream-Christentum des Westens zu. Aussagekräftiger scheint mir eine 11 Shimazono Susumu, From Salvation to Spirituality. Popular Religious Movements in Modern Japan, Melbourne 2004, 4. 12 Eine 1927 entstandene christliche Kirche, die viele buddhistische Elemente (Zen-Meditation, buddhistischer Hausaltar, buddhistische Feste und Ahnenverehrung) integrierte. 13 Cf. Mullins, Christianity as a New Religion (Anm. 5); ders., Christianity Transplanted. Towards a Sociology of Success and Failure, in: ders. / ​Richard F. Young (Hg.), Perspectives on Christianity in Korea and Japan. The Gospel and Culture in East Asia, Lewiston etc. 1995, 61–77, bes. 65–68. Vgl. auch seine umfassende Monographie: Mark R. Mullins, Christianity made in Japan. A Study of Indigenous Movements, Honolulu 1998. 14  Vgl. z. B. Shimazono, From Salvation to Spirituality 5.

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Formulierung eines japanischen christlichen Beobachters: „Die Grundfrage von Japanern, die einer neuen Religion begegnen, ist nicht: „Ist sie wahr?“, sondern: „Wozu ist sie nützlich?“15 Kurz: Es gäbe viele Gründe für christliche Theologen in Japan, das Phänomen der einheimischen neuen Religionen zu studieren. Nur: Praktisch keiner tut das. Japanische Theologie ist fast ausschliesslich damit beschäftigt, ihre mediterranen und europäischen Wurzeln zu erforschen. Für mich war das ein Anstoss, mich während meines viermonatigen Aufenthaltes in Japan im Sommer 2004 mit neuen Religionen zu beschäftigen. Was für ein naives und unwissenschaftliches Unterfangen für einen Fremden aus dem Westen! Ich bin weder ein Japanologe, noch ein Experte in Religionswissenschaft. Schlimmer: Ich kann nicht japanisch lesen. In englischer Sprache gibt es nur wenige Quellen und ein kaum Sekundärliteratur. In anderen westlichen Sprachen gibt es praktisch nichts.16 Viele meiner eigenen Einsichten basieren auf Gesprächen mit japanischen Sachverständigen und mit Vertretern neuer Religionen. Unter den japanischen Sachverständigen möchte ich in erster Linie Prof. Shimazono Susumu von der Universität Tokyo nennen, der viel Zeit opferte, um meine Neugierde zu stillen und meine Fragen zu beantworten.17 Aber ich muss wiederholen: Was ich hier vorstelle, ist eigentlich nicht wissenschaftlich seriös. Aber es entspricht meinem dritten Interesse, wenn ich eine solche vergleichende Studie schreibe. Ich meine, dass ich etwas tue, was japanische Theologen unbedingt tun sollten, aber nicht tun. So will ich ihr ungenügender Vorläufer sein und sie ermutigen, das, was ich tue, in einer besseren und wissenschaftlicheren Weise fortzusetzen, als ich dies kann. Es wurde mir rasch klar, dass ich mich auf die ältesten der „neuen“ Religionen zu konzentrieren hatte, deren Ursprung bereits im 19. Jahrhundert liegt, nämlich Nyoraikyô, Tenrikyô und Konkôkyô. Die Gründe dafür sind folgende: 1. In den neuen Religionen des 19. Jahrhunderts finden wir erstmals eine volle Analogie zu dem, was wir im Westen „Religion“ nennen, nämlich ein umfassendes, ganzheitliches System von Glaubensüberzeugungen, Ritualen, Frömmigkeit und Ethos, welches auf der Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit basiert und das Ganze der menschlichen Existenz und Weltinterpretation umfasst.18 15 Furuya

Yasuo (mündlich). Kohler, Die Lotus-Lehre und die modernen Religionen in Japan, Zürich 1962 konzentriert sich auf die neudbuddhischen neuen Religionen. Eine sehr hilfreiche Übersicht gibt Johannes Laube (übers. und Hg.), Neureligionen: Stand ihrer Erforschung in Japan. Ein Handbuch, Studies in Oriental Religions 31, Wiesbaden 1995, 238–269 (eine à jour geführte Übersetzung eines entsprechenden japanischen „handobukku“ von 1981). 17 Ausserdem möchte ich Herrn Yamada Shinji (Konkôkyô-Center Tokyo) und den Kollegen Sato Migaku (Rikkyo University Tokyo), Shimada Katsumi (Tenri University) und Axel Michaels (Heidelberg) herzlich für ihre Hilfe und ihre Kommentare zu meinem Manuskript danken. 18 Nach Sato Migaku wurde das japanische Wort, das heute für „Religion“ gebraucht wird, nämlich „shôkyô“ (ursprünglich: „die wichtigste Lehre“) vor etwa 1870/80 kaum so gebraucht. 16 Werner

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2. Die übliche Sozialgestalt der neuen Religionen seit dem 19. Jahrhundert ist die eines lokalen kô, d. h. einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich durch persönliches Engagement und individuelle und freiwillige Mitgliedschaft auszeichnen.19 Diese Gemeinschaft ist tendenziell für alle religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zuständig und bestimmt ihr ganzes Leben. In früheren Jahrhunderten war dies verschieden: Zu einer buddhistischen „Schule“ („jap. shu)20 zu gehören war und ist in Japan vor allem eine Sache der Familientradition. Zu einem Shintô-Schrein zu gehören ist eine Frage des Wohnortes, bzw. der geographischen Nähe eines Schreins. Mit den neuen Religionen entstand eine neue Sozialgestalt und ein neues Mitgliedschaftsmodell. 3. In den „neuen Religionen“ des 19. Jahrhunderts ist noch kein christlicher Einfluss sichtbar. In den meisten Religionen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, ist das anders, vor allem in denen, die nach dem 2. Weltkrieg entstanden sind. 4. Die neuen Religionen des 19. Jahrhunderts neigen dazu, ihren Stifter oder ihre Stifterin zu vergöttlichen. Sie glauben, dass sie oder er in ihren Gemeinschaften bis heute „gegenwärtig“ ist. Nach meinem Eindruck – aber ich bin hier nicht sicher – ist in ihnen die Beziehung zum Stifter eine andere als die Bedeutung von „minor founders“ wie Dôgen oder Shinran für die älteren buddhistischen Schulen.21 Hier gibt es eine enge Berührung mit dem Christentum und der christlichen Vergöttlichung Jesu, obwohl sich die Art der Transzendenz Gottes in jüdisch-christlichem Kontext von der eines japanischen kami unterscheidet. 5. Im grossen und ganzen gilt die Regel, dass neue Religionen, die ihre Wurzeln in erster Linie im Shintô haben, ihren eigenen Kanon haben. Das gilt für die meisten im 19. Jahrhundert entstandenen Religionen. Neue Religionen mit primär buddhistischen Wurzeln, meistens in der Nichiren-Schule, betrachten dagegen einen der klassischen buddhistischen Texte als kanonischen Text, oft das LotusSutra. Ihre Literatur hat darum oft einen kommentarartigen Charakter. Weil auch das Christentum seinen eigenen Kanon entwickelte, gibt es in der ersten Gruppe neuer Religionen nähere Analogien zum Christentum als in der zweiten. Erst damals wurde der „Weg des Buddha“ (jap. Butsudô) und der „Weg der Götter“ (jap. Shintô) als „Religion“ interpretiert. So wurde Buddhismus zum heutigen „Bukkyô“. 19 Prof. Tsushima Michihito, Kwansai Gakuin University, Nishinomya charakterisiert (mündlich) ein „kô“ folgendermassen: „Kô ist eine lokale Vereinigung, normalerweise ohne Eintrittsbedingungen; jedoch ist Engagement und Praxis der Mitglieder verlangt, sodass ein ‚kô‘ manchmal eine auf Konversion basierende religiöse Vereinigung ist“. Dies kommt in die Nähe eines „Sektentyps“ in westlicher Religionssoziologie, ist aber nicht identisch damit. 20 Die übliche Übersetzung „Sekte“ ist nicht passend. „Shu“ ist eher eine traditionelle religiöse Schule, die auch Riten vollzieht. 21 Shimazono Susumu, The Living Kami Idea in the New Religions of Japan, Japanese Journal of Religious Studies 6 (1979), 389–412 stellt eine geringere Heilsbedeutung der Stifter nach ihrem Tod fest. Nach meinen Beobachtungen zu Konkokyô und Tenrikyô bleibt diese Bedeutung aber unvermindert gross.

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Dies sind die Gründe warum ich mich in erster Linie auf Nyoraikyô, Tenrikyô and Konkôkyô konzentriere. Ich möchte mit einigen allgemeinen Bemerkungen zu diesen Religionen beginnen.

II. Nyoraikyô, Tenrikyô and Konkôkyô Nyoraikyô ist die älteste der sog. „neuen Religionen“. Die Stifterin war eine einfache und arme Magd namens Isson Kino (1756–1826), die in einem Dorf in der Gegend von Nagoya ihr hartes Leben lebte. Sie wurde ein Medium des Obersten Seins, namens Nyorai. Nach der Zusammenfassung von Shimazono „beendete (Kino) ihre Tage in der Welt als Herrin, die von den Sünden erlöst, und als leidender Messias … Sie wird jetzt angebetet und verehrt, und man betet zu ihr als Ryūzen Nyorai.“22 Der Kanon der Gruppe besteht aus 260 Predigten Kino’s, die von Anhängern aufgezeichnet wurden.23 Charakteristisch für Nyoraikyô ist ein starkes Bewusstsein von Erbsünde, eine negative Weltsicht, ein jenseitiges Konzept einer Rettung in ein Paradies und der Gedanke einer stellvertretenden Erlösung durch andere, nicht eine Selbsterlösung. Es ist kein Wunder, dass die Ähnlichkeit mit dem Christentum als sehr stark empfunden wurde, als Gelehrte diese abgeschlossene Religionsgemeinschaft im frühen 20. Jh. erstmals entdeckten. Einfluss der Kirishitan24 in dieser frühen Zeit vor der Meiji-Aera gilt allerdings als unwahrscheinlich. Nyoraikyô wäre für mich sehr interessant gewesen, aber es gelang mir leider nicht, irgend einen Kontakt zu ihren Kirchen herzustellen. Deshalb verzichte ich darauf, sie in diese Studie einzuschliessen. Die Stifterin von Tenrikyô25 ist ebenfalls eine Frau, Maegawa Miki (1798−1887), nach ihrer Heirat Nakayama Miki. Sie stammte aus einer mittel22 Shimazono, From Salvation to Spirituality (o. Anm. 11) 14; Weiteres bei Kanda Hideo, Religious Thought of Nyoraikyo, Tenri Journal of Religion Nr. 22, 1988, 59–89. 23 Ishibashi Tomonobu / ​Heinrich Dumoulin, Aus dem Kanon von Nyoraikyô, Monu­ menta Nipponica 1 (1938), 222–241. 24 Kirishitan = die „verborgenen“ Christen, deren Existenz auf die Mission des 16. und frühen 17. Jh.s zurückgeht. Sie lebten vor allem auf der Südinsel Kyushu, weit entfernt von Nagoya. 25 Wichtige Quellen sind: die offizielle Biographie der Stifterin: The Life of Oyasama, foundress of Tenrikyô, Tenrikyô Church Headquarters, Tenri 31996 (diese Biographie stützt sich auf einer ältere, welche ihr Nachfolger verfasst hat). Der Kanon von Tenrikyô umfasst die Gedichte des Ofudesaki. The Tip of the Writing Brush, Tenri: Tenrikyô Church Headquarters 61993 und Mikagura-uta. The Songs for the Service, Tenri: Tenrikyô Church Headquarters 71999 und den Osashizu, eine sehr umfangreiche, vielbändige Sammlung von etwa 20 000 „Göttlichen Weisungen“, welche Gründergestalten von Tenrikyô zwischen 1887 und 1907 erhielten. Wichtig als Quellen für Geschichte und Theologie von Tenrikyô sind ferner: Tenrikyô Church Headquarters (Hg.), The Doctrine of Tenrikyô, Tenri 32002 (= Übersetzung von Tenrikyô Kyoten, 1984, der offiziellen Lehre von Tenrikyô); Tenrikyô Overseas Mission Department (Hg.), An Introduction to Tenrikyô. Its History and Teachings, Tenri: Tenrikyô Church Headquarters 1966; Oyasato Resarch Institute, Tenri University (Hg.), The Theological Perspectives of, Tenri: Tenri University Press 1986; Tenrikyô. The Path to Joyousness, Tenri: Tenrikyô Overseas Mission Department

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ständischen Bauernfamilie aus der Gegend vom Yamato, südlich von Nara. Ihr Vater lehrte sie schreiben, und sie besuchte auch eine Elementarschule, was damals sehr ungewöhnlich war – nicht nur weil Miki ein Mädchen war, sondern auch, weil in der Tokugawa-Zeit Lesen‑ und Schreibenkönnen von Bauern von den herrschenden Fürsten (daimyo) nicht gern gesehen wurde. Nach ihrer Heirat mit dem Bauern Nakayama Zenbei im Alter von 12 Jahren wurde sie eine hingebungsvolle Hausfrau und Mutter. Im Jahre 1838, als ihr ältester Sohn und ihr Gatte schwer krank waren und der örtliche Schamane nicht verfügbar war, wurde Miki zum „Schrein“ der höchsten Gottheit Tsuki-hi (Mond-Sonne). Von da an praktizierte sie als Medium Gottes für ihre Familienglieder und die Dorfbewohner. Als sie das Gebot erhielt „Stürze in die Tiefen der Armut“, verschenkte sie allen ihren persönlichen Besitz und brach zuletzt ihr Familienhaus ab. Später praktizierte sie ein Ritual für „sichere Geburt“ und andere Heilpraktiken. Erst in den frühen sechziger Jahren fand Miki eine grössere Zahl von Anhängern und begann eine neue Religion aufzubauen: Es entstanden Gemeinschaften von Anhängerinnen und Anhängern an verschiedenen Orten. Der Bau eines Platzes für den Gottesdienst begann; die Lieder und Riten für zwei grundlegende Rituale, kagura26 und teodori, wurden komponiert und im Mikagura-uta gesammelt, einem der kanonischen Bücher von Tenrikyô. Von 1869 an begann Miki den Ofudesaki zu schreiben, eine Sammlung göttlicher Aussprüche in metaphorischer Sprache und poetischer Form. Der Ort des kanrodai, des heiligen Steins, der den Ort bezeichnet, von dem aus die Welt geschaffen wurde, wurde von ihr 1875 entdeckt. Anhängerinnen und Anhänger kamen von weit her zu Miki, sodass die neue Religion durch ihre Mission sich noch zu ihren Lebzeiten bis nach Tokyo ausbreitete. Ihre letzten Jahre waren Jahre der Verfolgung und der Belästigung durch die Polizei. Miki beharrte auf der öffentlichen Zelebration der grundlegenden Rituale, die ihrer Meinung nach wesentlich für die Rettung der Welt waren, und dies auch ohne offizielle Anerkennung. Von ihren Anhängern wird sie Oyasama genannt.27 Als sie 1887 starb, waren alle grundlegenden Institutionen der neuen Religion geschaffen. Ihr Enkel wurde zu ihrem Nachfolger ernannt. Offiziell als Shintô-Sekte wurde die Religion im Jahre 1908 anerkannt. Heute gibt es etwa zwei Millionen Tenrikyô-Gläubige in Japan und anderen, vor allem asiatischen Ländern. Nach einer ersten Periode einer doppelten Leitung 1998; Tenrikyô-Christian Dialogue, Tenri: Tenri University Press 1999 (= Dokumentation eines Symposions, das an der Gregoriana in Rom stattfand). − Da bei diesen Texten neuer Religionen nicht der Herausgeber, sondern der Titel der Schrift wichtig ist und da die meisten Texte in westlichen Bibliotheken selten vorhanden sind, notiere ich idie Literaturangaben kanonischen Texte der neuen Religionen z. T. abweichend vom üblichen Schema von WUNT. 26 Kagura sind traditionelle Shintô-Tänze. In Tenrikyô ist kagura eine rituelle Inszenierung der Taten des Elterngottes während der Schöpfung. 27 Das Wort ist schlecht ins Deutsche übersetzbar. Englisch bedeutet es etwa „the venerable parent“. Mikis Gottheit ist eine Eltern-Gottheit, jap. oya-gami-sama = „the venerable parent god“. Deutsch müsste man sinngemäss sagen: „die verehrten Eltern“.

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durch einen charismatischen und einen institutionellen Leiter28 entwickelte sich Tenrikyô zu einer zentral geleiteten religiösen Körperschaft unter der Leitung des Shimbashira, eines Nachkommen der Stifterin, mit dem Zentralheiligtum in Tenri am Ort des ehemaligen Familienhauses der Familie Nakayama. Dort werden die heilbringenden Rituale durchgeführt. Der Stifter von Konkôkyô war der Sohn eines Kleinbauern in einem Dorf im westlichen Honshu und wurde durch die Kawate (Akazawa)-Familie, eine wohlhabende, kinderlose Bauernfamilie unter dem Namen Bunjirô adoptiert (1814−1883).29 Sein Adoptivvater starb früh; Bunji übernahm die Verantwortung für die Familie, heiratete und hatte Kinder. Sein Leben verlief bis 1855 mehr oder weniger normal. In diesem Jahre realisierte Bunji während einer schweren Krankheit, dass eine lokale Gottheit mit dem Namen Konjin, die man üblicherweise für einen bösen Dämon hielt, in Wirklichkeit der liebende und helfende Eltern‑ und Schöpfergott ist. Von 1858 an begann er Worte von Tenchi kane no kami, des Eltern-Gottes des Universums, zu verkünden. Bunji entwickelte mehr und mehr eine sehr persönliche Frömmigkeit: Statt der rituellen Vorschriften über Richtungen und Reinheiten wurde eine persönliche Beziehung zu Gott, Glaube, Gebet und „Einfalt des Herzens“ (single-heartedness) das Zentrum seiner Frömmigkeit.30 Mehr und mehr zog sich Bunji aus der Landwirtschaft zurück und wurde zum Mediator für Gott: Viele Leute aus dem Dorf und mehr und mehr Leute von weit her besuchten ihn in einem besonderen Raum seines Hauses (hiromae), wo er ihre Fragen und Probleme vor Gott brachte und den Fragenden Gottes Antworten vermittelte (toritsugi). Die göttlichen Antworten waren nüchtern, klar und praktikabel; sie insistierten immer auf Ehrlichkeit, Vertrauen, Dankbarkeit gegenüber Gott und auf Geduld. In moderner Terminologie würde man das, was Bunji tat, „counceling“ nennen. Im Jahre 1868 wurde ihm gestattet, den Namen ikigami (= lebender Gott) Konkô (= goldener Glanz) Daijin (= grosser Gott) zu tragen. Die offizielle Biographie interpretiert das nicht als  In den ersten Dezennien nach Miki’s Tod gab es neben dem Shimbashira einen geistlichen Führer, den Honseki (= „wahrer Sitz“) Iburi Izo, dessen Mediationen von Gott im Osashizu gesammelt sind. Dieses System einer doppelten Leitung wurde aber später abgeschafft. 29 Offizielle Biographie des Stifters: Konko Daijin. A Biography, published by the Konko Churches of America, S. Francisco: Morosi 1981. Der Kanon von Konkôkyô: 1. Oshirase-goto oboe-cho (Offenbarungen an Konko Daijin), Konko: Konkôkyô honbu 1996; 2. Konko Daijin oboegaki (Erinnerungen von Konko Daijin), Konko: Konkôkyô honbu 1989; 3. Gorikai I (vor allem toritsugis von Konko Daijin, aufgezeichnet von seinen Schülern), Konko: Konkôkyô honbu 1987; 4. Gorikai II, Konko: Konkôkyô honbu 1987; Gorikai III (vor allem Lehren von Konko Daijin), Konko: Konkôkyô honbu 1983. Ein älteres Buch ist: Delwin B. Schneider, Konkôkyô. A Japanese Religion, Tokyo 1962 (der Vf. ist Christ). Vgl. auch Willis Stoesz, The Universal Attitude of Konko Daijin, Japanese Journal of Religious Studies 13, 1986, 3–29. − Auch für die formale Zitierweise der heiligen Schriften von Konkôkyô gilt das o. Anm. 25 zu Tenrikyô Gesagte. 30 Cf. Gorikai III (o. Anm. 29) Konko Kyoso Gorikai 26: „Du benötigst keinen anderen um den Glauben zu praktizieren. Du sollst selbst deinen Glauben praktizieren“. 28

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mythische Vergottung, sondern als „Bezeichnung eines Menschen, der göttliche Tugend durch seine Taten verkörpert“.31 Bunji starb friedlich im Jahre 1883. Sein dritter Sohn, Ieyoshi, wurde sein Nachfolger in der Praxis von toritsugi. Der Kanon von Konkôkyô ist fünfteilig: Zwei Teile sind von Konkô-Daijin selbst in sehr einfacher Prosa geschrieben (Offenbarungen und Erinnerungen), die anderen drei sind Erinnerungen seiner Schüler in der Gestalt von Worten und Apophthegmen. Heute ist Konkôkyô eine religiöse Gemeinschaft mit etwa 400000–500000 Mitgliedern, auf Familien und Ortsgemeinden basierend, offen und tolerant, mit kollektiver Leitung. Das Leben einer Konkôkyô-Gemeinde gleicht, wenn man von ein paar besonderen Zeremonien absieht, in vielem dem einer protestantischen Kirchgemeinde.

III. Analogien zu Jesus in Leben und Lehren der Religionsstifter 1. Sozialer Hintergrund. Wie Jesus so kommen auch Miki und Bunji aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Sie waren Bauern, entstammten jedoch nicht der alleruntersten Schicht des Bauernstandes.32 In der Tokugawa-Zeit waren die Bauern, die Mehrheit der Bevölkerung Japans, stark unterdrückt, und auch nachher, in der Meiji-Zeit, erfuhren sie eine sehr schwierige Zeit des Übergangs. Die Unterdrückung – mit hohen Steuern (40–50 % der Ernte), zusätzlichen Abgaben, Zwangsarbeit, Residenzpflicht, Konskriptionen, strengen Vorschriften für den Anbau, die Kleidung und das Essen – erreichte in der späten Tokugawa-Zeit ihren Höhepunkt. Verschiedentlich kam es zu Hungersnöten und Bauernaufständen.33 Die neue Meiji-Regierung brachte auf dem Papier eine Befreiung, auch für die Bauern: Das rigide Kasten-System wurde abgeschafft, und Niederlassungfreiheit wurde eingeführt. Aber die Steuerlast wurde sogar noch härter, weil die Steuern nun entsprechend der Grösse des Landbesitzes in Geld bezahlt werden mussten und nicht mehr in Naturalien. Viele Bauern verloren ihr Land und wurden Pächter oder zogen als Proletariat in die Städte.34 Hane Mikiso charakterisiert das Leben der Bauern in der Meiji-Zeit als „Schmerz, Verunsicherung und Zorn“.35 Die Parallelen zwischen ihrer Situation und derjenigen der Kleinbauern und Pächter im römischen Palästina – auch die Zeit Jesu ist eine Übergangszeit mit zunehmender ökonomischer Prosperität und zunehmender Urbanisierung, deren Opfer die kleinen Bauern waren – liegen auf Daijin (Anm. o. Anm. 29), 69. gilt auch für Jesus, der als Sohn eines Handwerkers nicht zu den Ärmsten der Armen

31 Konko 32 Das

gehörte. 33 Vgl. Hane Mikiso, Peasants, Rebels and Outcasts: The Underside of Modern Japan, New York 1982, 6–9. Hane rechnet mit etwa 2800 grösseren oder kleineren Bauernaufständen in der Tokugawa-Zeit zwischen 1590 and 1867. 34 Hane, Peasants 17–23. 35 Ebd. 21.

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der Hand. Wie Jesus, so gehörten auch Miki und Bunji nicht zu den gebildeten Eliten, jedoch war ihnen Bildung auf einem niedrigeren Niveau zugänglich (ich nehme das auch für Jesus an, obwohl wir nur legendäre lukanische Zeugnisse dafür haben [Lk 2,41–52; 4,16–21]). Wie Jesus, so kamen auch Miki und Bunji aus kleinen Dörfern auf dem Land. Sowohl Miki als auch Bunji können auf dem Hintergrund eines Konscientisierungsprozesses verstanden werden, der zu einem wachsenden Selbstbewusstsein von Angehörigen der ländlichen Unterschicht führte. Einfachen Menschen wurde die Notwendigkeit, individuelle Entscheidungen zu fällen, bewusst. Manche tendierten dazu, sich von traditionellen Wertsystemen zu emanzipieren um eine grössere Individuierung und höhere Selbstachtung zu erreichen. Im Fall von Konkôkyô ist der soziale Hintergrund sehr klar: Alle möglichen Alltagsprobleme von kleinen Leuten, Krankheit, Familienprobleme, Geburt, Probleme der Ernte und kleiner Geschäfte etc wurden Konko Daijin vorgelegt und wurden zu Gebetsinhalten. Ein grosser Teil des Kanons besteht aus konkreten Erinnerungen an toritsugi’s, die von Klienten aufgeschrieben wurden, welche Schüler Bunjis wurden (Gorikai I–II). Im Kanon von Tenrikyô ist das weniger direkt sichtbar, aber die Wichtigkeit von sicherer Geburt und die Bedeutung von Heilungen weisen in die selbe Richtung. Sowohl Tenrikyô als auch Konkôkyô waren neue religiöse Gruppen, in denen jeder und jede akzeptiert wurde und jedermann Verantwortung und Leitungsfunktionen übernehmen konnte. 2. Freiwillige Armut. Hier gibt es nur bei Nakayama Miki eine Analogie zu Jesus. Auf göttlichen Befehl hin verschenkte sie auf eindrückliche Weise allen ihren Besitz für die Armen und brach ihr eigenes Haus ab, trotz grossen Widerstandes vonseiten ihrer Familie. Besonders nach dem Tode ihres Gatten lebte sie mit ihren Kindern unter äusserst elenden Bedingungen. Die Deutung ihres Lebens in extremer Armut ist nicht einlinig möglich und schliesst sowohl die Dimension der Liebe zu den Armen als auch die der Abwendung von weltlichen Dingen ein.36 Ein Antagonismus gegen Reiche und Mächtige, die mit der Metapher „hohe Berge“ gemeint sind, ist in vielen Worten spürbar: Bis jetzt haben die hohen Berge, voll Stolz, floriert; sie haben in allen Dingen getan, was sie wollten. Aber von jetzt an werde stattdessen ich, Tsukihi, tun, was ich will.37

Mikis Mission unter Reichen war offensichtlich nicht erfolgreich,38 aber sie sollen nicht ausgeschlossen sein, weil „alle Menschen auf der Welt meine Kinder sind“.39 Path to Joyousness (Anm. 25) 7 f. VI (o. Anm. 25), 72 f; cf. auch XV 56. 38 Ofudesaki III 140. 39 Ofudesaki XV 68. 36 Vgl.

37 Ofudesaki

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I. Studien zu Jesus

Berührungen mit der Jesusbewegung und Unterschiede sind offensichtlich. Zu den Unterschieden gehört, dass es in Tenrikyô kaum eine eschatologische Dimension gibt,40 und dass Mikis freiwillige Armut nicht zu einem Wanderleben führte – im Gegenteil: Der Ort, wo Miki lebte, hatte eine ausserordentlich grosse religiöse Bedeutung für sie und Tenrikyô. 3. Die Stifterinnen von Nyoraikyô und Tenrikyô, Isson Kino und Nakayama Miki, waren Frauen. Frauen waren in Japan auf dem Lande bis zum 20. Jh. total unterprivilegiert: Sie standen unter der Autorität der älteren und männlichen Glieder ihrer Familien, in die hinein sie geheiratet hatten. Ihre Pflicht war zu arbeiten, zu dienen und so viele Kinder wie möglich zu gebären; die Erziehung der Kinder gehörte dagegen nur teilweise zu ihren Obligenheiten.41 In Tenrikyô waren Frauen als Jüngerinnen vollständig gleichberechtigt: Von diesen Kiefern sage ich nicht, ob es eine männliche oder eine weibliche Kiefer ist – Tsukihi wendet sich jedem Baum zu.42

Der erste Missionar Tsukihi’s war Mikis Tochter Kokan, die als Strassenmissionarin nach Osaka ging. In Konkôkyô ist die Bedeutung von Frauen viel weniger ausgeprägt. Immerhin waren unter den Menschen, die Konko Daijin besuchten und um Rat und Hilfe baten, viele Frauen.43 Bemerkenswert ist auch ein Wort von Konko Daijin: „Frauen sind näher bei Gott. Glaube beginnt mit einer Frau“.44 Allerdings waren sowohl in Konkôkyô als auch in Tenrikyô die Nachfolger der Stifterin bzw. des Stifters männlichen Geschlechts. Im Fall von Tenrikyô ist der Übergang von der weiblichen Stifterin zu männlicher Vorherrschaft besonders auffällig. Immerhin gibt es weiterhin Priesterinnen in den Lokalgemeinden, und die Frauen können sich an den Ritualen auf allen Ebenen beteiligen. Es ist m. E. möglich, die Frühgeschichte von Nyoraikyô und Tenrikyô als Teil der Emanzipationsgeschichte unterprivilegierter Frauen zu verstehen, zu denen die Stifterinnen gehören. Sowohl dazu als auch zur nachfolgenden Re-Patriarchalisierung gibt es in der frühen Jesusbewegung und im Frühchristentum viele Parallelen.

40 Kommentar von Dr. Shimada Katsumi, Tenri: „Ich würde sagen, dass es keine eindeutige Eschatologie in Miki’s Denken gibt, aber es gab einige Leute, die von Miki beeinflusst waren, die nach ihrem Tod offensichtlich eschatologische Ansichten hatten … Sie verliessen deswegen Tenrikyô und gründeten eigene Gruppierungen“, 41 Zur Situation der Japanerinnen auf dem Land vgl. Hane, Peasants (o. Anm. 33), 78 ff. 42 Ofudesaki VII 21. 43 Nach Untersuchungen von Yamada Shinji ungefähr ein Drittel. Er schreibt mir: „In Anbetracht der Reisemöglichkeiten, Reisekosten und anderen Bedingungen zu jener Zeit ist dies nicht wenig“ (Brief vom 31. 3. 2005). 44 Gorikai I. Shimamura Hachitaro (o. Anm. 29), 20.

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4. Sowohl für Miki als auch bei Bunji – und nach ihnen für viele Menschen in neuen japanischen Religionen bis heute – waren Heilungen ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe. „Heilungen“ meint dabei nicht notwendigerweise spektakuläre und vollständige Heilungen in einem kurzen Moment, sondern öfters den Beginn eines längeren Prozesses der Heilung durch Gebet und Glauben. Im Fall von Nakayama Miki stand ein Segensritual für sichere Geburt der Anfang ihrer Heilungstätigkeit: Sazuke, ein Bevollmächtigungsritual für Gemeindeglieder, die dadurch zu Heilungen befähigt werden, spielt in Tenrikyô eine wichtige Rolle.45 Krankheiten wurden in der damaligen Volksreligion weithin als Besessenheit durch Dämonen verstanden. Im Ofudesaki jedoch formuliert Nakayama Miki ein neues Verständnis. Für sie hat Krankheit eine pädagogische Absicht und ist letztlich ein Ausdruck von Gottes Liebe: Krankheit und jede Art von Schmerz gibt es nicht. Sie sind nichts anderes als Eile und Führung durch Gott.46

Akazawa Bunji heilte viele Menschen durch Gebete, welche einen Heilungsprozess einleiteten. Weil wir von Gott geschaffen sind, ist es für den Glauben natürlich, Gott zu bitten, unsere Krankheiten zu heilen.47

Abgesehen vom Mediationsritual toritsugi und dem Gebrauch von geheiligtem Sake und geheiligtem Reis gibt es in Konkôkyô kaum spezielle Heilungsrituale. Gottes Botschaften in an Menschen, die Heilung suchten, welche in den kanonischen Texten überliefert sind, zeigen eine eindrückliche Mischung von Realismus und Optimismus, der in den Gebeten „aus reinem Herzen“ zum Ausdruck kommt.48 Anders als in der Jesustradition fand ich keine Exorzismen (obwohl das sazuke-Ritual in Tenrikyô eine gewisse Verwandtschaft mit Exorzismen hat). Dazu passt, dass Krankheiten nie in dualistischen Kategorien als Besessenheit durch böse Mächte interpretiert werden. 5. Lehre. Zwischen Konko Daijin und Jesus gibt es bemerkenswerte Übereinstimmungen in der Lehre. Für beide ist das Rituelle von zweitrangiger Bedeutung; beide vertreten ein Konzept innerer und nicht äusserlicher Reinheit:

45 Life

(o. Anm. 25) 28 ff. II 7. Vgl. ferner I 25 (Krankheit = Gottes Zorn); II 22 (Krankheiten sind Wegzeichen der Führung Gottes); III 78 (Krankheit = Ausdruck von Gottes Bedauern, wenn Menschen Frömmigkeitstaten vernachlässigen); IV 25 (Krankheit = Gottes Ruf in den Dienst); XIV 21 (Krankheit = Sorge Tsukihi’s). 47 Gorikai I Yamamoto Sadajiro (o. Anm. 29), 21,4. 48 Ein Beispiel ist Gorikai II Akiyama Kinoe 1. 46 Ofudesaki

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I. Studien zu Jesus

Statt während der Schwangerschaft einen Schwangerschaftsriemen zu tragen, trage lieber einen Riemen der Aufrichtigkeit um dein Herz.49

In der ethischen Unterweisung von Konko Daijin gibt es viele Parallelen zu den Evangelien, besonders zur Bergpredigt. Ein Beispiel: Obwohl die Leute sagen, dass sie andere nicht töten, töten sie sie in ihren Herzen.50

Im Vergleich damit ist die ist die ritual-zentrierte Frömmigkeit von Nakayama Miki ziemlich verschieden von Jesus. 6. Verfolgungen. Es ist eine verbreitete Erfahrung, dass Religionsstifter und ‑stifterinnen Widerstand erfahren und verfolgt werden. In Japan wollte die Meiji-Regierung alle religiösen Bewegungen kontrollieren und war sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, neue Religionen als Shintô-Sekten anzuerkennen. Besonders Nakayama Miki hatte mit hartem Widerstand von Seiten von Regierungsbeamten zu kämpfen. Sie wurde verschiedentlich eingekerkert, und das Vorbild ihrer Festigkeit war für ihre Anhänger und Anhängerinnen sehr wichtig.51 Auch Akazawa Bunji stiess auf Widerstand, aber im Ganzen war er unterwürfiger und angepasster. 7. Mein nächster Punkt ist die Einwohnung Gottes in den Stiftern. In beiden Religionen ist der Hintergrund ein schamanistischer Glaube an die göttliche Kraft in den Schamanen, die sich beispielsweise in Heilungen von Besessenen zeigte. Im Leben sowohl von Nakayama Miki als auch von Akazawa Bunji wird dieses Konzept wesentlich modifiziert. Nakayama Miki wurde zum permanenten „Schrein“ Tsukihi’s. Ihre Gottbesessenheit war sehr intensiv: Wenn Gott durch sie sprach, hatte sie vermutlich kein eigenes Bewusstsein:52 Diese Gedanken Tsukihi’s wurden durch sie ausgesprochen: Der Mund ist menschlich; der Geist aber ist derjenige Tsukihi’s,53

Der Ofudesaki enthält eine interessante Mischung zwischen Ich-Worten Tsukihi’s, Worten, deren Sprecher von Tsukihi unterschieden wird, und Ich-Worten von Miki voller göttlicher Autorität, in denen Tsukihi nicht erwähnt ist.54 Nach meinem Eindruck schrieb Miki ihre Botschaften in einem Geist einer vollen I Yamamoto Sadajiro 22,2. Vgl. auch Gorikai I Ichimura Mitsugoro 2,3. II Sato Mitsusjiro 27,1 (vgl. Mt 5,21 f). Vgl. auch Mt 5,38 ff. mit Gorikai II Kataoka Jiroshiro 3; Mt 5,42 mit Gorikai II Kashiwara Toku 6; Mt 6,7–8 mit Gorikai III Konko Kyoso Gorikai 68,2; Mt 10,39 mit Gorikai I Shimamura Hachitaro 28; Mt 15,1 ff. mit Gorikai I Shimamura Hachitaro 25; Mt 25,31ff mit Gorikai III Jinkyu Kyogoroku 168; Mk 11,23 mit Gorikai I Ogihara Sugi 17; Mk 12,41 ff. mit Gorikai III Naiden 2,2. 51 Life (o. Anm. 25) 170 ff. 52 Life a. a. O. S.  6. 53 Ofudesaki XII 67. 54 Vgl. Ofudesaki, z. B. VI 73 mit VI 74 f oder VI 67.69 mit VI 78 f.81. 49 Gorikai 50 Gorikai

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funktionalen Identität zwischen ihr und Tsukihi. Sie selbst war auf sehr ungewöhnliche Weise mit roten Gewändern bekleidet: Was denkt ihr über diese roten Gewänder? In ihnen wohnt Tsukihi.55

In der offiziellen „Lehre“ von Tenrikyô heisst es: „Oyasama ist Tsukihi auf Erden und die Eltern der Menschheit“.56 Der Fall von Akazawa Bunji liegt anders. Seine Grunderfahrung, dass der angebliche böse Dämon Konjin Wirklichkeit ein liebender und gnädiger Gott der ganzen Welt ist, ist nicht das Ergebnis einer Inspirationserfahrung. Während einer schweren Krankheit wandte sich Bunji gegen die entsprechende Meinung eines Verwandten.57 Auch seine späteren Offenbarungserfahrungen haben m. E. nicht primär einen ekstatischen Charakter, trotz seines „ungewöhnlichen Verhaltens“, wenn er im Namen des Gottes sprach.58 In Oboegaki und Oshirase-goto59 formuliert Konko Daijin nie die Worte Gottes als seine eigenen Worte, sondern macht einen klaren Unterschied, wie die alttestamentlichen Propheten. In vielen Worten wird er von Gott in der zweiten Person angesprochen. In Gorikai II wird ein Widerstand gegen eine Vergottung spürbar. Er sagt selbst: Ich bin kein ikigami (Göttlicher), sondern ein Mistträger. Zu Tenchi Kane no Kami zu beten ist gut. Ich bin nur Mediator zu Gott.

Aber in der darauf folgenden Offenbarung Gottes hören wir andere Akzente: Es ist nur wegen Konko Daijin dass die Segnungen von Tenchi Kane No Kami jetzt empfangen werden können, also nur, weil Donko Daijin den Menschen geoffenbart hat, dass Konjin eine wohlgesinnte und gnädige Gottheit ist. Der Gott fährt weiter: Gott ist Konko Daijin zu Dank verpflichtet … Konko Daijin ist Retter für Gott und die Menschen. Darum richtet eure Bitten an Konko Daijin.

Interessanterweise hat in diesem Dialog der Stifter das letzte Wort. Er protestiert offen gegen Gott: Obwohl ihr gerade die Worte Gottes gehört habt: Ich bin nur Gottes Haushalter. Wenn ihr zu mir betet, werdet ihr keinen göttlichen Segen erhalten.60

Obwohl er Vermittler und Offenbarer Gottes ist, bleibt Bunji eine sehr nüchterne und klare Person. Das Zentrum seiner Frömmigkeit ist Gebet und Glaube an einen Gott, der von ihm unterschieden bleibt. Die Erkenntnis der gnädigen Natur 55 Ofudesaki

VI 63. (Anm. 25), 11. 57 Konko Daijin (o. Anm. 29) 16–18. 58 Konko Daijin a. a. O. 20. 59 Vgl. o. Anm. 29. 60 Gorikai II Kondo Fujimori 3:1–4. 56 Doctrine

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I. Studien zu Jesus

der Gottheit Konjin – seine grundlegende religiöse Erfahrung – war nicht das Ergebnis irgend einer speziellen Erfahrung oder Inspiration, sondern eine Einsicht aus einem Dialog. „Gott denkt nur daran, die Menschen zu retten, an nichts anderes“61 – das ist die Grundlage seiner persönlichen Frömmigkeit und dessen, was man seinen „frommen Optimismus“ nennen könnte. Im Vergleich mit biblischer Prophetie denke ich, dass es eine Affinität zwischen Akazawa Bunji und den alttestamentlichen Propheten gibt, obwohl der Inhalt ihrer Botschaften ein sehr anderer ist. Nakayama Miki dagegen ist eher mit verschiedenen Inspirationsformen im Hellenismus und im hellenistischen Judentum vergleichbar, vielleicht auch mit neutestamentlichen Propheten, falls diese das „Ich“ des erhöhten Herrn mit ihrem eigenen Ich zusammenfliessen liessen, und jedenfalls mit dem Inspirationsverständnis der Oden Salomos.62 8. Familien. Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt anfügen, wo der Unterschied zwischen den beiden Stifter / ​innen und Jesus ein totaler ist. Dies ist die Beziehung beider zu ihren Familien. Nakayama Miki ist in ihre Familie eingebettet. Sie ist eine wunderbare Gattin, eine perfekte Mutter und ist immer umgeben von ihrer Familie. Alle ihre Entscheidungen müssen von ihrer Familie getragen und unterstützt werden. Ihre Nachfolge wird innerhalb ihrer Familie geregelt. Alle ihre Kinder werden ihre Anhänger / ​innen. Nicht anders ist es bei Akazawa Bunji und später bei den meisten neuen japanischen Religionen. Im Falle Jesu ist das ganz anders. Er hat seine Familie verlassen (Mk 3,31–35) und ist nicht verheiratet. Jesus nachzufolgen konnte den Bruch mit der eigenen Familie in verschiedener Form bedeuten (Mk 1,20; 10,29 f; Q 9,59; 14,26). Auf dem Hintergrund der starken Familienbeziehungen auch im mediterranen Raum in der Antike ist das ausserordentlich. Hier liegt auch der Grund warum der Institutionalisierungsprozess der neuen Religionen in Japan im ganzen anders verlief als im Frühchristentum: Sowohl in Konkôkyô als auch in Tenrikyô blieb die Leitung der Religionsgemeinschaft in den Händen der Familie des Stifters.

IV. Das postmortale Leben des Stifters und die Lehre über den Stifter („Christologie“) 1. Der Tod des Stifters. Nur in Tenrikyô gibt es eine entfernte Analogie zum Verständnis des Todes Jesu als Sühnetod: Miki hatte prophezeiht, sie würde 115 Jahre alt werden. Ihr „früher“ Tod im Alter von 90 Jahren musste von ihren Anhängern erklärt werden. Eine Erklärung war, dass Gott ihr Leben verkürzt habe, III Jinkyu Kyogoroku 12. Od. Sal 42:6: „Ich stand auf und ich bin mit ihnen; und ich will durch ihren Mund sprechen“. 61 Gorikai 62 Vgl.

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um seine Kinder in der ganzen Welt zu retten.63 Eine genauere Erklärung dieser Lehre habe ich nirgendwo gefunden. 2. Das Leben nach dem Tod des Stifters. In der „Lehre“ von Tenrikyô lesen wir über die Stifterin: „Sie zog sich vom physischen Leben zurück, bleibt aber jetzt und für immer lebendig in der Residenz des Ursprungs, mit offenen Türen, und beschützt so die Menschheit Tag und Nacht und giesst ihre unendliche Elternliebe auf jeden von uns.“64 Dass Miki an ihrem Ursprungsort bleibt, ist für Tenrikyô unendlich wichtig und entspricht der Bedeutung des Zentralheiligtums und des heiligen Ortes kanrodai.65 Ein Besuch in Tenri zeigte, dass das bleibende Wohnen der Stifterin im Zentralheiligtum sehr konkret gedacht wird: Sie hat ihren Raum und bekommt jeden Tag ihre Mahlzeiten etc. Das schliesst den Glauben an ihre Omnipräsenz nicht aus, jedenfalls nicht im volkstümlichen Glauben.66 Im Glauben von Konkôkyô gibt es keinen Gedanken an eine bleibende Präsenz des Stifters an einem konkreten Ort. Konko Daijin selber erwartete eine Art Omnipräsenz für die Zeit nach seinem Tode: Dass ich einen körperlichen Leib habe, macht es für mich schwierig, das Leiden der Menschen in der ganzen Welt zu sehen. Wenn mein Leib dahingegangen ist, kann ich hingehen, wo auch immer ich nötig bin und Menschen retten.67

Er erwartete eine Vergottung nach seinem Tode, die darüber hinausging, dass er bereits während seines irdischen Lebens kami (= Gott) war: Nach seinem Tod wird er „wahrer Gott“ sein.68 Konkôkyô-Anhänger glauben, „dass der Stifter lebendig ist als ‚Gott des toritsugi‘ und … nennen seinen Namen ‚Konko-Sama‘, wenn sie in Not um sein toritsugi bitten, irgendwann, irgendwo, für irgendetwas.“69 Dies erinnert an die frühchristliche Lehre vom erhöhten Christus als himmlischem Fürbitter (Röm 8,34; 1 Joh 2,1 etc). Wie verhält sich all das zum frühchristlichen Glauben an die Auferstehung Jesu und an die bleibende Gegenwart des Erhöhten als Heiliger Geist? Natürlich gibt es Unterschiede. Ein Unterschied ist, dass der Übergang des Stifters in eine neue Qualität des Lebens nicht als besonderes „Ereignis“ nach seinem Tode gesehen wird. Ebenso scheint es keinen Gedanken an eine räumliche Transzendenz der Stifter in der Art einer Himmelfahrt in ein ausserweltliches Jenseits 63 Vgl. Life (o. Anm. 25). 240 = Osashizu 18. 2. 1887 (o. Anm. 25); Shimazono, From Salvation to Spirituality (Anm. 11), 137. 64 Doctrine (cf. Anm. 25) 11. 65 „Sah, sah! Ich lebe immer noch hier! Ich bin nicht anderswohin gegangen, nicht anderswohin gegangen!“ (Osashizu, 17. 3. 1890, in: Life [Anm. 25] 241 f.) 66 Theologische Gesprächspartner in Tenri erzählten mir zögernd, dass manche Leute sogar eine zusätzliche Bahnfahrkarte für Miki kaufen, wenn sie auf eine Missionsreise gehen. 67 Gorikai II, Karahi Tsunezo 4. 68 Gorikai I, Shimamura Hachitaro 11. 69 Yamada Shinji, Brief vom 31. 3. 2005.

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zu geben. Trotzdem sind die Ähnlichkeiten auffällig. Das frühe Christentum und diese neuen Religionen stimmen im Glauben an eine ganz besondere, dauernde Gegenwart des Stifters überein – eine Folge und ein Ausdruck seiner einzigartigen Heilsbedeutung. 3. Eine sehr bedeutsame Analogie zwischen Tenrikyô und dem frühen Christentum besteht darin, dass das Leben der Stifter ein Vorbild wurde. Tenrikyô hat eben deshalb eine offizielle Biographie von Nakayama Miki herausgegeben, um „das göttliche Vorbild von Oyasama schätzen zu lernen und in Praxis umzusetzen, was das Ziel unseres Glaubens ist.“70 Diese offizielle Biographie ist eine Art „Tenrikyô-Evangelium“. Es enthält zahlreiche Legenden und Apophthegmen, welche ihre liebreiche Freundlichkeit, ihre Hingabe an Gatten und Schwiegereltern, ihre Armut und ihre Standhaftigkeit in Verfolgung und vor Gericht illustrieren. Eine auffällige Analogie besteht auch darin, dass die Vorbild-Funktion der Stifterin nach rückwärts ausgeweitet wurde bis zu ihrer Kindheit, also in eine Zeit längstens vor ihrem Wirken als Schrein von Tsukihi. Die christliche Entsprechung dazu sind die Kindheitsevangelien. In Konkokyô wird weniger der Vorbildcharakter des Lebens von Konko Daijin betont,71 als seine zentrale Funktion als Offenbarer: „Auf ihn hören und seinen Worten folgen ist gleichbedeutend mit auf Gott hören und seinen Worten folgen“.72 4. Der vierte Berührungspunkt sind die Hoheitstitel Jesu und der Stifter der neuen Religionen. Nakayama Miki wird normalerweise Oyasama („ehrwürdige Eltern“) genannt.73 Der Name ihres Gottes, Tsukihi, wurde später in „Oya-gamisama“ (ehrwürdiger Gott Eltern) geändert. So bringt dieser Titel die Nähe zu, wenn nicht Identität zwischen Gott und seinem Schrein Miki sehr klar zum Ausdruck. – Akazawa Bunji wurde als Ikigami Konko Daijin angesprochen, was er selber als einen Menschen, „der das Wesen Gottes in seinem täglichen Leben ausdrückt“ deutete;74 das ist der letzte von mehreren göttlichen Titeln. Konko ist wahrscheinlich ein Kunstwort, das aus kon (von „Tenchi kane no kami“, dem Namen, unter dem Konjin verehrt wurde, und „ko“ = Licht“ besteht.75 „Konko“ wurde bereits von Bunji als Familienname gebraucht und wurde auch der neue Name von Otani, seinem Geburts‑ und Wohnort. Ich bin über die Bedeutung solcher Ehrentitel in der japanischen religiösen Kultur nicht genau informiert. 70 Life

(Anm. 25) Vorwort. japanische Original der offiziellen Biographie von Konko Daijin wurde erst 1953 publiziert. Es handelt sich um eine volkstümliche historische Biographie. Sie gehört nicht zum Kanon. 72 Gorikai I, Kondo Fujimori 71:2. 73 Zur Bedeutung vgl. o. Anm. 27. 74 Konko Daijin (o. Anm. 29) 69. 75 Gorikai II Konko Hagio 21. 71 Das

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Deshalb möchte ich nur auf einen wichtigen Unterschied zum Frühchristentum hinweisen: Die meisten christologischen Titel, die auf Jesus übertragen wurden, wurden nach seinem Tod und seiner Auferstehung auf ihn übertragen.76 Die japanischen Religionsstifter erhielten ihre Titel zu ihren Lebzeiten. 5. Der nächste Punkt hat nichts direkt mit dem Leben nach dem Tod der Stifter zu tun und soll deshalb nur kurz berührt werden. Sowohl Tenrikyô als auch Konkôkyô waren von Anfang an missionarische Religionen. Der Universalismus in ihrem Verständnis des Eltern-Gottes – Gott ist als Schöpfer Gott der ganzen Welt – und ihre eigene Missionstätigkeit gehören eng zusammen. 6. Noch einen sechsten Punkt möchte ich anfügen, der auch nicht recht in diesen Hauptabschnitt passt: Er betrifft einen Sachverhalt, der für mich sehr schwer zu verstehen ist: Alle drei Stifterinnen und Stifter, Isson Kino, Nakayama Miki und Akazawa Bunji wollten wirklich eine neue Religion gründen.77 Dies trifft auch für alle späteren Stifter von neuen Religionen in Japan zu. Sie institutionalisierten selbst ihre neuen Rituale und die Struktur ihrer Bewegungen. Sie setzten selbst ihre Nachfolger ein. Nakayama Miki schrieb den Ofudesaki selbst und dies mit der klaren Absicht, einen kanonischen Text zu schreiben. Das ist auffällig, weil weder Jesus, noch Buddha Shakyamuni „Stifter“ einer neuen Religion sein wollten; erst nach ihrem Tode wurden sie dies. Wie kamen Miki, Bunji und ihre Vorgängerin Isson Kino dazu, eine neue Religion zu „stiften“? Für mich ist das ungewöhnlich und überhaupt nicht selbstverständlich. Die Erfahrung der „Neuheit“ ihrer Begegnung mit Gott muss sehr gross gewesen sein.78 Im Fall von Isson Kino war es so, dass ihr Gott eine bisher unbedeutende Gottheit des buddhistischen Pantheons war. Bunjis Gott war ein böser Dämon, der durch seine Interpretation etwas ganz Neues wurde. Mikis Gott Tsukihi scheint eine bisher unbekannte, neue Gottheit gewesen zu sein. Im Fall von Jesus ist das alles sehr anders: Er verkündete eine neue Botschaft des gut bekannten und treuen Gottes seines Volkes Israel. Unter keinen Umständen wollte er eine neue Religion gründen.

76 Ich setze dabei voraus, dass „Menschensohn“, ein Ausdruck, den Jesus wohl für sich selber brauchte, weder von Jesus noch von der nachösterlichen Kirche als Titel verstanden wurde. 77 Ich notiere hier einen kritischen Einwand von Prof. Shimazono Susumu: „Das scheint mir eine Übertreibung. Hier muss das Verständnis von ‚Religion‘ kritisch bedacht werden. Vielleicht war das nicht ihr eigenes Konzept, sondern unseres“. 78 Cf. Nakayama Miki (= Tsukihi) über das kagura‑Ritual: „Ich werde einen Dienst beginnen, der noch nie existiert hat, seit ich diese Welt erschuf“ (Ofudesaki [o. Anm. 25], VI 8).

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I. Studien zu Jesus

V. Schlussfolgerungen und Fragen 1. Die Analogien zwischen Jesus und der Jesusbewegung und den beiden japanischen Stiftern dieser neuen Religionen auf der Ebene der Geschichte sind evident. Ich spreche zuerst von der Sozialgeschichte: Ihr Ursprung liegt in einer Zeit des Übergangs mit sozialen Spannungen; ihre Wurzeln haben sie in den unteren Schichten. Die Erfahrungen der „Krise“, auf die alle drei Religionen antworten, sind nicht nur und vielleicht nicht einmal primär Erfahrungen auf kognitiver oder emotionaler Ebene79, sondern sehr konkrete Erfahrungen im Alltag. Das führt zur allgemeinen Frage, wann und wo in der Religionsgeschichte Charismatiker auftreten, die selber eine Religion begründen wollten oder die posthum als Religionsstifter verstanden wurden. Meine Vermutung ist, dass dies oft in Situationen der Fall ist, wo traditionelle religiöse Institutionen und kollektive Träger religiöser Identitäten (z. B. Familien, das Volk) die religiösen Bedürfnisse einzelner Menschen nicht mehr zu befriedigen vermochten. Dies ist fast sicher bei den japanischen Bauern im Umbruch der Meji-Zeit gegenüber den traditionellen Trägern der alten Religionen der Fall. Wie weit das auch für das galiläische „Volk des Landes“ angesichts der Abgabenlasten, die sie zu tragen hatten, der geringen Bedeutung, die die staatlichen Institutionen „Israels“ im römischen Reich noch hatten, angesichts der meist in Jerusalem konzentrierten Institutionen und angesichts der geringen Identifikation mit den politischen und religiösen Führern Israels zutrifft, ist eine offene Frage. 2. Analogien zwischen Jesus und den beiden japanischen Religionsstiftern resp. ihren religiösen Bewegungen gibt es aber auch auf der Ebene von Glaubensüberzeugungen, Frömmigkeit und Praxis. Hier möchte ich folgendes hervorheben: 2.1 Der monolatrische, resp. monotheistische Glaube. Nakayama Miki und Akazawa Bunji vertreten einen funktionalen Monotheismus. Andere Götter sind – nach Nakayama Miki – nur „Instrumente des einen wahren Gottes.80 Konko Daijin leugnet die Existenz anderer Gottheiten nicht, aber er betet nur zu Tenchi Kane no Kami. 2.2 Der Universalismus. Weil Gott der Herr der ganzen Welt ist, sind alle Menschen Kinder Gottes. Gott ist nach Tenrikyô und Konkôkyô der Elterngott aller Menschen.81

79 Gerd

Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 30 hebt kognitive Krisenerfahrungen wie die Grenzerfahrung des Todes oder emotionale Erfahrungen wie Angst oder Schuld hervor. Für das Frühchristentum bzw. Konkôkyô und Tenrikyô sind äussere Krisenerfahrungen wie Krankheit oder Armut, auf welche sie antworten, ebenfalls sehr wichtig. 80 Ofudesaki VI 50. 81 Ofudesaki IV 62.79; cf. XIII 43; Gorikai II Sato Mitsujiro 12; 14,3; Gorikai III Shinkun 1:5.

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2.3 Zur neuen religiösen Erfahrung gehört eine starke Betonung der in­di­vi­ duellen und persönlichen Frömmigkeit. In Konkôkyô wird „Glaube“ betont, in Tenrikyô Ehrlichkeit, in beiden Religionen „Herzenseinfalt“. Die neuen Religionen spielten – ebenso wie das Christentum – eine wichtige Rolle im Konscientisierungs‑ und Indiviuierungsprozess sogenannter kleiner Leute. 2.4 In allen drei Religionen wurde die Person des Stifters ein integraler und konstitutiver Teil ihres Glaubens und ihres Lebens. 2.5 In allen drei Religionen entstanden als Folge der Mission des Stifters Gemeinden (kô) mit enger Gemeinschaft, basierend auf individuellen Entscheidungen und persönlichem Engagement. In allen drei Religionen folgte auf die Anfänge eine Entwicklung zu so etwas wie einer „etablierten Sekte“ oder „Denomination“.82 2.6 Alle drei Religionen entwickelten starke missionarische Aktivitäten als Folge ihrer Neuheit und ihres Universalitätsanspruchs. 2.7 Und schliesslich: In allen drei Religionen wurden die Erfahrungen, die Biographie und die Lehre der Stifter zur Grundlage eines umfassenden Systems von Glaubensüberzeugungen, Ritualen und einer Ethik, welche die neue Identität ihrer Mitglieder bestimmte und andere Religionen praktisch überflüssig machte.83 Alle diese Analogien sind keine Identitäten. Aber sie sind auffällig. Darum schliesse ich diese Zusammenstellung mit einer offenen Frage: Sind die sieben genannten Analogien charakteristisch für jenen besonderen Typ von Religion, den Gustav Mensching und andere „Stifterreligion“ genannt haben?84 Sowohl für Japan seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als auch für die Spätantike gilt: Mit dem Aufkommen des Christentums im römischen Reich bzw. mit der Entstehung der neuen Religionen (inkl. des Christentums) in Japan entstand ein neuer Typ von Religion: Die verschiedenen Formen von „embedded religions“85, die an bestimmte Lebensvollzüge, Orte oder Zugehörigkeiten gebunden waren traten zurück bzw. wurden durch eine neue Gestalt von Religion ersetzt. Deren Kennzeichen waren: Individuelle Zugehörigkeit, ein umfassendes System von Riten und Glaubensüberzeugungen, welche alle Bereiche und Bedürfnisse des Lebens abdecken, die Verbindung der Wahrheitsfrage mit der Religion, das Überflüs82 Zur

Terminologie vgl. Günter Kehrer, Art. Religionssoziologie, in: Hubert Cancik u. a. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart 1988, Bd. I 85. 83 Die Haltung gegenüber anderen Religionen ist dann allerdings sehr verschieden: im wesentlichen exklusiv und intolerant in dem auf Konversion zielenden Frühchristentum; im wesentlichen tolerant und „koexistent“ in den gegenüber „Addition“ von Religionen viel offeneren Religionen Tenrikyô und Konkôkyô. 84 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft (o. Anm. 1), 150 ff. 85 Dazu vgl. Ulrich Luz, Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike, in: Walter Dietrich / Wolfgang Lienemann (Hg.), Religionen, Wahrheitsansprüche, Konflikte. Theologische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen 10, Zürich 2010, 93–115.

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sigwerden (bzw. die aktive Bekämpfung) bisheriger, „alter“ Religionen, missionarische Aktivität und mindestens tendenzieller Universalismus, die soziale Form des kô bzw. der Gemeinde und der konstitutive Rückbezug auf den Stifter. Dafür stehen in Japan die „neuen Religionen“, im Okzident das Christentum. 3. Jesus, Nakayama Miki und Akazawa Bunji waren oder wurden zu Stiftern neuer Religionen. In welchem Sinn waren sie das? Sowohl für Nakagawa Miki als auch für Akazawa Bunji gilt, dass sie sich – als einfache Bauern – nicht auf ältere Religionen und ihre Stifter zurückbeziehen. Weder die Kategorie des „minor founder“, noch die Kategorie des „endgültigen Erlösers“ passt deshalb für sie. Mit Jesus teilen sie das Bewusstsein, göttliche Autorität in unüberbietbarer Weise zu verkörpern. Jesus bezieht sich bewusst auf die biblische Tradition zurück und versteht sich nicht als Stifter einer neuen, von Israel verschiedenen Religion. Da er in Israel einen Schülerkreis hatte, dem es darum ging, ganz Israel für das Gottesreich zu gewinnen, könnte man ihn seinem eigenen Anspruch nach zu den „minor founders“ rechnen, ähnlich wie etwa den Lehrer der Gerechtigkeit. Da er mit seiner eigenen Autorität aber Mose und die Propheten überbieten wollte und sich selbst als letzten Boten Gottes vor dem und im Anbruch seines Reiches verstand, passt diese Kategorie nicht recht: Jesus trägt auch Züge eines „endgültigen Erlösers“. Ich schliesse mit einer persönlichen Bemerkung. Akazawa Bunji ist für mich als protestantischen Theologen eine eindrückliche Gestalt. Nicht nur seine Entdeckung der Gnade Gottes86 als Basis seiner sehr persönlichen, gebets‑ und glaubenzentrierten Frömmigkeit, sondern auch seine liberale und offene Haltung gegenüber anderen Religionen,87 seine Betonung innerer Reinheit, seine Ablehnung heiliger Orte88, seine Ethik, seine Institutionalisierung von toritsugi, was eine eindrückliche fernöstliche Variante von modernem westlichem counceling und moderner Seelsorge ist, und überhaupt seine Verbindung von persönlicher Frömmigkeit und zutiefst dem notleidenden Menschen zugewandtem commonsense haben mich beeindruckt. Ich denke, dass dieser einfache Bauer eine grosse religiöse Persönlichkeit ist, die es verdient, auch ausserhalb des begrenzten Kreises seiner Gläubigen bekannt und studiert zu werden.

86 Gorikai III Konko Kyoso Gorikai 7,1 f; Gorikai I Kondo Fujimori 10; Gorikai I Ichimura Mitsugoro 6; Gorikai I Yamamoto Sadajiro 17,3. 87 Gorikai II Sato Mitsujiro 14,1 f; ebd. Sato Norio 4,4 f. Gorikai II Ichimura Mitsugoro 17,1: „Tenchi Kane No Kami unterscheidet nicht zwischen kami’s und Buddhas. Er beschützt Shintoisten ebenso wie Buddhisten“. 88 „Die ganze Welt ist Tenchi Kane No Kami’s hiromae“ (Gorikai III Konko kyoso Gorikai 6. Cf. auch Gorikai II Fukushima Gihe 10; Gorikai II Tomita Tomi 1,1–3.

7. Warum zog Jesus nach Jerusalem? I. Fragestellung und Forschungsgeschichte Warum zog Jesus nach Jerusalem? Das ist eine von der Forschung immer und immer wieder gestellte Frage. Sie liess sich einigermassen deutlich beantworten, solange man – wie im 19. Jh. – davon ausging, dass die synoptischen Evangelien den Aufriss des Lebens Jesu im Grossen und Ganzen zuverlässig wiedergeben. Auf dieser Annahme basierten die grossen Antworten des 19. Jahrhunderts: Für Heinrich Julius Holtzmann ist der Leidensgedanke bei Jesus nicht eine logische Konsequenz seines Messiasverständnisses – d. h. der Tod Jesu war für ihn nicht mehr der von Anfang an feststehende Entschluss des Gottessohns, nach Gottes Willen für die Errettung der Menschen zu sterben. Vielmehr ist für den Historiker Holtzmann dieser Entschluss allmählich gereift: „Die Perspektive auf Untergang konnte sich erst auftun, als die Dinge sich mit der Zeit dahin zugespitzt hatten, dass er entweder den Misserfolg … anerkennen … oder aber alle Konsequenzen einer solchen Fortsetzung des begonnenen Werkes, jetzt auch unter feindlich dareinschauenden Himmelszeichen, auf sich nehmen musste“.1 Hätte Jesus seinen Misserfolg anerkannt, so hätte das seinen inneren Zusammenbruch bedeutet. Ihm blieb also nur das Zweite übrig, wenn er Gott treu bleiben wollte. Ausdruck dieses Entschlusses Jesu ist für Holtzmann Mk 8,27–33, der Haupteinschnitt in der ältesten Jesusgeschichte, derjenigen nach Markus. Jesus zog also nach Jerusalem, um „in der Aufopferung seines Lebens“ seiner Aufgabe, den Menschen Messias, Heiland, Retter zu werden, treu zu bleiben.2 Die Antwort seines Schülers Albert Schweitzer auf dieselbe Frage basiert auf dem Aufriss des Matthäusevangeliums: Jesus schickt seine Jünger in Israel zur Verkündigung aus. Inhalt ihrer Verkündigung, welche die Aussendungsrede Mt 10 wiedergibt, ist die Ankündigung des Leidens der vormessianischen Drangsal, welche dem Kommen des Gottesreichs vorausgeht (vgl. Mt 10,23!). Jesus macht nun aber die Erfahrung, dass diese Drangsal nicht kommt und das Reich Gottes ausbleibt. Er begreift durch seine Lektüre der Bibel, vor allem Deuterojesajas, dass Gott sein „Reich herauf(führt) ohne allgemeine Enddrangsal“. Jesus, der sich zur Herrschaft in Herrlichkeit bestimmt wusste, begreift, dass er er die 1 Heinrich

Julius Holtzmann, Theologie des Neuen Testaments I, Tübingen 21911, 354. a. a. O. 363.

2 Holtzmann

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Enddrangsale an sich selbst vollziehen muss, indem er Sühne leistet. So war die Reise nach Jerusalem für ihn „der Todeszug zum Sieg“3. Jesus zog also nach Jerusalem, nicht, um dort zu wirken, sondern „einzig um dort zu sterben“.4 Vor allem die Formgeschichte hat den Möglichkeiten, unsere Frage aufgrund des Aufrisses der Evangelien zu beantworten, ein Ende gesetzt. Im ganzen hat sich die These durchgesetzt, dass die synoptischen Texte Einzelüberlieferungen sind und dass ihre Anordnung in den Evangelien weitgehend unabhängig von einem allfälligen Sitz in der Biographie Jesu erfolgte. Die vorevangelischen zusammenhängenden Passionserzählungen beginnen in Jerusalem, mit dem Einzug in die Stadt oder mit dem Todesbeschluss.5 Sie beantworten also die Frage gerade nicht, warum Jesus dahin zog. Ausserdem sind alle Passionsgeschichten durch und durch von Anliegen nachösterlicher Jesusfrömmigkeit geprägt und interessieren sich für die neuzeitliche Frage nach den Motiven Jesu nicht. Nur dies stand weiterhin fest, dass die Reise Jesu nach Jerusalem am Ende seiner Wirksamkeit etwas Entscheidendes war. „Sie ist das einzige uns erkennbare Zeichen einer Entwicklung in der Geschichte Jesu“.6 Eckhard Rau hat in seinem Jesusbuch aufgrund seiner Untersuchungen zu Jesus und den Pharisäern eine „Neuaufnahme der Frage nach dem Leben Jesu“ gefordert.7 Er vermutet im Anschluss z. B. an Franz Mußner8, Athanasius Polag9, Marius Reiser10 und Christian Riniker11, dass es in der Verkündigung Jesu eine Entwicklung gegeben habe: Zahlreiche Gerichtsworte Jesu setzen eine Ablehnung seiner Botschaft voraus (Q 7,31–35; 10,13–15; 11,29 f.31 f.49–51; 13,28 f.34 f).12 Hinzu kommen auch Worte, welche von Feindschaft, Spaltungen und Martyrium sprechen (z. B. Q 12,2–5.6 f.8 f; 14,26 f; 17,33; Mt 10,23?). Rau rechnet auch die meisten Weherufe in Lk 11 // Mt 23 zu dieser Gruppe. Diese Worte sind so zahlreich, dass sie aufgrund des Kohärenzkriteriums durchaus jesuanisch sein können, und sie setzen zugleich eine Zuspitzung der Auseinander 3 Albert Schweitzer, Das Messianitäts‑ und Leidensgeheimnis (1901), in: ders., Gesammelte Werke V, Zürich o. J. (1974), 327–340, Zitate 335. 336.  4  Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 61951, 437; vgl. ders., Reich Gottes und Christentum, Werke aus dem Nachlass, München 1995, 139–147.  5  Die Thesen von Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 31957, 301 f (nach ihm beginnt die alte zusammenhängende Passionsgeschichte erst mit der Verhaftung Jesu) und von Rudolf Pesch, Das Markusevangelium II, HThK II/2, Freiburg u. a. 1977, 1–27 (nach ihm beginnt die vormk Passionsgeschichte bereits mit Mk 8,27) haben sich in der Forschung nicht durchgesetzt.  6 Martin Dibelius, Jesus, Sammlung Göschen 1130, Berlin 21949, 55.  7 Eckard Rau, Jesus − Freund von Zöllnern und Sündern, Stuttgart 2000, 159.  8 Franz Mußner, Gab es eine „galiläische Krise“?, in: Paul Hoffmann u. a. (Hg.), Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker (FS J. Schmid), Freiburg u. a. 1973, 238–252.  9 Athanasius Polag, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen 1977, bes. 195 f. 10 Marius Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990. 11 Christian Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23/653, Bern u. a. 1999. 12 Rau, Jesus − Freund von Zöllnern und Sündern (o. Anm. 7), 159.

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setzung in Israel voraus, wie sie zu Beginn des Wirkens Jesu noch nicht denkbar war. Ich teile diese These. In vielen Jesusbüchern des 20. Jh.s findet sich die vage Formulierung, dass Jesus nach Jerusalem gezogen sei, um eine Entscheidung zu suchen. „Jesu Weg nach Jerusalem (hatte) vor allem den Sinn …, das Volk hier in der heiligen Stadt … in letzter Stunde zur Entscheidung zu rufen.“ Jesus hat in Jerusalem und im Tempel „die letzte Entscheidung gesucht“. So sagt es Günter Bornkamm.13 Aber was „die letzte Entscheidung“ bedeutet, bleibt bei ihm im Halbdunkel. – „Ist Jesus … nach Jerusalem gezogen im Bewusstsein seines ihn dort erwartenden Todes?“ Auch die Antwort, die Jürgen Roloff in seinem neuen Jesusbüchlein auf diese „endlos diskutierte Frage“ gibt, bleibt vage: Mit „einiger Zuversicht“ kann Roloff nur sagen: „Jesus ist nicht mit dem Vorsatz nach Jerusalem gezogen, dort zu sterben, oder gar, sein Leben dort zu opfern.“ Ist ihm diese Antwort zu nahe bei derjenigen, welche später die nachösterlichen Gemeinden gegeben haben? Auf der anderen Seite aber sei Jesus sich sicher dessen bewusst gewesen, „dass er mit dem Gang nach Jerusalem ein hohes Risiko einging“14. Warum aber ist er dieses Risiko eingegangen? Roloff beantwortet die Frage nicht. – Jürgen Becker spricht in seinem eindrucksvollen Jesusbuch mehrfach von der „Veranlassung“, welche Jesus selbst für seine Hinrichtung gegeben habe.15 Jesus habe „recht eigenwillig die Kunst (praktiziert), sich alle frühjüdischen Gruppen zu Gegnern zu machen“ und reichlich „Zündstoff zum Ärgern“ geboten.16 Aber die Frage nach Jesu Absicht klammert er aus. Sie möchte ich hier stellen und damit eine Frage des 19. Jahrhunderts wieder aufnehmen. Ich frage dabei nicht nur nach der Absicht von Jesu Verhalten in Jerusalem, sondern auch, warum er dahin gegangen ist. Voraussetzung dieser Frage ist ein grundsätzliches Zutrauen in die synoptische Überlieferung, nach der das hauptsächliche Wirkungsgebiet Jesu Galiläa und nicht Jerusalem war.17 Ich werde in meiner Antwort nicht originell sein. Mein eigener Antwortversuch wird sich in Richtung auf denjenigen Albert Schweitzers hin bewegen, auch wenn ich nicht so weit komme wie er. Nicht nur Albert Schweitzers philosophische Grundthesen, sondern auch manche seiner historischen Hypothesen scheinen mir nach wie vor aktuell zu sein. Ein wichtiger Baustein für meine 13 Günther

Bornkamm, Jesus von Nazareth, Urban-Bücherei 19, Stuttgart 1956, 142 f. Roloff, Jesus, München 2000, 105 f. 15 Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin 1996, 401; vgl. 407. 16 Becker a. a. O. 411. 17 Nach dem Joh-Ev stellt sich die Frage, warum Jesus nach Jerusalem gegangen ist, natürlich nicht, weil er immer schon dort wirkte. Aber das Joh-Ev, das einige wenige Jesustraditionen auswählt (vgl. 20,30), bevorzugt ganz bewusst Jerusalemer Traditionen und verrät auch dadurch seinen spezifischen Jerusalemer „Blickpunkt“. Wenn es richtig ist, dass Jesu hauptsächliches Wirkungsgebiet Galiläa war, kann die Frage, ob Jesus während seines öffentlichen Wirkens nur einmal nach Jerusalem zog, oder ob er dies mehrmals tat und nur das letzte Mal seine Reise dorthin mit dem Gedanken an seinen eigenen Tod verband, offen bleiben. 14 Jürgen

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Hypothese wird dabei ein Text sein, den Albert Schweitzer fast völlig übersehen hat, nämlich Lk 12,49 f, aber auch hier wird vieles hypothetisch bleiben.

II. Jerusalem – ein für einen Propheten gefährlicher Ort II. 1 Eine erste Überlegung gilt der damaligen politischen Situation in der Prokuratur Judäa. Gerd Theißen charakterisiert die Anfangszeit der römischen Prokuratur in Judäa nach der Niederschlagung des Aufstandes von 6 n. Chr. und vor dem Konflikt unter Caligula als eine „vergleichsweise friedliche Zeit“ und als Zeit einer Verlagerung der akuten Konflikte auf eine „symbolpolitische Ebene“.18 Der Friede war relativ; er war gleichsam der Zustand eines Konflikts in Latenz. Die lange währende Prokuratur des Pilatus zeigt das deutlich: Bereits sein Amtsantritt begann mit dem Konflikt um die Standarten mit den Kaiserbildern (Jos Ant 18,55–59). Der Versuch des Pilatus, die Wasserleitung für Jerusalem mit Geldern des Tempelschatzes zu finanzieren, führte nach Josephus zu vielen jüdischen Todesopfern (Ant 18,60–62). Lukas berichtet von einem Gemetzel unter galiläischen Pilgern zu dieser Zeit – offensichtlich in Jerusalem (Lk 13,1). Markus erzählt von einem Aufstand, einer στάσις, kurz vor der Verhaftung Jesu (Mk 15,7). Judäa, seit 6. n. Chr. geographischer Schwerpunkt zelotischer Aktivitäten, war offenbar ein latentes Unruhegebiet. Peter Egger hat einleuchtend gezeigt, dass die jüdischen Notabeln in und ausserhalb Jerusalems zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung verpflichtet waren – die Besatzungmacht griff erst ein, wenn die Situation gefährlich wurde (Jos, Bell 2,419), und dann mit äuserster Brutalität.19 Den Hohenpriestern und der Aristokratie war nach der Absetzung des Archelaos die προστασία τοῦ ἔθνους (Führung des Volkes) anvertraut (Ant 20,251). Ihre Aufgabe und Pflicht bestand darin, den Römern Leute, die gegen die Ordnung verstiessen, auszuliefern, auch wenn sie das nicht gern taten. Das zeigen z. B. die von Josephus berichteten Unruhen unter Florus (Jos Bell 2,301 f), aber auch das Schicksal des Propheten Jesus ben Ananias (Bell 6,302 f) und andere Vorkommnisse (z. B. Bell 2,418; 7,412–416). Bei jeder möglichen στάσις haben sie nicht nur aus eigenem Interesse, wie oft gesagt wird, versucht, die Situation in den Griff zu kriegen, sondern weil dies ihre Pflicht war, ähnlich wie die aller Stadtregierungen und Dorfvorsteher im ganzen Reich. Ihre Machtmittel waren dabei wie im ganzen Reich begrenzt: Wir hören von einzelnen Amtsträgern wie den Eirenarchen, von städtischen Nachtwächtern20, aber nicht von Institutionen, die der neuzeitlichen Polizei entsprechen. „Preserving 18 Gerd Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung, EvTh 57 (1997), 378–400, dort 396. 19 Peter Egger, ‚Crucifixus sub Pontio Pilato‘, NTA 32, Münster 1997, 100–147. 20 Wilfried Nippel, Public Order in Ancient Rome, Cambridge 1995, 102–106.

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order in the cities was generally left to the local authorities“.21 Aus Jerusalem kennen wir die Existenz einer Tempelpolizei,22 aber wir wissen leider nichts über ihre allfälligen Funktionen ausserhalb des Tempels. Josephus berichtet fast nur von persönlichen Interventionen der Stadtoberen in brenzligen Situationen. Aus den von Josephus berichteten Vorfällen, die fast alle in Jerusalem stattfanden, kann man schliessen, dass die Situation dort im ganzen erheblich delikater war als in Samarien oder Galiläa, nicht nur darum, weil während der Pilgerfeste grosse Volksmengen in die Stadt kamen, sondern auch deshalb, weil Judäa unter direkter römischer Herrschaft stand und weil Jerusalem und der Tempel für die Juden als heilige Orte eine hohe symbolische Bedeutung besassen. Als Fazit ergibt sich für mich: Jesus müsste blind gewesen sein, wenn er alles dies nicht gewusst und bedacht hätte. Es ist dabei nicht nötig, anzunehmen, dass besondere jüdische Feinde aus besonderen Gründen gegen Jesus eingestellt waren. Man braucht gar nicht zu fragen, aus welchen Gründen welche jüdischen Führer was gegen Jesus gehabt haben könnten. Die blosse Tatsache, dass er Prophet war und Anhänger im Volk besass, genügte völlig, um ihn in Jerusalem zu einem potentiellen Sicherheitsrisiko zu machen. Die spätere nachösterliche Überlieferung spricht vor allem in den Worten vom leidenden und auferstehenden Menschensohn von Jesu Einsicht in Gottes Plan mit ihm, vom göttlichen δεῖ (Mk 8,31; vgl. 9,31; 10,33; 14,21.41; Mt 26,2). Ich denke, es genüge, anzunehmen, dass Jesus nicht realitätsblind war und bewusst das tat, was er wollte, resp. was er als seinen Auftrag erkannte, um ihn erkennen zu lassen, wie gefährlich das Auftreten eines Propheten in Jerusalem sein konnte.23 II. 2 Damit komme ich zu einem zweiten Punkt, der Rolle und dem Schicksal von Propheten. Jesus wurde vom Volk als Prophet wahrgenommen und verstand sich selbst wohl auch als Prophet bzw. als eine die biblischen Propheten überbietende Gestalt. Ich möchte hier zunächst einmal darauf hinweisen, wie häufig im 1. Jh. symbolische Aktionen von Propheten Anlass zu Interventionen mit dem Ziel, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, gegeben haben. Fast immer waren dabei die Aktionen von Propheten an heilige Orte gebunden, z. B. an den Tempel, den Ölberg oder den Berg Garizim. Ich erinnere an die wenige Jahre nach Jesu Tod 21 Nippel

a.a.0. 103 Schürer / ​Geza Vermes, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ II, Edinburgh 1979, 284–287. 23 Hübsch formuliert Paul Wernle, Jesus, Tübingen 1916, 343 f: „Rings um ihn herum soll sich das Netz seiner Feinde enger und enger zusammengezogen haben, er aber hätte von allem nichts gemerkt und wäre harmlos seinen Häschern in die Falle gegangen? Sein ganzes Lebenswerk wäre Schritt für Schritt zusammengebrochen, ohne dass er geahnt hätte, was für ihn persönlich daraus folgern musste? Nein, wer so wie Jesus … allen Illusionen über die Menschen fremd war … wird im Gegenteil das Herannahen der Katastrophe eher zu früh als zu spät erkannt haben und wird manchen seiner Gegner mit seinen Leidensgedanken zuvorgekommen sein.“ 22 Emil

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stattfindende Aktion eines samaritanischen Propheten, der dem Volk auf dem Garizim die heiligen Geräte des Mose zu zeigen versprach (Jos Ant 18,85–87), eine symbolische Zeichenhandlung. Diese Aktion entwickelte sich rasch – aber offensichtlich von den Veranstaltern nicht beabsichtigt (Ant 18,88) – zu einer antirömischen Aktion einer bewaffneten Volksmenge. Pilatus griff militärisch ein und liess nach Niederschlagung des Aufstandes nicht nur den Propheten, sondern auch die κορυφαιότατοι und δυνατώτατοι unter den Aufständischen, d. h. seine wichtigsten und mächtigsten Anhänger, hinrichten. Er schätzte offenbar die Situation als viel gefährlicher ein als im Fall Jesus und griff entsprechend sehr hart durch. Deswegen wurde er von Vitellius zur Rechenschaftsablage nach Rom geschickt. Die Analogie ist interessant, denn sie zeigt, wie leicht durchaus gewaltlos und friedlich gemeinte symbolische Handlungen von Propheten aus dem Ruder laufen konnten. Ich erinnere sodann an eine ganze Reihe von Unheilspropheten, die fast alle hingerichtet wurden: an die pharisäischen Propheten, die sich gegen Herodes wandten (Ant 17,43–45), an Theudas, der den Jordandurchzug wiederholen wollte und vom Prokurator Fadus mitsamt vielen seiner Anhänger brutal getötet wurde (Ant 20,97–99), an den ägyptischen Propheten, der vom Ölberg aus die Mauern Jerusalems einstürzen lassen wollte und dadurch ein sofortiges Einschreiten der Jerusalemer Kohorte provozierte (Ant 20,169–173). Das erste nachchristliche Jahrhundert kann geradezu als Höhepunkt des Auftretens von Propheten bezeichnet werden. Da solche prophetischen Gestalten in der Regel aus der Unterschicht oder aus Gruppen stammten, die fern von der politischen Macht waren,24 mussten sie in den Augen der Oberschicht fast notwendigerweise als potentiell subversiv gelten. Dass nach späterer rabbinischer Lehre nicht nur die Zeit der Propheten auf die Zeit der Schriftpropheten beschränkt wurde (TSot 13,2), sondern darüber hinaus der legitime Inhalt der prophetischen Botschaft auf das eingeschränkt wurde, was in der Torah des „Archipropheten“ Mose zu lesen ist (bMeg 14 a), hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Implikationen. Kurz, es gab manche Gründe für die politischen Machthaber und unter römischer Provinzialverwaltung auch für die mit der Wahrung von Ruhe und Ordnung beauftragten jüdischen Aristokraten, das Auftreten von Propheten oder gar das Entstehen prophetischer Bewegungen mit besonderer Sorgfalt zu be-

24 Das gilt für die Essener, bei denen es besonders viele Propheten gab (Jos Bell 2,159). Prophetie wurde dort wohl schulmässig – durch Schriftauslegung und Traumdeutung – gelernt. Auch Apokalyptiker können in gewissem Sinn als „Propheten im Verborgenen“ verstanden werden. Die Pharisäer waren damals in der Opposition. Joh. der Täufer stammte aus der priesterlichen Unterschicht und zog aus Jerusalem weg an den Jordan. Der Ägypter ist ein τις, von dem nicht einmal der Name bekannt ist. Jesus ben Ananias ist ein ungebildeter Mann vom Lande (Jos Bell 6,300).

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obachten. Die potentielle Gefahr, dass sie ausser Kontrolle gerieten und dadurch zur Gefahr wurden, war sehr gross. II. 3 Auch Jesus, der in die prophetische Tradition Israels hineingehört, muss die Verbindung zwischen seiner prophetischen Aufgabe, der Stadt Jerusalem und einem möglichen Martyrium bewusst gewesen sein. Es geht mir hier nicht um die Frage, ob Jesus von der deuteronomistischen Prophetenmordtradition geprägte Äusserungen zu seinem Tod gemacht hat, d. h. seinen eigenen Tod als Prophetentod gedeutet hat.25 Hier bin ich eher skeptisch; höchstens das Winzergleichnis (Mk 12,1–9) könnte in seinem Kern auf Jesus zurückgehen. Aber ganz unabhängig von der deuteronomistischen Prophetenmordtradition und ihrer Zuspitzung auf die Stadt Jerusalem muss ihm bekannt gewesen sein, dass manche Propheten in Jerusalem umgekommen sind.26 Mehr als die Möglichkeit, dass ein Prophet in Jerusalem das Martyrium erleiden könnte, ergibt sich aufgrund der biblischen und jüdischen Traditionen, die Jesus bekannt gewesen sein dürften, allerdings nicht. Man kann also aufgrund des geschichtlichen Traditionswissens nicht sagen, dass „es nicht angeht, dass ein Prophet ausserhalb Jerusalems umkomme“ (Lk 13,33), sondern nur, dass manche Propheten in Jerusalem gestorben sind.27 II. 4 Jesus ist bei seiner Wirksamkeit in Galiläa nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Widerstand gestossen. Zeugnis dieses Widerstandes gegenüber seinem Wirken geben vor allem die Gerichtsworte, welche Jesus an Kollektive gerichtet hat: an die galiläischen Städte Betsaida, Chorazin und Kafernaum (Q 10,13–15), an „diese Generation“ (Q 11,31 f, vgl. 7,33 f), an Israel (Q 13,28 f), an Jerusalem (Q 13,34 f). Auch wenn ich nicht bei allen dieser Worten zu einem positiven Echtheitsurteil komme,28 so erlaubt doch der Gesamtbefund die Anwendung des Kohärenzkriteriums. Einige dieser Worte verstehen die Gerichtsdrohung als Folge der Ablehnung des Wirkens oder der Verkündigung Jesu (Q 10,13–15 [Wunder!]; Q 11,31 f [Verkündigung!]). Das passt zum Befund, der sich aus manchen Gleichnissen ergibt, z. B. aus Lk 14,16–24; Mt 18,23–34; 25 Skeptisch sind zu Recht Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, Neukirchen 1967, 284–289; Anton Vögtle, Todesankündigung und Todesverständnis Jesu, in: Karl Kertelge (Hg.), Der Tod Jesu, QD 74, Freiburg u. a. 1976, 59–61. 26 Jer 26,20–23; 2Chron 24,20–22; vgl. Jer 38,4–6; 2 Kön 21,16; Jos Ant 10,38; Mart Jes 5,1–14; Vita Proph 1,9; 23,1. 27 Vgl. Steck, Israel 251 f. 28 Skeptisch bin ich bei Q 13,34 f; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Zürich 1997, 379 f. Möglich scheint mir die jesuanische Herkunft von Q 10,13–15; vgl. ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Neukirchen / ​Düsseldorf 31999, 192. Wahrscheinlich scheint mir die Herkunft von Jesus bei Q 11,31 f und Q 13,28 f.

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Mt 25,1–13. Ich rechne also wie Albert Schweitzer und viele Jesusbiographen des 19. Jh.s mit „zwei kontrastierenden Epochen“29 in der Wirksamkeit Jesu, wobei der sog. „galiläische Frühling“ keineswegs nur eine Zeit des Erfolges Jesu gewesen sein braucht. Im Unterschied zu all denjenigen Forschern, welche mit einer sekundären Verstärkung der Gerichtsverkündigung erst im Laufe des Entstehungs‑ und Wachstumsprozesses der Logienquelle Q rechnen,30 denke ich, dass ein sehr grosser Teil der Gerichtslogien Jesus nicht abgesprochen werden kann.31 Bei ihm selbst hat also wohl eine Verschärfung der – von Johannes dem Täufer übernommenen – Gerichtsverkündigung stattgefunden. Die Platzierung eines Logions innerhalb der Komposition der Logienquelle, die für Kloppenborg entscheidend ist, sagt m. E. grundsätzlich nichts über seine Entstehungszeit aus. II. 5 In Jesu Verkündigung gibt es eine Reihe von Logien, welche mit Verfolgungen rechnen und die Jünger auch auf solche vorbereiten. Auch hier macht es wiederum das Kohärenzkriterium unmöglich, sie insgesamt Jesus abzusprechen. Einige dieser Logien setzen zwar nachösterliche Verhältnisse voraus und sind wohl Gemeindebildungen (Q 6,22 f; Q 12,11 f; Q 11,49–51; Q 12,51–53; Mk13,9.11 f). Andere gehen wahrscheinlich auf Jesus zurück (Q 12,8 f; Q 12,4 f; Q 12,6 f; Q 14,27; Q 17,33). Das Kriterium der Wirkungsplausibilität spricht dafür, dass sich die Gemeinde aufgrund von bereits vorhandenen jesuanischen Verfolgungslogien zur Bildung von zusätzlichen solchen Logien anregen liess. Sie sind vor allem in der matthäischen Aussendungsrede gesammelt und gehen zum grösseren Teil, aber nicht ausschliesslich auf Q zurück. Q 12,8 f, das Wort vom Bekennen und Verleugnen Jesu, ist eines der am sichersten auf Jesus zurückgehenden Menschensohnworte. Es legt nicht fest, bei welcher Gelegenheit man sich vor den Menschen zu Jesus bekennen muss. Die Hörer / ​innen werden aber in erster Linie an gerichtliche Verhöre gedacht haben; diese Deutung von Bekennen (ὁμολογεῖν) und Verleugnen (ἀπαρνεῖσθαι) legt sich vom Gegenüber zum Weltgericht vor den Engeln des Himmels her nahe. Q 14,27, das Wort vom Kreuz-tragen, knüpft wohl an den römischen Brauch an, dass die Verurteilten ihr Kreuz selber zur Hinrichtungsstätte tragen müssen. Am Anfang seines Weges zum Martyrium nimmt der Verurteilte sein Kreuz auf sich; das Logion versteht Jüngerschaft also als Weg zur Hinrichtung.32 Dafür, dass dieses Logion wirklich auf Jesus zurückgeht, spricht vieles, z. B.

29 Albert

Schweitzer, Messianitäts‑ und Leidensgeheimnis (o. Anm. 3), 208. vor allem John Kloppenborg, The Formation of Q. Philadelphia 1987. 31 Wichtig ist hier vor allem das Buch von Riniker (o. Anm. 11), dessen positiven Echtheitsurteilen ich in der Mehrzahl der Fälle zustimme. 32 Eine übertragene Bedeutung von „Kreuz“ (= Leiden) ist vor Jesu Tod im Griechischen und Semitischen nicht zu belegen; vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 28), 143. 30 So

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seine dreifache Bezeugung und seine semitische Färbung.33 Seine exklusive Formulierung („wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt …, kann nicht mein Jünger sein“) spricht für Herkunft von Jesus; sie passt nämlich nicht ins spätere Urchristentum, wo Kreuzigungen von Jüngern eine seltene Ausnahme gewesen sind. Die markinische Fassung (Mk 8,34) zeigt, wie das Wort an die Situation der nachösterlichen Gemeinde angepasst wurde. Für Herkunft von Jesus spricht auch die nicht-christologische Formulierung: Es geht nicht darum, Jesu Kreuz auf sich zu nehmen. Für sie spricht schliesslich die wirkungsgeschichtlich plausible Möglichkeit, die existenzielle Deutung des Kreuzes bei Paulus (z. B. Gal 6,14) von Jesus her zu verstehen. Das Logion macht also das Martyrium oder mindestens die Bereitschaft dazu zur Bedingung der Jüngerschaft. So deuten jedenfalls die Logienquelle und Markus, die es mit dem Wort vom „Leben gewinnen / ​Leben verlieren“ verbinden (Q 17,33; vgl. Mt 10,39; Mk 8,35). Ist das richtig und geht das Logion wirklich auf Jesus zurück, so hat Jesus auch für sich selbst mit der Möglichkeit, ja mit der Wahrscheinlichkeit der Kreuzigung gerechnet. Diese Möglichkeit ist keineswegs undenkbar, denn die Kreuzigung war im damaligen Palästina die häufigste Hinrichtungsweise. Es ist verständlich, dass diese Schlussfolgerung viele Exegeten davor zurückschrecken liess, das Logion für echt zu halten; nicht nur Jürgen Becker, sondern der in Echtheitsfragen sonst recht positiv urteilende Gerd Theißen übergeht es mit Schweigen. Die übrigen Logien, die ich vorher nannte, stützen aber diesen Schluss: Die Logien Q 12,4–7 scheinen vorauszusetzen, dass die Jünger getötet werden könnten und sprechen ihnen Mut zu. Irgend eine christolologische Implikation enthalten sie nicht; gerade darum sind sie echtheitsverdächtig. Q 17,33, das Wort vom Leben gewinnen und verlieren, verliert ohne das Martyrium als möglichen Hintergrund jeden konkreten Haftpunkt im Leben. Q 12,8 f ist fast nur verstehbar, wenn es sich auf eine gegenwärtig mögliche gerichtliche Situation bezieht. Das Wort vom Kreuztragen steht also keineswegs isoliert, sondern wird durch das Kohärenzkriterium gestützt. Alle Logien sind für mich am leichtesten verständlich, wenn Jesus in der Schlussphase seines Wirkens mit der Möglichkeit seiner eigenen Hinrichtung und auch mit der Möglichkeit der Hinrichtung seiner Jünger ernsthaft gerechnet hat. Wie Franz Mußner und andere rechne auch ich mit so etwas wie einer „galiläischen Krise“.34 Als Fazit ergibt sich für mich, dass Jesus bei seiner 33 Ἔρχεσθαι ὀπίσω weist auf semitischen Sprachhintergrund, da es keine direkte semitische Entsprechung zu ἀκολουθέω gibt; vgl. Gustav Dalman, Jesus – Jeschua, Leipzig 1922, 172. Vgl. weiter Matthew Black, Die Muttersprache Jesu, BWANT 115, Stuttgart 1982, 195 f. 34 Vgl. Mußner, „Galiläische Krise“ (o. Anm. 8). Anders als er meint Lorenz Oberlinner, Todeserwartung und Todesgewissheit Jesu, SBB 10, Stuttgart 1980, 112–135, bes. 134 f, dass Jesu Todesgewissheit durch die Ereignisse in Jerusalem, d. h. durch die Feindschaft der jüdischen Führer nach dem Vorfall im Tempel, entstanden sei.

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I. Studien zu Jesus

Jerusalemreise die Lebensgefahr, in die er sich begab, klar gewesen sein muss. Er muss sie bewusst in Kauf genommen haben. Damit gewinnt die Frage: Warum ging Jesus nach Jerusalem? eine neue Brisanz. Sie lautet jetzt: Hat er seine Hinrichtung nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar gewollt? Die Möglichkeit, dass er nach Jerusalem zog, um dort zu sterben, ist ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

III. Jesu Verhalten in Jerusalem Im folgenden Argumentationsgang möchte ich Jesu Verhalten weiter verfolgen. Ich konzentriere mich auf Jerusalem. Zur Debatte stehen: 1. der Einzug in die Stadt; 2. die Tempelreinigung; 3. Jesu Verhalten danach. III. 1 Der Einzug nach Jerusalem (Mk 11,1–11parr.). Der Forschungstand lässt sich kurz dahin zusammenfassen, dass nach der Meinung der meisten Forscher Jesu triumphaler Einzug in Jerusalem zwar in den evangelischen Erzählungen überhöht, aber kaum „ganz erfunden“ sein dürfte.35 Es spielt dabei keine grosse Rolle, wer Jesus zujubelte, und wir wissen natürlich auch nicht, was Jesus selbst angesichts dieser messianischen Ovation dachte. Wichtig ist nur, dass Jesus sich dieser Ovation offenbar nicht entzogen, sondern mitgespielt hat. Darin steckt natürlich eine Provokation. Ob im Trubel der Pilgerscharen vor dem Passahfest diese Provokation von vielen bemerkt wurde, ist eine andere Frage. III. 2 Keine Frage ist dies beim nächsten Vorfall, der Austreibung der Geldwechsler und Verkäufer aus dem Tempelvorhof (Mk 11,15–17parr.). Wiederum frage ich nur, ob dieser Vorfall im Leben Jesu wirklich stattgefunden hat. Mich interessiert hier nicht die Absicht, welche Jesus allenfalls mit dieser prophetischen Zeichenhandlung verbunden hat. Da ich der Meinung bin, dass Jesus von den jüdischen Behörden deshalb dem Statthalter überstellt wurde, weil er eine Gefahr für Ruhe und Ordnung darstellte und dass dies ganz unabhängig davon, was sie oder einzelne jüdische Gruppen gegen seine Verkündigung gehabt haben könnten, ihre Pflicht war,36 ist die Frage nach Jesu Absicht verhältnismässig irrelevant. Die letzte mir bekannte prominente Bestreitung der Historizität der Austreibung ist diejenige von Jürgen Becker. Beckers Argumente gegen die Historizität der Szene sind im wesentlichen zwei: 1. Sie setze voraus, dass Jesus die Reinheit und Heiligkeit der inneren Tempelbezirke auf den Vorhof ausweite, 35 Roloff, Jesus (o. Anm. 14), 107; vgl. Ed P. Sanders, The Historical Figure of Jesus, London 1993, 250; Gerd Theißen / ​Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 170. 36 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Neukirchen / ​ Düsseldorf 2002, 201 f.

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was nicht zum Gesamtbild Jesu passe. 2. Der Text spreche vom „Herauswerfen der Verkäufer und Käufer im Tempel“. Dies sei unvorstellbar, denn die Tempelpolizei oder die römische Garnison auf der Antonia hätte sofort eingegriffen; die Historizität der Szene sei nur so zu retten, dass man sie zu einem marginalen Vorfall mache oder zu einer prophetischen Symbolhandlung minimiere.37 Ich halte beide Argumente für nicht stichhaltig: Das zweite Argument beisst sich in den Schwanz: Man kann genau so gut umgekehrt argumentieren, dass die Austreibung eine symbolische Zeichenhandlung gewesen sein kann, die relativ verborgen blieb, gerade weil die Tempelpolizei nicht einschritt und weil sich die Jünger daran nicht aktiv beteiligt haben dürften. Dafür spricht ja immerhin, dass sie später nicht zusammen mit Jesus verhaftet wurden. Der sehr knappe Bericht Mk 11,15 sagt nur, dass Jesus „angefangen habe“, die Verkäufer wegzutreiben; er setzt keineswegs voraus, dass Jesus den ganzen, mehrere Hektaren grossen Tempelvorhof gesäubert habe. Das erste Argument setzt eine bestimmte Deutung der Tempelreinigung voraus und bedenkt andere Deutungsmöglichkeiten gar nicht, z. B. eine Deutung der Symbolhandlung als sozialkritischer Protest gegen die wirtschaftliche Macht der Tempelaristokratie, die vom Handel im Tempelvorhof profitierte,38 oder ihre Verbindung mit dem Logion Mk 14,58, das die Zerstörung des Tempels ansagt.39 Es reduziert überdies den Gedanken der Heiligkeit des Tempels auf seine Reinheit. Mk 11,16 könnte aber dafür sprechen, dass es Jesus nicht um die Reinheit, sehr wohl aber um die Heiligkeit des Tempels ging.40 Für die Historizität dieser Episode sprechen ihre gute Verankerung in der vormarkinischen Passionsgeschichte und die Möglichkeit ihrer Verbindung mit der Vollmachtsfrage (Mk 11,27ff) und der Ankündigung der Tempelzerstörung (Mk 14,58 u. a.). Ausserdem ist es schwierig, sich ein plausibles Motiv für eine nachösterliche Entstehung dieses kurzen Berichtes vorzustellen; auch die Evangelisten hatten ihre Probleme mit der Deutung dieser Episode. Mit den neueren Untersuchungen von Jürgen Sauer41, Hans Dieter Betz42, Jostein Adna43 und Kurt Päsler44 gehe ich davon aus, dass diesem Bericht ein historischer Kern zugrundeliegt.  Becker, Jesus (o. Anm. 15), 407–410. z. B. Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie, Gütersloh 1971, 145; Hans Dieter Betz, Jesus and the Purity of the Temple (Mk 11,15–18). A Comparative Religion Approach, JBL 116 (1997), 455–472, bes. 461 f. 465–467. 39  So z. B. Ed P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985, 61–72; Theißen / ​Merz, Der historische Jesus, (o. Anm. 35), 380 f; Joachim Gnilka, Jesus von Nazaret, HThK.S 3. Freiburg etc. 1990, 279 f. 40 Die Echtheit ist allerdings unsicher. – Auch beim Ehescheidungsverbot ging es Jesus vermutlich um die Heiligkeit der Ehe und um Gottes gültigen Willen, nicht um die damit verbundenen Reinheitsvorschriften. Diese spielen erst in der vormt Unzuchtklausel eine Rolle. 41 Jürgen Sauer, Rückkehr und Vollendung des Heils, Regensburg 1991, 445–459. 42 Betz, Jesus and the Purity (o. Anm. 38), 459. 43 Jostein Adna, Jesu Stellung zum Tempel, WUNT 2/119, Tübingen 2000, 300–333. 44 Kurt Paesler, Das Tempelwort Jesu, FRLANT 184, Göttingen 1999, 240–245. 37

38 So

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III. 3 Ich lasse es offen, in welcher Form Jesus seine Ankündigung der Zerstörung des Tempels (Mk 13,2; 14,58 u. ö.), die ich ebenfalls für historisch halte45, gemacht hat. Jürgen Becker weist darauf hin, dass eine solche in guter prophetischer Tradition stehende Äusserung (vgl. Jer 26,9.18; äth Hen 90,28 f etc.) „kein Anlass wäre, Jesus zu töten“.46 Das Verfahren gegen Jesus ben Ananias (Jos Bell 6,300–306) weist auf das Gegenteil. Der Grund für Jesu Hinrichtung war ja kein juristischer, sondern ein politisch-taktischer: Es macht einen grossen Unterschied, wo man eine prophetische Äusserung macht, ob in einem halb im Untergrund zirkulierenden Traktat oder öffentlich, im Tempel oder in der Stadt, zum Zeitpunkt eines Pilgerfestes, nach einer kleineren στάσις. Ich fasse zusammen: Jesus hat sich in Jerusalem sehr auffällig benommen. Er hat sich um das offenkundige Risiko, das er dadurch einging, überhaupt nicht gekümmert. Spätestens nach seiner Zeichenhandlung im Tempel wäre es höchste Zeit gewesen, sich aus der Stadt abzusetzen und unterzutauchen. Jesus hat das nicht getan. Er hat also in der Tat seinen möglichen Tod bewusst in Kauf genommen oder ihn sogar gewollt. Dann aber muss man die Frage stellen, welchen Sinn er in ihm gesehen haben könnte.

IV. Der Sinn von Jesu Tod Was hat Jesus selber mit seinem Tod für einen Sinn verbunden? Sehe ich recht, so sind es nur zwei Texte, die uns möglicherweise in dieser Frage Hinweise geben könnten47, nämlich Lk 12,49 f und die Einsetzungsworte zum Abendmahl Mk 14,22–25. IV. 1 Das Logion Lk 12,49 f ist eines der schwierigsten in der ganzen synoptischen Tradition. Relativ grosse Einigkeit herrscht darüber, dass V 49 sehr alt ist, wobei hier offen bleiben kann, ob der Vers aus Q stammt. Der auch vom Thomasevangelium überlieferte Vers48 enthält verschiedene Semitismen49. „Feuer“ 45 Anders Becker, Jesus (o. Anm. 15), 405 f. Für die Historizität: Theißen / ​Merz, Der historische Jesus (o. Anm. 35), 380 f. Paesler, Tempelwort 256–261 rechnet damit, dass Mk 13,2, nicht aber Mk 14,58 auf Jesus zurückgeführt werden könne. 46 Becker, Jesus (o. Anm. 15), 404. 47 Lk 13,32 ist zwar jesuanisch, aber das Verbum τελειοῦμαι bezeichnet vermutlich nicht mehr als den von Gott gesetzten Abschluss seines Wirkens. In Mk 12,1–9 – die Authentizität ist unsicher – knüpft Jesus an die deuteronomistische Prophetenmordtradition an, die durch die Metapher des „Sohns“ gegenüber den „Sklaven“ überhöht wird. Die Parabel könnte deutlich machen, dass Jesus in seinem eigenen Wirken eine Fortsetzung und zugleich Überhöhung des Wirkens der biblischen Propheten sieht (vgl. Q 11,32), sagt aber nichts über einen möglichen Sinn des Todes Jesu. 48 EvThom log 10. 49 Der deutlichste ist τί θέλω (V 49). P. Wolf, Liegt in den Logien von der Todestaufe (Mk 10,38 f; Lk 12,49 f) eine Spur des Todesverständnisses Jesu vor? Diss. masch. Freiburg 1973, 126–141 weist ferner auf θέλειν ἐν und βάπτισμα βαπτισθῆναι.

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ist eine offene Metapher; biblisch und jüdisch geprägte Hörer / ​innen werden sie aber ohne weitere das Verständnis lenkende Hinweise im Text fast sicher auf das göttliche Gerichtsfeuer gedeutet haben.50 Auch die Verbindung mit „auf die Erde zu werfen“ (βαλεῖν ἐπί τὴν γῆν) spricht für diese Deutung.51 Jesus ist also gesandt, um das Feuer des göttlichen Gerichts auf die Erde zu bringen. Diese Aussage ist nicht so überraschend, wie sie klingt: Sie entspricht dem, was Johannes der Täufer von dem nach ihm kommenden Feuerrichter sagt, der grösser ist als er (Q 3,16). Mit z. B. Jürgen Becker52 möchte ich den „Stärkeren“ auf den Menschensohn deuten. Hat Jesus sich selber für denjenigen gehalten, der einst als Menschensohn inthronisiert werden wird und jetzt inkognito auf der Erde lebt? Das scheint mir aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich zu sein. Dann steht Lk 12,49 in nahezu perfekter Kontinuität zur Aussage Johannes des Täufers. Jesus hätte sich dann nicht nur als derjenige verstanden, der das Gottesreich inauguriert, sondern auch als Inaugurator seiner „Kehrseite“, des Gerichts. Sehr viel grösser werden die Schwierigkeiten, wenn wir uns V 50 zuwenden. Das Verhältnis beider Verse zueinander ist das eines weiterführenden, bzw. sogar antithetischen (δέ) Parallelismus. Dieser braucht aber nicht ursprünglich zu sein. Claus Peter März hat darauf hingewiesen, dass V 50 weniger semitisch formuliert ist als V 49 und sprachlich im Ganzen lukanischer Diktion gut entspricht.53 Er hält Lk 12,50 für eine lukanische Erweiterung von V 49, welche grundlegende Textabschnitte und Motive aus dem ausgelassenen Markusstück Mk 10,35–45 vorwegnehme, nämlich das Wort an die Zebedaiden vom Todeskelch und der Todestaufe Mk 10,38.54 Trotz möglicher Lukanismen in V 50 halte ich dies nicht für wahrscheinlich: Lukas lässt zwar öfters Texte rückschauend weg, wenn sie in einer anderen von ihm benutzten Quelle früher vorkommen,55 50 Übersicht über die Assoziationsmöglichkeiten bei François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35), EKK III/2, Neukirchen / ​Zürich 1996, 349 f. In der „Enzyklopädie“ der jüdisch geprägten Rezipientinnen des Wortes dominiert eindeutig der Gedanke an das Gericht; vgl. Gerhard Delling, Βάπτισμα βαπτισθῆναι, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Gesammelte Aufsätze 1950–1968, Berlin 1970, 236–256, dort 247–249; Dale C. Allison, The End of the Ages has Come, Philadelphia 1985, 124 f. 51 Vgl. Gen 19,24; 2 Kön 1,10–24; Jos Ant 1,98; Apk 16 passim (Ausgiessen der Zornschalen auf die Erde). 52 Becker, Jesus (o. Anm. 15), 54–56. 53 Als Lukanismen werden genannt: Ἔχειν + Inf., συνέχω, ἔως, ὅτου und τελέω. Allerdings ist absolut gebrauchtes συνέχω nicht lk. Das an sich geläufige (aber nicht spezifisch lk!) πῶς kommt nur noch 18,24 in einem Ausruf vor. Ἔχειν + Inf. wird bei Lk nicht im Sinn einer Notwendigkeit gebraucht – dafür braucht Lk normalerweise δεῖ. 54 Claus Peter März, „Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen …“, in: ders., „… lasst eure Lampen brennen!“, EThS 20, Leipzig 1991, 10–12; vgl. ähnlich schon Helmut Köster, Art. συνέχω, ThWNT VII, 1964, 883. 55 Vgl. Heinz Schürmann, Sprachliche Reminiszenzen an abgeänderte oder ausgelassene Bestandteile der Redequelle im Lukas‑ und Matthäusevangelium, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, KBANT, Düsseldorf 1968,

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aber es ist nicht seine Gepflogenheit, einzelne weggelassene Verse textlich variiert an einer beliebigen anderen Stelle seines Evangeliums wieder einzufügen.56 Es ist auch nicht sein Brauch, Parallelismen zu vermehren oder neu zu schaffen. Dazu kommt, dass V 50 zwischen V 49 und V 51–53 im lukanischen Kontext schlecht passt: Liest man V 49 im lukanischen Kontext von V 51–53 her, so ist beim „Feuer“ am ehesten an das Feuer der Evangeliumsverkündigung, bzw. das Feuer des heiligen Geistes zu denken.57 V 50 müsste als ein Hinweis auf Getsemani58 und den Tod Jesu gedeutet werden, was zwischen V 49 und V 51–53 im lukanischen Kontext ziemlich unpassend wäre. Ich rechne also eher damit, dass Lk 12,50 bereits Bestandteil der lukanischen Quelle war, also vielleicht aus Q stammt. Lk hat dann später Mk 10,38 f weggelassen, weil er eine Dublette vermeiden wollte. Ist der Parallelismus zwischen V 49 und V 50 ursprünglich – dagegen spricht a priori nichts – so kann der Vers ebenso wie V 49 auf Jesus zurückgehen. Geht er aber wirklich auf Jesus zurück? Über ein „vielleicht“ kommen wir nicht hinaus. Gegenüber dem Kelchwort Mk 10,38 wirkt Lk 12,50 eher ursprünglich, weil Mk 10,38 unabhängig von seinem apophthegmatischen Kontext nicht tradierbar ist. Dass Jesus sein kommendes Leiden „zusetzt“, klingt anders als das bestimmte δεῖ der nachösterlichen Leidensankündigungen des Menschensohns. Aber ein zwingender Echtheitshinweis ist auch das nicht, denn es könnte die Erinnerung an Getsemani im Hintergrund stehen. Nach dem Kriterium wirkungsgeschichtlicher Plausibilität spricht für das Wort, dass die frühchristlichen Aussagen von einer „Taufe auf den Tod Jesu“ (Röm 6,3; vgl. Kol 2,12) auf dem Hintergrund von Lk 12,50 gut verständlich würden – aber auch das ist nicht zwingend. Wir müssen also bei einem „vielleicht“ stehen bleiben. Was ist mit dem „Untertauchen“ gemeint, das Jesus bevorsteht? Es gibt drei Möglichkeiten: a) Ist auch hier ganz allgemein an das Gericht zu denken, etwa an die Feuer‑ und Wasserflut?59 b) Nimmt Jesus in 12,49 f im besonderen das Gerichtsbild Johannes des Täufers von der Feuertaufe auf?60 Dagegen spricht aber, dass das „Feuer“ und das „Untertauchen“ deutlich unterschieden werdort 113 f; ders., Die Dublettenvermeidungen im Lukasevangelium, ebd. 279–289. Vorausschauende Dublettenvermeidung kennt Lukas nach Schürmann 288 f nicht: Mk 10,42–45/ / ​Lk 22,24–27 ist aber ein Beispiel dafür. 56 Vgl. immerhin Lk 17,33. 57 Mit Bovon, Lk 9,51–14,35 (o. Anm. 50), 352. 58 Dann wäre aber das Stichwort ποτήριον zu erwarten, das zugleich eine deutliche Reminiszenz an Mk 10,38 und einen Vorverweis auf Lk 22,42 hergestellt hätte. 59 So Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 91977, 163 f. Pointiert und mit vielen Belegen wird diese Interpretation von Simon Légasse vertreten: L’Episode des fils de Zébédée, NTS 20 (1973/74), 161–177, dort bes. 166–169. 60 So vor allem Wolf, Logien von der Todestaufe (o. Anm. 49), 217–225.231–237. Falls sich Jesus in Lk 12,50 auf die Täuferankündigung zurückbezieht, dann wäre dies aber nur so möglich, dass er dessen Hoffnung auf das Kommen des „Feuertäufers“ ganz bewusst umbiegt und zu einer ihn selbst betreffenden Leidenserfahrung macht.

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den: In V 49 bringt Jesus aktiv das Gerichtsfeuer, in V 50 dagegen erleidet er ein Untertauchen. c) Oder ist an die dem Gericht unmittelbar vorausgehenden messianischen Wehen zu denken?61 Abgesehen davon, dass die Vorstellung messianischer Wehen damals keineswegs allgemein verbreitet war, deutet das Jesuslogion durch nichts an, dass das „Untertauchen“ dem „Feuer“ vorausgehen könnte. Man muss also wahrscheinlich bei βάπτισμα von einem allgemeinen Sprachgebrauch ausgehen: In biblischer Sprache ist die Wasserflut eine Metapher für Bedrängnis und Leiden.62 Eine grosse Bedrängnis Jesu – dass der Tod gemeint ist, ergibt sich aus dem bildlichen Sprachgebrauch keineswegs zwingend – steht in einem Zusammenhang mit Jesu Auftrag, das Feuergericht auf die Welt zu bringen. Gerhard Delling, in dessen Umkreis ich mich mit meiner Interpretation bewege, nannte das Feuer „ein Gerichtsgeschehen, in das Jesus selbst einbezogen ist“.63 Mehr als dies können wir nicht sagen, ohne unerlaubt zu spekulieren. Albert Schweitzer deutete den Tod Jesu als Sühnetod: Jesus habe stellvertretend für seine Jünger die Drangsale der messianischen Wehen auf sich genommen und gehofft, so das Reich Gottes heraufzuführen. Lk 12,50 gibt weder einen klaren Deutungshinweis auf die messianischen Wehen, noch einen solchen auf den Sühnetod, ohne dass allerdings solche Deutungen ausgeschlossen werden könnten. Die einzige Stelle, die hier möglicherweise weiterhilft, sind die Einsetzungsworte zum Abendmahl. IV. 2 Hat Jesus bei seiner letzten Mahlzeit gegenüber seinen Jüngern seinen Tod als Sühnetod oder Stellvertretungstod gedeutet? Leider kann ich hier so wenig Gewissheiten vermitteln wie die meisten anderen. Wie heute viele, gehe ich eher von den beiden unsymmetrischen Worten 1 Kor 11,23–25 als von den streng parallelen Deuteworten Mk 14,22–24 als ältester Fassung der Deuteworte aus. Das m. E. stärkste Argument für den jesuanischen Ursprung der Deuteworte ist dasjenige von Heinz Schürmann: Er weist beim Becherwort darauf hin, dass bei jüdischen Mahlzeiten der Einzelbecher üblich ist und dass der in den Mahlberichten eindeutig vorausgesetzte eine Becher, der unter den Jüngern kreist, ein so eigentümlicher Ritus sei, dass er gedeutet werden müsse.64 Obwohl seither darauf hingewiesen wurde, dass es auch einzelne jüdische Belege für einen gemeinsamen Becher und vor allem für das Überbringen eines Bechers an 61 Allison, Ende of Ages (o. Anm. 50), 127 versteht „the eschatological tribulation“ als „the beginning of God’s judgement“: Auf alle, auch auf Jesus, komme das Feuer und die Flut. Gegen diese Interpretation spricht aber die markant unterschiedliche Stimmungslage von V 49 und V 50. 62 2 Sam 22,5; Ps 32,6; 42,8; 69,2 f; 124,4 f. Das Wort βάπτισμα kommt allerdings nicht vor. 63 Delling, Βάπτισμα (o. Anm. 50), 250. 64 Heinz Schürmann, Jesu ureigener Tod, Freiburg 21975, 79–90; vgl. auch ders., Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, 213–222. Besonders deutlich ist die konstitutive Funktion des einen Bechers in 1 Kor 10,16 akzentuiert.

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Abwesende gebe,65 behält das Argument sein Gewicht: Üblich ist der Gemeinschaftsbecher auf gar keinen Fall. Man musste ihn also deuten. Natürlich kommt diesem Postulat nur eine Wahrscheinlichkeit zu. Die zusätzliche Hypothese, dass die überlieferte Deutung zugleich die ursprüngliche sei, ist auch nur eine wahrscheinliche Annahme, wenn auch bei weitem die einfachste. Man kann die These Schürmanns durch drei zusätzliche Überlegungen noch verstärken: 1. So weit wir sehen können, haben sämtliche urchristliche Gemeinden ein Herrenmahl gefeiert (auch die johanneische!). Diese Mahlzeit hatte eine so konstitutive Bedeutung, dass sie überall ähnlich gefeiert wurde, also auch z. B. von der judenchristlichen Matthäusgemeinde nicht als jährlich gefeierte Passaherinnerung. Das lässt sich am leichtesten erklären, wenn die Herrenmahlsüberlieferungen auf Jesus zurückgehen. 2. Eines der schwierigsten Probleme der ältesten christlichen Geschichte besteht darin, zu erklären, warum im Frühchristentum offensichtlich früh und vermutlich überall66 die Taufe auf den Namen Jesu ausgeübt wurde, obwohl Jesus selber wohl nicht taufte. Die Johannestaufe, welche auf die Sündenvergebung zielte, wurde als Taufe auf den Namen Jesu wieder aufgenommen. Das ist m. E. nur verständlich, wenn man annimmt, dass „Jesus“ für seine nachösterlichen Anhängerinnen und Anhänger von Anfang an mit der Vergebung der Sünden verbunden wurde. Nicht erst nachösterliche kerygmatische Bekenntnisaussagen, sondern m. E. bereits das Faktum der Taufe auf den Namen Jesu setzt vielleicht die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod voraus. Das ist wiederum am leichtesten verständlich, wenn sie auf Jesus selbst zurückgeht. 3. Darüber hinaus erinnere ich nochmals an das Postulat der Wirkungsplausibilität: Die Überzeugung von der sühnenden Kraft des Todes Jesu ist im Frühchristentum in verschiedenen Formen so weit verbreitet, dass die These, sie sei erst nachösterlich irgendwo entstanden und habe sich dann sehr schnell und überall durchgesetzt, doch einige Verlegenheit bereitet. Dass hier ein Erbe Jesu vorliegt, ist die einfachste Erklärung. IV. 3 Zusammenfassung. Ich sagte zu Beginn, dass ich in die Nähe Albert Schweitzers kommen würde. Dies stimmt nur bedingt. Es stimmt insofern, als ich denke, dass keine einzige der grundlegenden Thesen Albert Schweitzers zum Gang Jesu nach Jerusalem und zu seinem Todesverständnis sich wirklich falsizieren lässt. Ihm bleibt jedenfalls das Verdienst, dass er erkannt hat, dass bereits Jesu letzter Reise nach Jerusalem eine bestimmte Absicht zugrunde gelegen 65 Belege bei Joachim Gnilka, Wie urteilte Jesus über seinen Tod, in: Kertelge, Tod Jesu (o. Anm. 25), 40 f. 66 Die Vermutung von Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen / ​ Basel 21995, 127 f, dass im Frühchristentum nicht überall getauft wurde, weil die direkte Anteilgabe an Jesu pneumatischer Vollmacht die Wassertaufe ersetze (z. B. bei Mk und Mt [vgl. 28,16–20!]), kann ich nicht nachvollziehen. Dasselbe gilt für seine Feststellung, dass es „mehrere Taufen im frühen Christentum“ gegeben habe (a.a.0. 139). Hier wird eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten der Taufe mit einer Vielzahl von Taufen verwechselt.

7. Warum zog Jesus nach Jerusalem?

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haben muss, die wahrscheinlich mit seinem durchaus vorhersehbaren Tod in Verbindung stand. Ihm bleibt das Verdienst, eine Frage gestellt zu haben, welche viele Forscher nach ihm beiseiteschoben. Aber manche Elemente seiner Antwort erweisen sich im Lichte der Texte als kühne Konstruktion: Es ist denkbar, aber wirklich allerhöchstens denkbar, dass Jesus seinen Tod in den Zusammenhang der endzeitlichen Drangsale gestellt hat. Es ist denkbar, aber mit Mk 4,26–29 nur schwer verbindbar, dass er durch ihn das Kommen des Gottesreichs beschleunigen oder gar herbeiführen wollte. Es ist denkbar, aber für mich nur mit grösster Mühe denkbar, dass Jesus durch seinen eigenen Tod stellvertretend seinen Jüngern das Erleiden der endzeitlichen Drangsale ersparen wollte; das Logion vom Kreuztragen, Q 14,27, spricht jedenfalls nicht gerade für diese These, und in Mk 14,24 weist das „für viele“ wohl auf eine Stellvertretung für ganz Israel, nicht nur für die Jünger. So hat sich die Frage nach dem Sinn, den Jesus mit seinem für ihn mehr als vorhersehbaren Tod verbunden hat, zwar als eine historisch sehr berechtigte Frage erwiesen. Wenn für die Jesusanhänger später der Tod Jesu zu einem Kernpunkt ihres Glaubens wurde, so haben sie nicht einfach nach Ostern die Geschichte Jesu auf den Kopf gestellt. Sie aber nur ansatzweise beantwortbar, und diese Einsicht mag uns daran erinnern, wie sehr historische Hypothesen eigene Konstruktionsversuche sind. Und das gilt natürlich auch für meine.

8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem?

Eckhard Rau (1938–2011) zum Gedächtnis Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich an der Akademischen Gedenkfeier zu Ehren von Eckhard Rau am 29. Nov. 2013 im Warburghaus in Hamburg gehalten habe. Eckhard Rau hat bis zum Ende seines Lebens am Manuskript eines Buches gearbeitet, das im Gespräch mit der Jesusforschung des 19. Jahrhunderts, vor allem mit Heinrich Julius Holtzmann, Theodor Keim und Albert Schweitzer, der Frage nachging, warum Jesus nach Jerusalem gegangen ist, wo er dann gekreuzigt wurde. War sein Tod ein Zufall, oder war er von ihm beabsichtigt? Eckard Rau ist gestorben, ohne sein Buch vollendet zu haben. Gerade die entscheidenden Schlusskapitel fehlen. Silke Petersen, die das unvollendete Buch herausgegeben hat, fragte mich, ob ich zu Rau’s Buch ein Schlusskapitel schreiben könnte, weil Rau in meinem eigenen Versuch zu dieser Frage1 eine grosse Verwandtschaft entdeckt hatte. Ich konnte und wollte das damals nicht, denn der Schluss wäre eben nicht der Schluss Eckhard Raus gewesen, sondern mein eigener. Raus Buch ist 2013 unter dem Titel „Perspektiven des Lebens Jesu“ erschienen.2 Für die Akademische Gedenkfeier von Eckhard Rau habe ich das versucht, worum mich Silke Petersen ursprünglich gebeten hatte, nämlich eine Skizze zu schreiben, wie ich Raus Buch zu Ende geschrieben hätte. Ich möchte nun diesen Versuch in eigener Verantwortung und nicht als „Buchschluss“ des unvollendeten Werks von Eckhard Rau veröffentlichen, weil mich in Hamburg viele Hörerinnen und Hörer darum gebeten haben. Die Form eines Gesprächs mit Eckhard Rau soll dieser Text behalten, aus Dankbarkeit gegenüber Rau und um ihn zu ehren, denn er hat eine ganz wichtige und auch von den Vertretern des „Third Quest“ bisher nicht ins Zentrum gestellte Fragestellung des 19. Jahrhunderts wieder aufgerollt. Mehr als eine Skizze, die das Gespräch mit Eckhard Rau weiterführt, kann dieser kurze Essay allerdings nicht sein.

Mit Jesu Einzug und Aufenthalt in Jerusalem ist es eine eigenartige Sache! Er zog in Jerusalem ein, eine knappe Woche vor dem Passahfest – und nach den übereinstimmenden Zeugnissen der Evangelien wurde daraus eine kleinere 1 Ulrich

Luz, Warum zog Jesus nach Jerusalem?. in: Jens Schröter u. a. (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, 409–427; in diesem Band Nr. 7. 2 Eckhard Rau, Perspektiven des Lebens Jesu. Plädoyer für eine Anknüpfung an eine schwierige Forschungstradition, hg. Silke Petersen, BWANT 203, Stuttgart 2013. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch.

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messianische Demonstration. Er ritt auf einem Esel in die Stadt, umjubelt von Anhängern und Festpilgern. Er liess diesen Einzug mit sich geschehen, ja, er inszenierte ihn. Davon, dass Jesus die messianischen Ovationen seiner Anhängerinnen und Anhänger abgewiesen hätte, hören wir nichts. Wusste er nicht, wie gefährlich das war zur Zeit des grössten jährlichen Pilgerfestes? Jerusalem stand unter direkter römischer Herrschaft, anders als das heimatliche Galiläa. Unter fast jedem Prokurator – und unter dem damaligen, Pontius Pilatus, ganz besonders  – gab es Konflikte, in deren Zentrum oft Propheten oder Messiasanwärter standen.3 Jesus muss das gewusst haben! Aber er vermied einen leicht möglichen Konflikt nicht, sondern suchte ihn eher. Er wollte offenbar provozieren. Statt dann in Jerusalem still in der Menge der Festpilger zu verschwinden, ging er in den Tempelvorhof, warf Verkäufer von Opfertieren hinaus und stürzte Tische von Geldwechslern und Taubenverkäufern um. Das war wohl nur eine prophetische Zeichenhandlung, wie die meisten Exegeten beruhigend versichern, denn sonst wäre ja die Tempelpolizei oder gar die römische Garnison in der benachbarten Antonia eingeschritten. Aber immerhin das! Bei dieser oder einer anderen Gelegenheit wird Jesus auch den bevorstehenden Untergang des Tempels angekündigt haben – eine in dieser Situation nicht ungefährliche Ankündigung, die in einem späteren Fall zur Verhaftung eines anderen Propheten führte.4 War Jesus blauäugig? Er muss gewusst haben, wie delikat seine Situation war! Er hat gewusst, dass Jerusalem die Stadt war, in der zwar nicht alle (so Lk 13,33 b), aber doch sehr viele Propheten umgekommen waren. Er hat sich aber auch dann offensichtlich nicht aus der Stadt abgesetzt, was er immer noch hätte tun können, sondern hat weiter öffentlich gelehrt und mit seinen Jüngern eine Abschiedsmahlzeit gehalten, bis er dann – dank den von Judas den für Ruhe und Ordnung zuständigen Oberpriestern5 gegebenen Informationen – in der Nacht unauffällig im Garten Getsemani verhaftet wurde. Jesus nahm seinen Tod offensichtlich in Kauf. Oder, so fragt Eckhard Rau pointiert, betrieb er „mit Hilfe Dritter seinen Suizid“? (80) Warum? Das ist die Frage, der Eckhard Rau sein Leben lang nachdachte und von der ihn sein vorzeitiger Tod weggerufen hat, bevor er seine eigene Antwort zu Ende formulieren konnte. Ich möchte in einem ersten Abschnitt einige wichtige Grundthesen oder Grundüberzeugungen von Eckhard Rau vorstellen und aus meiner Sicht kommentieren. In einem zweiten Abschnitt möchte ich einige wichtige neutestamentliche Texte, die Eckhard Rau in seinem Buch nicht mehr behandeln konnte, etwas näher anschauen und daraus meine eigenen Folgerungen ziehen. Im Schlussabschnitt möchte ich meine eigene Antwort auf die Titelfrage formulieren und einige hermeneutische und systematische Überlegungen andeuten, die 3 Vgl.

meinen in Anm. 1 genannten Aufsatz, in diesem Band Nr. 7, Abschnitte II. 1 und II. 2. ben Ananias; Josephus, Ant 6,300–309. 5 Dazu vor allem Peter Egger, ,Crucifixus sub Pontio Pilato‘, NTA 32, Münster 1997, 100–147. 4 Jesus

8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem?

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sich für mich aus meiner Antwort ergeben. Das muss ich tun, denn meine eigene Antwort ist für mich sehr unbequem.

I. Einige Grundthesen von Eckhard Rau Eine erste Grundthese Raus lautet: Ein grosser Teil der Wortüberlieferung der Logienquelle geht auf Jesus zurück. Rau rechnet nur mit einer „sehr begrenzten … Zahl von Neubildungen“ von Jesusworten in Q (101). Skeptisch ist er insbesondere gegenüber der von vielen vertretenen Hypothese, bei manchen Q-Worten „handele es sich um Sprüche des Erhöhten aus dem Munde von Propheten, die sekundär zu Worten des Irdischen wurden“ (26).6 Ich kann hier Rau weitgehend zustimmen, obwohl ich seine generelle Skepsis gegenüber Echtheitskriterien nicht teile. Insbesondere stimme ich seiner These zu, dass die meisten Gerichtsworte von Q auf Jesus selbst zurückgehen. Es ist in der Tat so, dass gerade hier in vielen Fällen Unechtheitsurteile von Forschern von ihren inhaltlichen Prämissen geprägt waren, z. B. von der Überzeugung, Jesus könne doch keine unbedingten Gerichtsankündigungen gemacht haben, wie dies etwa in den Weherufen gegen die galiläischen Städte (Q 10,13–15) und im Jerusalemwort (Q 13,34 f) der Fall ist, oder von der Überzeugung, Jesus könne doch seine pharisäischen Gegner nicht derart unfair und pauschalisierend verzeichnet haben, wie dies in gewissen Weherufen von Q 11 / ​Mt 23 der Fall ist. Man darf sich aber bei Unechtheitsurteilen nicht von Bildern seines eigenen Wunsch-Jesus leiten lassen, also z. B. nicht vom Wunsch, Jesus möge doch kein apokalyptischer Gerichtsprediger gewesen sein, und auch nicht vom Wunsch, er möge doch, wenn er schon polemisiere, dies fair und differenziert machen, und lieber gar nicht gegen die Pharisäer, die wir heute mit guten Gründen mit ganz anderen Augen ansehen als unsere theologischen Vorväter. Nachösterliche Worte des Erhöhten in Q hat es m. E. gegeben, z. B. die letzte Seligpreisung (Q 6,22 f), das letzte Wort der Aussendungsrede (Q 10,16), das Gerichtswort über die, die gerechtes Blut vergiessen (Q 11,49–51) oder das christologische Wort Q 10,22. Aber es sind nicht allzu viele. Eckhard Rau hat auch mir geholfen, meine eigenen Echtheits‑ bzw. Unechtheitsurteile auf mich selbst zurück zu spiegeln und darin manchmal eigene Wunschbilder wahrzunehmen.7 Der Preis, den Rau für seine These zahlt, ist, dass er uns ein Jesusbild vermittelt, das für die meisten von uns unbequem und sogar unangenehm ist, für ihn selbst wohl auch. 6 So vor allem M. Eugene Boring, Sayings of the Risen Jesus. Christian Prophecy in the Synoptic Tradition, MSNTS 46, Cambridge 1982 und Migaku Sato, Q und Prophetie, WUNT II 29, Tübingen 1988. 7 Blicke ich auf Unechtheitsurteile meines eigenen Matthäuskommentars, so muss ich in einigen Fällen mein eigenes Urteil revidieren (z. B. bei Mt 23,13.25 f.37–39).

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Eine zweite für Rau wichtige Grundthese lautet, dass es in der Jesustradition, vor allem in Q, eine grosse Zahl von Gerichtsworten gibt, die „nicht … Umkehrrufe in letzter Stunde, sondern … definitive Gerichtsankündigungen gegen die Masse derjenigen Zeitgenossen … (sind), die sich in Israel … gegenüber Jesus verschlossen haben“ (241). Dazu rechnet Rau etwa die Worte gegen „dieses Geschlecht“, die Gerichtsworte gegen Chorazin, Bethsaida und Kapernaum (Q 10,13–15), das Jerusalemwort (Q 13,34 f), das Gerichtswort gegen die Söhne des Reichs (Q 13,28 f), das Wort von der Königin von Saba und den Niniviten (Q 11,31 f) und andere. Von solchen unbedingten Gerichtsworten denkt er, dass sie „primär“ … „die Minderheit derer trösten soll(en), die nicht zur massa perditionis ,dieses Geschlechts‘ gehören“ (258). Hier ist das Urteil m. E. schwieriger. Im Prinzip können auch unbedingte Gerichtsankündigungen noch einen Spalt für die Umkehr offenlassen, je nach dem, wer sie hört und wer sich davon angesprochen fühlt. Unsicher ist Rau’s These darum dort, wo die Verurteilten direkt angesprochen werden, z. B. im Wort gegen Chorazin, Bethsaida und Kapernaum: „Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Betsaida!“ (Q 10,13–15). Einleuchtend ist seine These dagegen im Gerichtswort über die Söhne des Reichs Q 13,28 f: Hier liegt der Hauptakzent auf dem Kommen der Vielen zum endzeitlichen Mahl im Gottesreich. Von den „Söhnen des Reichs“ ist nur in der dritten Person die Rede, und die Gerichtsankündigung wird durch das Motiv vom „Heulen und Zähneknirschen“ klar als Ankündigung des endgültigen Gerichts bestimmt. Deutlich scheint mir das auch im Jerusalemwort Q 13,34 f, wo die Endgültigkeit der Gerichtsankündigung über das „Haus“ durch die Ankündigung, dass Jerusalem Jesus nun nicht mehr sehen werde, unterstrichen wird. Der Selbstvergewisserung und Tröstung der Minderheit der Jesusanhänger dient keines dieser Worte, denn sie kommen in ihnen gar nicht vor.8 Von den meisten unbedingten Gerichtsankündigungen wird man eher sagen müssen: Die Jesusanhänger fanden sie offensichtlich so wichtig, dass sie sie überlieferten, auch wenn sie selber darin nicht angesprochen waren. Man muss also die Gerichtsworte Jesu von Fall zu Fall prüfen. Klar ist aber, dass es in der Logienquelle unbedingte Gerichtsankündigungen gibt. Und klar ist, dass das kein zureichender Grund ist, sie Jesus abzusprechen und späteren Gemeindepropheten zuzusprechen, etwa als Reaktion auf ihre eigene erfolglose Israelmission. Einer dritten Grundthese Raus möchte kann ich wieder weitgehend zustimmen: Mit manchen anderen nimmt Rau an, dass es in der Verkündigung Jesu in Galiläa eine Entwicklung gegeben hat. Die unbedingten Gerichtsworte z. B. gegen dieses Geschlecht sind für Rau Jesu Antwort auf die weitgehende Ablehnung, die er in Galiläa gefunden hat. „Für die Jesusforschung bedeutet dies, dass 8 Eine Tröstung der Jesusanhänger könnte dagegen Q 7,31–35 darstellen, das Gleichnis von den spielenden Kindern und seine Deutung. Das ist aber nur dann der Fall, wenn man den Schlussvers 35 („die Weisheit bekam Recht von ihren Kindern“) mit Rau (262) für den ursprünglichen und jesuanischen Schluss des ganzen Textes hält.

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es eine Zäsur im galiläischen Auftreten Jesu gibt, die den Hintergrund des Zuges nach Jerusalem markiert“ (82). In der Tat kann man das Nebeneinander von offenen Worten Jesu, in denen die Gerichtsperspektive ganz allgemein bleibt, wie z. B. im Gleichnis von den Hausbauern (Q 6,47–49), und von unbedingten Gerichtsankündigungen an bestimmte Gruppen oder Ortschaften am besten so wie Rau erklären. Dazu passt, dass Jesus oft die Stellungnahme zu ihm selbst und seinen Worten zum entscheidenden Kriterium für das Gericht gemacht hat, wie gerade das Hausbauergleichnis oder Texte wie Q 12,8 f zeigen. Dazu passt auch, dass bereits in der Jesusüberlieferung Logien auftauchen, die vom Verlieren des Lebens, von Lebensgefahr oder von der Perspektive des Martyriums am Kreuz sprechen (z. B. Q 12,2–7; 14,27; 17,33), auch wenn andere Verfolgungstexte m. E. erst nachösterlich sind (z. B. Q 6,22 f; Q 11,49–51). Dazu passt schliesslich, dass auch im markinischen Aufriss die Ablehnung Jesu in Galiläa erzählt wird (Mk 4,11–13.33 f; Mk 6,1–6; vgl. Mk 8,12). Matthäus macht dies dadurch noch deutlicher, dass er sehr viele unbedingte Gerichtsworte Jesu aus Q in den ersten Hauptteil seines Evangeliums einfügt, also vor Caesarea Philippi. Insbesondere seine Kapitel 11 und 12 sind hier wichtig. Die Q-Logien und der Erzählungsfaden der synoptischen Evangelien scheinen sich also gegenseitig zu stützen. Ich schliesse daraus, dass Markus und auch Matthäus ihre Jesusgeschichten nicht ohne Anhalt an geschichtlicher Erinnerung komponiert haben. Auch Rau sieht das und spricht darum von zwei „losen Enden“ in Mk und Q, die er verknüpfen, und von einer Brücke, die er zwischen beiden Texten schlagen möchte (104). Übrigens bestätigt auch die Aussendungsrede Raus Grundthese: Jesus selbst verhält sich genau so, wie er es seinen Jüngern befiehlt: Wenn sie nicht angenommen werden, sollen sie weggehen und den Staub von ihren Füssen schütteln, als Gerichtszeichen für eine Stadt oder ein Haus (Q 10,10 f). Eine vierte Grundthese von Rau lautet: Es war vor allem der Einfluss der Pharisäer auf die von Jesus Angesprochenen, die Randsiedler Israels, die Armen, die Frauen, die Sünder, die einfachen Leute, den ʿam haʾaräz, der zu Jesu Misserfolg führte. Den Pharisäern gelang es „aufgrund ihres Ansehens, das Volk auf ihre Seite zu ziehen“ (260). Sie sind „die Gerechten“, von denen Jesus öfters sprach und um deren Verständnis er umsonst warb. Sie nehmen, wie die Reaktion des älteren Sohns in der Parabel von den zwei Söhnen in Lk 15 zeigt, Anstoss an Jesu Mahlgemeinschaften mit den Sündern, die zu Gott umkehren. Ihnen sei es „durch die Fülle ihrer Halakhot … gelungen, das Reich Gottes vor den Menschen zu verschliessen“ (Q 11,52) (103). Hier ist meine Skepsis im Ganzen grösser als meine Zustimmung. Sicher haben vor allem Jesu Mahlgemeinschaften immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt. In ihnen ging es oft um wichtige pharisäische Anliegen, vor allem um die kultische Reinheit im Alltag. Ähnlich wie Rau denke ich, dass mindestens einige der Weherufe gegen die Pharisäer und Gesetzeslehrer von Q 11 bzw. Mt 23 auf Jesus zurückgehen könnten, allerdings m. E. kaum alle. Aus-

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einandersetzungen mit Pharisäern werden in allen synoptischen Überlieferungssträngen berichtet, nicht nur bei Markus und in Q, sondern auch im lukanischen und matthäischen Sondergut. Auch das weist darauf, dass es sie gegeben hat. Auf der anderen Seite darf man hier nicht generalisieren: Bei weitem nicht alle Vorwürfe, die Jesus in seinen Scheltworten erhebt, betreffen pharisäische Anliegen: Ich denke hier etwa an die Entschuldigungen der Gäste im Gleichnis vom grossen Gastmahl (Lk 14,16–21), die zeigen, dass Menschen schlicht ihre Alltagsaufgaben für wichtiger hielten als das Gottesreich. Dem entsprechen die Menschensohnworte von den Tagen Noahs und Lots: Sie assen, tranken, heirateten, wurden geheiratet, verkauften, kauften, pflanzten, bauten (Q 17,26– 30). Auch im Vorwurf, dass die Menschen nicht angemessen auf Jesu Wunder reagiert hätten, der den Weherufen gegen die galiläischen Städte zugrunde liegt, geht es nicht um pharisäische Anliegen. Nicht zu vergessen ist auch, dass die Weherufe in ihrer älteren Fassung zwischen Pharisäern und Gesetzeslehrern unterscheiden – die letzteren brauchen nicht Pharisäer gewesen zu sein. Schliesslich möchte ich daran erinnern, dass nach Lukas Pharisäer Jesus auch zum Essen eingeladen haben (Lk 7,36 f; 14,1) und dass nach Lk 13,31 einige Pharisäer Jesus vor den Mordabsichten des Herodes Antipas warnen und ihn bitten, zu seiner eigenen Sicherheit ausser Landes zu gehen. Die Bilder, welche die evangelischen Traditionen über das Verhältnis Jesu zu den Pharisäern in Galiläa zeichnen, sind also differenziert und farbig. Ich denke, dass die grosse, ja absolute Bedeutung, die Jesus sich selbst und seinem Wirken zumass, ein wichtiger Grund gewesen ist, weswegen ihn viele Galiläer ablehnten. Man konnte ja durchaus der Meinung sein, dass Jesus nicht im Namen Beelzebuls, sondern wirklich „mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe“, wie dies ja auch andere zeitgenössische jüdische Exorzisten taten. Aber musste man deswegen auch gleich mit Jesus folgern, dass „jetzt das Reich Gottes zu euch gekommen“ sei – warum sollten die Exorzismen Jesu eine soviel grössere Bedeutung haben als die anderer jüdischer Exorzisten? Jesu hoher Selbstanspruch und seine Gewissheit, von Gott dereinst als Menschensohn inthronisiert zu werden, lassen aber keine Grautöne in der Stellung zu ihm zu. Entweder ist man ganz für ihn oder ganz gegen ihn (Q 11,23) – und daran entscheidet sich alles. Das wird nicht nur Pharisäer befremdet haben. Wenn Eckard Rau die Pharisäer fast nur als Jesu Gegner zeichnet, denen „offenbar ein massiver Einbruch unter der Klientel der Sendung Jesu gelungen ist: den Armen, Verlorenen, Sünderinnen und Sündern“ (259), so ist mir das zu einfarbig. Dass Jesus in Galiläa wohl von der Mehrzahl der Jüdinnen und Juden abgelehnt wurde, hat vielfältige Gründe, nicht zuletzt auch solche, die bei Jesus selbst und in der Steilheit seines Anspruchs liegen. Eine fünfte Grundthese Raus lautet: Die Verschärfung der Gerichtspredigt Jesu gegen das Ende seiner Galiläazeit ist „mit einer Rückbesinnung auf das Erbe vom Jordan verbunden“ (102). Jesus wird zum „Vollstrecker der Botschaft

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des Täufers“. Er hat gesehen, „dass die kurze Frist, die sein einstiger Lehrer seinen Adressaten einräumt, inzwischen verstrichen ist“ (261). Die wichtigsten Texte, die über das Verhältnis Jesu zu Johannes Auskunft geben, sind Q 7,18–22, die Anfrage der Johannesjünger, Q 7,24–28, Jesu Worte über Johannes, und Q 7,31–35, das Gleichnis von den spielenden Kindern und die daran anschliessenden Deutungsworte. Dieser letzte Text ist m. E. der wichtigste. Er setzt wohl voraus, dass Jesus seine Mahlzeiten mit Aussenseitern und Sündern als wichtiges Zeichen für die Gegenwart des Gottesreichs verstand. Zugleich lässt die Formulierung: „Der Menschensohn kam, ass und trank, und ihr sagt: Schaut, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ aufmerken: Eine pointierte Deutung dieses Wortes ist dann am leichtesten möglich, wenn man unter „Menschensohn“ den kommenden Weltrichter versteht, den „diese Generation“ auf gespenstische Weise beschimpft. Jesus, der Inaugurator des Gottesreichs, das in seinen Wundern und in seinen Mahlzeiten zeichenhaft anbricht, verstand sich m. E. als kommender Weltrichter, als Menschensohn designatus. Darum ist der Vorwurf, den die Menschen dieser Generation gegenüber „diesem Menschen, dem Fresser und Säufer“ in V 34 erheben, grotesk und folgenreich. Das Gericht ist für Jesus ein Teil, gleichsam die Rückseite des kommenden Gottesreichs, das mit ihm anbricht. So hat er m. E. das Erbe seines Lehrers Johannes interpretiert. Dieser ist, wie Q 7,18ff zeigt, unsicher, was er von diesem Anspruch seines Schülers halten soll, und Jesus gibt ihm keine direkte Antwort. Ob es eine Entwicklung im Verhältnis Jesu zu Johannes gegeben hat, hängt m. E. wesentlich davon ab, seit wann sich Jesus für den kommenden Menschensohn-Weltrichter gehalten hat. Das wissen wir nicht. Klar ist in Q 7,31–35, dass Jesus sich gegenüber „dieser Generation“ mit Johannes dem Täufer zusammensieht, trotz aller Gegensätzlichkeit in ihrem Auftreten. Mit Eckhard Rau verbindet mich die Überzeugung, dass Jesus in der Apokalyptik verwurzelt blieb und dass die Erwartung des Weltgerichts immer zu seiner Erwartung des Gottesreichs gehörte, das jetzt schon in seinem Wirken, besonders in seinen Exorzismen zeichenhaft anbricht. So kann ich verstehen, dass das Gottesreich bei Jesus zugleich gegenwärtig und doch zukünftig ist. So kann ich auch Jesu Menschensohnworte verstehen, mit denen er immer wieder sein eigenes Wirken deutet und zugleich seine Zukunftshoffnung ausdrückt. Ich glaube also nicht, wie etwa Martin Ebner, dass Jesus, als er vom Jordan nach Galiläa zurückkehrte und dort das Leben eines Aussteigers und Wanderpredigers begann, das „Fragment“ der Gottesherrschaft, das er mit seinen Exorzismen und seinen Festmählern feierte und inszenierte, rein weisheitlich verstanden hat.9 Ich glaube nicht, dass er die apokalyptischen Zukunftserwartungen seines Meisters Johannes in Galiläa ad 9 Martin Ebner, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 2003, 165 f Anm. 94.

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acta gelegt hat. Allerdings muss ich gestehen: Ich wäre froh, wenn Ebner Recht hätte, denn der apokalyptische Gerichtsprediger Jesus ist mir unheimlich und unbequem. Er ist für mich ein dunkler Jesus. Dazu möchte im dritten Teil noch etwas sagen. Zunächst möchte ich mich im zweiten Teil der Hauptfrage zuwenden: Warum ging Jesus nach Jerusalem?

II. Warum ging Jesus nach Jerusalem? Zog Jesus einfach darum nach Jerusalem, weil das Passahfest vor der Tür stand? Pilgerte er als frommer Jude nach Jerusalem? Dann hätte er Galiläa nur vorübergehend verlassen und wäre nach dem Fest wieder dahin zurückgekehrt. Jesus war zwar ein frommer Jude, aber dennoch gewinnt man nicht diesen Eindruck. Eckhard Rau stellt zu Recht fest: „Jesus ist alles andere als ein normaler Pilger. Er nutzt das Fest, dessen Riten er sich nicht unterwirft, als Forum für ein ganz und gar festfremdes, äusserst anstössiges Anliegen“ (40). Wir hören beispielsweise nichts davon, dass der Festpilger Jesus sich in Jerusalem den normalen Reinigungsriten unterzogen hätte. Rau fragt: „Markiert die Ankündigung des Gerichts über dieses Geschlecht, das Jesus abgelehnt hat, den Hintergrund für den Entschluss, nach Jerusalem zu ziehen? Und lässt sich dazu in Beziehung setzen, was wir über Jesu Auftreten in der Stadt erfahren?“ (103) Das ist in der Tat seine Vermutung: Angesichts der Tatsache, dass Jesu Botschaft vom Gottesreich in Galiläa bei der Mehrheit der Menschen dort auf Ablehnung stiess, kündigte er Gottes Gericht an. Er tat, was er seinen Jüngern für einen solchen Fall geboten hatte: Er schüttelte den Staub von seinen Füssen und ging weg. Jesu Weggang schliesst somit die Türe zur Busse zu, die vielleicht vorher noch einen Spalt weit offenstand, und setzt gleichsam seine eigene Gerichtsankündigung in Kraft. Aber wozu zog er nach Jerusalem? Rau stellt eine Alternativfrage: „Zog er nach Jerusalem, um dort trotz seines wahrscheinlichen Todes zu wirken wie bisher …?“, nämlich um in der heiligen Stadt Israels die Ankunft des Gottesreiches zu verkünden? „Oder – so Schweitzer – wollte Jesus in Jerusalem von vornherein nichts anderes als getötet zu werden, und ging, um dies zu erreichen, terroristisch gegen den Tempel vor?“ (237) Auskunft auf diese Frage könnten natürlich die Leidensankündigungen im Markusevangelium geben. Aber ich klammere jetzt die schwierige Frage einmal aus, ob es in ihnen, z. B. in Mk 9,31, der vielleicht ältesten der drei, einen Kern gibt, der auf Jesus zurückgehen könnte, und verzichte auf ihre Auswertung. Statt dessen lenke ich die Aufmerksamkeit auf einen anderen Text, der von Lukas zwischen zwei Q-Überlieferungen eingeschoben ist und diese verbindet, nämlich auf Lk 13,31–33: Einige Pharisäer warnen Jesus vor Herodes und raten ihm zur Flucht aus seinem Herrschaftsgebiet. Jesus gibt eine doppelte Antwort. In Lk 13,32 lesen wir: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen,

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heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“. Der folgende V 33 enthält eine zweite Antwort: „Jedoch muss ich heute und morgen und am darauffolgenden Tag wandern, weil es nicht angeht, dass ein Prophet ausserhalb von Jerusalem umkommt“. Den dritten Tag der Wanderung verbindet dieser Vers mit dem Prophetentod Jesu in Jerusalem. Jesus wird also aus Galiläa wegziehen und seine Wanderung in Jerusalem beenden. Dort wird er den Tod eines Propheten sterben. Die beiden Antworten stehen nicht ganz spannungsfrei nebeneinander.10 Man kann diese Spannungen ausgleichen; plausibler scheint mir aber, Vers 33 als späteren (lukanischen?) Übergangsvers zu deuten, welcher einige Stichworte aus V 32 aufnimmt und zum Jerusalemwort überleitet, das in V 34 f folgt. Dann ist V 32 deutlich älter als V 33. Er ist alt, weil er das Motiv vom dritten Tag anders braucht als dies in der evangelischen Tradition üblich ist. Was am dritten Tag geschieht, wird mit dem Passivum Divinum τελειοῦμαι angedeutet. Was ist damit gemeint? Das Wort kann auf den Tod hinweisen, wie z. B. in Sap Sal 4,13. Es ist aber ein sehr offenes Wort mit einer Fülle von Sinnnuancen: „Vollenden, zum Ziel führen, vollkommen machen“. Dass Jesu Tod gerade mit diesem Wort umschrieben wird, weist gegenüber einer einlinigen Deutung auf den Tod auf einen Sinnüberschuss: Die Vollendung ist mehr als der Tod, bzw. sie stellt den Tod in ein positives Licht. François Bovon sagt: „Die Sentenz Jesu (V 32) ist kostbar, da sie zweifellos historisch ist“.11 Das denke ich auch. Wenn das richtig ist, sagt V 32 dreierlei: Erstens, dass Jesus sein gesamtes Wirken bis zu seiner „Vollendung“ unter das Vorzeichen der Verkündigung des Gottesreichs stellte, dessen wirksame Zeichen Exorzismen und Heilungen sind. Zweitens, dass er mit seinem Tode rechnete, und drittens, dass er diesen nicht nur negativ beurteilte. V 32 schliesst also aus, dass Jesus mit der Verkündigung des Gottesreiches irgendwann aufgehört hätte und die Türe zu ihm verschlossen hätte, sodass die Verkündigung des Gerichts die Verkündigung der Ankunft der Gottesherrschaft abgelöst hätte. Vielmehr vollbringt Jesus bis zuletzt die Zeichen für die Ankunft des Gottesreichs: Exorzismen und Heilungen. Von Jerusalem spricht V 32 noch nicht. Erst der möglicherweise sekundäre V 33 präzisiert die „Vollendung“ Jesu als Prophetentod in Jerusalem. Wir können also aufgrund von V 32 nicht mehr sagen, ob Jesus selbst damit gerechnet hat, in Jerusalem den Prophetentod sterben zu müssen. Nur 13,34 f legt das nahe, sofern dieser Text auf Jesus zurückgeht. Sonst scheint das nur noch die Parabel von den bösen Weingärtnern Mk 12,1–9 vorauszusetzen. Die Echtheitsfrage ist hier aber sehr schwierig. Hat Jesus selbst hier in allegorisch verhüllter Form seine eigene Sendung kommentiert? 10 Für

den dritten Tag wird in V 33 ein anderes Wort gebraucht als in V 32. Der dritte Tag ist in V 32 der Tag der Vollendung, während in V 33 der „folgende“ Tag ein Tag der Wanderung ist und offen bleibt, ob Jesus an diesem oder einem späteren Tag den Prophetentod in Jerusalem stirbt. 11 François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35), EKK III/2, Zürich / ​ Düsseldorf 1996, 451.

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Das ist nicht ausgeschlossen. Jesus würde sich dann in der Tradition der von Gott zu Israel geschickten Propheten sehen, aber zugleich als „mehr als ein Prophet“. Das würde gut zu anderen Jesusworten passen. Er würde auch damit rechnen, dass der bisher so geduldige Gott auf seinen Tod reagieren werde. Aber Urteile über Mk 12,1–9 sind sehr schwierig.

Ich füge ein paar Bemerkungen zum Jerusalemwort Q 13,34 f an. Vor allem Christian Riniker hat mich davon überzeugt, dass wir es hier am ehesten mit einem echten Jesuswort zu tun haben.12 Früher habe ich die Meinung vertreten, der Sprecher dieses Wortes sei ein urchristlicher Wanderprophet, der im Namen Jesu Jerusalem das Gericht ankündigt.13 Aber die zweite Gerichtsankündigung in V 35 b passt schlecht zu dieser These: „Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis (der) kommt. wann ihr sagen werdet: ,Gelobt ist, der kommt im Namen des Herrn‘„.14 Noch weniger überzeugt bin ich, dass man, wie seit David Friedrich Strauss und Odil Hannes Steck15 viele und jetzt auch Silke Petersen16 vorschlagen, die Weisheit als Sprecherin dieses Wortes annehmen sollte. Eine solche Deutung legte sich nur nahe, wenn der mt Kontext ursprünglich wäre und Q 13,34 (= Mt 23,37) sich auf das Weisheitswort Q 11,49 (= Mt 23,34) zurückbezöge – aber der matthäische Kontext ist eine Schöpfung des Evangelisten. Ausserdem wäre der Schlussvers 35 b sehr schwer zu verstehen – gibt es eine Wiederkunft der Weisheit? Nimmt man aber Jesus als Sprecher, so lässt sich der Vers sehr kohärent deuten, sofern man annimmt, dass Jesus sich für den Menschensohn designatus gehalten hat. V 35 b spricht dann von seiner Parusie. Interessant ist, dass das Wort mehrere Jerusalembesuche Jesu voraussetzt.17 So erzählt es auch das Johannesevangelium und so war es auch für die meisten Juden im Land Israel üblich. Aber Jesus kam offenbar auch bei früheren Besuchen nicht einfach als Jerusalempilger, sondern als prophetischer Verkünder des Gottesreichs, der sein Volk sammeln wollte. Ob er auch bei seinem letzten Jerusalembesuch wieder so gewirkt hat, wissen wir nicht. Aber nicht nur in Galiläa, sondern auch in Jerusalem ist offensichtlich seine Verkündigung zum Abschluss gekommen – Jesus blickt darauf zurück. Die Ankündigung im Gerichtswort V 35 a, dass der Tempel von Gott verlassen sein würde, passt gut zum mehrfach belegten Wort Jesu gegen den Tempel (Mk 13,2; 14,58 etc). In V 35 b kündigt dann Jesus Jerusalem sein eigenes Verschwinden an, ohne näher 12 Christian

Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jdesu, EHS XXIII/653, Bern u. a. 1999, 421–426. 13 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Zürich / ​Neukirchen 1997, 380 f. 14 Sollte man annehmen, dass der Wanderprophet in der Begleitung des Parusie-Christus wieder kommen wird? 15 Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, Neukirchen 1967, 227–239. Weitere bei Luz a. a. O. (Mt 18–25), 378 Anm. 12, 16 Silke Petersen, Mutmassungen über eine mögliche These, oder: Was erwartete Jesus in Jerusalem?, in: Rau, Perspektiven (o. Anm. 2), 305 f. 17 Ebenso Petersen, Mutmassungen 286.

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zu umschreiben, was nun mit ihm passieren oder wohin er gehen würde. Durch sein Verschwinden und Unsichtbarwerden wird das Gericht über Jerusalem definitiv – es gibt kein Angebot zur Busse mehr. V 35 b lässt sich am besten verstehen, wenn man annimmt, dass Jesus mit seiner Inthronisation zum Menschensohn-Weltrichter rechnete. Dann – und erst dann – werden ihn die Jerusalemer wieder sehen, wenn er als Weltrichter sichtbar wird. In Verbindung mit seiner Menschensohnerwartung lässt sich m. E. das Wort am leichtesten deuten: Das Schelt‑ bzw. Klagewort in V 34 und das zweiteilige Gerichtswort in V 35 passen so gut zusammen und lassen sich ins Ganze der Verkündigung Jesu integrieren. Die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man das Wort als jüdisches oder christliches Weisheitswort deutet oder wenn man es als urchristliches Prophetenwort deutet, lassen sich so vermeiden. Allerdings zeigt das Wort wieder einen sehr fremden und unheimlichen Jesus. Mit diesem Wort sind wir also bereits in Jerusalem. Bei seinem Einritt in die heilige Stadt hatte es messianische Ovationen gegeben, die Jesus jedenfalls nicht zurückgewiesen hat, obwohl sie in aller Öffentlichkeit geschahen. Jesu Verhalten war jedenfalls provokativ – und riskant. Ähnliches gilt kurz darauf von seiner Tempelaktion (Mk 11,15–17) und der vielleicht bei dieser Gelegenheit erfolgten Weissagung gegen den Tempel. Zuletzt hat Silke Petersen darüber im Schlusskapitel von Raus Buch ausführlich gehandelt – und ich kann mich ihren Ausführungen weitgehend anschliessen.18 Petersen hält Jesu Tempelaktion für eine begrenzte Aktion, eine etwas turbulente prophetische Symbolhandlung vermutlich in der südlichen Tempelvorhalle. Jesus wollte damit entweder die im Tempel herrschende Kommerzialisierung geisseln, oder ein Zeichen für die Heiligkeit des Tempels setzen (vgl. Mk 11,16)19 oder das Ende des Opferkultes20 oder – als vierte Deutungsmöglichkeit – die Zerstörung des Tempels21 ankündigen. Die Vielfalt in der Forschung vertretenen Deutungsmöglichkeiten macht deutlich, dass die Zeichenhandlung als solche überhaupt nicht klar ist. M. E. ist beim Umstürzen der Tische der Händler, Geldwechsler und Taubenverkäufer der sozialkritische und hierarchiekritische Aspekt am deutlichsten – der Tempel ist kein Ort zum Profit‑ oder Geschäftemachen, sondern ein – in diesem und nicht in einem rituellen Sinn – heiliger Ort. Als prophetische Zeichenhand18 Petersen,

Mutmassungen 280–305. z. B. Dieter Zeller, Die Beseitigung des Handels im Tempel (Mk 11,15–19), in: Reinhard Wunderlich / ​Bernd Feininger (Hg.), Variationen des Christseins – Wege durch die Kirchengeschichte, Übergänge 7, Frankfurt u. a. 2006, 65–81, dort 75–78. 20 Vgl. bes. Jostein Adna, Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, WUNT II 119, Tübingen 2000, bes. 444–448; ders., Jesus’ Symbolic Act in the Temple (Mark 11,15–17): The Replacement of the Sacrificial Cult by his Atoning Death, in: Beate Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel / ​Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults, WUNT 118, Tübingen 1999, 461–475. 21 Vgl. bes. Ed Parish Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985, 61–76. 19  So

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lung, welche die bevorstehende Zerstörung des Tempels oder das Ende des Opferkultes ankündigte, ist die Zeichenhandlung für sich noch nicht eindeutig – da bräuchte es schon eine entsprechende Erklärung durch Jesus. Hat Jesus bei dieser Gelegenheit von der Zerstörung des Tempels gesprochen?22 Das kann gut sein; aber wir wissen es leider nicht sicher. Am sichersten ist mir der provokatorische Charakter des Tempelaktion: Schon zum zweiten Mal – nach dem „messianisch“ stilisierten Einzug in die Stadt – hat Jesus ein demonstrativ provokatives Auftreten in einer sehr heiklen Situation nicht gescheut. Sozusagen sicher ist sodann, dass Jesus tatsächlich von der bevorstehenden Zerstörung des Tempels gesprochen hat. Aber mit welchem Wortlaut? Silke Petersen hält nur die Ansage der Zerstörung (wie in Mk 13,2) für jesuanisch. Er hat nach ihr nicht vom Wiederaufbau des Tempels „in drei Tagen“ gesprochen, wie immerhin Markus und Johannes übereinstimmend berichten. Für sie spricht das Argument der einfachsten These und die Tatsache, dass die Fassung von Mk 14,58 von den christlichen Tradenten als Falschzeugnis abgewehrt wird. Immerhin bleibt auffällig, dass nach Gal 2,9 die Kirche als neuer Tempel angesehen wurde, dessen „Säulen“ Petrus, Jakobus und Johannes waren. Wir stossen hier auf die vermutlich älteste gesamtkirchliche Ekklesiologie des Urchristentums. Hat sie einen Anhalt am Jesu Tempelzerstörungslogion? Ich wage keine Entscheidung. Lk 12,49 f 23 ist eines der rätselhaftesten Jesusworte; es ist besonders schade, dass Rau es nicht mehr behandeln konnte. Das Wort ist lukanisches Sondergut, steht aber in Lk 12 in einem Q-Zusammenhang, den Matthäus zertrümmert hat. Es ist also denkbar, dass das Wort in der Logienquelle stand und von Matthäus weggelassen wurde. Bei Lukas besteht es aus zwei Teilen, die in einem antithetischen Parallelismus miteinander verbunden sind. Sein erster Teil ist auch im Thomasevangelium (log 10) erhalten; sein zweiter Teil scheint in Mk 10,38 anzuklingen. Das Doppellogion ist sehr alt: V 49 enthält mehrere Semitismen; V 50 ist dadurch auffällig, dass das Wort βάπτισμα eine metaphorische Bedeutung hat, die vom christlichen Taufverständnis und damit auch vom lukanischen Sprachgebrauch völlig unbeeinflusst ist. Dass V 49 ein authentisches Jesuswort ist, vertritt heute wohl die Mehrheit der Forschung. Über V 50 gehen die Meinungen weit auseinander. Zuerst einige Bemerkungen zu V 49: Das Unähnlichkeitskriterium und der Semitismus τί θέλω sprechen für Herkunft von Jesus. An „Feuer“ kann man Verschiedenes assoziieren; in biblischer und frühjüdischer Tradition ist aber die Assoziation an das Gerichtsfeuer am verbreitetsten. Die Wendung πῦρ βάλλειν lässt an etwas Zerstörerisches denken, was gut zur Deutung des Feuers auf das 22 Das nimmt auch Gerd Theißen an: Die Bedeutung der Tempelprophetie Jesu für die ersten Christen, in: ders. u. a. (Hg.), Jerusalem und die Länder. Ikonographie – Topographie – Theologie (FS. M. Küchler), NTOA 70, Göttingen 2009, 159 f. 23 Vgl. dazu meinen o. Anm. 1 genannten Aufsatz, Abschnitt IV. 1.

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Gericht passte. Jesus versteht sich also wohl als der, der das Gerichtsfeuer entzündet. Das passt zwar grundsätzlich zu seinen Gerichtsankündigungen – aber Jesus denkt hier an mehr als an seine Tätigkeit als Gerichtsprophet. Er kündigt ja das Feuer, das er auf die Erde wirft, nicht nur an, sondern er sieht sich selbst gleichsam als Brandstifter. Die zweite Hälfte von V 49 drückt einen eigenartigen Wunsch aus, den ich folgendermassen paraphrasiere: Wie sehr wünschte ich, Gott hätte das Gerichtsfeuer bereits entfacht! Jesus sehnt sich also nach dem künftigen Gericht Gottes, das er selbst auf die Welt bringen muss. Das Wort enthält wohl eine Reminiszenz an die Gerichtsverkündigung Johannes des Täufers, nämlich an seine Ankündigung des Stärkeren, der mit Geist und Feuer taufen wird (Q 3,16). Sollte der Täufer mit dem „Stärkeren“ den kommenden Menschensohn gemeint haben, so würde das gut zu Jesu Selbstverständnis als Menschensohn designatus passen. Viel schwieriger ist V 50. Auch hier liegt eine Reminiszenz an das Wort vom Stärkeren von Johannes vor, diesmal durch das Wort βαπτίζω. Sie kann sehr verschieden verstanden werden – inhaltlich und entstehungsgeschichtlich. Claus Peter März deutete V 50 als lukanische Erweiterung von V 49:24 Lukas habe das schwierige Jesuswort von V 49 mithilfe einer Reminiszenz an Mk 10,38 erweitert. Dadurch hat er vielleicht das Wort vom „Feuer“ auf das Pfingstfeuer bezogen: Jesus würde dann in V 49 ausdrücken, wie sehr er sich nach dem Pfingstfeuer sehnt, das er auf die Erde werfen wird – aber vorher muss er durch die „Taufe“ seines Todes gehen, die ihm Angst macht.25 Vor Pfingsten kommt also Getsemani! Ich selber möchte die Entstehungsgeschichte von V 50 nicht so erklären wie März: Die sekundäre Schaffung eines Parallelismus wäre für Lukas einmalig. Einmalig wäre für ihn auch diese metaphorische Bedeutung von βάπτισμα. Für mich ist der Parallelismus eher vorlukanisch und das Jesuswort Mk 10,38 eine Reminiszenz an unser Jesuswort – nicht umgekehrt. Das ist auch darum wahrscheinlicher, weil es ja in Mk 10,38 in ein Apophthegma eingebettet ist. Lk 12,50 könnte dann, genau so wie die erste Hälfte des Parallelismus Lk 12,49, auch ein Jesuswort sein. Das könnte so sein, ist aber nicht mehr als eine Hypothese. Angenommen, sie sei richtig – was würde dann Jesus mit diesem bildhaften Rätselwort andeuten? Βάπτισμα und βαπτίζω haben dann nichts mit der späteren Taufe zu tun, sondern wären ein Bild für das „Untertauchen“ in eine Wasserflut, das Jesus erleiden muss, am ehesten eine offene Metapher für Bedrängnis und Leiden.26 Dale 24 Claus-Peter März, ,Feuer auf die Erde zu werfen bin ich gekommen …‘ in: ders., „… Lasst eure Lampen brennen!“, EThS 20, Leipzig 1991, 10–12. 25 So Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, 2008, 469 („die Deutung mit den geringsten Problemen“). 26 Vgl. Gerhard Delling, Βάπτισμα βαπτισθῆναι, in: ders., Studien zum Neuen Testa­ ment und zum hellenistischen Judentum, Berlin 1970, 239–245. Direkte Belege für das Wort βάπτισμα gibt es allerdings keine.

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I. Studien zu Jesus

C. Allison deutet dieses Bild auf die bedrängende Flut der Drangsale beim Kommen des Gerichts.27 Er kommt damit ganz in die Nähe der Jesusdeutung von Albert Schweitzer, der sich – merkwürdigerweise! – nie auf Lk 12,50 berufen hat. Für Jesus selbst wäre dann mit dem Kommen des Gerichts eine Leidenserfahrung verbunden, die ihm sehr zusetzt. Mehr als dies können wir nicht sagen, und auch das ist nur eine denkbare Hypothese. Wenn Jesus hier von seinem bevorstehenden Tod gesprochen hätte, dann hätte er dies nur andeutend getan, übrigens ähnlich wie in Lk 13,32 oder in Q 13,34 f. Welchen Sinn sein Tod haben könnte, deutet er nicht an. Es gibt also keine direkte Brücke von Lk 12,49 f zu den Abendmahlsworten Jesu. In ihnen – nämlich im sog. eschatologischen Ausblick von Mk 14,25 – rechnet Jesus fest mit seinem Tod. Er stellt ihn in das Licht des zukünftigen Gottesreiches. Mit seinem Kommen rechnet er nach wie vor fest – sein Tod stellt das nicht in Frage. Seine letzte Mahlzeit mit seinen Jüngern ist für ihn eine Vorwegnahme des eschatologischen Mahls im Gottesreich. Sie ist damit zugleich eine Brücke zwischen seinen früheren Mahlzeiten mit Sündern und Zöllnern, die dieses abbildeten, und dem kommenden Mahl im Gottesreich. Eine Deutung seines eigenen Todes enthalten Jesu Worte bei diesem Mahl nur dann, wenn wir das Brot‑ und vor allem das Becherwort in Mk 14,22–24 für authentisch halten dürfen. Ich bin hier relativ zuversichtlich, weil ich denke, dass der sehr eigenartige Ritus, dass ein einziger Becher unter den am Mahl Teilnehmenden kreiste, gedeutet werden musste. Schürmanns These, der dies vertrat, steht m. E. nach wie vor unerledigt im Raum.28 Ich muss dann aber auch erklären, warum sonst in der synoptischen Tradition nur in in Mk 10,45 vom Sühnetod Jesu die Rede ist. Für mich ist diese Spärlichkeit ein Hinweis darauf, dass die Erinnerung an Jesu im ganzen sehr zuverlässig ist. Wenn Jesus selbst nur ein einziges Mal, nämlich bei seiner letzten Mahlzeit, seinen bevorstehenden Tod als Sühnetod gedeutet hat, verstehe ich gut, warum diese Deutung nicht auf breiter Front in die Erinnerungen seiner Jünger an seine irdische Wirksamkeit eingedrungen ist. Ich muss aber auch erklären, warum in den neutestamentlichen Briefen diese und ähnliche Deutungen des Todes Jesu als Tod „für uns“ eine so grosse Rolle spielen. Auch das verstehe ich gut: Wenn die Jüngerinnen und Jünger Jesu nach seinem Tod die Mahlzeiten, die Jesus mit ihnen gefeiert hatte, in der Erwartung des Gottesreichs und seiner Wiederkunft weiter feierten, dann blieben seine Worte beim letzten Mahl lebendig. M. E. sind die eigenen Mahlfeiern und ihre Liturgie – und nicht die Erinnerung an den verstorbenen Jesus – die Hauptquelle für die vielfältigen urchristlichen Deutungen des Todes Jesu „für uns“.

27 Dale

C. Allison, The End of the Ages has Come, Philadelphia 1985, 124 f. Schürmann, Jesu ureigener Tod, Freiburg u. a. 21976, 79–90.

28 Heinz

8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem?

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III. Zusammenfassung und Schlussreflexion Zog Jesus nach Jerusalem, um dort weiterhin das Gottesreich zu verkünden, oder zog er nach Jerusalem, um dort zu sterben? So hatte Eckard Rau die Alternativfrage gestellt (237). Silke Petersen hat sich am Schluss ihrer Ausführungen dieser Alternativfrage verweigert: „Jesus bewegt sich ins religiöse, politische und symbolische Zentrum seines Landes, seiner Religion und seiner Welt, weil er dort den Anbruch der Endzeit erwartete, und nicht, weil er dort sterben wollte.“29 Ich stimme ihrem Hauptsatz voll zu, nicht aber ihrem Schlusssätzlein „und nicht, weil er dort sterben wollte“. Nehme ich die geheimnisvoll andeutenden Ankündigungen Jesu seiner Vollendung und seines Verschwindens in Lk 13,32 und Q 13,35 b und eventuell in Lk 12,50 zusammen und vergleiche sie mit Jesu bewusst provokativem Verhalten in Jerusalem, so komme ich zum Schluss: Jesus hat sein Sterben nicht nur als Möglichkeit in Kauf genommen, sondern er wollte sterben. Auf die Leidensankündigungen brauche ich mich bei dieser Schlussfolgerung gar nicht abzustützen. Ich stehe also näher bei Albert Schweitzer als Silke Petersen. Bei der Frage nach einem möglichen Sinn, den Jesus seinem Tod gegeben haben könnte, kann ich allerdings nur tastend eine Antwort geben: Möglicherweise hat er seinen Tod als Sühnetod verstanden. Was hätte Eckhard Rau selber für eine Antwort gegeben? Wir wissen es nicht. Das Produktive an seinem unvollendeten Buch ist, dass es uns dazu anregt, unsere eigenen Buchschlüsse zu konstruieren. Für mich ist die Menschensohnfrage ein Kernstück meiner Deutungsversuche: Wenn Jesus sich selbst für den jetzt im Verborgenen wirkenden und in naher Zukunft von Gott sichtbar zum Weltrichter inthronisierten Menschensohn gehalten hat, dann verstehe ich, warum für ihn das Gericht wohl immer – und nicht erst nach einer späten Rückwendung zu Johannes dem Täufer – die Kehrseite seiner Gottesreichverkündigung war. Ich verstehe, warum Jesus prophetische Traditionen zwar aufgenommen, aber immer auch überboten hat. Ich verstehe, warum er auf sich und seine Worte ein alles entscheidendes Gewicht legte: „Jeder, der zu mir kommt und meine Worte hört und sie tut“, der gleicht einem Hausbauer, der sein Haus auf ein tragfähiges Fundament baut (Q 6,47). Ich verstehe, warum er seinen Tod bewusst riskierte, ja suchte, und ihn zugleich geheimnisvoll als „Vollendung“ oder als – vorübergehendes – Verschwinden deuten konnte. Ich komme zu einem letzten Punkt, über den ich zutiefst erschrocken bin: Der, den ich dergestalt andeutungsweise verstehe, freut mich gar nicht, sondern beunruhigt mich tief. Wenn ich sehe, dass Jesus seinen eigenen Tod wahrscheinlich sogar bewusst wollte und dass er vermutlich nicht, wie so viele andere, ganz ungewollt und unschuldig in die Speichen des Weltrades geriet, das ihn dann zermalmte, dann denke ich nicht zuerst, wie die synoptischen 29 Petersen,

Mutmassungen (o. Anm. 16), 311.

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I. Studien zu Jesus

Leidensankündigungen und die Evangelisten, an den Plan Gottes, den Jesus hier erfüllte. Nein, ich bin einfach erschrocken. Es ist ein dunkler, unheimlicher Jesus, den ich rekonstruiert habe. Es ist ein Jesus, der nicht einfach nur das Gottesreich als unbegreifliche Liebe und Zuwendung zu den unterprivilegierten und benachteiligten Gliedern des Volkes Israel, den Armen, den Frauen und den Marginalisierten verkörperte. Sondern es ist ein Jesus, der zugleich diese Zuwendung und Liebe in so unheimlicher Weise an seine eigene Person bindet, dass am Schluss ein Nein zu seiner Person Gottes ganze Liebe in den dunkeln Abgrund seines Gerichtes zu reissen droht. Was hätte ich zu diesem Menschen gesagt, wenn er mir auf den Strassen unserer Städte begegnet wäre? Ich hätte wohl den Kopf geschüttelt über diesen Fanatiker, hätte ihm eine Weile zugehört und wäre dann meiner Wege gegangen – Gerichtsankündigung hin oder her. Ich gestehe offen, dass ich Gott dafür dankbar bin, dass er diesen Jesus hat scheitern lassen und ihn nicht zum Weltrichter einsetzte. Ich danke Gott, dass er mit dem Weltgericht zugewartet hat. Vielleicht ist es eine grosse Gnade Gottes, dass Jesus sich getäuscht hat. Nur das hat der grenzenlosen Liebe zu den Kleinen, den gesellschaftlichen und religiösen Randsiedlern, die Jesus als Anfang des Gottesreichs verkündigte und verwirklichte, eine Chance gegeben. Nur das hat Jesu Nachfahren, von Paulus bis zu Albert Schweitzer, zugleich genötigt und ihnen die Möglichkeit gegeben, Jesus zu verwandeln und ihn – verwandelt – auf neue, andere Weise lebendig werden zu lassen, als Zeichen der Hoffnung und nicht des Gerichts. Damit habe ich etwas von dem angedeutet, was für mich – nur für mich persönlich – Jesu Auferstehung bedeuten könnte.

II. Studien zur Logienquelle

9. Einleitung Dieses Kapitel umfasst drei Aufsätze. Der erste ist kein Aufsatz, sondern die Veröffentlichung meines Q-Texts. Ich hatte ihn 1978 für eine Göttinger Vorlesung geschrieben und hektographiert an die Studierenden verteilt. Zu meiner Überraschung wurden Teile davon – ohne mein Wissen – ein paar Jahre später in den USA in den SBL Seminary papers veröffentlicht.1 Ich hatte damals überhaupt nicht die Absicht, diesen Text zu publizieren. Warum veröffentliche ich ihn jetzt, nachdem im Jahre 2000 der Q-Text des Internationalen Q-Projektes (IQP) veröffentlicht wurde2 und zusätzlich die vielen Folgebände der Reihe „Documenta Q“, welche die „textkritischen“ Grundlagen, die zum internationalen Q-Text geführt haben, für die einzelnen Texte dokumentieren?3 Eben deshalb! Der QText ist endgültig verloren.4 Keine Rekonstruktion kann ihn wiederherstellen, und sei sie noch so sorgfältig dokumentiert. Der internationale Q-Text scheint sich aber heute als der Q-Text zu etablieren. Das halte ich für schädlich, denn den Referenztext für Q gibt es nicht. Darum habe ich mich entschlossen, meinen alten, gegenüber der Fassung von 1978 verbesserten Q-Text zu veröffentlichen, nicht, weil er ein besserer Q-Text wäre als der des IQP, sondern weil er ein anderer Q-Text ist. Wodurch unterscheidet sich mein Q-Text von dem des IQP? 1. Ich weiss weniger als die Rekonstrukteure des IQP. An manchen Stellen, wo diese einen Q-Text rekonstruieren, habe ich darauf verzichtet, weil mir jeder Rekonstruktionsversuch aussichtslos zu sein scheint. Als Beispiele nenne ich den Anfang der Versuchungsgeschichte Q 4,1 f oder den Anfang der Geschichte vom Hauptmann von Kafarnaum Q 7,2–6 a. 1 Ulrich Luz, Sermon on the Mount / ​Plain, Reconstruction of QMt and QLk, SBL.SP 22, 1983, 473–479; ders., Q 3–4, SBL.SP 23, 1984 375 f; Ders., Q 10:2–6; 11:14–23, SBL.SP 24, 1985, 101 f. 2 James M. Robinson / ​Paul Hoffmann / ​John S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q, Leuven 2000; Studienausgabe: Paul Hoffmann / ​Christoph Heil, Die Spruchquelle Q, Darmstadt / ​Leuven 2002. 3 James M. Robinson (Hg.), Documenta Q: Reconstructions of Q through two Centuries of Gospel Research, excerpted, sorted and evaluated: The Database of the International Q Project, 1996–2014, 12 Bände. 4 Mein viel zu früh verstorbener Freund Fritz Stolz hat den Verlust von Q zum Gegenstand eines Kriminalromans gemacht, den ich an dieser Stelle gerne in Erinnerung rufe und zur Lektüre empfehle: Fritz Stolz, Kirchgasse 9, Zürich 1995.

152

II. Studien zur Logienquelle

2. Mein Q-Text endet mit Q 17,37 und umfasst somit manche Texte nicht, die vom IQP und von den meisten Forschern fast selbstverständlich zu Q gerechnet werden. Für die Zuweisung eines Textes zu einer schriftlichen Logienquelle muss m. E. nicht nur die Übereinstimmung im Wortlaut signifikant sein, d. h. über die vom Inhalt des Textes her erwartbaren Wortlautübereinstimmungen deutlich hinausgehen, sondern es muss m. E. auch möglich sein, einen Text einem der thematischen Blöcke, aus denen Q bestand, zuzuweisen und seinen mutmasslichen Ort innerhalb dieses Blocks anzugeben. Es liegt auf der Hand, dass dies für die nach der Endzeitrede Q 17 stehenden Doppelüberlieferungen nicht mehr möglich ist. Ich rechne deshalb das Talenten / ​Minengleichnis – mit minimalen Wortlautübereinstimmungen! – und Lk 22,28–30, wo Wortlautübereinstimmungen sich fast nur am Schluss finden, nicht zur schriftlichen Quelle Q, sondern zur mündlichen Überlieferung. Schwierig ist die Situation auch im zweiten Teil des lukanischen Reiseberichts, also zwischen Lk 14 und Lk 17,22, wo Doppelüberlieferungen nur noch vereinzelt zwischen Sondergutstexten auftauchen. In diesem „ausgefransten“5 Teil von Q sind thematische Blöcke kaum mehr auszumachen. Ich rechne deshalb Texte wie die Parabel vom grossen Gastmahl (Lk 14,15–24) oder das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,3–7) nicht zu Q. Nur für die Logiengruppen Lk 14,26 f + 17,33; Lk 16,13–18 und Lk 17,1–6 gibt es vor allem aufgrund der Reihenfolge ihrer matthäischen Parallelen eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Q-Text gehörten.6 3. Bei manchen Textkomplexen habe ich zwischen QMt und QLk unterschieden. Es handelt sich dabei um Textkomplexe, deren Zugehörigkeit zur Logienquelle aufgrund ihrer Stellung im Ganzen der Quelle und aufgrund der gleichen Reihenfolge der Einzeltexte ziemlich wahrscheinlich ist. Ihre Wortlautübereinstimmung ist jedoch relativ gering, und es war mir dort kaum möglich, nach Abhebung der jeweils als Redaktion der Evangelisten erklärbaren Textteile einen beiden Evangelien gemeinsamen Grundtext zu rekonstruieren. Es handelt sich dabei oft um Textabschnitte, bei denen vermutlich der Einfluss mündlicher Textversionen gross war, weil sie häufig gebraucht wurden. Solche Textkomplexe habe ich zweispaltig dargestellt. Ein Musterbeispiel dafür ist die Feldrede Q 6,20–49. In solchen Textkomplexen habe ich auch Texte, die man als Sondergut von QMt oder QLk bezeichnen könnte, aufgenommen. Nun muss ich allerdings vor Missverständnis warnen: Ich meine nicht, dass es unterschiedliche Versionen von Q nur in denjenigen Teilen von Q, die ich zweispaltig dargestellt habe, gegeben hat. Dass religiöse Literatur aus subliterarischen Milieus in verschiedenen Versionen zirkulierte, ist ebenso selbstver5 Christoph

Heil mündlich. u. Aufsatz Nr. 12 Abschnitt II Nr. 2 und in meinem Q-Text = Aufsatz Nr. 10, Texte Nr. 44–52. 6 Vgl.

9. Einleitung

153

ständlich wie dies, dass mündliche Textversionen bei allen Texten den schriftlich niedergelegten Text prägen konnten und umgekehrt. Ich denke also, dass es von der ganzen Logienquelle verschiedene Versionen gegeben hat, von denen dann zwei von Mt und Lk in ihre Evangelien eingearbeitet wurden. Nur sie sind uns noch greifbar. Ein besonderes Problem stellen die Sondertexte dar, die es in QMt und in QLk gegeben haben dürfte.7 Sie sind im Falle von QMt wohl nicht sehr zahlreich und spiegeln in vielen Fällen dasselbe judenchristliche Milieu, aus dem m. E. die ganze Logienquelle stammt. Im Falle von QLk ist das Problem der Sondertexte sehr viel schwieriger: Im Unterschied zu den Markus-Blöcken des Lukasevangeliums, in denen kaum nicht-markinische Stoffe auftauchen, sind in die NichtMarkus-Blöcke immer wieder Texte eingeschoben, die wir als Sondergut bezeichnen. In der kleinen Einschaltung (Lk 6,20–8,3) sind sie relativ spärlich, in der grossen Einschaltung, dem lukanischen Reisebericht (Lk 9,51–18,14), sind sie zahlreicher. In beiden Einschaltungen überwiegen Doppelüberlieferungen, also Q-Texte, in ihrem ersten Teil, während Sondergutstexte in ihrem zweiten Teil überwiegen (also etwa in Lk 7,11–8,3 bzw. in Lk 14,1–18,14). Plausible redaktionsgeschichtliche Erklärungsmöglichkeiten, welche die Mischung von Q-Texten und Sondergutstexten „lukanisch“ erklären könnten, gibt es in vielen Fällen nicht. War also QLk ein gegenüber der aus Doppelüberlieferungen bestehenden Q-Quelle ein erheblich erweitertes und umgestaltetes Dokument? Ich weiss es nicht. In den meisten neueren Kommentaren zum Lukasevangelium und auch in manchen neueren Einleitungen ist eine gewisse Unlust zu spüren, sich mit der Quellenfrage im 3. Evangelium intensiv zu beschäftigen.8 Die Forschung scheint hier resigniert zu haben. Ich kann das gut verstehen, denn auch ich bin in Bezug auf QLk ratlos. Eine weitere Schwierigkeit bei der Rekonstuktion des Q-Textes bzw. von QMt und QLk besteht in der Beurteilung des Redaktion. Hier gibt es einen grossen Ermessensspielraum. Ich neige dazu, sprachlichen und stilistischen Überlegungen wie z. B. dem Vorzugsvokabular der Evangelisten ein relativ grosses Gewicht zu geben, weil solche Überlegungen kontrollierbar sind. Das ist im Falle des Matthäusevangeliums sicher gerechtfertigt. Im Fall des Lukasevangeliums ist das aber schwieriger, denn Lukas war ein Schriftsteller mit sehr reichem Vokabular und einer grossen stilistischen Anpassungs‑ und Modulationsfähigkeit. Warum sollte ein Evangelist etwas nicht einmal auf eine Weise formulieren dürfen, wie er es sonst nie tat? Dann aber wäre seine „Redaktionstätigkeit“ nicht mehr wis7 Zu

den Sondertexten von QMt vgl. u. Aufsatz Nr. 12 Abschnitt III. z. B. die Kommentare von Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/3, Göttingen 2006, dort 44–48 und Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, dort 12–14. Als Beispiele für Einleitungen vgl. Dietrich Rusam, in: Martin Ebner / ​Stefan Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, dort 187 f; Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 31999, dort 266. 8 Vgl.

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II. Studien zur Logienquelle

senschaftlich kontrollierbar. Mit schriftstellerischen Freiheiten des Evangelisten müssen wir aber immer rechnen. Mit anderen Worten: Jede Rekonstruktion eines Q-Textes spiegelt auch die Weise, wie ein Neutestamentler die Redaktion der ihm vorliegenden Texte der Evangelien versteht. Was heisst das für die Rekonstruktion von Q, bzw. QMt und QLk ? Es heisst, dass die Versionen von QMt und QLk dort, wo ich sie als unterschiedliche Versionen zweispaltig abgedruckt habe, möglicherweise nie so existiert haben, wie ich sie rekonstruiert habe. Vielmehr sagt die Zweispaltigkeit zunächst etwas über mich als Rekonstrukteur des Q-Textes aus: Sie besagt, dass für mich die Schwierigkeiten, durch eine kontrollierte Abhebung der Redaktionen von Mt und Lk einen Q-Text zu rekonstruieren, zu gross waren, und dass ich deshalb darauf verzichtete. Genau so wenig besagt die Einspaltigkeit eines Q-Textes weder, dass es in diesem Bereich von Q keine unterschiedlichen Textversionen gegeben hat, noch, dass der den Evangelisten vorliegende Q-Text genau so ausgesehen hat, wie ich ihn rekonstruiert habe. Sie besagt nur, dass für mich die Schwierigkeiten, die Redaktion kontrolliert abzuheben, in diesen Textkomplexen kleiner waren, sodass ein gemeinsamer Grundtext rekonstruierbar war. Dabei kann ich nur hoffen, in beiden Fällen bei der Abhebung der Redaktion mit der gleichen Elle gemessen zu haben. In diesem Sinn ist die Hypothese von unterschiedlichen Q-Versionen eine Verlegenheitshypothese. Jeder Q-Text ist also eine Konstruktion, die nicht nur etwas über den Q-Text, sondern auch etwas über die wissenschaftlichen Kriterien ihrer Konstrukteure sagt. Das gilt für den IQP-Text von Q ebenso wie für den meinigen. Um das deutlich zu machen, wollte ich dem IQP-Text einen eigenen Q-Text gegenüberstellen, sozusagen als kleines Fragezeichen am Rande dieses grossen internationalen Forschungsprojekts. Die beiden anderen Aufsätze dieses Hauptteils beleuchten Q aus der Sicht des Matthäusevangeliums. Der erste, „Matthäus und Q“ (= Nr. 11), ist der an einigen Stellen korrigierte Abdruck eines 1998 in der Festschrift für Paul Hoffmann veröffentlichten Festschriftartikels. Der zweite, „Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her“ (= Nr. 12), geht auf einen 2007 in Lausanne gehaltenen Vortrag zurück, der zuerst in französischer Sprache und dann in der Festschrift für Christopher Tuckett in englischer Sprache veröffentlicht wurde und hier erstmals in der deutschen Originalfassung – in leicht gekürzter Gestalt – erscheint. In beiden Aufsätzen ist die Fragestellung dieselbe. Was war die Logienquelle für ihren Leser und Benutzer Matthäus? Was war für ihn der Umfang von Q? Besonders wichtig ist mir die Frage, wie Matthäus den Q-Stoff in sein Evangelium eingearbeitet hat. Er hat entweder ganze Q-Blöcke eingefügt oder er hat mit Exzerpttechnik einzelne Q-Logien an thematisch passenden Stellen seines Evangeliums eingefügt. Im ersten Fall kann man zeigen, dass für die Platzierung eines Q-Blocks entweder die Stellung von Paralleltexten oder „Aufhängertexten“ im Markusevangelium oder eigene konzeptionelle Über-

9. Einleitung

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legungen entscheidend waren, kaum aber die Stellung eines Blockes in Q. Im zweiten Fall lässt sich zeigen, dass Mt den Q-Text oft „fortlaufend“ exzerpierte, sodass die relative Reihenfolge der Q-Logien im Matthäusevangelium erhalten blieb, auch wenn sie nun nicht mehr direkt nebeneinander standen. Die QQuelle war also für Matthäus wichtig, weil sie Jesusüberlieferungen enthielt, aber nicht als literarisches Dokument. Ihre Logien hat er in vielen Fällen sehr wörtlich überliefert, ihren Aufbau dagegen hat er zerstört, indem er ihre Stoffe in seine neue, von Markus bestimmte Jesusgeschichte einfügte. Für Matthäus war Q eine Materialsammlung, die er – ihrem Zweck entsprechend – brauchte und dabei zerstörte. Der zweite Aufsatz führt in seinem Schlussabschnitt über die Träger von Q über den ersten hinaus: Er zeigt, dass die in Q gesammelten Texte ein Wissen über Jesus voraussetzen, das deutlich über sie hinausgeht. Ausschliesslich aus den in der Materialsammlung Q gesammelten Stoffen auf das „Kerygma“ von sogenannten „Q-Gemeinden“ zu schliessen, ist m. E. Unsinn. Die Träger von Q wussten mehr über Jesus als das, was in ihrer Materialsammlung überliefert ist – das steht fest, auch wenn wir im Einzelnen nicht mehr sagen können, was sie wussten. Der Aufsatz zeigt auch, dass Matthäus grundsätzlich die Einheit und Verbindbarkeit seiner beiden Hauptquellen voraussetzt. Es gibt gewiss unterschiedliche Akzente in den Markus und Q gemeinsamen Stoffen, aber die Übereinstimmung überwiegt bei weitem.9 Q war eine für frühchristliche Wandermissionare und die von ihnen geprägten Gemeinden wichtige, ihre Erinnerungen an die Geschichte Jesu ergänzende und stützende Materialsammlung. Q war aber nicht die vollständige theologische Grundlage irgendwelcher besonderer „Q-Gemeinden“ mit einem eigenständigen „Kerygma“.

9 Vgl.

dazu unten den Aufsatz „Das Jesusbild in der vormarkinischen Tradition“ = Nr. 25.

10. Ein Q-Text1 unterstrichen: Der Text ist durch zwei Evangelien gesichert nicht unterstrichen: Der Text ist nur durch ein Evangelium bezeugt; wahrscheinliche Textform ( ) Der Text ist völlig hypothetisch ⟨ ⟩ Die Wortreihenfolge ist bei Mt und Lk unterschiedlich … Das mit … bezeichnete Wort oder Textstück ist nicht rekonstruierbar. Die Verse werden in der Regel nach Lk angegeben.

Εinleitung Nr. 1: Das Auftreten des Täufers Der Text ist nicht rekonstruierbar, sondern nur postulierbar. Das minor agreement περίχωρος τoῦ ᾿Ιορδάνου ist auffällig. Nr. 2: Die Busspredigt des Täufers (Lk 3,7–9 / Mt 3,7–10)   7 (Ἔλεγεν οὖν τοῖς ἐκπορευομένοις …) Γεννήματα ἐχιδνῶν, τίς ὑπέδειξεν ὑμῖν φυγεῖν ἀπὸ τῆς μελλούσης ὀργῆς;   8 ποιήσατε οὖν καρπὸν ἄξιον τῆς μετανοίας· καὶ μὴ δόξητε λέγειν ἐν ἑαυτοῖς· πατέρα ἔχομεν τὸν Ἀβραάμ. λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι δύναται ὁ θεὸς ἐκ τῶν λίθων τούτων ἐγεῖραι τέκνα τῷ Ἀβραάμ.   9 ἤδη δὲ ἡ ἀξίνη πρὸς τὴν ῥίζαν τῶν δένδρων κεῖται· πᾶν οὖν δένδρον μὴ ποιοῦν καρπὸν καλὸν ἐκκόπτεται καὶ εἰς πῦρ βάλλεται.

Nr. 3: Ankündigung des Stärkeren (Lk 3,16 f / Mt 3,11 f; vgl. Mk 1,7 f) 16 Ἐγὼ μὲν ⟨ὑμᾶς⟩ βαπτίζω ⟨ἐν ὕδατι⟩· (ὁ δὲ ἐρχόμενος) ἰσχυρότερός μού ἐστιν, οὗ οὐκ εἰμὶ ἱκανὸς τὰ ὑποδήματα βαστάσαι· αὐτὸς ὑμᾶς βαπτίσει ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρὶ· 17 οὗ τὸ πτύον ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ, καὶ διακαθαριεῖ τὴν ἅλωνα αὐτοῦ, καὶ συνάξει τὸν σῖτον ⟨αὐτοῦ⟩ εἰς τὴν ἀποθήκην τὸ δὲ ἄχυρον κατακαύσει πυρὶ ἀσβέστῳ. 1 Zur

Vorgeschichte dieses Q-Textes vgl. o. Einleitung S. 152.

158

II. Studien zur Logienquelle

Nr. 4: Taufe Jesu Die Textform ist nicht zu rekonstruieren; die Existenz des Stückes ist nur vermutbar wegen der minor agreements zwischen Mt / Lk: vor allem ἠνεώχθη … (Mt 3,16; Lk 3,21); ἐπ᾽ αὐτόν (Mt 3,16; Lk 3,22 und wegen des Gottessohntitels in Q 4,1 ff. Nr. 5: Die Versuchung Jesu (Lk 4,1–13 / Mt 4,1–11; vgl. Mk 1,12 f) Der Text der Einleitung ist nicht sicher zu rekonstruieren. Zu Q gehören dürfte: eine passivische Formulierung, dass Jesus vom Geist in die Wüste geführt wurde, die Stichworte διάβολος, ἡμέρας τεσσεράκοντα, Jesu Fasten und ἐπείνασεν. Ähnlich unsicher ist der Text der Ausleitung V 13.   3 … ⟨(ὁ διάβολος) εἶπεν αὐτῷ⟩· εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ, εἰπὲ ἵνα (οἱ) λίθ(οι οὗτοι) ἄρτ(οι) γέν(ωνται).   4 καὶ ἀπεκρίθη … · γέγραπται (…)· οὐκ ἐπ᾽ ἄρτῳ μόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος.   9 (παραλαμβάνει) αὐτὸν (ὁ διάβολος) εἰς ᾿Ιερουσαλὴμ καὶ ἔστησεν (αὐτὸν) ἐπὶ πτερύγιον τοῦ ἱεροῦ, καὶ (λέγει) αὐτῷ· εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ, βάλε σεαυτὸν κάτω· 10 γέγραπται γὰρ ὅτι τοῖς ἀγγέλοις αὐτοῦ ἐντελεῖται περὶ σοῦ 11 καὶ ἐπὶ χειρῶν ἀροῦσίν σε, μήποτε προσκόψῃς πρὸς λίθον τὸν πόδα σου. 12 (ἔφη) αὐτῷ ὁ ᾿Ιησοῦς (ὅτι) (γέγραπται) οὐκ ἐκπειράσεις κύριον τὸν θεὸν σου.   5 (Παραλάμβανει) αὐτὸν (εἰς ὄρος ὑψηλὸν) καὶ δείκνυσιν αὐτῷ πάσας τὰς βασιλείας τοῦ κόσμου ⟨καὶ τὴν δόξαν αὐτῶν⟩  6 καὶ εἶπεν αὐτῷ· ταῦτα ⟨σοι πάντα δώσω⟩,  7 ἐὰν προσκυνήσῃς μοι.   8 λέγει αὐτῷ ⟨ὁ ᾿Ιησοῦς⟩· (ὕπαγε, σατανᾶ)·  γέγραπται (γάρ)· ⟨προσκυνήσεις κύριον τὸν θεόν σου⟩ καὶ αὐτῷ μόνῳ λατρεύσεις. 13 〈 … ὁ διάβολος αὐτ … ⟩

Die Feldrede Lk 6,20–49)2 Nr. 6: Die Seligpreisungen (Lk 6,20–23 / Mt 5,3–12; vgl. EvThom 54) QMt

3 Μακάριοι οἱ πτωχοὶ (τῷ πνεύματι),  ὅτι (αὐτῶν) ἐστιν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ.

QLk 20 Μακάριοι οἱ πτωχοί,  ὅτι (ὑμετέρα) ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ.

2 Ein gemeinsamer Wortlaut der „Feldrede“ und der Q-Traditionen der Bergpredigt ist kaum mehr zu rekonstruieren. Die Texte sind in der mündlichen Tradition viel gebraucht worden und zirkulierten in unterschiedlichen Versionen. Auf die frühe Existenz eines schriftlichen Textes weist jedoch die in Mt und Lk im wesentlichen identische Reihenfolge der Einzeltexte und

10. Ein Q-Text

QMt  4 μακάριοι οἱ πενθοῦντες. ὅτι (αὐτοὶ) παρακληθήσονται.   5 μακάριοι οἱ πραεῖς, ὅτι αὐτοὶ κληρονομήσουσιν τὴν γῆν.  6 μακάριοι οἱ πεινῶντες. ὅτι (αὐτοὶ) χορτασθήσ(ονται). cf. V  4   7 μακάριοι οἱ ἐλεήμονες, ὅτι αὐτοὶ ἐλεηθήσονται.   8 μακάριοι οἱ καθαροὶ τῇ καρδίᾳ, ὅτι αὐτοὶ τὸν θεὸν ὄψονται.   9 μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, ὅτι αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται. 11 Μακάριοί ἐστε (ὅταν ὀνειδίσουσιν ὑμᾶς καὶ εἴπωσιν πᾶν πονηρὸν καθ᾿ ὑμῶν ἕνεκεν … . 12 χαίρετε (καὶ ἀγγαλιᾶσθε) ὅτι ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τῷ οὐρανῷ· (οὕτως) γὰρ … προφη … vgl. Mt V 4: παρακληθήσονται

vgl. Mt V 4: πενθοῦντες vgl. Mt V 11: εἴπωσιν πᾶν πονηρόν

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QLk cf. Lk V 24 b.25 b: παράκλησιν; πενθήσετε 21 μακάριοι οἱ πεινῶντες (νῦν), ὅτι χορταθήσεσθε. μακάριοι οἱ κλαίοντες (νῦν), ὅτι γελάσετε.

22 μακάριοί ἐστε ὅταν μισήσωσιν ὑμᾶς καὶ ὅταν ἀφορίσωσιν ὑμᾶς καὶ ὀνειδίσωσιν καὶ ἐκβάλωσιν τὸ ὄνομα ὑμῶν ὡς πονηρὸν ἕνεκα τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου. 23 χάρητε ( … καὶ σκιρτήσατε) … ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τῷ οὐρανῷ· (κατὰ τὰ αὐτὰ) γὰρ … προφη … 24 Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς πλουσίοις, ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν. 25 Οὐαὶ ὑμῖν, οἱ ἐμπεπλησμένοι (νῦν), ὅτι πεινάσετε. Οὐαὶ ὑμῖν, οἱ γελῶντες (νῦν), ὅτι πενθήσετε καὶ κλαύσετε. 26 Οὐαὶ ὅταν καλῶς ὑμᾶς εἴπωσιν· (κατὰ τὰ αὐτὰ) γὰρ ἐποίουν τοῖς ψευδοπροφήταις.

die bei beiden identische Stellung innerhalb des Ganzen von Q. QMt und QLk bezeichnen den nach Abhebung der vermutbaren redaktionellen Bearbeitung durch Mt und Lk verbleibenden traditionellen, bei Mt und Lk nur teilweise identischen Textbestand; vgl. o. die Einleitung.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 7: Feindesliebe (Lk 6,27–36 / Mt 5,38–42; 7,12; 5,43–48) QMt (vgl. Mt V 44)

39 (ὅστις σε ῥαπίζει) εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα (σου), στρέψον αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην· 40 καὶ τῷ θέλοντί σοι κριθῆναι καὶ χιτῶνά σου (λαβεῖν, ἄφες) αὐτῷ καὶ τὸ ἱμάτιον. 41 (καὶ ὅστις σε) ἀγγαρεύσει μίλιον ἕν, ὕπαγε μετ᾿ αὐτοῦ δύο. 42 τῷ αἰτοῦντί σε δός, (καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος τὰ σὰ μὴ ἀπαίτει). 7,12 ⟨(καὶ καθὼς) θέλητε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, (οὕτως καὶ ὑμεῖς) ποιεῖτε αὐτοῖς.⟩ 46 (καὶ εἰ) ἀγαπήσητε τοὺς ἀγαπῶντας ὑμᾶς, τίνα μισθὸν ἔχετε; καὶ οἱ τελῶναι τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν. 47 καὶ ἐὰν ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν (μόνον), (τίνα μισθὸν ἔχετε); καὶ οἱ ἐθνικοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν.

QLk 27 (Ἀλλὰ) ὑμῖν λέγω (τοῖς ἀκούουσιν)· ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν, καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς, 28 εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς, προσεύχεσθε (ὑπὲρ) τῶν ἐπηρεαζόντων ὑμᾶς. 29 (τῷ ῥαπίζοντί) σε (εἰς) τὴν σιαγόνα …

(στρέψον) αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην· καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος σου τὸ ἱμάτιον



καὶ τὸν χιτῶνα μὴ κωλύσης·

30 παντὶ αἰτοῦντί σε δίδου, καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος τὰ σὰ μὴ ἀπαίτει.

31 καὶ καθὼς θέλετε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, (οὕτως …) ποιεῖτε αὐτοῖς. 32 καὶ εἰ ἀγαπᾶτε τοὺς ἀγαπῶντας ὑμᾶς, (τίνα μισθὸν ἔχετε); καὶ οἱ (τελῶναι τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν). 33 καὶ ἐὰν (ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν μόνον, τίνα μισθὸν ἔχετε); καὶ οἱ (ἐθνικοί) τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν. 34 καὶ ἐὰν δανείσητε vgl. V  42 παρ᾿ ὧν ἐλπίζετε λαβεῖν, (τίνα μισθὸν ἔχετε); καὶ (ἁμαρτωλοὶ ἁμαρτωλοῖς δανείζουσιν ἵνα ἀπολάβωσιν τὰ ἴσα. 44 Ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ 35 Ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ τῶν (ἐπηρεαζόντων) vgl. V 28 ὑμᾶς, (ἀγαθοποιεῖτε) καὶ δανείζετε μηδὲν ἀπελπίζοντες καὶ ἔσται ὁ μισθὸς ὑμῶν πολύς. 45 καὶ ἔσεσθε υἱοὶ (ὑψίστου), καὶ ἔσεσθε υἱοὶ ὑψίστου, ὅτι τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλει ὅτι (τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλει καὶ βρέχει ἐπὶ (ἀγαθοὺς καὶ) καὶ βρέχει ἐπὶ ἀγαθοὺς) καὶ πονηρούς. πονηρούς. 48 Ἔσεσθε (οἰκτίρμονες), 36 (Ἔσεσθε) οἰκτίρμονες, ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν (οἰκτίρμων) ἐστίν. ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν οἰκτίρμων ἐστίν.

10. Ein Q-Text

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Nr. 8: Vom Richten (Lk 6,37–42 / Mt 7,1–5) QMt

1 Μὴ κρίνετε, (ἵνα) μὴ κριθῆτε· 2 ἐν ᾧ γὰρ κρίματι κρίνετε κριθήσεσθε,

(καὶ) ἐν ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε μετρηθήσεται ὑμῖν. vgl. Mt 15,14 vgl. Mt 10,24

QLk 37 (καὶ) μὴ κρίνετε, καὶ οὐ μὴ κριθῆτε (καὶ) μὴ καταδικάζετε, καὶ οὐ μὴ καταδικασθῆτε· ἀπολύετε, καὶ ἀπολυθήσεσθε· 38 δίδοτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν· μέτρον καλὸν πεπιεσμένον (σεσαλευμένον) ὑπερεκχυννόμενον δώσουσιν εἰς τὸν κόλπον ὑμῶν· ᾧ (γὰρ) μέτρῳ μετρεῖτε μετρηθήσεται ὑμῖν. 39 Mήτι δύναται τυφλὸς τυφλὸν ὁδηγεῖν; ἀμφότεροι εἰς βόθυνον ἐμπεσοῦνται. 40  Οὐκ ἔστιν μαθητής ὑπὲρ τὸν διδάσκολον· (κατηρτισμένος dὲ πᾶς ἔσται) ὡς ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ.

41 Τί δὲ βλέπεις τὸ κάρφος τὸ ἐν τῷ ὀφθαλμῷ τοῦ ἀδελφοῦ σου, τὴν δὲ ⟨δόκον τὴν ἐν τῷ σῷ ὀφθαλμῷ⟩ οὐ κατανοεῖς; 42 πῶς ἐρεῖς τῷ ἀδελφῷ σου· ἄφες ἐκβάλω τὸ κάρφος τὸ ἐν τῷ ὀφθαλμῷ σου; ὑποκρίτα, ἔκβαλε πρῶτον ⟨τὴν δόκον ἐκ τοῦ ὀφαλμοῦ σου⟩, καὶ τότε διαβλέψεις ⟨τὸ κάρφος τὸ ἐν τῷ ὀφθαλμῷ τοῦ ἀδελφοῦ σου ἐκβαλεῖν. ⟩

Nr. 9: Von den Früchten (Lk 6,43–45 / Mt 7,15–20; 12,33–35)3 43 Οὐ (γάρ) ἐστιν δένδρον καλὸν ποιοῦν καρπὸν σαπρόν, οὐδὲ (πάλιν) δένδρον σαπρὸν ποιοῦν καρπὸν καλόν. 44 Ἐκ γὰρ τοῦ καρποῦ τὸ δένδρον γινώσκεται. (Μήτι (ἀπὸ) ἀκανθῶν συλλέγουσιν σταφυλ(ὰς) (ἢ ἀπὸ τριβόλων) σύκα. 45 Ὁ ἀγαθὸς ἄνθρωπος ἐκ τοῦ ἀγαθοῦ θησαυροῦ (τῆς καρδίας προφέρει) τὸ ἀγαθόν, καὶ ὁ πονηρὸς (ἄνθρωπος) ἐκ τοῦ πονηροῦ (θησαυροῦ προφέρει) τὸ πονηρόν· ἐκ γὰρ (τοῦ) περισσεύματος (τῆς) καρδίας λαλεῖ τὸ στόμα.

3 Q 6,43–45 ist von Mt verdoppelt worden: Mt 7,15–20 (mit red. Ein‑ und Ausleitung V 15.19 f) und Mt 12,33–35. Die Unterstreichungen bei Q 6,43 beziehen sich auf Mt 7,17 f, bei Q 6,44 a auf Mt 12,33 c, bei Q 6,44 b auf Mt 7,16 b, bei Q 6,45 a.b auf Mt 12,35, bei Q 6,45 c auf Mt 12,34 b. Auf Klammerhinweise auf die komplexen grösseren und kleineren Umstellungen in beiden mt Perikopen habe ich hier verzichtet.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 10: Gerichtsdrohung und ‑verheissung. Hausbauergleichnis (Lk 6,46–49 / Mt 7,21–27) QMt 21 etwa wie Lk 6,46?

QLk 46 τί δέ με καλεῖτε κύριε, κύριε καὶ οὐ ποιεῖτε ἃ λέγω; (22 f) (vgl. Lk 13,25–27) 24 Πᾶς ( … ) (ὁ) ἀκούων μου τοὺς λόγους 47 πᾶς (ὁ ἐρχόμενος πρός με καὶ) ἀκούων μου τ(οὺς) λόγ(ους) καὶ ποι(ῶν) αὐτοὺς καὶ ποιῶν αὐτοὺς (ὑποδείξω ὑμῖν) τίνι ἐστὶν ὅμοιος. (ὅμοιός ἐστιν) ἀνδρὶ (φρονίμῳ) 48 ὅμοιός ἐστιν ἀνθρώπῳ οἰκοδομ(οῦντι) αὐτοῦ τὴν οἰκίαν οἰκοδομοῦντι οἰκίαν, (ὃς ἔσκαψεν καὶ ἐβάθυνεν καὶ ἔθηκεν ἐπὶ τὴν πέτραν. θεμέλιον) ἐπὶ τὴν πέτραν· 25 καὶ κατέβη ἡ βροχή, πλημμύρης δὲ γενομένης καὶ ἦλθον οἱ ποταμοί, προσέρρηξεν ὁ ποταμὸς καὶ ἔπνευσαν οἱ ἄνεμοι, καὶ προσέκοψαν τῇ οἰκίᾳ ἐκείνῃ, τῇ οἰκίᾳ ἐκείνῃ, καὶ οὐκ ἔπεσεν· (καὶ οὐκ ἔπεσεν· τεθεμελίωτο (γὰρ) ἐπὶ τὴν πέτραν. τεθεμελίωτο (γὰρ) ἐπὶ τὴν πέτραν). 26 καὶ πᾶς ὁ ἀκούων μου τοὺς λόγους 49 ( … ) ὁ ( … ) ἀκού(σας) ( … ) καὶ μὴ ποιῶν αὐτοὺς καὶ μὴ ποι(ήσας) (ὅμοιός ἐστιν) ἀνδρὶ (μωρῷ) ὅμοιός ἐστιν ἀνθρώπῳ οἰκοδομή(σαντι) αὐτοῦ τὴν οἰκίαν οἰκοδομήσαντι οἰκίαν ἐπὶ ἄμμον. (ἐπὶ τὴν γῆν χωρὶς θεμελίου), 27 καὶ κατέβη ἡ βροχή, καὶ ἦλθον οἱ ποταμοί, (ᾗ) προσέρρηξεν ὁ ποταμός, καὶ ἔπνευσαν οἱ ἄνεμοι, καὶ προσέκοψαν τῇ οἰκίᾳ ἐκείνῃ, καὶ ἔπεσεν, καὶ εὐθὺς συνέπεσεν,. καὶ ἦν ἡ πτῶσις αὐτῆς μεγάλη.  καὶ (ἐγένετο) τὸ ῥῆγμα τῆς οἰκίας (ἐκείνης) μέγα.

Nr. 11: Abschlussbemerkung (Lk 7,1; vgl. Mt 7,28 a; 8,5 a) Ob hinter der Abschluss‑ und Übergangsbemerkung Lk 7,1; Mt 7,28; 8,5 a ein Q‑Text steht muss offen bleiben.

10. Ein Q-Text

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Nr. 12: Der Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,2–10 / Mt 8,5–10.13) Mt V 5–7 Ein Q Text ist nicht rekonstruierbar

Lk V 2–6 a Ein Q Text ist nicht rekonstruierbar

  6 … ὁ ἑκατόνταρχος … κύριε … οὐκ ⟨εἰμὶ ἱκανὸς⟩ ἵνα ⟨μου ὑπὸ τὴν στέγην⟩ εἰσέλθῃς·  7 … ἀλλὰ … εἰπὲ λόγῳ, καὶ ἰαθήσεται ὁ παῖς μου.  8 καὶ γὰρ ἐγὼ ἄνθρωπός εἰμι ὑπὸ ἐξουσίαν, ἔχων ὑπ᾽ ἐμαυτὸν στρατιώτας, καὶ λέγω τούτῳ· πορεύθητι, καὶ πορεύεται, καὶ ἄλλῳ· ἔρχου, καὶ ἔρχεται, καὶ τῷ δούλῳ μου· ποίησον τοῦτο, καὶ ποιεῖ.  9 ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς ἐθαύμασεν … καὶ ⟨εἶπεν⟩ τοῖς ἀκολουθοῦσιν· λέγω ὑμῖν, (οὐδὲ) ⟨ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοσαύτην πίστιν⟩ εὗρον … 10 Der Schlusssatz über die Heilung des παῖς ist nicht rekonstruierbar.

Die Täuferrede (Lk 7,18–35) Νr. 13: Die Anfrage des Täufers (Lk 7,18–23 / Mt 11,2–6) 18 (Ὁ δὲ Ἰωάννης … 19 ἔπεμψεν (διὰ) τῶν μαθητῶν αὐτοῦ (εἶπεν αὐτῷ)· σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος ἢ ἄλλον προσδοκῶμεν; … 22 καὶ ἀποκριθεὶς (ὁ Ἰησοῦς) εἶπεν αὐτοῖς· πορευθέντες ἀπαγγείλατε Ἰωαννῃ ἃ ⟨ἀκούετε καὶ βλέπετε⟩· τυφλοὶ ἀναβλέπουσιν (καὶ) χωλοὶ περιπατοῦσιν, λεπροὶ καθαρίζονται (καὶ) κωφοὶ ἀκούουσιν (καὶ) νεκροὶ ἐγείρονται (καὶ) πρωχοὶ εὐαγγελίζονται 23 καὶ μακάριός ἐστιν ὃς ἐὰν μὴ σκανδαλισθῆ ἐν ἐμοί.

Nr. 14: Jesu Zeugnis über den Täufer (Lk 7,24–28 / Mt 11,7–11) 24 (Τούτων δὲ πορευομένων) ἤρξατο … λέγειν (τοῖς ὄχλοις) περὶ Ἰωάννου· Τί ἐξήλθατε εἰς τὴν ἔρημον θεάσασθαι; κάλαμον ὑπὸ ἀνέμου σαλευόμενον; 25 ἀλλὰ τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; ἄνθρωπον ἐν μαλακοῖς … ἠμφιεσμένον; ἰδοὺ οἱ (τὰ μαλακὰ φοροῦντες ἐν τοῖς οἴκοις τῶν βασιλέων). 26 ἀλλὰ τί ἐξήλθατε; ⟨Προφήτην ἰδεῖν;⟩ ναὶ λέγω ὑμῖν, καὶ περισσότερον προφήτου. 27 οὗτός ἐστιν περὶ οὗ γέγραπται· ἰδοὺ … ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου, ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ἔμπροσθέν σου. 28 λέγω ὑμῖν, (οὐκ ἐγήγερται) ⟨ἐν γεννητοῖς γυναίκων μείζων Ἰωάννου⟩ … · ὁ δὲ μικρότερος ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ μείζων αὐτοῦ ἐστιν.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 15: Das Gleichnis von den spielenden Kindern (Lk 7,31–35 / Mt 11,16–19) 31 Τίνι οὖν ὁμοιώσω τὴν γενεὰν ταύτην; 32 Ὁμοία ἐστὶν ⟨παιδίοις (τοῖς) ἐν ἀγορᾷ καθημένοις⟩ καὶ προσφονοῦσιν ἀλλήλοις (ἃ λέγει)· ηὐλήσαμεν ὑμῖν καὶ οὐκ ὠρχήσασθε· ἐθρηνήσαμεν καὶ οὐκ ἐκόψασθε. 33 (Ἦλθεν) γὰρ Ἰωάννης μὴ ἐσθίων μήτε πίνων, καὶ λέγ(ετε)· δαιμόνιον ἔχει. 34 (ἦλθεν) ὁ υἱὸς τοῡ ἀνθρώπου ἐσθίων καὶ πίνων,  καὶ λέγ(ετε)· ἰδοὺ ἄνθρωπος φάγος καὶ οἰνοπότης, ⟨τελωνῶν φίλος⟩ καὶ ἁμαρτωλῶν. 35 καὶ ἐδικαιώθη ἡ σοφία ἀπὸ τῶν τέκνων αὐτῆς.

Die Jüngerrede (Lk 9,57–10,24) Nr. 16: Nachfolgeworte (Lk 9,57–62 / Mt 8,19–22) 57 Eἶπέν τις πρὸς αὐτόν· ἀκολουθήσω σοι ὅπου ἐὰν ἀπέρχῃ. 58 καὶ λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· αἱ ἀλώπεκες φωλεοὺς ἔχουσιν καὶ τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ κατασκηνώσεις, ὁ δὲ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἔχει ποῦ τὴν κεφαλὴν κλίνῃ. 59 ἕτερος εἶπεν (αὐτῷ)· Ἐπίτρεψόν μοι πρῶτον ἀπελθεῖν καὶ θάψαι τὸν πατέρα μου. 60 ὁ δὲ Ἰησοῦς λέγει αὐτῷ· ἀκολούθει μοι, καὶ ἄφες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, (σὺ δὲ ἀπελθὼν διάγγελε τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ).

Nr. 17: Die Aussendungsrede (Lk 10,1–12 / Mt 9,37 f; 10,7–15)   1 Der Aussendungsbefehl, der vielleicht u. a. die Vollmacht zur Krankenheilung enthielt; nicht rekonstruierbar.   2 (λέγει τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ)· Ὁ μὲν θερισμὸς πολύς, οἱ δὲ ἐργάται ὀλίγοι· δεήθητε οὖν τὸν κύριον τοῦ θερισμοῦ ὅπως ⟨ἐκβάλῃ⟩ ἐργάτας εἰς τὸν θερισμὸν αὐτοῦ.   3 Ὑπάγετε· ἰδοὺ … ἀπστέλλω ὑμᾶς ὡς (ἄρνας) ἐν μέσῳ λύκων.   4 (Μὴ βαστάζετε βαλλάντιον), μὴ πήραν, μὴ ὑποδήματα, (μὴ ῥάβδον), καὶ μηδένα (κατὰ τὴν ὁδὸν) ἀσπάσησθε.  5 Εἰς ἣν (δ᾿) ἂν εἰσέλθητε ⟨οἰκίαν⟩, (πρῶτον) λέγετε· εἰρήνη (τῷ οἴκῳ τούτω).  6 καὶ ἐὰν ἐκεῖ ᾖ υἱὸς εἰρήνης, (ἐπαναπαήσεται) ⟨ἐπ᾿ αὐτὸν⟩ ἡ εἰρήνη ὑμῶν. (ἐὰν δὲ μή), ἐφ᾿ ὑμᾶς (ἀνακάμψει).   7 (ἐν αὐτῇ δὲ τῇ οἰκίᾳ μένετε, ἔσθοντες καὶ πίνοντες τὰ παρ᾿ αὐτῶν·) ἄξιος γὰρ ὁ ἐργάτης (τοῦ μισθοῦ) αὐτοῦ. (μὴ μεταβαίνετε ἐξ οἰκίας εἰς οἰκίαν).

10. Ein Q-Text

  8 Καὶ εἰς ἣν ἂν πόλιν εἰσέχησθε καὶ δέχωνται ὑμᾶς, (ἐσθίετε καὶ τὰ παρατιθέμενα ὑμῖν,   9 καὶ) θεραπεύετε τοὺς ἀσθενεῖς, καὶ λέγετε αὐτοῖς· ἤγγικεν (ἐφ᾿ ὑμᾶς) ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ. 10 εἰς ἣν δ᾿ ἂν πόλιν εἰσέλθητε καὶ μὴ δέχωνται ὑμᾶς, ἐξ(ερχόμενοι ἔξω τῆς πόλεως ἐκείνης ἐκτινάξατε) τὸν κονιορτὸν τῶν ποδῶν ὑμῶν. 12 λέγω ὑμῖν (ὅτι) (Σοδόμοις) ⟨ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ⟩ ἀνεκτότερον ἔσται ἢ τῇ πόλει ἐκείνῃ.

Nr. 18: Wehe über Chorazin und Betsaida (Lk 10,13–14 / Mt 11,20–24) 13 Οὐαί σοι, Χοραζίν, οὐαί σοι, Βηθσαϊδά· ὅτι εἰ ἐν Τύρῳ καὶ Σίδωνι ἐγενήθησαν αἱ δυνάμεις αἱ γενόμεναι ἐν ὑμῖν, πάλαι ἂν ἐν σάκκῳ καὶ σποδῷ μετενόησαν. 14 πλὴν (λέγω ὑμῖν,) Τύρῳ καὶ Σίδωνι ἀνεκτότερον ἔσται ἐν τῇ κρίσει ἢ ὑμῖν. 15 Καὶ σύ, Καφαρναούμ, μὴ ἕως οὐρανοῦ ὑψωθήσῃ; ἕως (τοῦ) ᾅδου καταβήσῃ.

Nr. 19: Sendungswort (Lk 10,16, vgl. Mt 10,40) 16 (Ὁ ἀκούων ὑμῶν ἐμοῦ ἀκούει, καὶ ὁ ἀθετῶν ὑμᾶς ἐμὲ ἀθετεῖ· ὁ δὲ ἐμὲ ἀθετῶν ἀθετεῖ τὸν ἀποστείλαντά με).

Nr. 20: Jubelruf (Lk 10,21 f / Mt 11,25–27) 21 … εἶπεν· ἐξομολογοῦμαί σοι, πάτερ, κύριε τοῦ οὐρανοῦ καὶ τῆς γῆς, ὅτι (ἀπ)έκρυψας ταῦτα ἀπὸ σοφῶν καὶ συνετῶν, καὶ ἀπεκάλυψας αὐτὰ νηπίοις· ναί, ὁ πατήρ, ὅτι οὕτως εὐδοκία ἐγένετο ἔμπροσθέν σου. 22 Πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός μου, καὶ οὐδεὶς (ἐπi)γινώσκει (τὸν υἱὸν) εἰ μὴ ὁ πατήρ, οὐδὲ τὸν πατέρα (τις ἐπiγινώσκει) εἰ μὴ ὁ υἱός, καὶ ᾧ ἐὰν βούληται ὁ υἱὸς ἀποκαλύψαι.

Νr. 21: Seligpreisung der Jünger (Lk 10,23 f / Mt 13,16 f) 23 Μακάριοι οἱ ὀφθαλμοὶ οἱ βλέποντες ἃ βλέπετε. 24 λέγω ⟨γὰρ⟩ ὑμῖν ὅτι πολλοὶ προφῆται καὶ βασιλεῖς (ἐπεθύμησαν) ἰδεῖν ἃ βλέπετε καὶ οὐκ εἶδαν, καὶ ἀκοῦσαι ἃ ἀκούετε καὶ οὐκ ἤκουσαν.

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II. Studien zur Logienquelle

Vom Gebet (Lk 11,1–13) Nr. 22: Das Unservater (Lk 11,1–4 / Mt 6,9–14) Q vgl. Mt V 9a  9 Πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τ(οῖς) οὐραν(οῖς), ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου· 10 ἐλθάτω ἡ βασιλεία σου· γενηθήτω τὸ θέλημά σου, ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς· 11 τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον· 12 καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν· 13 καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν, ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ. Mt

QLk 2 (Ὅταν προσεύχησθε, λέγετε·) Πάτερ, ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου· ἐλθάτω ἡ βασιλεία σου· 3 τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον (δὸς) ἡμῖν (σήμερον)· 4 καὶ ἄφες ἡμῖν (τὰ ὀφείληματα) ἡμῶν· καὶ γὰρ αὐτοὶ (ἀφήκαμεν) (παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν)· καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν. QLk? V 5–8??

Nr. 23: Erhörung des Gebets (Lk 11,9–13 / Mt 7,7–11)  9 Αἰτεῑτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν· ζητεῑτε, καὶ εὑρήσετε· κρούετε, καὶ ἀνοιγήσεται ὑμῖν. 10 πᾶς γὰρ ὁ αἰτῶν λαμβάνει καὶ ὁ ζητῶν εὑρίσκει, καὶ τῷ κρούοντι ἀνοιγήσεται. 11 Ἢ τίς ἐστιν ἐξ ὑμῶν QMt   9 ἄνθρωπος, ὃν αἰτήσει ὁ υἱος αὐτοῦ ἄρτον, μὴ λίθον ἐπιδώσει αὐτῷ; 10 ἢ καὶ ἰχθὺν αἰτήσει, μὴ ⟨ὄφιν⟩ ἐπιδώσει αὐτῷ;

QLk (πατήρ), (ὃν) αἰτήσει ὁ υἱος ἰχθύν, μὴ ὄφιν ⟨αὐτῷ⟩ ἐπιδώσει; 12 ἢ καὶ αἰτήσει ᾠόν, (μὴ) ἐπιδώσει αὐτῷ σκορπίον;

13 εἰ οὖν ὑμεῖς πονηροὶ ὄντες οἴδατε δόματα ἀγαθὰ διδόναι τοῖς τέκνοις ὑμῶν, πόσῳ μᾶλλον ὁ πατὴρ ὁ ἐξ οὐρανoῦ δώσει ἀγαθὰ τοῖς αἰτοῦσιν αὐτόν;

10. Ein Q-Text

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Die Wunder Jesu (Lk 11,14–32) Nr. 24: Das Bündnis mit Beelzebul (Lk 11,14–23: vgl. Mt 12,22–30; Mk 3,22–27) 14 (Καὶ ἦν ἐκβάλλων δαιμόνιον, καὶ αὐτὸ ἦν κωφόν· ἐγένετο δὲ τοῦ δαιμονίου ἐξελθόντος ἐλάλησεν ὁ κωφός· καὶ ἐθαύμασαν οἱ ὄχλοι. 15 τινὲς δὲ ἐξ αὐτῶν εἶπαν)· ⟨ἐν Βεεζεβοὺλ (τῷ) ἄρχοντι τῶν δαιμονίων ἐκβάλλει τὰ δαιμόνια⟩ 16 ( … ) 17 ⟨Εἰδὼς δὲ⟩ ⟨αὐτῶν⟩ (τὰ διανοήματα) εἶπεν αὐτοῖς· πᾶσα βασιλεία μερισθεῖσα (καθ᾿ ἑαυτῆς) ἐρημοῦται (καὶ πᾶσα … οἰκία μερισθεῖσα καθ᾿ ἑαυτῆς οὐ σταθήσεται). 18 ⟨καὶ⟩ εἰ ὁ σατανᾶς (τὸν σατανᾶν ἐκβάλλει), ἐφ᾿ ἑαυτὸν ἐμερίσθη· πῶς σταθήσεται ἡ βασιλεία αὐτοῦ; 19 (καὶ) εἰ ἐγὼ ἐν Βεεζεβοὺλ ἐκβάλλω τὰ δαιμόνια, οἱ υἱοὶ ὑμῶν ἐν τίνι ἐκβάλλουσιν; διὰ τοῦτο αὐτοὶ κριταὶ ἔσονται ⟨ὑμῶν⟩. 20 Εἰ δὲ ἐν δακτύλῳ θεοῦ (ἐγὼ) ἐκβάλλω τὰ δαιμόνια, ἄρα ἔφθασεν ἐφ᾿ ὑμᾶς ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ. 214 (Ὅταν ὁ ἰσχυρὸς καθωπλισμένος φυλάσσῃ τὴν ἑαυτoῦ αὐλήν, ἐν εἰρήνῃ ἐστὶν τὰ ὑπάρχοντα αὐτοῦ. 22 ἐπὰν δὲ ἰσχυρότερος αὐτοῦ ἐπελθὼν νικήσῃ αὐτόν, τὴν πανοπλίαν αὐτοῦ αἴρει, ἐφ᾿ ᾗ ἐπεποίθει, καὶ τὰ σκῦλα αὐτοῦ διδαδίδωσιν). 23 Ὁ μὴ ὢν μετ᾿ ἐμοῦ κατ᾿ ἐμοῦ ἐστιν, καὶ ὁ μὴ συνάγων μετ᾿ ἐμοῦ σκορπίζει.

Νr. 25: Rückfallspruch (Lk 11,24–26 / Mt 12,43–45) 24 Ὅταν τὸ ἀκάθαρτον πνεῦμα ἐξέλθῃ ἀπὸ τοῦ ἀνθρώπου, διέρχεται δι᾿ ἀνύδρων τόπων ζητοῦν ἀνάπαυσιν καὶ οὐχ εὑρίσκει. … λέγει · ⟨εἰς τὸν οἶκον μου ἐπιστρέψω⟩ ὅθεν ἐξῆλθον· 25 καὶ ἐλθὸν εὑρίσκει (σχολάζοντα) σεσαρωμένον καὶ κεκοσμημένον. τότε πορεύεται καὶ παραλαμβάνει (μεθ᾿ ἑαυτοῦ) (ἑπτὰ) ἕτερα πνεύματα πονηρότερα 26  ἑαυτοῦ καὶ εἰσελθόντα κατοικεῖ ἐκεῖ· καὶ γίνεται τὰ ἔσχατα τοῦ ἀνθρώπου ἐκείνου χείρονα τῶν πρώτων.

4 Der altertümliche V 21 f ist entweder Teil des Q-Textes und wurde von Mt zugunsten von Mk 3,27 f weggelassen. Dritte Möglichkeit: QLk.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 26: Jonazeichen (Lk 11,29–32 / Mt 12,38–42; vgl. Μk 8,11 f) 29 … (λέγει)· (ἡ) γενεὰ (αὕτη) γενεὰ πονηρά (ἐστιν)· σημεῖον ζητεῖ, καὶ σημεῖον οὐ δοθήσεται αὐτῇ εἰ μὴ τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ … . 30 (Καθὼς) γὰρ (ἐγένετο) Ἰωνᾶς τοῖς Νινευΐταις σημεῖον, οὕτως ἔσται (καὶ) ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου τῇ γενεᾷ ταύτῃ. 31 Βασιλίσσα νότου ἐγερθήσεται ἐν τῇ κρίσει μετὰ τῆς γενεᾶς ταύτης καὶ κατακρινεῖ αὐτην· ὅτι ἦλθεν ἐκ τῶν περάτων τῆς γῆς ἀκοῦσαι τὴν σοφίαν Σολομῶνος, καὶ ἰδοὺ πλεῖον Σολομῶνος ὧδε. 32 ⟨Ἄνδρες Νινευῖται ἀναστήσονται ἐν τῇ κρίσει μετὰ τῆς γενᾶς ταύτης καὶ κατακρινοῦσιν αὐτήν· ὅτι μετενόησαν εἰς τὸ κήρυγμα Ἰωνᾶ, καὶ ἰδοὺ πλεῖον Ἰωνᾶ ὧδε⟩.

Nr. 27: Lichtsprüche (Lk 11,33–35 / Mt 5,15; 6,22 f; vgl. Μk 4,21) 33 (Οὐ … καίουσιν) λύχνον καὶ τιθέασιν ὑπὸ τὸν μόδιον, ἀλλ᾿ ἐπὶ τὴν λυχνίαν, καὶ λάμπει πᾶσιν τοῖς ἐν τῇ οἰκίᾷ. 34 ὁ λύχνος τοῦ σώματός ἐστιν ὁ ὀφθαλμός. Ὅταν ⟨ῇ⟩ ὁ ὀφθαλμός σου ἁπλοῦς, ὅλον τὸ σῶμά σου φωτεινὸν ἔσται. ἐπὰν δὲ (ὁ ὀφθαλμός σου) πονηρὸς ῇ, καὶ τὸ σῶμά σου σκοτεινὸν (ἔσται). 35 ⟨εἰ οὖν⟩ τὸ φῶς τὸ ἐν σοὶ σκότος ἐστίν, τὸ σκότος πόσον; QLk? 36 Εἰ οὖν τὸ σῶμα σου ὅλον φωτεινόν, μὴ ἔχον μέρος τι σκοτεινόν ἔσται φωτεινὸν ὅλον, ὅταν ὁ λύχνος τῇ ἀστραπῇ φωτίζῃ σε.

Nr. 28: Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Lk 11,37–52 / Mt 23) QMt Die Reihenfolge der Weherufe in QMt ist nicht rekonstruierbar 25 (Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς Φαρισαίοις), ὅτι καθαρίζετε τὸ ἔξωθεν τοῦ ποτηρίου καὶ τῆς παροψίδος, ἔσωθεν δὲ γέμουσιν ἐξ ἁρπαγῆς καὶ ἀκρασίας

QLk Die Reihenfolge der Weherufe bleibt unsicher 39 (Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς Φαρισαίοις, ὅτι) ⟨καθαρίζετε⟩ τὸ ἔξωθεν τοῦ ποτηρίου καὶ τοῦ πίνακος, τὸ δὲ ἔσωθεν ὑμῶν γέμει ἁρπαγῆς καὶ (ἀκρασίας), 40 (ἄφρονες), οὐχ ὁ ποιήσας τὸ ἔξωθεν καὶ τὸ ἔσωθεν ἐποίησεν; 41 ?

26 … καθάρι(σον πρῶτον) τὸ ἐντὸς τοῦ ποτηρίου, ἵνα γένηται καὶ τὸ ἐκτὸς αὐτοῦ καθαρόν. 23 Οὐαὶ ὑμῖν (τοῖς) Φαρισαί(οις), ὅτι 42 Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς Φαρισαίοις, ὅτι

10. Ein Q-Text

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QMt ἀποδεκατοῦτε τὸ ἡδύοσμον καὶ τὸ ἄνηθον καὶ τὸ κύμινον, καὶ ἀφήκατε τὴν κρίσιν καὶ (τὸ ἔλεος καὶ τὴν πίστιν). ταῦτα δὲ ἔδει ποιῆσαι κἀκεῖνα μὴ ἀφεῖναι.

QLk ἀποδεκατοῦτε τὸ ἡδύοσμον καὶ τὸ πήγανον (καὶ πᾶν λάχανον), καὶ (παρέρχεσθε) τὴν κρίσιν καὶ (τὴν ἀγάπην τοῦ θεοῦ). ταῦτα δὲ ἔδει ποιῆσαι κἀκεῖνα μὴ παρεῖναι. 43 Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς Φαρισαίοις, ὅτι vgl. Mt 23,6 f; Mk 12,38 f ἀγαπᾶτε τὴν πρωτοκαθεδρίαν ἐν ταῖς συναγωγαῖς καὶ τοὺς ἀσπασμοὺς ἐν ταῖς ἀγοραῖς. 27 Οὐαὶ ὑμῖν … Φαρισαῖοι …, ὅτι 44 Οὐαὶ ὑμῖν …, ὅτι παρομοιάζετε τάφοις κεκονιασμένοις, ἐστὲ ὡς τὰ μνημεῖα τὰ ἄδηλα, οἵτινες ἔξωθεν μὲν φαίνονται ὡραῖοι, καὶ οἱ ἄνθρωποι οἱ περιπατοῦντες ἐπάνω οὐκ οἴδασιν. ἔσωθεν δὲ γέμουσιν ὀστέων νεκρῶν καὶ πάσης ἀκαθαρσίας, 28 (οὕτως καὶ ὑμεῖς ἔξωθεν μὲν φαίνεσθε τοῖς ἀνθρώποις δίκαιοι, ἔσωθεν δέ ἐστε μεστοὶ …) 46 ⟨Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς νομικοῖς⟩, ὅτι φορτίζετε τοὺς ἀνθρώπους φορτία δυσβάστακτα,   4 δεσμεύουσιν δὲ φορτία βαρέα καὶ ἐπιτιθέασιν ἐπὶ τοὺς ὤμους τῶν ἀνθρώπων, αὐτοὶ δὲ τῷ δακτύλῳ αὐτῶν καὶ αὐτοὶ ἑνὶ τῶν δακτύλων ὑμῶν οὐ θέλουσιν κινῆσαι αὐτά. οὐ προσψαύετε τοῖς φορτίοις. 29 Οὐαὶ ὑμῖν, … ὅτι 47 Οὐαὶ ὑμῖν,  ὅτι οἰκοδομεῖτε τοὺς τάφους τῶν προφήτων οἰκοδομεῖτε τὰ μνημεῖα τῶν προφήτων, καὶ κοσμεῖτε τὰ μνημεῖα τῶν δικαίων, οἱ δὲ πατέρες ὑμῶν ἀπέκτειναν αὐτούς. 30 καὶ λέγετε· εἰ ἤμεθα ἐν ταῖς ἡμέραις τῶν πατέρων ἡμῶν, οὐκ ἂν ἤμεθα αὐτῶν κοινωνοὶ ἐν τῷ αἵματι τῶν προφήτων. 31 ὥστε μαρτυρεῖτε ἑαυτοῖς ὅτι υἱοί ἐστε 48 ἄρα μάρτυρές ἐστε (καὶ συνευδοκεῖτε τῶν φονευσάντων τοὺς προφήτας. τοῖς ἔργοις τῶν πατέρων ὑμῶν, ὅτι αὐτοὶ μὲν ἀπέκτειναν αὐτοὺς, ὑμεῖς δὲ οἰκοδομεῖτε). 34 διὰ τοῦτο

49  Διὰ τοῦτο (καὶ) ἡ σοφία τοῦ θεοῦ εἶπεν …· ἀποστέ(λλω) (πρὸς ὑμᾶς) προφήτας καὶ ἀποστελῶ εἰς αὐτοὺς προφήτας καὶ σοφοὺς καὶ γραμματεῖς· (σοφοὺς καὶ γραμματεῖς), ἐξ αὐτῶν ἀποκτενεῖτε καὶ σταυρώσετε, καὶ ἐξ αὐτῶν ἀποκτενοῦσιν καὶ καὶ ἐξ αὐτῶν μαστιγώσετε (ἐν ταῖς συναγωγαῖς ὑμῶν) καὶ διώξετε (ἀπὸ πόλεως εἰς πόλιν), διώξουσιν,

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II. Studien zur Logienquelle

QMt 35 (ἵνα ἔλθη ἐφ᾿ ὑμᾶς) πᾶν αἷμα ἐκχυννόμενον (ἐπὶ τῆς γῆς)

QLk 50 ἵνα ἐκζητηθῆ τὸ αἷμα πάντων τῶν προφήτων τὸ ἐκκεχυνομένον ἀπὸ καταβολῆς κόσμου ἀπὸ τῆς γενεᾶς ταύτης, ἀπὸ τοῦ αἵματος Ἅβελ ἕως τοῦ αἵματος 51 ἀπὸ αἵματος Ἅβελ ἕως αἵματος Ζαχαρίου, ὃν (ἐφονεύσατε) μεταξὺ τοῦ Ζαχαρίου τοῦ ἀπολομένου μεταξὺ τοῦ θυσιαστηρίου καὶ τοῦ οἴκου· ⟨ναοῦ καὶ τοῦ θυσιαστηρίου⟩. 36 ἀμὴν λέγω ὑμῖν, (ἥξει ταῦτα πάντα ναὶ λέγω ὑμῖν, ἐκζητηθήσεται ἐπὶ τὴν γενεὰν ταύτην. ἀπὸ τῆς γενεᾶς ταύτης. 13 Οὐαὶ ὑμῖν (τοῖς νομικοῖς) , ὅτι 52 Οὐαὶ ὑμῖν τοῖς νομικοῖς, ὅτι  κλείετε τὴν βασιλείαν ἔμπροσθεν τῶν ἤρατε τὴν κλεῖδα τῆς γνώσεως· ἀνθρώπων, ὑμεῖς … οὐκ εἰσέρχεσθε οὐδὲ τοὺς αὐτοὶ οὐκ εἰσήλθατε καὶ τοὺς εἰσερχομένους ἀφίετε εἰσελθεῖν. εἰσερχομένους ἐκωλύσατε.

Die Jünger in Erwartung des Menschensohns (Lk 12,2–59?)5 Nr. 29: Bekenntnis zum Menschensohn (Lk 12,2–9 / Mt 10,26–33)  2 Οὐδὲν ⟨ἐστιν⟩ κεκαλυμμένον ὁ οὐκ ἀποκαπυφθήσεται, καὶ κρυπτὸν ὃ οὐ γνωσθήσεται.   3 (ὃ) ἐν τῇ σκοτίᾳ εἴπατε, ἐν τῷ φωτὶ ἀκουσθήσεται· καὶ ὃ (εἰς) τὸ οὖς ἐλαλήσατε, κηρυχθήσεται ἐπὶ τῶν δωμάτων.   4 (καὶ) μὴ φοβεῖσθε ἀπὸ τῶν ἀποκτεννόντων τὸ σῶμα, τὴν (δὲ) ψυχὴν μὴ δυναμένων ἀποκτεῖναι·  5 φοβεῖσθε δὲ (μᾶλλον) τὸν δυνάμενον καὶ τὴν ψυχὴν καὶ τὸ σῶμα ἀπολέσαι ἐν γεένῃ.  6 οὐχὶ QMt 29 δύο στρουθία ἀσσαρίου πωλεῖται;

QLk πέντε στρουθία πωλοῦνται ἀσσαρίων δύο;

καὶ ἓν ἐξ αὐτῶν οὐ πεσεῖται ἐπὶ τὴν γῆν ἄνευ (τοῦ πατρὸς ὑμῶν).  7 ⟨ὑμῶν⟩ (δὲ) καὶ αἱ τρίχες τῆς κεφαλῆς πᾶσαι ἠριθμημέναι εἰσίν. μὴ φοβεῖσθε· πολλῶν στρουθίων διαφέρετε ὑμεῖς. 5 Den

Titel, nicht aber den Umfang dieses „Blocks“ habe ich der Studienausgabe des IQPTextes entnommen (Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, hg. von Paul Hoffmann  / ​Christoph Heil (Hg.), Darmstadt / ​Leuven 2002, dort 75). Die Allgemeinheit des Titels illustriert m. E., wie schwierig es ist, in diesem vorletzten Teil von Q thematische Blöcke auszumachen. Bereits in diesem „Block“ ist der Zusammenhang zwischen einzelnen Logien teilweise nur durch Stichwortassoziation gegeben. Ich lasse diesen Block bereits mit Q 12,59 – auch dies mit einem Fragezeichen; vgl. auch u. Anm. 6 – enden und verzichte darauf, zwischen Lk 13 und 17,21 grössere thematische Blöcke ausmachen zu wollen. Zur Zugehörigkeit der Stoffe zwischen Lk 13 und Lk 17,21 und der auf Lk 17,37 folgenden Doppelüberlieferungen vgl. u. S. 173 f und meinen Aufsatz: Matthäus und Q, in diesem Band Nr. 11, dort S. 181 f.

10. Ein Q-Text

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  8 Πᾶς (ὃς ἂν) ὁμολογήσ(ῃ) ἐν ἐμοὶ ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων, καὶ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ὁμολογήσει ἐν αὐτῷ ἔμπροσθεν τῶν ἀγγέλων τοῦ θεοῦ·   9 (ὃς) ἂν ἀρνήσεταί με ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων, (καὶ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (ἀπ)αρνήσεται αὐτὸν) ἔμπροσθεν τῶν ἀγγέλων τοῦ θεοῦ.

Nr. 30: Die Sünde gegen den Heiligen Geist (Lk 12,10 / Mt 12,31 f) 10 Καὶ ὃς (ἐὰν εἴπῃ) λόγον (εἰς) τὸ(ν) υἱὸ(ν) τοῦ ἀνθρώπου, ἀφεθήσεται αὐτῷ· (ὃς δ᾿ ἂν εἴπῃ κατὰ τοῦ πνεύματ(ος) ⟨το(ῦ) ἁγίο(υ)⟩, οὐκ ἀφεθήσεται (αὐτῷ).

Nr. 31: Die Hilfe des Geistes (Lk 12,11 f; vgl. Mt 10,19 f; Mk 13,11) 11 Ὅταν (δὲ εἰσφέρωσιν ὑμᾶς ἐπὶ τὰς συναγωγὰς … ), μὴ μεριμνήσητε πῶς ἢ τί λαλήσητε· (τὸ γὰρ ἅγιον πνεῦμα διδάξει ὑμᾶς ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ ἃ δεῖ εἰπεῖν).

Nr. 32: Nicht Sorgen (Lk 12,22–32 / Mt 6,25–34) 22 Διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν· Μὴ μεριμνᾶτε τῇ ψυχῇ τί φάγητε, μηδὲ τῷ σώματι τί ἐνδύσησθε. 23 (Οὐχὶ) ἡ ψυχὴ πλεῖόν ἐστιν τῆς τροφῆς καὶ τὸ σῶμα τοῦ ἐνδύματος; 24 ἐμβλέψατε εἰς τοὺς κόρακας, ὅτι οὐ σπείρουσιν οὐδὲ θερίζουσιν (οὐδὲ συνάγουσιν εἰς) ἀποθή(κας), καὶ ὁ (θεὸς) τρέφει αὐτούς· (οὐχ) ὑμεῖς ⟨μᾶλλον⟩ διαφέρετε τῶν πετεινῶν; 25  Τίς δὲ ἐξ ὑμῶν μεριμνῶν δύναται ἐπὶ τὴν ἡλικίαν αὐτοῡ ⟨προσθεῖναι⟩ πῆχυν (…); 26 Καὶ περὶ ἐνδύματος τί μεριμνᾶτε; 27 καταμάθετε τὰ κρίνα, πῶς (αὐξάνουσιν)· οὐ κοπιῶσιν οὐδὲ νήθ(ουσιν). λέγω δὲ ὑμῖν (ὅτι) οὐδὲ Σολομὼν ἐν πάσῃ τῇ δόξῃ αὐτοῦ περιεβάλετο ὡς ἓν τούτων. 28 εἰ δὲ τὸν χόρτον ⟨ἐν ἀγρῷ⟩ ⟨σήμερον ὄντα⟩ καὶ αὔριον εἰς κλίβανον βαλλόμενον ὁ θεὸς οὕτως ἀμφι(έννυσιν), (οὐ πολλῷ) μᾶλλον ὑμᾶς, ὀλιγόπιστοι; 29 μὴ μεριμήσητε (λέγοντες) τί φάγ(ωμεν), ἢ τί πί(ωμεν) (καὶ μὴ μετεωρίζεσθε)· 30 ⟨πάντα⟩ γὰρ ταῦτα τὰ ἔθνη ἐπιζητοῦσιν· ⟨οἶδεν⟩ (γὰρ) ὁ πατὴρ ⟨ὑμῶν⟩ ὅτι χρῄζετε τούτων ( … )· 31 ζητεῖτε (δὲ) τὴν βασιλείαν αὐτοῦ, καὶ ταῦτα προστεθήσεται ὑμῖν. QMt 34 Μὴ (οὖν) μεριμνήσητε εἰς τὸ αὔριον, ἡ γὰρ αὔριον μεριμήσει ἑαυτῆς· ἀρκετὸν τῇ ἡμέρᾳ ἡ κακία αὐτῆς.

QLk 32 Μὴ φοβοῦ, τὸ μικρὸν ποιμνίον, ὅτι εὐδόκησεν ὁ πατὴρ ὑμῶν δοῦναι ὑμῖν τὴν βασιλείαν.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 33: Vom Schätze Sammeln (Lk 12,33 f / Mt 6,19–21) Die Wortlautübereinstimmungen in diesem Text sind so schwach, dass seine Platzierung in der Nähe des vorangehenden Textes auch bei Mt das stärkste Indiz für das Vorliegen eines Q-Textes ist. 33 (Μὴ θησαυρίζετε ὑμῖν θησαυροὺς ἐπὶ τῆς γῆς, ὅπου σὴς καὶ βρῶσις ἀφανίζει, καὶ ὅπου κλέπται διορύσσουσιν καὶ κλέπτουσιν)· θησαυρίζετε δὲ ὑμῖν θησαυροὺς ἐν οὐραν(ῷ), ὅπου (οὔτε) σὴς οὔτε βρῶσις ἀφανίζει, καὶ ὅπου κλέπται οὐ διορύσσουσιν (οὐδὲ κλέπτουσιν)· 34 ὅπου γάρ ἐστιν ὁ θησαυρός σου, ἐκεῖ ⟨ἔσται⟩ ἡ καρδία σου. QLk 12,35–38??

Nr. 34: Das Gleichnis vom Einbrecher (Lk 12,39 f / Mt 24,43 f) 39 (Ἐκεῖνο) δὲ γινώσκετε, ὅτι εἰ ᾔδει ὁ οἰκοδεσπότης ποίᾳ (ὥρᾳ) ὁ κλέπτης ἔρχεται, οὐκ ἂν (ἀφῆκεν) διορυχθῆναι (τὴν οἰκίαν) αὐτοῦ. 40 Καὶ ὑμεῖς γίνεσθε ἕτοιμοι, ὅτι ᾗ ὥρᾳ ⟨οὐ δοκεῖτε⟩ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἔρχεται.

Nr. 35: Allegorie vom wiederkommenden Herrn (Lk 12,42–46 / Mt 24,45–51) 42 Τίς ἄρα ἐστὶν ὁ πιστὸς (δοῦλος καὶ) φρόνιμος, ὃν κατέστη(σεν) ὁ κύριος ἐπὶ τῆς (οἰκετείας) αὐτοῦ τοῦ (δοῦναι αὐτοῖς) ⟨ἐν καιρῷ⟩ (τὸ σιτομέτριον); 43 μακάριος ὁ δοῦλος ἐκεῖνος, ὃν ἐλθὼν ὁ κύριος αὐτοῦ εὑρήσει ⟨οὕτως⟩ ποιοῦντα. 44 (ἀμὴν) λέγω ὑμῖν ὅτι ἐπὶ πᾶσιν τοῖς ὑπάρχουσιν αὐτοῦ καταστήσει αὐτόν. 45 ἐὰν δὲ εἴπῃ ὁ δοῦλος ἐκεῑνος ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ· χρονίζει ⟨μου⟩ ὁ κύριος (ἔρχεσθαι), καὶ ἄρξηται τύπτειν τοὺς (συνδούλους αὐτοῦ), ἐσθί(ῃ) δὲ) καὶ πίν(ῃ μετὰ τῶν) μεθυ(όντων), 46 ἥξει ὁ κύριος τοῦ δούλου ἐκείνου ἐν ἡμέρᾳ ᾗ οὐ προσδοκᾷ καὶ ἐν ὥρᾳ ᾗ οὐ γινώσκει καὶ διχοτομήσει αὐτόν, καὶ τὸ μέρος αὐτοῦ μετὰ τῶν ἀπίστων θήσει. QLk Lk 12,47 f?

10. Ein Q-Text

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Nr. 36: Gerichtswort und Spaltungen vor dem Ende (Lk 12,49–53 / Mt 10,34–36)6 Ein Q-Text kann hier nicht mehr rekonstruiert werden. Lk 12,49 f ist möglicherweise ein von Mt weggelassener Q-Text. Lk 12,51–53 hat in Mt 10,34–36 eine ziemlich verschiedene Parallele, die in einem aus Q-Texten bestehenden Kontext steht. Nr. 37: Zeichen der Zeit (12,54–56 / Mt 16,2–3) Lk 12,54–56 hat in Mt 16,2 f eine entfernte Parallele mit einigen Wortlautübereinstimmungen. Sie dürfte aber textkritisch sekundär sein. Nr. 38: Versöhnung vor dem Ende (Lk 12,57–59 / Mt 5,25 f) 57 ? 58 ⟨(Ὡς … ὑπάγεις) μετὰ τοῦ ἀντιδίκου σου ἐν τῇ ὁδῷ, (δὸς ἐργασίαν ἀπηλλάχθαι ἀπ᾿ αὐτοῦ)⟩, μήποτε (παραδῷ ⟨σε⟩ (πρὸς) τὸ(ν) κριτ(ήν), καὶ ὁ κριτὴς τῷ (ὑπηρέτῃ), καὶ εἰς φυλακὴν (βληθήσῃ). 59 λέγω σοί, οὐ μὴ ἐξέλθῃς ἐκεῖθεν ἕως (ἂν) ⟨ἀποδῷς⟩ τὸν ἔσχατον (κοδράντην).

Vereinzelte Logien ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang (Lk 13,18–35; 14.26 f.34 f; 16,13–18; 17,1–6.33) Die Zugehörigkeit der folgenden inhaltlich sehr verschiedenen Texte zu Q ist nicht überall gleich wahrscheinlich. Sehr hoch ist sie bei Nr. 39–43: Dafür spricht ihr relativ kompakter Zusammenhang in Lk 13,18–35, die hohe Wortlautübereinstimmung in Nr. 39 und 43 und die Abfolge von Nr. 40–42 bei Mt (fortlaufende Exzerpttechnik). Die Zugehörigkeit von Nr. 44 f zu Q ist viel weniger sicher: Es besteht kein inhaltlicher Zusammenhang zu den vorangehenden Logien Nr. 40–43. Beide Logien haben auch Mk-Parallelen, doch nur die Logien von Nr. 44 sind bei Mt / Lk doppelt überliefert. Denkbar ist die Zugehörigkeit zu Q bei den in Lk 16,13–18 aufgenommenen Logien Nr. 46–49: Dafür spricht die hohe Wortlautübereinstimmung in Nr. 46. Die Logien 47–49 haben als gemeinsamen inhaltlichen Nenner die Torah. Auch die mt. Platzierung von Nr. 46.48.49 könnte für Q sprechen. Lk 16,16–18 passen ausserdem schlecht zum Thema des ganzen Kapitels Lk 16; Lk könnte diesen Q-Block um seines ersten Logions V 13 willen aufgenommen haben. Bei Nr. 50–52 ist die Zugehörigkeit zu Q 6 Der Q-Kontext von Lk 12,49–59 ist sehr brüchig. Bei Lk 12,49–56 (Nr. 36 und Nr. 37) ist die Zugehörigkeit zu Q mehr als fraglich. Nur beim letzten Textabschnitt Lk 12,57–59 ist die Wortlautübereinstimmung mit der Mt-Parallele so gross, dass ein Q-Text möglich (aber keineswegs sicher!) ist.

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II. Studien zur Logienquelle

sehr unsicher. Dafür spricht, dass Lk 17,1–6 ein (thematisch allerdings nicht zusammenhängender) kleiner Q-Block wäre; dagegen spricht die besonders bei Nr. 51 f extrem geringe Wortlautübereinstimmung. Nr. 39: Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig (Lk 13,18–21 / Mt 13,31–33; vgl. Mk 4,30–33) 18 Ἔλεγεν οὖν· τίνι ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεoῦ καὶ τίνι ὁμοιώσω αὐτήν; 19 ὁμοία ἐστὶν κόκκῳ σινάπεως, ὃν λαβὼν ἄνθρωπος ἔβαλεν (εἰς κῆπον αὐτοῦ) καὶ ηὔξησεν καὶ ἐγένετο εἰς δένδρον καὶ τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ κατεσκήνωσεν ἐν τοῖς κλάδοις αὐτοῦ. 20 (Καὶ πάλιν εἶπεν·) τίνι ὁμοιώσω τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ; 21 ὁμοία ἐστὶν ζύμῃ, ἣν λαβοῦσα γυνὴ ἔκρυψεν εἰς ἀλεύρου σάτα τρία, ἕως οὗ ἐζυμώθη ὅλον.

Nr. 40: Die enge Tür (Lk 13,22–24 / Mt 7,13 f) (Verszahlen nach Mt) 13 Εἰσέλθατε διὰ τῆς στενῆς (πύλης, ὅτι πλατεῖα ἡ πύλη καὶ εὐρύχωρος ἡ ὁδὸς ἡ ἀπάγουσα εἰς ἀπώλειαν, καὶ πολλοί εἰσιν οἱ εἰσερχόμενοι δι᾽ αὐτῆς· 14 ὅτι στενὴ ἡ πύλη καὶ καὶ τεθλιμμένη ἡ ὁδὸς ἡ ἀπάγουσα εἰς τὴν ζωήν, (καὶ ολίγοι εἰσὶν οἱ εὑρίσκοντες αὐτήν.)

Nr. 41: Die Abweisung im Gericht (Lk 13,25–27 / Mt 7,22 f) Die Platzierung des Textes in Lk und in Mt spricht dafür, dass ein Q-Text vorliegt, aber er kann nicht mehr rekonstruiert werden. Nr. 42: Die Mahlzeit im Gottesreich mit den Patriarchen (Lk 13,28 f / Mt 8,11 f) (Verszahlen nach Mt) 11 Πολλοὶ ἀπὸ ἀνατολῶν καὶ δυσμῶν ⟨ἥξουσιν καὶ ἀνακλιθήσονται⟩ (μετὰ) Ἀβραὰμ καὶ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ· 12 (οἱ δὲ υἱοὶ τῆς βασιλείας ἐκβληθήσονται ἔξω). ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθμὸς καὶ ὁ βρυγμὸς τῶν ὀδόντων.

Nr. 43: Klage über Jerusalem (Lk 13,34 f / Mt 23,37–39) 34 Ἰερουσαλὴμ Ἰερουσαλήμ, ἡ ἀποκτείνουσα τοὺς προφήτας καὶ λιθοβολοῦσα τοὺς ἀπεσταλμένους πρὸς αὐτήν, ποσάκις ἠθέλησα ἐπισυνά(ξαι) τὰ τέκνα σου, ὃν τρόπον ὄρνις (ἐπισυνάγει) (τὰ) νοσσί(α αὐτῆς) ὑπὸ τὰς πτέρυγας, καὶ οὐκ ἠθελήσατε.

10. Ein Q-Text

35 ἰδοῦ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. λέγω (δὲ) ὑμῖν, οὐ μὴ ἴδητέ ⟨με⟩ ἕως ἥξει ὅτε εἴπητε· εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου.

Νr. 44: Hassen der Eltern und Kreuztragen (Lk 14,26 f / Lk 17,33 / Mt 10,37–39; vgl. Mk 8,34 f Parr.) 26 Εἴ τις οὐ μισεῖ τὸν πατέρα καὶ τὴν μητέρα (οὐ δύναται εἶναί μου μαθητής). 27 Καὶ ὃς οὐ λαμβάνει τὸν σταυρὸν αὐτοῦ καὶ (ἀκολουθεῖ) ὀπίσω μου, (οὐ δύναται εἶναί μου μαθητής). Mt V 39  / Lk 17,33: (Ὁ εὑρὼν) τὴν ψυχὴν αὐτοῦ ἀπολέσει αὐτήν, καὶ ὁ ἀπολέσας (τὴν ψυχὴν αὐτοῦ) εὑρήσει αὐτήν.

Nr. 45: Salzwort (Lk 14,34 f / Mt 5,13; vgl. Mk 9,49 f) 34 Καλὸν (οὖν) τὸ ἅλας. εὰν δὲ τὸ ἅλας μωρανθῇ, ἐν τίνι (ἀρτυ)θήσεται; 35 (οὔτε εἰς γῆν οὔτε εἰς κοπρίαν εὔθετόν ἐστιν· ἔξω βάλλουσιν αὐτό).

Nr. 46: Mamonswort (Lk 16,13 / Mt 6,24) 13 Οὐδείς (οἰκέτης) δύναται δυσὶ κυρίοις δουλεύειν. ἢ γὰρ τὸν ἕνα μισήσει καὶ τὸν ἕτερον ἀγαπήσει· ἢ ἑνὸς ἀνθέξεται καὶ τοῦ ἑτέρου καταφρονήσει. Οὐ δύνασθε θεῷ δουλεύειν καὶ μαμωνᾷ.

Nr. 47: „Stürmerspruch“ (Lk 16,16 / Mt 11,12 f) 16 ⟨(Ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται μέχρι Ἰωάννου· ἀπὸ τότε ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ βιάζεται καὶ βιασταὶ ἁρπάζουσιν αὐτήν)⟩.

Nr. 48: Ewige Geltung der Torah (Lk 16,17 / Mt 5,18) 17 (Εὐκοπώτερόν ἐστιν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν παρελθεῖν ἢ τοῦ νόμου … μίαν κεραίαν πεσεῖν).

Nr. 49: Gegen die Ehescheidung (Lk 16,18 / Mt 5,32; vgl. Mk 10,11 f) 18 Πᾶς ὁ ἀπολύων τὴν γυναῖκα αὐτοῦ (ποιεῖ αὐτὴν μοιχευθῆναι) καὶ ὁ ἀπολελυμένην (ἀπὸ ἀνδρὸς) γαμὼν μοιχεύει.

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II. Studien zur Logienquelle

Nr. 50: Warnung vor Ärgernis (Lk 17,1 f / Mt 18,6 f; vgl. Mk 9,42) (Verszahlen nach Mt) 7 ⟨(Οὐαὶ τῷ κόσμῳ ἀπὸ τῶν σκανδάλων. ἀνάγκη) ἐλθεῖν τὰ σκάνδαλα· (πλὴν) οὐαὶ (τῷ ἀνθρώπῳ) δι᾽ οὗ (τὸ σκάνδαλον) ἔρχεται. 6 b (λυσιτελεῖ) αὐτῷ εἰ (κρεμασθῇ) λίθος μυλικὸς) περὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ καὶ (παταποντισθῇ ἐν τῷ πελάγει τῆς θαλάσσης) 6 a ἢ ἵνα σκανδαλίσῃ ⟨τῶν μικρῶν τούτων ἕνα⟩⟩.

Nr. 51: Vom Vergeben (Lk 17,3 f / Mt 18,21 f) Der relativ geschlossene Block von möglichen Q-Worten in Lk 17,1–6 und einige (wenige!) Wortlautübereinstimmungen könnten dafür sprechen, dass hier ein Q-Text vorliegt; aber er ist nicht rekonstruierbar. Nr. 52: Glauben wie ein Senfkorn (Lk 17,6 / Mt 17,19 f) Die Wortlautübereinstimmung ἔχετε πίστιν ὡς κόκκον σινάπεως könnte für ein Q-Wort sprechen, das dann vielleicht bei Lk erhalten wäre. Das bleibt aber ganz hypothetisch,

Das Kommen des Menschensohns (Lk 17,23–37 / Mt 24,26–28.37–41; vgl. Mk 13,21) Νr. 53: Der Menschensohn kommt wie ein Blitz (Lk 17,23 f / Mt 24,26 f) Μt 26 (Ἐὰν οὖν εἴπωσιν ὑμῖν· ἰδοῦ ἐν τῇ ἐρήμῳ ἐστίν, μὴ ἐξέλθητε· ἰδοῦ ἐν τοῖς ταμιείοις, μὴ διώξητε). 24 ὥσπερ γὰρ ἡ ἀστραπὴ (ἐξέρχεται ἀπὸ ἀνατολῶν καὶ φαίνεται ἕως δυσμῶν) οὕτως ἔσται ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐν τῇ ἡμέρᾳ αὐτοῦ.

Nr. 54: Die Tage Noahs (und Lots) (Lk 17,26 f.(28–30) / Mt 24,37–39) 26 (Καθὼς ἐγένετο ἐν ταῖς) ἡμέρ(αις) Νῶε, οὕτως ἔσται καὶ ἐν ταῖς ἡμέραις τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου· 27 (ἤσθιον), ἔπινον, ἐγάμουν, ἐγαμίζοντο ἄχρι ἧς ἡμέρας εἰσῆλθεν Νῶε εἰς τὴν κίβωτον, καὶ ἦλθεν ὁ κατακλυσμὸς (καὶ ἦρεν ἅπαντας). 287 (Ὁμοίως καθὼς ἐγένετο ἐν ταῖς ἡμέραις Λώτ, ἤσθιον, ἔπινον, ἠγόραζον, ἐπώλουν, ἐφύτευον, ᾠκοδόμουν, 7 Das Lotwort fehlt bei Mt. Einen überzeugenden Grund zur späteren Zufügung durch Lk gibt es m. E. nicht. Stammen V 28 f aus QLk? Oder hat Mt, wie andernorts auch, Q verkürzt? Zu den Möglichkeiten vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / ​3, Neukirchen / ​Düsseldorf 1997, 446 f, bes. Anm. 6 und 7.

10. Ein Q-Text

177

29 ᾗ δὲ ἡμέρᾳ ἐξῆλθεν Λὼτ ἀπὸ Σοδόμων, ἔβρεξεν πῦρ καὶ θεῖον ἀπ᾽ οὐρανοῦ καὶ ἀπώλεσεν πάντας.) 30 οὕτως ἔσται (ᾗ ἡμέρᾳ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἀποκαλύπτεται).

Nr. 55: Die Schrecken der Endzeit (Lk 17,34–378 / Mt 24,40 f.28) QMt 40 … ἔσονται δύο ἐν τῷ ἀγρῷ, εἷς παραλαμβάνεται καὶ εἷς ἀφίεται.

QLk 34 Ταύτῃ τῇ νυκτὶ ἔσονται δύο ἐπὶ κλίνης μίας, ὁ εἷς παραλημφθήσεται καὶ ὁ ἕτερος ἀφεθήσεται.

35 Ἔσονται δύο ἀλήθουσαι (ἐν τῷ μύλῳ), μία παραλαμβά(νεται), καὶ μία ἀφ(ίεται). 37 Ὅπου τὸ πτῶμα, ἐκεῖ συναχθήσονται ⟨οἱ ἀετοί⟩.

8 V 31

stammt wohl nicht aus Q, sondern aus Mk 13,15 f und wurde von Lk auf die Schrecken bezogen, die das Kommen des Menschensohns mit sich bringen wird. In diesem Fall hat er den Hinweis auf Lots Frau (V 32) eingefügt und das Logion vom Gewinnen und Verlieren des Lebens aus seinem ursprünglichen Q-Zusammenhang (o. Nr. 43) hieher versetzt. Die Alternative bestünde darin, in V 28–31 mit einem ursprünglichen Q-Zusammenhang zu rechnen. Mt hätte dann Q 17,31 f als Dublette zu Mk 13,15 f = 24,17 f und Q 17,33 als Dublette zu 10,39; 16,25 gestrichen. Er hätte dann das ursprünglich auf das Eschaton bezogene Logion Q 17,33 in Kap. 10 auf die Gegenwart bezogen und christologisch akzentuiert (ἕνεκεν ἐμοῦ). Diese Alternative, die ich früher selbst vertreten habe (vgl. den Aufsatz „Matthäus und Q“ in diesem Band u. S. 182 f) scheint mir heute weniger wahrscheinlich. Aber auch die Annahme einer Umstellung eines Q-Logions durch Lk ist sehr schwierig.

11. Matthäus und Q Die Logienquelle Q ist so etwas wie ein cantus firmus im wissenschaftlichen Werk von Paul Hoffmann. Sie ist ein Thema, auf das er früh in seiner wissenschaftlichen Biographie gestossen ist1 und das ihn seither nie losliess. Als MitHerausgeber des „Evangelisch-Katholischen Kommentars“ kann ich nur hoffen, dass in diesem Falle Herkunft zugleich auch Zukunft bedeuten möge.2 Ich möchte deshalb Paul Hoffmann, den engagierten Begleiter und Kritiker meiner eigenen Arbeit am Matthäusevangelium,3 mit einer Skizze grüssen, die seine Herkunft und seine erhoffte Zukunft ins Auge fasst. Sie setzt die Ergebnisse meiner eigenen Analysen in den drei ersten Kommentarbänden zu Matthäus4 voraus und ist darum in den Literaturverweisen bewusst knapp.

I. Zum Umfang von Q I. 1 Methodische Überlegungen Der Umfang von Q ist strittig. Man kann natürlich einfach alle in Matthäus und Lukas erhaltenen Doppeltraditionen als „Q“ bezeichnen, wie dies z. B. Siegfried Schulz getan hat.5 Ebenso möglich ist aber die Annahme, dass einerseits gewisse doppelt erhaltene Traditionen nicht zu Q gehört haben und dass umgekehrt die beiden Evangelisten auch Texte, welche in ihrem Q-Exemplar standen, weggelassen haben. Dann muss man zusätzliche Kriterien für die Zugehörigkeit  Vgl. Paul Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA NF 8, Münster 1972. zuletzt: Paul Hoffmann, QR und der Menschensohn, in: Frans Van Segbroeck (Hg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) I, BEThL 100, Leuven 1992, 421–456. Hoffmann ist der europäische Partner des International Q-Projects von Claremont / Californien. Für den „Evangelisch-Katholischen Kommentar“ hat er einen Kommentar zu Q versprochen. 3 Der EKK arbeitet mit dem System der σύζυγοι. Ein katholischer Partner liest und kritisiert das Manuskript eines evangelischen Autors, der an einem verwandten biblischen Buch arbeitet, und umgekehrt. Paul Hoffmann war und ist für mich ein idealer σύζυγος. Seiner intensiven Lektüre meines Kommentars und seinen manchmal sehr engagierten und temparamentvollen Randbemerkungen verdanke ich sehr viel! 4 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​Düsseldorf 52002; Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Neukirchen / ​Düsseldorf 21996; Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Düsseldorf 1997. 5 Siegfried Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972. 1

2 Vgl.

180

II. Studien zur Logienquelle

eines Textes zu Q finden. Sie alle sind zirkulär, denn sie setzen eine bestimmte Hypothese über die Gestalt der Quelle immer schon voraus und verstärken diese dann nachträglich wieder. Der zirkuläre Charakter ist unvermeidlich – aber man muss seine Voraussetzungen mindestens benennen. Wenn man, wie ich, von einer schriftlichen Gestalt der Logienquelle ausgeht, wird man 1. für Q-Texte eine Übereinstimmung im Wortlaut voraussetzen, die über eine vom gemeinsamen Stoff her ohnehin notwendige minimale Wortlautübereinstimmung hinausgeht, denn eine solche ist auch bei Traditionsvarianten in mündlicher Überlieferung erwartbar. Setzt man weiter, wie ich es tue, voraus, dass die schriftliche Logienquelle mindestens weithin einen erkennbaren Aufbau zeigt, nämlich eine Anordnung von Jesuslogien in thematischen Textblöcken, wird man 2. für eine Zugehörigkeit eines Textes zu Q mindestens hoffen, dass sich auch von Matthäus her die bei Lukas wohl weithin erhaltene Q-Reihenfolge von Einzeltexten durch gewisse Indizien bestätigen lässt.6 Eine grosse zusätzliche Schwierigkeit besteht nun darin, dass sich diese beiden Kriterien nicht immer miteinander kombinieren lassen. Z. B. das Logion vom Mamonsdienst (Q 16,13 = Mt 6,24) zeigt eine maximale Wortlautübereinstimmung; aber über seinen Platz in Q kann man nur rätseln. Umgekehrt wird die Reihenfolge der Feldrede von Q 6,20–49 durch die von Matthäus neu komponierte Bergpredigt weithin bestätigt, aber die Zahl der nicht eindeutig auf Redaktion der Evangelisten zurückführbaren Abweichungen im Wortlaut ist gerade hier besonders gross.7 Noch viel schwieriger ist der Fall der Weherede Q 11,39–52: Hier sind sowohl die durch Redaktion nicht zu erklärenden Abweichungen im Wortlaut gross als auch ist eine gemeinsame Reihenfolge der einzelnen Weherufe in Q kaum rekonstruierbar;8 nur gerade die Zugehörigkeit von Q 11,39–52 zum grossen Block von Q-Stoffen in Lk 11,2–12,59 steht fest. Diese beiden Textkomplexe werden meistens zu Q gerechnet – insbesondere bei den Weherufen hat dies merkwürdigerweise noch kaum jemand bezweifelt. Ist diese Meinung richtig, so muss es noch ein drittes Kriterium für die Zugehörigkeit eines Textes zu Q geben, nämlich 6 Forschungsgeschichtlich grundlegend ist hier Vincent Taylor, The Original Order of Q, in: Angus J. B.  Higgins (Hg.), New Testament Essays (FS T. W. Manson), Manchester 1959, 246–269. 7 Thomas Bergemann, Q auf dem Prüfstand, FRLANT 158, Göttingen 1993, 230 rechnet mit einem Anteil des gemeinsamen Wortlautes von nur ca 30 %. Schon früher hatte die Analyse der Bergpredigt / Feldrede durch Hans-Theo Wrege, Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt, WUNT 9, Tübingen 1968 zum Ergebnis geführt, dass hier nicht mit einer schriftlichen Quelle, sondern nur mit einer gemeinsamen mündlichen Tradition gerechnet werden könne. Dies entsprach der Grundthese von Joachim Jeremias, der eine schriftliche Gestalt von Q ablehnte. Wreges Analyse krankt daran, dass sie einseitig vom Problem der Wortlautübereinstimmungen ausgeht und die Reihenfolge der Einzeltexte vernachlässigt. 8 Vgl. dazu Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 4), 318 f.

11. Matthäus und Q

181

3. Ein Text muss innerhalb des Makrotextes von Q, d. h. in einem grösseren Q-Block, eindeutig platziert werden können. Dies ist bei der Weherede wohl der Grund, warum alle ForscherInnen, welche eine schriftliche Logienquelle annehmen, sie dazurechnen: Sie gehört zum grossen Block von Q-Texten in Lk 11,2–12,59. Das ist auch für die Feldrede entscheidend: Die Platzierung der Bergpredigt im Matthäusevangelium entspricht derjenigen der Feldrede zwischen der Versuchungsgeschichte Q 4,1–13 und der Geschichte vom Hauptmann von Kafarnaum Q 7,1–10. Beim ausgezeichnet überlieferten Mammonwort Q 16,13 bleibt hier dagegen eine Schwierigkeit: Der Makrotext von Q 16,13–18 ist sehr brüchig und unsicher.9 I. 2 Unsichere Q-Texte Besonders schwierig sind also die Zuweisungen zu Q bei Einzeltexten, die ausserhalb derjenigen Textkomplexe des Lukasevangeliums liegen, in denen überwiegend Q-Texte gesammelt sind, d. h. ausserhalb von Lk 3,1–17; 4,1–13; 6,20–7,35; 9,57–10,16; 11,2–12,59; 13,18–35; 17,23–37. Darunter fallen Lk 14,15–27.34 f; 15,3–7; 16,13–18; 19,12–27; 22,28–30. Die meisten ForscherInnen entscheiden bei diesen unsicheren Texten nach Ermessen, ohne klare Kriterien zu besitzen. In ihren Entscheidungen werden sie immer schon durch die Vorstellungen von Q, die sie selbst haben, geleitet. Man hat den Eindruck, dass sie im Zweifelsfalle „mutig“ sind, weil sie die Hypothese einer schriftlichen Q-Quelle ohnehin vertreten. In diesen Ermessensentscheidungen liegt natürlich ein wissenschaftstheoretisches Problem, das ich auch nicht lösen kann. Ich gebe im Folgenden eine Übersicht über meine Abweichungen vom Grundsatz „Doppelüberlieferungen = Q“. a) Sehr unsicher bin ich bei den Logien, die bei Lukas in dem kleinen Block 16,13–18 überliefert werden, d. h. bei Q(?) 16,13.16.17.18. Gegen die Zugehörigkeit dieser Logien zu Q spricht, dass das vereinzelte kleine Q-Stück 16,13.16– 18 weder ein klares eigenes Thema hat, noch sich an einen vorangehenden oder nachfolgenden Q-Block thematisch anschliessen lässt. Ausserdem handeln die drei Logien Q 16,16–18 zwar alle vom Gesetz, aber in recht verschiedener Weise. Von der matthäischen Reihenfolge der Logien her (= Kriterium 2) liesse sich im Falle von Q 16,17 und 18 = Mt 5,18.3210 und vielleicht im Falle des wenigstens in der Nähe platzierten Logions Q 16,13 = Mt 6,24 die Q-Zugehörigkeit verstärken. Von der Wortlautübereinstimmung her (= Kriterium 1) ist nur gerade Q 16,13 = Mt 6,24 ein klarer Fall. Bei den anderen Logien sind die Wort-

 9 Vgl.

unten I. 2 unter a). die Zugehörigkeit von V 32 zu Q spricht ausserdem das Redaktionsverfahren des Mt in 5,21–48: Er fügt Q Stoffe sowohl als einzelne Logien, als auch als ganze Antithesen an seine aus einer schriftlichen Antithesenquelle übernommenen „primären“ Antithesen an. 10 Für

182

II. Studien zur Logienquelle

lautübereinstimmungen zu unerheblich, um als ein Argument für Q ins Gewicht fallen zu können.11 Fazit: Ich muss bei einem Non-liquet stehen bleiben. b) Nicht zu Q gehören m. E. Lk 15,3–7 = Mt 18,12 f,12 Lk 22,28–30 = Mt 19,28, Lk 14,15–24 = Mt 22,1–10,13 Lk 19,11–27 = Mt 25,14–30. Bei diesen Stellen ist keines der drei Kriterien erfüllt. Ich rechne also damit, dass Q 17,37 das Ende der Logienquelle bildete. I. 3 Von Mt weggelassene Q-Texte Besonders schwierig ist natürlich die Frage, welche Worte, die in Q standen, von Matthäus möglicherweise weggelassen wurden. Dass so etwas geschah, ist nicht auszuschliessen, auch wenn man hier sehr vorsichtig sein muss, weil Matthäus aus seiner Markusvorlage nur ganz wenig weggelassen hat. Immerhin können wir bei einigen Q-Passagen deutlich erkennen, dass der Evangelist die Tendenz hatte, zu straffen.14 Dass ein von Matthäus nicht gebrachtes Jesuswort in der Logienquelle stand, also vom Evangelisten bewusst gestrichen wurde, wird man aber nur dann vermuten dürfen, wenn es 1. im Lukasevangelium in einem geschlossenen Q-Kontext stand und wenn es sich 2. um ein Wort handelt, das inhaltlich in Spannung zu den theologischen Grundgedanken des Matthäusevangeliums steht. Zwischen einem von Matthäus weggelassenen Logion aus Q und einem von Lukas oder in QLk hinzugefügten Jesuswort kann man allerdings manchmal kaum unterscheiden. Möglicherweise von Matthäus weggelassen wurden: Q 10,4 b,15 Q 12,49 f,16 Q 12,54–56(?),17 Q 17,28–31(?).18 11 Im

Fall von Q(?) 16,16 = Mt 11,12 f ist die Frage nach dem Wortlaut besonders schwierig. Die meistens gebotene Rekonstruktion des Q-Logions als Kombination von Lk 16,16 a mit Mt 11,12 (so z. B. Athanasius Polag, Fragmenta Q, Neukirchen 1979, 74) ist m. E. ziemlich willkürlich, da Lk 16,16 a dem lk Geschichtsverständnis ausgezeichnet entspricht! 12 Die Wortlautübereinstimmung sind relativ gering; die Abweichungen sind nur zum Teil klar als Redaktion zu bestimmen. Vgl. Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 4), 25 f. 13 Oder sollte man mit einem Q-Block rechnen, der Lk 14,16–24.26 f + Lk 17,33 + Lk 14,34 f umfasste? M. E. ist aber gerade bei Mt 22,1–14 // Lk 14,16–24 die Ähnlichkeit beider Gleichnisfassungen so gering, dass ich lieber mit einem Q-Block rechne, der nur aus Logien besteht, den man als „Nachtrag“ oder „Verstreute Logien“ bezeichnen könnte. Er könnte Lk 14,26 f + Lk 17,33; Lk 14,34 f; Lk 16,13.16–18 und Lk 17,1–6 umfasst haben. Ein gemeinsames Thema haben diese Logien allerdings nicht, und warum Lukas diesen Q-Block in dieser Weise „auseinandergelegt“ hätte, bliebe mir trotz der redaktionsgeschichtlichen Überlegungen von Hans Klein, Botschaft für viele. Nachfolge von wenigen. Überlegungen zu Lk 14,15–35, EvTh 57 (1997), 427–437 rätselhaft. Lk hat sonst nie einen Q-Block in dieser Weise zerstreut! 14 Dies gilt für Q 6,27–36, wo Mt die Q-Sequenz auf zwei Antithesen verteilte und dabei offenbar einem gewissen Symmetrieprinzip zwischen den Antithesen folgte, vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 4), 325.385. 15 Der Widerspruch zu Mt 5,46 f ist offensichtlich! 16 Mt hat den Q-Block Q 12,39–46 vollständig in seine eschatologische Rede integriert und die darauf folgenden Q-Texte exzerpiert oder weggelassen. Neben Q 12,49 f hat er wohl auch

11. Matthäus und Q

183

II. Zur Version QMt Unter QMt verstehe ich die von Matthäus benutzte schriftliche Q-Fassung. Die Annahme zweier verschiedener Fassungen eines Textes ist im Rahmen antiker religiöser Kleinliteratur und „Sub-Literatur“ zwar überhaupt nicht ungewöhnlich. Aber aus literarkritischer Sicht ist sie natürlich das Ergebnis einer Verlegenheit. Sie hat einen grossen „Pferdefuss“, den Thomas Bergemann klar formuliert: „Es kann nicht erklärt werden, aus welchem Grunde die Tradenten einen Teil der Überlieferung nahezu identisch weitergaben und einen anderen ungemein stark modifizierten“.19 Nun sind die Schwierigkeiten aber nicht unüberwindlich, da m. E. bei keinem grösseren Q-Text die Existenz von vorredaktionellen Textvarianten völlig ausgeschlossen werden kann. Bergemann hat sich seine Aufgabe ausserdem sehr leicht gemacht, da er mit der Feldrede einen „Testfall“ mit besonders vielen vorredaktionellen Wortlautdifferenzen wählte und nicht die ganze Logienquelle untersuchte.20 Wenn man die Hypothese von verschiedenen Q 12,54–56 weggelassen, vgl. u. Anm. 17. Für die Weglassung von 12,50 durch Mt spricht, dass Mt auch Mk 10,38 b wegliess, für diejenige von Q 12,49, dass er sonst nie mehr (pace 3,11) das Gerichtsfeuer mit dem gegenwärtigen Wirken Jesu verbindet. 17  Die Beziehungen zwischen Lk 12,54–56 und Mt 16,2 f sind sehr schwierig zu beurteilen. Textkritisch scheint mir der Kurztext von Mt 16,1–4 eher ursprünglich, vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 4), 443 f gegen Claus P. März, „… Lasst eure Lampen brennen!“, EThS 20, Leipzig 1991, 32–43. Für Streichung durch Mt könnte sprechen, dass Mt ausser dem Zeichen des Jona (12,38–40) und dem Zeichen, das der Menschensohn selbst ist (24,30), kein Zeichen kennt: der Menschensohn kommt wie der Blitz eines Gewitters (24,27). Das Urteil bleibt hier aber ganz unsicher! 18 Q 17,31 hat Mt vielleicht mit Mk 13,15 f verbunden und bereits in 24,17 f wiedergegeben. Q 17,30 hat wohl Mt 24,39 b inspiriert. Das Lotbeispiel (Q 17,28 f) wird von vielen als sekundäre Erweiterung betrachtet. Dagegen spricht aber, dass Mt eschatologische Aussagen aus Q auch sonst gekürzt hat, wenn sie sich nicht paränetisch fruchtbar machen liessen (vgl. Q 12,35–38(??); 12,49 f.54–56(?). Weitere Gründe für eine mt. Auslassung nennt David Catchpole, The Quest for Q, Edinburgh 1993, 248 f. 19  Bergemann, Q (o. Anm. 7), 233. In der Tat sind die Unterschiede zwischen einzelnen Q-Komplexen gross: Die Variationsbreite von QMt und QLk scheint beispielsweise im Bereich der Feldrede und der Weherufe sehr hoch, im Bereich der Versuchungsgeschichte und bei einigen weiteren Einzeltexten (z. B. Q 12,39 f. 42–46; 13,34 f; 16,13) dagegen gering. 20 Er nimmt für Q 6,20–49 statt Q eine besondere „Grundrede“ an. Auch die Studie von Wrege (o. Anm. 7) beschränkt sich auf die Bergpredigt / Feldrede. Anderer Art ist die Sonderlösung, die Hans Dieter Betz, The Sermon on the Mount, Hermeneia, Minneapolis 1995 vorschlägt: Er setzt für die Bergpredigt und die Feldrede je eine (mit ihrer jetzigen Gestalt in Mt und Lk eng verwandte) Sonderquelle und zwischen beiden lediglich ein „common pattern of composition“ (a. a. O. 70) voraus. Hier hat sich „Q“ in ein „pattern“ verflüchtigt, während allein die Sonderquellen (die QMt und QLk entsprechen würden) schriftliche Texte sind. Für die Q-Frage wenig hilfreich sind solche Thesen, solange sie nicht die Existenz einer Logienquelle insgesamt falsifizieren, sondern sich nur mit einzelnen – besonders geeigneten! – Textkomplexen beschäftigen. Von ihnen ausgehend müsste man im Prinzip für jeden einzelnen Teil der Doppeltraditionen eine Sonderlösung suchen und kann die beträchtlichen Indizien dafür, dass Mt die in Lk erhaltene Reihenfolge aller Doppeltraditionen kennt, nicht integrieren.

184

II. Studien zur Logienquelle

Q-Rezensionen, die sich z. B. bei der Feldrede, aber nicht nur dort, aufdrängt, ablehnt und die vorredaktionellen Textdifferenzen anders erklären will, so führen die Sonderlösungen, die man dann für einzelne Textkomplexe postulieren muss, von selbst zur Auflösung der Gesamthypothese einer schriftlichen Logienquelle Q. Mit anderen Worten: Die Annahme verschiedener Q-Rezensionen ist eine Schwierigkeit, welche diejenigen, die aus anderen Gründen von der Existenz einer schriftlichen Logienquelle überzeugt sind, zwangsläufig in Kauf nehmen müssen, ohne dass sie die Richtigkeit dieser These beweisen können. Dass vorredaktionelle Textvarianten gerade bei Textkomplexen, von denen wir annehmen müssen, dass sie für die Gemeinden besonders wichtig waren und die darum besonders oft gebraucht wurden, wie z. B. bei der Feldrede, bei der Aussendungsrede und bei den Weherufen, nicht nur erwartbar, sondern besonders zahlreich sind, mag dabei ein schwacher Trost in dieser Schwierigkeit sein. In diesem Sinn vertrete auch ich die Hypothese einer besonderen Version QMt als Verlegenheitshypothese. Ich gebe einen Überblick über die Texte, die mutmasslich oder möglicherweise im Q-Exemplar des Matthäus, aber kaum im Q-Exemplar des Lukas standen. Dies ist vor allem bei Texten möglich, die bei Matthäus in einen aus Q übernommenen Textkomplex fest integriert sind, aber bei Lukas fehlen. Ich erwäge bei folgenden Texten diese (jeweils unterschiedlich wahrscheinliche21) Möglichkeit: Mt 5,5.7–9; Mt 5,19(?); Mt 5,41; Mt 6,34; Mt 7,2 a; Mt 7,6(?);22 Mt 10,5 f(?); Mt 10,16 b; Mt 10,23(?); Mt 10,41(?); Mt 18,15 b–17.18;23 Mt 23,15(?). Dass Lukas, der Q in grösseren Blöcken einschiebt, diese Texte weggelassen hätte, ist in den meisten Fällen unwahrscheinlich.24

 Sehr unsichere Stellen sind mit (?) markiert. These ist ein reiner Verlegenheitsvorschlag. Eine Einfügung des Logions durch Mt bliebe unverständlich (vgl. Luz, Mt 1–7 [o. Anm. 4], 497. Im Kontext der Q-Feldrede bliebe das Logion aber auch ein isolierter Splitter. Hat es deshalb vielleicht Lk aus seiner Q-Quelle gestrichen? Durch 4QMMT (= 4Q 396,9 f) und die weiteren bei William D. Davies / Dale C. Allison, The Gospel according to St. Matthew I, ICC, Edinburgh 1988, 675 angegebenen halakischen Stellen ist deutlich, dass das Bildmaterial des Logions in seinem ersten Teil einen jüdisch-kultischen Hintergrund hat. Aber sein zweiter Teil macht deutlich, dass das Kultische zur blossen Metapher geworden ist. Das Logion ist nach wie vor nicht deutbar. 23 Zu diesen beiden Stellen und zu Mt 5,19 sind viele der Überlegungen von Dieter Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen 1969, 110–117 wichtig. 24 Unwahrscheinlich ist eine lk Streichung dort, wo QLk einen anderen „Ersatztext“ hat, nämlich bei QMt 5,5.7–9; 6,34, oder dort, wo der Text von QMt offensichtlich eine erweiternde Zufügung ist, nämlich bei QMt 10,16 b; 10,41 und vielleicht 18,15 b–18. Für eine lk Streichung von QMt 5,41 und 23,15 durch Lk gäbe es überhaupt keine inhaltlichen Gründe. Sehr schwierig bleiben Mt 7,6; 10,5 f.23. 21

22 Die

11. Matthäus und Q

185

Fazit: Im ganzen ergibt diese Liste, dass QMt sich vom Grundstock von Q nicht wesentlich unterschieden hat. Die vorredaktionellen Erweiterungen in QMt sind kurz und passen in ihrer Gattungen zu den Q-Komplexen, in die sie eingefügt wurden. Sie tragen alle in unterschiedlicher Weise judenchristliches Gepräge und sind aufschlussreich für das Traditionsmilieu, aus dem Matthäus seine Q-Quelle übernommen hat. Im Unterschied zum Lukasevangelium, wo das redaktionsgeschichtlich m. E. nicht mehr aufzuhellende kompositionelle Durcheinander zwischen Q und Sondergutstraditionen besonders im grossen Reisebericht darauf hinweisen könnte, dass Q dem dritten Evangelisten in einer wesentlich erweiterten – vor allem auch durch ganz andere Gattungen erweiterten – Gestalt vorlag, scheint der erste Evangelist der ursprünglichen literarischen Gestalt von Q und vermutlich auch seinem ursprünglichen Trägerkreis relativ nahe zu stehen.25

III. Wie hat Matthäus Q in sein Evangelium eingearbeitet? Der – auch gegenüber Lukas – auffälligste Befund ist, dass Matthäus mit seinen beiden Hauptquellen Markus und Q so verschieden verfuhr. Das Markusevangelium hat er von 2,23 = Mt 12,1 an sozusagen ohne Änderungen seiner Reihenfolge übernommen, sodass sein Evangelium als Neuausgabe des Markusevangeliums verstanden werden kann. Die Logienquelle dagegen hat Matthäus „ausgeschlachtet“ und dabei ihren Aufbau zerstört.

25 So auch Paul Hoffmann, QR und der Menschensohn (o. Anm. 2), 454 im Anschluss an eine These von O. H. Steck.

186

II. Studien zur Logienquelle

Summarische Übersicht über die Einarbeitung von Q in Mt Verkündigung des Täufers Versuchung Jesu Feldrede Hauptmann v. Kafarnaum Täuferrede Nachfolge und Aussendung Gebetsteil Beelzebulstreit, Jonazeichen Lichtsprüche Weherufe Vom Bekennen Vom Besitz Wachsamkeit vor dem Eschaton Gleichnisse Eschatologische Mahnungen Verschiedene Worte

Mk

Q = Lk

Mt

1,2–8

3,7–9.16f

B 3,1–12

1,12f [1,21f]

4,1–13 6,20–49 7,1–10

B 4,1–11 B 5–7 B 8,5–13

6,7–13

7,18–35 9,57–10,24

3,22–30

11,2–13 11,14–32

B* 11,2–19 E 8,19–22; B 9,37; 10,5–16.40 B* 11,20–27 E 13,16f E+ 6,9–13; 7,7–11 B 12,22–42

(12,38–40)

11,33–36 11,39–52 12,2–12 12,22–34 12,39–59

4

13,18–21 13,22–35

8,34 9,42

14,26 f. 14,34f 16,13.16–18 17,1–6 17,23–37

Eschatologische Worte 13

E+ 5,15; 6,22f B* 23 B* 10,26–33; E 12,31 f. B* 6,19–33 B* 24,43–51 E 10,34–36; 5,25f B 13, 31–33 E+ 7,13 f.22f; 8,11f; 23,37–39 E 10,37f; E 5,13 E(+) 6,24; 11,12f; 5,18.32 E(+) 18,6f.15–22; 17,19f. E(+) 24,23–27.17f B/E 24,37–41 E 24,28

Unterstreichung: Die Reihenfolge von Q-Blöcken und mk Parallelen oder „Aufhängertexten“ ist dieselbe B Blocktechnik: Mt übernimmt einen Q-Block geschlossen, u.U. mit leichten internen Textumstellungen B* Der Block wird dabei gegenüber der mutmasslichen Q-Reihenfolge umgestellt Exzerpttechnik: Mt exzerpiert Q-Blöcke und platziert die Einzellogien E an verschiedenen Orten seines Evangeliums E+ Die Reihenfolge der Q-Logien bleibt dabei bei Mt weitgehend erhalten

11. Matthäus und Q

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Ein kurzer Blick auf diese – im einzelnen summarische – Tabelle ergibt folgendes: 1. Matthäus hat zwei grundsätzlich verschiedene Techniken für die Einarbeitung von Q. Er konnte entweder ganze Q-Abschnitte blockweise übernehmen (= B, Blocktechnik). Oder er hat Q-Abschnitte exzerpiert, d. h. seine Einzellogien in eigene Kontexte eingearbeitet (= E, Exzerpttechnik). 2. Im Fall von Blocktechnik hat er die durch die Logienquelle gegebene Reihenfolge der Blöcke oft nicht beibehalten, sondern die Blöcke umgestellt (= B*). Matthäus hatte also an der Reihenfolge der Jesusüberlieferungen in Q kein selbständiges Interesse. 3. Wenn die Reihenfolge einiger grosser Stoffblöcke der Logienquelle auch bei Matthäus erhalten blieb, dann oft nur deshalb, weil sie auch der Reihenfolge verwandter Stoffblöcke im Markusevangelium entsprach. 4. Im Fall von Exzerpttechnik lässt sich relativ häufig, aber nicht immer, beobachten, dass Mt Q-Blöcke fortlaufend exzerpiert, d. h. die Q-Reihenfolge ganz oder weitgehend beibehält (= E +). 5. Alle diese Beobachtungen lassen sich dann am leichtesten nachvollziehen, wenn man annimmt, dass Matthäus paläographisch Q in Gestalt von Einzelblättern vor sich liegen hatte, die er nebeneinander legen und einzeln verwenden konnte. Q hatte also vermutlich die Gestalt einer Zettelsammlung oder eines fadengebundenen Notizheftes,26 nicht die Gestalt eines festgebundenen Codexes. Einige weitere Beobachtungen lassen sich hier gut anschliessen: Wenn Matthäus seine Reden komponiert, so ist fast immer eine Textpassage im Markusevangelium sein „Aufhänger“ für die Rede, der ihren Anfang dominiert. Das gilt für die Aussendungsrede (Mt 10): Sie setzt zunächst einmal mit der Einleitung von Mk 6,7 ein, fügt die markinische Apostelliste von Mk 3,16–19 ein und bringt in ihrem ersten Teil eine nach der Q-Parallele Q 10,2–12 erweiterte Parallele zu Mk 6,8–11. Erst nachdem der Markustext „aufgebraucht“ ist, bringt sie überwiegend Q-Text. Noch einmal nimmt sie ein Stück des Markusevangeliums auf (Mk 13,9–13 = Mt 10,17–22) und arbeitet die Q-Parallele Q 12,11 f ein (= Mt 10,19 f). Die Reihenfolge der Q-Logien kann dabei verändert werden (vgl. Q 10,2 f). Für den zweiten Teil der Rede Mt 10,24–39 exzerpiert Matthäus Q-Stoffe aus anderen Teilen der Quelle fortlaufend, d. h. unter Beibehaltung ihrer Reihenfolge (Q 6,40; 12,2–9; 12,51–53; 14,26 f [+Lk 17,33], bevor er zum ursprünglichen Schluss der Q-Aussendungsrede zurückkehrt (Q 10,16 = Mt 10,40). Ähnlich ist es in anderen Reden: Die Gleichnisrede (Mt 13) besteht zunächst aus Markusstoff (Mt 13,1–23.31 f = Mk 4,1–20. 30–32) und dem matthäischen 26 Dies entspricht der aufgrund von anderen, nämlich traditionsgeschichtlichen Überle­gun­ gen gewonnenen Hypothese von Migaku Sato, Q und Prophetie, WUNT II 29, Tübingen 1988, 62–68.

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II. Studien zur Logienquelle

„Gegengleichnis“ zum weggelassenen Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), der Parabel vom Taumellolch im Weizenfeld (Mt 13,24– 30).27 Das einzige nur in Q überlieferte Gleichnis, dasjenige vom Sauerteig (Q 13,20 f), wird an der vom Markus-Aufriss her nächstliegenden Stelle eingefügt (= Mt 13,33). Die Gemeinderede (Mt 18) setzt wiederum an der durch das Markusevangelium gegebenen Stelle mit Markusstoff ein (Mk 9,36 f. 42–48 = Mt 18,2–9) und arbeitet paralleles Q-Gut in die Markussequenz ein (Q 17,1 f = Mt 18,6 f). Im zweiten Teil der Rede dominiert Sondergut; vermutlich wird nur ein einziges Q-Stück, nämlich eine unmittelbar an das vorher benutzte Stück Q 17,1 f anschliessende, vielleicht in QMt erweiterte Fassung von Q 17,3 f, in die matthäische Komposition eingefügt (= Mt 18,15–22). In der eschatologischen Rede Mt 24 f ist es wiederum gleich: Ihren Rahmen bildet eine Schilderung der Endzeitereignisse, die aus Mk 13,3–32 (= Mt 24,3–36) und dem Sondergutstext Mt 25,31–46 besteht. In die erste aus Markus stammende Textfolge sind einzelne Q-Logien an passender Stelle eingearbeitet oder berücksichtigt (Q 17,23 f.37 = Mt 24,26 f.28).28 Für den folgenden Abschnitt exzerpiert Matthäus zwei QSequenzen, wobei er beide verkürzt (Q 17,26 f.(28 f).30.34 f = Mt 24,37–41 und Q 12,39–46 = Mt 24,43–51). Er hält sich hier jeweils an die Q-Reihenfolge. In den übrigen matthäischen Texten ist das Bild nur teilweise ähnlich. Die Weherede Kap. 23 ist infolge der Unsicherheit des Q-Textes sehr schwer zu beurteilen. Ihr Ausgangspunkt ist wiederum die markinische Weherede (Mk 12,38–40), deren Text von Matthäus wieder möglichst am Anfang seiner eigenen Rede benutzt und mit einem Q-Weheruf verbunden wird (Q 11,43). Der Hauptteil der Weherede von Q 11,39–52 wird erst im Folgenden angefügt und etwas ergänzt (23,13–36), wobei es fast unmöglich zu sagen ist, welcher Evangelist die Q-Reihenfolge besser erhalten hat. Am Schluss steht wieder ein von Matthäus von anderswoher exzerpiertes Q-Logion (Q 13,34 f = 23,37–39). In der polemischen Rede Mt 12,22–45 liessen sich der Markus-Text Mk 3,22–30, der nach Mt 12,1–21 an der Reihe war, und der Q-Text Q 11,14–23 harmonisch miteinander verbinden. Wiederum hat Matthäus am Schluss dieses Abschnittes aus anderen Abschnitten von Q zusätzliches Material eingefügt (Q 12,10; 6,43–45 = Mt 12,31–37). Die Platzierung der folgenden Zeichenforderung ist ausnahmsweise nicht von Markus veranlasst, sondern Matthäus lässt Texte folgen, die in Q im Zusammenhang der Beelzebub-Debatte stehen, wobei er sich an die Q-Reihenfolge nicht hält (Mt 12,38–45 = Q 11,16. 29–32. 24–26). Dies tut er darum, weil die Zeichenforderung für ihn so wichtig ist, dass er sie zweimal bringt.29 Man kann also auch den Abschnitt Mt 12,22–45 als einen in seiner Po27 Vgl.

Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 4), 322. Q-Reihenfolge bleibt erhalten. 29 12,38–40; 16,1–4. Repetition ist für Mt ein pädagogisches Mittel, vgl. Janice C. Anderson, Matthew’s Narrative Web. Over, and Over, and Over Again, JSNT.S 94, Sheffield 1994. 28 Die

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sition durch die Markusquelle veranlassten, aber von Matthäus wie üblich durch zusätzliche Q-Stoffe erweiterten Textabschnitt verstehen. Das polemische Kapitel Mt 11 ist kompositorisch einfach zu verstehen: Hier gibt es keinen markinischen Ausgangspunkt. Matthäus hat die früher bewusst zurückgestellte zweite Täufersequenz Q 7,18–35 durch aus der Q-Aussendungsrede nicht übernommene Worte (Q 10,13–15. 21 f) zu einer eindrücklichen Rede Jesu zusammengestellt, welche die sich zuspitzende Spannung zwischen Jesus und Israel zeigt und zugleich diese Jesus ablehnende γενεά (11,16–24) der Gemeinde der νήπιοι (11,25–27) gegenüberstellt. Er ergänzt diese im wesentlichen Q verdankte Komposition durch zwei Texte, nämlich den „Stürmerspruch“ 11,12 f, der in seiner matthäischen Version den Täufer in die Zeit der βασιλεία hineinnimmt, und den Heilandsruf 11,28–30, der die paränetische Dimension der Offenbarung an die νήπιοι heraushebt. Nicht ganz in das übliche Bild passt die Bergpredigt (Mt 5–7), weil es hier zwar einen markinischen Anknüpfungspunkt (Mk 1,21), aber keinen markinischen Quellentext gibt. So bildet denn – faute de mieux – die Feldrede von Q 6,20–49 das Dispositionsgerippe. Man muss aber diese Feststellung sogleich einschränken: Überall, wo Matthäus andere schriftliche Quellentexte zur Verfügung hatte, hat er ihnen den Vorrang gegeben und Q-Texte nur in sie ein‑ oder an sie angefügt. Das gilt wohl für die ihm überkommene, wohl schriftliche Antithesenquelle (Mt 5,21 f. 27 f. (33–37), in die er Q-Stoffe aus der Feldrede und anderswoher ein‑ und anfügte (Q 12,57–59 = Mt 5,25 f; Q 16,18 = Mt 5,32; Q 6,27–30. 32–36 = Mt 5,39–42. 44–48). Dasselbe gilt für die wohl auch schon schriftliche „Frömmigkeitsregel“ Mt 6,2–18, in welche Q 11,2–4 eingefügt ist. Im zweiten Teil der Bergpredigt erweitert Matthäus die Quelle Q 6,37–49 durch Exzerpte aus mehreren anderen Teilen von Q, nämlich aus Q 12,22–34; 11,34–36; 16,13; 11,9–13; 13,23–27), wobei mindestens in einem Fall wieder einmal ein „fortlaufendes“ Exzerpt festzustellen ist (Q 13,23 f. 25–27. 28 f = Mt 7,13 f. 22 f.; 8,11 f.). Auch hier können wir also sagen: Q dient zum Teil als „Exzerptmaterial“, wobei aber der Grundtext der Bergpredigt, in den hinein exzerpiert wird, auch aus Q stammt. Was ist aus all dem zu schliessen? Erstens zeigt es sich, dass das Einarbeitungsverfahren des Matthäus gegenüber der Logienquelle bemerkenswert homogen ist. In fast allen grösseren von Q geprägten Abschnitten verfährt der Evangelist ähnlich. Das ist – post festum – ein Argument dafür, dass es diese Quelle wirklich gegeben hat. Zweitens zeigt sich, dass Matthäus die Q-Quelle ausgezeichnet gekannt und überblickt hat. Er hat sie nicht nur in mehreren Anläufen fortlaufend exzerpiert und hat nicht nur mehrmals grössere Q-Komplexe in neue Zusammenhänge integriert,30 sondern auch sehr gezielt einzelne Logien aus völlig anderen Q-Kontex30 So

z. B. im Fall von Q 12,22–34; 11,2–13; 12,2–9; 11,39–52; 13,22–30.

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II. Studien zur Logienquelle

ten in seine eigenen Kompositionen verschoben, manchmal an Schlüsselstellen. Beispiele dafür sind 5,13 (= Q 14,34 f); 5,14 f (= Q 11,33); 5,25 f (= Q 12,57–59); 6,22 f (= Q 11,34–36); 6,24 (= Q 16,13); 10,24 f (= Q 6,40); 12,31 f (= Q 12,10); 23,37–39 (= Q 13,34 f). Matthäus hatte also einen ganz ausgezeichneten Überblick über die Logienquelle, vermutlich einen viel besseren als Lukas, der seine Quellen ziemlich mechanisch hintereinander schachtelt. Man wird darum auch davon ausgehen dürfen, dass er an Stellen, wo er Dubletten zwischen Q und Markus hat stehen lassen,31 dies ebenso absichtlich getan hat wie er Dubletten auch neu geschaffen hat.32 Die dritte Folgerung ist die, dass die Quelle Q für Matthäus offensichtlich nicht den selben Charakter hatte wie das Markusevangelium. Sie war für ihn kein geschlossenes Buch wie das Markusevangelium. Obwohl die Logienquelle insbesondere in ihren späteren Traditionsschichten grosse Ansätze zu einer narrativen Form zeigt, war sie für Matthäus keine dem Markusevangelium vergleichbare zweite Jesusgeschichte. Vielmehr war sie für ihn eine Materialsammlung mit Worten des Herrn. Ihre Dignität respektierte er, indem er ihren Wortlaut – in vielen Fällen treuer als Lukas – bewahrte und indem er sie mit grosser Vollständigkeit exzerpierte. Ihre Komposition und Anordnung war für ihn aber nicht wichtig; er gibt Markus sogar bei der Einfügung seiner Reden den Vorrang und respektierte die Anordnung von Q fast nur, soweit es sich von seiner Markusquelle her nahelegte und sofern es sich beim „fortlaufenden“ Exzerpieren natürlich so ergab. Matthäus las also die Logienquelle so, wie man im zweiten Jahrhundert weithin die Evangelien las, nämlich als „Erinnerungen“, die darum wichtig waren, weil sie die lebendigen Worte des κύριος aufbewahrten. Für ihn selbst war aber wichtig, dass der κύριος nicht ohne die „Basis“ seiner Geschichte zu haben und zu hören ist.33 Diese fand er im Markusevangelium.

IV. Die theologische Bedeutung von Q für Matthäus Damit stehen wir bei der Frage nach der theologischen Bedeutung von Q für das Matthäusevangelium. a) Für Matthäus ist das εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας (4,23; 9,35) Jesu eigene Verkündigung.34 Sein Anliegen war es, die kirchliche Verkündigung an der Verkündigung Jesu selbst zu orientieren. Alle Gebote Jesu bilden den Inhalt der 31 Z. B.

12,39 f und 16,1 ff. 7,16ff // 12,33ff, vgl. auch 9,32 f // 12,22 f. 33 Vgl. Eduard Schweizer, Aufnahme und Gestaltung von Q bei Matthäus, in: Lorenz Oberlinner u. a. (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt (FS. A. Vögtle), Stuttgart 1991, 112. Ebd. 129: „Der Inhalt von Q kann nur zusammen mit der Verkündigung des ganzen Wirkens Jesu … überliefert und verstanden werden“. 34 Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 4), 248 f. 32 Z. B.

11. Matthäus und Q

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Missionsverkündigung (28,20). Das Markusevangelium hatte sich selbst nicht als Verkündigungsbuch verstanden, sondern als ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου, als Anfang und zugleich Grundlage der Verkündigung (Mk 1,1). Matthäus ergänzte also die „Basis“ um das Evangelium selbst.35 Er benutzte Q nicht als zweite Jesusgeschichte, sondern als Materialsammlung, um der markinischen Jesusgeschichte das dort nur rudimentär überlieferte „Evangelium vom Reich“ hinzuzufügen. Diese Ergänzung erfolgte in erster Linie in seinen fünf Reden. Seine erste, programmatische Rede, die Bergpredigt, folgt dem Aufriss der Q-Feldrede und wird vom Evangelisten explizit als Jesu „Evangelium vom Reich“ verstanden (4,23). Ebenso wie der Redaktor von Q (7,22), so blickt auch Matthäus in 11,5 durch die Formulierung πτωχοὶ εὐαγγελίζονται auf sie zurück. Dem entspricht, dass die matthäischen Reden, in welchen der Grossteil der Q-Stoffe gesammelt ist, „zum Fenster hinaus gesprochen“ sind, d. h. sie sind nicht Teil der Geschichte Jesu selbst, sondern sie wenden sich aus der damaligen Situation direkt an die zeitgenössischen LeserInnen des Matthäusevangeliums. In seiner βίβλος bindet Matthäus also die Verkündigung seiner Gemeinde, die keine andere ist als die Verkündigung Jesu selbst, an ihre ἀρχή, welche das Markusevangelium erzählt: Nur als Teil einer Jesusgeschichte kann das matthäische „Evangelium vom Reich“ das eigene Evangelium Jesu sein; das Evangelium vom Reich gibt es nicht anders als eingebettet in die Geschichte Jesu. Diese Einbettung ist die theologische Leistung des Matthäus. Daran wird deutlich, wo die wichtigste theologische Bedeutung von Q für Matthäus lag: Q enthält das, was der Kirche zu verkündigen aufgegeben ist. Das Markusevangelium als blosse ἀρχή war für Matthäus an diesem Punkte ergänzungsbedürftig und die „unbiographische“ Logienquelle interpretationsbedürftig. Das Anliegen des Matthäus konnte darum nicht darin bestehen, die Jesusverkündigung von Q in ihrer in der Quelle überlieferten Reihenfolge und Anordnung wiederzugeben, sondern er musste sie so in seine Jesusgeschichte einfügen, dass beides, die Geschichte Jesu und sein Evangelium vom Reich, sich gegenseitig beleuchteten und interpretierten und so beide in einem umfassenderen Sinn zum „Evangelium“ werden konnten. b) Abgesehen von der Einarbeitung von Q Stoffen in die fünf grossen Reden des Evangeliums sind drei selbständige Abschnitte des Matthäusevangeliums besonders bemerkenswert, die der Evangelist weitgehend aufgrund von QStoffen gestaltet hat. Es sind die Abschnitte 11,2–27; 12,22–45 und die We35 James M. Robinson, The Sayings Gospel Q, in: van Segbroeck u. a. (Hg.), The Four Gospels (o. Anm. 2), 361–388 hat anregende Vermutungen darüber angestellt, wie das verlorene „incipit“ von Q gelautet haben könnte. Nicht nur οἱ λόγοι (Q 6,47), sondern auch das Stichwort εὐαγγελίζομαι, mit dem Q 7,22 auf die Feldrede zurückweist, ist hier sachlich wichtig. Robinson 388: „The reference to οἱ λόγοι of Jesus at the conclusion of the Inaugural Sermon (Q 6,47.49 / Mt 7,26) …, the succinct clause πτωχοὶ εὐαγγελίζονται in referring back to the Sermon (Q 7,22), and then the expression τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας in Matthew’s references to the Sermon (Mt 4,23; 9,35), do present the trajectory somewhere in the middle of which the incipit of Q … may reasonably be expected to lie“.

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II. Studien zur Logienquelle

herede Kap. 23. Rein äusserlich fällt auf, dass in jedem gegen das Ende hin eines oder mehrere Worte gegen „diese Generation“ stehen (11,16; 12,39–45; 23,36). Inhaltlich ist jede dieser Kompositionen eine sich zuspitzende Gerichtsrede gegen Israel. Die beiden Kapitel 11 und 12 enden damit, dass „dieser Generation“, dem ungehorsamen Israel der Jesuszeit (11,16–24; 12,38–45) die Jüngergemeinde aus Israel gegenübergestellt wird (11,25–30; 12,46–50). Das ungehorsame Israel und die Jüngergemeinde stehen sich schroff gegenüber. Die Weherede will durch ihre rhetorische Strategie die Leser / ​innen endgültig von den bösen Führern Israels, den Schriftgelehrten und Pharisäern trennen,36 und weitet in ihrer Gerichtsansage am Schluss die Gerichtsdrohung auf das ganze Volk aus (23,34–39). Anschliessend verlässt Jesus – nach dem Erzählungsfaden der Markusgeschichte, auf den Matthäus nun zurückgreift – mit seinen Jüngern den Tempel, um nie mehr zum Volk Israel zu sprechen (24,1 f). Die Logienquelle war also für Matthäus wesentlich ein Dokument, das Jesu sich zuspitzende Gerichtspredigt gegen Israel enthielt. Dem entspricht auch die matthäische Verwendung einzelner ihrer Logien: Mehrmals hat Matthäus einzelne Logien aus Q in andere Kontexte eingefügt, um sie gegen Israel zuzuspitzen.37 Paul Hoffmann hat – wie ich denke, mit Recht – den geschichtlichen Ort der Logienquelle am Ende der Israelmission gesehen, also dort, wo sich die Q-Gemeinde von Israel abwendet.38 „Die redaktionelle Umgestaltung des Weisheitswortes Mt 23,34: ‚Siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte‘ …, liesse sich wie das Stenogramm der Geschichte der palästinischen judenchristlichen Propheten-Bewegung und ihrer Entwicklung zur matthäischen Gemeinde mit ihren Schriftgelehrten (vgl. 13,52; 23,8–11) lesen“.39 Nur einen Teil der in der Logienquelle überlieferten Gerichtspredigt Jesu an Israel hat Matthäus „nach innen“ gewendet, d. h. an die eigene Gemeinde gerichtet (vgl. bes. 24,37–51). Im Übrigen aber hat er aus der Logienquelle, ihrer eigenen Intention entsprechend, die Gerichtspredigt Jesu gegen Israel aufgenommen und in den

36 Vgl.

Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 4), 221 f.  Schweizer, FS A. Vögtle (o. Anm. 33) weist 113 darauf hin, dass Mt nicht zufällig die Q-Episode Q 11,14 f an den Schluss des Wunderzyklus Kap 8 f stellt (9,32–34) und ihn so auf die Ablehnung Jesu durch die Pharisäer hin zugespitzt. Aus Q 13 hat er das israel-kritische Wort 13,28 f exzerpiert und durch seine Einfügung in 8,11 f seinen Wunder-Abschnitt Kap. 8–9 auf das Ziel seiner ganzen Geschichte, das drohende Gericht über Israel, hin ausgerichtet. Für den polemischen Abschnitt 15,1–20 hat Mt das schroffe Q-Wort von den blinden Blindenführern aufgespart (Q 6,39 f = 15,14) und dadurch diesen Abschnitt mit der Weherede verbunden (vgl. 23,16–26). 38 Hoffmann, QR (o. Anm. 2), 455: „So markiert QR in der Geschichte des palästinischen Judenchristentums den entscheidenden Wendepunkt der Herauslösung jener judenchristlichen Gruppen von Jesusanhängern aus der bis dahin selbstverständlich vorgegebenen nationalreligiösen Verbundenheit mit der jüdischen Volksgemeinschaft und der Konstituierung einer eigenen religiösen Gruppierung“. 39 A. a. O. 454. 37

11. Matthäus und Q

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drei Abschnitten 11,2–24; 12,22–45 und 23,1–24,2 in zunehmender Schärfe gegen die Führer Israels (und in 23,34–39 gegen das Volk) gerichtet. Q als eine Sammlung der Jesusüberlieferung für die Jesusgruppen zu einem Zeitpunkt, als sich die Israelmission als Misserfolg erwiesen hat? Paul Hoffmann hat viele gute Gründe für diese Situierung der Quelle aufgewiesen.40 Vom Matthäusevangelium her wird diese Vermutung dadurch bestätigt, dass Matthäus seine Jesusgeschichte mit dem selben Blickpunkt erzählt: Er erzählt, wie Jesus mit seinen Jüngern in Israel das Evangelium vom Reich verkündete und heilte, mit Israels Führern in zunehmenden Konflikt geriet, sich mit seinen Jüngern zurückzog und sie in einer eigenen „Versammlung“ (16,18) in Israel nach dem Willen des Vaters sammelte, und wie er schliesslich in Jerusalem mit den Führern des Volkes abrechnete und als Menschensohn, d. h. als künftiger Weltrichter, in Israel hingerichtet wurde. Matthäus erzählt seine Jesusgeschichte als inklusive Geschichte, d. h. als Grundgeschichte für das, was seine eigene Gemeinde erfahren hat. Es ist genau die Situation und das Dilemma der Träger / ​ innen der Logienquelle, was Matthäus als „plot“ seiner Erzählung gestaltet. Er selbst versucht durch sein Evangelium, seinen Gemeinden, die im heidnischen Syrien leben, nach dem Scheitern der Israelmission und nach der Trennung von den Synagogen eine neue Orientierung und eine neue Perspektive, die Heidenmission, zu geben. Q und Matthäus stehen sich also wohl zeitlich nahe; die Trägergruppen von Q und die Gemeinden des Matthäus stehen in einer historischen Kontinuität zueinander.41 Das entspricht der Feststellung, dass die von Matthäus benutzte Version QMt dem Grundbestand der Quelle relativ nahe steht und wie jene und das Matthäusevangelium selbst judenchristlich geprägt ist. Und das spricht auch für Hoffmanns relative Spätdatierung von Q.42

 A. a. O. 450–456. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 4), 89 f. 42 Hoffmann, QR (o. Anm. 2), 451–453. Dabei können viele zwischen uns strittige Fragen offen bleiben. Ich würde z. B. nicht mit der selben Selbstverständlichkeit wie Hoffmann von einer „Redaktion“ der Quelle sprechen, weil ich denke, dass Q nie eine endgültige Gestalt gefunden habe – und das müsste man doch, wenn man von der Evangelienforschung her kommt, als „Redaktion“ bezeichnen. Anders sehen würde ich auch die Frage, wie sich die Entstehung der Logienquelle zur Entstehung der Menschensohnchristologie verhält. Wenn die Menschensohnworte in den einzelnen thematischen Blöcken der Quelle an Schlüsselstellen stehen und kompositionell manchmal geradezu der Gipfel sind, auf den ihre Textanordnung zuläuft, so heisst das m. E. überhaupt nicht, dass die Identifikation Jesu mit dem Menschensohn erst relativ spät erfolgte. Sie kann genau so gut sehr alt sein, ja, auf Jesus selbst zurückgehen und macht vielleicht die ganze dringliche und letztlich gescheiterte Missionstätigkeit seiner AnhängerInnen in Israel überhaupt erst verständlich. Aber das brauchen wir jetzt nicht auszudiskutieren! 40

41 Vgl.

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her Ich möchte im Folgenden einige Bemerkungen zu ein paar Grundfragen der QForschung machen, soweit man vom Matthäusevangelium und der matthäischen Rezeption von Q her etwas dazu sagen kann. Sie schliessen an einen Aufsatz über die Rezeption von Q im Matthäusevangelium an, den ich früher veröffentlicht habe.1 Mein jetziges Interesse liegt aber nicht bei der matthäischen Rezeption von Q und damit nicht bei Matthäus, sondern bei Q. Die Frage dieses Aufsatzes ist, was der erste Evangelist als Leser, Bearbeiter und „Verwerter“ von Q zu einigen Grundfragen der heutigen Q-Forschung wohl gesagt haben würde. Meine daraus sich ergebende These wird sein, dass wir Q nicht als ein Dokument mit „literarischem“ Charakter betrachten sollten, und auch nicht als ein Buch eines profilierten Verfassers mit eindeutigem Text und einer profilierten eigenen Theologie, welche vielleicht das Denken einer bestimmten Gemeinde repräsentiert. Q ist eher eine in ihrem Schlussteil sehr offene Materialsammlung von Jesusworten, welche wohl in verschiedenen Versionen existierte, der mündlichen Überlieferung relativ nahe stand und vielleicht als eine Art „aidemémoire“ für die Missionsverkündigung oder den Unterricht diente. Ich möchte also von Matthäus her – abgekürzt gesagt – nicht eine „harte“, sondern gleichsam eine „weiche“ Q-Hypothese vertreten.2 1 Ulrich Luz, Matthäus und Q, in: Rudolf Hoppe / ​Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus (FS P. Hoffmann), BZNW 93, 1998, 201–215; in diesem Band Nr. 11. 2 Damit nähere ich mich der These, welche Jens Schröter vertritt: Les toutes premières interprétations de la vie et de l’oeuvre de Jésus dans le christianisme primitif; la source des paroles de Jésus (Q), in: Andreas Dettwiler / ​Daniel Marguerat (Hg.), La source des paroles de Jésus, MoBi 62, Genève 2008, 295–320, dort 300 f. Bei gleicher Grundtendenz ist Schröters „weiche“ Q-Hypothese gegenüber der meinigen unterschiedlich akzentuiert: Schröter möchte angesichts der Unsicherheiten der Textrekonstruktion auf eine solche überhaupt verzichten. Um überhaupt sinnvoll von Q reden zu können, muss er dann die inhaltlichen, motivlichen und theologischen Konvergenzen zwischen den einzelnen Q-Stoffen und Blöcken stärker betonen als ich. Ich denke im Unterschied zu ihm, dass die von James M. Robinson, Paul Hoffmann und John S. Kloppenborg aufgrund des International-Q-Project rekonstruierte Textrezension von Q (The Critical Edition of Q, Leuven 2000) eine in manchen Teilen der Quelle so wahrscheinliche Textrekonstruktion darstellt, dass man sich in diesen Fällen auf einen Text beziehen kann, wenn man von Q spricht. Bei Schröter ist mir aber letztlich nicht mehr klar, was er meint, wenn er von „Q“ spricht. Von einem Ausschnitt aus der doppelt-überlieferten Jesustradition mit ähnlichen inhaltlichen Merkmalen?

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II. Studien zur Logienquelle

I. Voraussetzungen In einem ersten Abschnitt möchte ich vier Vorbemerkungen zu meiner Sicht von Q machen. 1. Die Hypothese, dass es eine schriftliche Quelle Q gegeben hat, ist für mich eine solide Hypothese. Mark Goodacre3 hat die Farrer’sche Hypothese erneuert, welche teilweise auch die Hypothese seines Lehrers Michael Goulder war: Er vertritt eine Markuspriorität ohne Q.4 Weil er seine Hypothese nicht anhand des ganzen Q-Stoffes durchgeführt, sondern sich auf einige Sondierungen und viele polemische Fragen beschränkt hat, überzeugt mich sein Buch nicht. Andererseits müsste die Hypothese, dass Lukas das Matthäusevangelium als Hauptquelle benutzte, erklären, warum er seine fünf in der späteren Rezeptionsgeschichte so erfolgreichen Reden nicht übernahm. Die umgekehrte Hypothese, die neuerdings Martin Hengel vertritt, dass das Lukasevangelium die Hauptquelle des Matthäus gewesen sein könnte,5 müsste dagegen erklären, warum dieser den grösseren Teil des umfangreichen lukanischen Sondergutes wegliess. Das ist m. E. fast unmöglich. Darum rechne ich nach wie vor damit, dass Lukas und Matthäus ihre Evangelien im wesentlichen unabhängig voneinander schrieben. Damit bleibt auch die Q-Hypothese eine valable Hypothese. 2. Auch ich sehe mit den meisten Forschern die von uns rekonstruierte schriftliche Q-Quelle als ein im ganzen komponiertes und von erkennbaren inhaltlichen Akzenten bestimmtes Ganzes an: Dieter Lührmann hat die Redaktion von Q erstmals beschrieben.6 John Kloppenborg hat sie als Q2 m. E. im Ganzen zutreffend erfasst;7 Migaku Sato ist mit seiner allerdings sehr vage bleibenden Redaktion C auch nicht grundlegend von ihnen verschieden.8 Q ist ein vor allem in seinem ersten Teil klar strukturierter Text, in thematische Blöcke gegliedert, deren Abschlusstexte oft durch prophetisch-deuteronomistisch geprägte Gerichtsworte oder Menschensohnworte markiert sind. Solche Worte oder Sequenzen sind z. B. Q 6,46–49; 7,31–35; 10,13–15; 11,29–32. 49–51; 12,8–10. Dasselbe gilt für die Quelle als Ganze, welche durch Gerichtsworte eingeleitet und abgeschlossen wird (Q 3,7–9.16 f; Q 17,23–37). 3 Mark

Goodacre, The Case against Q, Harrisburg 2002. Farrer, On Dispensing with Q, in: Dennis E. Nineham (Hg.), Studies in the Gospels. Essays in mem. of R. H. Lightfoot, Oxford 1955, 55–88; vgl. ders., St. Matthew and St. Mark, Westminster 1954; Michael Goulder, On Putting Q to the Test, NTS 24 (1978), 218–234; vgl. ders., Midrash and Lection in Matthew, London 1974; ders., Luke: A New Paradigm, JSNT.S 20, Sheffield 1989. Im Unterschied zu Goulder nimmt Goodacre an, dass Mt neben Mk noch weiteres Quellenmaterial („M“) benutzt habe. Wie „M“ ausgesehen haben könnte, bleibt allerdings eine offene Frage. 5 Martin Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ, London 2000, 169–207 (H. nimmt die Existenz mehrerer schriftlicher Logienquellen an). 6 Dieter Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen 1969. 7 John S. Kloppenborg Verbin, Excavating Q, Minneapolis 2000, 113–128. 8 Migaku Sato, Q und Prophetie, WUNT II 29, Tübingen 1988, bes. 45. 4 Austin

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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3. Meine dritte Prämisse hat den Charakter einer offenen Frage. Sie betrifft den Schlussteil von Q. Sieht man von der Endzeitrede Q 17,23–37 einmal ab, so wird etwa ab Q 12,39 die Struktur der Quelle unklar.9 Man hat zunächst den Eindruck einer lockeren Sammlung von Paränese, die bis Q 13,35 eschatologisch gefärbt ist. Nachher wird sie diffus. In sie ist eine besondere kleine Logiensequenz eingelegt: die beiden Gleichnisse Q 13,18–21. Zusammengehörig sind auch die Logien über radikale Jüngerschaft Q 14,26 f + Lk 17,33. Von einer Kompositions‑ und Redaktionsabsicht ist aber m. E. ab Lk 14,1 kaum noch etwas zu spüren. Auch Matthäus hat das offenbar so empfunden, denn aus diesem Teil von Q hat er nichts in ganzen Blöcken übernommen, sondern höchstens einzelne Logien exzerpiert.10 Im lukanischen Reisebericht überwiegen ab Lk 14 die Sonderguttexte, in die nach mir meist nicht erkennbaren Gesichtspunkten einzelne Texte eingelagert sind, die vielleicht aus Q stammen. Die redaktionelle Anordung der Texte im lukanischen Reisebericht ist mir nur teilweise durchsichtig; dem entsprechend gehört für mich auch die Nachgeschichte Q 14–17,22 bzw. von QLk 14–17,22 bis hin zu Lukas zu den ungelösten Rätseln der Q-Forschung. 4. Viel zurückhaltender als der mainstream der Q-Forschung bin ich bei bei der Überlieferungsgeschichte: Auf die Annahme einer an Tempel und Torah interessierten „final form of Q“, nämlich auf Kloppenborgs Q3, möchte ich verzichten.11 Verzichten möchte ich auch auf die Annahme Kloppenborgs, dass ein einziger Redaktor die verschiedenen Blöcke von Q1 komponiert habe.12 Dass sie jemals so existiert haben, wie Kloppenborg sie rekonstruiert, scheint mir sehr unterschiedlich plausibel. Vor allem denke ich nicht, dass frühe Redaktionen von Q rekonstruierbar sind, die nur aus weisheitlichen Unterweisungsblöcken bestanden haben, wie sie z. B. Burton Mack mit wirklich kreativer Phantasie vorgelegt hat.13 Zu hypothetisch scheinen mir auch die Rekonstruktionsversuche von frühen Redaktionen von grösseren Abschnitten von Q, wie sie in unterschiedlicher Weise z. B. Migaku Sato in seinen Redaktionen A und B und Dale Allison vorgelegt haben.14 Ich glaube auch nicht, dass es irgend einen  9 Christoph Heil sprach in der Diskussion in Genève von einem „ausgefransten Rest von Q“. In der Tat: Das „Gewebe“ des Textes wird hier unklar. 10 Vgl. die Tabelle in meinem Aufsatz „Matthäus und Q“, in diesem Band Nr. 11, dort S. 186. 11 Vgl. Kloppenborg, Excavating (o. Anm. 7) 112 f. 12 Die Übersicht über den Aufbau der sechs „Wisdom-Instructions“ von Q1 (vgl. die Zusammenstellung bei John S. Kloppenborg, The Formation of Q, Philadelphia 1987, 342–345) hat mich nicht davon überzeugen können, dass der Aufbau dieser Sammlungen (sofern sie überhaupt alle als solche existiert haben!) so ähnlich ist, dass sie demselben Redaktor zugeschrieben werden können. 13 Burton J. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993, 73–80. 14 Sato, Q (o. Anm. 8), 33–38. 44 f: Die Entsprechung zwischen Q 3,16 b und Q 7,19 in seiner Redaktion A ist zwar deutlich, aber dennoch bleibt ein durch zwei Täuferblöcke gerahmtes Dokument, in dessen Mitte die programmatische Rede Jesu steht, mit der Versuchungsgeschichte davor und der Heilung des Hauptmanns danach, merkwürdig. Seine Redaktion B

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II. Studien zur Logienquelle

Grund dafür gibt, diejenigen Worte Jesu, welche vom Redaktor von Q durch ihre Endstellung als besonders wichtig herausgehoben wurden, deswegen für entstehungsgeschichtlich jung zu erklären.15 Schliesslich denke ich auch nicht, dass man den Redaktor von Q2 als einen End redaktor bezeichnen sollte: Die späteren Zufügungen, die etwa Kloppenborg annimmt (Q3!), die Version QMt, und noch mehr die Version QLk zeigt m. E., dass Q auch nach seiner Hauptredaktion gewachsen ist.

II. Q und die mündliche Tradition Meine erste Frage lautet: Wie verhält sich – aus der Sicht der matthäischen Rezeption – die schriftliche Quelle Q zur mündlichen Tradition? Das Interesse an der mündlichen Tradition ist durch das grosse Werk „Jesus Remembered“ von James D. G. Dunn neu geweckt worden. Dunn ordnet mindestens die von Kloppenborg herausgearbeitete weisheitliche Grundschicht von Q (= Q1) der mündlichen Überlieferung zu.16 Für eine plausible Zuweisung eines Textes der Doppelüberlieferung zu einer schriftlichen griechischen Quelle Q schlug ich drei Kriterien vor, die möglichst alle vorhanden sein sollten17, nämlich: 1. Die Übereinstimmung im Wortlaut muss über die vom gemeinsamen Stoff einer mehrfach tradierten Überlieferung her erwartbare minimale Wortlautüberlieferung deutlich hinausgehen; 2. Eine Zuordnung einer Doppelüberlieferung zu einem der thematischen Blöcke, aus denen die Quelle vermutlich bestand, muss möglich sein. 3. Es muss möglich sein, den Ort einer einzelnen Überlieferung innerhalb eines Q-Blocks begründet anzugeben. entspricht dem Aussendungsblock (Block 2) in Kloppenborgs Redaktion Q1. Im Unterschied zu ihnen rechnet Dale C. Allison, The Jesus-Tradition in Q, Harrisburg 1997, 1–66 vor allem diejenigen Blöcke den frühen Redaktionen von Q zu, die noch keine stark entwickelte Christologie aufweisen. Q 3,7–7,35 (inklusive programmatischer Rede) gehört nach ihm zur späten Schicht von Q3 (ebd. 33). Mein eigenes Fazit: Ich weiss das alles nicht! 15 Auf der Basis einer solchen Annahme würde es beispielsweise möglich, die Entstehungsgeschichte von Q als Geschichte der Entwicklung „from a non-titular, non-apocalyptic meaning“ des Ausdrucks „Menschensohn“ zur apokalyptischen Weltrichtergestalt einer späteren Zeit zu sehen (so James M. Robinson, The Son of Man in the Sayings Gospel Q, in: ders., The Sayings Gospel Q, BETL 189, Leuven 2005, 405–425, dort 425). 16 James D. G.  Dunn, Jesus Remembered, Grand Rapids 2003, 147–160; ders., Q1 as Oral Tradition, in: Marcus Bockmuehl / ​Donald A. Hagner (Hg.), The Written Gospel (FS G. Stanton), Cambridge 2005, 45–69. 17 Vgl. Luz, Matthäus und Q (o. Anm. 1), 202 (in diesem Band Nr. 11, dort Abschnitt I. 1). Diese drei Kriterien haben allerdings ein unterschiedliches Gewicht. Grundlegend ist das erste. Das zweite und dritte gilt nur, insofern und insoweit Q in deutlich erkennbaren Blöcken aufgebaut ist. Wäre Q eine nicht komponierte Materialsammlung, so wären sie nicht anwendbar.

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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Gehe ich von diesen drei Kriterien aus, so stelle ich folgendes fest: 1. Die beiden über Q 17 hinausreichenden Texte Q 19,11–27 und Q 22,28–30 erfüllen keines der drei Kriterien. Hier rechne ich mit mündlichen Überlieferungen, welche die beiden Evangelisten verwendet haben. Als Ende der Logienquelle nehme ich Q 17,37 an. 2. Im Bereich zwischen Lk 14,1 und Lk 17,21 f ist das Urteil besonders schwierig. Beim Gleichnis vom grossen Gastmahl (Q 14,16–24) sind die Wortlautübereinstimmungen sehr, beim Gleichnis vom verlorenen Schaf (Q 15,4–7) ziemlich gering; die anderen beiden Kriterien geben ein negatives Resultat. Hier rechne ich eher mit mündlicher Überlieferung als mit einem Q-Text. Sehr gering sind die Wortlautübereinstimmungen auch bei allen anderen in diesem Abschnitt für Q beanspruchten Logien mit Ausnahme des Mamonwortes Q 16,13. Nicht leicht zu beurteilen sind die kurzen Logiengruppen Q 14,26 f + 17,33; Q 16,13–18 und Q 17,1–6. Für einen schriftlichen Q-Text spricht bei diesen Logien m. E. folgendes: 1. Zwei der drei Logien über die Leidensnachfolge (Q 14,26 f; 17,33) sind bei Matthäus und Lukas doppelt überliefert: Mt 10,38 f: 16,24 f resp. Lk 14,27 +17,33; 9,23 f. Zwei von ihnen folgen im hypothetischen Q-Text direkt aufeinander (Mt 10,37 f; Lk 14,26 f). 2. Drei der vier Logien Q 16,13.16–18 stehen auch bei Mt nahe beieinander (Mt 6,24; 5,18.32). Hat Lk das Mamonwort vorgezogen, um einen guten Abschluss von 16,1–15 zu gewinnen? Bei Q 16,16 = Mt 11,12 f ist eine Umstellung durch Mt in seinen zweiten Täuferblock Mt 11 gut vorstellbar. Für einen kleinen Q-Block spricht ferner, dass V 16–18 in das lukanische „Mamonkapitel“ schlecht passen; der konservative Lukas hat diese etwas disparaten Logien vielleicht darum im Anschluss an das vorgezogene Mamonwort 16,13 gebracht, weil sie in Q schon zusammen überliefert waren (Kriterium 3).18 3. Die mt Platzierung von Q 17,1 f.(3).4 in Mt 18 (V 6 f.15 a.21 f) könnte darauf hinweisen, dass diese Texte auch in der Quelle in dieser Reihenfolge standen (Kriterium 3). Genügt das für die Zugehörigkeit zu einer schriftlichen Quelle, deren Kompositionsprinzip auf der Basis der lukanischen Reihenfolge nur schwer erkennbar ist? Die Argumente dafür sind nicht besonders stark. Nimmt man das aber an, so hätten zwischen dem Block „Gerichtsworte gegen Israel“ (Q 13,24–35) und dem Block der Endzeitrede (Q 17,23–37) nur drei kurze Blöcke von Einzelworten gestanden, die unter sich einen gewissen, aber 18 Weitere Argumente für eine Zugehörigkeit von Lk 16,16–18 zu Q gibt Andreas Dettwiler, La source Q et la Torah, in: Andreas Dettwiler / ​Daniel Marguerat (Hg.), La source des paroles (o. Anm. 2), 221–254, bes. 236–250.

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II. Studien zur Logienquelle

sehr lockeren thematischen Zusammenhang hatten. Von einer straffen Komposition von Q kann aber in diesem Abschnitt der Quelle keine Rede sein. 3. Die Wortlautübereinstimmung der Weherede von Q 11,39–52 ist sehr schwach (Kriterium 1); ebenso ist die Reihenfolge der einzelnen Weherufe auf der Ebene von Q kaum mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszumachen (Kriterium 3). Hier muss man mit einem grossen Einfluss der mündlichen Überlieferung auf die Texte von Matthäus und Lukas rechnen. 4. Schwierig ist auch die Überlieferungsgeschichte der Feldrede Q 6,20–49: Während hier die Stellung des Blocks in Q (Kriterium 2) und die Reihenfolge einer sehr grossen Zahl von Einzelüberlieferungen innerhalb des Blocks sehr gut gesichert ist (Kriterium 3), ist die Wortlautübereinstimmung (Kriterium 1) recht gering. Nicht zufällig haben mehrere Versuche, statt einer schriftlichen Quelle Q eine mündliche Überlieferungsschicht anzunehmen, bei der Feldrede angesetzt.19 Ausserdem zeigen m. E. die Textvarianten der Feldrede, dass neben den Einflüssen des schriftlichen Q-Textes auch mit Einflüssen mündlicher Überlieferung zu rechnen ist, z. B. bei den Seligpreisungen.20 5. Ähnlich ist es beim Gebetsblock Q 11,2–13 (vgl. Mt 6,9–14; 7,7–11): Auch hier kommt man m. E. nicht ohne die Annahme aus, dass mündlich überlieferte Traditionsvarianten, z. B. die in den Gemeinden gesprochenen Fassungen des Unservaters, die Wortlaute in den Grossevangelien mitbestimmt haben. Hinzu kommen zwei weitere, allgemeine Überlegungen: 1. Wie haben eigentlich in der Antike Schreiber ihre Texte geschrieben? Nach den antiken Darstellungen, die wir haben, schrieben sie auf einem Stuhl sitzend mit dem Wachstäfelchen, Papyrus oder Pergament auf den Knien, jedenfalls ohne Tisch.21 Das heisst: Es war für Schreiber sehr unbequem, bei der Niederschrift eines Textes in ihren schriftlichen Quellen nachzuschlagen oder zu blättern. 19 Hans-Theo Wrege, Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt, WUNT 9, Tübingen 1968; Thomas Bergemann, Q auf dem Prüfstand, FRLANT 158, Göttingen 1993. 20 Die Beziehungen zwischen den lk Weherufen (Lk 6,24 f). und der zweiten mt Seligpreisung (Mt 5,4) dürften auf mündliche Traditionsvarianten zurückgehen. Auch bei Q 6,37–40 ist Einfluss der mündlichen Tradition gut möglich. 21 Vgl. Bruce M. Metzger, When did Scribes begin to use Writing Desks? Historical and Literary Studies, in: ders., Historical and Literary Studies. Pagan, Jewish and Christian, NTTS 8, Leiden 1968, 123–137; George M. Parassoglou, Δεξιὰ χεὶρ καὶ γόνυ. Some Thoughts on the Postures of the Ancient Greeks and Romans when Writing on Papyrus Rolls, Scrittura e Civiltà 3 (1979), 5–21; ders., A Roll upon his Knees, Yale Classical Studies 28, 1985, 273–275; Horst Blanck, Das Buch in der Antike, München 1992, 68–71; Robert Derrenbacker, Ancient Compositional Practices and the Synoptic Problem, BEThL 186, Leuven 2005, 37–39. Ein Tisch für Schreiber kam erst im 3. Jh. n. Chr. auf; vorher hatten die Schreiber Wachstafel, Pergament oder Papyrusblätter oder Rollen auf den Knien, wobei sie entweder auf einem Stuhl oder (in Ägypten) auf dem Boden sassen. Vgl. die Abbildungen bei Blanck a. a. O. 70

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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2. Die Schreiber von Q waren alle Glieder der christlichen Gemeinde, welche die Texte, die sie schrieben, gut kannten. Sie hatten sie aus der Verkündigung, aus dem Unterricht oder von der mündlichen, lauten Vorlesung bereits verschriftlichter Texte her in Erinnerung. Es wäre m. E. ganz unrealistisch, Einflüsse der mündlichen Überlieferung bei der Niederschrift der Texte ausschliessen zu wollen, auch dort, wo es schriftliche Quellen gab. Fazit: Zwischen einem schriftlichen Q-Text und der mündlichen Überlieferung darf keine exklusive Alternative konstruiert werden. Die schriftlichen Q-Texte waren eingebettet in die mündliche Überlieferung, die sie prägte und die neben ihnen weiterging. Sie wurden wiederum vermündlicht, schon bei ihrer Performance durch laute Lektüre, und sowieso in der Verkündigung. Auch für die Evangelien lässt sich das zeigen: Die markinische Jesusgeschichte ist Anfang und Grundlage der (mündlichen!) Verkündigung (ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου 1,1). Das Matthäusevangelium, zumal seine auf der Q-Quelle basierende erste Rede, die Bergpredigt, wurde in der Missionsverkündigung wieder vermündlicht: „Lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe“ (28,20 a). Martin Hengel hat vorgeschlagen, dass Sammlungen von Logien Jesu als „aide-mémoires“ für christliche Verkündiger dienten.22 Blickt man auf die Bearbeitung des Markusevangeliums durch Matthäus, so kann man sagen, dass er Jesusworte aus dem Markusevangelium bei weitem wörtlicher übernommen hat als narrative Texte. Matthäus hat ein hohes Interesse, Struktur und sprachliche Eigentümlichkeiten von Jesusworten zu erhalten, während er narrative Texte sehr viel freier wiedergibt. Bei Lukas ist es im ganzen ähnlich. Zieht man das alles in Betracht, so kann man wahrscheinlich sagen, dass es im frühen Christentum durchaus ein Interesse an Logiensammlungen als „aides-mémoire“ gegeben haben dürfte, welche Jesusworte in ihrer Struktur und ihren sprachlichen Besonderheiten festhielten.

III. Verschiedene Versionen von Q? Ein zweites, damit verwandtes Problem ist das der verschiedenen Versionen von Q. Weil es mir bei einer eigenen Rekonstruktion des Q-Textes für eine Göttinger Q-Vorlesung in den siebziger Jahren23 nicht gelungen war, aus den und bei Bruce M. Metzger, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1966, Tafel 1. Zum Scriptorium in Qumran schreibt Metzger a. a. O. 17 Anm. 18: „Die sogenannten Schreibtische von Qumran, die von den Archäologen bis zur Höhe heutiger Schreibtische aufgebaut wurden, waren ursprünglich nur etwa 1/2 m hoch, also zu niedrig, um als Schreibtische (im heutigen Sinne) zu dienen“. 22 Hengel, Four Gospels (o. Anm. 5) 175. 23 Er ist in diesem Band abgedruckt: o. Aufsatz Nr. 10.

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beiden Evangelien überall einen völlig identischen Q-Text zu rekonstruieren, hatte ich für einige Blöcke von Q einen Q-Text konstruiert, bei dem QMt und QLk etwas verschieden waren.24 So wurde ich zu einem „Vater“ dieser Hypothese, welche ich dann auch in meinem Matthäuskommentar vertreten habe.25 Im Englischen, nicht aber im Deutschen, unterscheidet man zwischen „version“ und „recension“. Unter „Version“ verstehe ich im Anschluss an den englischen Sprachgebrauch die verschiedenen Fassungen eines nicht in allen Textzeugen identisch überlieferten Textes. Im Unterschied zu einer „Version“ verstehe ich unter „Rezension“ eine durch eine bewusste Edition oder Redaktion hergestellte Fassung eines Textes. Ich gehe davon aus, dass in der Spätantike subliterarische religiöse Texte sehr oft in verschiedenen Versionen oder gelegentlich auch auch Rezensionen existierten. Beispiele dafür sind etwa die verschiedenen Textfassungen der Sektenregel, der Damaskusschrift, des halakischen Briefs 4QMMT und vieler anderer Texte in Qumran, die sog. freie Textüberlieferung in der Frühzeit der neutestamentlichen Textgeschichte bis hin zum Codex Bezae der Apostelgeschichte oder zum Codex Schøyen des Matthäusevangeliums26 als extreme Fälle, ferner die verschiedenen Textfassungen des slavischen Henochbuchs, die unterschiedliche griechische und koptische Fassung des Thomasevangeliums oder die verschiedenen Fassungen des Apokryphon des Johannes. Die Beispiele zeigen, dass die Textabweichungen verschiedener Fassungen sehr klein oder recht gross sein können. Nicht das macht aber für mich den Unterschied zwischen einer Version und einer Rezension aus, sondern die Frage, ob eine Textfassung von einem einzelnen Herausgeber oder Bearbeiter bewusst hergestellt worden ist oder nicht. In diesem Sinne würde ich etwa den Text des Codex Beza in der Apostelgeschichte als eine Rezension bezeichnen. Die von Matthäus benutzte Textfassung von Q, also QMt, halte ich dagegen für eine Version und nicht für eine Rezension von Q. Es lässt sich kein Herausgeber erkennen, der zwischen Q und Mt eine Neuausgabe von Q veranstaltet hätte, indem er neue Stoffe hinzugefügt und die bereits vorliegenden nach erkennbaren Kriterien bearbeitet hätte. Die Version QMt hat sich m. E. im Umfang und Wortlaut geringfügig von demjenigen Text unterschieden, den wir heute als Q-Text rekonstruieren. Dieser ist aber nicht einfach als „der“ Text von Q zu betrachten, etwa gar als „Urtext“, sondern er ist auch nicht mehr als eine Rezension, die wir aufgrund der uns erhaltenen beiden Grossevangelien, deren Verfasser nur zwei von wahrscheinlich Dutzenden verschiedenster Leser / ​innen von Q-Texten waren, herzustellen versuchen. 24 Vor

allem bei Q 6,20–49; Q 11,1–13; Q 11,37–52; Q 12,49–59. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​Düsseldorf 52002, 48. 26 Hans-Martin Schenke, Das Matthäus-Evangelium im mittelägyptischen Dialekt des Koptischen (Codex Schøyen), Manuscripts in the Schøyen Collection 2, Oslo 2001. 25 Ulrich

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Was den Umfang von QMt betrifft, so rechne ich mit Sondertexten von QMt am ehesten dort, wo wir in einem Q-Block „angefügte“ Texte finden, welche Lukas nicht überliefert, ohne dass es einen deutlichen Grund gibt, weswegen er sie weggelassen haben könnte oder weswegen Matthäus selber sie hinzufügte. Solche Sondertexte, welche für QMt in Frage kommen, sind: Mt 5,5.7–9.19.41 Mt 6,34 Mt 7,6 Mt 10,5 f.16 b.23.41 Mt 11,28–30 Mt 18,15 b–17.18 Mt 23,15.16–19.20–22.24 In allen diesen Fällen gibt es auch andere Erklärungsmöglichkeiten, z. B. matthäische Redaktion oder die Hypothese, dass der Evangelist selbst einen ihm sonst bekannten, z. B. aus mündlicher Überlieferung stammenden, hierher passenden Text eingefügt hat. Die Entscheidung ist fast immer unsicher. Während man in einigen Fällen, z. B. bei Mt 10,5 f oder Mt 18,15 b–17, deutlich sagen kann, dass diese Verse der matthäischen Redaktion tendenziell widersprechen und darum bereits vor ihm zugefügt worden sein dürften, gibt es in anderen Fällen höchstens sprachlich-stilistische Überlegungen, die für oder gegen matthäische Redaktion sprechen. Vor allem in solchen Fällen ist es aber kaum möglich, zwischen einem bereits auf einer vorredaktionellen Stufe zum Q-Text hinzugefügten Text und einer erst vom Evangelisten hinzugefügten mündlichen Überlieferung zu unterscheiden. Es bleiben also grosse Unsicherheiten. Sie machen wiederum die enge Verbindung zwischen Q und der mündlichen Tradition deutlich. Die QMt-Hypothese ist also in vielen Fällen eine Verlegenheitshypothese, die auf wackligen Füssen steht: Weil es uns oft nicht recht gelingt, plausible sprachliche oder inhaltliche Argumente dafür zu gewinnen, warum eine Sonderformulierung des einen oder anderen Evangelisten auf ihn selbst zurückgeht, weisen wir sie einem hypothetischen Text QMt oder QLk zu. Eine Rolle spielt dabei, dass alle redaktionsgeschichtlichen Argumente zirkulär sind: Wir konstruieren die sprachlichen und inhaltlichen Merkmale der Redaktion eines Evangelisten und entscheiden dann aufgrund unserer Konstruktionen, was ihnen nicht entspricht, also Q-Text sein muss. Dazu kommt eine inhärente Schwierigkeit jeder Konstruktion einer Redaktion: Haben wir ihre Prinzipien einmal konstruiert, so müssen wir darauf insistieren, dass jeder redaktionelle Eingriff mindestens hypothetisch kontrollierbar sein muss. Aber wer will einem Evangelisten verbieten, auch einmal etwas ganz Anderes zu schreiben, z. B. aus einem Einfall heraus, weil er ja im Schreiben ein freier und unkontrollierbarer Mensch ist? Im

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II. Studien zur Logienquelle

Extremfall wird so eine Redaktion unkontrollierbar, denn im Notfall kann man alles auf die Redaktion der Evangelisten zurückführen, weil man keinem Evangelisten verbieten darf, zu schreiben, was er will. Gibt man aber dem Prinzip der Kontrollierbarkeit der Redaktion eines Evangelisten ein hohes Gewicht, wie ich das tue, so ergibt sich unausweichlich, dass an vielen Stellen Formulierungsdifferenzen bleiben, die weder dem einen, noch dem anderen Evangelisten begründet zugerechnet werden können. Die Ergebnisse entsprechen also den Prämissen! Fazit: Aus solchen Überlegungen heraus ist für mich die Existenz einer besonderen Version QMt relativ plausibel. Man kann aber auch ein Purist sein und sagen, dass jede Annahme einer besonderen Version QMt eine unnötige Vermehrung von hypothetischen Texten und eine Verkomplizierung und Beeinträchtigung einer eindeutigen Q-Hypothese bedeute, wie dies z. B. Frans Neirynck27 tut. Mein Vorschlag zur Güte wäre, zuzugeben, dass solche Differenzen weithin Folgen von unterschiedlichen Grundprämissen und Gewichtungen bei der Konstruktion von Hypothesen sind. Erkennt man das, so kann man mit ihnen gelassen umgehen und sich wichtigeren Fragen zuwenden.

IV. Die Gattung von Q aus matthäischer Perspektive Meine dritte Frage ist die nach der Gattung von Q. Die Auswahlmöglichkeiten sind bekannt: Halb-Evangelium28, Sayings-Gospel29, „Expanded instruction“ bzw. „Chriae collection“30, prophetisches Buch31, (kynischer) Bios32. Mein Blickwinkel ist die matthäische Verwendung von Q. Meine Fragestellung lautet: Als was hat der Evangelist Matthäus die Quelle Q angesehen? Wie hat Matthäus das Ganze der Quelle Q rezipiert? Die Antwort muss lauten: Er hat es zerstört. Er hat es zerstört, indem er die Jesusüberlieferungen, welche 27 Frans Neirynck, QMt and QLk and the Reconstruction of Q, in: ders., Evangelica II, BETL 99, Leuven 1991, 475–480. 28 Adolf Jülicher / ​Erich Fascher, Einleitung in das Neue Testament, GThW VII, Tübingen 71931, 347. 29 Mit besonderer Emphase Arland D. Jacobson, The First Gospel. An Introduction to Q, Sonoma 1992; James M. Robinson in diversen Aufsätzen seiner Aufsatzsammlung mit dem programmatischen Titel: The Sayings Gospel Q, BEThL 189, Leuven 2005; Burton L. Mack, The Lost Gospel, San Francisco 1993. Aber auch Kloppenborg, Excavating (o. Anm. 7), passim, bes. 398–408 spricht von „Sayings-Gospel“, wobei es ihm weniger um eine formgeschichtliche Bestimmung, als um die theologische Destruktion eines faktischen Monopolanspruchs der kanonischen Evangelien geht. 30 Kloppenborg, Excavating (o. Anm. 7), 143–163. 31 Sato, Q (o. Anm. 8), passim. 32 F. Gerald Downing, A Genre for Q and a Socio-Cultural Context for Q. Comparing Sets of Similiarities with Sets of Differences, JSNT Nr. 55, 1994, 3–26.

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die Quelle enthielt, verwendet und in ein neues Ganzes eingefügt hat, nämlich in das Ganze seiner Jesusgeschichte. Er hat die Jesusüberlieferungen, welche die Quelle enthielt, inhaltlich ausserordentlich hoch geschätzt, so hoch, dass er – soweit wir dies sehen können – kaum etwas aus ihr wegliess.33 Er hat sie so hoch geschätzt, dass er die programmatische Rede Jesu, welche sie enthielt, in erweiterter Gestalt zu Jesu „Evangelium vom Reich“ machte und damit zugleich zum Inhalt der Missionsverkündigung seiner Kirche. Aber die Gestalt von Q hat er zugleich so gering geschätzt, dass er sie durch seine Verwendung zerstörte. Das Markusevangelium hatte für ihn eine völlig andersartige Dignität als die Quelle. Er hat, wo immer das möglich war, für die Plazierung ihrer Stoffe die vom Markusevangelium her vorgegebenen Möglichkeiten ausgeschöpft. Das wird vor allem an seiner zweiten, dritten, vierten und fünften Rede deutlich, aber auch an der Platzierung der Beelzebul-Debatte und der Pharisäerrede, die vom Markusevangelium her bestimmt ist. Er hat in seinen fünf grossen Reden den aus Markus stammenden Stoff überall, soweit es ging, vorangestellt, ebenso in den „kleinen Reden“ Mt 12,22–45 und 23,1–39. In seiner Bearbeitungstechnik von Q war Matthäus recht konsequent. Eine tabellarische Übersicht34 zeigt zwei hauptsächliche Vorgehensweisen des Evangelisten: Er hat entweder ganze Blöcke von Q übernommen (= B). Dabei hat er sie entweder an durch das Markusevangelium vorgegebenen Stellen in sein Evangelium eingefügt, z. B. in Mt 12,22–45 (vgl. Mk 3,22–30). Oder er hat QBlöcke an ganz anderen Stellen seines Evangeliums eingefügt, wobei er ihren Ort in Q bei den meisten Blöcken nicht beachtete (= B*). Nur ein einziges Mal hat er aus naheliegenden Gründen der Q-Reihenfolge den Vorzug vor der Markusreihenfolge gegeben, nämlich bei der Aussendungsrede Kap. 10. Neben der Blocktechnik verwendete Matthäus Exzerpttechnik (= E): Er hat seine Quelle exzerpiert und einzelne ihrer Worte an thematisch passenden Stellen seines Evangeliums, oft in Reden, eingefügt oder sie angehängt. Dabei hat er relativ oft Q fortlaufend exzerpiert, d. h. von vorne nach hinten, sodass die relative Reihenfolge der Worte aus Q bei Mt erhalten blieb (= E+). Dass er dabei die Quelle fortlaufend durchblättern konnte, ist unwahrscheinlich; eher ist anzunehmen, dass er die Reihenfolge ihrer Jesusworte gut im Kopf hatte. 33 Auch

bei der schwierigen Frage, was Mt aus Q weggelassen haben könnte, insistiere ich auf der Kontrollierbarkeit einer Hypothese. Ausgangspunkt muss die Beobachtung sein, dass Mt aus Mk fast nichts weggelassen hat. Wenn er dies tat (z. B. im Fall von Mk 4,26–29 oder 12,41–44), so geschah das aus für uns klar erkennbaren inhaltlichen oder formalen Gründen. Ähnlich dürfte es bei Q gewesen sein: Aus inhaltlichen Gründen könnte Matthäus Lk (= Q?) 10,4 b; 12,49 f; aus formalen Lk (= Q?) 12,54–56 (Dublettenvermeidung) und Lk (=Q ?) 17,28– 31 weggelassen haben. Zu den Gründen vgl. Luz, Matthäus und Q (o. Anm. 1), in diesem Band Aufsatz Nr. 11 Abschnitt I. 3.; David R. Catchpole, The Quest for Q, Edinburgh 1993, 248–250. 34 Der folgende Text bezieht sich auf die Tabelle im Aufsatz Nr. 11, „Matthäus und Q“ in diesem Band o. S. 186.

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II. Studien zur Logienquelle

Dabei kam die Gestalt der Q-Quelle der matthäischen Bearbeitungstechnik entgegen. Q setzt, wie jede weisheitliche Instruktion oder jedes Prophetenbuch, bei seinen Lesern oder Hörern die Kenntnis des Makrotext für das Verständnis eines Mikrotextes nicht voraus. Man vergleiche etwa Q 10,21 f mit Mt 11,25–30: Matthäus hat diesen christologischen Schlüsseltext mit dem Ganzen des Erzählungsfadens seines Buches in sehr dichter Weise verknüpft, während Q 10,21 f trotz seiner Schlussstellung im Aussendungsblock in der ganzen Quelle relativ isoliert bleibt. Wie deutlich ist der Makarismus Mt 13,16 f als Gegensatz zum verstockten, „draussen“ bleibenden Israel mit seinem Kontext verknüpft – wieder im Vergleich zu seiner isolierten, appendixhaften Stellung in Q 10,23 f! Matthäus hat sich grosse Mühe gegeben, für jedes der in 11,5 aufgezählten Wunder in den Kapiteln 8 und 9 mindestens ein Beispiel zu erzählen. In Q wird dagegen vor Q 7,22 f nur gerade die Heilung des Hauptmanns von Kafarnaum erzählt – im übrigen setzt Q aussertextliches Wissen der Hörer / ​innen voraus. Im Grossen und Ganzen gilt für die Quelle, dass die Lektüre späterer Texte die Kenntnis der früheren Texte nicht voraussetzt – von einzelnen Ausnahmen abgesehen.35 Es wäre leicht, viele weitere Beispiele dieser Art aufzuzählen – ich verzichte darauf. Aber diese Beispiele erlauben mir die Formulierung einer steilen, fast paradox klingenden These. Sie lautet: Indem Matthäus die Gestalt der Logienquelle zertrümmerte und die Quelle exzerpierte, hat er die Chancen genutzt, welche ihm die Gestalt von Q geboten hat. Der Evangelist Matthäus hat sich bei der Zertrümmerung von Q gattungskonform verhalten. Vergleichen wir nun die Anordnung des Q-Stoffs und die matthäische Bearbeitungstechnik von Q mit der Art und Weise, wie der Evangelist mit dem Markusevangelium umgegangen ist: Die Unterschiede sind eklatant: Von 12,1 an, resp. von Mk 3,1 an hat Matthäus den gesamten Erzählungsfaden des MkEv fast ohne jede Änderung übernommen. Dasselbe gilt für den Anfang des Evangeliums, für Mk 1,2–20, resp. Mt 3,1–4,22. Lediglich in Kap. 8 und 9 hat Matthäus die Streitgespräche und Wundergeschichten von Mk 1,29ff und 4,45ff neu angeordnet. Aber sogar dort folgt er der Reihenfolge der beiden von ihm aufgenommenen markinischen Sequenzen 1,29–2,28 (= Sequenz A) und 4,45–5,43 (= Sequenz B) weitgehend.36 Für Matthäus ist also der markinische Erzählungsfaden sehr wichtig, so wichtig, dass man sein eigenes Evangelium ohne weiteres als eine stark erweiterte Neuausgabe des Markus-Evangeliums bezeichnen kann.37 Die Reihenfolge der Q-Texte war für ihn dagegen fast völlig 35 Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der Rückbezug von Q 7,18 auf Q 3,16. Sehr häufig setzen einzelne Q-Worte dagegen extra-textuelles Wissen der Hörer / ​innen voraus, vgl. u. Teil V (MS 17 f). 36 In der Sequenz A ist Mk 1,29–32.34 (= Mt 8,14–16) zurückgestellt; nur dann liess sich das Erfüllungszitat Mt 8,17 sinnvoll anschliessen. Im übrigen entspricht sie der mk. Reihenfolge: 8,1–4 (= Mk 1,40–45); 9,1–8; 9,9–13; 9,14–17 (= Mk 2,1–22). In der Sequenz ist die Übereinstimmung in der Reihenfolge vollständig = Mt 8,23–27; 8,28–34; 9,18–26 (= Mk 4,35–5,43). 37 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 25), 42.

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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bedeutungslos, so bedeutungslos, dass er sie zerstörte. Dem Verlust des Textes von Q in der kirchlichen Überlieferung, den so viele Freunde eines „fünften“ Evangeliums, des Spruch-Evangeliums, beklagen, hat er jedenfalls kräftig vorgearbeitet. Ganz anders als die markinische Jesusgeschichte hatte der Q-Text als literarisches Dokument für ihn keinerlei Dignität. Dignität besassen nur die einzelnen in ihm gesammelten Jesusüberlieferungen. Für Matthäus war Q eine reine Stoffsammlung. Natürlich ist „Stoffsammlung“ keine formgeschichtlich exakt definierbare Gattungsbestimmung. Sie passt aber zur früheren Feststellung, dass Q auch, nachdem es eine „Redaktion“ erfahren hatte, erweitert werden konnte. Migaku Sato hat dies durch den Hinweis auf antike locker gebundene Notizhefte – die antike Form des „Ringbuchs“ oder „Ordners“ – paläographisch vorstellbar gemacht.38 Der Vorschlag, Q sei eine „Stoffsammlung“, richtet sich gegen alle gegenwärtig diskutierten Gattungsbestimmungen, sofern damit die Vorstellung verbunden ist, dass die Quelle von einem Verfasser oder Redaktor nach einem bestimmten formalen Modell oder in Analogie zu anderen ihm bekannten Schriften bewusst konzipiert worden sei. Am meisten richtet sich dieser Vorschlag gegen denjenigen, Q als Evangelium zu bezeichnen,39 sofern damit der Gedanke an eine im modernen Sinn gedachte theologische Dignität des Dokuments Q verbunden ist. Aber auch formgeschichtlich ist der Vorschlag, Q als Evangelium aufzufassen, m. E. wenig hilfreich, denn die formalen Unterschiede zwischen dem als „Evangelium“ unterschriebenen Thomasevangelium, dem ältesten uns bekannten Modellfall eines „Sayings-Gospel“, und der halbbiographischen Logienquelle sind enorm gross: Die Stoffsammlung Q ist in thematischen Blöcken aufgebaut; sie hat vor allem am Anfang einen „halb-biographischen“ Charakter und sie enthält auch Erzählungen und apophthegmatische Einleitungen. Im Thomasevangelium gibt es das alles nicht.

V. Die „People of Q“40 in matthäischer Perspektive Ist es möglich, vom Matthäusevangelium her etwas zur Frage einer möglichen Q-Gemeinde und ihrem theologischen Profil zu sagen? Q hat klare inhaltliche 38 Sato,

Q (o. Anm. 8), 62–68. o. Anm. 28–32, besonders James M. Robinson, The Sayings Gospel Q, in: Frans van Segbroeck (Hg.), The Four Gospels (FS F. Neirynck), BEThL 100, Bd. I, Leuven 1992, 361–388, abgedruckt in: ders., The Sayings Gospel Q (o. Anm. 29), 319–348 und Kloppenborg, Excavating (o. Anm. 7), 403–408. Entscheidend ist bei ihnen und anderen eine hintergründige theologische Skepsis gegenüber dem kirchlichen Kanon. Im Unterschied zu ihnen bezeichnet Helmut Koester, Ancient Christian Gospels, Philadelphia 1990 die Quelle konsequent als „Synoptic Sayings Source“ (128–171) und ordnet sie seinem Kapitel „Collections of the Sayings of Jesus“ zu. 40 Diese offene Formulierung stammt von Kloppenborg, Excavating (o. Anm. 7), 166. 39 Vgl.

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II. Studien zur Logienquelle

Schwerpunkte, die sich zum Teil auch in ihrer Stellung am Anfang oder / ​und Ende von Q-Blöcken zeigen: Gerichtsworte des Menschensohns Jesus, deuteronomistische Prophetenmordtraditionen, Polemik gegen einzelne Gruppen in Israel und „diese Generation“ insgesamt. Diese Schwerpunkte sind aber auch dem Markusevangelium nicht fremd und finden sich auch dort in unterschiedlicher Intensität und mit leicht verschiedenen Akzenten.41 Manche Überlieferungen in Q widerspiegeln ausserdem den sog. frühchristlichen Wanderradikalismus und die Missionsverkündigung von Propheten, Lehrern und christlichen „Brüdern und Schwestern“ in Israel. Ihnen und ihren „Mutter‑ und Tochtergemeinden“, aus denen die Wandermissionare aufgebrochen waren bzw. die durch ihre Verkündigung entstanden, insbesondere in Galiläa und Umgebung, stand die Logienquelle besonders nahe.42 Zur Entstehung des Matthäusevangeliums habe ich die These vertreten, dass (Teile) diese(r) Gemeinden durch den Jüdischen Krieg nach Syrien vertrieben wurden und dort das heidenchristliche, vermutlich aus Rom stammende Markusevangelium kennen gelernt haben, das ihre eigene Perspektive massgeblich bestimmte und veränderte. Die matthäischen Gemeinden selbst sind m. E. Nachkommen der Q-Gemeinden. Dies zeigt sich nicht nur an gemeinsamen theologischen Perspektiven, sondern auch an ähnlichen kirchensoziologischen Strukturen: In den matthäischen Gemeinden kommen ebenso wie in den Q-Gemeinden Propheten und schriftgelehrte Lehrer, aber keine Bischöfe vor.43 Ich gehe von diesen Grundhypothesen aus und frage von der matthäischen Rezeption von Q her: Wie blickt die matthäische Gemeinde auf ihre eigene Vergangenheit zurück? Welche Folgerungen für die „Q-Gemeinden“ lassen sich aus diesem Rückblick ziehen? 1. Matthäus fügt, wie wir sahen, die Jesusüberlieferungen aus der Q-Quelle an passenden Stellen in seinen Markusfaden ein. Das könnte er gar nicht tun, wenn er nicht von der Voraussetzung einer grundlegenden Einheit seiner beiden Hauptquellen ausginge. Für ihn ist die Verkündigung Jesu offenbar so etwas wie ein bunter Teppich; sie hat zwar ein Zentrum, kennt aber keine „norma normans“. Gibt es einzelne divergierende Tendenzen, wie etwa im Fall des Verständnisses der Torah, so mildert Matthäus die Unterschiede im Sinne seiner „ju41 Gerichtsworte

des Menschensohns Jesus: Mk 8,38; 13,24–27; 14,61 f; deuteronomistische Prophetenmordtradition: Mk 12,1–12; „diese Generation“: vgl. Mk 8.12.38; 9,19; 13.30. 42 Zur Diskussion über Gerd Theißens Wanderradikalismus-Hypothese vgl. den Aufsatz von Thomas Schmeller, Réflexions socio-historiques sur les porteurs de la tradition et les destinataires de Q, in: Dettwiler / ​Marguerat (eds.), La source des paroles (o. Anm. 2), 149–171. Ich stimme seiner Grundposition von meiner eigenen Arbeit am Matthäusevangelium her weithin zu: Nicht nur für die Vorgeschichte der mt Gemeinde, sondern auch für diese selbst (vgl. 10,40–42) und für ihre Nachgeschichte (vgl. die Didache!) spielt die Bekanntschaft mit wandernden Propheten und Lehrern eine erhebliche Rolle. Die mt „Aktualisierung“ von Jesu Aufträgen an seine „Arbeiter“ in Mt 10,7ff wäre sonst sinnlos! 43 Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 25), 79 f.89 f.

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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denchristlichen“ Sicht der Verkündigung Jesu,44 aber meist ohne ein erkennbares Bewusstsein für (aus unserer Sicht bestehende!) Widersprüche.45 Dass Matthäus eine Jesusüberlieferung aus inhaltlichen Gründen zensiert und weglässt, kommt nur äusserst selten vor.46 Häufiger „relativiert“ er eine einzelne Jesusüberlieferung, indem er in fast rabbinischer Weise eine andere mit gegenläufiger oder einschränkender Tendenz neben sie stellt.47 Dazu passt auch, dass er in der Beurteilung abweichender Lehren anderer Christen zurückhaltend ist (vgl. Mt 5,19!). Was er geisselt, ist die Praxis, oder besser: die fehlende Praxis christlicher Falschpropheten (7,15–23; vgl. 24,11 f). Kurz, Matthäus setzt offenbar voraus, dass die Verkündigung Jesu in seinen beiden Hauptquellen hinlänglich klar und in den Grundzügen identisch überliefert ist.48 Nur dann wird verständlich, dass er sie im Ganzen problemlos miteinander verbinden kann. Dies wird daran besonders deutlich, dass Matthäus in der Regel Jesusüberlieferungen, welche in beiden Hauptquellen überliefert sind, zu einem einzigen Text verschmilzt (Mt 3,1–12; 4,1–11; 10,1–14; 12,22–32; 13,31 f; 18,6; 23,1–7) – oft anders als Lukas. Bringt er doppelt überlieferte Traditionen zweimal, wie im Falle von 10,38 f und 16,24 f oder von 12,38–40 und 16,1–4, so hat das klar erkennbare Gründe, welche meistens in seiner Repetitionstechnik zu suchen sind. Matthäus sieht also seine beiden Hauptquellen eher als harmonische Einheit und nicht als grundsätzlich verschiedene Interpretationen Jesu. 2. Wenn Matthäus seine Jesusgeschichte durch die Logienquelle ergänzt, tut er das nicht ohne Anhalt an seinen beiden Quellen. Einerseits ist das Markusevangelium ergänzungsbedürftig, und zwar gerade bei der Lehre Jesu. Markus scheint das selbst anzudeuten, denn es fällt auf, wie oft er sagt, dass Jesus lehrte, ohne dass er die Lehre Jesu inhaltlich ausführt (Mk 1,21 f; 2,13; 6,2.6 b.34; 10,1; 14,49). Zweimal hat Matthäus an solchen Stellen eine Rede Jesu ergänzt.49 Zweimal taucht bei Markus ferner die Formulierung (ἔλεγεν) ἐν τῇ διδαχῇ αὐτοῦ auf (Mk 4,2; 12,38); beidemale ist das Wort διδαχή für Matthäus ein Anlass, die dann im Markusevangelium folgende Unterweisung Jesu durch 44 Ein Musterbeispiel ist die mt Bearbeitung von Mk 7,1–23: Die hier vertretene grundsätzliche Freiheit von der Torah wird vom torahtreuen Mt auf einen Einzelfall begrenzt und ausschliesslich auf die „Überlieferung“ bezogen, aber nicht direkt negiert; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Neukirchen / ​Düsseldorf  42006, 414–429. 45 Dazu vgl. den Aufsatz: Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der ‚historische Jesus‘, in diesem Band o. Aufsatz Nr. 3, Abschnitt III. 3. 46 Das ist vielleicht bei Mk 4,26–29 (vgl. Mt 13,24–30); Lk (=Q?) 10,4 b (vgl. Mt 5,46 f) und Lk (=Q?) 12,49 f (auch Mk 10,38 b fehlt bei Mt!) der Fall. 47 Vgl. z. B. die Antithesen mit 5,17–19; Mt 12,5–7 mit 8; Mt 18,15–17.18 mit 21 f; Mt 23,3 f mit 8–10. 48 Hier stimme ich von Mt her mit den Ergebnissen von Rudolf Laufen, Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, BBB 54, Bonn 1980, 386 f und Jens Schröter, Erinnerungen an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen 1997, 466–478 überein. 49 Mk 1,21 f: Mt 5–7; Mk 6,6 b: Mt 10.

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II. Studien zur Logienquelle

Material aus der Logienquelle zu ergänzen. Es ist, als ob er die Logienquelle als Sammlung der Didache Jesu betrachtete, die er dann an solchen Stellen zu Rate zog.50 Wir wüssten natürlich gerne, warum das Markusevangelium nicht mehr aus der Lehre Jesu mitteilt. Dass Markus mehr kennt als das, was er in seinem Evangelium bringt, ist angesichts der Bedeutung, die die Lehre Jesu für ihn hat, wahrscheinlich. Für uns wichtiger ist, dass auch die Logienquelle bei ihren Hörern und Lesern mehr voraussetzt, als sie explizit sagt. Ich nenne Beispiele: – Q 3 ist nicht verständlich, ohne dass die Leser wissen, dass Jesus von Johannes getauft worden ist. Der Q-Text des IQP setzt deshalb einen Taufbericht in der Logienquelle voraus. – Q 4,3 („wenn du Sohn Gottes bist“), setzt voraus, dass die Leser / ​innen entweder die Taufe Jesu, wie sie bei Markus erzählt ist, kennen, oder einen Taufbericht in Q, welcher den Gottessohntitel enthält. – Q 6,20–26 setzt Jünger Jesu voraus. – Q 7,22 setzt voraus, dass die Hörer / ​innen von Q mit vielen Heilungsgeschichten vertraut sind. – Q 7,25 setzt Hörer voraus, welche die Kleidung Johannes des Täufers kennen. – Q 7,33 f setzt grundlegende Kenntnisse über die Lebensweise des Asketen Johannes und des „Fressers und Säufers“ Jesus voraus. – Q 9,58 setzt voraus, dass Jesus als wandernder Asket bekannt ist. – Q 10,13–15 setzt Wunder in Galiläa, z. B. in Chorazin und Betsaida, voraus. – Q 14,27, das Logion vom Kreuztragen, setzt voraus, dass die Hörer / ​innen wissen, dass Jesus gekreuzigt wurde. Auch das darauf folgende Logion Q 17,33 setzt wohl den Tod Jesu voraus. – Q 13,34 f setzt m. E. den Tod Jesu in Jerusalem voraus. – Die Menschensohnworte insgesamt setzen voraus, dass die Leser wissen, dass der heimatlose und verspottete Menschensohn Jesus von Gott erhöht worden ist und zum Gericht wieder erscheinen wird, also eine Form von „Osterglauben“. Was ergibt sich aus diesen Beobachtungen? Man darf nicht voraussetzen, dass die in der Logienquelle enthaltenen Stoffe das gesamte Wissen der „Leute von Q“ über Jesus enthalten. Dass etwas in der Logienquelle nicht steht, kann ganz verschiedene Gründe haben, z. B. den banalen, dass narrative Stoffe einer 50 Mit einer direkten literarischen Abhängigkeit des Markusevangeliums von Q rechne ich nicht (mit Laufen, Doppelüberlieferungen (o. Anm. 48), 385 gegen Harry T. Fleddermann, Mark and Q, BEThL 132, Leuven 1995, 209–216). Fleddermanns These, dass Mk die QRedaktion voraussetze, ist m. E. eine sehr schwierig zu beweisende Hypothese dritten Grads (man muss zuerst den Q-Text, sodann die Q-Redaktion rekonstruieren!). Immerhin bleiben die Übereinstimmungen in der Reihenfolge vieler Q-Blöcke mit entsprechenden Überlieferungen im Mk-Ev. auffällig.

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her

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schriftlichen Fixierung in einem „aide-mémoire“ nicht so sehr bedurften wie die Worte Jesu, deren genauer Wortlaut bedeutungsvoll war. Man darf also nicht aus dem, was in der Logienquelle nicht steht, ohne weiteres Schlüsse auf die Christologie oder das Kerygma ihrer Träger ziehen. Q ist offensichtlich ein Ausschnitt aus oder eine Ergänzung zu ihrem Wissen über Jesus. Dass Matthäus die Quelle gebraucht hat, um das Markusevangelium zu ergänzen, ist also wohl von ihr selbst her gesehen ein sachgemässer Gebrauch. 3. Ich füge noch eine soziologische Überlegung hinzu. Die Diskussion über Theißens Wanderradikalismusthese führte bei der Mehrheit der Forscher / ​innen, welche an ihr festhalten, zu einem gewissen Konsens, die Wanderradikalen und die sesshaften Gemeinden nicht auseinanderzureissen.51 Wandernde Propheten, Lehrer und andere wandernde Brüder und Schwestern waren ἐργάται sesshafter Gemeinden, wurden von ihnen vorübergehend zu Missions‑ und anderen Reisen ausgesandt, kehrten wieder in sie zurück oder gründeten neue Gemeinden. Zwischen wandernden und sesshaften Gemeindeglieder gab es enge Beziehungen und fliessende Übergänge. Von Matthäus her bestätigt sich diese Sicht: Die Aussendungsrede von Mt 10 spricht an ihrem Anfang überwiegend Wanderradikale an (10,5 f.9–14.23.40), am Schluss richtet sie sich eindeutig an sesshafte Gemeindeglieder (10,41 f). Die sesshaften Leser‑ und Hörerinnen des Evangeliums, das sein Verfasser vermutlich in einer grösseren Stadt und keinesfalls unterwegs geschrieben hat, identifizieren sich also mit „ihren“ Arbeitern, den wandernden Lehrern und Propheten.52 In den wandernden Boten Jesu erscheint ja Jesus selbst (Mt 10,40; 25,31–46). Da die Wandernden und die Sesshaften nie explizit als besondere Adressatengruppen genannt werden, können beide alle Texte in unterschiedlicher Weise auf sich beziehen. Ähnlich ist es in anderen Reden, z. B. in der Bergpredigt. In der Quelle Q ist es genau so: In der Aussendungsrede setzen Q 10,2 sesshafte Adressaten, Q 10,3.4.5–9.10 f.16 Wandernde als Adressaten voraus,53 die übrigen Logien lassen die Adressatenfrage offen. In der Reichtumsparänese Q 12,22–34 setzte die Logienkomposition V 22–31 vermutlich ursprünglich Wandernde als Adressat / ​innen voraus,54 das Schlusslogion Q 12,33 f dagegen eher nicht.55 Eine explizite Benennung der Adressaten gibt es in der Logienquelle nur selten. Das heisst, dass auch die 51 Vgl.

Schmeller, Réflexions (o. Anm. 42). Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 44), 78 f. 53 Dieter Zeller, Redaktionsprozesse und wechselnder ‚Sitz im Leben‘ beim Q-Material, in: Joël Delobel (éd.), Logia. Les paroles de Jésus – The Sayings of Jesus (Mém. J. Coppens), BEThL 59, Leuven 1982, 404. 54 Nur auf sie passt der Vergleich mit den Raben, die auch nicht säen und ernten, und den Lilien, die auch keine Hausarbeit verrichten, vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 25), 476–480. 55 Das Logion setzt Häuser voraus, in die man einbrechen kann. Aehnlich Christopher Tuckett, Discipleship in Q, in: ders., Q and the History of Early Christianity. Studies on Q, Edinburgh 1996, 364–368. 52 Cf.

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II. Studien zur Logienquelle

Leser / ​innen und Hörer / ​innen von Q in unterschiedlicher Weise alle Texte auf sich selbst beziehen konnten. Ich breche hier ab und versuche ein Fazit aus diesen Überlegungen zu ziehen: Ich stehe den zum Teil sehr weitreichenden Hypothesen über die besondere Trägergemeinde von Q, die seit Heinz Eduard Tödts wichtigem Buch zur Menschensohnfrage56 die Q-Forschung in ganz verschiedener Weise beschäftigt haben, sehr zurückhaltend gegenüber. Gewiss hatten die jüdischen Jesusanhänger / ​ innen, welche die Textsammlung der Logienquelle zusammenstellten, ein theologisches Profil mit teilweise eigenen Akzenten: Als Judenchristen waren sie torahtreu. Im Vergleich zu markinischen Parallelüberlieferungen zeigt sich, dass in den Q-Texten die eschatologische Zukunftsperspektive und die Gerichtspredigt stärker akzentuiert sind.57 Aber man sollte die Unterschiede nicht überbetonen. Das frühe Christentum in Israel und in Syrien bietet weder das Bild vieler gegeneinander isolierter Einzelgemeinden und Bewegungen mit je besonderen Theologien und Kerygmen, noch das Bild eines theologischen Schlachtfeldes, sondern vielmehr ein Bild von miteinander kommunizierenden Gemeinden. Träger dieser Kommunikation waren im Raume Syriens nicht zuletzt die Wanderlehrer und Wanderpropheten, die ihre Spuren sowohl in der Logienquelle als auch im Matthäusevangelium hinterlassen haben. Der Judenchrist Matthäus hat in der Jesusgeschichte des Heidenchristen Markus das Buch eines theologischen Bruders erkannt, in das er die Jesusworte seiner eigenen Gemeinden ohne grosse Veränderungen und Streichungen und relativ spannungsfrei einfügen konnte.

56 Heinz Eduard Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959, 243–245. 57 Vgl. Ulrich Luz, Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition, in: Georg Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), Tübingen 1975, 347–374 (in diesem Band Aufs. Nr. 25).

III. Studien zum Matthäusevangelium

13. Einleitung Dieses Kapitel umfasst zehn Aufsätze zum Matthäusevangelium. Sie sind teils während der Arbeit am Kommentar entstanden, teils nach Vollendung des Kommentars und führen diesen weiter. Meinen frühesten Aufsatz mit dem Titel „Die Jünger im Matthäusevangelium“ (1971) 1 habe ich nicht in diesen Band aufgenommen. 2 Da er eine These vertritt, die für meine weitere Arbeit am Matthäusevangelium grundlegend wurde, möchte ich trotzdem auf ihn hinweisen. Er zeigte, dass die Jünger im Matthäusevangelium gerade als Gestalten der Vergangenheit, d. h. als Jünger des irdischen Jesus, für die Gegenwart transparent werden. Diese These wurde für mich ein Schlüssel zum matthäischen Geschichtsverständnis: Die Geschichte Jesu ist für Matthäus nicht vergangene Historie, sondern für die Gegenwart transparente Grundgeschichte. Sie wurde auch zu einem Schlüssel für das Verständnis der matthäischen Ekklesiologie: „Kirche“ sein, heisst für Matthäus, Schüler des irdischen Jesus zu sein und ihm nachzufolgen. Μαθητής und ἀκολουθεῖν sind die Grundworte seiner Ekklesiologie. Die für diesen Band aus einer grossen Fülle von Matthäusaufsätzen ausgewählten Texte stammen aus den Jahren 1987–2014. Sie waren für meine Arbeit an Matthäus grundlegend, sei es, weil ich in ihnen neue Thesen ausprobieren und testen wollte, sei es, weil ich in ihnen Grundlegendes zusammenfasste, sei es, weil sie die Arbeit an den matthäischen Texten durch Ausflüge in neue Gebiete erweiterten, oder sei es, weil sie meine Sicht des ersten Evangeliums über den Kommentar hinaus weiterführen und manchmal auch revidieren. Ihre Anordnung ist chronologisch. Der erste Aufsatz „Die Wundergeschichten von Mt 8–9“ (= Nr. 14), geschrieben 1987 für die Festschrift von E. Earle Ellis, ist ein Gegenentwurf zu dem die 1 Ulrich

Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971), 141–171. Gründe sind zahlreich: Der Aufsatz ist zu sehr in der Forschungsdiskussion der sechziger Jahre verhaftet. Die eigentliche These ertrinkt in der Fülle der Nebenüberlegungen und in der Fülle der Anmerkungen, mit denen ihre Wissenschaftlichkeit dokumentiert werden sollte. Insofern war er eine typische Anfängerarbeit! Ausserdem wurde er mehrfach abgedruckt, zuletzt auf englisch in Ulrich Luz, Studies in Matthew, Grand Rapids 2005, 115–142. Ähnliches gilt für andere frühe Aufsätze, z. B. den langen Aufsatz: Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus, ZThK 75 (1978), 398–435. Er war für meine Sicht des mt Torahverständnisses wichtig, leidet aber an der selben „Krankheit“. In englischer Sprache wurde er abgedruckt in Luz, a. a. O. (Studies), 185–218. 2 Die

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Interpretation der matthäischen Wundergeschichten lange bestimmenden klassischen Buch von Heinz Joachim Held.3 Während Held die Wundergeschichten in gut protestantischer Art bestimmten „Themen“ zuordnet, versuche ich, sie als Teil der matthäischen Erzählung zu verstehen. Mt 8–9 gleicht nicht einem „Collage“ verschiedener Themen, sondern eher einem „Zopf“, einem zielgerichteten Geflecht, in dem immer wieder andere thematische Aspekt an der Oberfläche sichtbar werden. Das Ziel wird in Mt 9,33 f erreicht: Hier wird eine Spaltung in Israel offensichtlich: Auf der einen Seite stehen die Jünger und das Jesus freundlich gesinnte Volk, auf der anderen die jesusfeindlichen Führer des Volkes, repräsentiert durch die Pharisäer. In diese Sicht von Mt 8–9 können auch die Streitgespräche eingebunden werden, die sonst ein Fremdkörper in den Wunderkapiteln Mt 8–9 wären. Mit Christoph Burger denke ich, dass Mt 8–9 die „Gründungslegende der christlichen Kirche“ erzählen. 4 Mt 8–9 erzählt eine fiktive Geschichte, welche nur von ihrer Tiefendimension her verständlich ist. Dafür brauche ich den Ausdruck „indirekte Transparenz“. Die beiden Kapitel erzählen, wie durch das Wirken des Davidsohns Jesus die Jüngergemeinde in Israel und als Teil Israels entstanden ist. Von dieser „indirekten Transparenz“5 unterscheide ich eine „direkte Transparenz“, welche einzelne Wundergeschichten haben, z. B. die Blindenheilungen: Sie berichten von Erfahrungen mit Jesus, welche zugleich Erfahrungen nachösterlicher Jüngerinnen und Jünger mit ihrem auferstandenen Herrn sind, dem „Immanuel“ Jesus, der sie von ihrer Blindheit befreit hat. In diesem Sinn ist das Matthäusevangelium eine „inklusive Geschichte“, die in verschiedener Weise transparent ist für die Erfahrungen der nachösterlichen Gemeinde und ihrer Glieder. – Nichts zu tun mit der Hauptthese des Aufsatzes, die ich nach wie vor für wichtig und richtig halte, hat die Frage des Aufbaus des Mt-Ev: Ich sehe sie heute anders als in den frühen Aufsätzen und noch im Kommentar: Der Prolog endet m. E. mit 4,16. 4,17 und 16,21 sind die jeweils gleich beginnenden Titel des ersten und des zweiten Hauptteils. Teilt man das Mt-Ev so ein, so entspricht sein Aufbau demjenigen des Mk-Ev. Der zweite Aufsatz „Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie oder: Exegetische Prologomena zu einer dynamischen Ekklesiologie“ (= Nr. 15), geschrieben 1989 als Dankesgabe für Wolfgang Trilling, ist kein im engeren Sinn exegetischer Aufsatz, sondern eher eine theologische Meditation über die ekklesiologische Relevanz der Jüngerrede von Mt 10 für heutige Konfessionskirchen. Sie zählt grundlegende notae der Kirche nach Mt 10 auf. 3 Heinz Joachim Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: Günther Bornkamm / ​Gerhard Barth / ​Heinz Joachim Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 1960, 155–287. 4 Christoph Burger, Jesu Taten nach Mt 8 und 9, ZThK 70 (1973), 287. 5 Ich bin nicht recht glücklich über diesen Ausdruck, fand aber keinen besseren. Gemeint ist eine Transaparenz, die insofern nur „indirekt“ ist, als sie die einzelne Erzählung immer als Teil der ganzen Matthäusgeschichte betrachtet.

13. Einleitung

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Dazu gehören der Heilungs‑ und Verkündigungsauftrag, Wanderschaft, Wunder, Armut, Wehrlosigkeit, Verfolgung und Leiden, kurz: gelebte und gelittene Christusförmigkeit. Das anachronistische Stichwort „notae“, das ich in diesem Aufsatz brauche, will deutlich machen, wie weit das matthäische Kirchenverständnis von traditionellem protestantischen, aber auch von katholischem Kirchenverständnis entfernt ist. Die These des Aufsatzes lautet: Matthäus versteht Kirche dynamisch. Sie ist nicht einfach Kirche, z. B. als Institution oder als durch Wort und Sakrament in der Welt erkennbare Grösse, sondern sie wird Kirche, indem sie das, was ihr geschenkt und aufgetragen ist, in ihrem Gehorsam und in ihrem Leiden bewährt. Sie verfügt über ihr Kirche-Sein nicht, sondern wird zur Kirche, indem sie in der Strittigkeit der Welt christusförmig lebt. – Der Aufsatz hat ein kleines und ein grosses Manko: Müsste ich ihn heute wieder schreiben, so würde ich Mt 10,23 anders interpretieren. Vor allem aber würde ich versuchen, die „Gemeinschaftsrede“ Mt 18 einzubeziehen. Dort wird gleichsam die Innenseite der mt Ekklesiologie entfaltet. Der nächste Aufsatz „Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie“ (= Nr. 16), ursprünglich 1991 in der Festschrift für Ferdinand Hahn veröffentlicht, besteht aus einer Thesenreihe zur matthäischen Christologie. Im Unterschied zu Ferdinand Hahn, der die Bedeutung der christologischen Hoheitstitel traditionsgeschichtlich bestimmte,6 versuche ich, ihren Bedeutungsgehalt im Ganzen der matthäischen Erzählung vom Immanuel Jesus zu erfassen. In dieser Erzählung „verflüssigen“ sich die christologischen Titel; ihre Bedeutung wird im Lauf der Erzählung verändert, erweitert und vertieft. „Davidssohn“ holt die judenchristlichen Leser / ​innen des Evangeliums bei ihren eigenen messianischen Erwartungen ab: Jesus ist der verheissene Davidide (Mt 1). Der Messias Jesus wirkt aber nicht als König und Befreier seines Volkes, sondern heilt die Kranken seines Volkes Israel (Mt 8–20). 22,41–46, die letzte Davidssohnstelle, zeigt, dass der Davidssohn mehr ist als dies: Er ist zugleich „Herr“ der Welt. – Bei den Aussagen vom „Gottessohn“ ergänzt der Evangelist die von Mk übernommene vertikale Perspektive durch eine horizontale: Der von Gott erwählte Sohn, für den sich die Himmel öffnen (3,16), ist zugleich der gehorsame Sohn, der „alle Gerechtigkeit erfüllt“ (3,15), seine Gottessohnschaft im Gehorsam gegenüber Gottes Wort bewährt (4,1–11), den Mühseligen und Beladenen Ruhe gibt (11,28–30 nach 11,27) und als leidender Gerechter seine Gottessohnschaft in seinem Sterben erweist (27,43). – „Menschensohn“ schliesslich ist kein Titel, sondern ein Ausdruck der Sprache Jesu, mit dem Jesus seinen eigenen Weg deutet: Mit dem Ausdruck „Menschensohn“ erinnert Jesus die Leser / ​innen des MtEv an das Ganze seines Wegs von seiner irdischen Wirksamkeit über seine Passion und seine Erhöhung bis zur Parusie. – Aus heutiger Sicht würde ich nicht 6 Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 1963.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

mehr von der „begrenzten Reichweite“ des Davidssohntitels sprechen (These 2.5). Dass „Davidssohn“ in 22,41–46 zum letzten Mal vorkommt, heisst ja nicht, dass Jesus nun nicht mehr Davidssohn ist, sondern nur noch „Herr“. Vielmehr bleibt Jesus „Davidssohn“ und ist gerade als Davidssohn Herr der Welt. Der meinem Lehrer Eduard Schweizer gewidmete Aufsatz „Der Anti­ju­da­ismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze“ (= Nr. 17) entstand 1992 und war von mir als eine Art „Nullhypothese“ zum dritten Band meines Matthäuskommentars gedacht, die ich durch die Arbeit am Kommentar überprüfen wollte. Als solche ist er wirklich eine „Skizze“. Durch die Arbeit am Kommentar wurde sie an einzelnen Punkten modifiziert. – Seit der Veröffentlichung des Kommentars (1997) ist gerade das Thema des Verhältnisses des Matthäus zum zeitgenössischen Judentum ein Brennpunkt der Forschung geworden. Ich habe hier selber viel dazugelernt. Die erneute Publikation dieses Aufsatzes gibt mir Gelegenheit für „Retraktationen“: Nicht mehr haltbar ist die pauschale Feststellung, dass „die Zeit der Israelmission … abgeschlossen“ sei – sie geht nach Mt 10,23 bis zur Parusie weiter, auch wenn die in Syrien lebenden Matthäusgemeinden darin wohl nicht mehr ihre erste und eigentliche Aufgabe sehen können. Als nicht haltbar erwies sich auch die Übersetzung von πάντα τὰ ἔθνη mit „alle Heiden“ (24,9.14; 25,32; 28,19). Schon im Kommentar habe ich mit „alle Völker“ (unter Einschluss Israels) übersetzt.7 Nicht haltbar ist ferner die Feststellung, die mt Gemeinden seien „aus dem Synagogenverband hinausgedrängt worden“ und die „Trennung vom Judentum“ sei bereits erfolgt. Einen „Synagogenverband“ gab es damals noch gar nicht, und die Trennung von Judentum und Christentum war ein langer und sehr komplexer Prozess. Ich nehme heute viel ernster, dass der Evangelist sich nach wie vor als Jude verstand,8 auch wenn ich die matthäische Jesusgeschichte noch immer als Konfliktgeschichte interpretiere. Deshalb war mir schon damals auch der Aufsatztitel „Antijudaismus“ problematisch. Ich hatte den Ausdruck gewählt, um den Unterschied zwischen dem späteren christlichen Antijudaismus und dem paganen und heutigen „Antisemitismus“ klar herauszustellen. Aber man müsste das Wort immer in Anführungszeichen setzen, wenn man vom Juden Matthäus spricht. Auf der anderen Seite hat dieser Aufsatz Türen für neue Wege geöffnet, die zukunftsweisend waren. Dazu gehörte die Aufnahme humanwissenschaftlicher, vor allem sozialpsychologischer Fragestellungen. Ohne sie bleiben m. E. viele Aussagen in Mt 21–28 unverständlich, vor allem die Pharisäerrede von Mt 23. Er hat auch Fragen gestellt, die nach wie vor unerledigt sind. Dazu gehört der Hinweis auf den hohen Selbstanspruch, den Jesus für sich selbst stellte. Dass er für sich selbst die Autorität des Menschensohns in Anspruch nahm und denjenigen, 7 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Zürich / ​Neukirchen 1997, 405 f. 516; ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Düsseldorf / ​ Neukirchen 2002, 429. 8 Vgl. unten den Aufsatz Nr. 22.

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die diesen Anspruch ablehnten, das Gericht ankündigte, ist sehr problematisch. Deshalb kann man die Polemik gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23) nicht einfach mit üblicher innerjüdischer Polemik auf dieselbe Ebene stellen: Das „Wehe“ Jesu hat eschatologischen Charakter. Der 1993 erschienene Aufsatz „Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur“ (= Nr. 18) ist vor allem durch seinen dritten Teil wichtig, einen Durchgang durch Fiktivitätsverständnisse in der griechischen Literatur. Sein Ziel ist, das Wahrheits‑ und Wirklichkeitsverständnis des Matthäusevangeliums im Lichte antiker Literatur zu beschreiben. Sein erster Teil definiert fiktionale Rede als Rede, die ‚keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit erhebt‘. Der zweite Teil kommt nach einem Durchgang durch das Evangelium zum Ergebnis, dass die mt Fiktionen auf der Ebene der realen Geschichte stattfinden. Sie müssen dem Evangelisten bewusst gewesen sein. Der dritte Teil des Aufsatzes skizziert Fiktivitätsverständnisse in der griechischen Literatur von Hesiod über Aristoteles bis zu Plurarch und den späten Romanen. Ein Bewusstsein von Fiktivität setzt erstens eine Kultur der Schriftlichkeit voraus. Nur schriftliche Texte können verschieden interpretiert werden und lassen in sich geschlossene Interpretationsgemeinschaften auseinanderbrechen. Es setzt zweitens ein Bewusstsein für literarische Gattungen voraus, in denen es verschiedene Verständnisse von Wahrheit und Lüge gibt. Ich werfe dann einen Blick auf das Wahrheitsverständnis der Historiographie, auf die Auslegungen der Mythen der alten Dichter, auf die Entdeckung des Unterschieds zwischen μῦθος und πλάσμα bei Aristoteles und in der Rhetorik, auf die hellenistischen und kaiserzeitlichen Romane und schliesslich auf die Biographien. Es gibt Berührungspunkte zwischen antiken Romanen, die manchmal eine religiöse Tiefendimension haben, und dem Matthäusevangelium. Ebenso gibt es Berührungen zwischen den Fiktionen des Mt und denjenigen von antiken Biographien, soweit ihre Wurzeln im Enkomiastischen liegen. Aber Mt verrät nirgendwo eine Bekanntschaft mit antiken Biographien. Sein Evangelium als Biographie zu bezeichnen, hiesse, Mt einen fremden Hut aufzusetzen, obwohl dieser Hut für sehr viele zeitgenössische Leser / ​innen der passendste gewesen wäre. Ein kurzer vierter Teil bündelt die Folgerungen für Mt. Er hat kein Bewusstsein für Fiktivität und kein Bewusstsein für den Unterschied von Gattungen. Ebenso hat er kein explizites Verständnis von Wahrheit. Die „Wahrheit“ von Fiktionen hängt für ihn daran, dass sie Erfahrungen seiner intendierten Leser / ​innen mit Christus aufnehmen. Sucht man „Verwandte“ des Mt, so stösst man in erster Linie auf Mk, in zweiter Linie auf biblische Grundtexte, vor allem den Pentateuch. Der 2001 in den „Biblischen Studien“ veröffentlichte Aufsatz „Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte“ (= Nr. 19) vertritt in seinem ersten Teil die These, dass Mt eine neue Jesusgeschichte schreibt, weil er mit seinen Gemeinden in einer neuen Situation lebt, die sich in seiner Jesusgeschichte spiegelt und weil er mit ihr Antworten auf die Fragen seiner

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Gegenwart geben will. Zugleich ist diese Geschichte erstaunlich traditionsorientiert. Ein Vergleich mit dem Johannesevangelium kann das deutlich machen: Anders als im vierten Evangelium, in dem der irdische Jesus immer wieder von den Tiefen der Einsichten des Parakleten verschlungen zu werden droht, orientiert sich Mt an der Tradition: Er erzählt die ganze Jesusgeschichte, denn seine Jesusgeschichte soll Jesusgeschichte bleiben. Er lässt nur ganz selten einen Text des Markusevangeliums weg. Nur der Schluss seines Evangeliums, 27,62–28,20, wo ihn seine Markusquelle im Stich lässt, ist weitgehend seine eigene Schöpfung. Sein εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας ist die Verkündigung Jesu: Der Auferstandene gebietet, dass alle seine Gebote den Völkern verkündet werden. Darum lässt Mt, soweit wir sehen, auch nur selten einen Text aus der Logienquelle aus. Sogar die Neuheit seiner Jesusgeschichte verdankt Mt der Tradition, denn bereits Markus hat in seiner Situation eine neue Jesusgeschichte geschrieben. – Der zweite Teil des Aufsatzes ist schlicht mit „Afterthoughts“ überschrieben. Diese „Nachgedanken“ betreffen u. a. das matthäische Geschichtsverständnis: Die neue Sicht der Jesusgeschichte verändert bei Mt auch die Geschichte selbst. Geschichte ist für Mt immer schon interpretierte Geschichte – eine für heutige Historiker ganz modern klingende These! Oder sie betreffen den biblischen Charakter seines Buches. Das MtEv ist ein Buch vom Typus „Rewritten Bible“, aber mit einem neuen Grundtext. Sein Grundtext ist das MkEv, während die Bibel Israels zum grundlegenden, seinen neuen Grundtext beleuchtenden und erschliessenden „Referenztext“ wird. Der 2004 veröffentlichte Aufsatz „Intertexts in the Gospel of Matthew“ (= Nr. 20) ist darum wichtig, weil er das Problem der biblischen Anspielungen und Zitate im Matthäusevangelium9 im Lichte verschiedener Intertexttheorien in einen weiterenn Horizont stellt und vertieft reflektiert. Ein erster Teil referiert verschiedene Intertexttheorien. Besonders wichtig waren mir Julia Kristeva, Roland Barthes, Gérard Genette und der Anglist Manfred Pfister. Mein eigenes Interesse zielt einerseits exegetisch auf text‑ und autororientierte, kontrollierbare, andererseits rezezptionsästhetisch auf leserorientierte Intertextmodelle, die zwischen zeitgenössischen, späteren und heutigen Leser / ​innen unterscheiden. Der zweite Teil untersucht das Markusevangelium, die Logienquelle und die Bibel als Intertexte des Matthäusevangeliums. Bei der Bibel geht es sowohl um Erinnerungen an biblische Geschichten, Motive und Gestalten, um strukturelle Analogien als auch um Anspielungen und Zitate einzelner Texte. Blickt man auf das Markusevangelium als wichtigsten Intertext des Mt, so fällt auf, dass Mt diesen grundlegenden Hypotext nie erwähnt und seinen Dialog mit ihm nie explizit macht. Es gibt auch keinen Text, der für die Erstleser / ​innen nur verständlich wird, wenn sie Mk kennen. Noch extremer ist sein Umgang mit Q: 9 Vgl. dazu besonders den Exkurs „Die Erfüllungszitate“ in: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Düsseldorf / ​Neukirchen 52002, 189–199.

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Die Logienquelle wird durch ihre Verwendung als Intertext bei Mt als Prätext geradezu überflüssig. Man kann Mt im Sinne von Genette als Metatext von Mk verstehen, nicht aber als Metatext von Q. Ganz anders verfährt Mt mit seinem zweiten wichtigen Intertext, der Bibel: Bei Anspielungen auf biblische Episoden und Texte werden diese normalerweise als Hypotexte nicht sichtbar. Seine Bibelzitate aber macht Mt in sehr vielen Fällen explizit kenntlich und erreicht so ein hohes Mass von Dialogizität. Von einem kontinuierlichen biblischen Traditionsstrom kann man aber nicht sprechen. Mt zitiert die Bibel selektiv als Referenztext. Besondere Aufmerksamkeit finden in diesem Aufsatz einige Texte mit dichten Anspielungen auf die Bibel, nämlich Mt 1,1; 2,13–23 und 28,16–20. Der Aufsatz hat für mich heute eine grosse, vor allem hermeneutische Bedeutung: Die Verwendung des Mk-Ev als Intertext lässt den Unterschied zum Joh-Ev deutlich werden: Während für Mt das Mk-Ev als Hypotext entscheidende Bedeutung hat, verfährt Joh, der möglicherweise alle drei synoptischen Evangelien kannte, mit ihnen noch radikaler als Mt mit Q: Er wählt aus und baut die ausgewählten Intertexte so in seine völlig neue Jesusgeschichte ein, dass seine Quellen völlig und die einzelnen Intertexte fast völlig unkenntlich und vom neuen Text gleichsam verschlungen werden. – Noch wichtiger sind die Folgerungen, die aus der Erweiterung des Blickes auf die mt Verwendung seines „primären Referenztextes“, der Bibel, zu ziehen sind: Während in der bisherigen Forschung meistens die Zitate, insbesondere die Erfüllungszitate im Vordergrund standen, zeigt der Aufsatz, dass sie nur ein geringer Teil dessen sind, was hier an Material zu bedenken ist, gleichsam nur die über das Wasser hinausragende Spitze eines Eisbergs. Viel wichtiger ist alles, was Mt nicht kenntlich macht: die Anspielungen auf biblische Geschichten, Personen, Motive und Einzeltexte, die biblischen Farben von Jesusgeschichten, welche im Mt-Ev völlig neu entworfen, ja, teilweise auf den Kopf gestellt werden, die biblischen Gewänder, mit denen er seine Jesusgestalt bekleidet und deutet. Wichtiger als als Matthäus als Exeget ist also – wenn man so will – Matthäus als „Midraschist“, wobei ich das Wort in Anführungszeichen setze, weil Mt ja eine neue Geschichte, nämlich eine Geschichte von Jesus Christus schreibt. Damit rückt Mt in viel grössere Nähe zum Schriftgebrauch beispielsweise der Johannesapokalypse; sein Bibelgebrauch lässt sich auch gut mit der Art und Weise vergleichen, wie Joh die synoptischen Evangelien verwendet. Der Aufsatz „Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa“ (= Nr. 21) geht auf einen Vortrag zurück, den ich 2004 in Japan und später in Ungarn gehalten habe, wo er in deutscher und ungarischer Sprache 2005 veröffentlicht wurde. Ich versuche darin, unsere eigene hermeneutische Situation zu bestimmen, indem ich die Wirkungsgeschichte von Mt 26,36–46 und Mt 27,45–50 vor allem in der Kunst und in der Literatur fruchtbar mache. Sie zeigt, dass die Erfahrung der Gottverlassenheit und der Unerkennbarkeit Gottes unsere westeuropäische hermeneutische Grundsituation bestimmt. Gott

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ist weitgehend überflüssig geworden. In dieser Grundsituation versuche ich zu kontextualisieren, wie die Passionsgeschichte gelesen werden sollte – wenn sie denn gelesen würde! Sie sollte als offene Erzählung gelesen werden, welche ihren Leser / ​innen keine bestimmte Interpretation aufzwingt, sondern sie hineinnimmt, affiziert und identifiziert. Sie sollte als Gottesgeschichte gelesen werden, welche Gott mitten in die Gottverlassenheit Jesu hineinstellt. Und sie sollte ethisch als exemplarische Geschichte eines leidenden Menschen gelesen werden, der in seinem kompromisslosen Gehorsam und in seinem Leiden vorlebt, wie ein Mensch in übergrosser Not und Gottferne zu seinem Gott betet. Das Leiden Jesu kann so zum Ort der Entdeckung des himmlischen Vaters werden. So könnte die Passionsgeschichte heute gelesen werden. Könnte, denn sie wird von den allermeisten Menschen, die ihr höchstens als Touristen in Museen und Kirchen oder in Passionskonzerten begegnen, nicht mehr gelesen. Die beiden letzten Aufsätze „Matthäus und das Judentum seiner Zeit“ (= Nr. 22) und „Die neue Jesusgeschichte des Matthäus. Matthäus und Markus“ (= Nr. 23) sind Texte von allgemeinverständlichen Vorträgen, die ich für eine Priesterweiterbildung am Päpstlichen Bibelinstitut im Januar 2015 geschrieben habe. Sie geben in knapper Form meine heutige Sicht des Matthäusevangeliums und seines Ortes zwischen Judentum und Kirche wieder. Die Grundfrage des ersten Vortrags lautet: Versteht sich die mt Gemeinde als Teil Israels, vielleicht sogar als das wahre Israel, oder versteht sie sich als Teil der christlichen Kirche, oder – das ist die dritte Möglichkeit – verbindet sie beide Identitäten miteinander? Versteht Mt sich als jüdischer Christ oder als jesuanischer Jude? Meine These lautet, dass diese Frage als Alternativfrage nicht beantwortbar ist, denn sie setzt eine feststehende Definition von „Jude“ bzw. „Christ“ voraus. Zur Zeit des Matthäus waren aber „Judentum“ und „Christentum“ erst im Entstehen begriffene und sehr vielgestaltige Grössen, die sich vielfach überschnitten und veränderten. Der Aufsatz argumentiert dabei vor allem mit dem Torahverständnis Jesu. Besonderes Gewicht hat eine Frage, welche bei Mt selber gar nie auftaucht, nämlich die Frage, welche Rolle für ihn die Beschneidung spielt (Abschnitte I. 5 und II. 4). Hier lautet meine heutige These: Unabhängig von der – nicht beantwortbaren – Frage, ob für Mt die Beschneidung der Nichtjuden die Voraussetzung für ihre Taufe ist oder ob er auf ihre Beschneidung verzichtete, weil sie für ihn lediglich den Status von „Gottesfürchtigen“ oder von nicht mit Israel verbunden Gojim hatten, gilt, dass diese Frage für ihn keine Kardinalfrage gewesen sein kann. Hierin unterscheidet sich also Matthäus grundlegend von den Judaisten in Galatien, die ich in der Erstausgabe des Kommentars als seine „nächsten Verwandten“ bezeichnet habe.10 Eben deshalb kann Paulus für ihn auch nicht der böse „Feind“ von Mt 13,25 gewesen sein. 10 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich / ​ Neukirchen 1985, 69.

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Im letzten Aufsatz (= Text Nr. 23) beschäftige ich mich mit der Rezeption des Markusevangeliums durch Matthäus. Meine These ist, dass er in diesem, vermutlich aus Rom stammenden heidenchristlichen Evangelium nicht ein „fremdes“ Evangelium gesehen hat. In ihrem Überlieferungsbestand haben Mk und Q sehr viel gemeinsam. Viele der mk theologischen Grundüberzeugungen und GrundWorte haben der von Q herkommende Evangelist und seine Gemeinden geteilt. Aus vielen Gründen möchte ich die Pluralität und die Divergenzen innerhalb der verschiedenen frühchristlichen Gruppen nicht überbetonen – ihr Austausch und ihre Kontakte waren vielmehr sehr intensiv. So konnte Mt im Markusevangelium ein „komplementäres“ Evangelium sehen, welches er als Grundgeschichte seiner eigenen Gemeinden neu schrieb. Der zweite Teil des Aufsatzes fasst meine heutige Sicht dieser neu-alten Jesusgeschichte zusammen. Wie für Markus, so ist auch für Mt die Auseinandersetzung mit Israels Führern eine wichtige – für Mt die wichtigste – Konfliktlinie. In meiner Skizze der Gerichtspredigt gegen Israel in den Abschnitten II 4 und 5 setze ich mich mit Matthias Konradt auseinander. Ich verdanke seiner Matthäusinterpretation sehr viel, unterscheide mich aber auch von ihm, z. B. in der Interpretation von Mt 27,24 f.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9 Die Sammlung matthäischer Wundergeschichten in Kap. 8–9 scheint ein untypisches Beispiel matthäischer Interpretation der Tradition. Matthäus, der sonst so konservative Evangelist,1 hat sich hier aussergewöhnliche Freiheiten im Umgang mit seinen Quellen erlaubt. Statt, wie sonst üblich, der Abfolge der Markuserzählung zu folgen, hat er zwei verschiedene Abschnitte seiner Markusquelle ineinander verwoben (Mk 1,29–2,22; 4,35–5,43). Deren relative Reihenfolge ist nur im Allgemeinen unangetastet geblieben; mindestens zwei auffällige Umstellungen sind festzustellen.2 Besonders auffällig sind die Verdoppelungen von zwei Wundergeschichten durch den Evangelisten Matthäus (Mt 9,27–31; 20,29–34 = Mk 10,46–52; Mt 9,32–34; 12,22–24 = Q 11,14 f). Matthäus erzählt sie als zwei verschiedene Episoden, die zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte Jesu sich ereignen. Da solche Verdoppelungen nicht als unbewusste Vorgänge zu denken sind, muss Matthäus bewusst Jesusgeschichten verändert und neu geschaffen haben. Ausserdem fügt er in den Erzählablauf der beiden Kapitel zwei Wundergeschichten aus Q ein (Mt 8,5–13; 9,32–34).3 Das Ganze verbindet er bewusst eng und gestaltet so eine völlig neue zeitliche und geographische Sequenz der Geschichte Jesu. Das passt schlecht zum Gesamtbild eines konservativen und überlieferungstreuen Umgangs mit 1 Ich teile mit dem Jubilar die Meinung, die Überlieferung und Entwicklung der synoptischen Tradition sei im ganzen konservativer und die Treue gegenüber der Tradition grösser gewesen, als dies die klassische deutschsprachige Form‑ und Traditionsgeschichte annahm. Eben deshalb möchte ich ihn mit Überlegungen zu Texten grüssen, die solchen uns wichtigen Meinungen stracks zuwider zu laufen scheinen. In unserer heutigen Forschungssituation, wo z. T. bizarre historische Hypothesen in Magazinen und populären Büchern Schlagzeilen machen, sollten die Schwierigkeiten der eigenen Thesen sorgfältig benannt und offen gehalten werden. Zu meiner allgemeinen Sicht des Mt als eines „konservativen“ Evangelisten vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​Zürich 1985, 56–61. 2 Mk 1,40–45 (= Mt 8,1–4) und Mk 10,46–52 (= Mt 9,27–31) sind vorgezogen. Natürlich kann auch ein antiker Biograph Episoden im Leben seines Helden gegenüber der chronologischen Reihenfolge umstellen, wenn der moralische und literarische Zweck seiner Darstellung dies erfordert. Auffällig ist aber, dass Mt die Umstellungen in einer Quelle vornimmt, die einen geschlossenen chronologisch-geographischen Ablauf darstellen will, und dass er dann selbst wieder einen solchen schafft, aber eben einen anderen als Mk. 3 Anders als der Jubilar nehme ich die Existenz einer schriftlichen Logienquelle Q an. Innerhalb von Mt 8–9 „exzerpiert“ Mt Q fortlaufend, d. h. verändert die Reihenfolge von Q nicht. Einzige Ausnahme ist Mt 8,11 f (= Lk 13,28 f Q). Dieser Spruch steht aber in einer von Mt bereits 7,13 f und 7,22 f benutzten Q-Sequenz.

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der Tradition. Das passt auch schlecht zu der Tatsache, dass der Evangelist Matthäus von Kap. 12 an den Markusfaden kaum mehr ändert, dass man auch schon vermutet hat, er benutze für unsere beiden Kapitel eine besondere Quelle.4 Dazu kommt, dass Matthäus auch in den Wortlaut der Wundergeschichten insbesondere durch Kürzungen radikal eingreift.5 So hat man den Eindruck, er zeige sich hier als ein recht massiv die Tradition verändernder Schriftsteller. Nur ab und zu scheint er sich auf das zu besinnen, was er der Tradition schuldig ist: An manchen Stellen scheint er Weggelassenes wieder nachzutragen, Reminiszenzen an Unterdrücktes anzudeuten, fast wie einer, der in seinem Papierkorb noch allerlei brauchbare Schnipsel entdeckt.6 Kurz, ein auffälliges Verfahren und Grund genug, den Jubilar – und mich selbst – damit zu beunruhigen. Was steckt hinter der matthäischen Freiheit der Tradition gegenüber?

I Die Wundergeschichten des Matthäusevangeliums waren in den letzten Jahren eher ein Stiefkind der Forschung. Der Hauptgrund dafür dürfte im durchschlagenden Erfolg der bereits mehr als fünfundzwanzig Jahre alten Monographie von H. J. Held über die matthäischen Wundergeschichten liegen.7 Held bestimmte die Gattung der matthäischen Wundergeschichten als Paradigmen. Entsprechend fragte er nach den durch die diese Paradigmen veranschaulichten oder beleuchteten Themen. Im Vordergrund sah er in Mt 8,1–17 das christologische Thema des Gottesknechts, in 9,18–34 das Thema des Glaubens, und – in dieser Allgemeinheit wenig überzeugend – in 8,18–9,17 das Thema „Jesus als Herr der Gemeinde“.8 Helds Analyse ging von der redaktionellen Arbeit des Evangelisten Matthäus an den einzelnen ihm überkommenen Perikopen aus. Darum ist sie auch bei der Exegese der einzelnen Perikopen am überzeugendsten. In seiner Analyse 4 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 40 vermutet deshalb, Mt habe für Kap 8–9 eine Zusammenstellung von Jesus Worten und Taten benutzt, „die sich auf die Auseinandersetzung mit Israel“ konzentrierte. 5 Vgl. bes. Heinz Joachim Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: Ghünther Bornkamm / ​Gerhard Barth / ​Heinz Joachim Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 1960, 158–182. 6 Das in 8,1–4 weggelassene Stück Mk l,44–45 a wird Mt 9,30 f nachgetragen. Mt 9,28; 20,32 streicht das mk θάρσει (Mk 10,49). Steht es darum vorweg in Mt 9,2.22? Mt 9,26 verwendet den weggelassenen Schluss von Mk 1,21–28. Mt 9,20.35 verwenden den später gekürzten Vers Mk 6,56. Vgl. auch u. Anm. 33. 7 Held, Matthäus als Interpret (o. Anm. 5), 158–162. K. Gatzweiler, Les récits de miracle dans l’Évangile selon saint Matthieu, in: Marcel Didier (Hg.), L’Évangile selon Matthieu. Rédaction et Théologie, BEThL 29, Gembloux 1972, 220 urteilt zwölf Jahre später: „On ne peut que le féliciter“. 8 Held, Matthäus als Interpret, 236 f.

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spielte das Ganze des Matthäusevangeliums als erzählerischer Rahmen auch der Wundergeschichten und als Schlüssel zu ihrem Verständnis kaum eine Rolle. Die Grundeinsicht von der Übersummativität des Makrotextes, also des Evangeliums, der den Sinn seiner einzelnen Texte bestimmt, war damals noch nicht bekannt. Nicht ihre Stellung im Evangelium, sondern ihr „Thema“ bestimmte den Sinn der Wundergeschichten. Held reflektierte kaum darüber, wie die Wundergeschichten die Matthäuserzählung bestimmen und vorantreiben, sondern er fragte, welchem Thema Matthäus sie unterordnet. So war es prinzipiell egal, wo sie im Matthäusevangelium stehen. Vielleicht ist es nicht unwichtig, auf den theologiegeschichtlichen Hintergrund dieser Wunderdeutung hinzuweisen: Sie ist m. E. ein Musterbeispiel moderner protestantischer Wunderdeutung, die Wundergeschichten nach ihrer kerygmatischen Bedeutung und nicht, oder nicht so sehr, nach dem in ihnen berichteten Geschehen hin befragt.9 Matthäus, der die Wundergeschichten paradigmatisiert und zu Exempla des Glaubens, der Christologie, der Jüngerschaft oder der Heilsgeschichte macht, kommt solcher moderner Wunderdeutung von allen Evangelisten scheinbar am weitesten entgegen. Ein Stück des Geheimnisses des Erfolgs von Helds Buch könnte darin gelegen haben, dass die paradigmatisch verstandenen matthäischen Wunder für moderne Leser leicht rezipierbar waren. Auch heute befragen die meisten Exegeten die Wundergeschichten von Mt 8–9 nach ihren „Themen“.10 Weiterführende Gesichtspunkte hat die Forschung seit Held m. E. vor allem an drei Punkten gebracht: a) Die Einteilung von Mt 8–9 in drei Hauptabschnitte hat weithin nicht überzeugt, zumal sich für den überlangen mittleren Hauptabschnitt Mt 8,18–9,17 kein klares „Thema“ finden liess. Burger und Kingsbury sind z. B. zu einer Ein-

 9 Wenige Hinweise müssen genügen: Martin Luther kann sagen, dass das eigentlich Bedeutsame am Wunder die Vergebung der Sünden und der Glaube ist (Promotionsdisputation F. Bachofen, 1543 = WA 39/II, 236; Predigt von 1535 = WA 41, 19). Im Anschluss an diese reformatorische Grundauffassung kann Rudolf Bultmann geradezu die Zweideutigkeit von Wundern das theologisch eigentlich Wichtige nennen (Zur Frage des Wunders, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 1933, 227). Der in der Forschung dominierenden redaktionsgeschichtlichen Wunderdeutung entspricht ein grundsätzliches Desinteresse an der historischen Fragestellung. Die verbreitete terminologische Unterscheidung zwischen dem (in seiner Faktizität behaupteten) „Mirakel“ und dem (geglaubten) „Wunder“ dient dazu, beides tendenziell voneinander zu trennen: Die Annahme von Mirakeln ist eine Frage des Weltbildes, das Verstehen der Bedeutung von Wundern erschliesst den Glauben. So zeigen die Mirakel das eigentliche Wunder des durch Jesus geschenkten Glaubens nur an, damals wie heute mit „geringe(r) Überzeugungskraft“ (Günter Klein, Neues Testament und Wunderglaube, in: ders., Ärgernisse, München 1970, 53). 10 Repräsentativ ist etwa Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium I, HThK I/1, Freiburg 1986, 350: Die mt Wundergeschichten werden für verschiedene „Anliegen benutzt, die für die Adressaten des Evangeliums Aktualität besessen haben müssen“. Es gibt also nicht „ein einziges durchgängiges Thema“.

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teilung in vier Abschnitte zurückgekehrt.11 Dafür spricht rein formal, dass die vier Hauptabschnitte 8,1–17; 8,18–9,1; 9,2–17 und 9,18–35 annähernd gleich lang sind.12 Für 8,18–9,1 wurde das Thema in der „Nachfolge“,13 für 9,2–17 in der „Lösung der christlichen Gemeinde aus dem Verband des Judentums“ gesehen.14 Burger hat diese beiden mittleren Abschnitte zum Ausgangspunkt seiner Gesamtdeutung gemacht und damit auch diejenigen Teile von Mt 8–9, die keine Wundergeschichten enthalten (8,18–22; 9,9–17), ernst genommen: Für ihn ist die Gründung der Kirche das eigentliche Thema von Mt 8–9. In Kap. 8–9 habe Matthäus „sein Verständnis der Kirche in die Darstellung des Lebens Jesu zurückgetragen“. „Etwas überspitzt“ stellt Burger fest: „Die Kapitel 8 und 9 seines Evangeliums bieten den ἱερὸς λόγος, die Gründungslegende der christlichen Kirche“.15 „Ueberspitzt“ mag Burger seine These darum genannt haben, weil er sie selber kaum begründet. Man bekommt den Eindruck, hier werde wieder ein Aspekt in den Wundergeschichten auf Kosten anderer zum dominanten gemacht. Dennoch meine ich, dass sich diese These begründen lässt, wenn auch anders, als dies bei Burger der Fall war. b) Unverbunden neben der „thematischen“ Interpretation standen immer schon Beobachtungen zum Verlauf der matthäischen Geschichte: Auf der Erzählebene sind die Wundergeschichten von Kap. 8–9 unabdingbare Voraussetzung von Kap. 10, wo Jesus den Jüngern die Vollmacht, Wunder zu tun, überträgt (10,1). Mt 10,8 weist auf Mt 8,1–4; 9,18–26.32–34 zurück. Noch deutlicher nimmt Jesus in Mt 11,5 f in seiner Antwort auf die Anfrage der Johannesjünger auf die Kap. 8–9 berichteten Wunder Bezug. Gefragt wurde auch, ob nicht die Überfahrt über den See (Mt 8,23–34) ins heidnische Land dem Reflexionszitat über „Galiläa der Heiden“ (4,15 f) entspreche.16 Jedenfalls weisen solche Beobachtungen darauf hin, dass nicht nur die lehrhafte, sondern ebenso sehr die Erzählebene der matthäischen Wundergeschichten zu beachten ist. Hier liegt m. E. das Wahrheitsmoment im alten, von Schniewind vorgeschlagenen Stichwort von dem in Mt 8–9 dargestellten „Messias der Tat“.17 Trotz der zahlreichen Kürzungen durch den Evangelisten gerade in den nicht dialogischen Teilen der Wundergeschichten ist der Erzählebene grosse Bedeutung zu schenken. 11 Christoph Burger, Jesu Taten nach Mt 8 und 9, ZThK 70 (1973), 284–287; Jack D. Kingsbury, Observations on the ‘Miracle Chapters’ of Mt 8–9, CBQ 40 (1978), 562. 12 Die Abgrenzung zwischen dem zweiten und dritten Abschnitt liegt zwischen 9,1 und 9,2, nicht, wie man aufgrund der Mk-Quelle oft annahm, zwischen 8,34 und 9,1; ἐμβὰς εἰς πλοΐον 9,1 bezieht sich auf 8,23, διεπέρασεν und ἦλθεν εἰς τὴν … auf 8,18 zurück. Dann ergeben sich drei Hauptabschnitte à je ca 37 Nestlezeilen und ein etwas kürzerer Schlussabschnitt à ca 34 Nestlezeilen. 13 Vgl. Burger, a. a. O. (Jesu Taten), 285. 14 Vgl. Kingsbury, a. a. O. (CBQ 40), 568. 15 Burger, a. a. O. (Jesu Taten), 287. 16 Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, SNT 8, Gütersloh 1974, 210. 17 Julius Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 81956, 36. 106.

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c) Schliesslich sind die Beobachtungen zur Komposition der beiden Kapitel wichtig. Wenig hilfreich ist es m. E., über die Zahl der Wundergeschichten zu sinnieren. Nicht nur werden dabei die drei Apophthegmen 8,18–22; 9,9–13.14– 17 vernachlässigt; es zeigt sich vielmehr auch, dass man sich über die Zahl der Wundergeschichten gar nicht einigen konnte.18 Viel hilfreicher sind m. E. die Beobachtungen, die vor allem Thompson zur Verklammerung der Wundergeschichten von Kap. 8–9 zusammengetragen hat. Nicht die redaktionelle Bearbeitung der einzelnen Geschichten, sondern ihre Komposition im Rahmen des ganzen Evangeliums ist nach ihm das Wichtigste.19 Ein Überblick ergibt, dass die Stichwortverbindungen nicht nur innerhalb der Einzelgeschichten, sondern auch zwischen den Geschichten und Geschichtengruppen ausserordentlich intensiv sind. Insbesondere im Schlussabschnitt 9,18–34 fallen die vielen sprachlichen und thematischen Reminiszenzen an 8,1–9,17 auf.20 Zwischen den einzelnen Erzählungen des Abschnittes besteht auf der Erzählebene ein „continuous movement“.21 Das ist besonders auffällig, weil Matthäus ja in Kap. 8–9 Erzählungen aus zwei verschiedenen Abschnitten des Markusevangeliums zusammengestellt und durch Wundergeschichten aus der Logienquelle ergänzt hat. Trotz dieser Verknüpfungen verschiedener Quellenstränge erzählt er einen geschlossenen Ablauf. Er sei hier kurz rekapituliert: Jesus steigt vom Berg, begegnet unterwegs dem Aussätzigen, geht in die Stadt (8,5) und von dort ins Haus (8,14). Der Menschenmenge, die ihn am Abend bedrängt (8,16.18), will Jesus ausweichen und fährt über den See ans jenseitige Ufer ins heidnische Gebiet von Gadara. Dort heilt er einen Besessenen, wird vertrieben und kehrt in seine Stadt zurück (9,1). Auch die Erzählungen von Kap. 9 schliessen chronologisch und örtlich immer unmittelbar an die vorangehenden an: In der Stadt heilt Jesus anscheinend unmittelbar nach seiner Ankunft (und nicht, wie Mk 2,1–12, im Haus)22 den Lahmen, geht dann am Zollhaus vorbei ins Haus (des Matthäus?) zum Essen (9,9 a.10 a). Von dort (9,18 a) holt ihn der Synagogenvorsteher zu sich ins Haus. Unterwegs zu (seinem eigenen?) Haus begegnen ihm die beiden Blinden (9,27 f) und unmittelbar anschliessend bringt man den stummen Besessenen zu ihm (9,32). Kein Zweifel: Matthäus will einen Ablauf schildern, wo eine Geschichte 18 Sind 10 bzw. 2x5 Wundergeschichten zu zählen (so im Anschluss an Erich Klostermann, Das Matthäusevangelium, HNT 4, Tübingen 1927, 72 die meisten, oft verbunden mit einer Exodustypologie, vgl. PA 5,41)? Oder sind 9 bzw. 3x3 Wundergeschichten zu zählen (so im Anschluss an Willoughby C. Allen, A Critical and Exegetical Commentary to the Gospel to St. Matthew, Edinburgh 31912, 73.80.94 z. B. Paul Gaechter, Das Matthäusevangelium, Innsbruck 1963, 259)? 19 William G. Thompson, Reflections on the Composition of Mt 8,1–9.34, CBQ 33 (1971), 356–388, bes. 387. 20 Vgl. unten Abschnitt II. 21 Thompson, Reflections 387. 22 Das Fehlen des Dachaufgrabens (Mk 2,4) ist nicht einfach ein Lapsus des Mt. Er hat vielmehr bewusst auf das Haus als Szene von 9,2–8 verzichtet.

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unmittelbar auf die andere folgt. Dabei passieren ihm zwar Ungeschicklichkeiten,23 aber seine Absicht ist unverkennbar. Der zusammenhängenden matthäischen Erzählung entspricht negativ, dass sich m. E. Mt 8–9 keineswegs nach thematischen Blöcken gliedern lässt: Die „Themen“ halten sich vielmehr meist durch verschiedene Abschnitte durch, wobei frühere „Themen“ wieder auftauchen, vorbereitete „Themen“ dominant werden und früher dominante „Themen“ wieder anklingen können. Die matthäische Erzählung von Kap. 8–9 gleicht m. E. am ehesten einem Seil oder einem „Zopf’, der bald den einen, bald den anderen thematischen Aspekt an die Oberfläche treten lässt.24 Fazit: Es geht Matthäus keineswegs um eine blosse Sammlung von Wundergeschichten, die beispielhaft die Taten des Messias oder gar verschiedene Aspekte seiner Lehre und des christlichen Glaubens erläutern, sondern es geht ihm um eine zusammenhängende Geschichte. Davon muss die Interpretation unserer beiden Kapitel ausgehen.

II Die folgenden Überlegungen sind deshalb in lockerer Weise von verschiedenen Erkenntnissen moderner Erzählforschung bestimmt. Zunächst beschäftigen wir uns mit der Funktion der matthäischen Wundergeschichten auf der Erzählebene bzw. auf der Ebene des matthäischen Diskurses.25 In einer Erzählung werden „Ereignisabläufe so dargestellt, dass einem Ausgangszustand ein veränderter Endzustand gegenübersteht“.26 Die matthäischen Wundergeschichten von Kap. 8–9 sind im wesentlichen der Anfang eines Erzählgefüges, das auf ein Ende zuläuft und erst von diesem Ende her verstanden werden kann.27 Versteht 23 Ungeschickt ist z. B. die Anwesenheit der Volksmenge (8,1) in Verbindung mit dem Schweigegebot (8,4), die Anwesenheit der staunenden Menschen (8,27) trotz des Fehlens der „anderen Boote“ (Mk 4,36), die Erzählung der Hirten von „allem“, „auch über die Besessenen“ (8,33), obwohl ihre Herde weit weg war (8,30). 24 Burger, Jesu Taten (o. Anm. 11), 283 f vergleicht Mt 8–9 mit einem Mosaik oder einem Collage. Ich ziehe das Bild des „Zopfes“ vor, weil es die Zielgerichtetheit der mt Erzählung betont: Die mt Wundergeschichten sind nicht als Teile eines Bildes zu verstehen, sondern als Teile eines Ablaufes mit einem klaren Anfang und einem (davon verschiedenen) Ende. 25 Ich verstehe „Diskurs“ im Sinne von Seymour Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca 1978, 19–27, als die konkrete Art und Weise, wie eine (geschehene) Geschichte erzählt wird. „Diskurs“ ist für mich synonym mit „Erzählung“. Inhalt der Erzählung ist die „Geschichte“. 26 Elisabeth Gülich, Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzählanalyse (am Beispiel mündlicher und schriftlicher Erzähltexte) …, in: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung I, LiLi Beiheft 4, Göttingen 1976, 225. 27 Das Ende ist mit der „Ich-bin-bei-euch“-Zusage des erhöhten Gottessohns, der seine Jünger zu den Heiden schickt (28,16–20), erreicht. Im Prolog (1,1–4,16) gibt der allwissende Erzähler Mt seinen Lesern „Signale“, die auf dieses Ende hinweisen, z. B. die Immanuelweissagung 1,24 f oder die Anbetung des vom König Israels verfolgten Jesuskindes durch die Heiden

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man eine Erzählung als Abfolge der drei Grundelemente „Orientierung“, „Komplikation“ und „Auflösung“,28 so befinden wir uns in Kap. 8–9 wohl am Anfang der „Komplikation“. Die Eingangskapitel 1–7 bieten eine „Orientierung“, allerdings eine Orientierung besonderer Art.29 Worauf läuft die Erzählung von Mt 8–9 hinaus? M. E. formuliert Matthäus in 9,33 f den Zielpunkt dieses ersten Abschnittes seines Diskurses: Vor dem rahmenden Summar 9,35 (= 4,23) erzählt er von der gespaltenen Reaktion des Gottesvolkes Israel auf die Wunder Jesu: Die Volksmengen staunen und sagen: „Noch nie ist solches in Israel erschienen!“ Die Pharisäer dagegen lehnen Jesus ab: „Durch den Herrscher der Dämonen treibt er die Dämonen aus!“ (9,33 f). Verschiedene Hinweise lassen erkennen, dass es sich hier um eine Schlüsselstelle handelt. Sie wird in 12,23 f variiert und klingt wieder 21,10 f.14–17 an. Sie lässt zwei Hauptpersonengruppen der vorangehenden Geschichten in ihrer charakteristischen Reaktion gegenüber Jesus nochmals zu Worte kommen: die von Jesus beeindruckten Volksmengen (vgl. 8,1.16.18; 9,8; ferner 9,26.31) und die gegnerischen jüdischen Führer (vgl. 9,2–17). Ausserdem fällt auf, dass der Abschnitt 9,18–34 nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich noch einmal das Ganze der vorangehenden Geschichten aufnimmt: Die Erwähnungen des Glaubens (9,22.28 f) nehmen 8,10.13 auf. Die Nachfolge der Blinden (9,27, vgl. 19) erinnert an 8,18–27; 9,9. Ausserdem greift die Szene der Blindenheilung 9,27 auf 9,9 f zurück.30 Das Schlafen und Auferwecktwerden des Mädchens (9,24 f) entspricht dem Verhalten Jesu im Boot (8,25 f). Der christologische Titel κύριος 9,28 nimmt das fünfmalige κύριος von 8,2–25 auf. Die Anwesenheit der Jünger 9,19 erinnert daran, dass es es 8,19–27; 9,8–14 um die Jüngerschaft ging. Kurz, man bekommt den Eindruck, dass 9,18–34 nicht in erster Linie eine Zusammenstellung von drei Wundergeschichten unter dem Aspekt des Glaubens sind,31 sondern dass Matthäus hier fast alle Themen der vorangehenden Abschnitte nochmals anklingen lässt und bündelt. Noch eine weitere Beobachtung ist auffällig: In der Blindenheilung formuliert Matthäus den Schluss, 9,30 f, mithilfe des früher weggelassenen Schlusses der Heilung des Aussätzigen Mk l,44 f. Diese Geschichte war bei ihm die erste seines ganzen Zyklus (Mt 8,1–4). Man könnte (2,1–12). Diese Signale können eigentlich erst bei einer zweiten Lektüre des Evangeliums voll verstanden werden und haben zunächst die Funktion, den Leser auf die Tiefendimension der mt Geschichte hinzuweisen. Vgl. dazu Abschnitt ΠΙ. 28 Gülich, Ansätze (o. Anm. 26), 250–252. 29 Orientierende Funktion hat der Prolog nicht im üblichen Sinn einer Exposition, sondern darin, dass er den Lesern die Geschichte des Jesuskindes als Geschichte des Weges des vom König Israels verfolgten Messiaskindes ins Galiläa der Heiden schildert. Er eröffnet damit den Lesern die Tiefendimension der Geschichte. Orientierende Funktion hat die unmittelbar nach dem Anfang der eigentlichen Erzählung stehende Bergpredigt in einem ganz anderen Sinn: Sie enthält die bleibend gültigen Gebote des Herrn (vgl. Mt 28,19). 30 Παράγω ἐκεῖθεν, ἀκολουθέω (Aor.), Betreten des Hauses. 31 So Held, Matthäus als Interpret (o. Anm. 5), 170.236.

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also sagen: Matthäus braucht die markinische Geschichte 1,40–45 als Rahmen für seinen ganzen Wunderzyklus Mt 8,1–9,34. Auch das deutet darauf hin, dass Matthäus diesen Zyklus nun bewusst abschliessen will. So ist es wohl berechtigt, in 9,33 f eine abschliessende Reaktion des Volkes und der Pharisäer nicht nur auf den zuletzt berichteten Exorzismus, sondern auf Jesu Wunder in Israel32 überhaupt zu sehen. Der Wille, eine solche abschliessende Reaktion zu formulieren, ist dann wohl neben der Absicht, das κωφοὶ ἀκούουσιν von 11,5 zu belegen, das wichtigste Motiv für die Zufügung und Verdoppelung des kurzen Exorzismus aus Q (Lk 11,14 f) gewesen.33 Wir können also sagen: Am Ende des Wunderzyklus Mt 8–9 ist es zur Spaltung in Israel gekommen. Die negative Reaktion der Pharisäer, die für Matthäus die wichtigsten und repräsentativsten der Jesus ablehnenden jüdischen Führer sind,34 steht der neutral-positiven Reaktion der Volksmassen auf Jesus gegenüber. Die Wunder Jesu in Kap. 8–9 haben im Makrotext des Evangeliums die Funktion, diese Spaltung in Israel zu bewirken. Sie bilden die Exposition des später ausbrechenden Konflikts.35 Von hier aus wird es auch sinnvoll, dass der Evangelist die in Kap. 8–9 berichteten Wunder mehrmals bewusst als Wunder in Israel und als Wunder des Messias Israels36 kennzeichnet. Die drei Streitgespräche mit den Schriftgelehrten, den Pharisäern und den Johannesjüngern (9,2–17) werden nun innerhalb der Kapitel 8–9 sinnvoll: Sie bereiten die Spaltung in Israel vor. Matthäus ist nicht nur durch seine Markusquelle gezwungen, sie zu bringen – er hat sie im übrigen gerade in diesem Abschnitt recht grosszügig umgestellt –, sondern es zeigt sich hier wie in anderen Abschnitten seines Evangeliums, wie er einen konservativen Umgang mit der Tradition harmonisch mit seinen eigenen schriftstellerischen und theologischen Absichten verbindet. Gerade darin zeigt sich die schriftstellerische Meisterschaft des Redaktors Matthäus. Es gibt noch ein anderes Resultat des matthäischen Diskurses der Kapitel 8–9, das für das Ganze des Evangeliums wichtig ist: 9,36 sieht Jesus die hirtenlosen Volksmassen und erbarmt sich ihrer, weil sie wie Schafe ohne Hirten sind. Matthäus hat diesen Vers aus Mk 6,34 a.b übernommen und hier vorausgestellt. Aus 9,33 f ergibt sich, warum: Nachdem die Pharisäer Jesus, im Unterschied zu den 32 9,33,

vgl. 4,23: ἐν τῷ λαῷ; vgl. 8,10. beiden Fällen, 9,33 und 12,23, hat m. E. Mt die „neutrale“ Reaktion des Volkes selbst formuliert, und zwar m. E. beidemale unter Verwendung von in 9,8 weggelassenen Teilen von Mk 2,12. Vgl. o. Anm. 6. 34 Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 1), 148. 35 Mit Jack D. Kingsbury, Matthew as Story, Philadelphia, 1986, 3 bin ich einig, dass „the element of conflict is central to the plot of Matthew“. 36 Zu dem in unserem Abschnitt zentralen Davidssohntitel vgl. bes. Christoph Burger, Jesus als Davidssohn, FRLANT 98, Göttingen 1970, 72–106; Dennis C. Duling, The Therapeutic Son of David: An Element in Matthew’s Christological Apologetic, NTS 24 (1977/78), 392–410; Jack D. Kingsbury, The Title ‘Son of David’ in Matthew’s Gospel, JBL 95 (1976), 591–602. 33 In

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Volksmassen, schroff abgelehnt haben, sind sie nicht mehr ihre echten Hirten. Die Volksmassen sind vielmehr durch die Spaltung, die um Jesu willen zwischen ihnen und ihren Führern eingetreten ist, hirtenlos geworden. In dieser Situation bekommen die Jünger den Auftrag, Arbeiter in der Ernte an dem hirtenlosen Volk zu sein. Sie treten nunmehr, nach Kap. 8–9, als Apostel Jesu dem Volk gegenüber. Damit ist eine gegenüber dem Anfang des Wunderzyklus neue Situation erreicht: Zu Beginn der Bergpredigt traten die Jünger zusammen mit dem Volk als Hörer des Evangeliums Jesu von der Gottesherrschaft auf: Sie waren gleichsam der innere Kreis der Volksmassen, die Jesus zuhörten (4,25–5,2; 7,28–8,1). Im ersten Abschnitt der Erzählung von Jesu Wundern in Israel (8,1–17) traten sie nicht in Erscheinung. Dies änderte sich erst mit 8,18. Ist es Zufall, dass Jesus in 8,18 – anders als Mk 4,34 f – nicht den Jüngern den Befehl gibt, ans jenseitige Ufer zu fahren? Vielmehr erblickt Jesus bei Matthäus nur ganz allgemein das Volk um sich herum und gibt den Befehl zum Aufbruch ans jenseitige Ufer. Gilt der Befehl dem Volk, d. h. allen, die um Jesus sind? Dann wäre das Volk nicht der Grund für den Rückzug Jesu ans jenseitige Ufer,37 sondern es wäre zum Aufbruch mit Jesus aufgefordert. Die Erzählung ist an diesem Punkt nicht klar. Immerhin könnte für diese Interpretation sprechen, dass der Erste, der sich bei Jesus meldet und mitkommen will, ein Aussenstehender ist, nämlich der Schriftgelehrte von 8,19.38 8,23 taucht dann das Wort μαθηθής in Verbindung mit ἀκολουθέω auf: Jüngerschaft bedeutet Nachfolge, und das bedeutet zugleich wieder: Trennung von Israel, Einsteigen ins Schiff. Das Ziel der Überfahrt ist wichtig: Es ist die Gadarene, das heidnische Land der hellenistischen Kulturmetropole Gadara.39 Dort kann Jesus noch nicht wirken, sondern wird von den Bewohnern vertrieben und kehrt wieder ins Land Israel zurück. Sein καιρός ist noch nicht gekommen. Fortan tauchen die Jünger dem Volk gegenüber auf der Seite Jesu auf: Sie sind nicht nur an Jesu Stelle Ansprechpartner der feindlichen Führer des Volkes (9,11.14), sondern sie werden auch gegenüber den Zöllnern und dem Hilfe suchenden Synagogenvorsteher als Jesu Begleiter geschildert. Man könnte sagen: Von dem Moment an, wo die Jünger mit Jesus ins Schiff steigen und vom Volke weg ans jenseitige Ufer fahren, haben sie ihren – für das Matthäusevangelium fortan eindeutigen – Ort: Sie gehören zu Jesus und stehen dem Volke gegenüber. Es ist der Ort, der in der sog. Aussendungsrede Kap. 10 konstitutiv ist. Dass Matthäus in 8,18 die Jünger sich bewusst vom Volke lösen und zu neuen Ufern aufbrechen lässt, wird durch den folgenden Hauptabschnitt des Matthäus37 So

deutet z. B. Walter Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK I, Berlin 1968, 257 f; Schweizer, Mt (o. Anm. 4), 141 als Möglichkeit. 38 Der Zweite von Mt 8,21 f ist wohl deshalb ein Jünger, weil seiner Bitte kein Nachfolgewort voranging. 39 Die Dekapolisstadt war als grosse hellenistische Stadt bekannt; Mt wusste sogar, dass ihr Gebiet (im Unterschied zu demjenigen von Gerasa) bis an den See reichte.

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evangeliums, nämlich 12,1–16,20 bestätigt werden.40 Dieser Abschnitt schildert in mehreren Anläufen den „Rückzug“’ Jesu und seiner Jünger von Israel. Ein Rückzug Jesu (ἀναχωρέω) ist seine Antwort auf den Todesbeschluss der Pharisäer (12,14 f). Wiederum sagt hier Matthäus, dass „viele“ aus dem Volk ihm auf diesem Rückzug „folgen“ und dass Jesus sie heilt. Wiederum, wie in 9,1–17, führt Jesu Rückzug aus Israel zum Konflikt mit den Pharisäern (12,22–45), der in schroffen Gerichtsworten Jesu endet (12,39–45). Der bösen Generation gegenüber steht die wahre Familie Jesu, über die Jesus segnend seine Hand hält (12,46–50). Nach der Gleichnisrede wiederholt sich diese Szenenfolge: Auf die Kunde von dem Jesu eigenen Tod im Voraus andeutenden Tod des Johannes zieht sich Jesus wiederum zurück (14,13; ἀναχωρέω). Wieder folgen ihm die Volksmassen, die Jesus wiederum heilt (14,14 c). Es folgen Gemeindetexte: die erste Speisung des Volkes, mit deutlichen Reminiszenzen an die Abendmahlserfahrung der Gemeinde, und die Sturmstillungsgeschichte, von Matthäus als Nachfolgegeschichte gestaltet. Mit 14,34 setzt eine neue Erzählfolge ein. In ihrem Anfang steht wiederum ein Konflikt mit den Pharisäern und Schriftgelehrten (15,1–20), gefolgt von einem weiteren Rückzug Jesu (15,21), auf dem ihm wohl nur deshalb keine Volksmassen aus Israel folgen, weil er sich ins heidnische Gebiet von Tyrus und Sidon begibt. Nach einer erneuten Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Sadduzäern, die wiederum in einem Gerichtswort endet, verlässt sie Jesus (καταλιπὼν … ἀπῆλθεν 16,4) und geht mit den Jüngern wiederum im Schiff ans jenseitige Ufer (εἰς τὸ πέραν, vgl. 8,18). Und zu allem Überfluss zeigt die in diesem Hauptteil stehende Gleichnisrede Mt 13 dieselbe erzählerische Grundstruktur: Sie beginnt am See, wo Jesus die zahlreichen Volksmassen vom Schiff aus lehrt (13,lf). In ihrer Mitte unterbricht Matthäus die Rede durch eine erzählerische Zwischenbemerkung:41 Jesus verlässt das Volk und geht ins Haus, wohin ihm seine Jünger folgen (13,36 a). Wieder haben wir das Grundmotiv der Trennung der Jünger von den Aussenstehenden.42 Das in 8,18–27 präludierte Motiv der Trennung der Jünger von Israel wiederholt sich also im folgenden Hauptteil so oft, dass es der Leser nicht unbeachtet lassen kann. Durch die Wiederholung wird ihm deutlich: Hier entsteht die Gemeinde. Wer Jesus aus dem Volk nachfolgt, wird zum Jünger. Die Jünger sind fortan etwas anderes als das Volk Israel: Sie sind bei Jesus, stehen unter seinem Schutz, werden von ihm belehrt und geheilt und erhalten von ihm einen Auftrag. Das Thema „Jüngerschaft“ ist also in der Tat in Kap 8–9 nicht ein Thema neben mehreren. Sondern in der ganzen Erzählung von Mt 8–9 geht es darum, wie durch das heilende und barmherzige Handeln des Messias Israels, des Gottesknechtes und Davidssohns in seinem Volk (9,9.27) eine Spaltung und eben 40 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Zürich / ​Neukirchen 1990, 225 f. 41 Ähnlich zu Beginn der letzten Rede: 24,l–3 a. 42 Durch 13,10–17 wird sie vorbereitet.

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so die Jüngergemeinde entsteht. Als Antwort auf dieses barmherzige Wirken Jesu entsteht die Gemeinde (vgl. 9,27; 12,15; 14,13; 20,34), die dann weitere Erfahrungen von Jesu heilsamem Handeln macht. An eben diesen Heilungen entstehen aber auch die Konflikte, die zur Spaltung in Israel führen (9,1 b–8; 12,9–14.22–45; 14,34–15,1; 21,14–16). Das heilende Handeln des Messias Israels in seinem Volk ist also der entscheidende bewegende Faktor, der den Konflikt und damit die ganze Erzählung vorantreibt. Wir formulieren ein kurzes Fazit: Matthäus erzählt in Kap. 8–9 die Entstehung der Jüngergemeinde aus Israel und die damit verbundene Spaltung in Israel. Die These Burgers, dass es in Mt 8–9 um „die Gründungslegende der christlichen Kirche“ gehe, ist also m. E. nicht „etwas überspitzt“,43 sondern richtig. Nur muss man deutlicher als Burger sagen: Es geht nicht – statisch – um eine Zurückprojektion der Wirklichkeit der Kirche ins Leben Jesu und nicht um eine Darstellung der Kirche durch das sprachliche Medium eines Berichts über Jesus, sondern es geht um eine Erzählung, die Erzählung nämlich, wie durch die Wunder des Messias in Israel Gemeinde entstand.

III Damit sind wir anhand unserer beiden Kapitel auf das Erzählgerüst des Matthäusevangeliums gestossen, also auf das, was der englischsprachige literary criticism „plot“44 nennt. Dieses Erzählgerüst ist in seiner Oberflächenstruktur einigermassen verwirrend: Nachdem Jesus eine lange Rede gehalten hat, beginnt er zu heilen (8,1). Er heilt in Kap. 8–9 unentwegt, sozusagen ununterbrochen. Eine Szene jagt die andere. Dass Jesus nach so anstregendem Tun müde auf dem Schifflein einschläft (8,24), vermag auch den nicht zu verwundern, der an der Oberfläche der matthäischen Geschichte bleibt. Warum musste Matthäus diesen kompakten Block von Wundergeschichten schaffen? Warum musste er alle diese Wundergeschichten geographisch und chronologisch so eng miteinander verknüpfen, um unter allen Umständen seinen Lesern deutlich zu machen, dass er eine Geschichte erzählt und nicht eine Zusammenstellung von irgendwann geschehenen Jesuswundern etwa im Stile einer antiken Biographie geben will?45 Warum der so unmotivierte und dann so schnell abgebrochene Ausflug Jesu ins 43 Burger,

Jesu Taten (o. Anm. 11), 287. den verschiedenen Definitionsmöglichkeiten eines „plot“ vgl. Alan Culpepper, The Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983, 79 f. 45 Zum selektiven Charakter antiker Biographien vgl. Charles H. Talbert, What is a Gospel?, Philadelphia 1977, 17; Philip Shuler, A Genre for the Gospels, Philadelphia 1982, bes. 98 f (S. weist auf Tacitus, Agricola, eine dem historischen Ablauf folgende Biographie. Aber diese „Biographie“ des a) Römers und b) Historikers Tacitus ist wohl gerade kein typisches Beispiel für das genus Biographie. Nach Klaus Berger, Hellenistische Gattungen und Neues Testament, ANRW 25/Π, Berlin, 1984, 1239 f. berichten bei Biographien nur der Anfang und 44 Zu

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heidnische Gadarenerland? Warum die unmotivierte Präsenz von Menschen, die Jesu Sturmstillung akklamieren und staunen (8,27) – Matthäus hat ja die „anderen Schiffe“ (Mk 4,36 b), in denen sie hätten sein können, gestrichen? Und warum der  – oberflächlich gesehen  – völlig rätselhafte Ausspruch Jesu, dass die Volksmassen keinen Hirten hätten (9,36)? Die Schwierigkeiten der Oberflächenstruktur gehen nach Kap. 10 weiter: Warum der brüske Abbruch der Aussendungsrede, ohne dass berichtet wird, wie die Jünger Jesu Gebote ausführen (11,1)? Warum die schroffe Gerichtsankündigung in 11,20–24? Warum das den unmittelbaren Kontext nur an einem einzigen Punkt treffende lange Erfüllungszitat von 12,18–21, mit dem der Erzähler Matthäus seine Geschichte deutet? Warum der zu den Gleichnissen inhaltlich nicht passende Wechsel der Hörerschaft in 13,36? Warum die dreimalige Wiederholung des Rückzugs Jesu in 13,54–16,12? Zu den Merkwürdigkeiten der Erzählung kommt ihre Distanz zur Geschichte (history) Jesu: Was auch immer Matthäus über die Geschichte Jesu gewusst, gedacht bzw. nicht gedacht haben mag, er muss gewusst haben, dass seine von ihm zusammenhängend und ohne Unterbruch erzählte Geschichte Jesu, d. h. sein Diskurs, fiktiv war. Man kann nicht naiv und diesbezüglich bona fide eine vorgegebene Geschichte, die das Wirken Jesu in chronologischem Abriss erzählt, zertrümmern und sie neu zusammensetzen, durch weitere Überlieferungen ergänzen und daraus einen neuen geographisch und chronologisch geschlossenen Ablauf schaffen, ohne zu wissen, dass dieser Ablauf der wirklichen Geschichte Jesu nicht entsprochen haben kann. Matthäus dürfte sich für die ihm ja unerreichbare wirkliche Geschichte (history) des irdischen Jesus gar nicht interessiert haben – aber das wissen wir leider nicht. Aber wir wissen, dass er wusste, dass seine Geschichte Jesu eine neue Erzählung war. Er wusste um ihre Fiktivität, er wusste, dass sie sein Entwurf („plot“) war. Man kann z. B. nicht annehmen, dass Matthäus eine ihm einmal überlieferte Geschichte Jesu, dazu noch ihren Helden, verdoppelt und sie als zwei zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten passierte Geschichten erzählt, ohne um die historische Fiktivität seiner Erzählung zu wissen. Wo aber liegt dann der Sinn dieses Unternehmens? Die matthäische Erzählung wird m. E. nur sinnvoll und das matthäische Erzählgerüst („plot“) ist nur dann in einen verständlichen Diskurs angelegt, wenn man erkennt, dass sie eine Tiefenstruktur haben, die der Kommunikation des Autors mit seinen Lesern dient und diese ermöglicht.46 M. E. ist die matthäische Erzählung so sehr illokutionär, d. h. auf eine Anrede ihrer Leser hinzielend, dass der Schluss chronologisch. Die übrigen Teile erheben keinen Anspruch auf eine chronologische Abfolge. 46 Es geht hier nicht um die Tiefenstruktur im Sinne einer Transformations-Grammatik, sondern um eine „zweite Ebene“ des Sinns der Jesuserzählung, in der diese ihre eigene Vergangenheit in Richtung auf den Leser überschreitet.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9

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sie nur mithilfe eines kommunikationstheoretischen Textmodells zureichend erfasst werden kann.47 Die matthäische Geschichte hat unter ihrer Oberfläche eine (oder mehrere!) Tiefenstruktur(en), die u. a. an der Spannung in ihrer Oberflächenstruktur erkennbar wird.48 Mithilfe dieser Tiefenstruktur kommuniziert der Autor Matthäus mit seinen Lesern. Auf dieser Ebene „sagt“ die matthäische Geschichte ihren Lesern etwas. Auf dieser Ebene tut sie ihre Wirkung; sie tröstet, bestätigt, ermuntert, ermahnt und fordert. Rekapitulieren wir nochmals die matthäische Erzählung: Der Evangelist berichtet vom Wirken des Messias Israels in seinem Volk. Er erzählt, wie aus diesem Wirken die Jüngergemeinde entsteht (8–9). Er erzählt dann, wie sich die Spaltung in Israel zuspitzt (11) und wie es zu wiederholten Rückzügen Jesu und der ihm nachfolgenden Jüngergemeinde aus Israel kommt (12,1–16,20). Er berichtet anschliessend über das Leben und die Ordnung der aus Israel heraus entstandenen Gemeinde (16,21–20,34). Er erzählt schliesslich, wie sich der Konflikt in Israel endgültig zuspitzt, von der grossen Abrechnung Jesu mit dem feindlichen Israel in seinen Gleichnissen, seinen Streitgesprächen und seiner Weherede, die in seinem endgültigen Auszug aus dem Tempel (24,1–3) und in seiner Tötung (26 f) gipfelt. An diesem Endpunkt der Geschichte sagt das ganze Volk Nein zu Jesus (27,24 f). Darum schickt nach seiner Auferstehung der Messias Israels seine Jünger zu den Heiden (28,16–20). Das ist das Erzählgerüst der matthäischen Geschichte.49 Es wird deutlich: Es ist die Grundgeschichte seiner Kirche, die Matthäus hier erzählt. Es ist nicht nur die Geschichte Jesu, sondern im gleichen Zug die Geschichte der ihm nachfolgenden Gemeinde des Matthäus, die selber aus Israel stammt, aus Israel herausgehen musste, in Israel verfolgt wurde, sich von Israel endgültig getrennt hat und nun zur Heidenmission aufbricht. Ihre eigene Geschichte sehen die Leser des Matthäusevangeliums in der Geschichte Jesu grundgelegt. Sie beginnt mit dem heilenden Handeln des Messias Israels in seinem Volk (4,23; 9,35), das alles weitere bewirkt. Die Gemeinde erkennt, dass sie sich selbst dem barmherzigen Handeln des Messias in Israel verdankt (8,1–4.14–17). Sie erfährt, wie aus diesem Handeln heraus Jüngerschaft entstehen kann (8,18–22 nach 8,1–17; 47 Siegfried J. Schmidt, Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation, UTB 202, München, 1973, 77 versteht „Referenz“ als „Anweisung von Textkonstituenten an Kommunikationspartner“ und Pragmatik nicht als Teilgebiet der Texttheorie, sondern als Texttheorie überhaupt. Zur pragmatischen Erzählanalyse vgl. auch Gülich, Ansätze (o. Anm. 26). 48 Andere Erkennungsmerkmale dieser Tiefenstruktur sind die „Signale“ besonders im Prolog (vgl. Luz, Mt 1–7 [o. Anm. 1], 23), die Durchbrechung der vergangenen Zeitebene durch Weissagungen, die Überlagerung der vergangenen Zeitebene durch Aktualisierung traditioneller Logien, die mit der Sprache der Leser identische Sprache Jesu und vor allem die verschiedene Zeitebenen umspannende Christologie des „Gott-mit-uns“. 49 Diese Skizze setzt selbstverständlich viele exegetische Entscheidungen voraus, die nicht hier, sondern im Kommentar (vgl. o. Anm. 1 und 40) begründet werden können.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

9,9–13 nach 9,2–8; 9,27–31). Sie sieht in der gefährlichen Fahrt der Jünger ans heidnische Ufer sich selbst unterwegs von Israel zu den Heiden (8,23–34). Sie erkennt beispielhaft schon in der Geschichte Jesu, wie Gottes Heilshandeln über Israel hinausdrängt (8,5–13.28–34). Sie sieht, wie durch Jesus die Spaltung in Israel sich anbahnt, die sich immer mehr zuspitzen wird und die später ihre eigenen geschichtlichen Erfahrungen bestimmen wird (vgl. 9,2–17.32–34). Sie erfährt die Geschichte Jesu als ihre eigene Grundgeschichte und so auch die Kontinuität des Handelns Gottes vor und nach Ostern. Akzeptieren wir dies als Grundthese, so werden einige Besonderheiten der matthäischen Erzählung in Kap. 8–9, die auf der Oberfläche der matthäischen Geschichte interpretiert, Schwierigkeiten bieten, durchsichtiger: 1. Matthäus beginnt seine Geschichte von Jesu Handeln in Israel mit einem Block von Wundergeschichten. Dieser zusammenhängende Anfang der Jesusgeschichte darf nicht einfach lehrhaft interpretiert werden, als ob Matthäus z. B. an zehn Beispielen den „Messias der Tat“ dokumentieren möchte.50 Auch wenn dieser Block oberflächlich betrachtet als Schilderung von einem oder zwei Tagen im Leben Jesu merkwürdig anmutet, so hat doch die zusammenhängende Geschichte von Jesu Heilen in Israel im Rahmen des matthäischen Erzählentwurfs ihren guten Sinn: Matthäus deutet so an, dass am Anfang der Geschichte der Gemeinde ein zusammenhängendes, ununterbrochenes Handeln Gottes durch Jesus stand. Die Geschichte der Gemeinde beginnt mit den Taten des Erbarmens des Messias.51 Alles andere, der Ruf in die Nachfolge, der Glaube der Geheilten, die Konflikte um Jesus, sind Reaktionen auf diese anfängliche Geschichte der barmherzigen Taten des Messias. Die Wundergeschichten von Kap. 8–9 als Anfang der Geschichte der Entstehung der Gemeinde aus Israel haben somit eine ähnliche Funktion wie die Vorordnung von 4,23–25 vor die Bergpredigt: Es geht Matthäus darum zu erzählen, dass die Taten des Messias, resp., die Taten Gottes durch ihn, alles überhaupt erst entstehen liessen. 2. Matthäus durchbricht öfters die zeitliche Retrospektive.52 Mt 8,11 f und 9,15 b sind Weissagungen des „omniscienten“ Protagonisten Jesus, die sich auf die Zeit der Kirche resp. des Endgerichts beziehen. Die Verallgemeinerung der ἐξουσία Jesu in 9,8 (die Vollmacht des Menschensohns 9,6 geht auf alle Menschen über) setzt die Erfahrung der Sündenvergebung in der Gemeinde voraus. Proleptischen Charakter hat auch die Überfahrt Jesu und der Jünger ins heidnische Land in 8,23–27 und die Heilung der besessenen Gadarener dort. Vom Ganzen der Matthäuserzählung her würde man das πρὸ καιροῦ von 8,29 am 50 Vgl.

Schniewind, Mt (o. Anm. 17). Ebd. 107 gibt Schniewind aber bereits eine beachtenswerte Skizze einer Erzählung vom Messias der Tat. 51 Das Zitat aus Hos 6,6 in Mt 9,13 ist m. E. christologisch und nur indirekt paränetisch gemeint. Es interpretiert Jesu Verhalten gegenüber den Zöllnern und – wie 9,27 verdeutlicht – seine Heilungen überhaupt. Anders akzentuiert Gnilka, Mt I (o. Anm. 10), 333. 52 Vgl. Culpepper, Anatomy (o. Anm. 44), 30 f.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9

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liebsten auf die Zeit der Heidenmission deuten, die noch nicht gekommen ist – aber der Text gibt leider keine Hinweise für eine solche Deutung.53 Schliesslich ist das Präsens historicum zu erwähnen. Wie sonst im Matthäusevangelium, so konzentriert es sich auch in unseren Kapiteln auf das λέγει Jesu (8,4.7.20.22.26; 9,7.9.28). Ohne dass Matthäus hier einen konsequenten Sprachgebrauch entwickelt, wird man doch sagen können, dass das häufige Präsens des Sprechens Jesu mit der Gegenwartsbedeutung der Worte Jesu zusammenhängen dürfte.54 Unsere Kapitel sind also durchsetzt von direkten und indirekten Hinweisen auf die kommende Zeit der Gemeinde, die in der Jesusgeschichte grundgelegt ist.55 Diese Struktur der Grundgeschichte des Evangeliums entspricht dem, was Matthäus bereits in seinem Prolog (1,1–4,16) vorweggenommen hatte. Dort ging es nicht nur um die Vorwegnahme des entscheidenden „evaluative point of view concerning Jesus’ identity“, nämlich um die Mitteilung von Jesu Gottessohnschaft,56 sondern es ging um mehr: Es ging um eine proleptische Vor-Erzählung der Geschichte des Gottessohns „Immanuel“. Seine Geschichte beginnt mit der Geburt des davidischen Messias in Israel (1,18–25); sie führt durch die Krise mit dem König Israels (2,1–12) ins heidnische Ägypten (2,13–18) und ins Galiläa der Heiden (2,19–23; 4,12–16), wo der Nazoräer57 Jesus seine Gemeinde berufen wird (vgl. 4,18–22). Der Prolog erzählt bereits die Grundgeschichte der Gemeinde, die Mt von 4,17 an in der Geschichte des Wirkens Jesu den Leser / ​ innen ausführlich entfalten wird.

IV Damit sind aber die Wundergeschichten von Mt 8–9 noch nicht abschliessend gedeutet. Neben der indirekten Gegenwartsbedeutung der Wunder Jesu als Anfang der eigenen Geschichte der Gemeinde haben sie auch noch eine direkte Gegenwartsbedeutung. Da sich diese Sinnebene nicht auf die Wunder53 Vgl. 8,29. Πρὸ καιροῦ kann allerdings nicht sicher so gedeutet werden; der Ausdruck kann auch eine umgangssprachliche Wendung im Sinne von „vorzeitig“ sein, vgl. Liddell-Scott s. v. καιρός ΙΠ 1 b. 54 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 1), 34. 55 Diese Eigenart mt Erzählweise setzt sich in den folgenden Kapiteln fort: Ich erwähne nur das Ineinander von vergangener Aussendungssituation und gegenwärtiger Gemeindewirklichkeit in Mt 10, den als Weissagung der Auferstehung und der Heidenmission zu lesenden Schluss des Erfüllungszitates 12,20 c.21, die Weissagungen 12,40–42 etc. 56 Kingsbury, Matthew as Story (vgl. o. Anm. 35), 55. Kingsbury ist (immer noch?) an der Bedeutung und Rangordnung christologischer Titel interessiert. M. E. müsste dieses Interesse der Frage nach dem Fluss und dem Ziel der Erzählung konsequent untergeordnet werden. 57 Mt 2,23. Ναζωραῖος ist zugleich Selbstbezeichnung der syrischen Gemeinde des Mt, vgl. . Luz, Mt 1–7 (o. Amn. 1), 133. So verbindet 2,23 den Sohn Gottes mit den Lesern des Mt und das nächste Erfüllungszitat Mt 4,15 f das Ziel des Weges Jesu im Prolog mit der künftigen Aufgabe der mt Gemeinde, der Heidenmission.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

geschichten von Mt 8–9 als Teil des matthäischen Makrotextes, sondern fast ausschliesslich auf die Einzelgeschichten bezieht, möchte ich auf sie nur noch skizzenhaft hinweisen. Im Unterschied zu Held, der vom paradigmatischen Charakter der Wundergeschichten bei Matthäus sprach, möchte ich lieber von ihrer Transparenz für die Gegenwart sprechen.58 Der Ausdruck „Transparenz“ betont stärker die Unersetzbarkeit der vergangenen Jesusgeschichten. Die vergangenen Taten Jesu ermöglichen ihre Transparenz für die Gegenwart der Gemeinde. Die Transparenz funktioniert dabei verschieden. Die Wunder Jesu können von Erfahrungen berichten, die in der Gemeinde auch noch identisch erfahren werden können: Mt 10,1.8 wird zeigen, dass für Matthäus Heilungen konstitutiv für den Auftrag der Jünger und damit das Wesen der Gemeinde sind. Mt 17,19 f bezeugt dasselbe e negativo: Das Ausbleiben von Wundererfahrungen in der Gemeinde ist verhängnisvoll, weil Wunder Ausdruck des Glaubens sind. Die Identität der Erfahrungen ist z. B. auch durch den Wortstamm πιστ‑ gegeben: Wenn vom Glauben der Geheilten bzw. wenn vom Kleinglauben der Jünger geredet wird, so ist deutlich, dass damit unmittelbar die eigene Glaubenserfahrung der Gemeinde mit eingeschlossen, ermutigt oder hinterfragt werden soll. Deutlich ist dasselbe auch bei der Erfahrung der Sündenvergebung (9,6.8). An anderen Stellen benutzt Matthäus traditionell vorgegebene Möglichkeiten metaphorischer Deutungen einzelner Ausdrücke und Motive: So lässt sich etwa „blind“ und „sehen“ metaphorisch deuten.59 Die physische Heilung von Blinden ist gleichsam nur der Kern oder physische Ausdruck dessen, was mit jedem Menschen geschieht, wenn er Jesus begegnet: Er wird sehend. Auch das Wort ἀκολουθέω ist bei Matthäus übertragen gedeutet und wird zur Chiffre des Unterwegsseins mit Christus auf dem Weg des Gehorsams, des Leidens, aber auch des Getragenseins und der Hilfe. In der Sturmstillungsgeschichte Mt 8,23–27 steht eine ganze Palette traditioneller Metaphern zur Verfügung, die dazu hilft, die Geschichte als symbolische Darstellung von Führungs‑ und Bewahrungserfahrung der Gemeinde in den Stürmen des Lebens zu verstehen.60 Zur Transparenz der Wundergeschichten helfen auch Elemente liturgischer Sprache, wie die Gebetsanrede κύριε.61 Die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus lässt durch die matthäischen Kürzungen die Assoziationen an die eigene kommende Auferweckung von den Toten deutlicher hervortreten.62 58 Vom „Transparenten“ spricht bereits Karl Barth, KD IV/2, 234 im Anschluss an Wilhelm Heitmüller. Ausgezeichnet formuliert er ebd. 242: Die Wundergeschichten sind, „indem Jesus in den von ihnen berichteten Handlungen Geschichte macht, faktisch zugleich deren Gleichnisse“. 59 Vgl. Wolfgang Schrage, Art. τυφλός κτλ., ThWNΤ VIII 276,4–278,6; 280,26–281,34. 60 Vgl. dazu zuletzt Gnilka, Mt I (o. Anm. 10), 317–319. 61 Psalmensprache! Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 1), 60. 62 9,18 geht es um die Auferweckung des bereits toten Mädchens (diff. Mk); 9,25 werden sämtliche mk Einzelheiten, die klar machen, dass es bei dieser Auferweckung um eine Rückkehr ins bisherige Leben geht (das Umhergehen und das Essen), gestrichen.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9

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Drei Bemerkungen sind zu dieser Deutungsebene noch nötig: Einmal ist hervorzuheben, dass sie bei Matthäus nicht neu ist. Der Evangelist führt vielmehr nur weiter, was in der Tradition bereits angelegt war. Auch bei Markus werden gerade die Blindenheilungen schon metaphorisch gedeutet.63 Auch die markinische Sturmstillungsgeschichte ist eine symbolische Verschlüsselung von eigenen Erfahrungen der Gemeinde.64 Matthäus hat die Transparenz der Wundergeschichten in einzelnen Fällen deutlicher gemacht, etwa durch seine Kürzungen, durch das Weglassen von Namen, die die Einmaligkeit von Geschichten hervorhoben,65 und vielleicht auch durch die Verdoppelung des blinden Bartimäus. Zweitens: Die meisten Wundergeschichten von Mt 8–9 sind in ihrem Sinn mehrschichtig. Sie haben zugleich eine „indirekte Transparenz“ für die Geschichte der Gemeinde im Rahmen des „plot“ der ganzen Matthäusgeschichte und eine „direkte Transparenz“ für die Gegenwart. Man kann sich das etwa am Beispiel der Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kapemaum (Mt 8,5–13) verdeutlichen. Diese Geschichte weist einerseits auf das kommende Gericht an Israel und das Heil für die Heiden voraus, andererseits ist sie für den Glauben der Gemeinde direkt transparent. Ein anderes Beispiel ist die Heilung des Lahmen Mt 9,2–8, die zugleich als Schilderung des Konfliktes mit den Schriftgelehrten Teil der matthäischen Geschichte und durch die Ermöglichung der Sündenvergebung der Gemeinde transparent für die Gegenwart ist. Drittens: Die Transparenz der matthäischen Wundergeschichten ist in keinem Fall mit einer allegorischen Deutung in dem Sinn zu verwechseln, dass die Geschichten von etwas anderem reden wollen als von dem, wovon sie vordergründig reden. Vielmehr geht es darum, dass die von ihnen berichtete wirkliche Begebenheit der Geschichte Jesu einen Erfahrungsbereich erschliesst, der weiter ist als sie selbst.66 Insofern ist gerade die Verbindung der beiden konstitutiven Deutungsebenen, nämlich der bereits traditionell vorgegebenen direkten Transparenz der (Einzel)geschichte für die Gegenwartserfahrungen der Gemeinde und der (auch schon bei Markus, aber in anderer Weise entworfenen) Einordnung der Einzelgeschichten in den Gesamtentwurf der matthäischen Jesusgeschichte für 63 Vgl. Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 141975, 87 f. 121. 64 Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1–8,26), EKK II/1, Neukirchen / ​ Zürich 1978, 197. 65 Beispiel: Die Identifikation mit dem Synagogenvorsteher Jairos wird der mt Gemeinde, die den Bruch mit der Synagoge erlebt hat, nicht leicht gefallen sein, darum das unspezifische ἄρχων 9,18. 66 Daraus ergibt sich allerdings eine grundsätzliche Nähe des Sinns mt Wundergeschichten zu dem, was später die kirchliche allegorische Auslegung versuchte. Dort soll ja meistens nicht der wörtliche Schriftsinn durch den geistlichen verdrängt werden. Vielmehr ist der geistliche Schriftsinn ein Versuch, verschiedene Aspekte des Gegenwartssinns von Texten (z. B. moralisch oder heilsgeschichtlich) zu erfassen. Gerade das unverbundene Nebeneinander mehrerer Deutungsdimensionen entspricht dem eigenen mt Wunderverständnis.

242

III. Studien zum Matthäusevangelium

das Verständis entscheidend: Die matthäischen Wundergeschichten sind Teil der für die Gemeinde grundlegenden Geschichte Jesu und haben gerade als solche transparente Bedeutung.

V Nicht nur die damals geschehene Geschichte, sondern auch die durch sie bewirkte Geschichte der Entstehung der Kirche und die durch sie bewirkten und gespiegelten gegenwärtigen Erfahrungen der Gemeinde machen also die Wirklichkeit von Jesuswundern aus. Ich schlage deshalb vor, das Matthäusevangelium, dessen Teil die Wundergeschichten von Kap. 8–9 sind, eine „inklusive Erzählung“ zu nennen.67 Graphisch könnte man sie sich in folgender Darstellung verdeutlichen: Inklusive Jesuserzählung des Mt Geschichte der Gemeinde unterwegs von Israel zu den Heiden

Gegenwart

Bericht 1

Bericht 2

Bericht 3

Bericht 4

irdischer Jesus Vergangenheit

„direkte Transparenz“ Wunder, Glaube, Erkenntnis, Führung, etc. eigene Erfahrungen der Gemeinde

gegenwärtiger Jesus „Immanuel“

indirekte Transparenz

Gegenwart

Erst in der Erfahrung ihrer wirkenden Kraft in der Geschichte und im gegenwärtigen Leben der Gemeinde kommen die Wundergeschichten zu ihrer ganzen Wirklichkeit. 67 In Ulrich Luz, Art. Geschichte / ​Geschichtsschreibung / ​Geschichtsphilosophie IV. Neues Testament, TRE 12, 1984 sprach ich von „inclusive story“ (597 f). „Inklusive Erzählung“ ist formal richtiger, auch wenn für Mt (und Mk) klar ist, dass es die Geschichte Jesu selbst ist, die die gegenwärtige Existenz einschliesst. Mt unterscheidet zwischen der Gestalt der ihm vorgegebenen Geschichte und der seines Diskurses in bemerkenswerter Weise nicht.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9

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Darin, dass ihre Wirklichkeit Teil einer vergangenen Geschichte ist, aber zugleich diese überschreitet und die Gegenwart bestimmt, entsprechen sie der matthäischen Christologie. Jesus, der „damals“ Wunder getan hat, ist für Matthäus vom Anfang seines Evangeliums an der „Immanuel“ (1,24), der alle Tage bei seiner Gemeinde ist bis ans Ende der Welt (28,20). So entspricht die Erfahrung, dass die Wunder Jesu eine über sie hinauszielende Geschichte bewirken und ihre Kraft in den eigenen Erfahrungen der Gemeindeglieder erweisen, der matthäischen Christologie. Literaturwissenschaftlich müsste über den Erzähltyp, den das Matthäusevangelium repräsentiert, noch weiter nachgedacht werden. Es wird m. E. nicht zureichend erfasst, wenn es einer allgemeinen Theorie „der“ Erzählung zugeordnet wird.68 Das Charakteristikum seiner „inklusiven“ Erzählung ist vielmehr, mithilfe ihres direkt oder indirekt transparenten Charakters mit den gegenwärtigen Lesern zu kommunizieren, bzw. noch stärker: die Leser in die Erzählung hineinzunehmen. Die für das Verständnis der Evangelien entscheidende Textdimension ist deshalb m. E. die pragmatische, die entscheidende semiotische Frage ist die nach dem Verhältnis von Zeichen und Zeichenfunktion. Den Evangelien verwandte Erzählungen sind z. B. Mythen, Märchen und vor allem die alttestamentlichen Grundgeschichten Israels.69 Hilfreich für die literaturwissenschaftliche Beschreibung könnten die Versuche von Martinez-Bonati sein, von einer mehrfachen Schichtung des Sinns im Kunstwerk70 zu sprechen. Hilfreich scheint mir auch die Frage von Siegfried Schmidt nach dem „Illokutionspotential“ von Texten.71 Damit ist auch gegeben, dass der Sinn von Wundergeschichten im Rahmen der matthäischen Grundgeschichte nie nur statisch definiert werden kann, sondern immer vom Leser in seiner konkreten geschichtlichen Situation und mithilfe seiner eigenen analogen Erfahrungen neu entdeckt werden muss. Hier bleibt aber noch ein weites, literaturwissenschaftlich-hermeneutisch-theologisches Arbeitsfeld.

68 Das ist meine wichtigste Frage an Kingsbury, Matthew as Story (o. Anm. 35), der m. E. die besondere Art des Leserbezugs des Mt.Ev. weithin ausklammert und darum an der Oberfläche des mt Diskurses bleibt. 69 Die alttestamentlichen Geschichtsentwürfe, die in verschiedener Weise eine Identifikation des Lesers mit seiner Grundgeschichte am Sinai voraussetzen (vgl. nur z. B. den geschichtlichen Rahmen des Dtn!), kommen den Evv. besonders nahe. 70 Félix Martinez-Bonati, Erzählungsstruktur und ontologische Schichtenlehre, in: Haubrichs, Erzählforschung (o. Anm. 26), 175–183. 71 Schmidt, Texttheorie (o. Anm. 47), 150: „Ein Text ist jeder geäusserte sprachliche Bestandteil eines Kommunikationsaktes in einem kommunikativen Handlungsspiel, der thematisch orientiert ist und eine erkennbare kommunikative Funktion erfüllt, d. h. ein erkennbares Illokutionspotential realisiert“.

15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie oder: Exegetische Prolegomena zu einer dynamischen Ekklesiologie1 Die matthäische Aussendungsrede in Kapitel 10 stand in der Auslegungsgeschichte immer im Schatten der Bergpredigt. Während bei der Bergpredigt das Interesse an dieser „Rede der Reden“ immer sehr gross war, gibt es kaum kirchliche Texte, die sich nur mit der Aussendungsrede beschäftigen. Es gibt kaum auslegungsgeschichtliche2 und sogar wenig exegetische Spezialliteratur.3 Warum dieses geringe Interesse? Manche Faktoren mögen hier eine Rolle spielen. Sicher ist gerade heute nicht unwichtig, dass die Aussendungsrede von Mt 10 im Unterschied zur Bergpredigt einen deutlich innerkirchlichen Charakter zu haben scheint. Nicht die Jünger zusammen mit den Volksmassen sind die Hörer dieser Rede Jesu, wie in der Bergpredigt (5,1 f; 7,28 f), sondern nur die Jünger, genauer: die zwölf Jünger. Und es geht denn auch nicht wie in der Bergpredigt um ein Ethos, das zwar von den Jüngern Jesu praktiziert werden soll, das aber zugleich der für die gesamte Welt gemeinte Wille Gottes ist. Sondern es scheint um etwas viel Spezielleres zu gehen, nämlich um das Verhalten der Jünger und ihr Schicksal, das auf sie beim Ausrichten der Botschaft warten wird. So hätte eigentlich gerade die Kirche allen Grund, an der Aussendungsrede besonders interessiert zu sein. Dass sie dies in der Auslegungsgeschichte weithin nicht war, liegt wohl vor allem daran, dass vieles in der Aussendungsrede so sehr der 1 Gastvorlesung in Prag und Greifswald im Januar 1986. Der Charakter eines Vortrags eines evangelischen Theologen für evangelische Hörer / ​innen wurde bewusst nicht verändert. 2 Vgl. nur Hiltrud Stadtland-Neumann, Evangelische Radikalismen in der Sicht Calvins. Sein Verständnis der Bergpredigt und der Aussendungsrede (Mt 10), BGLRK 24, Neukirchen 1966, 42–49. 3 Wichtig sind: Francis W. Beare, The Mission of the Disciples and the Mission Charge: Mt 10 and Parallels, JBL 89 (1970) 1–13; H. J.  Bernard Combrink, Structural Analysis of Mt 9,35–11,1, Neotestamentica 11 (1977) 98–114; Schuyler Brown, The Mission to Israel in Matthew’s Central Section, ZNW 69 (1978) 73–90; David Dungan, The Sayings of Jesus in the Churches of Paul, Philadelphia 1971, 41–75; Christopher M. Tuckett, Paul and the Synoptic Mission Discourse, EThL 60 (1984) 376–381; Gottfried Schille, Frei zu neuen Aufgaben, Berlin 1986, 61–66.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

späteren und heutigen Wirklichkeit der Kirche widerspricht, dass die kirchlichen Ausleger immer wieder Mühe hatten, ihre eigene Kirche in der Aussendungsrede angesprochen zu finden.

I. Exegetische Beobachtungen: Die grundsätzliche Gültigkeit der Aussendungsrede Schon zu Beginn wird betont, dass Jesus die „zwölf Jünger“ ausgesandt habe (10,1.5 a). Damit wird sehr deutlich die ganze Aussendungsrede an die damalige, vergangene Situation zur Zeit des Lebens Jesu zurückgebunden, wo es die zwölf Jünger gab:4 Matthäus bringt dann als erstes jenes bekannte Logion aus einer Sondertradition, das den Jüngern verbietet, auf den Weg zu den Heiden oder in eine Stadt der Samaritaner zu gehen (10,5 f). Nur den verlorenen Schafen des Hauses Israel soll ihre Sendung gelten. Auch hier geht es wiederum deutlich um die vergangene Situation zur Zeit des Lebens Jesu, die durch den Missionsbefehl von Mt 28,16–20 überholt ist. Zu ähnlichen Überlegungen könnten auch Mt 10,17–22 führen: Hier hat Matthäus einen Abschnitt aus der synoptischen Apokalypse vorgezogen, nämlich Mk 13,9–13, den er später, in Kap. 24, in allgemeinerer Form nochmals bringen wird. Warum diese Verdoppelung? Geht es darum, dass Matthäus die vergangene Zeit der Mission der Jünger zu Israel vom späteren Geschick der Kirche in der Heidenmission unterscheiden will? Vom ersteren spräche dann Mt 10, vom letzteren Mt 24. Die Gültigkeit der Aussendungsrede würde also auf die Anfangszeit des Christentums beschränkt. Ein solcher Verstehensansatz hat der Kirche immer wieder geholfen, mit der Tatsache, dass in dieser Rede so vieles steht, was ihrer eigenen Situation fremd ist, fertig zu werden. Hier ist eben nur, so wird dann gesagt, von der Aussendung der Apostel zu Lebzeiten Jesu die Rede.5 So konnte man nicht nur mit der Beschränkung der Aussendung auf Israel (Mt 10,5 f) fertig werden,6 sondern auch damit, dass im Aussendungsbefehl Jesu der Befehl, Wunder zu tun und Kranke zu heilen, den grössten Raum einnimmt 4 Vgl.

Ulrich Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971), bes. 142–152. Interpretation ist alt. Schon Tertullian, Fuga 6,1 = CChr SL 2, 1142 beschränkt den Text auf die Apostel. Hieronymus, Commentariorum in Matthaeum libri IV, CChrSL 77, 1959, 65 unterscheidet die Zeit vor und nach der Auferstehung. Heute findet sie zahlreiche Vertreter, z. B. Georg Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchungen zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 1962, 196; Günther Bornkamm, Der Auferstandene und der Irdische, in: Erich Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 181 f; Anton Vögtle, Das christologische und ekklesiologische Anliegen von Mt 28,18–20, in: ders., Das Evangelium und die Evangelien, KBANT, Düsseldorf 1971, 266. 6 Diese Auslegung liess sich leicht mit einer heilsgeschichtlichen Substitutionsthese verbinden, nach der die Sendung der Jünger zu den Heiden an die Stelle der Sendung der Apostel zu Israel getreten ist, vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Zürich / ​Braunschweig 1990, 92 f. Altkirchliche Vertreter dieser Auslegung ebd. Anm. 35. 5 Die

15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie

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(10,8), während in der späteren Kirche Wunder sehr stark zurücktraten oder gar verschwunden waren. Wunder waren eben nur in der Anfangszeit nötig, nicht mehr hingegen, nachdem der Glaube einmal anerkannt ist.7 Die Apostel brauchten in besonderer Weise die Wunder, weil sie ungebildete Menschen waren und die Gabe der Rede nicht hatten;8 Spätere sind nicht mehr in gleicher Weise darauf angewiesen. Die gute Ausbildung der Theologen hätte also die Krankenheilungen ein Stück weit überflüssig gemacht! Ähnlich konnte man mit der Tatsache fertig werden, dass die Apostel arm, schutzlos und ohne Vorräte durchs Land ziehen mussten. Besonders in der Reformationszeit war der urchristliche Wanderradikalismus etwas sehr Verdächtiges; man musste sich gegenüber den Täufern abgrenzen. Vor allem Calvin betont, dass es hier nicht um ein zeitloses Gesetz gehe, dem alle Verkündiger des Wortes unterworfen sind.9 Die Ausrüstungsregel von Mt 10,9 ist für ihn vielmehr eine ganz besondere Anweisung Jesu, die er deshalb gab, weil er den Auftrag der Jünger zur Verkündigung in Israel auf wenige Tage beschränkte und sie in ganz kurzer Zeit durch ganz Judäa ziehen mussten. So sei unnötiges Gepäck zu vermeiden. Auch das Ärgernis der völligen Besitzlosigkeit und Wehrlosigkeit der Boten Jesu wird so vermieden.10 Wäre das alles richtig, dann hätte die Aussendungsrede nur eine beschränkte oder gar keine Bedeutung für die Kirche, und die relativ geringe Aufmerksamkeit, die sie in der Auslegungsgeschichte gefunden hat, wäre durchaus gerechtfertigt. Gegen eine solche Auslegung sprechen aber drei Beobachtungen. Die erste Beobachtung ist die, dass es ja in Mt 10 neben ganz wenigen Worten Jesu, die sich nur auf die Situation der erstmaligen Aussendung der Jünger beziehen, sehr viele Worte gibt, die einen allgemeinen Charakter haben und für die ganze Kirche zu allen Zeiten gültig zu sein scheinen. Dazu gehören etwa die Worte Mt 10,24 f vom Knecht, der kein besseres Schicksal erwarten darf als sein Herr, oder die Worte Mt 10,38 f vom Kreuz-Tragen und vom Leben-Verlieren. Eine Reihe von Worten scheint erst Situationen der nachösterlichen Gemeinde ins Auge zu fassen, z. B. die Weissagungen von den Gerichtsverhandlungen und den Spaltungen Mt 10,17–22 oder von den Spaltungen in den Familien Mt 10,34–37. Bereits Mt 10,18 ist die Beschränkung der Sendung der Jünger auf Israel explizit durchbrochen und die Heidenmission wird angedeutet: „ihnen“, d. h. den Statthaltern und den Königen, „zum Zeugnis und den Heiden“. Die Ereignisse, die Mt 10,17–22 für die Israelmission ankündigt, sind grundsätzlich dieselben wie die,  7 Thomas v. Aquino, Super Evangelium S. Matthaei Lectura, Torino  / ​ Roma 51951, Nr. 818.  8 Hieronymus, Com. (o. Anm. 5) 65  9 Johannes Calvin, Auslegung der Evangelienharmonie I (hg. Hiltrud StadtlandNeumann / ​Gertrud Vogelbusch), Neukirchen 1966, 291. 295. 10 „Sie konnten zu Hause ja Taschen, Schuhwerk und weitere Röcke besitzen, aber damit sie um so wegtüchtiger seien, befiehlt er ihnen, jegliche Belastung daheim zu lassen“ (Calvin, ebd. 295 f).

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III. Studien zum Matthäusevangelium

die den Jüngern in der Heidenmission bevorstehen werden (Mt 24,9–14). Auch die Ausrüstungsregel Mt 10,9 f und die Anweisungen beim Betreten eines Hauses oder einer Stadt Mt 10,11–14 machen nicht den Eindruck, als ob Matthäus ihre Gültigkeit auf die einmalige Zeit Jesu hätte beschränken wollen. Besonders bei der Ausrüstungsregel können wir beobachten, dass sie in allen Evangelien, und so auch bei Matthäus, den veränderten Verhältnissen angepasst worden ist. Das tut man nur, wenn ein Text für die eigene Zeit gilt. Die Aussendungsrede scheint also eine merkwürdige Sorglosigkeit zu kennzeichnen hinsichtlich der Zeit, für die sie gilt. Die Zeitebenen werden nie klar unterschieden. Wo Ansätze dazu bestehen, etwa in der Weissagung der Verfolgungen in der Israelmission 10,17–22, wird die Beschränkung sofort wieder durchbrochen. Nirgends gibt es eine Andeutung, dass die Gebote der Aussendungsrede befristet sind (auch 10,5 f übrigens nicht!).11 Das spricht gegen die These, dass Matthäus diese Rede nicht auf seine eigene Zeit hätte beziehen wollen. Die Aussendungsrede wäre zudem die einzige matthäische Rede, für die das gelten würde. Damit kommen wir zur zweiten Beobachtung: Aus dem Markusevangelium war Matthäus ein Aussendungsbericht vorgegeben. Die Jünger wurden bei Markus wirklich ausgesandt und kehrten 6,30 auch wieder zurück. In ähnlicher Weise hat Lukas seine Aussendung als Bericht über die 70 Jünger gestaltet. Ob sein Bericht über die Rückkehr der 70, Lk 10,17–20, schon in Q stand, ist allerdings unsicher, ebenso unsicher wie die Zugehörigkeit von Lk 10,1 zu Q. Man kann nur sagen, dass die Stellung dieses Abschnittes zwischen zwei Q-Stücken und sein altertümlicher Charakter dies nicht unmöglich machen.12 Wie dem auch sei: Wichtig ist, dass Matthäus seine Aussendung gerade nicht als Bericht über ein einmaliges vergangenes Ereignis gestaltet. Überspitzt gesagt: Jesus hält nur eine Rede, aber er sendet seine Jünger gar nie aus. Nach dem Schluss seiner Rede, die weit über die blosse Aussendung hinaus vom Schicksal der Jünger in der Verkündigung handelt, geht Jesus gleichsam zur Tagesordnung über und fährt mit seinem Wirken in Israel weiter: „Es geschah, als Jesus seine zwölf Jünger fertig unterwiesen hatte, da ging er (!) von dort weg, um zu lehren und in ihren Städten zu verkünden“ (11,1). Die Aussendungsrede ist also wie alle anderen grossen Reden des Matthäusevangeliums gleichsam zum Fenster des Evangeliums hinausgesprochen und hat keine unmittelbaren Folgen im Bericht vom damaligen Geschehen. Das spricht dafür, dass sie sich an die Gegenwart wendet.

11 Die

Sendung der Jünger zu Israel entspricht Jesu eigener Sendung zu Israel, wie sie Kap. 8–9 erzählte und wie sie Mt in 15,24 nochmals red. betonen wird. Ein νῦν, mit dem Mt die Gültigkeit des Befehls hätte befristen können, fehlt. 12 Dafür spricht vor allem die Stellung von V 17–20 zwischen V 16 (Q) und V 21 f (Q). Da aber Reminiszenzen bei Mt fehlen und da besonders in V 17.21 auch lk. Red. vermutbar ist, bleibt die Vermutung sehr unsicher.

15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie

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Die dritte Beobachtung bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Aussendungsrede in das Ganze des Matthäusevangeliums hineinkomponiert worden ist. Es ist allgemein bekannt, dass sie an den Wunderzyklus von Mt 8–9 bewusst anknüpft. 10,1 erwähnt, dass Jesus den zwölf Jüngern Vollmacht über die bösen Geister und zur Heilung jeder Krankheit und jedes Gebrechens gab. Damit ist der die Bergpredigt und den Wunderzyklus Mt 8–9 rahmende Vers 4,23 = 9,35 fast wörtlich aufgenommen. 10,8 formuliert als Auftrag an die Jünger: „Heilt Kranke“ und gibt dafür Einzelbeispiele : „Erweckt Tote, reinigt Aussätzige, treibt Dämonen aus!“ Damit werden drei wichtige Wundergeschichten aus Kap. 8–9 aufgenommen. Jesus gibt also den Jüngern seine eigene Vollmacht weiter und heisst sie, das zu tun, was er selbst in seinem Volk getan hat. Dasselbe gilt aber auch für Jesu Verkündigung. 4,17 hatte sie zusammengefasst: „Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe.“ So wiederholt es 10,7. Schliesslich sind die Beziehungen zwischen Bergpredigt und Aussendungsrede sehr eng. Nicht wenige Themen der Bergpredigt sind in der Aussendungsrede aufgenommen und werden für die Jünger konkretisiert: Von der Verfolgung der Jünger hatte schon 5,10–12 gesprochen; die Aussendungsrede handelt von 10,16 an ausführlich davon. Die Wehrlosigkeit der Jünger, von der etwa die fünfte Antithese gesprochen hatte, wird in der Ausrüstungsregel durch den Verzicht auf den Stock (10,10), durch das Wort von den Schafen (10,16) und vor allem durch das Wort vom Kreuz-Tragen und vom Leben-Verlieren (10,38 f) konkretisiert. Von der Armut der Jünger hatten 6,19–34 gesprochen; die Ausrüstungsregel und die darauf folgenden Gebote nehmen das auf (10,9–14). Die Ermutigung, nicht zu sorgen (Mt 6,25), wird auf die Gerichtssituation hin zugespitzt (10,19), und der Zuspruch von Gottes Fürsorge gegenüber den Menschen, die viel mehr wert sind als Vögel und Lilien, wird in 10,28–30 variiert. Matthäus nimmt also in der Aussendungsrede auf die Bergpredigt bewusst Bezug. Die Jünger sollen und werden in ihrer Verkündigung den Geboten der Bergpredigt entsprechen. M. E. gibt es nur zwei Logien, deren Gültigkeit auf eine vergangene Zeit beschränkt ist, nämlich V 5 f und in Verbindung damit V 23. Diese Worte Jesu sind durch den Missionsbefehl (28,16–20) explizit aufgehoben bzw. korrigiert worden. Nicht das Kommen des Menschensohns, sondern sein Befehl, zu den Heiden zu gehen, hat die Flucht durch die Städte Israels beendet. M. E. sind diese beiden Worte aus dem ganzen Ablauf der matthäischen Geschichte verstehbar. Das Matthäusevangelium ist eine Jesusgeschichte mit Tiefendimension, gleichsam mit einem doppelten Boden. Matthäus erzählt die Jesusgeschichte so, dass die heilsgeschichtlichen Erfahrungen, die seine Gemeinde in ihrer eigenen Geschichte gemacht hat, darin transparent werden. Im Prolog hatte er vorwegnehmend die Geschichte des Kindleins erzählt, das in der Davidstadt Betlehem geboren wird, von Herodes und ganz Jerusalem, seinen Schriftgelehrten und seinem König abgelehnt und verfolgt wird, ins Heidenland Ägypten flieht und schliesslich im „Galiläa der Heiden“ (4,14–16), in der Stadt Nazaret, wohnen

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III. Studien zum Matthäusevangelium

wird, von der die syrischen Christen, für die Matthäus schreibt, ihren eigenen Namen „Nazoräer“ haben (2,23).13 In gleicher Weise wird Matthäus dann die ganze Jesusgeschichte als transparente Geschichte entfalten: Er schildert zunächst das Wirken des Davidssohns in seinem Volk, dem heiligen Volk Israels, seine Verkündigung und sein Heilen in Israels Städten. Bereits in Kap. 8–9 zeichnen sich erste Spaltungen ab: Die Jesusnachfolger gehen mit Jesus ins Schiff und ans andere Ufer des Sees (8,18ff).14 In Kap. 11–16 wird die Spaltung in Israel, die Jesu Wirken entstehen lässt, deutlicher: Nach vielen Auseinandersetzungen mit Israels Führern entsteht die wahre Familie Jesu derer, die Gottes Willen tun (12,46–50). Auch die Parabelrede deutet das Entstehen der Gemeinde an: Jesus zieht sich von den Volksmassen am See mit den Jüngern ins Haus zurück (13,36). Die folgenden Kapitel 13,54–16,20 sind durch mehrere „Rückzüge“ Jesu in den Jüngerkreis gekennzeichnet.15 Mitten in den Auseinandersetzungen in und um Israel entsteht der Jüngerkreis, die spätere Kirche. Von ihr, ihrer inneren Struktur und ihrem Leben ist dann im Gemeindeteil 16,21–20,34 die Rede. Kap. 21–25 schildern die abschliessenden Auseinandersetzungen in Israel und sagen das kommende Gericht Gottes über die Führer Israels und das Volk an. Von diesem „zweiten Boden“ des Matthäusevangeliums her wird die Funktion der beiden Verse 10,5 f. 23 verständlich: Es geht Matthäus eben in Kap. 10 darum, die Sendung Jesu zu Israel zu schildern. Genau so, wie der Messias Israels in seinen Städten verkündet und im heiligen Volk heilt (Kap. 5–9), genau so werden auch seine Jünger zu Israel gesandt. Der Moment, in dem aus Israel die Jüngergemeinschaft entsteht, ist noch nicht gekommen, schon gar nicht der Moment, in dem sie sich angesichts der Ablehnung, die ihre Botschaft in Israel findet, zu den Heiden wenden wird. Die beiden Logien sind also m. E. ein literarisches Mittel, die Aussendungsrede in die ganze Erzählung einzupassen, ebenso wie der Rückzug ins Haus in 13,36 und der Auszug aus dem Tempel mitten in der letzten Rede in 24,1–3. Matthäus macht durch seine Komposition deutlich: Die Jünger werden mit Jesu eigener Vollmacht ausgestattet und führen denselben Auftrag aus wie ihr Meister. Wollte man in diesem Auftrag etwas nur Vergangenes, zeitlich Befristetes sehen, müsste man den eigenen Auftrag Jesu ähnlich beurteilen. Die Jünger tragen Jesu eigene Verkündigung weiter. Das Verhalten, das Jesus ihnen gebietet, konkretisiert Bergpredigtgebote. Da es sich bei der Bergpredigt um die grundlegende Verkündigung Jesu handelt, die allen Völkern der Welt verkündet werden soll, ist wiederum unwahrscheinlich, dass die Aussendungsrede nur von 13 Vgl.

Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / ​I, Zürich / ​Einsiedeln / ​Neukirchen 1985, 132 f. 14 Vgl. Ulrich Luz, Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: Gerald Hawthorne (Hg.), Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E. Ellis), Grand Rapids / ​Tübingen 1987, 149–167 (in diesem Band Aufsatz Nr. 14). 15 Vgl. Luz, a. a. O. (Mt 1–7), 25.

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einem vergangenen, einmaligen Auftrag berichten will. Es geht vielmehr um grundsätzliche Anweisungen Jesu für seine Verkündiger. Wir ziehen ein Fazit: Die matthäische Aussendungsrede ist die erste ekklesiologische Aktualisierung dessen, was bisher im Matthäusevangelium stand. Von da her tun wir gut daran, sie als grundsätzliches Manifest des Matthäus für seine Sicht der Kirche zu verstehen. Es geht in ihr um weit mehr als um Anweisungen anlässlich einer besonderen Aussendung. Wir werden deshalb die Rede von jetzt an nicht mehr „Aussendungsrede“, sondern „Jüngerrede“ nennen. Von Aussendung ist allerdings am Anfang betont die Rede,16 aber die ganze Rede hat ein umfassenderes Thema. Man könnte sagen: Es geht darin um den Auftrag der Kirche und ihr Verständnis der Welt. „Jüngerrede“ nenne ich sie deshalb, weil „Jünger“ der grundlegendste ekklesiologische Ausdruck des Matthäusevangeliums ist. Die Jünger Jesu werden transparent für die matthäische Gemeinde, die sich selber als Jünger des irdischen Jesus, d. h. als in seiner Nachfolge stehend verstand.17 Wenn am Anfang unserer Rede von der Aussendung der zwölf Apostel die Rede ist, so macht das m. E. keinen Unterschied: Ἀπόστολος und μαθητής werden unterschiedslos gebraucht.18 Matthäus geht es bei der Aussendung der zwölf Apostel gerade nicht um einen Sonderauftrag an Εinzelne. Doch damit stehen wir schon bei der Interpretation der Rede selbst.

II. Grundlegende „notae“ der Kirche nach Mt 10 Ich muss zuerst begründen, warum ich hier von „notae“ der Kirche spreche. Der Begriff stammt bekanntlich aus der reformatorischen Ekklesiologie und meint das, woran man die sichtbare Kirche in der Zweideutigkeit der Welt erkennt.19 Es ist klar, dass er in dieser Weise nicht auf das Matthäusevangelium angewendet werden kann, das niemals von einer unsichtbaren Kirche sprechen könnte. Gemeint sind also einfach: „grundlegende Merkmale der Kirche“ im Matthäusevangelium. Ich spreche aber trotzdem von „notae“, um die Erinnerung an die reformatorische Tradition wachzurufen. Auf die Gegenüberstellung des Matthäusevangeliums und der reformatorischen Tradition kommt es mir an.

16 Vgl.

die Inklusion V 5 und V 16. Luz, Jünger (o. Anm. 4), 152–159. 18 Vgl. 9,37; 10,2. 24 f; 11,1 mit 10,2.5. 19 Nach Conf. Aug. VII ,ist „consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“ alles, was zur Einheit der Kirche nötig ist. Die Apologie der CA interpretiert dies als „externae notae“ (BSLK4 234 f). Calvin, Inst. IV 1,8.10 spricht von „symbola“, die die unsichtbare Kirche erkennbar machen. 17 Vgl.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

1. Für Matthäus ist Kirche missionierende, verkündigende Kirche Am Anfang der Jüngerrede steht die Sendung, die Bevollmächtigung der Jünger und der Auftrag zur Verkündigung und zum Heilen. Dies ist also das erste grundlegende Merkmal der Kirche: Sie hat einen Auftrag an der Welt. Nicht nur V 7 f macht dies deutlich, sondern zu Beginn des zweiten Teils der Rede nochmals V 26 f,20 wo Matthäus die alte Weissagung, dass alles im Gericht offenbar werden wird, in einen Auftrag an die Jünger, alles offenbar zu machen durch die Verkündigung, umformuliert hat. Ich möchte noch drei besonders wichtige Einzelzüge herausheben: a) Der Auftrag richtet sich dadurch, dass die zwölf Jünger für die Gemeinde transparent sind, an die gesamte Gemeinde und nicht nur an besondere Verkündiger. Zusammen mit fast dem gesamten NT ist das Matthäusevangelium der Meinung, dass die Verkündigung eine Aufgabe der gesamten Gemeinde und nicht eines besonderen Amtes in der Gemeinde sei. b) Gerade wenn man ernst nimmt, dass für Matthäus der Verkündigungs‑ und Missionsauftrag zum Jüngersein überhaupt gehört und nicht an ein besonderes Amt gebunden ist, fällt auf, wie wenig in der Jüngerrede über den Inhalt der Verkündigung zu finden ist. Die Jünger sollen verkündigen, dass das Himmelreich nahe ist (10,7). Das entspricht wörtlich der Verkündigung Jesu in 4,17 und auch derjenigen Johannes’ des Täufers in 3,2. Aber sonst enthält die ganze Rede nur Angaben über das Verhalten und das Geschick der Jünger. Sie ist eine Rede über die Lebensform und Leidensform der Jünger. Das ist auffällig und theologisch zu interpretieren. c) Das Dritte, was auffällt, ist das Gewicht, das im Aussendungsbefehl Jesu die Heilungen bekommen (10,8). In vierfacher Variation wird der Heilungsauftrag entfaltet. Er gehört für Matthäus konstitutiv und gleichwertig mit dem Verkündigungsauftrag zusammen. Das ist deswegen wichtig, weil Matthäus die Verkündigung Jesu durchwegs ethisch akzentuiert und in 28,19 als Verkündigung der Gebote Jesu versteht. Verkündigung ist aber für Matthäus nicht bloss ethischer Imperativ, sondern schliesst konkrete Heil(ung)serfahrung ein. Eben darum ist nicht nur der Auftrag, sondern die ἐξουσία der Jünger für ihn zentral (10,1), und deswegen werden die Wunder dem Verkündigungsauftrag gleichgewichtig an die Seite gestellt. Für die spätere Auslegungsgeschichte in einer Kirche, die kaum mehr Heilungserfahrungen kannte, wurde das zum Problem: Vom Versuch, die Wunder als ein besonderes Charakteristikum der Anfangszeit der Kirche zu sehen, haben wir bereits gesprochen. Verbreitet ist auch der Versuch, die Wunder zu spiritualisieren: Das grösste Wunder ist etwa

20 Κηρύσσω steht zu Beginn der Einleitung (9,35), des ersten (10,7) und des zweiten Hauptteils (10,27) der Rede.

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für Johannes Chrysostomus die Befreiung von der Sünde.21 Faber Stapulensis meinte, die Jünger sollten sich vor allem mit den geistlich Kranken und Toten beschäftigen.22 Am häufigsten und leichtesten wurde man in der Auslegungsgeschichte mit V 8 so fertig, dass man ihn einfach verschwieg. In der matthäischen Verkündigung ist also die eigentliche Verkündigung ethisch akzentuiert, d. h. verbindliche Forderung an die Gemeinde. Sie ist eingebettet in Heilserfahrung, die nicht zuletzt konkrete Heilungserfahrung ist. In unseren Kirchen heute ist die Verkündigung oft eine sehr allgemeine und nicht immer konkret erfahrbare verbale Heilszusage, z. B. die Vergebung der Sünden. Die Forderung gehört ebenso oft nicht konstitutiv zur Verkündigung und hat ebenso oft an Verbindlichkeit verloren. Konkrete Erfahrung von Heil(ung) und verbindliche Forderung (bei Matthäus) scheinen ebenso zusammen zu gehören wie „abstrakt“ gewordene Heilszusage und ethische Unverbindlichkeit (bei uns). 2. Für Matthäus besteht die Gemeinde aus potentiellen Wanderradikalen Gerd Theißen hat unsere Kenntnisse über die Geschichte des Urchristentums wesentlich erweitert, indem er den urchristlichen Wanderradikalismus wieder entdeckte.23 Georg Kretzschmar hat ihn kirchengeschichtlich in die Geschichte des syrischen Christentums eingeordnet.24 Eduard Schweizer hat die matthäische Gemeinde in relativ grosser Nähe zu den Wanderradikalen gesehen.25 Diese Vermutung scheint mir grundsätzlich richtig: Die matthäische Gemeinde lebt aus der Tradition des Wanderradikalismus der Logienquelle; sie ist vermutlich von Wanderpropheten, wie sie in der Logienquelle sichtbar werden, gegründet worden.26 Das Matthäusevangelium kennt nicht nur wandernde Propheten, sondern auch wandernde Schriftgelehrte, Lehrer, Gerechte und gewöhnliche Christen (10,40–42; 23,34). Auf der anderen Seite ist deutlich, dass es aus einer sesshaften Gemeinde stammt und für eine solche geschrieben worden ist. Dem entspricht die Situation in der Didache, wo wir auch eine sesshafte Gemeinde kennenlernen, die sich mit der Aufnahme von wandernden Propheten, Aposteln

21 Johannes

Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus 32,8 = BKV I/25, 1916, 230 = 470. 22 Faber Stapulensis, Commentarii initiatorii in quattuor Evangelia, Basel 1523, 44Bf. 23 Gerd Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973), 245–281; ders., Soziologie der Jesusbewegung, TEH 194, München 1977. 24 Georg Kretzschmar, Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung frühchristlicher Askese, ZThK 61 (1964), bes. 32–62. 25 Eduard Schweizer, Die Kirche des Matthäus, in: ders., Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974. 163–167. 26 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 13), 66 f.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

und Lehrern auseinanderzusetzen hatte (Did 11–13). Sie ist wesentlich vom Matthäusevangelium geprägt, das ihr εὐαγγέλιον war.27 Wie ist nun das Verhältnis der matthäischen Gemeinde zum urchristlichen Wanderradikalismus zu bestimmen? Die Frage ist historisch wie theologisch interessant. Zu Beginn der Jüngerrede schickt Jesus die zwölf Jünger auf Wanderschaft. Nimmt man den Gedanken der Transparenz des Jüngerbegriffs ernst, so müssten eigentlich alle matthäischen Gemeindeglieder Wanderradikale sein. Die ganze Rede zeigt ein merkwürdiges Schwanken: Etwa bis V 23 blitzt immer wieder durch, dass die angesprochenen Jünger unterwegs sind. Der zweite Teil der Rede, etwa von V 24 an, scheint gegenüber der Situation der Wanderschaft neutral zu sein. Die Worte, die hier stehen, können genauso gut zu wandernden wie zu sesshaften Christen gesprochen werden. Besonders wichtig ist der Schlussabschnitt 10,40–42: Er beginnt mit einer Verheissung an die Wandernden: Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat (V 40). Dann scheint die Perspektive zu wechseln: In V 41 f sind nicht mehr die, die wandern, angesprochen, sondern die, die zu Hause sind und Wandernde aufnehmen. Es geht um die Aufnahme von Propheten, Gerechten28 und der „Kleinen“. Offenbar waren auch ganz gewöhnliche Gemeindeglieder, eben die „Kleinen“ unterwegs. Angesprochen sind in V 41 f also die sesshaften Gemeindeglieder, ohne dass der Wechsel der Perspektive irgendwie kenntlich gemacht wäre. In Kap. 18 wiederum sind die „Kleinen“ eine Gemeindebezeichnung, ohne dass eine Beziehung zum Wanderradikalismus sichtbar würde. Wie ist das zu verstehen? M. E. ist überhaupt nur eine Lösung möglich: Theißens schematische Unterscheidung zwischen Wanderradikalen und sesshaften Christen muss aufgegeben werden. Es gab m. E. im Urchristentum nicht zwei Gruppen von Menschen, die sich hinsichtlich Lebensform und Ethos grundsätzlich voneinander unterschieden, nämlich die Wanderradikalen und die Sesshaften, sondern das Ineinander beider war fliessend. Gemeindeglieder brachen zur Missionsverkündigung auf und kehrten wieder in die Gemeinden zurück. Nur dieses Modell entspricht den historischen Einzelnachrichten, die wir haben.29 Nur so wird auch verstehbar, warum „Nachfolge“ im Urchristentum nicht zur Bezeichnung der Lebensform einer christlichen Sondergruppe, sondern, bei Markus als Leidensnachfolge akzentuiert, zur Bezeichnung der Lebensform der Christen überhaupt geworden ist. Nur dann wird verständlich, warum das Urchristentum grundsätzlich nicht 27 Vgl. Wolf-Dietrich Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT II/24, Tübingen 1987, 55 f. 28 Vielleicht eine besondere Gruppe christlicher Asketen; dafür spricht der besondere „Gerechtenlohn“. David Hill, The Gospel of Matthew, NCeB, London 1972, 196 denkt an die Lehrer. 29 Vgl. z. B. Apg 13,2 f oder die Nachrichten über Philippus, Petrus, Barnabas, Aquila und Priscilla etc., die verschiedene Formen von vorübergehender Sesshaftigkeit bezeugen.

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zwischen Geboten, die nur den Wanderradikalen gelten, und allgemeinen Geboten im Sinne einer Zweistufenethik unterscheidet. Bei Matthäus ist das alles in den Gedanken des Weges zur Vollkommenheit gefasst. Auf diesem Weg sollen alle gehen, und jeder soll das und soviel tun, wie er kann (vgl. Did 6,2). Mt 19,21 macht deutlich, dass zur Vollkommenheit die wörtlich verstandene Jesusnachfolge gehört, verbunden mit Besitzverzicht. Mt 19,23ff aber stellt klar, dass diese Forderung grundsätzlich allen Jüngern gilt. Mt 6,25–33, der Text vom Sorgen, ist sicher ein Text, der ursprünglich zu den Wanderradikalen gesprochen war, die wie die Vögel nicht säen und ernten, d. h. keine Berufsarbeit der Männer treiben, und die wie die Lilien nicht spinnen und weben, d. h. keine Berufsarbeit der Frauen treiben. Für Matthäus gilt aber dieser Text, in seinem Zuspruch und in seinem Anspruch, allen Hörern der Bergpredigt.30 Er sagt nirgends, dass alle Jünger Wanderradikale werden müssen, aber er macht deutlich, dass die Wanderschaft im Dienste der Verkündigung eine Existenzform von Jüngerschaft ist, zu der grundsätzlich jeder (und jede!) gerufen ist. Dasselbe gilt für Mt 10: Wenn diese Rede wirklich eine Rede über die Jüngerschaft und nicht über eine Spezialform von Jüngerschaft ist, so gilt: Hier wird die ganze Gemeinde als potentielle Wanderradikale angesprochen. Wer im Sinne von Did 6,2 nicht das ganze Joch des Herrn tragen kann, soll tun, was er kann, d. h. z. B. in seinem Hause die Wandernden aufnehmen und an seinem Ort für den Menschensohn Zeugnis ablegen. 3. Für Matthäus ist Armut um des Gottesreichs willen ein konstitutives Merkmal der Jüngerschaft Wir setzen ein mit der Auslegung der Ausrüstungsregel von Mt 10,8 b–10: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt! Verschafft euch nicht Gold, Silber oder Kleingeld in eure Gürtel, keinen Sack auf den Weg, nicht zwei Unterkleider, keine Schuhe und keinen Stock, denn der Arbeiter ist sein Essen wert.“ Matthäus hat in diesem Text vermutlich das ihm vorgegebene μισθός durch τροφή ersetzt (V 10 b). Den Spruch 8 b hat er vorangestellt und damit klar gemacht, worum es ihm geht: Um das Verbot, aus der Missionsverkündigung, insbesondere aus den Heilungen einen Broterwerb zu machen. Profane und christliche Zeugnisse über religiöse Bettelei31 zeigen, wie gross dieses Problem war. V 10 b heisst also: Die christlichen Arbeiter sollen von den Gemeinden nur das Essen bekommen. In diesen Zusammenhang hinein gehört wohl das bei Matthäus neue Wort κτάομαι = erwerben, sich verschaffen (statt αἴρω). V 9 a heisst also: „Erwerbt euch weder Gold noch Silber, noch Kleingeld“, d. h. lasst euch nicht bezahlen! Die Fortsetzung ist dann allerdings merkwürdig: Wieso sollte man sich einen Proviantsack, 30 Vgl.

Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 13), 371. 2 Kor 11,6–13; 12,13.17; Did 11,5 f; Herrn. m 11,12; Lucianus, Per Mort. 11–16: profane Belege bei Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 6), 97 Anm. 58. 31 Vgl.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

einen zweiten Chiton oder einen Stock „erwerben“? Hier ist deutlich, dass Matthäus nach wie vor an die Ausrüstung der Missionare denkt und daran, was sie nicht mitnehmen oder sich unterwegs verschaffen sollen. Das sehr allgemeine Verbum κτάομαι schillert in seiner Bedeutung. Matthäus ist also zweierlei wichtig: einmal, dass man aus der Missionsverkündigung keinen Geldverdienst machen soll – das ist sein eigener neuer Akzent –, sodann, dass man das Gottesreich nicht verkündigen kann in guten Schuhen, mit voller Provianttasche oder mit einem Stock bewaffnet gegen wilde Tiere oder Überfälle. Hier nimmt Matthäus den alten Sinn, den die Ausrüstungsregel in Q hatte, auf: Wehrlosigkeit und Armut gehören für ihn zur Verkündigung des Evangeliums. Wie ist das ins Ganze des matthäischen Gemeindeverständnisses einzuordnen? Geht es Matthäus einfach um eine Missionstechnik, so dass zur Verkündigung des Evangeliums Armut und Wehrlosigkeit und Erwerbsverzicht gehören, wobei es grundsätzlich egal ist, was die Wanderprediger zu Hause an Besitz zurücklassen? Nicht erst Calvin hat sehr entschieden so gedeutet,32 sondern bereits die pseudoclementischen Briefe ad Virgines rechnen damit, dass die wandernden Asketen zu Hause Besitz haben.33 Gegen eine solche Trennung von Besitz zu Hause und Armut unterwegs sprechen aber zwei andere Textkomplexe im Matthäusevangelium: Unmittelbar nach dem zentralen Gebetsteil der Bergpredigt folgt der Abschnitt über Besitzverzicht und Freigebigkeit (6,19–34). Diesen Abschnitt hat Matthäus ganz neu komponiert. In seinem Zentrum steht das Wort vom Mammonsdienst (6,24), vorher zwei Warnungen vor dem Schätze-Sammeln und vor dem Geiz (6,19–23), hinterher der berühmte Text über die Fürsorge des Vaters für seine Wanderradikalen (6,25–34). Für die ganze Gemeinde gilt die Aufforderung, keine irdischen Schätze zu sammeln. Der andere für dieses Thema wichtige Textabschnitt ist Mt 19,16–30. Das Gebot an den jungen Mann, den Besitz wegzugeben, steht in direkter Verbindung mit dem Stichwort „vollkommen“ und unmittelbar hinter dem von Matthäus ergänzten Gebot der Nächstenliebe. Die Meinung des Matthäus ist kaum gewesen, dass die Nächstenliebe durch den Besitzverzicht ergänzt werden müsste, weil erst so die Vollkommenheit erreicht wird. Da in Mt 5,43–48 die Vollkommenheit mit der Liebe verbunden wird und da 22,34–40 das Gebot der Nächstenliebe das höchste Gebot ist, wird man vielmehr die Aufforderung zum Besitzverzicht zugunsten der Armen als Konkretion des Nächstenliebegebotes verstehen müssen. Dafür spricht, dass durch das Stichwort „Schatz im Himmel“ eine direkte Anspielung auf 6,19–21 geschaffen wird und dass in 19,23ff das Gebot des Besitzverzichtes wiederum deutlich auf alle Jünger bezogen wird. Es geht also nicht um ein Sonderangebot für einige, sondern um eine Aufforderung an alle. In 19,29 wird sie mit dem Bruch mit der Familie zusammengestellt. Es scheint mir also deutlich, 32 Vgl.

o. Anm. 10. Ep. ad Virg. 2,2,1 spricht von den eigenen Häusern der ,,Jungfräulichen“.

33 PsClem

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dass für Matthäus Besitzverzicht ein wesentliches Kennzeichen aller Jünger war. Seine Tendenz in Kap. 10 geht also nicht dahin, den Jüngern zu Hause alles zu konzedieren und nur die Missionsverkündigung unterwegs unter das Vorzeichen der Armut zu stellen. Sondern das Leben zu Hause soll dem Leben unterwegs so weit wie möglich entsprechen. Beides steht unter dem Armutsgebot Jesu. Ein gesetzliches Armuts‑ oder Verzichtsminimum hat Matthäus nicht vorgeschrieben, aber unter dem Stichwort „bessere Gerechtigkeit“ eine sehr klare Marschrichtung auch zum Besitzverzicht auf dem Weg zur Vollkommenheit angegeben. Dass in der Auslegungsgeschichte gerade dieses Kennzeichen der Kirche Mühe bereitete, ist verständlich. Wörtlich ernst genommen wurde Mt 10,9 f dann, wenn es mit Hilfe dieses Textes möglich war, kirchliche Gegner, die im Luxus lebten, anzuprangern.34 Wörtlich ernst genommen wurde er natürlich bei Franziskus von Assisi, für den er der entscheidende Text seines Lebens wurde,35 und bei den Waldensern als besondere Regel für die via apostolica.36 Im Übrigen dominierten die Abschwächungsversuche: Der Sinn des Textes liess sich moralisieren – dann wurde er zu einer Warnung vor Stolz und Geiz.37 Er liess sich allegorisieren – dann ging es um das Ablegen der Sorge oder um das Anziehen des einzigen Chiton – Christus.38 Man konnte ihm mit Hinweis auf die Unterschiede in den verschiedenen Fassungen in den Evangelien die Spitze nehmen.39 In der Reformationszeit wird wenigstens noch betont, dass ein Prediger zwar frei von weltlichen Sorgen leben können müsse, aber nicht mehr als Lebensunterhalt und Kleidung vom Evangelium beziehen dürfe.40 Für die heutige Situation in unseren westlichen Kirchen war mir aufschlussreich, dass es mir nicht geglückt ist, in der durch die „Schwemme“ arbeitsloser Theologen41 34  Z. B. Euseb Hist Eccl 5,I8,7 (gegen Montanisten); Heinrich Bullinger, In Sacrosanctum … Evangelium secundum Matthaeum Commentariorum Libri XII, Zürich 1546, 99B (gegen päpstliche Delegaten). 35 Werner Goez, Art. Franciscus von Assisi, in: TRE XI, 300; vgl. die Regula non bullata Nr: 8.I4 bei Hans Urs v. Balthasar, Die grossen Ordensregeln, Einsiedeln 1974, 295 f. 300. 36 Kurt-Victor Selge, Die ersten Waldenser, AKG 37, Berlin 1967, 49 f. 116 f. 37   Vgl. z. B. Martin Luther, Annotationes in aliquot capita Matthaei, WA 38, 19I2, 496, ähnlich Huldrych Zwingli, Annotationes in Evangelium Matthaei, in: ders., Opera VI/1, (hg. v. Melchior Schuler / ​Jo. Schulthess, Zürich 1836, 265 empfiehlt die Mässigkeit als Mittellösung gegenüber päpstlichen Reichtümern und dem noch gefährlicheren täuferischen Lohnverzicht. 38 Augustin, De Consensu Evangelistarum libri IV, CSEL 43, Wien / ​ Leipzig 1904, 2,30 (75): Barfuss gehen = ohne Sorge; Hilarius, In Evangelium Matthaei Commentarius, SC 254, Paris 1978, 10,5 = 220 f: kein zweiter Chiton = nur Christus anziehen. 39 Bereits Cornelius a Lapide, Argumentum in S. Matthaeum, Antwerpen 1670, 224 unterscheidet von den verschiedenen „litterae“ die „substantia“ des Textes, nämlich die Bewahrung des Sinns vor Geiz. 40 Vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 6), 100 Anm. 82 f. 41 Seit etwa 1975 stiegen die Zahlen der Theologiestudierenden im damaligen Westdeutschland rasant; es gab lange Wartelisten für die Übernahme in den Kirchendienst und Hunderte von arbeitslosen Theologinnen und Theologen, die nie eine Chance hatten, ein Pfarramt – ihr Berufswunsch und Lebensziel – zu übernehmen.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

wieder neu entstandenen Diskussion über Pfarrergehälter eine Spur von Mt 10 oder Lukas 10 zu entdecken. Die von Matthäus angegebene Marschrichtung wird kaum ernst genommen. Es gilt offenbar die Erfahrung, die Kierkegaard machte: Nachdem er aufgrund unseres Textes zum Schluss gekommen war, dass die Entlöhnung staatsbeamteter Geistlicher „stracks gegen Christi Anordnung“ sei und dass es buchstäblich keinen einzigen ehrlichen Christen gebe, trug er diese Meinung einmal dem Bischof Mynster vor. „Darauf antwortete Bischof Mynster zu meinem Erstaunen: ,Da ist etwas daran‘. Die Antwort“ – die Kierkegaard unter vier Augen erhielt – „hatte ich eigentlich nicht erwartet, denn freilich war es unter vier Augen, aber Bischof Mynster pflegte sonst in diesem Punkt die Vorsichtigkeit selbst zu sein.“42 Für Matthäus geht es bei der Armut der Jünger um eine entscheidende „nota“ der Kirche. Es geht um nichts weniger als um die Übernahme der Armut Jesu. 4. Für Matthäus ist das Leiden konstitutives Merkmal der Jüngerschaft In V 17ff nimmt Matthäus auf Erfahrungen der Gemeinde in der Mission an Israel Bezug. Von Prozessen, Auspeitschungen, Hinrichtungen ist die Rede. Auch der schwierige Vers 10,23 wird vermutlich vor allem deswegen vom Evangelisten aufgenommen, weil er von der Erfahrung der Verfolgung von Stadt zu Stadt spricht. 10,28 f und vor allem das Wort vom Kreuz-Tragen und vom Leben-Verlieren in 10,38 f sprechen wiederum vom Leiden der Jünger: Mit V 39 wird auf jeden Fall das Martyrium ins Auge gefasst und demjenigen, der sein Leben um Jesu willen verliert, ewiges Leben verheissen.43 Uns geht es hier um den konstitutiven Charakter des Leidens für die Jüngerschaft. Worin besteht er? Schon V 16 formuliert betont: Ἐγὼ ἀποστέλλω ὑμᾶς. Jesu Auftrag löst die Leiden aus. 10,17–21 ist παραδίδωμι matthäisches Leitwort. Dieses Wort war in der Tradition christologisch besetzt; die Leser des Matthäus konnten den ganzen Abschnitt 10,17–21 kaum lesen, ohne auf Schritt und Tritt an den erinnert zu werden, der auch und zuerst überliefert worden war, vor dem Synhedrium und dem Statthalter stand, ausgepeitscht und dann schliesslich getötet wurde. Das Leiden der verkündigenden Jünger entspricht dem Leiden Jesu. Darum haben die Erfahrungen der Jünger in der Israelmission paradigmatischen Charakter und werden sich in der Heidenmission wiederholen:44 „Und ihr werdet gehasst werden von allen“, sagt Matthäus zweimal (10,22; 24,9). Luther übersetzte mit gutem Gespür: „Und müsset gehasset werden“. Derselbe Gedanke steht hinter Mt 10,38: Das Kreuz, das jeder Nachfolger auf sich nehmen muss, ist dasselbe Kreuz, das Jesus auf sich genommen hat. Vermutlich geht es bei Matthäus nicht 42 Søren Kierkegaard, Der Augenblick 7,8 = Ges. Werke 34. Abt., Düsseldorf 1959, 253–255. 43 Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium I, HThK I/1, Freiburg i. Br. 1986, 397. 44 Vgl. 24,9–14.

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mehr, wie wohl im ursprünglichen Jesuswort, um das Betreten des Weges, den der Verurteilte gehen muss, an dessen Ende dann die Hinrichtung am Kreuz, das er getragen hat, steht.45 Markus hatte das Wort bereits offener, im Sinne der Selbstverleugnung und der Leidensnachfolge verstanden (8,34). Auch Matthäus hat wahrscheinlich die verschiedensten Leidenserfahrungen seiner Gemeinde unter dem Stichwort „Kreuz“ gebündelt.46 Vor allem aber hat er christologisch über die Notwendigkeit des Leidens der Jünger reflektiert: Weil die Jünger Jesu Vollmacht, seine Verkündigung, seinen Auftrag und seine Existenzform übernahmen, stellte sich auch sein Leiden bei ihnen ein. Das Evangelium der Himmelsherrschaft führt nach den Erfahrungen des Matthäus offenbar eo ipso ins Leiden. Erst dort, wo diese Erfahrung sich nicht mehr einstellte, hat die Auslegungsgeschichte den Sinn unseres Wortes verfehlt. Kreuztragen konnte dann zur religiösen Technik werden und zur asketischen Übung, z. B. zum Eheverzicht oder zur Übung des täglichen Sichselbst-Absterbens.47 Oder es wurde zur Chiffre für Entweltlichung, für Geringschätzung des Fleischlichen48 und für Abtun gottfremder Sorgen49. Für Matthäus dagegen ist das Leiden eine unvermeidbare Konsequenz der Übernahme des Auftrags Jesu und insofern eine konstitutive „nota“ der Jüngerschaft. Damit sind nur einige, aber nicht alle der in Mt 10 wichtigen „notae ecclesiae“ genannt. Insbesondere von der Wehrlosigkeit und von der Erfahrung des Bruches mit der eigenen Familie müsste noch gesprochen werden. Wir brechen aber hier ab und formulieren noch eine letzte Überlegung. Warum sind alle diese „notae“ für das matthäische Verständnis von Kirche konstitutiv? Warum sind insbesondere die Leidenserfahrungen, von denen man ja denken könnte, dass sie sich eben in manchen Situationen als Folge der Verkündigung einstellen und in manchen nicht, für Matthäus grundlegend für die Kirche? Warum führten Wanderschaft, Armut, Wehrlosigkeit, Verkündigung der nahen Himmelsherrschaft notwendig zum Bruch mit der Welt und ins Leiden? An diesem Punkt reflektiert Matthäus christologisch, und erst diese christologische Dimension macht alles bisher Gesagte zu notwendigen Kennzeichen der Kirche.

45 So deutet zu Recht Anton Fridrichsen, Ordet om a baere sit kors, in: Gamle Spor og Nye Veier. Tydninger og Tegninger (FS L. Brun), Kristiania 1922, 17–34. 46 Ähnlich Gnilka, a. a. O. (Mt I), 397. 47 Hieronymus, Ep. 22,21 = BKV II/16, 86; Thomas a Kempis, Vier Bücher von der Nachfolge Jesu Christi, Stuttgart 1839, 2,12,3 f. 48 Clemens Al., Strom. 7,59,5–7 = BKV II/20, 83 . 49 So bei Tauler nach Reinhard Mokrosch / ​Herbert Walz (Hg.), Mittelalter, KThQ 2, Neukirchen-Vluyn 1980, 184. Bei der ganzen individualistisch und auf die Askese ausgerichteten kirchlichen Auslegungstradition ist die Fassung von Mk 8,34 (ἀπαρνησάσθω ἑαυτόν) entscheidend.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

5. Jüngerschaft als christusgestaltiges Leben Deutlich sind wir darauf aufmerksam geworden, dass die Geschichte des Gottessohnes Jesus selbst der Schlüssel für das Verständnis der Jüngerrede ist. Jesu Verkündigung und Vollmacht hatten die Jünger übernommen. Armut als Lebensform entspricht der Lebensweise des Menschensohns, von dem Matthäus kurz vor unserem Kapitel sagte, er habe keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könne (8,20). Wehrlosigkeit und Wanderschaft waren Kennzeichen der Existenz Jesu. Das Leiden der Jünger ist eine Spiegelung des Leidens und Sterbens Jesu. Das alles bündelt Matthäus in jenen Versen, die er in seiner Komposition ins Zentrum seiner Jüngerrede gestellt hat, nämlich in 10,24 f: Hier wird explizit gesagt, dass das Geschick des Jüngers demjenigen des Meisters entspricht und dass der Knecht nichts anderes erwarten kann als sein Herr. Die Jüngerrede entpuppt sich von dieser Mitte her als eine Rede über die Lebensform des Jüngers, die der Lebensform des Meisters entspricht. Das entspricht 1. der matthäischen Christologie: Matthäus erzählt die Geschichte Jesu als Geschichte des gehorsamen Gottessohnes, der alle Gerechtigkeit, Gesetz und Propheten erfüllt (3,15; 5,17). Dieser Gottessohn erfährt Anfeindung und Leiden, weil er den Weg der Gerechtigkeit konsequent geht. Für seine Jünger ist er nicht so sehr Vorbild als grundlegendes Lebensmodell; seine Vollmacht, sein Auftrag und sein Leiden prägen sie. Die matthäische Jüngerrede überträgt in diesem Sinn das Modell des Gottessohns Jesus auf die Jünger. Darum ist sie der zentrale Text matthäischer Ekklesiologie, weil sie zeigt, wie die Jesusgeschichte in der Praxis von Jesu Verkündigungsauftrag Wirklichkeit wird. Die matthäische erzählende Christologie erlaubt den Entwurf einer derart konkreten Sicht der Kirche, wie sie uns Mt 10 darbietet. Das entspricht 2. dem matthäischen Verständnis von Verkündigung: Das Licht, das die Jünger sind, besteht in ihren Werken, die sie leuchten lassen und um derentwillen die Menschen den Vater im Himmel preisen werden (5,14–16). Verkündigung des εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας ist abgesehen von gelebter und erlittener christlicher Praxis gar nicht denkbar. Darum spricht Matthäus in diesem Kapitel so wenig davon, was die Jünger in der Verkündigung sagen, und so viel davon, was sie tun und was sie in ihrem Leiden sein sollen. Das Leben spricht in der Verkündigung die deutlichste Sprache. Das wiederum entspricht 3. dem matthäischen Verständnis des Christseins überhaupt: Es kommt Matthäus allein auf die Früchte (Mt 7,15–20), auf das Tun des Gesetzes der Liebe (Mt 7,21–23) und des Willens des Vaters (Mt 12,49 f) an. Darüber allein wird der Menschensohn richten. Wir ziehen ein Fazit: Was ist das Kennzeichen der Kirche Christi nach Mt 10? Man muss sagen: Gelebte und gelittene Christusfrömmigkeit. Es gibt für Matthäus keine Verkündigung und keine Kirche ohne dies. Umgekehrt: Gerade weil es dabei um Erkennungszeichen Christi in der Kirche geht, sind „notae“ wie Wanderschaft, Armut, Wehrlosigkeit und vor allem das Leiden so fundamental

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wichtig. Darum wird eine Rede, die von der Sendung der Jünger handeln will, notwendigerweise zu einer solchen, die von ihrer Existenz, ihrem Gehorsam und ihrem Leiden handelt.

III. Die ekklesiologische Bedeutung der matthäischen Jüngerrede Ich habe bewusst von den matthäischen „notae ecclesiae“ gesprochen und dabei einen Begriff der reformatorischen dogmatischen Tradition benutzt, um auf die Diskrepanz zwischen dem matthäischen Ansatz und unserer eigenen reformatorischen Tradition hinzuweisen. Im Anschluss an Confessio Augustana 7 pflegen wir das Evangelium und die Sakramente als die einzigen „notae ecclesiae“ zu bezeichnen, die für die sichtbare Kirche konstitutiv sind. In ähnlicher Weise äusserte sich Calvin: Dass Gottes Wort lauter gepredigt und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, sind die beiden „symbola“ der sichtbaren Kirche (Inst. IV 1,10). In dieser reformatorischen These verbinden sich verschiedene Anliegen. Etwas grundlegend Wichtiges wird von der Rechtfertigungslehre her sichtbar. Die wahre Kirche kann in dieser Welt nicht an dem erkennbar werden, was Menschen aus ihr, mit ihr und für sie machen, sondern nur an dem, was Gott ihr schenkt. Die sichtbare Kirche ist immer durch die ihr anvertrauten Gaben Gottes konstituiert, d. h. eben Wort und Sakrament. Damit verbindet sich eine Abgrenzung, die vor allem Calvin sehr deutlich herausarbeitet: Die sichtbare Kirche wird nicht an ihrer eigenen Heiligkeit oder Gerechtigkeit erkennbar. Der „Wahn einer vollkommenen Heiligkeit“ zerstört vielmehr die Kirche, und „unbedachter Eifer um die Gerechtigkeit“ kann zur schweren Sünde werden, nämlich dann, wenn die Gemeinschaft mit denen, deren Frucht des Lebens der Lehre nicht entspricht, aufgekündigt wird (Inst. IV 1,13). Calvin wendet sich hier gegen Donatisten und Katharer, aber auch gegen die Täufer zu seiner Zeit. Eine zweite Abgrenzung ist zugleich antikatholisch und katholisch: Die reformatorische Bestimmung der „notae ecclesiae“ meint, dass andere „notae“, z. B. das Papsttum oder bestimmte Zeremonien, nicht konstitutiv zur Kirche gehören. Damit wird einerseits vermieden, der katholischen Kirche das Kirche-Sein abzusprechen. Auf der anderen Seite wird vielem, was im Katholizismus entscheidend war, der konstitutive Charakter abgesprochen. Insbesondere fast die ganze rechtliche Struktur der Kirche fällt unter dieses Verdikt. M. E. vermag aber die reformatorische Bestimmung eine wirkliche Unterscheidung von wahrer und falscher sichtbarer Kirche nicht herbeizuführen, sondern höchstens vorschnellen Unterscheidungen zu wehren. Schon Calvin sah das Problem deutlich, ohne es lösen zu können: Was ist, wenn das Wort Gottes in der Kirche jahrhundertelang verdunkelt (wenn auch nicht verschwunden) war? Wer entscheidet darüber, welches Wort der rechten, evangelischen Lehre

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III. Studien zum Matthäusevangelium

entspricht? Wer entscheidet inhaltlich über die Verkündigung? Oder genügt ihr blosses Vorhandensein? Dasselbe gilt für die Sakramente: In ihre Verwaltung können sich Fehler einschleichen. Wer sagt, ob diese Fehler nur peripher sind oder ob sie die rechte Verwaltung der Sakramente zerstören?50 Wort und Sakrament sind ja nicht schon in ihrer blossen Vorhandenheit notae ecclesiae. Damit wird deutlich, dass diese beiden „notae“ im Grunde genommen noch nichts entscheiden. Man könnte sagen: Sie sind „notae“ des Begriffes der sichtbaren Kirche, aber ob ihnen die kirchliche Wirklichkeit entspricht, ist eine schwierige Frage. Eine andere offene Frage ist die nach der Heiligkeit der Kirche. Worin besteht die communio sanctorum, von der Conf. Aug. 7 spricht? In der reformatorischen Tradition wurde aus mancherlei Gründen der Gedanke des corpus permixtum, das die sichtbare Kirche ist, zum zentralen Gedanken. Damit aber wurde die Heiligkeit der Kirche zum Attribut, das nur noch geglaubt und gehofft werden kann. Reicht das aus? Es ist nicht ganz zufällig, dass Luther in verschiedenen Schriften die Zahl der „notae“ vermehrt hat und in „Von Conciliis und Kirchen“ z. B. auch das Leiden und die Verfolgung zu einer nota ecclesiae gemacht hat.51 In der reformatorischen Tradition nach Calvin wurde dann zunehmend häufig die disciplina bzw. die oboedientia zu einer dritten nota ecclesiae.52 Damit wurde zum ersten Mal in der reformatorischen Tradition der für Matthäus zentrale Gedanke an Praxis und Leiden der Kirche in einer bestimmten Brechung wieder aufgenommen. Offenbar ist hier das Problem erkannt worden, das im reformatorischen Erbe steckt: Wenn man die sichtbare Kirche rein von den sie konstituierenden göttlichen Gaben her versteht und völlig davon absieht, in welcher Gestalt von Kirche diese Gaben vorhanden sind, droht eine Art ekklesiologischer Doketismus: Die wahre Kirche, der Wort und Sakrament gegeben sind, wird von der wirklichen Gestalt dieser Kirche völlig getrennt. Wie diese Kirche aussieht und was sie tut, ist letztlich irrelevant, solange Wort und Sakrament ergehen. Ein von der Lebenswirklichkeit der Kirche und von der Praxis ihrer Verkündiger getrenntes Wort wird aber gefährlich abstrakt und weltlos und entspricht jedenfalls kaum dem, was Matthäus zu diesem Thema zu sagen hat. Das reformatorische Verständnis von Kirche neigt vielmehr zum Idealismus und vermag die wirkliche Kirche kaum mehr zu bestimmen.53 Es heisst dann: Kirche ist immer Kirche der Sünder. Der Unterschied katholischer Ekklesiologie zu reformatorischer liegt darin, dass die wahre Kirche nicht nur im Wort und Sakrament, sondern auch in der 50 Vgl.

Calvin, Inst. IV 1,11 f. 628–643. 52 Vgl. schon Calvin, Brief an Sadolet, in: ders., Opera Selecta, hg. v. Peter Barth u. a., München 1926, 467; zur reformierten Orthodoxie Heinrich Heppe / ​Ernst Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen 1935, 541 f (Anm. 19). 53 Ich erlaube mir eine Exemplifikation an meiner eigenen kirchlichen (zwinglianischen!) Tradition: Weil die sichtbare Kirche allein aus dem Wort geboren ist, gehört ihre Gestalt und Praxis zu den äusserlichen Dingen, die der (christliche) Magistrat ordnen kann. 51 WA 50,

15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie

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Institution Kirche sichtbar wird. Die übernatürliche Gemeinschaft tritt im sichtbaren Lehramt, im sichtbaren Priesteramt, im sichtbaren Hirtenamt und im ganzen sichtbaren Leib der Kirche in Erscheinung.54 Die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche identifiziert die im Credo bekannte Kirche mit der von den Nachfolgern Petri und den Bischöfen geleiteten katholischen Kirche.55 Die wahre Kirche ist die katholische. Während reformatorisches Kirchenverständnis in Gefahr steht, die wirkliche, sichtbare Kirche von der wahren zu trennen und aus seinen Überlegungen auszuklammern („Doketismus“), entspricht katholisches Kirchenverständnis eher einer inkarnatorischen Christologie: Die Kirche trägt sowohl Züge des Menschgewordenen wie auch des Auferstandenen an sich. Sie ist sichtbar-unsichtbar wie der Gottessohn.56 Die sichtbare und die unsichtbare Kirche werden analog den bei den Naturen Christi in einem Geheimnis miteinander verbunden. Die Problematik dieser Verbindung besteht darin, dass die sichtbare Kirche, soweit sie in ihrer Gestalt direkt mit der unsichtbaren Kirche identisch ist, zur unveränderbaren Grösse zu werden droht.57 Demgegenüber scheint das Nachdenken des Matthäus über die Kirche völlig anders zu sein. Er setzt an einem Punkt ein, der in reformatorischer wie katholischer dogmatischer Tradition in der Regel nicht bei der Wesensbestimmung der Kirche abgehandelt wird, sondern anderswo, meistens in der Ethik oder in der Lehre von der Heiligung oder aber überhaupt nicht,58 nämlich bei der Jüngerschaft und der Nachfolge. Seine entscheidende Aussage ist, dass die Verkündigung des Wortes vom Leben der Nachfolger nicht zu trennen ist, denn die Wahrheit des verkündigten Wortes wird immer durch das Leben der Nachfolger beglaubigt, ja das Leben der Nachfolger wird selbst zum Wort der Verkündigung für andere. Darum sind für Matthäus die Taten des Gehorsams der Nachfolger „notae ecclesiae“, also z. B. Armut, Wehrlosigkeit und Liebe. Und darum sind für ihn auch die Folgen dieser Taten „notae ecclesiae“, nämlich Feindschaft, Ablehnung, Leiden und Tod.59 Matthäus erreichte damit etwas ganz Wesentliches: Er stellt seine Kennzeichen der Kirche mitten hinein in die Konkretheit, aber auch die Strittigkeit der Welt.60 Ihm gegenüber scheint mir das Problem der  Entwurf des I. Vaticanums zu einer Konstitution über die Kirche 4 = NR11, 1971, Nr. 389. über die Kirche 1,8 = NR11, 1971, Nr. 411. 56 Vgl. Karl Rahner, Die Gliedschaft in der Kirche nach der Lehre der Enzyklika Pius XII. „Mystici Corporis Christi“, in: ders., Schriften zur Theologie 11, Einsiedeln 71964, 89. 57 „Gemäss dieser Auffassung glaubt die Kirche an sich selbst (Schmaus)“ (Alfred Adam, Art. Kirche III, RGG3 III, 1311). 58 Es gibt natürlich Kirchen und Gemeinschaften, die sich von der Jüngerschaft her verstehen. Hierher gehören de facto wohl die mittelalterlichen Armutsbewegungen (Waldenser, Franziskaner, Wiclifiten), die Täufer und ihre Nachfahren (z. B. Disciples of Christ). Sehe ich recht, so ist es fast überall so, dass diese Gruppen nicht eine Lehre von der Kirche entwarfen, sondern nur von der Praxis der Kirche sprachen. 59 Vgl. Mt 5,10: ἕνεκεν δικαιοσύνης als entscheidendes Kriterium. 60 Jürgen Moltmann, Die Kirche in der Kraft des Geistes, München 1975, 368 denkt auf ähnlichen Bahnen: „Wir können die Kennzeichen der Kirche nicht nur nach innen orientieren 54

55 Konstitution

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III. Studien zum Matthäusevangelium

reformatorischen „notae ecclesiae“ darin zu liegen, dass sie die Kirche noch gar nicht richtig in die Strittigkeit der Welt hineinzubringen vermögen. Matthäus fasst aber Kirche genau von dem her, was reformatorische Tradition von ihr abzulösen scheint, nämlich von ihrer Existenz in der Welt her. Indem Matthäus von Wanderschaft, Armut, Wehrlosigkeit und Liebe der Jünger spricht, pointiert er mitten in der Welt die der Kirche geschenkte Heiligkeit. Matthäus hilft so, weltlich, konkret, und damit auch wirklich von Kirche zu sprechen. Mit dem katholischen Kirchenverständnis verbindet den matthäischen Ansatz eben dies, dass beide von der wirklichen, in der Welt existierenden Kirche sprechen. Aber im Unterschied zu ihm versteht Matthäus Kirche dynamisch: Sie ist nie einfach so, wie sie ist, Kirche, sondern erst in ihrem Gehorsam und in ihren Taten. Sie verfügt über ihr Kirchesein nicht, sondern hat das, was ihr geschenkt ist, immer in ihrem Gehorsam zu bewähren. Kirche „ist“ also nicht abgesehen von ihrem Gehorsam und ihren Taten, sondern sie wird Kirche, indem sie den ihr geschenkten Auftrag und die ihr geschenkte Vollmacht in ihren Taten bewährt. Damit sind allerdings zwei Probleme verbunden. Das eine Problem besteht darin, dass die matthäischen Kennzeichen der Kirche nicht eindeutig sind. Wären sie das, so wären sie nichts anderes als ethische oder gar institutionelle Gesetze. Wir haben bei der Auslegung immer wieder beobachten können, wie Matthäus die Gebote Jesu neu akzentuierte und neu auslegte: Wanderschaft z. B. ist in der veränderten Situation nach dem Tode Jesu und in veränderter geographischer Umgebung nicht mehr conditio der Nachfolge, sondern eher ihre zugespitzte Form. Armut wird bei Matthäus auch nicht einfach gesetzlich festgeschrieben, sondern situationsbezogen eingeschärft. Das matthäische Konzept des Weges zur Vollkommenheit legt für die Kirche wohl das Ziel, die Christusgestaltigkeit resp. die Gottförmigkeit (Mt 5,48) fest, aber nicht das Minimum, jenseits dessen sie nicht mehr Kirche ist. Dieses Minimum gibt es, aber erst der Menschensohn wird im Gericht sein Urteil fällen, wo die Gerechtigkeit seiner Jünger so gering war, dass es zum Eingehen ins Himmelreich nicht mehr reicht (vgl. Mt 5,20). So könnte man sagen: Die für Matthäus entscheidende nota ecclesiae ist das Unterwegs-Sein, das Gehen auf einem Weg, dessen Ziel die Gerechtigkeit und die Vollkommenheit ist. Eine Kirche, die nicht in Bewegung ist und die sich nicht um den Gehorsam gegenüber ihrem Herrn mit allen Mitteln müht, ist für Matthäus keine Kirche. Etwa das dürfte im Sinne des Matthäus mit der wahren Familie derer, die den Willen des Vaters tun, gemeint sein, einem Text, den man nicht zu Unrecht als die matthäische Grundbestimmung von Kirche verstanden hat (12,50). Das andere Problem besteht in der Frage, ob bei Matthäus nicht das, was im reformatorischen Ansatz das Entscheidende ist, verlorengegangen ist, nämlich und sie von Wort und Sakrament her begreifen, sondern müssen sie gleichermassen nach aussen orientieren und im Blick auf die Welt begreifen“. Von hier aus fasst er die Einheit, die Katholizität, die Heiligkeit und die Apostolizität der Kirche neu (ebd. 368–388).

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das Verständnis von Kirche als von Gott geschenkter und gestifteter und nicht von Menschen gemachter Kirche. Ich meine aber, die systematische Kraft des Jünger‑ und Nachfolgegedankens sei nicht zu unterschätzen. Indem Matthäus ihn zum ekklesiologischen Zentralgedanken macht, bindet er menschliches Handeln und die Ausrichtung an ein Gegenüber. Das für die Kirche Entscheidende ist – längst vor jedem menschlichen Gehorsam – das Handeln Gottes durch Jesus. Kirche ist nach Matthäus nicht einfach, sondern Kirche wird, indem Jesus, der in seinem Volke heilt, die Jünger an seiner Vollmacht partizipieren lässt und indem Jesus, der selbst seine Gottessohnschaft durch seinen Gehorsam bewahrheitet, seinen Jüngern einen Auftrag gibt. Kirche ist nicht einfach, sondern sie bleibt, indem dieser Jesus in verschiedener Weise bei seiner Kirche ist, alle Tage bis ans Ende der Zeit, und ihr aufhilft, wenn ihr eigener Glaube nicht ausreicht. Kirche ist nicht einfach, sondern sie wird werden, nämlich dann, wenn der Menschensohn Jesus aus ihrer Mitte die Schafe und Böcke sondert, um sie so ein letztes Mal daran zu erinnern, dass sie nicht durch ihr eigenes Urteil Kirche ist. Man könnte also sagen: Dort, wo die Reformatoren vom Gegenüber von Wort und Sakrament sprachen, das die Kirche konstituiert, dort erzählt Matthäus von einem lebendigen Menschen, in dessen Nachfolge die Jünger leben. Und eben die Konkretheit dieses Gegenübers ist es, die Matthäus auch von der Kirche so dynamisch zu reden erlaubt. Mir scheint, der matthäische ekklesiologische Ansatz enthalte eine Chance, ererbte und hüben wie drüben verfestigte ekklesiologische Grundkonzeptionen in Bewegung zu bringen.

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie Ferdinand Hahn hat uns vor dreißig Jahren eine an den christologischen Hoheitstiteln orientierte neutestamentliche Christologie geschenkt.1 Sie war – konsequenterweise – traditionsgeschichtlich orientiert. Die Evangelisten, von denen der Jubilar nicht handelte, ordnen die christologischen Hoheitstitel ihrer Jesuserzählung unter. Das traditionelle Bedeutungsfeld christologischer Hoheitstitel wird dadurch verwandelt und von einem neuen Kontext her determiniert. Das möchte die folgende Skizze am Beispiel des Matthäus zeigen. Ich beschränke mich dabei auf die drei wichtigsten matthäischen Hoheitstitel υἱὸς Δαυίδ, υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου und υἱὸς τοῦ θεοῦ (II–IV). Der Skizze stelle ich einige zusammenfassende Thesen zur matthäischen Erzählung voraus (I).2

I. Die narrative Christologie 1.1 Das Matthäusevangelium ist eine Geschichte, die von Anfang bis zum Schluß gelesen werden will. Sie erschließt sich erst einer – wenn möglich mehrmaligen3 – Lektüre des Ganzen. 1.2 Die mt Jesusgeschichte hat kerygmatischen Charakter. Das heißt: Die damalige Geschichte Jesu ist zugleich die grundlegende eigene Geschichte der Leser(innen) mit Jesus. Sie konstituiert die eigenen Grunderfahrungen der Leser(innen) und ist für sie transparent. Die Transparenz4 der mt Jesusgeschichte hat einen zweifachen Charakter: 1 Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 1963. 2 Der Thesencharakter der vorliegenden Skizze erlaubt leider keine ausführliche Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen in der Matthäusforschung. Die sehr spärlichen Anmerkungen haben deshalb vor allem die Funktion, auf (fremde und eigene) Ausführungen hinzuweisen, die meine Thesen ausführlicher begründen können. 3 Vgl. Ulrich Luz, Matthieu: Un judéochrétien au croisement des chemins, in: Daniel Marguerat / ​Jean Zumstein (Hg.), La mémoire et le temps (FS P. Bonnard), MoBi 23, Genève 1991, 77–92. 4 Vgl. Ulrich Luz, Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: Gerald Hawthorne / ​Otto Betz (Hg.), Tradition and Interpretation in the NewTestament (FS E. E. Ellis), Grand Rapids / ​ Tübingen 1987, 149–165, hier 152–159 (in diesem Band Aufsatz Nr. 14).

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III. Studien zum Matthäusevangelium

1.2.1 Sie erzählt die Geschichte Jesu als Geschichte von Israels heilendem Messias, der in seinem Volk eine Spaltung hervorruft (8,1–11,30). Sie erzählt, wie die Führer Israels Jesus abweisen und wie sich Jesus von Israel zurückzieht in seinen besonderen Jüngerkreis (12,1–16,20; 16,21–20,34). Die große Abrechnung des Messias in Jerusalem (21,1–24,2) ist das Urteil dessen, der verurteilt werden wird, über Israels Führer. Die mt Passionsgeschichte ist eine fast in johanneischem Stil paradoxe Geschichte. Sie erzählt, wie die jüdischen Führer (mit Zustimmung des „ganzen Volks“) ihre eigene Verurteilung definitiv machen, indem sie Jesus verurteilen. Das Ende der mt Geschichte erzählt, wie die Mehrheit Israels zu nichtgläubigen „Juden“ wird und wie die Jünger durch den erhöhten Herrn zu den Völkern gesandt werden (28,11–15.16–20). Diese Geschichte wird indirekt transparent für die Geschichte der mt Kirche, die ihre geschichtlichen Wurzeln wohl in der palästinischen Jesusbewegung hatte, in ihrer Israelmission weitgehend scheiterte,5 aus Palästina nach Syrien vertrieben wurde (vielleicht während des jüdischen Krieges 66–70) und nun in der Völkermission ihre neue, vom Herrn gegebene Aufgabe findet. 1.2.2 Die mt Jesusgeschichte spiegelt in ihren Einzelperikopen auch immer wieder direkt die grundlegenden Erfahrungen der mt Christ(inn)en mit ihrem Herrn (direkte Transparenz). Sie verstehen sich als Jünger(innen) Jesu,6 die seinen Geboten gehorchen und mit Jesus Erfahrungen von Heilungen, Vergebung, „zum Sehen Kommen“ etc. machen, wie sie in den Wundergeschichten beschrieben sind, und zugleich Erfahrungen der Verfolgung und des Leidens, wie sie Jesus vorankündigte und wie sie in seinem eigenen Leben und Leiden modellhaft geschehen sind. 1.3 Die mt Jesusgeschichte berichtet von Erfahrungen der Gemeinde auf ihrem Weg mit Jesus, bzw. eben dadurch „mit Gott“. Sie ist die Geschichte des „Immanuel“ (1,23; vgl. 28,20) Jesus,7 die erzählt, wie in Jesus „Gott mit uns“ ist, d. h. seine Gemeinde auf ihrem Weg durch Gehorsam, Glaubenserfahrungen und Leiden begleitet. 1.3.1 Die Immanuel-Formel, ein charakteristischer Ausdruck für Gottes Gegenwart in der biblischen Geschichte seines Volkes Israel, zeigt, wie Matthäus seine ganze Christologie an alttestamentlichen Denkmodellen, insbesondere an der alttestamentlichen Geschichte ausrichten will. 1.3.2 Die Immanuel-Formel zeigt die christologische Konzentration alttestamentlicher Theologie im Matthäusevangelium, bzw. umgekehrt die theologische 5 Dieses Stadium der Geschichte der mt Gemeinde ist m. E. durch die Quelle Q repräsentiert, die in ihrer Komposition durch die Gerichtspredigt gegen Israel geprägt ist. 6 Vgl. Ulrich Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971), 141–171, hier 152–165. 7 Grundlegend ist Hubert Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi, NTA NF 10, Münster 1972, 7–83. Er hat auf die grundlegende Inklusion 1,23–28,20 aufmerksam gemacht, die die ganze mt narrative Christologie bestimmt.

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie

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Dimension matthäischer Christologie: Gottes Gegenwart bei seinem Volk in der Bibel wird im Matthäusevangelium gleichsam durch Jesus übernommen. Jesus ist im Matthäusevangelium die neue und definitive Gestalt von Gottes Gegenwart bei seinem Volk. 1.4 Die Immanuel-Christologie als Rahmung der mt Geschichte zeigt, daß die ganze mt Christologie narrativen Charakter hat: Die mt Jesusgeschichte ist die neue Geschichte von Gottes Gegenwart bei seinem Volk. Während ursprünglich die christologischen Hoheitstitel als Prädikativ funktionierten, um auszusagen, wer Jesus ist, scheint es bei Mt vor allem umgekehrt: Die mt Jesusgeschichte funktioniert als „Prädikativ“ und bestimmt den Inhalt der traditionellen Hoheitstitel neu. Sie „verflüssigt“ die feststehende Bedeutung der traditionellen Hoheitstitel. 1.5 Die folgenden Thesen haben deshalb vor allem synchron darauf zu achten, was im Verlaufe der matthäischen Jesusgeschichte mit den christologischen Hoheitstiteln geschieht und wie sich ihre Bedeutung im Verlauf der Geschichte verändert. 1.5.1 Sie möchten auch – in der Autor-Leser(innen)-Beziehung – darauf achten, wo der Autor Matthäus seine Leser(innen) in ihrer traditionell vorgegebenen Christologie „abholt“ und wie er ihre Christologie durch seine Geschichte verändert. Diese Veränderung spiegelt sich im Bedeutungswandel, den die von der biblisch-jüdischen Tradition geprägten Hoheitstitel in der matthäischen Jesusgeschichte erfahren. Insofern enthalten sie auch ein diachrones Moment.

II. Davidssohn Mt erzählt die Bedeutung des Titels „Davidssohn“ in seiner Geschichte: Jesus ist Israels erwarteter Messias, aber er handelt anders in seinem Volke, als viele in Israel erwarten. Er wirkt in erster Linie als heilender Davidssohn-Messias in seinem Volk Israel. Schließlich wird der Messias Israels der Herr der ganzen Welt sein. 2.1 Traditionsgeschichte ist nicht der Schlüssel, um die Bedeutung von „Davidssohn“ im Matthäusevangelium zu verstehen. Wohl aber können traditionsgeschichtliche Überlegungen den Ausgangspunkt andeuten, an dem Matthäus seine judenchristlichen Leser(innen) abholen will. 2.1.1 Die Erwartung eines Messias-Königs, der ‫ ֶצ ַמח ָּדוִ ד‬ist, ist jüdisch verbreitet,8 obwohl die technische Bezeichnung ‫ ֶבן ָּדוִ ד‬relativ spät ist (PsSal 17,21). Häufiger kommt sie in frühen rabbinischen Texten vor.9 8 Christoph 9 Eduard

Burger, Jesus als Davidssohn, FRLANT 98, Göttingen 1970, 16–23. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT VIII, 482–492, bes. 484, 39 ff.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

2.1.1.1 Die Häufigkeit des Ausdrucks υἱὸς Δαυίδ bei Matthäus könnte ähnlich wie z. B. der Ausdruck βασιλεία τῶν οὐρανῶν eine gewisse Nähe des Matthäus zu frührabbinischem Sprachgebrauch spiegeln.10 2.1.2 Mt verstand den heilenden Davidssohn nicht als eschatologischen Antityp zum ersten Sohn Davids, Salomon, der nur in Teilen des Judentums (TestSal!) und nur spät als Exorzist, aber nicht als Wunderheiler bekannt ist.11 2.1.3 Die für die messianische Zeit erwarteten Wunder könnten eine traditionsgeschichtliche Brücke sein, die Mt brauchte, um Jesu Wunder als messianische zu interpretieren (vgl. u. 2.3.3). Allerdings spricht die jüdische Überlieferung nicht in einem engen Sinn von Wundern des Messias.12 2.1.4 Die einzige Tradition, von der sich das mt Bild des heilenden Davidssohns Jesus ableiten läßt, ist eine christliche: Mk 10,46–52 scheint der grundlegende Text zu sein, der Mt inspirierte, sein Konzept des heilenden Davidssohns Jesus zu entfalten. Wie oft, so entfaltet und akzentuiert Matthäus auch hier grundlegende Gedanken, die er seinen Quellen verdankt.13 2.2 Der Titel „Davidssohn“ wird im Prolog Mt 1 eingeführt. Jesus ist durch göttlichen Eingriff Abkömmling der königlichen Dynastie Davids, d. h. Messias entsprechend Israels Erwartungen. Mt 1,18–25 erzählt, wie der Jungfrauensohn Davidssohn wurde, indem er durch Josef, den gerechten Davididen, als Sohn anerkannt wurde. Diese Geschichte hilft, den Gottessohn Jesus mit den traditionellen messianischen Hoffnungen und Erwartungen Israels – und mit den früheren Erwartungen und Hoffnungen der judenchristlichen Leser(innen) des Evangeliums – zu identifizieren. 2.2.1 Dadurch, daß der Sohn Davids Jesus und Immanuel heißt (1,18–25), bereitet Mt die Geschichte des heilenden und gnädigen Davidssohns im Hauptteil seines Evangeliums vor. 2.3 Im galiläischen Hauptteil seines Evangeliums (Kap. 8–20) erzählt Mt, wie Jesus als Davidssohn die Kranken Israels heilt. Der Titel υἱὸς Δαυίδ ist ausschließlich mit Wundergeschichten, besonders mit Blindenheilungen verbunden (9,27; 12,23; 20,30 f; vgl. 21,14–16).14 So handelt der Messias Jesus in seinem 10 Skeptisch bin ich gegen die Vermutung von Reinhart Hummel, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvTh 33, München 1963, 120, daß insbesondere die von Mt bekämpften Pharisäer Träger der Davidssohnerwartung gewesen seien. Die Belege in den Qumrantexten und in den jüdischen Gebetstexten zeigen, daß die Erwartung eines Messias aus dem Samen Davids eine im Judentum allgemein verbreitete Erwartung war. 11 Gegen Klaus Berger, Die königlichen Messiastraditionen des Neuen Testaments, NTS 20 (1973/74), 1–44, hier 3–9. 12 Vgl. Brian M. Nolan, The Royal Son of God, OBO 23, Freiburg (Schweiz) 1979, 165 f. 13 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​ Zürich 21989, 56–59. 14 Das betont vor allem James M. Gibbs, Purpose and Pattern in Matthew’s Use of the Title ‘Son of David’, NTS 10 (1963/64), 446–464.

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie

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und für sein erwähltes Volk Israel. Angestoßen durch Mk 10,46–52 verändert also der Erzähler Mt die traditionelle messianische Erwartung Israels durch seine Jesusgeschichte. 2.3.1 Wichtig ist, daß Mt erzählt, wie Jesus in Israel heilt (8,1–9,26), bevor der Titel υἱὸς Δαυίδ zum ersten Mal im Schlußabschnitt von Kap. 8–9 (9,27) auftaucht. 2.3.2 Der Davidssohntitel ist oft mit Blindenheilungen verbunden: Der Messias Jesus heilt (metaphorisch!) die Blindheit Israels, während die Schriftgelehrten und Pharisäer blind bleiben (cf. 23,16–26). Matthäus’ Sicht der Blindheit im Makrotext seines Evangeliums kommt in die Nähe von Joh 9. 2.3.3 Die Gnade des heilenden Jesus hilft den einfachen Menschen Israels (νήπιοι 21,16), Jesus als Davidssohn, bzw. als Messias zu identifizieren (12,23; 21,9.16). Mt versteht also das heilende Wirken Jesu nicht nur als eine Veränderung, sondern auch als positive Anknüpfung an die messianischen Hoffnungen vor allem des einfachen Volks. 2.3.4 Demgegenüber bestätigen die Heilungen Jesu für die jüdischen Führer die messianischen Hoffnungen Israels gerade nicht. Vielmehr fällt auf, daß sie die Heilungen Jesu oft kategorisch ablehnen (9,34; 12,24 ff.38ff; vgl. 16,lff [nach 15,29–39]; 21,15). Spiegelt sich hier historisch schon die spätere rabbinische Ablehnung Jesu als Zauberer? Mt begründet ihre Ablehnung der Wundertaten Jesu gerade nicht; sie ist deshalb für seine Leser(innen) unverständlich und darum schuldhaft. Daß sein eigenes Verständnis der davidischen Messianität Jesu eine Verschiebung jüdischer Hoffnungen von der „politischen“ auf die „menschliche“ Ebene bedeutet, die die Ablehnung der Davidssohnschaft Jesu durch viele Juden historisch verstehbar werden läßt, bedenkt Mt nicht. 2.4 22,41–46 deutet für die christlichen Leser(innen) des Mt an, daß der Messias Israels (υἱὸς Δαυίδ) mehr ist als dies, nämlich κύριος der Welt. So weist diese Perikope voraus auf das Ende der mt Jesusgeschichte (vgl. 28,16–20). In der Erzählung hat sie eine doppelte Funktion: Sie nimmt auf, was die Kranken schon vorwegnahmen, wenn sie den Davidssohn als κύριος anredeten (9,28; vgl. 21,9; 15,22.25) und ihm nachfolgten. Sie hilft also den christlichen Leser(inne)n, die Geschichte des Davidssohns Jesus aus größerer, universaler Perspektive zu sehen. Andererseits führt sie die Pharisäer in eine Aporie: Von ihrer Ablehnung Jesu her können sie nicht verstehen, warum in Ps 110 der Davidssohn „Herr“ genannt wird. Von ihrer Position her können sie ihre eigene Bibel nicht mehr verstehen. 22,41–46 bekräftigt so die christlichen Leser(innen) in ihrer Trennung von Israel und in ihrem Anspruch auf Israels biblisches Erbe. 2.5 Der Titel „Davidssohn“ erscheint in den christologischen Gipfelperikopen des letzten Teils des Evangeliums, z. B. 26,59–66; 27,41–54 und 28,16–20, nicht mehr. Er hat in der matthäischen Geschichte eine begrenzte Reichweite, nämlich die, das Kommen Jesu als Erfüllung und Transformation der messianischen

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Hoffnungen Israels zu charakterisieren und dadurch den Schock der Trennung von christlicher Gemeinde und Synagoge aufarbeiten zu helfen.

III. Menschensohn Matthäus entfaltet die Bedeutung des Ausdrucks ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in den verschiedenen Etappen seiner Jesusgeschichte von seiner Heimatlosigkeit und Verfolgung, über Passion, Tod, Auferstehung und Erhöhung bis zu seiner Parusie als Weltrichter. „Menschensohn“ erinnert die Leser(innen) in jedem Stadium der Jesusgeschichte an das Ganze seines Wegs. 3.1 Die Platzierung der Menschensohnworte im Evangelium ist nicht zufällig, sondern zeigt bereits auf der Textoberfläche klare Tendenzen: 3.1.1 Vor 8,20, insbesondere in der Bergpredigt, fehlen Menschensohnworte. 3.1.2 In 16,13–17,22 und 24,27–26,64 sind die Menschensohnworte massiert (6 bzw. 12 Logia). 3.1.3 Vor 16,13 ist die Mehrheit der Menschensohnworte an die Öffentlichkeit gerichtet; nach 16,13 spricht Jesus ausschließlich zu den Jüngern vom Menschensohn (20 Logia), mit der einzigen Ausnahme von 26,64. 3.1.4 Der mt Jesus spricht weder vom kommenden Menschensohn in der Öffentlichkeit (Ausnahme: 26,64), noch vom leidenden und auferstehenden Menschensohn (Ausnahme: 12,40), sondern nur zu seinen Jüngern. Nur die Mehrheit der Worte vom sog. gegenwärtigen Menschensohn sind öffentliche Worte. Die Mehrzahl dieser Menschensohnworte stehen denn auch im ersten Teil des Evangeliums.15 3.2 Syntaktisch folgt Mt dem Sprachgebrauch seiner Quellen und zeigt einen kohärenten Sprachgebrauch von ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου: 3.2.1 Der Ausdruck kommt nur in Jesusworten und nie direkt in Erzähltexten vor. Jesus kommentiert in den Menschensohnworten seine eigene Geschichte. 3.2.2 „Menschensohn“ erscheint nie als Vokativ; Jesus wird nie als Menschensohn angeredet oder bekannt. 3.2.3 Abgesehen von der allegorischen Deutung des Unkrautgleichnisses 13,37 erscheint ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου nie als Prädikativ. Der Ausdruck wird also nicht gebraucht, um zu sagen, wer Jesus ist, sondern, um zu erzählen, was er tut oder leidet. 15 Mißverständlich

bezeichnet Jack D. Kingsbury, The Title „Son of Man“ in Matthew’s Gospel, CBQ 37 (1975), 193–202, hier 193. 201 den Menschensohntitel als „public“. Kingsbury meint damit, daß die Reichweite der Wirksamkeit des Menschensohns Jesus das Volk Israel, Jesu Gegner und die ganze Welt betrifft. Der Ausdruck verdeckt aber das besondere Wissen der Jünger um die Geschichte und die Zukunft Jesu und die Tatsache, daß der Ausdruck Menschensohn von Mt überwiegend und bewußt in Jüngerbelehrungen eingesetzt wird

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie

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3.3 Mt übernimmt alle Menschensohnworte seiner Quellen. Nur in ganz wenigen Fällen ersetzt er den Ausdruck ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου durch „ich“. 3.3.1 Im Blick auf die redaktionellen mt Menschensohnstellen ist bemerkenswert: 3.3.1.1 Verhältnismäßig viele neuen Worte sprechen vom Kommen des Menschensohns (13,41; 16,28; 19,28?; 24,30 a; 25,31). 3.3.1.2 Zwei Worte können nicht klar einer bestimmten Gruppe von Menschensohnworten zugeordnet werden, sondern scheinen allgemein über Jesus zu sprechen (13,37; 16,13). 3.3.1.3 Im Gegensatz zur Tradition kennt Mt auch den gegenwärtig erhöhten Menschensohn (26,64 a ἀπ᾿ ἄρτι, vgl. 13,37–41; 28,18 f). 3.4 Für die mt Leser(innen) ist der Ausdruck „Menschensohn“ nicht, wie „Davidssohn“, ein Ausdruck jüdischer Hoffnung, sondern in erster Linie ein Ausdruck der „Christussprache“. Sie wissen aus ihrer christlichen Überlieferung, daß der „Menschensohn“ Jesus heimatlos und abgelehnt ist, daß er leiden, sterben und auferstehen wird und daß er als zukünftiger Weltrichter erscheinen wird. Für sie ist „Menschensohn“ nicht in erster Linie ein Ausdruck jüdischapokalyptischer Sprache.16 3.4.1 Das wird wahrscheinlich 3.4.1.1 durch den festen, kaum jüdischen17 Sprachgebrauch mit dem bestimmten Artikel in der ganzen synoptischen Überlieferung, 3.4.1.2 durch das relativ stabile, christlich geprägte Wortfeld vieler Menschensohnworte, besonders derjenigen vom leidenden, sterbenden und auferstehenden und derjenigen vom kommenden Menschensohn, das auf einen festen Sprachgebrauch der Gemeinde weist,18 3.4.1.3 durch allgemeine Überlegungen: die mt Gemeinde ist vermutlich ein Abkömmling der Mission der christlichen Wandermissionare, für welche die in Q gesammelten Überlieferungen bekannt und wichtig waren. 3.4.2 Mt (und seine Leser[innen]) kennt den biblischen Grundtext Dan 7 und verstärkt gelegentlich die Anspielungen auf ihn (24,30; 26,64; vgl. 28,18 f; 25,31). Zugleich aber wird klar, daß Dan 7,13 f nicht die Grundstruktur der Worte vom kommenden Menschensohn bestimmt,19 sondern für Mt lediglich 16 Daniel Marguerat, Le jugement dans l’Evangile de Matthieu, Genève 1981, 11, sieht das Entscheidende im mt Menschensohnverständnis in der Betonung der zukünftigen Richtertätigkeit Jesu und der jüdisch-apokalyptischen Dimension des Titels. Zu dieser Meinung kommt man, wenn man sich primär auf die red. Zufügungen des Mt abstützt, aber die Funktion dieser Zufügungen im Ganzen der Erzählung zu wenig bedenkt. 17 Die einzige Ausnahme sind wohl die Bilderreden des äthHen. Dazu vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Neukirchen / ​Zürich 1990, 498 Anm. 79. 18 Luz a. a. O. (Mt 8–17), 498 Anm. 80 f. 19 Mt schließt damit traditionsgeschichtlich an die urchristliche Entwicklung an, wo sich m. E. durchwegs der Einfluß von Dan 7,13 in den Menschensohnworten sekundär verstärkt. Das

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III. Studien zum Matthäusevangelium

dazu dient, einigen genuin christlichen Menschensohnworten biblische Farbe zu verleihen. 3.4.3 Abgesehen von Dan 7 scheint Mt keine jüdischen Überlieferungen vom kommenden Menschensohn gekannt zu haben.20 3.4.4 Der Ausdruck ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ist für griechisch-sprachige Leser(innen) auf der Ebene der Alltagssprache bedeutungslos und rätselhaft. Für zweisprachige syrische Leser(innen) ist er auffällig, weil er mit seiner doppelten Determination (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) gerade nicht dem aramäischen ‫בר נׁשא‬ („einer, ein Mensch, ich als Mensch“; normalerweise völlig undeterminiert) entspricht. Er ist also auch für sie auf der Ebene der Alltagssprache ein rätselhafter Ausdruck. 3.5 Für den mt Gebrauch der Worte vom Menschensohn Jesus ist entscheidend, daß seine christlichen Leser(innen) die Geschichte des Menschensohns Jesus bzw. Jesu „Kommentare“ zu dieser Geschichte und zu seiner Zukunft bereits kennen. So verstehen sie bei den öffentlichen Menschensohnworten Jesu mehr als das Volk oder Jesu jüdische Gegner. Mt braucht den Ausdruck Menschensohn in seinem Evangelium, um zwischen den verstehenden Jüngern und den unwissenden und böswilligen Gegnern zu unterscheiden, über die das Gericht des Menschensohns Jesus einst ohne jede Vorbereitung hereinbrechen wird. 3.5.1 In der Bergpredigt, die an die Jünger und an das Volk gerichtet ist, fehlt der Ausdruck in 5,11 f und er erscheint auch im Wort über den künftigen Weltrichter 7,21–23 nicht. Der Ausdruck Menschensohn fehlt in der Bergpredigt, weil Mt Jesus nie öffentlich von sich als kommendem Menschensohn-Weltrichter sprechen läßt. 3.5.2 Die meisten der öffentlichen Menschensohnworte von Kap. 8–12 sind polemisch (9,6; 11,19; 12,8.32.40). In 11,19 spricht „diese Generation“ gegen den Menschensohn. Hätten die jüdischen Führer verstanden, was es bedeutet, den, der als Menschensohn ankommen wird, zu lästern, hätten sie es nicht getan. In 12,14 antwortet der Beschluß der jüdischen Führer, Jesus zu töten, auch auf sein Menschensohnwort 12,8 f. Die jüdischen Führer verstehen nicht, wer Jesus in Wirklichkeit ist: Das Wort von seinem Sterben und Auferstehen nach drei Tagen (12,40) ist in ihrer Wiedergabe ein Wort „jenes Verführers“ (27,63 f). Auch 8,19 f weist auf die große Scheidung: Nur die Jünger, die ins Schiff steigen und die Heimatlosigkeit des Menschensohns auf sich nehmen, haben verstanden, wer er ist.

herausgestellt zu haben ist das Verdienst von Mogens Müller, Der Ausdruck Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Arhus 1984, 89–154. 20 Johannes Theisohn, Der auserwählte Richter, StUNT 12, Göttingen 1975, 158–200, rechnet mit einem literarischen Einfluß der Bilderreden auf einige mt-red. Stellen. Ich meine, man könne nur von einer Kongruenz von Motiven sprechen.

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie

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3.5.3 Zu seinen Feinden, die nicht verstehen, wer Jesus als Menschensohn ist, spricht Jesus, der sich angesichts der Feindschaft gegen ihn aus Israel „zurückzieht“ (12,15; 14,13; 15,21), nicht mehr vom Menschensohn. 3.5.4 Nur in der entscheidenden Schlußszene vor dem Synhedrium, in 26,64, spricht Jesus öffentlich zu seinen Richtern über das Gericht des Menschensohns. Aber seine Richter realisieren nicht, daß sie gerichtet sein werden. Der Hohenpriester zerreißt seine Kleider, aber deswegen, weil Jesus (!) lästert! Die Szene enthält eine Ironie von fast johanneischem Charakter. 3.5.5 Es gibt im Matthäusevangelium ein „Menschensohngeheimnis“, das die Jünger von den jüdischen Führern scheidet. Es wird durch den Gang der Erzählung gebildet und nur gelegentlich durch ein (traditionelles) Geheimhaltegebot gesichert (16,20; 17,9). 3.6 Für die Jünger ist der Ausdruck „Menschensohn“ ein „horizontaler Titel“, der die ganze Geschichte Jesu, sein Leben, sein Sterben, seine Auferstehung und Erhöhung und seine Erscheinung als Weltrichter umgreift. Im Gegensatz zur traditionellen Einteilung der Menschensohnworte in drei verschiedene Gruppen ist es für die Leser(innen) der mt Geschichte wichtig, daß die drei Gruppen von Menschensohnworten gerade nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern daß der Ausdruck „Menschensohn“ gleichsam das Bindeglied zwischen den verschiedenen Etappen der Geschichte Jesu ist, von denen sie sprechen (vgl. auch oben 3.3.1.2; 3.3.1.3). Die Leser(innen) der mt Geschichte verstehen kein Menschensohnwort, ohne durch den Ausdruck „Menschensohn“ an das Ganze der Geschichte Jesu erinnert zu werden, an seine gegenwärtige und zukünftige Rolle. Sie verstehen, was die „Böcke“ zur Linken (25,32 f) gerade nicht verstehen, nämlich daß der heimatlose Mensch Jesus, dessen Geschichte Mt erzählt, kein anderer ist als der Weltrichter, dem sie einst begegnen werden. 3.6.1 Im Unterschied zu den jüdischen Gegnern Jesu wissen die Leser( innen) des Mt – und die Jünger lernen es durch Jesu Unterweisung (10,23 und passim) –, daß der Mensch Jesus, der keinen bleibenden Ort hat (8,20) und der gelästert wird (vgl. 12,40), weil er sich göttliche Vorrechte anmaße (9,6), den man für einen Fresser und Säufer hält (11,19) und dessen menschenfreundliche Auslegung des Sabbatgebots angegriffen wird (12,1–14), daß dieser Mensch Jesus kein anderer ist als der auferstehende kommende Weltrichter. Für sie haben die öffentlichen Menschensohnworte eine verborgene Tiefe. Sie verstehen das Nichtverstehen der Juden (vgl. 13,10–16), denn sie gehören zu denen, die bereits verstehen und denen durch die Unterweisung Jesu zusätzliches Verstehen geschenkt wird (13,12), nicht zu denen, die kein Verstehen haben und denen durch ihre Ablehnung Jesu auch die βασιλεία, die ihnen versprochen war, genommen wird (13,12; vgl. 21,43). 3.6.2 Auch für die Leser(innen) des Evangeliums (und die Jünger im Evangelium) wird Jesus der kommende Richter sein. Aber sie werden darauf nicht

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III. Studien zum Matthäusevangelium

unvorbereitet sein, denn Jesus unterweist sie immer und immer wieder über sein kommendes Wirken als Weltrichter (13,37–43; 16,27; 24,30 f.37–44). 3.6.3 Das Gerichtsurteil des Menschensohns Jesus führt sie nicht in eine hoffnungslose Situation, denn sie haben die Chance, den Weg des Menschensohns, der ein Weg der Heimatlosigkeit, des Gehorsams, der Verfolgung und des Leidens ist, als eigenen Weg zu übernehmen und ihm auf seinem Weg zu Auferstehung und Herrlichkeit zu folgen. 3.6.4 Der „horizontale Titel“ Menschensohn hilft also, die einzelnen Etappen der Geschichte Jesu zusammenzusehen: Zu seinem Tod fügt er die Gegenperspektive der Auferstehung hinzu, zur gegenwärtigen Verfolgung und Heimatlosigkeit die Gegenperspektiye der Inthronisation. Zu seiner gegenwärtigen Verurteilung fügt er die Gegenperspektive seines künftigen Richtens. 3.6.5 Im Unterschied zu „Davidssohn“ enthält „Menschensohn“ eine universale und zukünftige Perspektive,21 denn der Weg des Menschensohns wird erst enden, wenn er die Welt richten wird, und der Weg seiner Nachfolger erst, wenn sie zu den Völkern gehen und im Gericht vor dem Richter der ganzen Welt stehen werden. 3.7 Mit seinem durch die Geschichte Jesu geprägten „horizontalen“ Menschensohnverständnis bildet Mt eine Brücke zwischen der jüdisch-apokalyptischen Erwartung eines himmlischen Weltrichters und der späteren Zweinaturenchristologie, welche die der Geschichte unterworfene Menschheit Jesu mit dem Ausdruck „Menschensohn“ bezeichnete. 3.7.1 Der wichtigste Vorläufer des Mt ist das Markusevangelium: Indem Mt den apokalyptischen Menschensohntitel in einen horizontalen „Titel“ verwandelt, der den Weg Jesu durch die Geschichte deutet, folgt er dem Markusevangelium, besonders in seinem zweiten Teil (8,31–14,62). Er vertieft und verstärkt das markinische horizontale Menschensohnverständnis mit Hilfe des paradoxen Gebrauchs des Ausdrucks in Q (z. B. Q 9,58: der heimatlose Jesus als Weltrichter). 3.7.2 Ein wichtiger „Nachfahre“ in seiner horizontalen Menschensohnchristologie ist Ignatius, der in seinem Einflußgebiet lebte: In Eph, 20,2 bezeichnet Ignatius mit dem Ausdruck ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου zum ersten Mal die Menschheit Jesu, in charakteristischem Unterschied zur nicht-christlichen Gnosis, wo „Menschensohn“ den Sohn des Gottes Anthropos meint.22

21 Das betont Heinz Geist, Menschensohn und Gemeinde, fzb 57, Würzburg 1986, bes. 420–426. 22 Carsten Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT VIII, 403–481, hier 478,33 ff. Justin, Dial 100,3 und Irenäus verbinden dagegen den Titel mit der Jungfrauengeburt.

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IV. Gottessohn Im Unterschied zu „Menschensohn“ hat der Titel „Gottessohn“ bereits in der markinischen Tradition eine vertikale Dimension: Er bezeichnet Jesu besonderes und einzigartiges Verhältnis zu Gott und seine einzigartige Stellung, die ihm von Gott gegeben wurde. Mt hat diese Dimension übernommen und wie Mk den Gottessohntitel auch als Bekenntnistitel gebraucht.23 Der wichtigste mt Akzent besteht aber darin, daß der Sohn Gottes seine Sohnschaft in seinem Weg des Gehorsams gegenüber dem Vater bewährt. Das bedeutet: Mt fügt in seiner Jesusgeschichte der vertikalen Dimension des Gottessohntitels eine horizontale, ethische Dimension hinzu. Abgesehen von Anstößen aus Mk (Leidensnachfolge) und Q (Versuchungsgeschichte) ist für ihn dabei vor allem das ihm bekannte jüdische Denkmodell des leidenden Gerechten (Sap Sal 2,5, vgl. unten 4.3.6) wichtig. 4.1 Im Prolog (1,1–4,16) sind ὁ-υἱὸς-τοῦ-θεοῦ-Stellen häufig. Der Prolog, ein zusammenfassendes Präludium der mt Jesusgeschichte, hat die Funktion, wichtige Aspekte der mt Gottessohnchristologie vorwegzunehmen. 4.1.1 Zu den mt Akzenten, die der Prolog präludiert, gehört, daß Gott allein Jesus als seinen Sohn offenbart, direkt (1,22 f; 2,15;24 3,17) oder durch einen Engel (1,21–23), vgl. 11,25–27; 16,17; 17,5. 4.1.2 Noch wichtiger ist aber, daß der vom Vater geoffenbarte Sohn „alle Gerechtigkeit erfüllt“ (3,15) und dem in der Schrift geoffenbarten Willen des Vaters gehorcht (4,1–11). Dieser Gehorsam des Gottessohns ist, wie die Inklusion 3,15–4,11 mit 27,43–54 zeigt, von großer Bedeutung für das Evangelium. Die antitypische Aufnahme von 4,8–10 in 28,16–18 deutet an, daß der gehorsame Gottessohn einst wahrer Herrscher der Welt sein wird. 4.2 Mt platziert im Hauptteil seines Evangeliums einige Gottessohntexte an herausgehobenen Stellen: 11,25–30 steht am Ende des Hauptabschnittes 4,23– 11,30. 16,16 f steht am Ende des ersten Hauptteils (4,17–16,20). 28,16–20 endlich ist das große Finale des Matthäusevangeliums, ein Text, der das ganze Evangelium bündelt. 27,43.54 sind durch die Inklusion mit 3,15–4,11 herausgehoben. 4.3 In fast allen wichtigen mt Gottessohnstellen verbinden sich das vertikale Moment, die Offenbarung des Gottesohns durch den Vater, mit dem horizontalen, der Bewährung der Gottessohnschaft durch Jesus in seinem Gehorsam und dem Modellcharakter des Lebens des Gottessohns für die Jünger. Die mt Jesusgeschichte im ganzen entfaltet diese horizontale Dimension der Gottessohnschaft Jesu. Im Ganzen der mt Erzählung haben die an zentraler Stelle platzierten 23 Kingsbury,

Title (o. Anm. 15), 193. die beiden Gottessohn-Zitate 1,22 f; 2,15 haben κύριος in der Einführungsformel, vgl. Rudolf Pesch, Der Gottessohn im matthäischen Evangelienprolog (Mt 1–2), Bib. 48 (1967), 395–420, hier 397.411–413. 24 Nur

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Gottessohnstellen die Funktion, die christologische Bedeutung des Gehorsamswegs Jesu zu erhellen und durch die „Perspektive von oben“ zu ergänzen. 4.3.1 11,25–30 ist ein Schlüsseltext für mt Christologie, der mit anderen grundlegenden Texten des Evangeliums vielfache Berührungen aufweist. Daß der Vater das Geheimnis des Sohns offenbart (V 25fin), erinnert an 1,21–23; 2,15; 3,17 und bereitet 16,16 f; 17,5 vor. Daß das Geheimnis des Sohns den Unmündigen geschenkt wird und vor den Weisen verborgen bleibt, zeigen 21,15 f; 26,63 f; 27,43. Πάντα μοι παρεδόθη wird in in 28,18 überboten, wo nicht nur die Offenbarung dem Sohn übergeben wird, sondern alle Macht. 4.3.1.1 11,27 ist ursprünglich ein Kommentarwort der Gemeinde zu V 25 f, das das Geheimnis des Sohns als Inhalt der Offenbarung an die νήπιοι inhaltlich füllen will und zugleich deutlich machen, daß nur durch Vermittlung des Sohns dieses Geheimnis den νήπιοι offenbar wird. Aufgrund des Zusammenhangs mit V 25 f wird man παρεδόθη auf die „Tradition“ von göttlichem Offenbarungswissen und nicht auf die Übergabe von Macht beziehen. 4.3.1.2 Das absolute ὁ υἱός meint im Kontext des Mt nichts anderes als den Gottessohn Jesus. Vermutlich gilt das bereits für das traditionelle Kommentarwort, da die Formulierung mit absolutem ὁ υἱός rhetorisch durch die Opposition zu ὁ πατήρ und nicht traditionsgeschichtlich durch eine hinter dem Text stehende besondere Christologie (Weisheits‑ oder Menschensohnchristologie) gefordert ist. 4.3.1.3 V 27 betont in der Tradition und bei Mt nicht die Erwählung des Sohnes durch den Vater25 bzw. die Anerkennung des Vaters durch den Sohn,26 sondern ihre wechselseitige „mystische“ Erkenntnis. Diese bleibt auf den Vater und den Sohn begrenzt, die in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen, und wird nicht auf die νήπιοι ausgedehnt, die nicht den Vater und den Sohn „erkennen“ (ἐπιγινώσκειν), sondern durch den Sohn die Offenbarung empfangen. 4.3.1.4 Zusammen mit 1,22 f; 2,15; 3,17 und 17,5 sowie den Immanuel-Aussagen zeigt 11,27, daß der so sehr am geschichtlichen Weg Jesu („horizontale Christologie“) und am Modellcharakter seines Lebens interessierte Mt dieses Interesse durchaus mit Momenten einer „hohen“ Christologie „von oben“ verbinden kann. 4.3.1.5 Die (mt!) Zufügung des sapientialen Wortes 11,28–30 und besonders die (red.!) Zufügung von V 29 b zeigen wiederum das mt Interesse am Gehorsam des Gottessohns: Der Sohn offenbart sich als der gehorsame und liebende Sohn (πραΰς, ταπεινός), der für die Menschen entsprechend handeln wird (vgl. 12,1–14). Es ist seine Gegenwart und sein Modell, das er gibt, das sein Joch leicht macht.27 25 Warum

sollte nur der Vater den Sohn erwählen? zweimal dasselbe Verbum ἐπιγινώσκειν gebraucht wird, spricht dafür, daß die Relation zwischen dem Vater und dem Sohn eine reziproke, symmetrische ist. 27 Im Gegensatz zu dem der Pharisäer 23, 4–7. 26 Daß

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie

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4.3.2 Das zentrale Erfüllungszitat 12,18–21 spricht nicht vom Gottesknecht, sondern in der biblischen Sprache Jesajas vom Kind Gottes,28 d. h. dem den Leser(inne)n von 3,17 her bekannten Sohn. Jes 42,1–4 vermittelt den Leser(inne)n des Mt im Zentrum des Evangeliums die Möglichkeit eines Blickes auf das Ganze der Geschichte Jesu, des geliebten, erwählten, friedfertigen Gottessohns, der schließlich Richter der Welt und Hoffnung für die Heiden sein wird. Mt 12,18–21 bezeugt keine besondere mt Gottesknecht-Christologie. 4.3.3 In 16,16 f ist die Gottessohnschaft des Menschensohns Jesus wiederum durch den Vater selbst geoffenbart und von Petrus als Bekenntnis formuliert. Durch sein Bekenntnis, das demjenigen aller Jünger in 14,33 entspricht, wird der erste Apostel und typische Jünger Petrus zum grundlegenden Felsen für die Kirche. 16,16 f gehört zum ersten Teil des „Diptychons“29 16,13–28. Sein zweiter Teil spricht in 16,21 vom kommenden Leiden Jesu,30 das Modell für das Leben der Jünger ist. Das Diptychon zeigt wiederum, daß der Gottessohn seinen Weg, von hier an den Weg in die Passion, in Gehorsam geht. Das verbale Bekenntnis des Petrus zum Gottessohn („vertikale Christologie“) bedarf einer Ergänzung durch ein „Bekenntnis des Lebens“: durch Gehorsam, Selbstverleugnung, Leiden, Martyrium. 4.3.4 Die Offenbarung von Jesu Gottessohnschaft in 17,5 auf dem Berg am Anfang des Weges nach Jerusalem erinnert an 3,17 und – antithetisch – an 4,8–10. Das wichtigste mt Interpretationselement sind V 6–8: Die Jünger halten die göttliche Offenbarung des Sohnes auf dem Berg nicht aus; sie fallen zu Boden. Es ist „Jesus allein“, der sie berührt, mit ihnen spricht, ihnen aufhilft und sie über seinen und ihren Weg ins Leiden unterrichtet (V 6–13). Einmal mehr ist die Gottessohnschaft durch den Weg interpretiert, den Jesus und die Jünger zu gehen haben. 4.3.5 Die Verhörszene vor dem Synhedrium 26,59–66 ist eine Gegenszene zu 16,13–20: 26,63 fragt der Hohenpriester im Namen des lebendigen Gottes, ob Jesus Gottes Sohn sei (ihm wird es nicht vom Vater offenbart!). 26,65 f handelt er als Richter gegenüber dem, der sich öffentlich als Menschensohn-Weltrichter offenbarte. 4.3.6 27,40–43 nehmen 26,59–66 antithetisch auf und machen klar, worin die Gottessohnschaft Jesu besteht: Nicht im Wunder, den Tempel in drei Tagen zu zerstören und wieder aufzubauen, sondern im Gehorsam und Vertrauen gegenüber Gott. Das grundlegende Denkmodell des Mt ist das des leidenden Gerechten (Ps 22; Sap Sal 2,18). 27,54 bildet den positiven Kontrast: Es ist der Tod des gerechten Jesus, der den heidnischen Hauptmann zum Bekenntnis führt, daß Jesus (in seinem gehorsamen Leben und Sterben!) Gottessohn „war“. 28 Vgl.

Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 17), 246 f. Lambrecht, ‚Du bist Petrus‘, SNTU 11 (1986), 5–32, dort 6. 30 Hier nicht: des Menschensohns. Das Fehlen des Titels resp. seine „Vorverlegung“ nach 16,13 macht die Zusammengehörigkeit der beiden Teile des Diptychons deutlich. 29 Jan

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III. Studien zum Matthäusevangelium

4.3.7 In 28,16–20 taucht abgesehen von der triadischen Taufformel kein christologischer Hoheitstitel auf. Jedoch klingen viele Motive früherer christologischer Schlüsseltexte wieder an (vgl. o. 1.2.1; 2.4; 3.4.2; 4.1.2; 4.3.1). Mt 28,16–20, die Endstation der mt Erzählung, zeigt so das Plus der mt erzählten Christologie gegenüber den christologischen Titeln. Matthäische Christologie ist mehr als ein semantisches Feld, das durch Titel gegliedert ist, welche die verschiedenen Aspekte dieses Feldes bestimmen. Sie ist eine Geschichte eines Menschen, in dem Gott „mit uns“ war und ist.

V. Schluss 5.1 Von den drei wichtigsten christologischen Titeln bei Mt hat „Davidssohn“ die begrenzteste Reichweite. Der Ausdruck „Menschensohn“ ist weiter, weil er die Geschichte Jesu nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und der Zukunft umfaßt. „Gottessohn“ ist insofern der grundlegendste mt Christustitel, als er nicht nur eine horizontale Dimension, Jesu Gehorsam in seinem Leben, sondern auch eine vertikale Dimension umfaßt, Jesu einzigartige Relation zum Vater. 5.2 Man kann aber nicht einfach einen einzelnen christologischen Titel als „hauptsächlichen“ Titel bezeichnen. Jeder von ihnen umfaßt besondere Aspekte gegenüber anderen und alle bezeichnen nur Aspekte der mt Christologie.31 Von der mt Jesusgeschichte her kann man eher sagen: „Christology is in the whole story“.32 5.3 Die Verbindung von horizontalen und vertikalen Aspekten in der mt Christologie, insbesondere in seinem Verständnis der Gottessohnschaft Jesu und in der Verbindung von Gottessohn‑ und Menschensohnaussagen, enthält bemerkenswerte Entsprechungen zur späteren kirchlichen Zweinaturenlehre.

31 Kritisch zu Jack D. Kingsbury, Matthew. Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia 1975, 82 f. 32 Dale C. Allison, The Son of God as Israel. A Note on Matthean Christology, IBSt 9 (1987), 74–81, dort 75.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangeliumals historisches und theologisches Problem. Eine Skizze1

Eduard Schweizer zum 80. Geburtstag Bei der Kommentierung des Matthäusevangeliums stehe ich nun vor seinen Schlußkapiteln. Zu ihnen gehört die Weherede über Pharisäer und Schriftgelehrte; zu ihnen gehört auch die Passionsgeschichte mit „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27,25). Es sind schmerzliche Kapitel, mit deren Inhalt ich mich viel weniger identifizieren kann als mit früheren Kapiteln des Evangeliums, z. B. der Bergpredigt. Ich versuche, diese schwierigen Kapitel in einem interdisziplinär angelegten Verstehensversuch anzugehen. Und ich versuche ein theologisches Gespräch mit diesem Schluß, bei dem ich selber ehrlich bleiben möchte.

I. Ein Gang durch das Matthäusevangelium Für mich ist die matthäische Jesusgeschichte eine Geschichte mit zwei Ebenen.2 Sie erzählt  – auf der Erzähloberfläche  – die vergangene Geschichte Jesu in  Eduard Schweizers Matthäuskommentar ist der beste und auch materialreichste der kürzeren Matthäuskommentare. Ich habe daraus sehr viel gelernt. Beim Problem des matthäischen Antijudaismus bin ich zu anders akzentuierten, für mich selber traurigen Resultaten gekommen. Trotzdem möchte ich diese Skizze meinem Lehrer zum Geburtstag schenken. Es gehört zu seinen großartigen Seiten, daß er sich immer freute, wenn seine Schüler anders dachten als er! – Der Begriff „Antijudaismus“ ist in dieser Skizze eine Notlösung, die die Sache nicht voll trifft. Ich verstehe darunter eine religiös motivierte Ablehnung des Judentums. Der Begriff trifft die Sache bei Matthäus insofern nicht, als Matthäus ja selbst Jude ist und in seinen Jesusgemeinden den Kern Israels sieht. Von „Antijudaismus“ kann man eigentlich erst bei Nichtjuden sprechen (also in bezug auf die Wirkungsgeschichte des Mt). Andererseits hat Matthäus durch seinen pointierten Gebrauch von Ἰουδαῖοι in 28,15 den Begriff „Antijudaismus“ vorbereitet. Ich weiß einfach keinen weniger unpassenden Begriff! – Der Aufsatz wird unverändert abgedruckt, bis auf eine Ausnahme: Im Teil I habe ich in der Skizze des Aufbaus des Mt-Ev die Verszahlen so eingesetzt, wie ich den Aufbau des Mt heute sehe. Für den Inhalt des Aufsatzes ist das unerheblich. 2 Vgl. dazu ausführlicher Ulrich Luz, Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: Gerald Hawthorne / ​Otto Betz (Hg.), Tradition and Interpretation in the New Testament (FS 1

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Israel, sein Wirken und seine Ablehnung bis zu seiner Hinrichtung und bis zum Missionsbefehl an die Heiden. Diese Geschichte Jesu schließt aber zugleich die Geschichte der matthäischen Gemeinde ein: Die matthäische Gemeinde ist, so denke ich, eine judenchristliche Jesusgemeinde, die aus Palästina stammt, dort früher Israelmission betrieben hat, daran gescheitert ist, schließlich, wahrscheinlich im Vorfeld des jüdischen Krieges 66–70, sich von den Synagogen trennen und Israel verlassen mußte, in Syrien eine neue Bleibe fand und dort anfing, Heidenmission zu betreiben. Weil die matthäische Geschichte Jesu diejenige der Gemeinde einschließt, nenne ich sie eine „inklusive“ Geschichte. Die Matthäusgeschichte war für ihre Leser / ​innen in den matthäischen Gemeinden nie eine bloß vergangene Geschichte, sondern sie war immer auch ihre eigene Geschichte, die sie selbst in ihrer eigenen Geschichte miterlebt hatten. Die Jesusgeschichte funktionierte als Grundgeschichte ihrer eigenen. Die Leser / ​innen waren „dabei“. Die matthäische Geschichte zerfällt in den Prolog und fünf Hauptabschnitte. Der Prolog (1,1–4,16) schildert nur auf der Oberfläche den Anfang der Geschichte Jesu, seine Kindheit und seine Anfänge bei Johannes in der Wüste. Daneben antizipiert er die ganze Geschichte des Gottessohns Jesus, seinen Weg aus Bethlehem, der Königsstadt Israels, in das Galiläa der Heiden (4,14–16). Der Prolog präludiert so auch die ganze Jesusgeschichte, die Matthäus nun erzählen wird. Der eigentliche Erzählfaden des Matthäusevangeliums, der mit 4,17 beginnt, erzählt in mehreren Abschnitten eine Geschichte zunehmender Konflikte Jesu in Israel. Der erste Abschnitt, 4,17–11,30, erzählt die Anfänge des Verkündigens und des Heilens des Messias Israels in seinem Volk, bis hin zur ersten Spaltung in die unbußfertigen Städte Israels und die „Unmündigen“, denen der Sohn den Vater offenbart (11,20–24. 25–30). Der nächste Abschnitt, 12,1–16,20, schildert in immer neuen Anläufen, wie sich Jesus und seine Jünger vor der zunehmenden Feindschaft der Führer Israels zurückziehen (ἀναχωρέω) (12,15; 14,13; 15,21; vgl. 16,4). Die Jüngergemeinde entsteht inmitten des immer feindlicher werdenden Israel. Der Abschnitt endet mit demjenigen Text, in dem zum ersten Mal vom Bau der Kirche die Rede ist, mit dem Petrusbekenntnis (16,13–20). Der folgende Hauptteil 16,21–20,34 skizziert folgerichtig, gleichsam in einer Ruhepause in der Geschichte Jesu vor dem Sturm, anhand der Jüngergemeinschaft das Leben der Gemeinde. Es folgen die beiden Schlußabschnitte Kapitel 21–25 und 26–28. Den ersten Abschnitt könnte man mit „die große Abrechnung mit Israel“ umschreiben. Nach dem Introitus setzt sich Jesus in drei großen Textblöcken mit Israel und seinen Führern auseinander: in den drei heilsgeschichtlichen E. Ellis), Grand-Rapids / ​Tübingen 1987, 152–159 (in diesem Band Nr. 15); ders., L’évangéliste Matthieu: Un judéo-chrétien à la croisée des chemins. Réflexions sur le plan narratif du premier évangile, in: Daniel Marguerat / ​Jean Zumstein (Hg.), La mémoire et le temps (FS P. Bonnard), Genève 1991, 81–92.

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Gleichnissen 21,28–22,14, in den Streitgesprächen gegen die jüdischen Gruppen 22,15–46 und in der großen Weherede Kap. 23. Dann verläßt er den Tempel Israels (24,1–2) und bereitet fortan nur noch die Gemeinde auf das Gericht vor (24,3–25,46). Den Schlußabschnitt bilden die Passions– und Ostergeschichten (26–28). Sie haben wiederum, wie schon frühere Abschnitte,3 einen doppelten Ausgang: Die Geschichte der Auferstehung Jesu (28,1–10) ist für Israel und seine Führer eine Geschichte des Todes: Sie erkennen die Wahrheit der Auferstehung Jesu „bis zum heutigen Tag“ (28,15) nicht. Diesem negativen Ausgang gegenüber steht die positive Linie: In der letzten Erscheinung auf dem Berge in Galiläa befiehlt der Herr Jesus seinen Jüngern, πάντα τὰ ἔθνη zu Jüngern zu machen und verheißt ihnen seine Gegenwart bis ans Ende der Welt (28,19 f). Die beiden Perikopen 28,11–15 und 16–20 markieren den doppelten Ausgang der matthäischen Geschichte in eine ausweglose Situation für die Juden und einen heilsgeschichtlichen neuen Auftrag für die Gemeinde. Damit ist Matthäus dort angekommen, wo seine eigene Gemeinde in seiner Gegenwart steht: Getrennt von Israel, außerhalb der Synagogen sucht sie eine neue Orientierung. Matthäus versucht sie ihr zu geben: Es ist der Verkündigungsauftrag an die Heiden, der fortan im Zentrum stehen soll. Die Zeit der Israelmission ist abgeschlossen. Sie war im Ganzen ein Fehlschlag, denn sie hat nicht dazu geführt, daß das Volk Israel sich durch Jesus zum Gottesreich führen ließ, sondern dazu, daß es – unter der Führung der Pharisäer – sich ohne Jesus neu konsolidierte. Statt auf den zwölf Thronen Israels zu sitzen, fanden sich die Jünger – sie sind im Matthäusevangelium Identifikationsfiguren für die Leser / ​innen – als Minorität außerhalb „ihrer Synagogen“ (4,23; 9,35; 10,17 u. ö.). Diese Erfahrung muß für die Gemeinde traumatisch gewesen sein; und die matthäische Version der Geschichte Jesu will den Gemeinden dazu helfen, dieses Trauma zu verarbeiten. Darum erzählt Matthäus die Geschichte Jesu als Geschichte Jesu mit Israel, als Geschichte zunehmender Feindschaft, als Geschichte der Trennung, des scheinbaren Siegs von Jesu Gegnern, aber auch als Geschichte der Abrechnung und des verborgenen Triumphs des kommenden Weltenrichters über seine Feinde.

II. Ein Blick auf Mt 21–28 Den Höhepunkt der Auseinandersetzung Jesu mit Israel erreicht Matthäus in Kap 21–28. Zu ein paar Kernstellen dieser Kapitel möchte ich nun einige vorläufige exegetische Vermutungen formulieren.4 3 Vgl.

bes. 11,20–30; 12,38–50; 16,1–20. genauere exegetische Begründung meiner Annahmen muß ich mir in diesem Rahmen weithin ersparen und dafür auf den dritten Band meines Matthäuskommentars vorausweisen. Der vorliegende Aufsatz ist dafür eine „Nullhypothese“, die ich testen möchte. 4 Eine

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II. 1 Kapitel 21–23 Für die matthäische Israeltheologie ist der Schluß zur Allegorie von den bösen Weingärtnern 21,43 wichtig: „Das Gottesreich wird von euch weggenommen werden und einem ‚Volk‘ (ἔθνος) gegeben werden, das seine Früchte bringt.“ Von wem wird das Gottesreich weggenommen? Ἀϕ̓ ὑμῶν bezieht sich im Kontext auf die jüdischen Führer.5 Allerdings paßt dazu schlecht, daß an ihre Stelle nicht andere Führer, sondern ein „Volk“ tritt. Ist also gemeint, daß an die Stelle des alten Heilsvolks Israel ein neues Heilsvolk tritt, das Früchte bringt? Die Wortwahl ἔθνος legt dabei vom bisherigen Sprachgebrauch des Matthäus her die Assoziation an die Heiden relativ nahe. Dafür spricht auch das Logion Mt 13,12 (= Mk 4,25), das Matthäus hier aufnimmt; dort ging es darum, daß dem Volk Israel diejenige Erkenntnis noch genommen werden soll, die es hat. – Ich denke, daß das Wort 21,43 gegenüber seiner Situierung in einer Rede Jesu an die jüdischen Führer einen Sinnüberschuß aufweist.6 Das Ganze der Matthäusgeschichte wird zeigen, daß das Verhalten der jüdischen Führer in den Augen des Evangelisten dramatische Konsequenzen für das ganze Volk hat, das ihnen folgte. In der folgenden Parabel vom Hochzeitsmahl des Königssohns deutet der Evangelist die Zerstörung Jerusalems als Gottes Gericht über die bösen Gäste, die seine Einladung abgelehnt hatten (22,7). Damit nimmt der Evangelist ein alttestamentlich und jüdisch geläufiges Deutungsmuster auf  – die Propheten, aber auch Josephus und die Rabbinen deuten die Zerstörung von Jerusalem als ein Gericht Gottes.7 Die Besonderheit des Matthäus besteht darin, daß auf die Zerstörung Jerusalems die Heidenmission folgt. An die ursprünglich Eingeladenen erfolgt keine Einladung mehr. Die Zerstörung Jerusalems ist also für Matthäus zwar nicht jüngstes Gericht, aber als ein innergeschichtliches Gericht Gottes geschichtlich folgenreich. Für die Interpretation des dritten Abschnittes der großen Abrechnung, der Weherede von Mt 23, ist wichtig, daß sich der Charakter der Rede mit dem Drohwort V 34–36 zu ändern scheint: Bis V 33 ging die Gerichtsankündigung nur an die Pharisäer und Schriftgelehrten. V 34–36 ist dies nicht mehr der Fall. Die 5 Vgl. V 23.45. Die ὄχλοι, die Jesus nach 21,11.46 für einen Propheten halten, werden von ihnen explizit unterschieden. 6 Außerdem werden die Leser / ​ innen die in V 33ff verwendete deuteronomistische Prophetenmordtradition kennen, die Israel anklagt. 7 Allerdings nicht wegen der Ablehnung der Boten Jesu, sondern wegen der Untaten der Zeloten (Josephus bell 6,109 f; vgl. 124ff). Wichtig ist ferner OrSib 4,115–118 (Hinweis von Wolfgang Schrage) und bSchab 119 b, ein Abschnitt, der eine Reihe von Zeugnissen von Rabbinen enthält, um welcher Sünden Israels willen Jerusalem zerstört wurde (Hinweis von Frau O. Franz). Die in prophetischer Tradition formulierte Stelle Mt 22,7 ist wirkungsmächtig: Eine lange Reihe von Kirchenschriftstellern seit Origenes, Cels 1,47; 4,22 und Tertullian, Adv Jud 13 = PL 2, 678 sieht in der Zerstörung Jerusalems und in der Vertreibung der Juden aus dem Land die göttliche Strafe für die Kreuzigung Jesu.

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christlichen Propheten, Weisen und Schriftgelehrten, von denen V 34 handelt, sind ja nicht nur zu den jüdischen Führern gesandt worden.8 Deshalb werden die Leser / ​innen des Matthäus bei der Gerichtsankündigung an „diese Generation“9 in V 35 f den Blick weiten und sie als eine Gerichtsankündigung an ganz Israel verstehen. Hier liegt das Ziel des Kapitels. Matthäus will sagen, daß das ganze, von seinen falschen Führern verleitete Volk gerichtet werden wird. Der Übergang von den Führern zum ganzen Volk ist fließend. Der von Matthäus hierher versetzte Schluß der Weherede, das Jerusalemwort 23,37–39, bestätigt, daß der Evangelist das ganze Volk im Blick hat. Wieder ist hier die Zerstörung Jerusalems als göttliche Strafe interpretiert. V 39 („Ihr werdet mich von jetzt an nicht mehr sehen, bis ihr sagt: Gepriesen, der kommt im Namen des Herrn“) möchte ich trotz aller Schwierigkeiten auf die Parusie des Gerichtsherrn und nicht auf eine Bekehrung Israels deuten.10 Wenn Jesus dann unmittelbar darauf mit seinen Jüngern den Tempel, der zerstört werden wird, verläßt und von nun an nie mehr zu den Volksmassen redet, paßt das zur düsteren Perspektive. II. 2 Die Passionsgeschichte In der Passionsgeschichte fällt auf, wie oft und wie auffällig der Evangelist Geschichte fingiert: Die Fiktionen betreffen gerade für unser Thema wichtige Stellen. Ich rechne damit, daß die Episode von der zweiten Unschuldszeugin, der Frau des Pilatus (27,19), und die Episode vom Händewaschen des Pilatus (27,24 f) reine Fiktionen des Evangelisten sind, ohne jeden Anhalt an der Tradition.11 Im letzteren Fall ist der fiktive Charakter besonders grotesk: Daß der Heide Pilatus einen jüdisch-biblischen Entsühnungsritus – das Händewaschen – vollzieht, muß für die judenchristlichen Leser / ​innen auffällig gewesen sein. Ich weiß nicht, ob Matthäus erwartete, seine Leser / ​innen nähmen dies als bare Münze; jedenfalls funktionierte diese groteske Episode als Ausrufezeichen für das, was Matthäus sagen wollte: Zusammen mit den jüdischen Führern, die Jesu  Hier denken die Leser / ​innen wiederum an die ihnen bekannte deuteronomistische Prophetenmordtradition.  9  Vgl. 11,16; 12,39–45; ἡ γενεὰ αὕτη ist am besten mit „diese Generation“ zu übersetzen, vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Zürich / ​Neukirchen 1990, 187 f. Gerade 23,36 zeigt aber, daß Matthäus mit der im Hintergrund stehenden Prophetenmordtradition der Meinung war, daß die Tötung Jesu nur das letzte Glied in einer endlosen Kette von bösen Taten ist, die Israel immer gegenüber seinen Propheten begangen hat. Darum kann er 23,36 in 27,25 mit πᾶς ὁ λαός aufnehmen. 10 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 290, denkt mit vielen anderen an die Möglichkeit einer endzeitlichen Bekehrung Israels in der Art von Röm 11,25 f. Dagegen spricht der düstere Kontext 23,38; 24,1 f. Dale C. Allison, Mt 23,29 = Lk 13,35 b as a Conditional Prophecy, JSNT 18 (1983), 75–84, versteht V 39 als Heilsbedingung: Israel wird Jesus erst wieder sehen, wenn es ihn mit den Worten von Ps 118 begrüßt. Gegen diese an sich verlockende Deutung von ἕως sprechen aber Mt 5,18.26; 16,28; 24,34. 11 Vgl. dazu Ulrich Luz, Das Problem der Fiktivität im Matthäusevangelium, ZNW 84 (1993), 153–177 (in diesem Band Nr. 18).  8

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Tod betreiben, übernimmt daraufhin das ganze heilige Volk (λαός) die Schuld für den Tod dessen, der nach dem Zeugnis dreier Zeugen, des Judas, der Frau des Pilatus und des Pilatus selbst, unschuldig ist. 27,25 weist außerdem zurück auf 23,34–36. So ist deutlich, daß das Gericht Gottes über diese Tat Israels nicht ausbleiben wird. Trilling bezeichnet unsere Stelle mit Recht als ein erzähltes „dogmatisches Theologumenon“;12 es ist eine für den Ablauf der Matthäusgeschichte entscheidende Stelle. Sehr schwierig sind die Notizen von den Zeichen bei Jesu Tod 27,51–53; die Erscheinung der auferstandenen Toten in Jerusalem. Ich verstehe diese Stelle ähnlich wie die davon beeinflußte Stelle TestLev 4,1: „Wenn die Felsen sich spalten, die Sonne sich verfinstert …, der Hades beraubt wird“: dann ist die Zeit des Gerichtes über alle Söhne der Menschen da. Es geht hier um mehr als um ein Vorzeichen beim Tod eines religiösen Heros; die Auferstandenen sind ein Signal des Gerichts.13 Nachdem der Hohepriester den Menschensohn, also den Weltrichter, richtete (26,64 f), kehrt sich nun das Blatt um. Das kommende Gericht über die heilige Stadt und ihren Tempel steht hier wie ein Fanal. Die beiden Abschnitte von den Grabwächtern 27,62–66 und 28,11–15 sind ganz eng mit dem gesamten Kontext des Matthäusevangeliums verflochten: Hier kommt Jesu Wort vom Jonazeichen (12,38–40) zu unheilvoller Wirkung. Vergeblich wehren sich die jüdischen Führer – Matthäus fügt die Pharisäer ein – dagegen, daß „jener Betrüger“ nach drei Tagen wieder aus dem Schoß der Erde aufsteht. Die Auferstehung Jesu läßt sich nicht durch Grabwächter und Versiegelung des Grabes verhindern. Sie wird, wie Paul Hoffmann formulierte, zum unheilvollen „Zeichen für Israel“.14 Die Geschichte vom Judaslohn wiederholt sich: Den Hohenpriestern bleibt nur noch die Pseudomacht des Geldes angesichts der Tatsache der Auferstehung Jesu, nämlich die Bestechung der Wächter. Die jüdischen Führer agieren und übernehmen alle Verantwortung; Pilatus dankt als aktiv die Geschicke bestimmende Figur ab. Diese Episode endet mit dem ersten Ausblick des Evangelisten auf die Gegenwart: Das Gerücht vom Leichendiebstahl bleibt bei denen, die nun „Juden“ heißen, bis zum heutigen Tag (28,15). Den zweiten Ausblick auf die Gegenwart enthält dann die ebenfalls vom Evangelisten ganz selbständig formulierte Schlußperikope 28,16–20: Der auferstandene Herr bleibt mit seiner nun zu den Heiden gesandten Gemeinde bis ans Ende der Welt (28,20). Für das Verständnis ist entscheidend, ob πάντα τὰ ἔθνη hier mit „alle Völker“ oder mit „alle Heiden“ zu übersetzen ist. Ich 12 Wolfgang

Trilling, Das wahre Israel, EThSt 7, Leipzig 31975, 72.

13 Μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ ist weder bei dieser, noch bei der Deutung der Stelle als ein bloßes

Prodigium sinnvoll. Schweizer, Mt (o. Anm. 10), 337 f, hat m. E. mit Recht eine Glosse eines Späteren vermutet (vgl. 1 Kor 15,20–28; Kol 1,18 usw.). 14 Paul Hoffmann, Das Zeichen für Israel. Zu einem vernachlässigten Aspekt der matthäischen Ostergeschichte, in: ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, WdF 522, Darmstadt 1988, 416–452.

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neige zu einer Deutung auf „alle Heiden“. So entspricht es 1. dem judengriechischen Sprachgebrauch und 2. der Bedeutung, die das Wort an den meisten matthäischen Stellen hat. So paßt es 3. auch in den Kontext: Die Gesamtheit der Heiden, zu deren Missionierung sich nun die Jünger aufmachen sollen, steht in Opposition zu „Juden“15 (28,15), die „bis heute“ im Unglauben bleiben. Verstärkt wird diese Opposition 4. dadurch, daß der Missionsbefehl bewußt auf den früheren Befehl Jesu an die Jünger, nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu gehen (10,5 f), zurückgreift und ihn korrigiert.16 Ἔθνη muß in 10,5 und in 28,19 dasselbe heißen.17 Ich würde also hier mit „macht alle Heiden zu Jüngern“ übersetzen. Das heißt: Für die matthäische Gemeinde ist nun die Zeit der Israelmission abgeschlossen; sie wendet sich an der Stelle Israels den Heiden zu. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß weiterhin einzelne Juden zu Jesus kamen und kommen; aber die Zeit der Israelmission ist für das Matthäusevangelium nun definitiv vorbei. So entspricht es der Parabel vom Gastmahl in Kap. 22 und dem Logion 21,43. Ich formuliere als exegetisches Fazit: 1. Die Matthäusgeschichte endet damit, daß nicht nur die jüdischen Führer, sondern auch das heilige Volk zusammen mit ihnen Jesus abgelehnt hat (23,34– 39; 27,24 f). Dieses Nein führt Israel in einen Widerspruch zu seiner eigenen Bibel und seine Führer in Lüge und Betrug. 2. Das bedeutet, daß für Matthäus Israel aufhört, eine Verheißung zu haben (21,43). Die Kirche tritt sein Erbe als erwähltes Volk an, sofern sie Jesu Gebote hält. 3. Aus der Sicht des Matthäus ist die Israelmission zu Ende; Israels Nein hat für ihn für die kurze noch kommende Weltzeit definitiven Charakter. Jesus selbst hat die heilige Stätte verlassen (23,37–39; 24,lf); seine Jünger folgen ihm. 4. Die Schuld Israels sieht der Evangelist darin, daß es Jesus und seine Boten abgelehnt hat (11,20–24; 12,22ff; 21,33–22,7; 23,29–39) und Jesus tötete  Immerhin sagt der Evangelist nicht: „die Juden“ oder gar „alle Juden“. Darauf verweist besonders Hildegard Gollinger, „… und diese Lehre verbreitete sich bei Juden bis heute“. Mt 28,11–15 als Beitrag zum Verständnis von Israel und Kirche, in: Lorenz Oberlinner  / ​ Peter Fiedler (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt (FS A. Vögtle), Stuttgart 1991, 370. 16 Zur Deutung von 10,5 f vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 9), 90–93. Ich rechne nicht damit, daß die ganze Aussendungsrede Mt 10 nur „Rückblick“ auf die Zeit Jesu ist; dies gilt lediglich für V 5 f und V 23, die die Rede in der Geschichte Jesu situieren – nach Jesu eigenem programmatischem Wirken „im (heiligen) Volk“ (4,23). 17 Dem gegenüber scheinen mir die Gegenargumente weniger gewichtig. Sie lauten: 1. Die beiden Bedeutungen von ἔθνη funktionieren nicht als Homonyme, die sich ausschließen (wie etwa im Deutschen die beiden Bedeutungen von „Schloß“). Dagegen spricht aber, daß an der Rückbezugsstelle 10,5 die ἔθνη in Opposition zu Israel stehen. 2. Πάντα τὰ ἔθνη muß von bloßem ἔθνη unterschieden werden und schließt Israel ein. Dieses Argument hat Gewicht, da mindestens in 25,32 ein Israel ausschließendes Verständnis der Wendung nicht wahrscheinlich ist. Auch 24,9.14 bleiben unsicher. In 28,19 determinieren aber die Oppositionen im Makrokontext (10,5 f) und im Mikrokontext (28,15) die Bedeutung. 15

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(27,24 f), in einem weiteren Sinn darin, daß seine Repräsentanten Gottes Willen nicht halten (vgl. Mt 23 passim). 5. Gegenüber Israel kündigt Jesus das kommende Gericht in Wort und Geste (Mt 24,lf) an. Gerichtszeichen geschehen beim Tod Jesu (27,51–53) und in der Gegenwart (22,7). „Diese Generation“ wird zum Unheilskollektiv, das dem in Kürze bevorstehenden Strafgericht Gottes nicht entgehen wird.

III. Historische und humanwissenschaftliche Überlegungen Was ist hier geschehen? Wir versuchen das Furchtbare, das sich hier zeigt, historisch und humanwissenschaftlich zu verstehen. III. 1 Der „Familienkonflikt“ Ich denke, daß der matthäische Antijudaismus aus der Situation eines „Familienkonflikts“ stammt.18 Ich greife sozialwissenschaftlich zu einer Konflikttheorie, die zur Erklärung helfen soll. Ein Grundproblem des Matthäusevangeliums besteht ja darin, daß es eine große Zahl scheinbar widersprüchlicher Traditionen über das Verhältnis Jesu und der Gemeinde zu Israel enthält, nämlich einerseits judenchristliche Überlieferungen wie 5,17–20; 10,5 f; 23,2 f, andererseits schroff antijüdische Texte wie 8,llf, 23,29–36; 27,24 f. Dieses Nebeneinander scheinbar konfligierender Elemente kann man humanwissenschaftlich durch Integrations‑ oder durch Konflikttheorien erklären. Möglichkeiten integrativer Erklärungen schlagen Gerd Theißen und sein Schüler Kun-Chun Wong vor: Für sie ist die matthäische Gemeinde aus Juden‑ und Heidenchristen zusammengesetzt, und der Evangelist versucht, durch Aufnahme verschiedener Traditionen die multikulturelle Identität der Gemeinde zu stabilisieren.19 Antonio Saldarini versteht die matthäische Gemeinde als eine „abweichende“ Minoritätsgemeinde innerhalb einer funktionierenden jüdischen Gesellschaft20 und sieht das Matthäus18 Rosemarie Ruether, Nächstenliebe und Brudermord. Die Wurzeln des theologischen Antisemitismus, München 1978, 35, unterscheidet richtig zwischen dem allgemeinen antiken Antisemitismus und dem spezifischen christlichen Antijudaismus, den sie als „Familienhaß“ beschreibt, der mit „rivalisierenden Absolutheitsansprüchen innerhalb desselben religiösen Systems“ zu tun habe. Vgl. den Titel ihres Buches: Nächstenliebe und Brudermord! 19 Gerd Theißen, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: Erhard Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen 1990, 538 Anm. 10. – Kun-Chun Wong, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium, NTOA 22, Fribourg/ Göttingen 1992. Ähnliche Ansätze vertrat schon früher Kenzo Tagawa, People and Community in the Gospel of Matthew, NTS 16 (1969/70), 149–162. 20 Antonio J. Saldarini, The Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict, in: David Balch (Hg.), Social History of the Matthean Community. Cross Disciplinary Approaches, Minneapolis 1991, 38–61, geht von einer funktionalistischen Abweichungs‑ (deviance) Theorie aus (vgl. bes. 45 f). Dies ergibt sich folgerichtig aus seiner These, daß die matthäischen Ge-

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evangelium als Versuch, die zwischen dem Judentum und einem völlig außerhalb des Judentums liegenden christlichen Selbstverständnis liegende „deviant identity“ der Gemeinde zu stabilisieren.21 Ich würde im Gegensatz zu ihnen einer Konflikttheorie für die Erklärung den Vorzug geben. Der exegetische Grund liegt für mich darin, daß das Matthäusevangelium die Geschichte eines Konfliktes erzählt, des Konfliktes Jesu mit seinem Volk Israel und seinen Führern, der in einer Katastrophe endet.22 Man darf m. E. die „jüdischen“ und antijüdischen Elemente des Matthäusevangeliums nicht einfach nebeneinander stellen, sondern muß zunächst nach ihrer Funktion in der matthäischen Erzählung fragen. Vom Ende der Erzählung her scheint mir aber deutlich, daß die antijüdischen Momente und der Bruch mit dem Judentum dominieren und daß keine Integration mehr stattfindet. Das Matthäusevangelium repräsentiert für mich eine judenchristliche Gemeinde, die im Konflikt mit dem Hauptstrom des Judentums aus dem Synagogenverband hinausgedrängt worden ist und nun auf „ihre“ bzw. „eure“ Synagogen und Schriftgelehrten (d. h. die der anderen!) blickt.23 Der harte Konflikt zwischen ihr und den Führern Israels, den das Evangelium spiegelt, ist also ein „Familienkonflikt“. Das ist durchaus plausibel: Sozialwissenschaftlich hat Lewis Coser gezeigt, daß Konflikte zwischen Gruppen umso stärker sind, je enger die Beziehung zwischen ihnen war.24 Dies trifft noch mehr zu, wenn die betreffenden Gruppen einen sektenähnlichen Charakter haben. Ich verstehe im Anschluß an Max Weber als wesentliches Merkmal einer Sekte dies, daß sie eine auf einer freien meinden noch Teil des jüdischen Synagogenverbandes sind. „Deviance processes, far from driving a group out of society, often keep it in. Social theory has established that nonconformity, resistance to social structures, and deviance are always part of any functioning society“ (38 f). Obwohl er die Frage, ob Mt noch jüdisch sei, zurückweist, kommt er zum Schluß, daß die matthäische Gemeinde nicht nur „many symbolic elements“, sondern auch „numerous negative and positive relations“ mit der jüdischen Gemeinde gemeinsam habe (40). Saldarinis These paßt ausgezeichnet zu der Funktion, die Minoritäten in der heutigen offenen, pluralistischen Gesellschaft der USA idealerweise haben! 21  A. a. O. 57. 22 Vgl. oben Abschnitt I. 23  Vgl. unten III 2. Forschungsüberblick über die Diskussionslage bei Graham Stanton, The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel: Matthean Scholarship from 1945–1980, ANRW 25/3, 1985, 1910–1921. Zu meiner eigenen Position, die sich mit derjenigen Stantons deckt, vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich / ​Neukirchen 21989, 59–72. Ähnlich wie ich beurteilen das Problem auch Wayne A.  Meeks, Breaking Away: Three New Testament Pictures of Christianity’s Separation from the Jewish Communities, in: Jacob Neusner / ​Ernest S. Frerichs (Hg.), „To see ourselves as others see us“. Christians, Jews, „Others“ in Late Antiquity, Chico 1985, 108–114, und Benno Przybylski, The Setting of Matthean Anti-Judaism, in: Peter Richardson u. a. (Hg.), Paul and the Gospels, Antijudaism in Early Christianity I, Waterloo 1986,181–200, der auch auf L. Coser (vgl. u. Anm. 24) verweist. 24 Lewis A. Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied / ​Berlin 1972, bes. 78–84, im Anschluß an Georg Simmel. Vgl. auch Graham Stanton, Matthew in Sociological Perspective, in: ders., A Gospel for a New People, Edinburgh 1992, 98–104.

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Vereinbarung beruhende sichtbare Gemeinschaft der Heiligen ist,25 während man zu einer Kirche qua Geburt einfach dazugehört. So ist deutlich, warum „Familien-Konflikte“ unter verwandten Sekten so intensiv sind: Eine Sekte bedarf einer Selbstdefinition als Grundlage ihrer Existenz. Solche Selbstdefinitionen konkurrieren mit denjenigen anderer, verwandter Gruppen. Die frühe christliche Kirche hatte Sektencharakter. Sie definierte sich von der Verkündigung Jesu her und präzisierte diese Selbstdefinition in ihrem Konflikt mit dem Judentum. Die These, daß Familienstreite die härtesten Streite sind, trifft also nicht nur für Familien zu. Wir können ja im Neuen Testament generell beobachten, daß diejenigen Autoren, die durch besonders harte Urteile über die Juden auffallen, allesamt Judenchristen sind, nämlich Matthäus, Johannes und die Verfasser des Hebräerbriefs und der Apokalypse. III. 2 Die Verarbeitung eines Traumas Meine zweite These geht dahin, daß Matthäus und seine judenchristliche Gemeinde schmerzhafte Erfahrungen verarbeiten. Vielleicht kann man sie individualpsychologisch deuten als in Gestalt von verbaler Aggression nach außen gewendete Trauer. Sozialpsychologisch ist sie in Gestalt von verbaler Aggression nach außen gewendete Frustration.26 Das Matthäusevangelium nennt solche Frustrationserfahrungen: Es spricht von Verfolgungen (5,11 f; 10,23; 23,34), welche die Missionare von jüdischer Seite erfahren haben. Es spricht auch von Martyrien, die geschehen sind (10,21.28; 22,6; 23,34.37), von Auspeitschungen und Überlieferungen an heidnische Gerichte (10,17 f). In der Aussendungsrede spricht es von der Spaltung der Familien, besonders der Spaltung zwischen den Generationen (10,34–37). Damit verbunden ist vertikale soziale Mobilität, vermutlich oft ein sozialer Abstieg und Ungesichertheit der Christ / ​ innen gewordenen Familienglieder. Vertikale Mobilität erhöht, so lehren uns die Sozialwissenschaftler, die Neigung zu Vorurteilen gegenüber „den anderen“.27 Die Texte, die ich genannt habe, stehen in der Logienquelle; ich nehme an, daß die matthäische Gemeinde aus der Missionstätigkeit der Jesusboten, die hinter der Logienquelle stehen, entstanden ist; die Logienquelle spiegelt die eigene Geschichte der Gemeinde. 25 Max

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Nachdruck Tübingen 1980, 721 f. Konstitutiv für den Begriff der „Sekte“ ist also nicht, daß sie eine Minorität im Gegenüber zu einer „normativen“ Majorität ist. 26 Klassisch: John Dollard u. a., Frustration and Aggression, London 1944. Vgl. ferner Amélie Mummendey, Aggressives Verhalten, in: Wolfgang Stroebe u. a. (Hg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung, Berlin u. a. 1990, 280 f. – Werner Bergmann, in: ders. (Hg.), Error without Trial. Psychological Research on Antisemitism, Current Research on Antisemitism 2, Berlin 1988, 20–25. 27 Vgl. Werner Bergmann, Group Theory and Ethnic Relations, in: ders. (Hg.), a. a. O. (Error), 155 f, mit Bezug auf Bruno Bettelheim und Morris Janowitz, Social Change and Prejudice, London 1964, 29–34.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium

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Nun muß man allerdings vorsichtig sein. Die schöne Untersuchung von Douglas Hare hat gezeigt, daß solche ganz dramatischen Verfolgungserfahrungen relativ selten gewesen sein dürften. Erst unmittelbar vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges mögen Auspeitschungen oder gar Hinrichtungen vorgekommen sein.28 Die matthäischen Texte selbst lassen durchblicken, daß solche negativen Erfahrungen vor allem die Verkündiger und Missionare, nicht unbedingt jedermann und jedefrau betrafen.29 Durch ihre schroffe Jesusverkündigung provozierten sie solche Vorkommnisse in gespannter Situation. Warum haben solche einzelnen negativen Erfahrungen ein derartiges Gewicht bekommen? Das hängt m. E. mit der Trennung von Gemeinde und Synagogen zusammen. Im Matthäusevangelium haben wir zwar, anders als bei Johannes, keinen direkten Hinweis auf einen formellen Synagogenausschluß.30 Andererseits ist der Konflikt mit der nicht-jesusgläubigen Mehrheit Israels für Matthäus so wichtig, daß er seine Jesusgeschichte als Geschichte eines Konflikts Jesu in Israel erzählt.31 Und diese Sicht der Jesusgeschichte verstärkt wiederum das Gewicht der Auseinandersetzungen mit Israel in der Geschichte und der Gegenwart seiner Gemeinde. Obwohl Matthäus seine eigene Gemeinschaft vermutlich als Kern des von Gott gewollten Israel, also als „wahres Israel“ definiert hätte, kennt er bereits eine neue Bezeichnung für sie: „meine (d. h. Jesu) Kirche“ (16,18). Die Verfolgungen und Diskriminierungen, die Matthäus den jüdischen Führern vorwirft, waren für ihn deswegen so schmerzhaft, weil ihr Resultat die Trennung vom Judentum war: Seine eigene Gemeinde definierte sich mindestens zum Teil von denselben Traditionen her wie andere jüdische Gruppen: von Gesetz und Propheten. Sie definierte sich als dasselbe wie andere jüdische Gruppen: als das durch die zwölf Jünger repräsentierte Zwölf-Stämmevolk Israel, als ‫קהל‬, als die Versammlung des Gottesvolks. Für sie bestand kein Konflikt zwischen Jesus und dem Erbe Israels. Und dennoch kam es zum Konflikt, sodaß sie gezwungen war, ihre eigene Identität von Jesus, dem Gesetz und den Propheten her gegen andere zu definieren, die sie ihnen streitig machten. III. 3 Der „Geschwisterkonflikt“ Normalerweise neigt man dazu, den Konflikt der matthäischen Gemeinde als einen Konflikt mit der Mutterreligion Judentum darzustellen. Die matthäische 28 Douglas A. Hare, The Theme of Jewish Persecution of Christians in the Gospel according to St. Matthew, SNTS.MS 6, Cambridge 1967, 19–79. 29 5,11 f: Propheten; 23,34: Propheten, Weise, Schriftgelehrte; 10,16–23: das μαρτύριον ablegende Jünger, vgl. 10,32 f. 30 Eduard Schweizer, Christus und Gemeinde im Matthäusevangelium, in: ders., Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974, 11. 31 In meiner eigenen Sicht des Verhältnisses zwischen Matthäus und dem Judentum weiß ich mich besonders Schweizer, a. a. O. (Gemeinde), 9–13, und Stanton, Gospel (o. Anm. 24) 113–168, verbunden.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Gemeinde wäre also die rebellische Tochter, das pharisäisch-rabbinische Judentum die Mutter. Andrew Overman hat den m. E. besseren Vorschlag gemacht, das damalige Judentum insgesamt als im Übergang zwischen „sektiererischem“ und „normativem“ Judentum zu verstehen.32 In der Tat ist das Judentum zurzeit Jesu weithin „sektiererisch“. Es war von miteinander rivalisierenden Gruppen bestimmt, die in verschiedener Weise sich gegeneinander abschlossen und dazu neigten, sich selbst als sichtbaren Rest, Kern oder Zentrum Israels zu definieren. Dazu gehörten die Essener, die Pharisäer, die Sadduzäer als Repräsentanten der Priesterklasse, die Zeloten als religionspolitische Elite und vielleicht auch verschiedene quietistisch-pietistische apokalyptische Gruppen.33 Die Religionsgeschichte des Judentums mindestens seit der makkabäischen Zeit ist eine Geschichte gegeneinander konkurrierender Selbstdefinitionen jüdischer „Sekten“. Es ist eine Geschichte voller innerjüdischer Polemik. In dieser Vielzahl von Sekten war das Judenchristentum auch eine der Sekten, die versuchten, das wahre Israel zu repräsentieren.34 Die Entwicklung vom ersten zum zweiten und dritten Jahrhundert ist nach Andrew Overman, der hier stark von Jacob Neusner bestimmt ist, im Groben die von einem sektiererischen zu einem normativen Judentum.35 Das normative Judentum des zweiten und späterer Jahrhunderte ist im Wesentlichen durch die Rabbinen, mittelbar durch die Pharisäer bestimmt. Vor 70 gab es m. E. unter den verschiedenen jüdischen Sekten abgesehen von den Zeloten zwei, die in hervorragender Weise Möglichkeiten bzw. den Willen hatten, „mehrheitsfähig“ zu werden: der Pharisäismus und die Jesusbewegung. Die Pharisäer schlossen sich gerade nicht gegenüber dem Volk ab. Sie versuchten, die Torah an das Leben anzupassen. Von da her hatten sie eine starke Nähe zu praktischen Problemen des Alltags. Für die Jesusbewegung ist wichtig, daß Jesus selbst ja in gewisser Weise ein religiöser Sprecher der bisherigen „Mehrheit“, nämlich des Am-haaräz war. Auch seine Verkündigung hatte einen sehr konkreten Alltagsbezug, und seine Boten versuchten, das ganze Volk Israel zu Gott zu rufen. In dieser Nähe zwischen Pharisäern und Jesusanhängern liegt der Grund, warum der Konflikt zwischen ihnen besonders schroff war. Beide versuchten, sich selbst als Israel zu definieren. Beide taten das auf ganz verschiedene Weise. Die Pharisäer haben diesen Kampf im Wesentlichen gewonnen, die Jesusbewegung 32 J. Andrew Overman, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990, bes. 6–34. 33 Vgl. den wichtigen Aufsatz von Joseph Blenkinsopp, Interpretation and the Tendency to Sectarianism: An Aspect of the Second Temple History, in: Ed P. Sanders (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition. Bd. 2, London 1981, 1–27. 34 „Sekte“ ist also nicht als eine Minderheit zu bestimmen, die sich gegenüber einer Mehrheit abgrenzt; ein definiertes „Mehrheitsjudentum“ gab es damals – abgesehen vom Am-haaräz, der sich nicht definierte, sondern definiert wurde – gar nicht. 35 Overman, Matthew’s Gospel (o. Anm. 32), 35–71.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium

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hat ihn verloren.36 Anders gesagt: Den Pharisäern, respektive ihren rabbinischen Nachfolgern glückte es wirklich, über sich selbst Israel zu definieren. Die Jesusanhänger dagegen konnten nur sich selbst als Israel definieren. Ich denke also, man müsse den Konflikt zwischen Matthäus und dem Judentum nicht oder nicht nur als einen Mutter-Tochter-Konflikt, sondern vor allem als einen Konflikt rivalisierender Geschwister verstehen. Dieser Konflikt war hart. Die Urteile neutestamentlicher Verfasser, wie etwa des Matthäus oder des Johannes, über seine nicht an Jesus glaubenden Mitjuden sind bekannt. Entsprechende jüdische Urteile über die Judenchristen gibt es kaum. Die Synagogen hatten seit dem Ende des ersten Jahrhunderts (?) im Achtzehnbittengebet die Verfluchung der „Minim“, also der Dissenter. Ihr Resultat war, daß z. B. Judenchristen am Synagogengottesdienst nicht mehr teilnehmen konnten, während für Heidenchristen natürlich der Besuch der Synagoge immer möglich war.37 Nur Judenchristen gehörten zu den Minim. Aber es ist ganz verständlich, daß nun die unterlegene Minorität, also die jüdischen Jesusanhänger, sich explizit in Abgrenzung gegenüber der Mehrheit definieren mußte.38 Sie definierten sich im Namen Jesu als die wahren Erben von Gesetz und Propheten und mußten dabei explizit sagen, wer die wahren Erben von Gesetz und Propheten nicht waren. Darum wurde der Antijudaismus Teil der christlichen Selbstdefinition. Das soziologisch zur „Kirche“ werdende Mehrheitsjudentum brauchte die unterlegenen Judenchrist / ​innen für seine Selbstdefinition nicht. Eine Mehrheit definiert sich in der Regel nicht in Abgrenzung gegenüber einer Minderheit. Darum schweigen die rabbinischen Quellen in so hohem Maße über die Judenchristen.39 Die Judenchristen aber brauchten den Antijudaismus als Teil ihrer Selbstdefinition. Als der auferstandene Herr die Judenchristen der matthäischen Gemeinden zu den Heiden sandte, nahmen sie diese antijüdische Identität mit, und als auch das Christentum zur „Kirche“, nämlich zur Heidenkirche geworden war, war der Antijudaismus Teil seiner kanonischen Tradition.

36 Ich würde vom Neuen Testament her den Anteil der Pharisäer am späteren normativen Judentum höher veranschlagen als Jacob Neusner. 37 Lawrence H. Schiffman, Who was a Jew, Hoboken 1985, 64ff; vgl. v. a. TosHullin 2. Wichtig ist Reuven Kimelman, Birkat-Ha-Minim and the Lack of Evidence for an AntiChristian Jewish Prayer in Late Antiquity, in: Sanders, Self-Definition Bd. II (o. Anm. 33), 226–244, bes. 228–232. – A. a. O. 244 macht er deutlich, daß sich der Ausdruck „Minim“ nicht auf Christen überhaupt, sondern nur auf heterodoxe Juden (und damit auch auf Judenchristen) beziehen kann. 38 Vgl. dazu Henri Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil, Bern 1982, bes. 143 ff. – Bergmann, Group Theory (o. Anm. 27), 144: Die Selbstdefinitionen der Mehrheit und der Minderheit sind voneinander abhängig. 39 Türken definieren sich nicht als Nicht-Kurden, Rumänen nicht als Nicht-Ungarn usw. Eher neigt die Mehrheit dazu, die Existenz der Minderheit durch Verschweigen zu negieren.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

III. 4 Vorurteile Die matthäischen Urteile über die Pharisäer und Schriftgelehrten in Kap. 23 entsprechen nicht oder nur am Rand der Realität. Sie funktionieren in der eigenen Gemeinde als ethische Negativdefinitionen dessen, was man in den Augen Jesu nicht sein darf.40 Im Blick auf die Juden sind sie Vorurteile. Als Vorurteile haben sie aber wiederum eine wichtige Funktion für die eigene Identität. Als Minorität mußten sich die Judenchristen abgrenzen. Abgrenzung aber erhöht den eigenen Zusammenhalt. Jeder Konflikt führt „zu größerem Gruppenzusammenhalt“.41 Vorurteile sind nicht nur eine Waffe,42 sondern sie schützen auch die unterlegene Gruppe „vor Angst und Selbstkritik, stabilisieren das Selbstwertgefühl und ermöglichen … Aggressionsabfuhr in sozial gebilligter Form“.43 Wenn sich die eigene Gruppe gegenüber einer fremden Gruppe abgrenzen kann, wenn sie gegenüber der Fremdgruppe weiß, daß sie selbst besser ist (Mt 5,20!), so stärkt das ihre Stabilität und ihr Selbstwertgefühl. Vorurteile sind Negativpattern, die eine einfache kognitive Orientierung in einer komplexen Situation ermöglichen. Und eben dies hatten die matthäischen Gemeinden in ihrer Situation des Umbruchs, der Umorientierung und der Heimatlosigkeit besonders nötig. Sie brauchten ihre antijüdischen Vorurteile auf ihrem schwierigen Weg zu den Heiden. Und so ist es mutatis mutandis lange geblieben. III. 5 Ein Nachentscheidungskonflikt Die matthäische Gemeinde hat den Synagogenverband verlassen. Ihre Mitglieder hatten sich zu entscheiden zwischen ihren jüdischen Brüdern, Schwestern, Vätern und Müttern, zwischen ihren alten Äckern und Häusern, und der Gemeinde (19,29). Sie hatten sich zu entscheiden zwischen ihrem Glauben und der Loyalität gegenüber der neuen Gemeinschaft und der Loyalität gegenüber der Mehrheit ihres Volkes. „Nach Entscheidungen tritt Dissonanz auf.“44 Die Entscheidung wird für viele schwierig gewesen sein. Gerade in Fällen, wo die Entscheidung schwierig und schmerzhaft ist, ist die Notwendigkeit einer nachträglichen Dissonanzreduktion evident. Die abgelehnte Alternative, nämlich das pharisäisch dominierte Mehrheitsjudentum, wird nachträglich als schlechte 40 Auf die paränetische Funktion von Mt 23 hat besonders David

E. Garland, The Intention of Matthew 23, NT.S 52, Leiden 1979, bes. 117–124. 214 f hingewiesen. 41 Coser, Theorie (o. Anm. 24), 111, vgl. 106. In der Antisemitismusforschung wurde in ganz ähnlicher Weise ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Ethnozentrismus (also starkem Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Mehrheit) und Antisemitismus festgestellt (N. C.  Morse / ​Floyd H. Allport, The Causation of Antisemitism: An Investigation of Seven Hypotheses, in: Bergmann, Error [o. Anm. 26], 195 f.206 f.209–211). 42 Bergmann, Group Theory (o. Anm. 26), 143. 43 Ulrike Six, Vorurteile, in: Dieter Frey / ​Siegfried Greif, Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München / ​Weinheim 21987, 366. 44 Werner Herkner, Eine Einführung in die Sozialpsychologie, Bern 1975, 91.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium

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Alternative dargestellt: Die Pharisäer sind schlechte Führer Israels. Sie tun selbst den von ihnen proklamierten Gotteswillen nicht (23,2 f). Sie sind Heuchler, auf die man sich nicht einlassen darf. Durch die Ermordung Jesu haben diese Führer die βασιλεία verspielt, die nun auf die Gemeinde übergehen kann (21,43).

IV. Entlastungsversuche für Matthäus In der Debatte über den Antijudaismus im Neuen Testament gibt es verschiedenerlei Entlastungsversuche gegenüber dem Neuen Testament. 1. Man kann das, was die matthäische Gemeinde erlitten hat, zur Entlastung des Matthäus anführen. Er und seine Gemeinde haben Böses erfahren und haben ein echtes Trauma zu verarbeiten. – Dagegen ist nicht viel zu sagen. Über Leidende zu urteilen, ist immer mißlich. Immerhin möchte ich diesen Gesichtspunkt nicht überbewerten: Verfolgungen von Christ / ​innen durch Juden sind trotz Ga1 4,29 und 1Thess 2,14 nicht einfach die Normalsituation gewesen. Daß die Negativerfahrungen der Gemeinden durch die Situation des jüdischen Krieges verstärkt worden sind, scheint mir plausibel; aber es dürfte sogar für einen Betroffenen wie Matthäus erkennbar gewesen sein, daß nicht die Pharisäer und Schriftgelehrten daran schuld waren. Insofern spielen sie in Mt 23 und anderen Texten auch eine Art Sündenbockrolle. 2. Viele Exegeten weisen darauf hin, daß die antijüdischen Aussagen bei Matthäus einen paränetischen Sinn haben. Israel wird negatives Beispiel für ein Gericht, das der Gemeinde auch bevorstehen kann. Das stimmt. Jesus verläßt am Ende der Weherede den Tempel und spricht in der großen Schlußrede Kap. 24–25 zu den Jüngern, d. h. zur Gemeinde. Es geht ihm um Anrede, Warnung. In der Parabel vom Hochzeitsmahl des Königssohns geht der Text, nachdem der König Jerusalem zerstört hat (22,7), weiter: Er endet mit dem Gast ohne Hochzeitsgewand – einer Warnung an die Gemeinde, im Gericht nicht ohne Werke dazustehen. Und auch die große Weherede von Kap. 23 hat nicht nur den heilsgeschichtlichen Sinn, dem von den Pharisäern und Schriftgelehrten geleiteten Israel Gottes Gericht anzusagen, sondern auch den, der Gemeinde das unter dem Gericht stehende Israel als einen negativen Spiegel vorzuhalten und sie zu warnen.45 Sozialwissenschaftlich gesprochen: Die matthäische Gemeinde ist gerade nicht in dem Sinn „Sekte“, daß sie als „Ausleseapparat“ funktioniert, die „den Qualifizierten vom Nicht-Qualifizierten scheidet“.46 Sie gehört gerade nicht zu jenen durch Kampf und Abgrenzung entstandenen reinen Gemeinschaften, die ständig „Selbstreinigung betreiben“ und deshalb „ständig

45 Vgl.

oben bei Anm. 40. Wirtschaft und Gesellschaft (o. Anm. 25), 722.

46 Weber,

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Häresie und Schismen“ erzeugen.47 Sie ist corpus permixtum und steht als ganze unter dem Schutz Jesu und unter der Gerichtsparänese. Ich denke, daß sich hier in matthäischer Transformation ein wichtiges Erbe Jesu zeigt, der gerade nicht ein sektiererischer Perfektionist war. – Das alles ist richtig und wichtig. Aber ich denke, es entlaste Matthäus nicht vom Vorwurf der Lieblosigkeit und der Ungerechtigkeit, die der Grundrichtung der Verkündigung Jesu widerspricht. 3. Für Matthäus ist das Ende der Welt nahe. Vor allem für die Interpretation von Mt 27,25 („sein Blut komme über uns und unsere Kinder“) ist das wichtig. Matthäus rechnet nicht mit einem über Jahrhunderte fortbestehenden geschichtlichen „Fluch“. Man darf die Selbstverfluchung von 27,25 auch nicht als Verurteilung Israels im Endgericht verstehen. 27,25 weist auf 23,36 zurück; „das alles wird über diese Generation kommen“ deutet am ehesten die Zerstörung Jerusalems (vgl. 23,38!) an. – Aber Matthäus faßt keine Korrekturmöglichkeit dieses geschichtlich wirksamen Fluches ins Auge. Ebenso, wie es schwierig ist, in 23,39 den Gedanken von Röm 11,26 hineinzulesen, ist es m. E. unmöglich, bei 27,25 an das im Abendmahl den Menschen zugute kommende Blut Jesu zu denken.48 Mt 27,25 ist eine Bestätigung der These, daß für Matthäus das Unheil über Israel definitiv und bald hereinbricht. Darum faßt Matthäus auch keine Mission in Israel mehr ins Auge. 4. Man muß die matthäische Auseinandersetzung mit dem Judentum mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen innerhalb jüdischer Gruppen vergleichen. Sie waren in vielen Fällen alles andere als zimperlich. Die Grundfrage des Matthäus ist die eines sektiererischen Judentums gewesen: Was ist das wahre Israel? Wer repräsentiert es? Matthäus streitet als Jude mit anderen Juden innerhalb der jüdischen Familie.49 Darum ist er nicht dafür verantwortlich zu machen, daß unter Berufung auf ihn später während Jahrhunderten eine Religion eine andere abqualifiziert und ausgegrenzt hat. – Dieser Entlastungsversuch ist differenziert zu beurteilen. Es gibt in der Tat erstaunliche innerjüdische Parallelen zum matthäischen Antijudaismus. Zu nennen sind hier in erster Linie Qumrantexte (z. B. CDC 1,12–21; 1QH 4,5–22), aber auch andere (z. B. AssMos 7 f; Ps Sal 8).50 Die Qumrantexte sind darum besonders interessant, weil auch hier eine Leidens‑ und Verfolgungserfahrung, das einer Gründergestalt angetane Unrecht und eine eschatologische Gerichtsperspektive zusammen47 Coser,

Theorie (o. Anm. 24), 118. Matthäus (o. Anm. 10), 333, erwägt, ob Matthäus in 27,25 an das im Abendmahl den Menschen zugute kommende Blut Jesu denke. Aber der traditionsgeschichtliche Zusammenhang mit den biblischen Texten von der Blutschuld ist so stark, daß ein davon ganz unterschiedener Gedanke wie der an das Herrenmahl kaum mitschwingt. 49 Ich erlaube mir hier, eine (mündliche) Reaktion von Rabbiner Marcel Marcus (Bern) zu zitieren: „In einem Streit unter Familiengliedern ist vieles erlaubt und möglich, was in einem Streit unter Fremden unerträglich wäre.“ 50 Ingo Broer, Antijudaismus im Neuen Testament?, in: Oberlinner / ​Fiedler, Salz der Erde (o. Anm. 15), 347–349, weist auf PsSal 14; Sir 50,25 f; EpAr 152 hin. 48 Schweizer,

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium

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kommen. Aber es gibt dennoch wesentliche Unterschiede zwischen ihnen und dem Matthäusevangelium. Im Matthäusevangelium gibt der Erhöhte den Seinen den Befehl, nun nicht mehr zu Israel, sondern zu den Heiden zu gehen. Und vor allem formuliert Matthäus seine eigenen antijüdischen Aussagen im Namen des erhöhten Herrn Jesus. Jesus, der Menschensohn-Weltrichter, ist für Matthäus eine absolute Autorität. Die schroffen Urteile gegenüber Israel haben also mehr Gewicht als parallele jüdische Texte, weil sie vom Weltrichter-Menschensohn selbst formuliert worden sind. Matthäus verarbeitet seinen Konflikt mit Israel im Namen des erhöhten Menschensohns Jesus. Das läßt den matthäischen Antijudaismus, so sehr er in sektiererischer jüdischer Polemik wurzelt, grundsätzlicher und folgenreicher werden. Die Christologie macht also die matthäischen Antijudaismen schlimmer. 5. Matthäus ist nicht dafür verantwortlich, daß mit seinem Buch auch sein Antijudaismus kanonisch wurde. Mit der Kanonisierung des Matthäusevangeliums ist dann allerdings nochmals eine qualitativ neue Stufe des Antijudaismus erreicht worden. Der matthäische Antijudaismus war für die Selbstdefinition der matthäischen Gemeinde in der Situation einer Krise und eines Übergangs wichtig. Mit der Kanonisierung seines Evangeliums machte die Kirche aber diese in einer bestimmten Situation wichtige Selbstdefinition zu einem dauernden Wesensmerkmal des Christentums. Antijudaismus gehörte später als Grundmerkmal zum Christentum, ganz unabhängig davon, ob und was für Begegnungen mit Juden man hatte. Das Judentum wurde zum Schatten, gegenüber dem sich dauernd das christliche Licht abhob. Damit war auch die Möglichkeit gegeben, daß die wirklich vorhandenen Juden immer wieder Opfer dieses Schattens wurden, ohne daß sie sich dagegen wehren konnten, denn der Schatten existierte auf der Ebene der Dogmatik unabhängig von ihnen. Daß Matthäus das nicht zu verantworten hat, ist klar.

V. Theologische Überlegungen: Der matthäische Antijudaismus und Jesus Der matthäische Antijudaismus ist nicht vom Himmel gefallen. Daß Matthäus das Nein der meisten Juden zu Jesus als so gravierend interpretierte, ist nur möglich auf der Basis von Traditionen und vorgegebenen Denkmustern, in denen er wurzelt. Es sind dies zunächst die Logienquelle und das Markusevangelium. Dahinter aber steht Jesus selbst. Matthäus selber sagt, was für ihn die entscheidenden Traditionen sind: Für das Verhalten seiner Gemeinde, auch gegenüber dem Judentum, gibt es keinen anderen Maßstab als das, was Jesus, der seine Gemeinde begleitet, ihr befohlen hat (28,19). Darum sind die matthäischen Antijudaismen fast durchweg Teil seiner Jesusüberlieferung. Hier setzt er auch einen Maßstab, an dem er theologisch gemessen werden will.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

An diesem Punkt bleibt eine eigenartige Verlegenheit: Auf der einen Seite ist es gewiß wahr, daß im Matthäusevangelium Grundzüge der Verkündigung Jesu verschüttet werden: Ich denke hier an seine Botschaft von Gottes grenzenloser Liebe gegenüber all denen, die sie nötig haben, gerade an den religiösen und sozialen Rändern Israels. Es ist Israel, zu dem Jesus diese Botschaft brachte. Oder ich denke an Jesu Forderung der Feindesliebe, auf die vielleicht auch die Pharisäer und Schriftgelehrten ein bißchen Anrecht gehabt hätten. Gegen Ende des Matthäusevangeliums und gegenüber den nicht jesusgläubigen Juden scheint sie ihre Kraft verloren zu haben. Aber auf der anderen Seite wurzelt der matthäische Antijudaismus gerade in der Verkündigung Jesu. Es ist Jesus, der schon von Johannes dem Täufer her weiß, daß Gott dem Abraham auch aus Steinen Kinder erwecken kann (3,9) und der dem unbußfertigen Israel androht, daß an seiner Stelle die Heiden mit Abraham zu Tische sitzen werden (8,1lf). Es ist Jesus, der seine eigene Autorität in einer jüdische Aussagen weit hinter sich lassenden Weise dem im Dekalog zu den Alten gesagten Wort Gottes gegenüberstellt. Mit einem vertrauten jüdischen Bild, aber für die meisten jüdischen Ohren erschreckend, sagt dieser Jesus, was andere Juden von der Torah sagten: Wer meine Worte hört und sie nicht tut, hat sein Haus auf Sand gebaut (7,26 f).51 Dieser Jesus kann auch sagen, daß das Verhältnis zu ihm für das, was der Menschensohn im kommenden Gericht tun wird, entscheidend sein werde (Lk 12,8 f). Ob sich Jesus dabei selbst für den kommenden Menschensohn gehalten hat oder nicht, tut nicht einmal mehr viel zur Sache. Wenn Matthäus in seinem Evangelium dann formulieren wird, daß Israels Nein zu Jesus über seine Stellung im kommenden Gericht des Menschensohns entschieden hat, und wenn er dieses Urteil als definitives, endgültiges Urteil durch den kommenden Weltrichter formulieren läßt, so ist er nahe bei Jesus selbst geblieben. Der Unterschied liegt lediglich darin, daß Jesus – wahrscheinlich! – auch mit zugespitzten Formulierungen Israel immer noch die Chance der Umkehr geöffnet hat. Hier – und nur hier – ist Matthäus – nach der Passion Jesu und nach den Erfahrungen der eigenen Gemeinde in Israel, in denen sich Jesu Passion wiederholte – einen Schritt über Jesus hinausgegangen. Aber es ist die Jesustradition, die ihm auch diesen Schritt ermöglicht hat. Damit zielt die Aufgabe, den theologischen Antijudaismus kritisch aufzuarbeiten, ins Zentrum des christlichen Glaubens. Es genügt bei weitem nicht, das Neue Testament von seinen späteren antijüdischen Wirkungen zu befreien, denn es gibt – zentral – Antijudaismen im Neuen Testament selbst. Es genügt auch nicht, sich gegen Randaussagen im Neuen Testament auf sein Zentrum, die Christologie, zu berufen,52 denn die Christologie selbst hat eine antijüdische 51 Es ist nicht zufällig, daß das Bild in jüdischen Texten gerade auf Studium und Praxis der Torah angewandt wird, und nicht auf einen einzelnen Lehrer, vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 23), 412 f. Anm.  6. 52 Lloyd Gaston, The Messiah of Israel as Teacher of the Gentiles, Interpretation 29 (1975), 40.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium

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Rückseite: Indem Jesus selbst als Christus zur absoluten Größe wird, ist das Übel schon da. Wir kommen also mit unseren Fragen zu Jesus selbst, auf dem die urchristliche Christologie ruht: Wie verhält sich bei ihm seine Botschaft von Gottes grenzenloser Liebe zu seiner Gerichtsbotschaft? Darf er den Menschen, die er im Namen Gottes grenzenlos liebt, als Gottes Bote mit einem so ungeheuren Anspruch für sich selbst begegnen, wie er es tut, einem Anspruch, der sie im Grunde genommen vergewaltigen muß, weil er die absolute Liebe im Ablehnungsfall in eine absolute Drohung verwandelt? Liegt die Wurzel des Übels also darin, daß bereits Jesus sich selbst verabsolutierte?

18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangeliumim Lichte griechischer Literatur I. Einleitung Mein Problem sind die narrativen Fiktionen im Matthäusevangelium, die merkwürdig mit der im Ganzen sehr großen Traditionstreue des Evangelisten kontrastieren. Ich versuche, sie im Lichte von Ansätzen zu einer Fiktivitätstheorie in der antiken Literatur zu reflektieren. Mein Ziel sind dabei Überlegungen zum Wirklichkeits‑ und Wahrheitsverständnis des Matthäus. I. 1 Definition Fiktionen sind in sehr verschiedener Weise definierbar. Man kann sie nach Textsorten differenzieren: Eine poetische Fiktion ist nicht dasselbe wie eine dramatische oder eine erzählerische. Man kann sie semantisch bestimmen und wird dann vom Bezug des Signifikanten auf das Signifikat ausgehen: „Als ein Merkmal des Begriffs der fiktionalen Rede soll bestimmt werden, daß sie keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit erhebt“.1 Man kann sie pragmatisch-kommunikationswissenschaftlich bestimmen und sagen, daß in der „fiktionale(n) Kommunikationssituation … nicht ein vorhandenes Bezugsfeld informativ erweitert, sondern ein neues durch den Text erst konstituiert wird“.2 Darüber hinaus besteht das Problem, dass in manchen Kulturepochen ein Bewusstsein für Fiktionales gar nicht da war; vielmehr scheint ein solches ein bestimmtes Bewusstsein von Kritik vorauszusetzen.3

1 Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Problemata 51, Stuttgart – Bad Cannstadt 1975, 20. 2 Aleida Assmann, Die Legitimität der Fiktion, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 55, München 1980, 11. Diese Bestimmung scheint mir allerdings problematisch, da durch einen nicht fiktionalen Text auch ein neues Bezugsfeld im Hörer konstituiert werden kann, wenn er z. B. eine völlig neue Information enthält. Mir scheint es deshalb praktikabler, bei der Bildung eines Begriffs der Fiktion von ihrer fehlenden Referenzialität auszugehen. 3 Dazu vgl. unten Abschnitt III.1.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

I. 2 Übertragung auf das Matthäusevangelium Wir haben zunächst einmal von dem auszugehen, was wir heute im Matthäusevangelium als „fiktiv“ empfinden, ohne voraussetzen zu dürfen, dass Matthäus und seine damaligen Leser / ​innen unsere Empfindungen auch nur verstanden hätten. Ich gehe von einer Bestimmung der narrativen Fiktion4 als einer Redeweise aus, die auf Referenzialisierbarkeit verzichtet, weil sie am leichtesten sowohl an das Matthäusevangelium als auch an die antike Diskussion über Wahrheit, Fiktion und Lüge heranzuführen ist. Matthäus schreibt eine Geschichte Jesu; damit ist seine Referenz vorläufig angedeutet. Man darf aber nicht einfach das als „fiktiv“ bezeichnen, was in einem modernen Sinn als unhistorisch gelten muss. Abgesehen davon, dass das Wirklichkeitsverständnis des Matthäus nicht dem eines modernen Historikers entspricht, wusste er von der Geschichte Jesu nur so, wie sie ihm seine Quellen, vor allem das Markusevangelium und die von ihm offensichtlich als „Halbevangelium“ interpretierte Logienquelle5 darboten. „Nichtreferenzialisierbarkeit“ von Fiktionen ist also bei Matthäus sinnvollerweise diachron als bewusste Veränderung gegenüber seinen als Bericht über wirklich Geschehenes verstandenen Quellen zu fassen. Ich verstehe also unter „narrativer Fiktion“ eine von Matthäus gegenüber seinen Quellen oder auch gegenüber mündlicher Gemeindeüberlieferung neu geschaffene Einzelgeschichte oder ‑szene. Auf der Ebene des Makrotexts ist eine „narrative Fiktion“ ein aufgrund eines neuen Arrangements von Quellenstücken geschaffener neuer Ablauf eines ganzen Teils des Lebens Jesu. Im Unterschied zu Romanen oder Dramen ist dabei im Rahmen einer Jesusgeschichte grundsätzlich der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit behauptet: In keinem einzigen Fall deutet irgend ein Textmerkmal eines von Matthäus fingierten Textes an, dass diese oder jene Episode keine Referenz in der Geschichte Jesu haben will. Hier entsteht für uns das Problem der Wahrheit dieser Fiktionen; die Frage ist aber, ob dieses Problem auch schon eines des Matthäus war.

4 Mit

dem Problem der „Fiktivität“ in Reden beschäftigt sich diese Arbeit nicht. Hier ist eine eigene Untersuchung nötig. 5 Matthäus macht sich bei der Konzeption seiner Jesusgeschichte die relativ großen Übereinstimmungen zwischen der Reihenfolge der Logienquelle und des Markusevangeliums zunutze: Taufe  – Versuchung  – programmatische Verkündigung (Mk 1,21 f!)  – Heilungen (Q 7,1–10) – Beelzebul-Streit – Gleichnisse (Q 13,18–21) – Warnung vor der Verführung (Mk 9,42; Q 17,1 f) – eschatologische Rede. Von den Doppeltraditionen ist nur die Aussendungsrede ganz verschieden plaziert; hier folgt Mt der Logienquelle und zieht die Rede gegenüber Mk 6,6–13 vor. Er kann also Q relativ leicht der mk, einem chronologischen Schema folgenden Jesusgeschichte einordnen. Also hat er Q in diesem Sinn als mit Mk harmonisierbares „Halbevangelium“ verstanden.

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II. Der Befund bei Matthäus II. 1 Der Ausgangspunkt: Matthäus als der Tradition verpflichteter Autor Matthäus übernimmt das Markusevangelium annähernd vollständig (ohne Mk 1,23–28; 4,26–29; 9,49 f.; 12,41–44; 14,51 f.). Seine Reihenfolge verändert er ab Kap. 12,1 nicht mehr. Auffällig ist auch seine große Gebundenheit an markinische Formulierungen: Scheinbar redaktionelle Stellen können fast zur Gänze aus markinischen Traditionsfloskeln zusammengesetzt sein.6 Ein großer Teil des matthäischen Redaktionsvokabulars ist durch Markus (oder auch durch Q) angestoßen.7 Auffällig ist auch, dass Matthäus viele markinische Stellen, die er in ihrem eigenen Zusammenhang gekürzt hat, später wieder aufnimmt.8 Auch vom Stoff der Logienquelle ließ er, soweit wir das sehen können, nur wenig weg (m. E. nur Q 12,49 f). Der Ein‑ und Aufbau der Reden ist konservativ: Vier der fünf mt Reden schließen sich an eine entsprechende mk Rede an.9 Für die Bergpredigt ist immerhin auf Mk 1,21 f (vgl. 3,13) zu verweisen. Matthäus bringt in der Bergpredigt das Kunststück fertig, die Reihenfolge der Feldrede von Q kaum anzutasten, diese aber mit der ihm überkommenen schriftlichen Antithesenquelle10 und zusätzlichem Material so zu verbinden, dass ein neues, großartig durchkomponiertes Ganzes entsteht. Wo er die Q-Blöcke nicht exzerpiert, sondern en bloc übernimmt, tut er dies fast immer in der Reihenfolge der Q-Quelle, vgl. Q 3,2 –17; 4,1–12; 6,20–49; 7,1–10; 9,57–10,16; 11,14–32; 11,39–52; 17,23–37. Konservativ verfährt Matthäus auch dann, wenn er nicht verwendete Q-Blöcke fortlaufend „exzerpiert“: Das ist besonders schön in der Aussendungsrede zu beobachten,11 aber auch in der Bergpredigt und in der eschatologischen Rede.12 Trotz alledem hat Matthäus an vielen Stellen auch die Geschichte Jesu neu gestaltet, d. h. fingiert.

 6 Vgl.

z. B. 4,23–25 = Mk 1,21.28.32.34; 3,7 f; 14,34–36 = Mk 6,53–56 + 1,28. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK 1/1, Neukirchen / ​ Zürich 21989, 56–58. Von Mk angestoßene Beispiele sind etwa: ἀναχωρέω, πάντα τὰ ἔθνη, μικροί, πληρόω der Schrift.  8  Vgl. z. B. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK 1/2, Neukirchen / ​ Zürich 1990, 58.  9 Bei der Aussendungsrede an Mk 6,7–13; bei der Gleichnisrede an Mk 4,1–34; bei der Gemeinderede an Mk 9,33–50; bei der Doppelrede Mt 23.24 f an Mk 12,38–40; Mk 13,1–37. 10 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 7), 187. 11 Q 10,2–12; 12,2–9.51–53; 14,26 f erscheinen in Mt 10 in derselben Reihenfolge. 12 Q 11,33; 12,57–59; 16,18 erscheinen in Mt 5; Q 11,9–13; 13,23 f.25–27 in Mt 7 und Q 12,39 f.42–46; 17,23 f und 26–35 in Mt 24 in derselben Reihenfolge.  7 Vgl.

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II. 2 Verdoppelungen von Einzelperikopen Matthäus hat Geschichten aus seinen Quellen verdoppelt, nämlich Mk 10,46–52 = Mt 9,27–31; 20,29–34 und Q 11,14 f. = Mt 9,32–34; 12,22–24.13 Es muss ihm dabei bewusst gewesen sein, dass er eine einzige Geschichte als zwei verschiedene Geschichten erzählte. Er musste wegen des Jesusworts 11,5 vorher eine Blinden‑ und eine Stummenheilung erzählen.14 Es ist ihm theologisch wichtig, dass das, was Jesaja weissagte und Jesus aufnahm, im Leben Jesu sich sichtbar – auch für die Johannesjünger – erfüllt hat. Er kann aber auf diese Geschichten aus kompositorischen und theologischen Gründen an ihren ursprünglichen Stellen (12,22–24; 20,29–34) nicht verzichten. Die Verdoppelung ist in beiden Fällen Teil seines neuen, fiktiven Anfangs der Geschichte Jesu in Kap. 8–9. Matthäus ist hier der Überlieferung gegenüber sehr frei. Man muss sich darüber hinaus fragen, wie weit ihm Verdoppelungen, die er in Übereinstimmung mit seinen Quellen vorgenommen hat, als solche bewusst gewesen sind. Manche Texte, z. B. vom Kreuz-Tragen und vom Leben-Gewinnen oder die Zeichenverweigerung, bringt er doppelt, weil sie bei Mk und in Q stehen. Da er aber normalerweise Q / ​Mk-Dubletten in einen Text zusammenarbeitete, nehme ich an, dass er es in solchen Ausnahmefällen durchaus bewusst anders gemacht hat. Der Grund ist klar: Diese Texte waren für Mt besonders wichtig. Die Nichtvermeidung einer Mk / ​Q-Dublette ist also keine Panne eines Redaktors mit schlechtem Gedächtnis, sondern eine geschickte Technik der Akzentuierung. II. 3 Neugeschaffene Erzählungen Matthäus hat oft mündlich überlieferte Texte erstmals verschriftlicht und sie dabei in seiner eigenen Sprache formuliert. So ist manchmal nicht leicht erkennbar, was Tradition ist und was von ihm erfunden wurde. Im Allgemeinen wird man dann, wenn eine Geschichte nicht selbständig, sondern Zusatz zu einer in den Quellen überlieferten Geschichte ist, eher mit Redaktion rechnen. Ein weiteres Indiz für Redaktion ist eine intensive Verklammerung eines Textes mit dem Makrotext. M. E. ist in Mt 1–26 die Zahl der von Matthäus ohne jeden Anhalt an der Tradition fingierten Erzählungen relativ gering. Ich würde 2,22 f. dazu rechnen, also die merkwürdige „zweite Etappe“ der Übersiedlung des Jesuskindes aus dem „Land Israel“ nach Galiläa,15 dann den Seewandel des Petrus 14,28–3116 und das Heilungssummar 21,14–16, ein im Makrotext sehr 13 Beispiele für red. verdoppelte Redestücke sind Q 6,43–45 = Mt 7,16–18; 12,33–35; Mk 13,9–13 = Mt 10,17–21; 24,9–14; Q 3,9 b = Mt 3,10 b; 7,19. 14 Vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 8), 168 f. 15 Der Zyklus der Geburtsgeschichten lag Mt wohl im ganzen als mündliche Tradition vor. 16 Zwar könnte Joh 21,7 f darauf hinweisen, daß Mt nicht ohne Anhalt an der Tradition formulierte. Aber dann hat er eine zu einer Ostergeschichte gehörende Tradition bewusst umgestaltet.

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gut verankertes Summar, das zum letzten Mal das gegenüber den Hohenpriestern und Schriftgelehrten „andere“ Israel vorführt. Redaktionelle Zusatztexte häufen sich m. E. in den letzten beiden Kapiteln des Evangeliums. Während ich beim Tod des Judas (27,3–10) mit der Übernahme einer traditionellen, mündlich überlieferten Legende rechne (vgl. Apg 1,15–20), gibt es viele Gründe dafür, dass der zweite und der dritte Unschuldszeuge, die Frau des Pilatus (27,19) und der seine Hände waschende Pilatus (27,24 f), reine redaktionelle Fiktionen sind.17 Letztere Episode ist kompositionell der Höhepunkt des ganzen Prozesses Jesu, von Matthäus biblisch formuliert und gut im Makrotext verankert. Das hieße: Es ist Matthäus, der die Szene vom seine Hände waschenden und mit biblischen Worten seine Unschuld beteuernden Pilatus geschaffen hat, damit „das ganze Volk“ ihm antworten kann: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Dass dem Judenchristen Matthäus nicht bewusst gewesen ist, wie absurd es ist, den Goj Pilatus mit dem Gehabe eines frommen Israeliten auftreten zu lassen, ist unwahrscheinlich. Die Szene ist historisch ebenso grotesk wie das vielleicht ebenfalls redaktionelle Detail 2,3 f, dass ganz Jerusalem mit allen seinen Schriftgelehrten zusammen mit dem Halbjuden Herodes über die Nachricht von der Geburt des Messias erschrickt. In beiden Fällen hält sich die Fiktion nur in einem sehr äußerlichen Sinn an das, was „möglich“ ist. Die groteske Fiktion wird zum Stilmittel: Die Leser / ​innen werden durch sie aufmerksam auf das von Gottes Heilsgeschichte her „unmögliche“ Ende der matthäischen Jesusgeschichte. Sehr schwierig sind die Erzählungen von den Grabwächtern und ihrer Bestechung (27,62–66; 28,11–15). Vorgegeben ist Matthäus das zu seiner Zeit verbreitete Gerücht vom Leichendiebstahl (vgl. Justin, Dial 108) und m. E. auch die Tatsache, dass römisches Militär das Grab bewachte.18 Ich rechne damit, dass Matthäus bereits eine Gemeindeüberlieferung gekannt haben könnte, die mit dem Hinweis auf die römische Wache das Gerücht vom Leichendiebstahl zu  Damit grenze ich mich sowohl von älteren Versuchen, hinter Mt 27,24 f eine eigenständige mündliche Tradition zu finden, ab (Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 31959, 113 f; vgl. Wolfgang Trilling, Das wahre Israel, EThSt 7, Leipzig 31975, 65–67), als auch von neueren Versuchen, literarkritisch hinter den Sonderüberlieferungen des Mt mit Hilfe des Petrusevangeliums eine eigenständige Evangelientradition zu rekonstruieren (John D. Crossan, The Cross that Spoke, San Francisco 1988, bes. 95–101, vgl. 249–280 zu den Grabwächterepisoden). Dass das Petrusevangelium gegenüber den synoptischen Evangelien später ist und sie voraussetzt, bleibt für mich die einfachste Hypothese; die für Crossan wichtige produktive Kraft des Alten Testaments ist selbstverständlich auf allen Überlieferungsstufen, auch im 2. Jh., vorauszusetzen. 18 Die Einfügung der Grabwächter in den Mt vorgegebenen Mk-Faden ist holprig: Ἔχετε κουστωδίαν (27,65) nimmt keine Rücksicht darauf, daß römisches Militär bereits bei der Kreuzigung beteiligt war (von Mt in V 36 wie in 28,8 mit dem Stamm τηρε‑ bezeichnet, während der Römer Pilatus den Latinismus κουστωδία braucht). Auch 28,4 ist ihre Einfügung hart: Von der Furcht der Wächter ist die Rede, aber der Engel beschäftigt sich in V 5 nur mit der – vorher gar nicht genannten – Furcht der Frauen. 17

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entkräften versuchte. Im Petrusevangelium ist sie dann stark ausgebaut worden: Die Grabwächter unter der Führung des Petronios werden hier zu den eigentlichen Auferstehungszeugen; die jüdische Überlieferung vom Leichendiebstahl ist nicht mehr das Problem. Matthäisch scheint aber die Rolle der jüdischen Führer zu sein: Sie kann nicht ohne 12,38.40.45 formuliert worden sein.19 Auch Mt 28,11–15 enthalten zahlreiche Verklammerungen mit dem Kontext: die jüdischen Führer als Drahtzieher des Geschehens, die nach 26,15 zweite Bestechung mit Silbergeld (ἀργύρια) die sich wie ein roter Faden durch die ganze mt Passionsgeschichte zieht, die erstmalige Nennung von Juden (Ἰουδαῖοι) (in V 15, die eine Opposition zu den πάντα τὰ ἔθνη (alle Völker) von V 19 bilden, und der V 20 entsprechende Ausblick in die Gegenwart. Historisch grotesk ist die führende Rolle, die die Hohenpriester spielen: Sie „inszenieren“ die (römische!) Grabwache; sie versiegeln das Grab eigenhändig; ihnen erstattet die Wache Bericht; sie degradieren einmal mehr Pilatus zum Statisten, der nicht einmal eine schlafende Wache zu bestrafen vermag. In beiden Szenen häufen sich auch die ironischen Züge, die meistens die jüdischen Führer schlecht machen wollen: Sie reden den verhassten römischen Statthalter als „Herr“ (κύριος) an, der ihnen dann bedeutungsvoll sagt: Sichert das Grab „wie ihr es eben versteht“ (ὡς οἴδατε)! Sie stützen sich für ihr „Auferstehungszeugnis“ auf Zeugen, die bekennen, geschlafen zu haben. Und die bestochenen Zeugen tun, wie sie von ihren sogenannten Lehrern „gelehrt“ worden sind.20 Die entscheidende Rolle der jüdischen Führer, die der Schriftsteller Matthäus durch soviele ironische Bemerkungen verstärkt und die literarisch so meisterhaft mit dem Makrotext verklammert ist, muss erzählerische Fiktion des Evangelisten in einer ihm vielleicht vorgegebenen apologetischen Tradition von einer Grabwache sein.21 Wie in 27,19.24 f, so greift auch hier Matthäus zum Mittel der Fiktion, um seinen Leser / ​innen den definitiven Bruch zwischen der Gemeinde und den Juden deutlich zu machen. Die Geschichtserzählung erweist sich als Magd im Dienst der theologischen Botschaft. Es gibt noch mehr Fiktionen im Schlusskapitel des Matthäusevangeliums. Dazu rechne ich in gewisser Weise Mt 28,9 f. Die Erscheinung vor Maria Magdalena Joh 20,14–18 könnte eine Parallele sein (vgl. 20,17 ἀδελφοί μου!) (meine Brüder); aber in diesem Fall hat Matthäus den Inhalt einer traditionellen Erscheinungsgeschichte gerade nicht übernommen, sondern seine Geschichte als Dublette zu seiner eigenen Engelerscheinung von 28,5–8 gestaltet. Vor allem ist 19 Hier wie dort tauchen die Pharisäer auf. Sowohl die Auferstehungsweissagung des Menschensohns in V 40 als auch der Bezug des Spruchs von der Rückkehr der bösen Geister auf Israel (vgl. V 45) sind mt. Die Erwähnung der heidnischen Zeugen gegen Israel in V 41 f entspricht der Heidenmission, zu der die mt Gemeinde nun aufbricht. 20 Vgl. 1,24; 21,6; 26,19. 21 Dieselbe Ironie zeigt sich übrigens auch 28,4: Die Grabwachen fallen am Auferstehungsmorgen um ὡς νεκροί. Der Auferstehungsmorgen wird für die Trabanten der jüdischen Führer zum Todeszeichen.

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m. E. die Erscheinung vor den Zwölfen auf dem Berg in Galiläa Mt 28,16–20 eine ganz von Matthäus fingierte Szene. Vorgegeben ist ihm m. E. nur der triadische Taufbefehl, der ihm auch sonst vertraute Wortlaut von Dan 7,14 LXX und ein schon in Mk 16,7 vorausgesetztes Wissen darum, daß es in Galiläa eine Erscheinung vor den Jüngern gegeben hat. 28,16–20 ist nicht nur sprachlich ganz matthäisch, sondern verklammert auch in ungemein dichter Weise zahlreiche Motive und Erzählstränge des Matthäusevangeliums; dieser Text ist gleichsam der Kopfbahnhof, in den am Schluss alle Linien der Erzählung zusammenlaufen. Ist das richtig, so heißt das: Das entscheidende Vermächtnis des Auferstandenen an die Gemeinde des Matthäus und der entscheidende Befehl, nunmehr, nach der offenkundig gewordenen Verstrickung von „Juden“ in ihren Unglauben, zu den Völkern zu gehen, ist matthäische Fiktion. Der traditionstreue Evangelist Matthäus scheut sich also nicht, an entscheidenden Punkten seine Jesusgeschichte mit neuen Erzählungen zu versehen. Das geschieht vor allem am Ende, wo sichtbar wird, worauf Gottes Handeln in Jesus hinausläuft: auf eine heillose Verstrickung Israels in Schuld und Unheil und auf einen Übergang von Gottes Heilsangebot zu den Völkern. II. 4 Beobachtungen zum Erzählungsfaden Matthäus folgt zwischen Kap. 12 und Kap. 28 grundsätzlich der markinischen Erzählung. Neu gestaltet sind das Proömium 1,1–4,16 und der erste Hauptteil 4,17–11,30. Besonders spektakulär ist die Neugestaltung der Kapitel Mt 8 –9. Hier fügt Matthäus bekanntlich Wundergeschichten aus zwei Abschnitten des Markusevangeliums (1,29–2,22; 4,35–5,43) ineinander, fügt eine Wundergeschichte aus Q (7,1–10) und zwei eigene Variationen anderer Geschichten aus Markus und Q (Mk 10,46–52; Q 11,14 f) ein. Es ist falsch, diese Kapitel einfach als „Sammlung“ von Wundergeschichten zu bezeichnen, etwa nach dem Prinzip, Gleiches mit Gleichem zusammenzustellen. Dann übersieht man, dass in 9,33 f ein klares „Ergebnis“ dieser ersten Phase der Geschichte Jesu formuliert wird: die erste Spaltung in Israel wegen Jesus. Man verkennt auch die Bedeutung derjenigen Abschnitte, die keine Wundergeschichten sind (8,18–27; 9,9–17): Sie schildern das Entstehen der Jüngergemeinde in Israel und die ersten Spaltungen; sie legen so die Basis für das, was in Kap. 12–16 erzählt werden wird. Mt 8–9 sind nicht eine Sammlung nebeneinandergestellter Wundergeschichten, sondern schildern einen kompakten zeitlichen Ablauf, bei dem ein Ereignis unmittelbar auf das vorangehende folgt.22 Die Begebenheiten folgen sich Schlag auf Schlag; Mt 8–9 schildern einen Ablauf von wenigen Tagen. Der Schluss ist unumgänglich: Matthäus hat den Erzählungsfaden seiner markinischen Quelle zerstört und einen neuen chronologischen Erzählungsfaden geschaffen, von dem er wusste, dass er mit demjenigen des älteren Markusevangeliums nicht übereinstimmt. 22 Vgl.

8,la.5 a.l4 a.l6 a.l8 a.28 a; 9,1.9 a.l4 (am Gastmahl!). 18 a.27 a.32 a.

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Warum? War er etwa der Meinung, den geschichtlich gesehen „richtigeren“ Ablauf zu bieten? Es gibt keine Hinweise darauf. Dass Matthäus am äußeren geschichtlichen Ablauf des Lebens Jesu verhältnismäßig uninteressiert ist, zeigen manche Details.23 Im Unterschied zu den meisten uns bekannten antiken Biographen, die die Taten und Widerfahrnisse ihrer Helden zwischen Jugend und Tod nicht in chronologisch korrekter Reihenfolge darstellen, sondern Beispielsammlungen geben, die bestimmte Tugenden, Schwächen, Zeitabschnitte etc. illustrieren, schafft aber Matthäus in seinem Erzählungsfaden die vollkommene Illusion eines chronologischen Ablaufs. In diesem Sinn schreibt er keine Biographie, sondern eine fiktive Geschichte, wie Markus. Nur ist seine Geschichte anders akzentuiert: Während Markus sich vor allem auf die Jünger konzentriert und eine Geschichte ihres Verhältnisses zu Jesus erzählt, gekennzeichnet durch Wundererfahrungen, Unverständnis, Bekenntnis, Leidensmissverständnis, Flucht und Wiederannahme, ist für Matthäus das Verhältnis Jesu zu Israel grundlegend: Er erzählt die Geschichte vom heilenden Wirken Jesu, des Davidssohns und Messias seines Volkes in Israel, von der Entstehung des Jüngerkreises, von den ersten Spannungen und Konflikten, vom Rückzug des Jüngerkreises aus Israel, von der großen Abrechnung Jesu mit Israel und seinen Führern in Jerusalem und schließlich von der endgültigen Entscheidung in der Passion und an Ostern, die den Weg der Jüngergemeinde zu den Heiden vorbereitet. In dieser Geschichte spiegelt sich die eigene Geschichte der judenchristlichen matthäischen Gemeinde nach Jesu Tod, zunächst in Palästina, wo sie Israel mehr und mehr erfolglos Jesu Botschaft verkündete, später – nach dem jüdischen Krieg – in Syrien, wo sie sich schließlich – nunmehr getrennt von den Synagogen – der Heidenmission zuwandte.24 Matthäus erzählt nicht einfach eine historische Jesusgeschichte, sondern die für die eigene Geschichte seiner Gemeinde grundlegende Jesusgeschichte. Sie beginnt er in den Eingangsabschnitten 4,23–25; 8,1–9,35 mit dem heilenden Wirken des Messias Jesus in seinem Volk. Die Spaltung in Israel beginnt hier. In den Kapiteln 11 und 12 wird sie tiefer und schroffer. Auch der Ablauf dieser Kapitel ist wiederum von Matthäus aus verschiedenen Quellen „zusammengebastelt“. Mt 11 stellt wieder einen in sich geschlossenen zeitlichen Ablauf dar.25 Er ist auf der Ebene des Berichteten wenig sinnvoll: Nachdem die Johannesjünger weggegangen sind, beschimpft Jesus völlig unmotiviert die ihm 23 Es entgeht ihm z. B. in 9,2, daß er noch nichts von der πίστις der Träger gesagt hatte. In 12,46 setzt er das Haus voraus, das er erst 13,1 erwähnen wird. In 14,13 schließt er die Speisungsgeschichte unmittelbar an die Geschichte von der Enthauptung des Täufers an und vergißt, daß er diese 14,13 als Retrospektive angelegt hatte. In 21,7 reitet Jesus um der wörtlichen Erfüllung der Schrift willen auf zwei Reittieren. 24 Vgl. dazu Ulrich Luz, L’évangéliste Matthieu: un judéo-chrétien à la croisée des chemins, in: Daniel Marguerat / ​Jean Zumstein (Hg.), La mémoire et le temps (FS P. Bonnard), MoBi 23, Genève 1991, 77–92. 25 11,2 a.7 a.20 (τότε). 25 a (ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ).

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zuhörenden Volksmengen und verflucht dann die galiläischen Städte, über die bislang noch nie ein böses Wort gefallen war. Dann dankt er seinem himmlischen Vater ebenso unvermittelt für das Verständnis, das er bei den νήπιοι (Unmündigen) gefunden hat, die, wie die Leser / ​innen in V 27–30 wenigstens ahnen können, sie selbst sind. Wieder ist der geschichtliche Ablauf auf der Erzähloberfläche äußerst unplausibel und bruchstückhaft. Man darf aber nicht einfach sagen, dass Matthäus in Kap. 11 nur den in der Q-Quelle bisher liegengebliebenen Abschnitt über Johannes den Täufer mit Liegengebliebenem aus der Aussendungsrede notdürftig zu einer neuen Abfolge zusammengekoppelt habe. Dann wäre Kap. 11 eine Art Nachtragssammlung in chronologisch geordneter Form. Das reicht aber nicht: Kap. 11 bereitet auf der Ebene des Makrotextes das Gesamtziel des Evangeliums vor: Es resümiert die in Kap. 8–9 erzählten Heilungen des Messias in Israel (11,2–6), lässt dann Jesus auf die gespaltene Reaktion Israels reagieren, die sich in Kap. 8–9 bereits abzeichnete: Zur Mehrheit Israels, die Johannes und Jesus ablehnte und ablehnen wird, wendet er sich in einer prophetischen Drohrede (11,7–24), um sie aufzurütteln. Ihr stellt er die Minderheit der νήπιοι, die Gemeinde, gegenüber (11,25–30). Derselbe Ablauf wiederholt sich in Kap. 12: Wieder gestaltet Matthäus einen zeitlich geschlossenen Ablauf.26 Wiederum ist dieser Ablauf auf der Ebene des Berichts brüchig: Die Pharisäer treten auf und verschwinden wieder, je nach Bedarf (12,14.24); die Schriftgelehrten sind ebenfalls ganz plötzlich da (12,38). Beide sind die eigentlichen Bösewichte, aber als Adressat von Jesu prophetischer Drohrede entpuppt sich unvermittelt und auch unberechtigt ganz Israel: ἡ γενεὰ αὕτη (diese Generation) (12,41 f.45). Jesus zieht sich zwar von seinen Feinden zurück (12,15 a), ist dann aber doch mitten unter dem Volk und mitten unter seinen Feinden. Die Szenerie ist auch hier sehr nachlässig. Obwohl also Matthäus aus disparaten Quellenstücken einen neuen geschlossenen zeitlichen Ablauf herstellt, liegt sein Interesse nicht bei äußerlicher Klarheit des Berichts. Wiederum ist der Aufbau gleich wie in Kap. 11: Auf eine Schilderung des heilenden Wirkens Jesu in seinem Volk (12,9–17) folgt eine polemische, an die Adresse der Pharisäer und Schriftgelehrten gerichtete Drohrede (12,22–45). Worum es Matthäus geht, wird am Schluss wieder besonders deutlich: Wieder wird der Generation, die ins Verderben rennt (12,38–45, vgl. 11,20–24), die Gemeinde gegenübergestellt: die wahre Familie Jesu, die Gottes Willen tut (12,46–50, vgl. 11,25–30). Wie in Kap. 11, so wird auch in Kap. 12 die Scheidung von Israel und Gemeinde präludiert, mit der Matthäus sein Evangelium enden lassen wird (28,11–15.16–20). Jesus wendet sich drohend an dasjenige Israel, das durch sein Nein zu Jesus sein Verderben besiegelt. Wieder wird die narrative Fiktion, die Matthäus durch den Ablauf der Begebenheiten in Kap. 12 geschaffen hat, erst durch seinen Makrotext verständlich. 26 12,9 a.15 a.22

(τότε). 38 (τότε). 46 a (ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος).

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II. 5 Zusammenfassung Matthäus, der so traditionsorientierte Autor, kann, wenn es ihm darauf ankommt, zu kühnen Fiktionen Zuflucht nehmen. Es handelt sich dabei nicht um mythische Fiktionen, sondern um solche auf der Ebene der realen Geschichte. Diese Fiktionen waren ihm durchaus bewusst. In einigen Fällen nähert er sich dabei der historischen Groteske, was ihm auch nicht verborgen gewesen sein kann. Seine Fiktionen stehen in sehr vielen Fällen im Dienst des „Plots“ seiner Jesuserzählung, die ich als „doppelbödige“, für die nachösterliche Geschichte der Gemeinde transparente Geschichte des Konflikts Jesu mit Israel beschreiben würde. Sie endet mit der Gerichtsansage Jesu gegen Israel und der Zuwendung der Jünger zu den Heiden.

III. Vergleich der matthäischen Fiktionen mit griechischen Literaturtheorien27 III. 1 Die Anfänge eines Bewusstseins von Fiktionalität „Sowohl in der antiken wie dann auch wieder bei … der mittelalterlichen Literatur … (ist) die uns so selbstverständliche Scheidung von Fiktion und Realität nicht von Anbeginn gegeben, sondern erst vergleichsweise spät bezeugt“.28 Der Entdeckung der Fiktionalität in der griechischen Literatur ist Wolfgang Rösler in einer interessanten Studie nachgegangen.29 Er versucht die Entdeckung der Fiktionalität in der griechischen Kultur bis zum 5. Jh. in drei Stufen nachzuzeichnen: (1) In der frühen Zeit haben sich die Dichter als göttlich inspiriert verstanden und so einen grundsätzlichen Wahrheitsanspruch erhoben.30 Der Dichter ist „verantwortlicher Träger“ und „Garant der mémoire collective“31 und „maître de vérité“.32 (2) Die frühe Dichterkritik, etwa eines Heraklit, Xenophanes oder Solon, bestritt den Wahrheitsanspruch der Dichter nicht grundsätzlich, sondern von Fall zu Fall: Es gilt zwischen wahrer Verehrung der Götter und den „Gebilden der Früheren“ (πλάσματα τῶν προτέρων), z. B. Titanen‑ und Gigantenkämpfen, zu unterscheiden.33 Dasselbe gilt auch für die frühen Historiker, Hekataios oder Herodot, die Homer grundsätzlich als Geschichtsquelle akzeptieren, auch wenn er im Einzelnen korrekturbedürftig ist, ja sogar noch 27 In

diesem Abschnitt bin ich Philipp Wälchli für mancherlei Hilfe dankbar. Robert Jauss, Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, Poetik und Hermeneutik 10, München 1983, 423. 29 Wolfgang Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), 283–319. 30 Vgl. Homer, Il 1,1; 2,484–487; Od 1,1; Hesiod, Theog 36–38; Erga 10. 31 Rösler, Entdeckung (o. Anm. 29), 291. 32 Marcel Detienne, Les Maîtres de vérité dans la Grèce archaïque, Paris 1967. 33 Xenophanes, Fr B 1 Zl. 22 (Diels / ​Kranz). 28 Hans

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für Thukydides. Auf dieser zweiten Stufe werde also der Wahrheitsanspruch der Dichter grundsätzlich noch anerkannt, auch wenn er faktisch eingeschränkt werde.34 (3) Die dritte Stufe ist dann mit Aristoteles erreicht, der in seiner Poetik erstmals zwischen verschiedenen literarischen Gattungen unterscheidet und der Dichtung in kritischem Gegensatz zu seinem Lehrer Platon eine Wahrheit sui generis zuspricht. Erst auf dieser Stufe kommt es zu einer positiven Würdigung der dichterischen Fiktionalität. Ihre Voraussetzung ist nach Rösler, dass die Kultur inzwischen eine literarische geworden ist: An die Stelle des vorwiegend mündlich überlieferten Traditionswissens einer geschlossenen Gemeinschaft, wo der Dichter oder Redner die Wahrheit dessen verbürgt, was er sagt, ist die Welt der schriftlichen Texte getreten, die durch „private Leseakte“35 einzelner Leser / ​innen rezipiert werden. Erst hier kann ein wirkliches Bewusstsein von Fiktionalität entstehen. Röslers Hinweis auf die Bedeutung der Schriftlichkeit und damit zusammenhängend des individuellen Leseaktes für das Entstehen eines Bewusstseins von Fiktionalität ist grundsätzlich wichtig. Das Entstehen einer schriftlichen Kultur, deren Texte individuell rezipiert werden können und deren Wahrheit von den Traditionsübermittlern nicht mehr gesichert werden kann, ist die Voraussetzung bereits dafür, dass z. B. Heraklit seine eigene Erkenntnis derjenigen Hesiods, der „Lehrer der Meisten“ ist,36 gegenüberstellen kann. Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge in der alten Dichtung, wie wir sie bei ihren vorsokratischen Kritikern antreffen, setzt schriftliche Texte, die verschieden interpretiert werden können, voraus. Eine schriftliche Kultur ist die Voraussetzung für das Auseinanderbrechen einer geschlossenen Traditions‑ und Interpretationsgemeinschaft, deren „mémoire collective“ die dichterischen Texte waren. Individuelle Rezeption schriftlicher Texte bedeutet sodann: Rezeption unter verschiedenen Lese-Gesichtspunkten und mit verschiedenen Interessen. Der Historiker rezipiert anders als der Dichter, der Philosoph oder der Literaturwissenschaftler: Er bezweifelt die Wahrheit der Dichtung unter dem Gesichtspunkt der historischen Zuverlässigkeit und weist dem dichterischen „Mythos“ nur noch die Möglichkeit zu, zu „erfreuen“, nicht mehr aber die Möglichkeit, klar (σαφής) zu sein und Nützliches (ὠφέλιμα) zu lehren.37 Der Philosoph kritisiert die Dichter z. B. unter moralischem Gesichtspunkt: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern zugeschrieben (ἀνέθηκαν), was bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen und einander Betrügen“.38 Weil dies der Wahrheit un34 So Rösler, Entdeckung (o. Anm. 29), 300. Allerdings scheint mir die Skepsis des Thukydides gegenüber den alten Dichtern in Hist 1,21 f doch größer: Sie – mitsamt ihren Übertreibungen – sind nur faute de mieux Quellen. Der wissenschaftlich arbeitende Historiker Thukydides beschäftigt sich eben deshalb mit Zeitgeschichte und nicht mit der entfernten Vergangenheit. 35 Rösler, Entdeckung (o. Anm. 29), 314. 36 Heraklit, Fr B 57 (Diels / ​Kranz). 37 Thukydides, Hist 1,22. 38 Xenophanes, Fr B 11(Diels / ​Kranz).

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angemessen ist, muss Xenophanes die dichterischen Texte als „Zuschreibungen“ ihrer menschlichen Autoren Homer oder Hesiod verstehen. Viel grundsätzlicher ist hier Platon, der jenseits aller moralischen Überlegungen die Texte der Dichter ontologisch kritisiert: Sie sind, ähnlich wie die Maler und bildenden Künstler, nur tertiäre Nachbildner sekundärer menschlicher Abbilder und somit a priori weit entfernt von der Wahrheit der Ideen.39 Der Wissenschaftler und Literaturtheoretiker Aristoteles aber, der dichterische Texte als Nachahmung (μίμησις) menschlicher Taten (πράξεις) versteht, muss nicht mehr alle Texte grundsätzlich gleich beurteilen, sondern er kann zwischen ihnen differenzieren und so auch die verschiedenen Formen und Funktionen von Fiktionen im gesellschaftlichen Leben in den Blick bekommen. Er ist darum Vater auch der Rhetorik geworden.40 Damit wird etwas Weiteres deutlich, was über die Existenz einer schriftlichen Kultur hinaus zum Entstehen eines Fiktionsbewusstseins gehört: Es ist ein Bewusstsein für literarische Gattungen, und damit im Zusammenhang für verschiedene Formen und Gestalten der Wahrheit und der Lüge. Wir gehen nun dem Fiktionsverständnis in verschiedenen dem Matthäusevangelium verwandten literarischen Gattungen der griechischen Literatur nach. III. 2 Das Wahrheitsverständnis der Historiographie Ich gehe aus vom „strengen“, puristischen Typ des Historikers, der besonders durch Thukydides, Polybius und Lukian in seiner Schrift Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν (Wie man Geschichte schreiben muss)41 vertreten wird. Damit klammere ich natürlich vieles aus, z. B. die romanhafte Geschichtsschreibung eines Ktesias oder eines Xenophon (in der Kyroupädie), die dramatische Geschichtsschreibung eines Phylarch oder eines Duris42 oder die stark an Personen orientierte Geschichtsschreibung des Isokratesschülers Theopomp, der nach den Aussagen Strabos (Geogr 1,2,35) bewusst Mythen mit der Geschichte verflocht. Aber wir haben die Texte jener Historiker teils nicht erhalten, teils äußern sie sich nicht klar über ihre Methodologie und ihr Wahrheitsverständnis. Grundlegend ist für die „strengen“ Historiker, allen voran Thukydides, die Antithese von ἀλήθεια (Wahrheit) und μῦθος (Mythos). Auch wenn das NichtMythische weniger gefällig zu sein scheint (τὸ μὴ μυθώδες  … ἀτερπέστερον φανεῖται; Thuk 1,22,4), hat sich der Historiker an die Wahrheit zu halten, verstanden als das, was von den Geschehnissen klar und deutlich ist (τῶν δὲ γενομένων τὸ σαφές; ebd.). Denn der Historiker zielt nicht auf Unterhaltung, sondern auf den Nutzen. Er entsteht dadurch, daß künftige Begebenheiten einmal ähnlich 39 Vgl.

unten III. 3. dazu unten III.4. 41 Dazu vgl. bes. Gert Avenarius, Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung, Meisenheim 1956. 42 Zum Wahrheitsverständnis des Ktesias vgl. Klaus Meister, Die griechische Geschichtsschreibung, Stuttgart 1990, 64; zu Duris ebd., 95–99. 40 Vgl.

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stattfinden werden, so dass insbesondere Staatsmänner aus der Geschichte lernen können. Für Polybius ist die Wahrheit der eigentliche Kanon der Geschichte und gleichsam das, was die Augen für den Leib sind. Fehlt es hieran, sollen Bücher nicht mehr als Geschichte (ἱστορία) gelten (Polyb XII 12,7 = 736). Dabei unterscheidet er zwischen unabsichtlicher und absichtlicher Verfälschung historischer Wahrheit und verdammt letzteres absolut; Matthäus würde also durch seine Fiktionen dann, wenn er als Historiker verstanden werden wollte, unter diese damnatio fallen. Polybius lehnt von hier aus sogar den sonst weithin akzeptierten Grundsatz ab, daß der Historiker Reden frei entwerfen darf (XII 25 b). Auch Lukian repräsentiert eine weit verbreitete Überzeugung, wenn er zwischen den Regeln (κανόνες) und Versprechungen (ὑποσχέσεις) der Dichtung und denjenigen der Historiographie grundsätzlich unterscheidet.43 Die Dichtkunst hat Freiheit zum Fabulieren (μῦθος) und zur Lobrede (ἐγκώμιον und den damit verbundenen Übertreibungen (ὑπερβολαί), die Historiographie hat sich allein nach der Wahrheit als ihrem Ziel (τέλος) auszurichten (Luc, Quomodo 8 f). Eine Vermischung der beiden Gattungen vergleicht Lukian mit der Absurdität eines mit Ringen, Schmuck und schönen Kleidern weibisch ausstaffierten Athleten oder mit Herakles, der am Hof der Omphale sitzt und Frauenarbeiten macht. Das Gefällige (τέρπειν) kann und darf nicht Zweck der Geschichtsschreibung sein; höchstens als ihren Nebeneffekt akzeptiert es Lukian: Ein Athlet darf ja auch über seine Kraft und Geschicklichkeit hinaus noch schön sein; aber das ist nicht von ihm zu fordern. Wahrheit ist also für einen Historiker nichts anderes als exakte Übereinstimmung des Berichteten mit dem Geschehenen: Nur der Wahrheit soll der Historiker sein Opfer bringen (Luc, Quomodo 40). Fiktionen sind prinzipiell abzulehnen: Entweder sind sie μῦθοι, Absurditäten, „Poesie“, geeignet allenfalls fürs Amusement, oder es sind Übertreibungen, eher für eine Lobrede als für eine Geschichtsschreibung geeignet (ebd. 7). Lukian qualifiziert alles, was Dichter, Schriftsteller und Philosophen als Wunderliches und Fabuliertes (τεράστια καὶ μυθώδη) zusammengeschrieben haben, als Lügen (ψεύσματα), die er in seinen Ἀληθὰ διηγήματα („Wahre Geschichten“) um des Amusements und des Nachdenkens willen überzeugend und wahrhaftig (πιθανῶς τε καὶ ἐναλήθως) darbieten will (VH 1,2). III. 3 Die Mythen der alten Dichter Die negative Beurteilung der dichterischen mythischen Fiktionen hat bereits im 5. Jahrhundert Tradition. Die Gründe dafür sind verschieden. Für die Homerkri43 Vgl.

auch Diodor, Bibl 1,2,7 (die Dichtung erfreut mehr, als sie nützt; die Historie nützt, indem sie gute Beispiele gibt); Cicero, Leg 1,5 (in illa [sc. historia] ad veritatem quaeque referantur, in hoc [sc. poemate] ad delectationem pleraque); Polybius, Hist 2,56,11 (Tragödie und Historie haben entgegengesetzte Ziele; für die Tragödie ist führend τὸ πιθανόν, κἂν ᾖ ψεῦδος, διὰ τὴν ἀπάτην [Illusion] τῶν θεωμένων, ἐν δὲ τούτοις (sc. der Geschichtsschreibung) τἀληθὲς διὰ τὴν ὠφέλειαν τῶν φιλομαθούντων).

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tik des Xenophanes waren ethische Gründe ausschlaggebend: Die homerischen Götter sind keine Vorbilder.44 Der Sophist Gorgias wendet sich aus ethischen Gründen gegen die Tragiker: Tragödien führen durch μῦθοι (Fabeln) und πάθη (Leidenschaften) zur Illusion (ἀπάτη).45 In der zweiten Sophistik ist Lukians polemischer Traktat Φιλοψευδὴς ἢ ἀπιστῶν („Der Lügenfreund oder der Ungläubige“) ein besonders radikales Beispiel sophistischer Aufklärung: Der aufgeklärte Tychiades und hinter ihm Lukian selbst kann den „Lügenfreunden“ und auch ihren literarischen Vätern Homer, Herodot und Ktesias nur das Recht des Opportunismus oder literarische Interessen zubilligen.46 Nur die allegorische Interpretation hat im Hellenismus Homer vor der damnatio gerettet und ihn zum klassischen Schulbuchautoren werden lassen. Aus ontologischen Gründen verbannt Platon im zehnten Buch seines „Staats“ die Dichter aus ihm: Werke der Dichter und Künstler sind „Abbilder von Abbildern, die dritte, unterste Stufe der Wahrheit“ (Resp 10 = 597 e.598 e – 599 a); ihre Werke schwächen die Vernunft und stärken die Affekte (ebd. 605ab). „Wir nehmen also an, dass alle Dichter, von Homer angefangen, Abbilder der Tugend und wovon sie sonst reden, nachahmen, welche die Wahrheit nicht berühren“ (οὐκοῦν τιθῶμεν ἀπὸ Ὁμήρου ἀρξαμένους πάντας τοὺς ποιητικοὺς μιμητὰς εἰδώλων ἀρετῆς εἶναι καὶ τῶν ἄλλων περὶ ὦν ποιοῦσιν, τῆς δὲ ἀληθείας οὐχ ἅπτεσθαι).47 Hier ist Dichtung bereits als μίμησις (Nachahmung) gesehen und darum von der Wahrheit grundsätzlich entfernt. In platonischer Tradition steht Plutarchs kleines Schriftchen „Wie soll ein junger Mensch Gedichte auffassen?“ (Πῶς δεῖ τὸν νέον ποιημάτων ἀκούειν). Plutarch kann nur mit großen Vorbehalten der unausweichlichen Verwendung der Dichter in der Erziehung – Homer war zu seiner Zeit der Schulbuchautor! – zustimmen. Zwar wertet Plutarch die Dichtung nicht so radikal ab wie Platon. Er versteht sie als unvollkommene Philosophie: Die Dichtung empfängt zwar ihre λόγοι aus der Philosophie, mischt sie aber mit Mythen, so dass sie zwar leicht und angenehm zum Lesen sind, aber vermischt mit Unwahrem und Unmoralischem (Mor 2,15F). „Fabeldichtung und Gestaltung (μυθοποίημα καὶ πλάσμα) geschehen zum Vergnügen und zur Erschütterung (πρὸς ἡδονὴν ἢ ἔκπληξιν) der Hörer, sind aber niedrigere Formen der Wahrheit (ebd. 2,17A). Im besten Fall kann die Poesie eine Art angenehme Propädeutik zur Philosophie sein. Ihr Wert ist ein didaktischer; sie macht Freude und ist sogar für Frauen geeignet (ebd. 2,16F). Aber es sind auf der anderen Seite gerade die poetischen Fiktionen, die dazu führen, daß in der Poesie immer ein Element der Täuschung (ἀπάτη) 44 Vgl.

oben bei Anm. 33. GlorAth = Mor 348C. 46 Z. B. patriotische Vorteile oder Interessen des Fremdenverkehrs (z. B. bei den Kretern, die das Grab des Zeus zeigen, Luc Philops 3) oder das literarische Interesse am Ergötzlichen (τερπνόν; ebd. 4). 47 Plato, Resp 10,600 e. 45 Plut

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steckt,48 so daß die philosophische Wahrheit in der Dichtung nie rein zum Zuge kommt. Uns interessiert vor allem die Gegenposition der Verteidiger der Wahrheit der Mythen. Bei Lukian schimmert hinter der Position der angegriffenen und karikierten „Philosophen“ deutlich religiöses Interesse durch (Philops 10): „Du scheinst also“, sagt der „fromme“ Stoiker Deinomachos, „weder zu glauben, dass es Götter gibt, noch zu glauben, dass es Heilungen durch göttliche Namen gibt“ (οὐδὲ θεοὺς εἶναι πιστεύειν εἴ γε μὴ οἴει τὰς ἰάσεις οἷόν τε εἶναι ὑπὸ ἱερῶν ὀνομάτων γίγνεσθαι). Der aufgeklärte Tychiades dagegen ist ein „Ungläubiger“; seine Gegner verteidigen die Wahrheit ihrer „Mythen“ teils durch Augenzeugenschaft, teils durch Hinweise auf Zeugen. Der „abergläubige“ Pythagoräer Arignotos, auf den Tychiades zunächst hofft, ist nicht nur durch seine Weisheit berühmt, sondern gilt zugleich als „heilig“ (ἱερός). Er erzählt zur Beglaubigung seiner „Lügen“ Selbsterlebtes. Hierin zeigt sich der „nachaufklärerische“ Charakter dieser Religiosität: Sie kann nicht mehr damit rechnen, dass die Gesellschaft ihren Wahrheitsanspruch unbesehen hinnimmt, sondern hat apologetische Mittel nötig. Sie borgt sie von derjenigen Disziplin, deren theoretischer Anspruch auf „Wahrheit“ damals unbestritten war: von der Historiographie.49 Der „Glaube“ (πίστις), den die Frommen für ihre Mythen verlangen, ist kein blinder Glaube, sondern der Glaube, dass das geschehen ist, was jedermann bezeugen kann (ebd. 30). Tychiades wehrt sich entsprechend: Wenn er selbst es auch gesehen hätte, dann „würde auch ich es glauben wie ihr“ (καὶ ἐπίστευον ἂν δηλαδὴ ὥσπερ ὑμεῖς) (ebd.). Ähnliches beobachten wir anderswo: Philostrat etwa beweist – gegen Moiragenes – mit Hilfe von Zeugen (z. B. Damis), dass sein Held Apollonius kein Zauberer ist, sondern dass seinen Taten wirkliche Begebenheiten zugrunde liegen, ähnlich wie die Frommen im „Lügenfreund“. Antike Romanschriftsteller, z. B. Chariton, fingieren mit Hilfe historischer Personen oder mit Hilfe von der Historiographie entliehener literarischer Mittel ihre eigene „Glaubwürdigkeit“. Die Beispiele zeigen, wie sehr die Historiographie in hellenistischer Zeit das Wahrheitsverständnis bestimmte. Die Analogie zu vielen heutigen polemischen Diskussionen, in denen die Frage nach der Wahrheit biblischer Texte als Frage nach dem faktischen Geschehensein des in ihnen Berichteten gestellt wird, ist augenfällig. 48 Plut

Mor 2,15CD im Anschluß an Gorgias; vgl. o. Anm. 45. Polybius zeigt sich die Qualität des guten Historikers gerade daran, daß er sich nicht auf Sekundärliteratur stützt, sondern auf Augenzeugen, sofern er nicht selbst ein solcher ist: Hist XII 28 a gilt als das Schwierigste und Wichtigste für einen Historiker die eigene Anschauung, als das Leichteste und Unwichtigste das Sammeln von Sekundärliteratur. Ein bloß aufgrund von Literaturstudien Gelehrter ist nach ebd. XII 25 e ein Narr. Das müßte in seinen Augen sogar auf Lukas und sowieso auf Matthäus zutreffen: Als Bearbeiter von Quellen sind sie noch keine Historiker. 49 Für

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III. 4 Die Entdeckung des Unterschieds zwischen μῦθος und πλάσμα Eine Neubeurteilung poetischer Fiktionen und des Verhältnisses von Poesie und Geschichte bringt die Poetik des Aristoteles: Poesie teilt im Unterschied zur Geschichtsschreibung „nicht das (mit), was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit Mögliche“ (οὐ … τὰ γενόμενα … ἀλλ’ οἷα ἂν γένοιτο, καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον; Poet 9 = 1451 b). Die Fabel (μῦθος) des Dramas, der Tragödie oder der Komödie muss wahrscheinlich sein, um glaubwürdig sein zu können, denn nur das Mögliche ist glaubwürdig. Gerade weil Dichtung Mögliches erzählt, ist sie für Aristoteles philosophischer als die Geschichtsschreibung, denn jene beschäftigt sich nur mit Einmaligem (τὰ καθ’ ἕκαστον), diese aber kann von Hörern und Lesern aufs eigene Leben übertragen werden und ist somit verallgemeinerungsfähig. Aristoteles hat bekanntlich in der bei der Tragödie geschehenden Übertragung der tragischen Fabel aufs eigene Leben eine Reinigung (κάθαρσις) von den Leidenschaften (παθήματα) Mitleid (ἔλεος) und Furcht (φόβος) gesehen (Poet 6 = 1449 b). Hier ist nicht nur eine vor allem gegenüber Platon neue Bewertung der Dichtung, sondern auch eine neue Sicht der Fiktionen eingeführt. Die rhetorische Tradition unterscheidet fortan im Anschluss an Aristoteles zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Fiktionen, nämlich die wahrscheinliche bzw. mögliche (= πλάσμα) und die unmögliche (= μῦθος). Ich referiere nach Cicero, De Inv 1,27, wo diese Einteilung m. W. erstmals belegt ist: Er unterscheidet drei verschiedene Arten der narratio: fabula (= τὸ μυθικόν, τὸ ψευδές), argumentum (= τὸ πλασματικόν, τὸ δραματικόν, τὸ ὡς ἀληθές) und historia (= τὸ ἱστορικόν, τὸ ἀληθές). „Geschichte“ ist eine Erzählung von wirklich Geschehenem, das in der Vergangenheit liegt. Ein argumentum est ficta res, quae tamen fieri potuit – als Beispiel weist Cicero wie andere50 auf die Komödie.51 Die eigentliche „Fabel“ ist schließlich die, in qua nec verae, nec verisimiles res continentur. Sie gilt als die Domäne der Dichter, wobei die Zuordnung der Tragödie zum Mythischen oder zum Möglichen schwankt.52 In den rhetorischen Texten werden die verschiedenen Typen von Erzählungen, die wahre, die wahrscheinliche und die fingierte, natürlich nicht gewertet, wohl aber werden sie verschiedenen literarischen Gattungen zugeordnet. Das 50 Sextus Empiricus, Adv Gram 252 (nach Richard Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen, Darmstadt 21963, 90); Adv Math 1,252 f oder 263; Quintilian, Inst Or 2,4,2; Rhet ad Her 1,12 f. 51 Natürlich handelt es sich hier um eine sekundäre Zuordnung der Komödie. Etwa die „Frösche“ oder der „Friede“ des Aristophanes mit ihren Unterweits‑ resp. Himmelsreisen zeigen, dass Komödien durchaus „mythische“ Elemente enthalten können. 52 Der Auctor ad Herennium 1,12 f und Quintilian, Inst Or 2,4,2 ordnen sie der Dichtung zu. Aristoteles, Poet 9 = 1451 b ordnet dagegen die Tragödie mit der Komödie der wahrscheinlichen Erzählung zu, ähnlich Hermogenes, Progymnasmata 2 (17) [= Rabe 4].

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Bewusstsein für Fiktivität und die Differenzierung zwischen verschiedenen Typen des Fiktiven hängt also mit dem Wissen zusammen, dass es verschiedene literarische Gattungen gibt.53 III. 5 Fiktivität in den Romanen Die antiken Literaturtheoretiker und Rhetoriker beschäftigten sich mit der Historiographie, der Tragödie, der Komödie und der Dichtung. Mit den für die Evangelien wichtigsten verwandten Gattungen, mit Biographie und Roman, beschäftigen sie sich kaum. Das ist schade, denn wir werden so von ihnen gerade in der nächsten Umgebung der Evangelien im Stich gelassen. Natürlich besteht zwischen den Romanen und den Evangelien darin ein grundlegender Unterschied, daß die Romane nicht, wie das Matthäusevangelium, Fiktionen neben und innerhalb von geschichtlichen Traditionen enthalten, sondern ihrem Wesen nach ganz fiktiv sind. Auch die geschichtlichen Reminiszenzen der Romane – z. B. historische Personen – sind Teil der Fiktion. Die Berührungspunkte zwischen den kanonischen Evangelien und den zeitgenössischen Romanen scheinen denkbar gering; literaturgeschichtlich scheint erst bei den apokryphen Apostelgeschichten der Vergleich etwas herzugeben. Ich möchte aber auf eine sehr schwierige und in der Romanforschung mehr als umstrittene Frage aufmerksam machen, nämlich auf die religiöse Deutung der Romane. Wir stellten bei den Fiktionen des Matthäusevangeliums fest, dass sie in vielen Fällen von einer zweiten Ebene her gesteuert sind, nämlich von den gegenwärtigen Erfahrungen der Leser / ​innen her. Hier haben z. B. die Trennung von den Juden, die Heidenmission oder „Galiläa der Heiden“ ihre Wirklichkeit. Wir verstanden die matthäische Geschichte als Geschichte mit doppeltem Boden, die die Geschichte der matthäischen Gemeinde nach Ostern durchschimmern lässt.54 Nun gibt es eine Interpretationsmöglichkeit der antiken Romane, die diese ähnlich als doppeldeutige, symbolische Geschichten deutet, nämlich die religiöse Deutung, wie sie von Kerényi, nach ihm von Merkelbach vertreten worden ist.55 Nach ihnen sind die meisten antiken Liebesromane verschlüsselte Mysterienlogoi, die von den Leiden und Erfahrungen der Menschen bis zu ihrer 53 Im Unterschied zur Komödie, der Tragödie, dem Mimus (Sextus Empiricus, Adv Gram 252 = Reitzenstein 90) tauchen weder Biographie noch Roman in den Überlegungen der Rhetoriker auf. Carl Werner Müller, Chariton von Aphrodisias und die Theorie des Romans in der Antike, Antike und Abendland 22 (1976), 115–136) zeigt mit Recht, daß die Zuordnung des Romans zum δρᾶμα, die in der früheren Romantheorie (Rohde, Reitzenstein, Kerényi) wichtig war, erst auf byzantinische Autoren zurückgeht. 54 Vgl. oben Abschnitt II. 4. 55 Karl Kerényi, Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Tübingen 1927 (Nachdruck Darmstadt 1973); Reinhold Merkelbach, Roman und Mysterium in der Antike, München / ​Berlin 1962; ders., Die Hirten des Dionysos. Die Dionysos-Mysterien der römischen Kaiserzeit und der bukolische Roman des Longos, Stuttgart 1988.

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endgültigen mystischen Vereinigung mit der Gottheit sprechen. Die für die Romane wichtigste Gottheit ist Isis,56 aber auch Helios, Mithras und Dionysos57 spielen eine Rolle. Bei dieser Deutung der Romane sind die Fiktionen in hohem Maße von den Erfahrungen der Mysten in Kult und Alltag bestimmt, ähnlich, wie sich in den Evangelien in einzelnen Geschichten Alltagserfahrungen und gottesdienstliche Erfahrungen58 spiegeln. Natürlich lässt sich diese These nicht auf alle Romane in gleicher Weise ausdehnen; die wichtigste Ausnahme ist für Merkelbach Chariton von Aphrodisias. Diese Romandeutung hat wenig Anklang gefunden.59 In der heutigen Forschung wird der Roman eher als eine originelle Tochter des Epos unter den Gegebenheiten einer entpolitisierten, kosmopolitischen und bürgerlichen hellenistischen Welt verstanden.60 Es dominiert heute eher eine sozialgeschichtliche und psychologische Deutung des Romans: Er ist ein Stück „fiktionale Heilswelt“ und eine Art „Traumfabrik“61 für gebildete, in Städten lebende Bürger(innen) in der entpolitisierten, großräumig gewordenen hellenistisch-römischen Welt.62 Die Frage bleibt aber m. E., ob diese fiktionale Heilswelt nicht religiösen Charakter haben kann. Der Siegeszug der orientalischen Religionen, z. B. des Isiskultes, aber auch des Christentums in der späthellenistischen Zeit, und die Defensive, in der sich Wissenschaft und sophistische Aufklärung mehr und mehr befanden, führen zu dieser Frage. Ohne den hellenistischen Roman im Ganzen religiös erklären zu wollen, denke ich, dass Kerényi und Merkelbach auf zwei wichtige Dinge hingewiesen haben: Einmal: Sie erinnern an Kunstmythen und religiös interpretierbare Symbolgeschichten. Zu ihnen rechne ich etwa die von Apuleius in der Mitte seines Romans (Met 4,28–6,25) eingefügte Novelle von Amor und Psyche. Sie ist m. E. kein Mini-Roman, sondern ein Kunstmythos. In rhetorischer Terminologie ist sie ein μῦθος und kein πλάσμα. Der Name der Protagonistin, Ψυχή (Psyche) 56 Bei Apuleius, Aristides,

Xenophon von Ephesus, Achilleus Tatius. bei Heliodor; Mithras: bei Jamblich; Dionysos: bei Longos. 58  Klassische Beispiele sind etwa die Sturmstillung (Erfahrung des Beistandes Christi in den Stürmen des Lebens) oder die Speisung der Fünftausend (Abendmahl!). 59  Ben E. Perry, The Ancient Romances, Berkeley / ​Los Angeles 1967, 336 sagt kurz und bündig: „This is all nonsense to me“. Vgl. ferner Isolde Stark, Religiöse Elemente im antiken Roman, in: Heinrich Kuch (Hg.), Der antike Roman, Berlin 1989, 135–149; Graham Anderson, Ancient Fiction, London 1984, 75–87; Tomas Hägg, The Novel in Antiquity, Oxford 1983, 101–104. 60 Vgl. bes. den wichtigen Aufsatz von Carl Werner Müller, Chariton (o. Anm. 53). Müller weist insbesondere auf den Einfluß der (häufig zitierten!) Odyssee auf Chariton hin (a. a. O. 126ff). 61 Niklas Holzberg, Der antike Roman, Zürich / ​München 1986, 51.36. 62 Zu den sozialgeschichtlichen Aspekten des antiken Romans vgl. Heinrich Kuch, Die Herausbildung des Romans als Literaturgattung, in: ders., Roman (o. Anm. 59), 32–34; Klaus Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II 25/2, 1984, 1266, und vor allem Kurt Treu, Der antike Roman und sein Publikum, in: Kuch, Roman (o. Anm. 59), 178–197. 57 Helios:

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ruft nach einer symbolischen Deutung; der männliche Held ist ein Gott; das Hochzeitsgemach liegt im Paradies.63 Ähnliche, z. T. mythische Symbolerzählungen sind z. B. Joseph und Aseneth,64 Vita Adae 1–17 und das sog. Perlenlied in den Thomasakten (Act Thom 108–113). In allen drei Fällen ist die Geschichte für das Schicksal des einzelnen Menschen transparent. Zu den von uns genannten redaktionellen Fiktionen des Matthäus ergeben sich von hier aus keine direkten Analogien. Immerhin zeigen sie, wie nahe es damaligen Leserinnen und Lesern lag, Geschichten wie z. B. die Versuchung Jesu, die Sturmstillung oder Blindenheilungen symbolisch zu deuten. Sodann: Manche antike Romane haben im Ganzen einen religiösen Charakter, m. E. insbesondere solche der späteren Zeit. Ich kann z. B. die Metamorphosen des Apuleius nur als Propagandaroman für Isis deuten. Sonst kann ich sein elftes Buch, das die Einweihung in die Mysterien schildert, nur als Anhang, nicht aber als Höhepunkt und vermutlich sogar Schlüssel zum Ganzen verstehen. Ich möchte die amüsant zu lesende Romanhülle des Ganzen, die Eselsexistenz des Lucius, als symbolische Darstellung der Fesseln verstehen, in denen der nicht in die Isisreligion eingeweihte Mensch lebt. Einen religiösen Hintergrund hat m. E. auch Longus’ Daphnis und Chloe, ein mit Orakeln und Träumen besonders reich ausgestatteter Roman, der auf der Dionysosinsel Lesbos spielt und von dem mythischen Hirten Daphnis65, dem Sohn des Dionysophanes (!), handelt.66 Auch den von Merkelbach herausgearbeiteten religiösen Zug der Geschichte der Chariklea sollte man nicht leugnen: Chariklea stammt von Helios ab, gerät nach Griechenland67 und findet dann von Delphi (!) auf vielen Irrwegen nach ihrer Heimat Äthiopien zurück. Verfasser dieses Romans ist Heliodor, Abkömmling des Helios, aus dem syrischen Emesa, der Stadt des Sonnengotts. In beiden Fällen würde ich eher von einer religiösen Grunddimension als von einer als Liebesroman eingekleideten Mysteriengeschichte sprechen. Nichts spricht aber dagegen, daß Leserinnen und Leser gerade in der späteren Zeit, die mit Mysterienreligionen und mit allegorischer Interpretation z. B. Homers vertraut waren, Romane im Ganzen symbolisch-religiös deuteten.68

63 Ob Merkelbachs Deutung auf Isis (Roman [o. Anm. 55] 8–53) richtig ist, frage ich mich allerdings: Die von ihm mit Isis identifizierte Venus agiert in der Novelle als feindliche Göttin. Seine besondere These ist aber zum Erweis einer symbolischen Deutung gar nicht nötig: Allein schon der Hinweis auf den platonischen Seelenmythos (Phaidros 24–29) zeigt, wie naheliegend eine solche war. 64 Die übliche Bezeichnung von Joseph und Aseneth als „Roman“ (vgl. Christoph Burchard, JSHRZ II, 1983, 591) ist Ausdruck einer Verlegenheit. 65 Zur traditionellen Verbindung von Daphnis mit Dionysos vgl. Vergil, Ecl 5. 66 Vgl. dazu Merkelbach, Hirten (o. Anm. 55). 67 Nach Merkelbach, Roman (o. Anm. 55), 293 Symbol für die irdische Welt, ähnlich wie Ägypten im Perlenlied. 68 Vgl. Hägg, Novel (o. Anm. 59), 103.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Die matthäischen Fiktionen werden von hier aus aber gerade nicht verständlich. Es ging in ihnen nicht darum, eine vordergründige Geschichte geistig oder innerlich auf eine religiöse Erfahrung hin zu deuten. Die Matthäusgeschichte ist nicht, wie vielleicht der Roman des Apuleius, als eine Geschichte des Menschen zu verstehen, der aus seinen irdischen Fesseln durch die Begegnung mit der Gottheit befreit wird. So zeigen die Analogien in diesem Fall eher, in was für einem religiösen Milieu das Matthäusevangelium rezipiert werden konnte. III. 6 Fiktionen in Biographien Bis heute ist unklar, wie weit und wie die Biographie als Gattung überhaupt definiert war. Albrecht Dihle ging in seiner Gattungsbestimmung von Plutarch aus und verstand die Biographie primär im aristotelischen Sinn als ethische Gattung; ihre Aufgabe ist der Erweis der Tugend oder Schlechtigkeit (δήλωσις ἀρετῆς ἢ κακίας) eines Helden.69 Mir scheint es fruchtbarer, von den Bemerkungen des Polybius über seine Philopoimen-Biographie auszugehen: Er spricht Hist X 21 von einem Werk in drei Büchern, das er früher geschrieben habe.70 In ihm behandelte er die Person, seine Eltern, seine Erziehung und eine Auswahl seiner bedeutendsten Taten. Es diente dem Lob (ὑπάρχων ἐγκωμιαστικός) des Philopoimen und verlangte daher eine Beschränkung seiner Taten auf das Wesentliche (κεφαλαιώδη) sowie ihre Verteidigung und Überhöhung (μετ᾽ αὐξήσεως τῶν πράξεων ἀπολογισμόν); die Geschichtsschreibung müsse sich dagegen an die Wahrheit halten und in Lob und Tadel gerecht sein. Polybius steht hier nicht allein; Biographien mit enkomiastischen Tendenzen gibt es zahlreich: Philos Leben des Mose (Περὶ τοῦ βίου Μωυσέως), Philostrats Apolloniusbiographie (Τά ἐς τὸν Τυανέα Ἀπολλώνιον), Lukians Demonax (Δημωνάκτος βίος) und Nikolaus von Damaskus’ Leben des Augustus (Βίος Καίσαρος) sind sehr verschiedene Beispiele dafür. Vergleicht man dies mit Quintilians Beschreibung des Enkomions eines Menschen,71 so zeigen sich klare Berührungen: Auch ein Enkomion gliedert man nach Zeitabschnitten und beginnt mit Herkunft und Eltern, u. U. mit Orakeln und Vorzeichen, um dann zu den Taten des Helden zu kommen: Diese kann man chronologisch aufführen und zuerst die Anlagen, dann die Erfolge beim Lernen und dann die ganze Kette der Taten und Reden aufzählen. Man kann sie aber auch systematisch aufbauen und das Lob in species virtutum

69 Vgl. Albrecht Dihle, Studien zur griechischen Biographie, AAWG.PH III/37, 1970, bes. 57–88. Das Zitat stammt aus Plut Alex 1. Mir scheint (der relativ späte!) Plutarch nicht ein typischer Biograph zu sein, weil das Ziel seiner Biographien, die Synkrisis eines Griechen und eines Römers, Distanz und Neutralität erforderte und einseitiges Loben verbot. Die tendenzielle Neutralität in Lob und Tadel verbindet Plutarch mit der Historiographie, während die unterschiedliche Stoffauswahl ihn von ihr unterscheidet. 70 Das Stichwort βίος fällt in X 21 allerdings nicht; P. spricht nur von λόγος und σύνταξις. 71 Inst Or 3,7,10–18.

18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium

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gliedern (3,7,15).72 Ich verstehe also die Biographie als eine im Enkomiastischen wurzelnde Gattung; sie hat sich dann später in der vergleichenden Biographie des Plutarch und vor allem im römischen Raum (Cornelius Nepos, Sueton) in Richtung auf die Historiographie entwickelt.73 Von Quintilian her könnte man definieren: Eine Biographie ist eine Lobrede auf einen Verstorbenen, die sein Lebensende einschließt. Diese Sicht schließt eine gewisse äußere Nähe der Evangelien zu den Biographien ein.74 Insbesondere die Biographien von Philosophen stehen den Evangelien darin nahe, als sie in manchen Fällen, für die auf sie sich berufenden philosophischen Schulen von besonderer Bedeutung sind.75 So gibt es in manchen Biographien durchaus äußerliche Analogien zu den Fiktionen, die wir bei Matthäus beobachtet haben. Allerdings ist der Vergleich schwierig, da wir in den meisten Fällen die Quellen nicht annähernd so gut kennen wie bei Matthäus. Bei Philostrat hängt das Urteil über die chronologischen Fiktionen natürlich vor allem an der nach wie vor ungeklärten Frage des Damis-Berichts. Deutlich ist, daß Philostrat im Ganzen eine chronologisch angeordnete Biographie des Apollonius bieten will; deutlich ist aber auch, daß partienweise die Einordnung des anekdotenartigen Materials in einen geographischen und chronologischen Gesamtaufriß viel lockerer ist als bei Matthäus (z. B. 4,1–46; 6,35–43). Gerade weil die Entstehungsgeschichte der Apolloniusbiographie ähnlich verlaufen sein dürfte wie die der Evangelien, fällt auf, daß Philostrat das matthäische Interesse an einem ununterbrochenen chronologischen und geographischen Zusammenhang nicht teilt. – Das erste Buch von Philos Leben Mose hält sich im 72 Das gilt auch für enkomiastische Biographien: Apollonius von Tyana wählt einen chronologischen Aufriß; Philo läßt in seiner Vita Mosis dem chronologischen Aufriß seines ersten Buches ein nach species virtutum gegliedertes zweites Buch folgen und schließt beides mit dem Tod des Mose ab. Lukian kennt in seinem Demonax zwischen der Schilderung der Abstammung, Erziehung und einiger grundlegender Eigenschaften seines Helden und seinem Lebensende überhaupt kein Aufbauprinzip mehr. 73 Vgl. Albrecht Dihle, Die Entstehung der historischen Biographie, SHAW.PG 1986/3, 1987. 74 Für das MtEv hat dies Philip L. Shuler, A Genre for the Gospels, Philadelphia 1982 dargetan. Albrecht Dihle, Die Evangelien und die griechische Biographie, in: Peter Stuhlmacher [Hg.], Das Evangelium und die Evangelien, WUNT 28, 1983, 383–411) sieht die Distanz zwischen Evangelien und griechischer Biographie als relativ groß, weil er primär von einem plutarchischen Verständnis von Biographie ausgeht. 75 Vgl. z. B. Porphyrius’ Plotinbiographie oder die Biographien des Diogenes Laertios. – Zur soziologischen Einbettung von Philosophenbiographien als Propagandaschriften und „Gründungslegenden“ vgl. auch Charles H. Talbert, Biographies of Philosophers and Rulers as Instruments of Religious Propaganda in Mediterranean Antiquity, ANRW II 16/2, 1978, 1625–1647. – Einen besonderen Typ von „spiritual biography“, wie ihn der Untertitel des oberflächlichen Buches von Moses Hadas / ​Morton Smith, Heroes and Gods. Spiritual Biographies in Antiquity, London 1965, suggeriert, gab es allerdings nicht. Die beiden Autoren nennen diesen Typ auch „Aretalogie“. Mit dem Ausdruck „Aretalogie“ als Gattungsbezeichnung ist viel Unfug getrieben worden; ich kann hier nur dankbar auf die überlegten Ausführungen von Berger, Hellenistische Gattungen (o. Anm. 62), bes. 1228, verweisen.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Wesentlichen an die Reihenfolge der Ereignisse in der biblischen Quelle. Die Reihenfolge der ägyptischen Plagen stellt er aus systematischen Gründen um76 und schafft dabei einen neuen chronologischen Ablauf (Vit Mos 1,96–146). Als chronologische Fiktion mag man auch den Sprung von Ex 17 zu Num 13 bezeichnen (zwischen 219 und 220). Dafür hat er darstellungssystematische Gründe: Die Tätigkeit des Mose als Gesetzgeber, Priester und Prophet, die den Hauptinhalt der weggelassenen Bibelabschnitte ausmacht, wird Philo im zweiten Buch unter systematischen Gesichtspunkten darstellen. Bewusste oder unbewusste chronologische Fehler und Fiktionen, die aus systematischen Darstellungsgesichtspunkten sich ergeben, sind schließlich auch in anderen Biographien zu beobachten, so z. B. bei Sueton77 und Plutarch78. Was Matthäus mit den ihm überkommenen chronologischen Anordnungen seiner Quellen tut, ist also im Rahmen antiker biographischer Technik nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich aber sind seine Motive: Bei seinen chronologischen Innovationen geht es ihm gerade nicht darum, den zeitlichen Ablauf in irgendeiner Form übergeordneten systematischen Gesichtspunkten unterzuordnen, sondern es geht ihm um den neuen geschichtlichen Ablauf selbst, der den geschichtlichen Erfahrungen seiner eigenen Gemeinde entspricht. Insofern ist das Matthäusevangelium keine Biographie, sondern ein „Geschichtswerk“ mit ganz besonderem Charakter. Zur Fingierung einzelner Szenen lässt sich noch weniger sagen. Die Biographie hat eine Freiheit zur Fiktion gleichsam schon von ihren Anfängen in der sokratischen Tradition und bei Xenophon79 her mitbekommen. Während z. B. bei Philostrat hier sozusagen alles möglich scheint, ist z. B. Philo im Ganzen zurückhaltend. Ein Vergleich mit Matthäus ist an diesem Punkt angesichts der Vielfalt der Vergleichsmöglichkeiten sehr schwierig. Wir versuchen eine Zusammenfassung: Es gibt durchaus Berührungen zwischen matthäischen Fiktionen und Fiktionen in Biographien. Aber der Zweck der Fiktionen des Matthäus ist ein anderer als der der biographischen Fiktionen. Dazu passt, dass Matthäus – im Unterschied zu Philo – nirgendwo erkennen 76  Er schildert zuerst von Aaron, dann von Mose, dann von beiden, dann ohne direktes menschliches Zutun geschehene Plagen. 77 Vgl. Helmut Gugel, Studien zur biographischen Technik Suetons, WSt Beih 7, 1977; Dieter Flach, Einführung in die römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, 180– 184. Teils sind falsche chronologische Anordnungen auf systematische Interessen zurückzuführen, teils auf Nichtwissen und schlechte Recherchen. Sie haben z. B. im Fall des Tiberius den Zweck, die Taten des Kaisers klar seiner guten, frühen oder seiner schlechten, späten Periode zuzuordnen. 78 Vgl. zu den chronologischen Fiktionen von Plutarchs Perikles Adolf Weizsäcker, Untersuchungen über Plutarchs biographische Technik, Problemata 2 (1931), bes. 11–18.32.46 f.57. 79 Vgl. Arnaldo Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge, Mass. / ​ London 1971, 52–56 zu den Ursprüngen der Biographie bei Xenophon. Er formuliert zu Xenophons Memorabilien und zur Kyroupädie: „True biography was preceded or at least inspiringly accompanied by fiction“ (56).

18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium

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lässt, dass er mit den Formen und Gesetzen der Gattung Biographie vertraut oder in antiken Biographien belesen gewesen wäre.80 Das Matthäusevangelium als Biographie zu bezeichnen heißt also m. E., dem Evangelisten einen fremden Hut aufzusetzen, obwohl dieser Hut für sehr viele damalige Leser / ​innen der wohl passendste gewesen wäre.81

IV. Folgerungen für Matthäus IV. 1 Bei Matthäus finden wir zwar bewusste Fiktionen, aber offensichtlich kein Bewusstsein für das Problem der Fiktivität. An was liegt das? Von der Entstehung des Bewusstseins von Fiktionen in der griechischen Geistesgeschichte her könnte man vermuten, dass das Matthäusevangelium als Buch die „identitätsstiftende Leistung der „mémoire collective“ einer „sie tragenden sozialen Gruppe“ repräsentiert, nämlich der matthäischen Gemeinde.82 Es ist eingebettet in die lebendige mündliche Überlieferung seiner Gemeinde. Es ist nicht Teil einer literarischen Kultur, in der es von Einzelnen gelesen wird, und sein Verfasser rechnet wahrscheinlich auch nicht mit von außen kommenden Leser / ​ innen. In dieser Situation ist zwar mit Veränderung der Tradition und in diesem Sinn mit Fiktionen durchaus zu rechnen, aber nicht mit einem (selbstkritischen) Bewusstsein der Fiktivität vonseiten des Autors oder einem entsprechenden (kritischen) Bewusstsein vonseiten der Leser / ​innen. Eine lebendige, eine Gemeinschaft tragende Tradition, der man sich verpflichtet weiß, aber die zugleich (und gerade deswegen!) auch „mit der Zeit gehen“ kann, ist offenbar für Matthäus noch selbstverständlich. Bei Lukas ist an diesem Punkt die Entwicklung weiter fortgeschritten: Für ihn ist die Gefährdung der Gemeinde durch Irrlehrer (Apg 20,29 f) ebensosehr eine Realität wie die Tatsache, dass gebildete Menschen mit literarischen Vergleichsmöglichkeiten sein Werk lesen. Darum muss er bewusst auf Formen der 80 Im Unterschied zu Philostrat, der belesen ist und mit seiner Apolloniusgestalt, wie Graham Anderson, Philostratus. Biography and belles lettres in the Third Century A. D., London 1985, 235 schön formuliert, die besten antiken θεῖοι übertrumpfen wollte: „Apollonius performs the labours of Heracles, the voyages of Odysseus, the conquests of Alexander, the trial of Socrates and the transmigrations of Pythagoras, all in once“. 81 Die Distanz des MtEv zur Biographie läßt sich gerade dort am klarsten erkennen, wo man oft die größte Nähe zu ihr vermutet hat, nämlich am Prolog. Die βίβλος γενέσεως scheint mit den biographischen Hinweisen auf Abkunft und Eltern zusammenzugehören. Aber es fehlen bei Mt die für Biographien wichtigen Hinweise auf Erziehung und Lehrer, die die Eigenschaften und Fähigkeiten des Helden herausstellen. Gerade das, was Biographen deswegen am meisten interessiert, nämlich Berichte über den heranwachsenden Jesus (vgl. Lk 2,41– 52!), bringt Mt nicht. 82 Rösler, Entdeckung (o. Anm. 29), 291.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Historiographie zurückgreifen, die ihm helfen, seine Traditionen zu sichern und zu verteidigen. Wie weit sich daraus für Lukas auch ein Bewusstsein für Fiktivität ergeben könnte und was für eines, ist allerdings eine schwer zu beantwortende Frage. IV. 2 Bei Matthäus finden wir kein entwickeltes Bewußtsein für den Unterschied zwischen Gattungen. Genauer: Matthäus kennt die markinische Jesusgeschichte, aber er wird sie kaum als Repräsentantin einer Gattung wahrgenommen haben. Im Unterschied zu Lukas, der u. a. durch seine Prologe seine Vertrautheit mit hellenistischer Literatur erkennen lässt,83 wird bei Matthäus weder Kenntnis von hellenistischer Historiographie noch Kenntnis von Tragödien, Biographien oder Romanen sichtbar.84 Da unser Durchgang durch die griechische Literatur gezeigt hat, daß ein Bewußtsein von Fiktivität eng verbunden ist mit einem Bewußtsein für den Unterschied zwischen Gattungen, ist auch von hier aus bei Matthäus das Fehlen eines solchen Bewußtseins vermutbar. Die matthäischen Fiktionen sind im Rahmen ernsthafter antiker Geschichtsschreibung unverständlich und unerträglich. Während Lukas der antiken historischen Monographie durchaus nahekommt – personenbezogene Geschichtsschreibung wird im Hellenismus seit Theopomp und Kallisthenes immer wichtiger – , ist das Matthäusevangelium von der Geschichtsschreibung meilenweit entfernt. Gerade etwas, was Matthäus formal mit den Geschichtsschreibern teilt, nämlich die Reden, können das deutlich machen: Die fünf großen Reden des Matthäusevangeliums sind nicht, wie dies einem Historiker an sich erlaubt wäre, vom Evangelisten „nach eigenem Ermessen zur Sache am dienlichsten“85 formuliert, sondern Traditionssammlungen, nämlich thematisch geordnete Sammlungen von Jesusworten. Die gestaltende Tätigkeit des Matthäus bezieht sich vor allem auf die Anordnung des Materials. Und sie erfüllen ein anderes grundlegendes Erfordernis antiker Historikerreden nicht: Sie sind nicht auf die damalige Situation bezogen und erläutern nicht damalige Möglichkeiten und Verhaltensweisen, sondern sie sind zum Fenster hinausgesprochen und reden direkt die matthäischen Leser / ​innen in der Gegenwart an. Sie überspringen die Zeit.

83 Allerdings ist ihm die Unterscheidung des Aristoteles und der Rhetoriker zwischen μῦθος, πλάσμα und ἱστορία nicht vertraut. Sie taucht im NT nirgendwo auf. Philo kennt die Opposition von μῦθος und Wahrheit, braucht aber μῦθος und πλάσμα // πλάσσω parallel (Gustav Stählin, Art. μῦθος, ThWNT 4, 1942, 792 Anm. 139). 84 Mt entwickelt die Markusgeschichte durch Voranstellung von Mt 1–2 zwar tendenziell in Richtung auf eine Herrschervita, vgl. Berger, Hellenistische Gattungen (o. Anm. 62), 1245. Man hat aber nicht den Eindruck, daß eine solche Annäherung aufgrund einer bewußten Übernahme eines literarischen Modells erfolgte. 85 Thukydides, Hist 1,22.

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Insofern gleichen sie den Reden des Mose im Deuteronomium86 und nicht den Reden des Thukydides. Dem entspricht, dass die einzigen Andeutungen von literarischen Vorbildern, die Matthäus macht, ebenfalls auf das Alte Testament weisen: Der Titel βίβλος γενέσεως Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ Δαυὶδ υἱοῦ Ἀβραάμ (1,1) erinnert an Gen 2,4; 5,1 und deutet an, dass er seine Geschichte Jesu in Analogie zur biblischen Grundgeschichte Israels verstanden wissen will. Die vorangestellte Genealogie erinnert an die Chronikbücher. Die für ihn grundlegende Konzeption von Jesus als „Immanuel“, d. h. als definitive Gestalt der alttestamentlich erzählten Präsenz Gottes „mit uns“ (vgl. 1,23 f), zeigt, dass Matthäus mit seinem Buch alttestamentliche Gottesgeschichte zugleich wiederholen und überbieten wollte. IV. 3 Dem entspricht, dass das Matthäusevangelium kein expliziertes Verständnis von Wahrheit zu kennen scheint. Wann ist eine Jesusüberlieferung wahr? Matthäus deutet selbst nie an, in welche Richtung er denken würde. Sicher ist eine Jesusüberlieferung für ihn nicht einfach dann wahr, wenn im Sinn der griechischen Historiker der Bericht mit den Tatsachen übereinstimmt und sich aller dichterischen Übertreibungen und Phantasien enthält. Den griechischen Unterscheidungen von „Geschichte“, „Fiktionen“ und „Mythen“ steht Matthäus völlig fern; für ihn gehört vielmehr alles unterschiedslos zur lebendigen Jesustradition. Ich würde sagen: Die Wahrheit von Fiktionen hängt bei Matthäus daran, dass sie Erfahrungen seiner impliziten Leser / ​innen mit Christus aufnehmen und interpretieren. Aber diese Aussage ist mein moderner, nicht durch Matthäus selbst gedeckter Interpretationsversuch. Die Wahrheit von Jesusüberlieferungen hängt jedenfalls nicht daran, dass sie keine im Sinn der Sophistik „mythischen“ Elemente enthalten.87 Obwohl Matthäus von sich aus kaum „mythische“ Fiktionen schafft, gehören sie zu seiner Jesusgeschichte, denn diese ist ja eine Geschichte „Gottes mit uns“. Matthäus muss sich hier auch gar nicht wehren: Er verrät keinerlei Interesse, bei bestreitbaren und möglicherweise „lügenhaften“ Überlieferungen, zu denen vor allem die Wundergeschichten gehören müssten, ihre Glaubhaftigkeit durch entsprechende Vermerke (z. B. durch Hinweise auf Zeugen) zu erhärten.88 „Fiktionen“ im griechischen Sinn bildet Matthäus zwar, aber er reflektiert über ihre Problematik nicht. Seine Fiktionen 86 Vgl. dazu die wichtigen Erwägungen von Hubert Frankemölle, Jahwebund und Kirche, NTA NF 10, 1973, 339–342. 87 1,25–2,23; 3,13–17; 4,1–11; 14,22–33; 17,1–8; 27,52 f; 28,1–10.16–20 müßten nach antikem Verständnis als mythisch gelten. 88 Nur eines ist Mt wichtig: Jesu Wunder sind nicht das Ergebnis von „teuflischer“ Zauberei, vgl. 12,22–30. Wer Jesus für einen Goeten hält wie die Pharisäer und Schriftgelehrten, entlarvt dadurch seinen Unglauben und steht außerhalb der Gemeinschaft, für die das MtEv identitätsstiftende Tradition ist.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

dienen gerade der Identifikation seiner Jesusgeschichte mit der gegenwärtigen Situation der von Israel getrennten Gemeinde, also der „mémoire collective“. Kurz: Das matthäische Wahrheitsverständnis scheint im Evangelium ebensowenig bewußt reflektiert, wie es ein Bewusstsein von Fiktionalität gibt. Von einem „gespaltenen Wahrheitsverständnis“ kann man also bei Matthäus nicht sprechen; ein solches entsteht erst dann, wenn man sein Buch von außen her liest, z. B. mit dem Wahrheitsverständnis der griechischen Historiographie oder der griechischen Mythenkritik. IV. 4 Gibt es, so müssen wir nach unserem Durchgang durch die griechische Literatur fragen, irgendwo Texte, die für die matthäischen Fiktionen erhellender sein könnten als die herangezogenen? Ich denke ja. Die nächste Analogie zum Matthäusevangelium ist das Markusevangelium. Auch Markus hat, indem er ganz andersartige Materialien und Textsammlungen zu einer chronologischen und geographisch geschlossenen Geschichte zusammenstellte, eine chronologische Fiktion (wahrscheinlich bewusst!) geschaffen, die Matthäus dann weiterführte und „umbaute“. Auch für Markus gilt, dass seine Jesusgeschichte für die Gegenwart transparent ist. Auch Markus konnte um des Gegenwartsbezugs seiner Geschichte willen Einzelheiten fingieren, z. B. die Gestalt des heidnischen Hauptmanns (15,39) oder das Jüngerunverständnis. Auch Markus konnte Perikopen verdoppeln, z. B. die Leidensankündigungen. Matthäus wandelt in den Fußstapfen des Markus, und er will, wenn man schon nach seiner „Gattung“ fragt, für seine Gemeinde ein neues und um die Lehre Jesu ergänztes Markusevangelium schreiben.89 Blickt man über die Grenze der christlichen Gemeinde hinaus, so empfiehlt sich m. E. ein Blick in die biblisch / ​jüdische Literatur: Dort finden wir eine ähnliche Transparenz der Geschichte wie im Matthäusevangelium, z. B. wenn im Deuteronomium Mose dem Volk in der Wüste das für die Gegenwart der Josiazeit gültige Gesetz verkündet oder wenn im Jubiläenbuch die Patriarchen die für die Gegenwart gültigen Gesetze halten. Im biblisch / ​jüdischen Raum müsste man auch nach den matthäischen vergleichbaren Fiktionen suchen. Doch das zu tun übersteigt die Aufgabe, die wir uns hier gesetzt haben.

89 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 7), 28: Die alte Kirche hat von Mt her gesehen völlig zu Recht über die matthäische Geschichte den Titel εὐαγγέλιον und nicht βίος gesetzt.

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? „Biblischer Text und theologische Theoriebildung“ – so lautet das mir gestellte Thema, über das ich anhand des Matthäusevangeliums nachdenken sollte. Matthäus hätte weder gewusst, was Theologie, noch was Theorie ist. Er hat eine Jesusgeschichte erzählt. Sein primärer Bezugstext für seine neue Jesusgeschichte ist nicht die Bibel, sondern eine andere Jesusgeschichte, nämlich die des Markusevangeliums. Wir stehen beim Matthäusevangelium am Anfang eines ähnlichen Überlieferungsprozesses, wie ihn in früheren Jahrhunderten die Grundgeschichte Israels erfahren hat, die immer wieder neu erzählt wurde. Der Unterschied zu diesem Überlieferungsprozess liegt in drei Punkten: 1. Dieser Prozess lief im Frühchristentum im Zeitraffertempo ab, im Wesentlichen innerhalb von etwa zwei Jahrhunderten. 2. Die Kanonisierung der einzelnen frühen Jesusgeschichten erfolgte sehr rasch, sodass sich nicht die neutestamentliche Entsprechung zum heutigen Pentateuch, nämlich das Diatessaron durchsetzte, sondern die einzelnen Jesusgeschichten. 3. Die schnell erfolgende Kanonisierung hatte sehr einschneidende Konsequenzen für die späteren Jesuserzählungen: Von allen Jesusgeschichten, welche nach den kanonischen vier geschrieben worden sind, ist keine einzige ganz auf uns gekommen.1 Ich muss also das übergeordnete Thema ändern, wenn ich Matthäus gerecht werden will. An die Stelle der theologischen Theoriebildung setze ich die Jesusgeschichte des Matthäus und an die Stelle des biblischen Textes das Markusevangelium. Dem entspricht meine Titelfrage: „Ist das Matthäusevangelium eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?“ Es geht mir aber nur im ersten Teil um die Frage, wie weit Matthäus eher als treuer Tradent und wie weit er eher als kühner Neuerzähler zu bewerten sei. Im zweiten Teil, den ich mangels systematischer Einheit schlicht mit „Afterthoughts“ überschreibe, geht es mir um um einige grundsätzliche Folgerungen aus dem Gesagten.

1 Dazu gehören z. B. das Petrusevangelium, das Nazaräer‑ und das Hebräerevangelium, das sog. „geheime“ Markusevangelium und der Papyrus Egerton.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

I. Matthäus als Tradent und Neuerer Matthäus ist nicht leicht zu fassen. Das Gesamtbild, das seine Geschichte bietet, ist das einer sehr grossen Treue zu seinen Quellen und Traditionen. Aber an einzelnen Stellen kommt es aber ganz überraschend zu sehr kühnen Neuerungen. Ich möchte dies exemplifizieren: 1.1 Der Titel 1,1. Matthäus gibt seinem Buch einen neuen Titel. Den markinischen übernimmt er nicht, vermutlich, weil er εὐαγγέλιον anders, präziser codiert hat als Markus.2 Das weist von vornherein auf ein Moment der Neuheit in seiner Jesusgeschichte. Ich habe mich dabei von Davies / ​Allison und Moisés Mayordomo3 überzeugen lassen, dass man diesen Titel ohne grössere Schwierigkeiten auf das ganze Buch beziehen kann. Βίβλος lässt bekanntlich die Leser / ​ innen an das ganze Buch denken, während γένεσις nach Mt 1,18 eher nur an die Geburtsgeschichten (und vielleicht den Stammbaum) erinnert. Aber man kann im Anschluss an Gen 2,4 und 5,1 und in Übereinstimmung mit dem damaligen Sprachgebrauch bei γένεσις auch an das erste Buch der griechischen Bibel denken. Damit ist einerseits ein Anküpfungspunkt gegeben: Βίβλος γενέσεως lässt die Leser / ​innen an das Buch Genesis denken, sodass sie darauf vorbereitet sind, wenn in der mt Jesusgeschichte immer wieder die Bibel als programmatischer Referenztext erscheint. Ähnlich wie das Buch Genesis will das Buch, das Matthäus schreibt, eine Grundgeschichte des Glaubens sein. Auf der anderen Seite wird durch den Genetiv Ἰησοῦ Χριστοῦ ein kontrapunktisches Moment gesetzt: Diese „Genesis“ erzählt von Jesus Christus, dem Davidssohn und Abrahamssohn. Es geht also um eine neue Grundgeschichte, nämlich diejenige von Jesus Christus. Mit dem neuen Titel ist also ein gegenüber Markus neuer Referenzrahmen für die Jesusgeschichte des Matthäus gesetzt. 1.2 Mt 1–11. Der erste Teil der mt Jesusgeschichte (Kap. 1–11) hat mit der mk Jesusgeschichte nur wenig zu tun. Nur gerade in 3,1–4,22 folgt Matthäus der mk Reihenfolge. Sonst hat er zwar die Stoffe des Mk rezipiert und sie durch Q-Stoffe ergänzt, aber daraus eine ganz neue Geschichte gemacht. Die kühnste Neuerung gegenüber Mk sind die Kapitel 8–9: Hier stellt Matthäus Wundergeschichten und Streitgespräche, welche teils in Mk 1,40–2,22, teils in Mk 4,35– 5,43 und teils in der Logienquelle stehen, zu einem völlig neuen, chronologisch und geographisch geschlossenen Erzählgewebe zusammen.4 Genauer: Er stellt 2 Εὐαγγέλιον meint als εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας die Verkündigung Jesu, bzw. in 26,14 vermutlich bereits die Geschichte Jesu. 3 William D. Davies / ​Dale C. Allison, The Gospel according to St. Matthew I, ICC, Edinburgh 1988, 150–154; Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–213. 4 Vgl. dazu Ulrich Luz, Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: Gerald Hawthorne  / ​ Otto Betz (Hg.) Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E. E. Ellis), Grand Rapids / ​Tübingen 1987, 149–165, in diesem Band Nr. 14.

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? 329

nicht einfach einen Block von Wundergeschichten zusammen, sondern er schafft einen neuen, chronologisch und geographisch geschlossenen Geschehensablauf. Er erzählt also eine neue Geschichte: Jesus, der Messias seines Volkes, der Davidssohn, heilt sozusagen ununterbrochen die Kranken im Volk Israel. Er fährt hinüber ans jenseitige Ufer und kehrt dann zurück in seine Stadt. Dort kommt es zu den ersten Konflikten mit seinen künftigen Gegnern, den Schriftgelehrten und den Pharisäern. Am Schluss dieser Geschichte des Wirkens Jesu in Israel kommt es zu einer Spaltung: Den Volksmassen gegenüber, welche Jesus gegenüber positiv eingestellt sind, stehen die Pharisäer, die ihn als Agenten des Teufels ablehnen (9,32–34). Kap. 11 ist nur scheinbar ein blosser Nachtrag von Q-Stoff, der bislang keinen Platz fand: Diese „Nachtrag“ entpuppt sich als eine Busspredigt an „diese Generation“ und an die Städte Galiläas zu (11,16–24), welcher der Evangelist dann den Lobpreis des Vaters für die Erwählung der νήπιοι gegenüberstellt (11,25–30). Auch hier endet also eine längere Erzählsequenz mit einer Spaltung in Israel. Als Fazit kann man formulieren: Aus ganz und gar vorgegebenen Stoffen schafft Matthäus eine ganz und gar neue Geschichte. Nach diesem eindrucksvollen neuen Eingangsteil ist es dann überraschend, dass der Evangelist ab Kapitel 12 ganz anders verfährt: Von nun an gibt er den Erzählungsfaden des Markusevangeliums ohne irgend eine Umstellung und fast ohne Auslassungen wieder. Es ist, als ob nach einem gewaltigen Neueinsatz seine Gestaltungskraft plötzlich erlahmte. 1.3 Der Prolog 1,2–4,16. Die Kindheitsgeschichte von Mt 1–2, die Geschichte von der Geburtsankündigung, der Verfolgung und der Rettung des Königskindes Jesus ist m. E. keine neue Geschichte, sondern eine in der Gemeinde bereits bekannte, von biblischen und anderen Motiven inspirierte Geschichte, welche Matthäus nur erstmals verschriftlichte.5 Und dennoch ist der mt Prolog etwas ganz Neues: Obwohl der Beginn der mt Jesusgeschichte die Leser / ​innen an Biographien anderer Gottesmänner, nicht zuletzt des Mose erinnert, werden sie enttäuscht, wenn sie nun eine Art Biographie erwarten: Spätestens dann, wenn es um die in der Biographie so wichtige Erziehung und Entwicklung des Helden geht, wird die mt Geschichte stumm. Obwohl in der Antike relativ oft über Prologe und Buchanfänge nachgedacht wurde,6 scheint sich Matthäus an keine literarische Konvention zu halten. Nur das formale Anliegen hat er mit anderen 5 Das ergibt sich aus verschiedenen Indizien, u. a. den Erfüllungszitaten, welche in den meisten Fällen von Mt nicht erstmals entdeckt worden sind, sondern aus christlicher schriftgelehrter Überlieferung stammen und von Mt in ihrem Wortlaut manchmal etwas verändert in den Erzählzusammenhang eingefügt worden sind. Sie sind in der Mehrzahl der Fälle nur im Zusammenhang mit den Erzählungen, zu denen sie im Mt-Ev gehören, sinnvoll. 6 Vgl. Francis M. Dunn / ​Thomas Cole (Hg.), Beginnings in Classical Literature, Yale Classical Studies, Cambridge 1992. Dennis E. Smith, Narrative Beginnings in Ancient Literature and Theory, Semeia Nr. 52 (1990) 1–6 unterscheidet formgeschichtlich zwischen dem

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III. Studien zum Matthäusevangelium

erzählenden Proömien gemeinsam, dass er die Leser / ​innen auf die folgende Geschichte vorbereiten und ihnen Lichter für ihre eigene Sinnkonstruktion aufsetzen will. Sie bleiben in Mt 1–4 vor allem an den zahlreichen Erfüllungszitaten hängen. Diese funktionieren in der Erzählung gleichsam als Haltepunkte, welche sie einladen, über den Sinn des Erzählten nachzudenken. Inhaltlich geht es in ihnen, wie seit Stendahl7 oft gesagt wurde, um das „Quis?“ und das „Unde?“, d. h. die Christologie und den Weg Jesu. Auf die Frage „wer?“ gibt der Evangelist mit „Immanuel“ (1,23) und mit „mein Sohn“ (2,16) zwei grundlegende Antworten. Während die Geschichten von der Taufe Jesu und von seiner Versuchung (3,1–4,11) den Leser / ​innen ansatzweise deutlich machen, was dem Erzähler an der Gottessohnschaft Jesu vor allem wichtig ist, bleibt das „Immanuel“ von 1,23 ein noch einsames Motiv: Erst die Matthäusgeschichte im ganzen wird „Immanuel“ als Grundmotiv einer Musik erkennbar machen, welche die ganze Jesusgeschichte bestimmt. Beim Weg Jesu ist nicht nur sein Anfang, sondern vor allem auch sein Ziel wichtig:8 „Galiläa der Heiden“ (4,15) ist vom Ende des Evangeliums her gesehen nicht nur der Ausgangspunkt der Geschichte Jesu, sondern auch ihr Ziel. Die Jesusgeschichte des Matthäus erzählt vom Messias Israel, der aus der Davidstadt Betlehem über Galiläa und Jerusalem endgültig ins „Galiläa der Heiden“ zieht. Ich denke, dass mit dem Prolog ein Vorgriff auf die ganze Jesusgeschichte verbunden ist und dass Matthäus seine Leser / ​innen darauf vorbereiten will, worum es in seiner ganzen Geschichte gehen wird. In dieser Doppelheit als „Anfang“ und als „Prolepse“ des Ganzen ist m. E. der mt Prolog völlig analogielos, ein genialer Entwurf des Evangelisten. Fazit: Aus traditionellen Stoffen, aus einem Überlieferungskranz über die früheste Kindheit des Königskindes Jesus, dem Anfang der Markusgeschichte und dem Anfang der Logienquelle hat Matthäus seinen Prolog gestaltet. In ihm ist fast alles traditionell, und doch ist das Ganze, nicht nur ein paar Zusatzstücke, neu. 1.4 Die Reden. Der Gedanke, die für die Gegenwart direkt relevante Verkündigung Jesu in fünf thematisch geordneten Reden zusammenzustellen, ist genial und hat zur Wirksamkeit des Matthäusevangeliums viel beigetragen. Dass Mt dabei von den fünf Büchern Mose inspiriert wurde, ergibt sich nicht zuletzt aus den klaren Rückbezügen auf die Sinaiszene in Mt 5,1 und 8,1. Ohne dass deutliche Entsprechungen zwischen einzelnen Büchern des Pentateuch und einzelnen Abschnitten des Evangeliums erkennbar wären, kann man doch sagen, dass sein literarisches Grundmodell, nämlich die Geschichte von Gottes Handeln mit „Vorwort“ (προοίμιον), dem dramatischen Prolog und dem „Incipit“. Mt 1,1 kann als „Incipit“ gelten; der mt Prolog passt in keine der drei Kategorien. 7 Krister Stendahl, Quis et unde? An Analysis of Mt 1–2, in: Walther Eltester (Hg.), Judentum – Urchristentum – Kirche (FS J. Jeremias), BZNW 26, Berlin 1964, 94–105. 8 Im Blick auf die ganze mt Jesusgeschichte sollte man nicht so sehr vom „Quis et unde“, als vom „quis et quo“ sprechen.

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? 331

darin eingelagerten Reden, welche direkt die gegenwärtigen Leser ansprechen, demjenigen des Pentateuchs entspricht. Hier ist Matthäus ein Wurf gelungen, dessen literarische Qualität z. B. ein Vergleich mit dem ungleich chaotischer und ungeordneter wirkenden Lukasevangelium deutlich macht. Die Besonderheit der fünf Reden wird deutlich, wenn man sie mit den „kleinen“ Jesusreden vergleicht, welche nicht durch eine jeweils ähnliche Abschlusswendung herausgehoben werden, nämlich mit 11,7–25; 12,26–37 + 38–45; 21,28–22,14 und 23,1–39. In diesen Reden geht es im Grossen und Ganzen um Gerichtsankündigung an Israel oder um die Deutung des Weges Gottes mit Israel. Sie sind eng mit der mt Geschichte der Auseinandersetzung Jesu mit Israel verbunden, deuten sie und treiben sie voran. Die direkte Anredefunktion dieser Texte an die christlichen Leser / ​innen ist im Ganzen von zweitrangiger Bedeutung. Am deutlichsten ist das bei der grossen Weherede Jesu gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer Mt 23, welche der Evangelist als Schluss und Höhepunkt seiner grossen Abrechnung mit seinen Gegnern im Tempel konzipiert hat.9 Sie ist primär eine direkte Gerichtsankündigung, zuerst an die feindlichen Führer Israels und am Schluss, in V 34–39, an das ganze Volk. Erzählerisch hat sie die Funktion, den Schlussstrich unter die vielen Auseinandersetzungen Jesu mit seinen Gegnern zu ziehen und seinen und seiner Jünger Auszug aus dem Tempel vorzubereiten (24,1 f). Eine direkte paränetische Bedeutung für die Gemeinde hat sie nur ausnahmsweise (vor allem 23,8–12!) und indirekt. Sie ist also gerade kein Gegenstück zur Bergpredigt.10 Eher ist es ihre Absicht, solchen christlichen Leser / ​innen, die sich noch als Jesusanhänger / ​innen intra muros verstehen, zu einer klaren Identität zu helfen: Nach dem siebenfachen Wehe des künftigen Weltrichters Jesus gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten soll es für die Leser / ​innen unmöglich werden, noch auf beiden Seiten zu hinken. Sie sollen mit Jesus und seinen Jüngern aus dem Tempel der Feinde Jesu ausziehen.

Die „kleinen“ Reden Jesu im Mt-Ev haben also in der Regel eine wichtige Funktion innerhalb der mt Geschichte Jesu mit seinem Volk. Ganz anders ist es in den fünf „grossen“ Reden: Sie haben zwar innerhalb der Jesusgeschichte ihren unverwechselbaren Ort, aber sie treiben die Geschichte nicht oder kaum voran. In ihnen spricht Jesus zum Fenster der damaligen Geschichte hinaus in die Gegenwart seiner Leser / ​innen. Am deutlichsten wird das bei Mt 10 sichtbar, wo die Jünger, die Jesus aussendet, weder von ihm weggehen, noch zu ihm zurückkehren. Deutlich wird das auch in Kap. 13: Jesus hat in dieser Rede zwar die Verstockung des Volkes angesagt und sich mit seinen Jüngern in ein Haus zurückgezogen. Nachher aber wirkt er weiter unter dem Volk, ohne dass Mt 13  9 Sie ist also nicht als Teil der letzten der „grossen“ Rede, der Gerichtsrede zu betrachten, welche nur Kap. 24 f umfasst, vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus III (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Düsseldorf 1997, 172 f. 10 Gegen Hubert Frankemölle, Pharisäismus in Judentum und Kirche. Zur Tradition und Redaktion in Mt 23, in: ders., Biblische Handlungsanweisungen, Mainz 1983, 168–183.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

irgendwelche Konsequenzen hat. Die fünf Reden enthalten die für die Gemeinde gültige Verkündigung Jesu, das εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας. Obwohl die fünf grossen Reden das für die eigene Gegenwart des Matthäus gültige „Evangelium“ Jesu enthalten und vom Evangelisten sehr selbständig konzipiert und neu komponiert worden sind, sind sie in einem ganz hohen Masse traditionsgebunden. Es gibt in ihnen fast keine rein redaktionelle Jesusworte.11 Die Jesusworte der Reden waren für die lesende oder hörende Gemeinde nicht neue, „geheime Worte“, deren tiefen Sinn es zu entdecken galt, sondern es waren die ihr längst bekannten Worte ihres einzigen Lehrers Jesus (23,8), in ihre eigene Situation hinein zugespitzt. Bei Matthäus überwiegt in diesem Sinn die Tradition über die Interpretation: Die Interpretation verschlingt und verwandelt nicht das Überlieferte, sondern lässt es als Gegenüber stehen. Dies wird auch aus der Anlage der mt Reden sofort einsichtig: Matthäus setzt sie nicht einfach selbstherrlich in sein Buch, sondern er greift kürzere oder längere Jesusreden aus dem Markusevangelium bzw. im Fall der Bergpredigt aus Q auf und baut sie aus. Er verbindet fast immer die mk Grundrede mit parallelen Worten aus Q und fügt weitere Jesusworte aus Q oder aus Sonderüberlieferungen an, teils ganze Blöcke, wie sie in Q standen, teils passende Worte, welche er aus verschiedenen Abschnitten von Q exzerpierte. Die Logienquelle Q hat für ihn also gegenüber der Markusgeschichte einen deutlich geringeren Stellenwert: Ist diese für ihn die Grundgeschichte Jesu, welche er neu schreibt, so ist jene eine Materialsammlung, die er benutzt und exzerpiert.12 Er rangiert Markusstoff in seinen Reden vor Q-Stoff; darüber hinaus hat er eine gewisse Neigung, Q-Stoffe in den Reden vor seinem Sondergut zu platzieren, wenigstens dann, wenn dieses nur mündlich überliefert war. Fast möchte man sagen, Mt baue seine Reden ziemlich äusserlich nach der Würde seiner Quellen auf. Und dennoch sind sie in erster Linie in sich stimmig und sinnvoll aufgebaut. Deutlich deutlich wird das an dem geradezu grossartig durchdachten Aufbau der Bergpredigt oder am dreiteiligen Aufriss der eschatologischen Rede Mt 24 f mit ihrem paränetischen Mittelteil.13 In beiden Fällen – und dies gilt auch für die übrigen Reden – hat der kunstvolle Aufbau einer Rede zugleich einen grossen theologischen Aussagegehalt. Fazit: Auch in den Reden gelingt es Matthäus, neue Konzeptionen zu schaffen und die Tradition weitgehend unangetastet weiter zu überliefern. Ich halte das für eine hohe Kunst und Matthäus für einen Schriftsteller von hoher Begabung.

11 Die

Erklärung der Parabel vom Taumellolch im Weizenfeld (Mt 13,37–43) ist eine grosse Ausnahme. 12 Vgl. Ulrich Luz, Matthäus und Q, in: Rudolf Hoppe / ​Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 201–215; in diesem Band Nr 11. 13 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus I (Mt 1–7), EKK I/1, Neukirchen / ​ Zürich 52002, 253–255; ders., Mt 18–25 (o. Anm. 9), 402 f.

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1.5 Weggelassenes und radikal Verändertes. Mt lässt im Grossen und Ganzen kaum etwas aus dem Mk-Ev weg. Er hat das Markusevangelium vollständiger überliefert als Lk, wenn man nicht zur These greifen will, dass Mk 6,45–8,26 in dem Exemplar, das Lk benutzte, nicht enthalten war. Die von Mk erzählten Episoden aus dem Leben Jesu sind ihm also kostbar. Bei der Logienquelle ist es ähnlich: Er hat ihre Texte in einigen wenigen Fällen vielleicht gestrafft, aber, soweit wir sehen können, kaum etwas weggelassen.14 Umso auffälliger ist es, wenn in einzelnen Fällen Mt sich grosse Kühnheiten leistet. Er lässt z. B. die schöne und zu seinem Jesusverständnis gut passende Geschichte von der Gabe der armen Witwe aus Mk 12,41–44 weg, denn an der Stelle, wo sie bei Mk steht, stört sie. Nach der Gerichtsansage Jesu an Israel bzw. an Jerusalem (23,34–39) sollen Jesus und seine Jünger den Tempel unmittelbar verlassen, um ihn nie weder zu betreten (24,1 f). In diesem Fall ist klar, dass die Geschichte von der Witwe der inneren Stringenz der mt Jesusgeschichte geopfert wird. Bei anderen Einzelheiten ist Mt noch kühner. Ich nehme als Beispiel die Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus aus Mk 10,46–52. Sie wird zweimal erzählt, und zwar als zwei verschiedene Heilungen von je zwei Blinden. In diesem Fall hat Mt bewusst eine Dublette geschaffen. Es ist verstehbar, warum: Heilungen von Blinden sind für Mt die wichtigsten aller Heilungen Jesu, während umgekehrt die Schriftgelehrten und Pharisäer „blind“ sind: Jesus macht überhaupt die Blinden sehend, nicht nur die physisch Blinden. Ähnlich wird die Heilung des stummen Besessenen aus Q 12,22–24 zweimal berichtet. Wiederum ist aus dem Aufriss der mt Geschichte verständlich, warum: Nach dieser Heilung kommt es zur Spaltung im Volk. Mt präzisiert den Q-Text: Es geht um die Spaltung zwischen dem Volk und seinen jesusfeindlichen Führern. Weil sie für seinen eigenen Erzählungsfaden so wichtig ist, erzählt er auch diese Episode zweimal. Wiederholung ist ein wichtiges erzählerisches Mittel, um Wichtiges herauszuheben. Gerade bei fortlaufender Lektüre wird es wirksam.

Fazit: Obwohl Mt ein sehr traditionsorientierter Evangelist ist, leistet er sich in einigen Fällen grosse Kühnheiten. Sie stehen fast immer im Dienste des Konzepts seiner Jesusgeschichte. 1.6 Der Schluss der Jesusgeschichte. Anfang und Schluss lassen bei Erzählungen meist am deutlichsten die Absicht des Erzählers heraustreten. Der Schluss des Evangeliums, etwa ab 27,62, ist fast ganz von Matthäus selbst gestaltet. Die Erzählweise ist ähnlich wie in Kapitel 2: Es wechseln Episoden, in denen die Gegner Jesu am Werke sind, mit solchen ab, die von Gottes Handeln erzählen (27,62–66; 28,4.11–15, bzw. 28,1–3.5–10.16–20). Die mt Jesusgeschichte hat also ein doppeltes Ende: Matthäus erzählt einerseits die Verstrickung der Schriftgelehrten und Hohepriester in ihre eigene Lüge und den Unglauben bei vielen Juden gegenüber Jesu Auferstehung „bis heute“ (28,15), andererseits den Befehl des Auferstandenen an die elf Jünger, zu allen Völkern zu gehen, und die das „bis heute“ bewusst überhöhende Verheissung des Beistandes des Auferstandenen für seine Gemeinde „bis zum Ende der Welt“ (28,20). Dem doppelten Ende entspricht ein geographisches Auseinandergehen: Die Jünger verlassen auf Befehl Jesu die heilige Stadt Israels, der Jesus deutlich das Gericht angesagt hatte; sie 14 Vgl.

Luz, Mt und Q (o. Anm. 12), 204, in diesem Band Aufsatz Nr. 11, Abschnitt I 3.

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ziehen zurück nach Galiläa, in das „Galiläa der Heiden“ von 4,15, und erhalten von Jesus einen neuen Auftrag, der den exklusiven Missionsbefehl gegenüber Israel von 10,5 f erweitert und in seiner Exklusivität ausser Kraft setzt. Von Galiläa, nicht von Jerusalem aus öffnet sich ihr Weg in die Zukunft. Bei diesem „doppelten Schluss“ des Mt-Ev ist m. E. der red. Gestaltungsanteil so hoch, wie nirgendwo sonst im ganzen Evangelium.15 Die Episode mit den Grabwächtern (27,62–66; 28,11–15) ist so gut mit dem Makrotext des Evangeliums verwoben und enthält eine so tiefe, erst im Makrotext des Evangeliums sichtbar werdende raffiniert-boshafte Ironie, dass ich dazu neige, hier dem Evangelisten den Hauptanteil an der Gestaltung zuzuweisen. Die schwierigen Diskussionen über das Verhältnis des Mt-Ev zu den Grabwächter‑ und Auferstehungsgeschichten des Petrusevangeliums zeigen m. E. deutlich, dass das Petrusevangelium eine spätere Weiterentwicklung der Grabwächtertraditionen darstellt, die keinesfalls eine Quelle des Mt sein kann. Vielleicht kannte Mt eine ältere Überlieferung über Grabwächter, aber die Geschichte, die er erzählt, ist deutlich seine Geschichte. Und wenn die Grabwächter einmal da sind, ist Mt 28,2–4 nicht so schwer verständlich: Mt hat mit biblischen Farben die bei Mk bereits vorausgesetzte Engelerscheinung beschrieben und den Grabwächtern das vorenthalten, was er ihnen vorenthalten musste, nämlich dass auch sie das Wort des Engels hören. Sie fielen also um wie tot. Mt 28,2–4 ist also m. E. ein Stück erzählerische Haggada, welche den Markustext, die Grabwächter und die Bibel, vor allem Dan 10,5 f, voraussetzt. Auch in Mt 28,16–20 ist der Eigenanteil des Evangelisten sehr hoch: Ich nehme an, dass es eine vormt Überlieferung von einer Erscheinung Jesu vor den Elfen auf einem Berg (in Galiläa?) gegeben hat, aber zu sagen, wie sie ausgesehen hat, erlaubt der bis auf den Taufbefehl kompakt mt konzipierte und formulierte Text nicht mehr. Deuten kann ich nur noch den heutigen Text Mt 28,16–20 als Schluss der Matthäusgeschichte: Danach befiehlt der Auferstandene seinen Jüngern gemäss der Macht, die ihm über den ganzen Kosmos gegeben ist, zu allen Völkern zu gehen und sie zu Jüngern zu machen. Ich denke nicht, dass das im Sinn des Evangelisten, der ja ein jüdischer Jesusjünger ist und eine jüdische Jesusgemeinde repräsentiert, meinen kann, dass von nun an Israelmission prinzipiell ausgeschlossen sein soll. Aufgehoben wird durch 28,19 die Ausschliesslichkeit der Israelmission. Wohl aber denke ich, dass für ihn, dessen Gemeinde vermutlich in Syrien ausserhalb von Erez Jisrael lebt, der Missionsbefehl eine neue Orientierung bzw. die Bestätigung einer neuen Orientierung bedeutet, welche sie nach den traumatischen Erfahrungen des Auseinandergehens der Wege und des jüdischen Krieges in der neuen Heimat gewonnen hat. Der Schluss des Matthäusevangeliums weist also nochmals darauf hin, dass die mt Jesusgeschichte eine neue, eigene Jesusgeschichte ist. Dass der Traditionsanteil in diesem Abschnitt so gering ist, hat natürlich damit zu tun, dass das dem Evangelisten vorliegende Markusevangelium mit 16,8 abgebrochen ist – ob es mit 16,8 wirklich zu seinem Ende gekommen ist, wage ich nicht mehr sicher zu sagen. Matthäus musste also selbst gestalten. Aber er wollte auch selbst gestalten. Seine Jesusgeschichte spiegelt die Geschichte seiner eigenen Gemeinde in Israel, die Konflikte und die Feindschaft, welche sie dort vermutlich erlebte. Sie spiegelt die Zerstörung Jerusalems und ihre eigene Trennung von den 15 Vgl. zu den Begründungen die Analysen zu den Texten Mt 27,62–28,20 (jeweils Abschnitt 2) in Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus IV (Mt 26–28), EKK I/4, Neukirchen / ​Düsseldorf 2002.

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pharisäisch dominierten Synagogen in seiner Umgebung. Matthäus wollte neben seinem Anfang gerade seinen Schluss neu gestalten, weil hier die Geschichte Jesu gleichsam in seiner eigenen Lebenswelt angekommen ist.

1.7 Ich versuche ein Fazit der bisherigen Darstellung: Erzählt nun Matthäus eine neue Jesusgeschichte oder ist er lediglich ein Redaktor der markinischen? Es fällt schwer, eine alternative Antwort zu geben. Er schreibt eine neue Jesusgeschichte – das machen gerade ihr Anfang und ihr Schluss deutlich. Sie ist neu, weil ihr Erzähler in einer neuen Situation lebt, welche sich in seiner Jesusgeschichte spiegelt. Sie ist neu, weil Jesus Antworten auf die Fragen seiner Gegenwart geben muss und nicht einfach als eine Gestalt der Vergangenheit in der Vergangenheit bleiben kann. Matthäus erzählt darum seine Jesusgeschichte als Geschichte von Jesu Schicksal in Israel und als Geschichte der Spaltung Israels an Jesus, die damit endet, dass der jesusgläubige Teil Israels zum Teil einer neuen Gemeinschaft aus allen Völkern wird, welche das Erbe Israels antritt. Auf dieser Ebene gelesen ist die matthäische Jesusgeschichte erstaunlich kohärent. Zugleich ist aber sie erstaunlich traditionsorientiert. Ich weise zum Vergleich auf das Johannesevangelium, in dem der irdische Jesus immer wieder von den Tiefen der Einsichten des Parakleten verschlungen zu werden droht. Gerade weil in beiden Evangelien sich die eigenen Gegenwartserfahrungen spiegeln, und gerade weil es in beiden Evangelien ähnliche Erfahrungen sind, nämlich das Nein Israels zu Jesus und die Trennung von den Synagogen, ist der Unterschied zwischen Mt und Joh umso auffälliger. Das Matthäusevangelium ist eine sehr traditionsbezogene Jesusgeschichte, deren Autor mit den ihm vorgegebenen Quellen zurückhaltend und sorgfältig umgeht. Die Jesusgeschichte soll Jesusgeschichte bleiben. Matthäus wählt nicht, wie Johannes, aus der reichen Überlieferung grosszügig aus, sondern er ist gegenüber der ganzen Überlieferung treu. Sein εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας ist die Verkündigung Jesu, und darum muss auch die Geschichte, die er erzählt, die ganze, unverkürzte Geschichte Jesu bleiben. Wie ist das zu verstehen? Als ein Akt sorgfältiger Balance? Als ein Hinken auf zwei Füssen? Als ein etwas mutloser Mut zur Neuerung? Ich verstehe es als einen Teil seines Traditionsbezugs, denn dass die Überlieferungen von Jesus und die ganze Jesusgeschichte immer wieder neu erzählt werden musste, war ja bereits ein Teil des Erbes der Tradition, die er übernahm. Dass die matthäische Jesusgeschichte transparent für die eigene Gegenwart ist, gleichsam als ein „two-level drama“, wie es J. L. Martyn schön für das Johannesevangelium formulierte,16 ist ein Wesenszug, den sie mit der Jesusgeschichte des Markus teilt. Die mt Geschichte der Auseinandersetzungen Jesu in Israel und seine Hinführung zur Völkermission nimmt einen Spannungsbogen der mk Jesusgeschichte auf, – vielleicht nur den zweitwichtigsten, denn das Verhältnis Jesu zu seinen unverständigen Jüngern scheint das Markusevangelium noch stärker zu 16 J. Louis

Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville 21979, 129–148.

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beschäftigen als das Problem „Israel und die Völker“.17 Aber jedenfalls entfaltet Matthäus in seiner neuen Jesusgeschichte etwas, was im Markusevangelium teils implizit, teils explizit bereits enthalten ist, und insofern verdankt er gerade seine neue Jesusgeschichte seiner wichtigsten Quelle. Noch wesentlicher scheint mir aber der Hinweis auf den christologischen Grund dieser für die Gegenwart transparenten Geschichte des Matthäus: Dass der damalige Jesus zugleich Immanuel ist, also heutige Gestalt der Gegenwart Gottes, ist der tragende Grund seiner Geschichte. Dass der Immanuel kein anderer als Jesus ist und bis ans Ende der Welt kein anderer sein wird, ist der Grund, warum ihm nicht nur die Worte Jesu, sondern auch seine Geschichte so wichtig sind. Darum kann er ebenso wenig Jesu Worte durch seine eigene Glaubenschau überformen wie die Geschichte Jesu auf eine exemplarische Auswahl aus ihr reduzieren. Oder nochmals anders: Mt 28,20 lautet: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“, und nicht der Geist bzw. der Paraklet wie Joh 14,16. Das nötigte Matthäus, bei der markinischen Jesusgeschichte zu bleiben, denn sie war die Vorgabe, die ihm seine eigene Geschichte ermöglichte. Ich denke, dass er gerade darin wiederum ganz nahe bei Markus selbst ist, dem es darum ging, in seinem ganzen Buch die ἀρχή, die zugleich der Anfang und die bleibende Grundlage der Verkündigung seiner Kirche ist, zu sichern.

II. Afterthoughts 2.1 Neuheit und Wahrheit. Die Neuheit der matthäischen Jesusgeschichte stellt vor die Frage nach ihrer Wahrheit. Gibt sie selbst Anhaltspunkte, die Rückschlüsse darauf erlauben, wie der Evangelist über die Wahrheit seiner Jesusgeschichte reflektiert hätte? Der Text bietet für diese Frage keine direkte Eintrittspforte. Das Wort ἀλήθεια, dessen johanneischer und in gewisser Weise auch dessen paulinischer Gebrauch unsere heutige theologische Diskussion über „Wahrheit“ so angeregt haben, kommt bei Matthäus nicht vor. Nur en passant und eher im Sinn eines symbolischen Hinweis möchte ich daran erinnern, dass von den drei Vorkommen des Adverbs ἀληθῶς bei Mt zwei in einem zentralen Bekenntnissatz stehen: ἀληθῶς υἱὸς θεοῦ εἶ (14,33, ähnlich 27,54). Das ist vielleicht ein Hinweis auf ein mt christologisches „Präferenzkriterium“18. Aber darüber hinaus lässt uns das Matthäusevangelium bei der Reflexion auf das ihm zugrundeliegende Wahrheitsverständnis im Stich. Wahrheit ist für Matthäus jedenfalls mehr als Korrespondenz von Bericht und Berichtetem. Zwar ist die Geschichte Jesu vorgegeben. Wie verhält sich dazu 17 Vgl.

Zenji Kato, Die Völkermission im Markusevangelium, EHS 23/252, Bern 1986. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999, 459–479. 18 Christoph

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die Freiheit, die Matthäus sich nimmt, die Jesusgeschichte zu verändern, wie z. B. in Kap 8–9? Er tut damit ja etwas anderes als das, was antike Biographen tun, wenn sie z. B. eine Reihe ähnlicher Taten ihres Helden als Beispiele für seine Tugenden zusammenstellen. Bei Matthäus kommt es vielmehr gerade auf die zeitliche Sequenz an. Was ist ihr Sinn? Sie will – mit matthäischen Worten ausgedrückt – zeigen, dass Jesus „in ganz Galiläa … jede Krankheit und jede Schwäche im Gottesvolk“ Israel heilte (4,23). So fing also die Wirksamkeit des Davidssohns in Israel an: Von lauter Zuwendung zu Israel war sie getragen. Ich denke also nicht, dass es die Absicht des Matthäus gewesen ist, gegenüber der markinischen Abfolge die „richtigere“ Abfolge – richtiger im Sinne dessen, wie es wirklich gewesen ist – herzustellen. Vielmehr wählte er eine andere Sequenz, weil er die Geschichte Jesu mit anderen Akzenten interpretierte als Markus. Mit anderen Worten: Die neue Sicht der Geschichte Jesu verändert bei ihm auch die Geschichte selbst. Geschichte ist immer schon interpretierte Geschichte, und das war dem Autor Matthäus, der sie änderte, ganz klar. Ich wähle ein anderes Beispiel, nämlich die bekannte, von ihm zugefügte Episode von der – bedingten – Selbstverfluchung des ganzen Volkes in 27,25. Es muss Matthäus bewusst gewesen sein, dass er sie seinem Markustext zufügte. Er hätte vermutlich die erstaunte Frage eines Modernen nicht verstanden, ob sich denn das wirklich so zugetragen habe, da ja kaum das ganze Volk auf dem Plätzchen vor dem Prätorium Platz gefunden hätte.19 Er hätte darauf verwiesen, dass in seiner eigenen Zeit das Volk Israel in seiner Gesamtheit – das heisst natürlich nicht: alle einzelnen Israeliten – von seinen falschen Führern verführt zu Jesus Nein gesagt habe. Deshalb repräsentiert die damals anwesende grössere oder kleinere Menschenmasse in der Retrospektive „das ganze Volk“. Und auf die moderne Frage, was ihm denn das Recht gebe, diese grausliche Szene von der Selbstverfluchung des Volkes zu fingieren, hätte er wohl als Jude geantwortet, dass ihn die Zerstörung des Tempels zu einer Reflexion über die Schuld des Volkes nötige,20 denn die Zerstörung des Tempels und der heiligen Stadt müsse doch die offensichtliche Strafe Gottes für die Sünde des Volkes sein. Diese Sünde war für ihn vor allem die bewusste Ablehnung Jesu. Mt 27,25 illustriert also haggadisch Gottes Handeln in der Geschichte und ist insofern der Höhepunkt seiner Schilderung des Pilatusprozesses.21 Kurz: Die Interpretation der Geschichte Jesu, die gespiesen wird von den Erfahrungen des Matthäus und seiner Gemeinde mit ihr, bestimmt also seine Erzählung bis dahin, dass sie die 19 Pinhas

Lapide, Wer war schuld an Jesu Tod?, Gütersloh 1987, 88. prophetischer Tradition ist die Zerstörung der heiligen Stadt immer als Gottes Strafe für Israels Sünde gedeutet worden, z. B. bei Josephus als Strafe für die Sünde der Zeloten. Rabbinische Belege bei Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 9), 242 Anm. 57. 21 Der Vers ist aber kein „dogmatisches Theologumenon“ (so Wolfgang Trilling, Das wahre Israel, EThS 7, Leipzig 31975, 72) Es geht um ein von der Gegenwart her deutendes Erzählen vergangener Geschichte und nicht um heilsgeschichtliche Theorien über das Ende der Erwählung Israels o.ä. 20 In

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Geschichte selbst verändert. „Geschichte“ ist also für Matthäus immer erzählte, interpretierte und damit bedeutungsvolle Geschichte, nicht einfach „Faktum“. 2.2. Das Matthäusevangelium ist ein Buch von Typus „rewritten Bible“, aber mit einem neuen Grundtext. Das Matthäusevangelium scheint mir gattungsmässig eng verwandt mit jüdischen Büchern, welche in aktualisierender Absicht die biblische Geschichte neu erzählen. G. Vermes hat diesen Typ als „rewritten Bible“, A. G. Wright als „narrative midrash“ bezeichnet; die Qumranforschung spricht von „para-biblischer Literatur“.22 Nahe Verwandte des Matthäusevangeliums sind z. B. das Jubiläenbuch, das Genesisapokryphon oder Pseudo Philos Liber Antiquitatum. Bei diesen Büchern sind erstens der konstitutive Rückbezug auf einen Grundtext,23 zweitens die Orientierung an einem oder mehreren leitenden Gesichtspunkten, und schliesslich drittens die allgemeine Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Gegenwart konstitutiv.24 Im Fall des Jubiläenbuchs etwa ist der der Grundtext Gen 1 bis Ex 12; die leitenden Gesichtspunkte sind der Gedanke der offenbarten, auf das Gesetz zentrierten Geschichte und insbesondere die Zentralität des Sabbats und des Sonnenkalenders. Die Bedürfnisse der Gegenwart zeigen sich in der antihellenistischen konservativen Ausrichtung und in der Opposition gegen den herrschenden lunaren Kalender. Ein Vergleich des Matthäusevangeliums mit dem Jubiläenbuch und zeigt denn auch spezifische Gemeinsamkeiten, z. B. das unauflösbare Ineinander von eigenem und vorgegebenem Text, die besondere Dichte von weithin vom Verfasser selbst gestalteten Abschnitten am Anfang und am Schluss, die Anonymität des Verfassers und vor allem den kreativen und schöpferischen Umgang mit der Geschichte.25 Wenn man das Matthäusevangelium in dieser Tradition sieht und nicht etwa in hellenistischer Weise als Biographie oder als Geschichtsbericht interpretiert, 22 Addison G. Wright, The Literary Genre Midrash, CBQ 28 (1966) 105–138. 417–457; Geza Vermes, Scripture and Tradition in Judaism, StPB 4, Leiden 21983, 67–126; Florentino García Martínez, The Dead Sea Scrolls Translated, Leiden 1994, 217–299. 23 Der biblische Grundtext wird in den genannten Büchern teils wörtlich aufgenommen, teils zusammengefasst, teils weggelassen, teils ausgeweitet. Von Geschichtswerken wie z. B. den Antiquitates des Josephus unterscheidet sich das Mt-Ev und seine jüdischen Verwandten dadurch, dass die aktualisierende gegenwartsbezogene Interpretation den Bericht entscheidend prägt. Dasselbe gilt gegenüber manchen der in Qumran gefundenen Pentateuchparaphrasen und gegenüber den Targumen. 24 Darin berührt sich die Neuinterpretation der alten Geschichte in den „rewritten Bibles“ mit der Intention des Derasch, welche A. G.  Wright, a. a. O. (Literary Genre), 134 mit „edifying“ und der Absicht, „religiously revelant“ zu sein, Günter Stemberger, Midrasch, München 1989, 25 f mit „Aktualisierung“ umschreibt. Trotz dieser Nähe möchte ich darauf verzichten, das Matthäusevangelium als „Midrasch“ zu bezeichnen: Als formgeschichtlicher Terminus sollte dieses Wort den aktualisierenden jüdischen Auslegungen, welche vom feststehenden biblischen Text als einem Gegenüber ausgehen, vorbehalten bleiben und nicht, wie dies bei A. G. Wright geschieht, auf Neufassungen der biblischer Texte angewandt werden. 25 „Midrash is chiefly concerned with the creation of meaning – not with exegesis“ ­(Ithamar Gruenwald, Midrash and the ‘Midrashic Condition’: Prelimary Considerations, in: Michael Fishbane (Hg.), The Midrashic Imagination, New York 1993, 9).

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so gibt allerdings auch klare Besonderheiten, welche nicht genug betont werden können. Die erste und bei weitem wichtigste ist die, dass Matthäus eine neue Grundgeschichte aktualisiert, nicht mehr die biblische. Er schreibt zwar eine Genesis, aber eben eine γένεσις Ἰησοῦ Χριστοῦ. Sein Grundtext ist nicht die Bibel, sondern das Markusevangelium. Dadurch, dass das Markusevangelium zum Grundtext eines midraschartigen Buches mit dem Titel „Genesis“ wird, wird deutlich, was für eine ungeheure, gleichsam „protokanonische“ Bedeutung es für seinen Verfasser gehabt hat. Matthäus schreibt eine neue Genesis! Die zweite Besonderheit liegt in den fünf matthäischen Reden. Wie der biblische Mose im Bundesbuch, im Deuteronomium und später auch wieder im Jubiläenbuch, so spricht nun Jesus vom Berge direkt in die Gegenwart. Er verkündigt gegenwärtig gültige Weisung, nicht die Torah, sondern das εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας, das die Torah in sich einschliesst. Die Fünfzahl der Reden stellt diese „Verkündigung vom Reich“ der fünffältigen Torah gegenüber: Die fünf grossen Reden entfalten eine neue Proklamation des gültigen Willens Gottes durch einen, der mehr ist als Mose, nämlich durch den Immanuel selbst. Eine dritte Besonderheit des Matthäusevangeliums im Vergleich mit verwandten jüdischen parabiblischen Texten sehe ich darin, dass Matthäus die ihm vorgegebene Jesusgeschichte des Markus so ernst genommen hat, dass er kaum etwas daraus weggelassen hat. Matthäus unterscheidet sich darin erheblich etwa von Pseudophilo, aber auch vom Verfasser des Genesisapokryphons oder den Jubiläen. Auch das ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie unerhört wichtig ihm dieser neue Grundtext war. Wir wenden uns nun der negativen Konsequenz aus diesen Feststellungen zu. 2.3. Die Bibel ist nicht mehr Grundtext. Die Bibel ist nicht mehr der Grundtext des Matthäusevangeliums, sondern nur der wichtigste, seinen neuen Grundtext beleuchtende Text.26 Als Interpretationshilfe für den Grundtext ist sie allerdings von einzigartiger Bedeutung und es gibt nichts, was ihr in dieser Rolle an die Seite gestellt werden könnte. Aber sie ist nicht selber Grundtext. Nun will ich damit nicht leugnen, dass entstehungsgeschichtlich manche Teilmomente der Jesusgeschichte geradezu aus biblischen Texten herausgelesen 26 Sehr deutlich hebt auch Augustin del Agua, Die ‚Erzählung‘ des Evangeliums im Lichte der Derasch-Methode, Judaica 47 (1991), 147 diese neue Rolle der Bibel hervor. Del Agua findet in den Evangelien viel von der theologischen Denkform des Derasch wieder, obwohl er sie nicht als „Midraschim“ bezeichnet. Er denkt allerdings in erster Linie an die „derasch“-förmige Aktualisierung der Schrift in den Evangelien und nicht an die Aktualisierung der Grundgeschichte Jesu durch die späteren Evangelisten. Darum stellt er auch alle Evangelien in den Umkreis des jüdischen Derasch, während ich nur das Mt-Ev als ein Analogon zu den jüdischen „rewritten Bibles“ sehen würde. Vom Mk-Ev und vom Joh-Ev, welche nicht auf einem vorgegebenen Grundtext basieren, gilt dies m. E. nicht, vom Lk-Ev, einem hellenistisch geprägten Geschichtsbericht, nur sehr bedingt.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

worden sind – m. E. allerdings eher Einzelheiten als Grundaussagen. Und ich will schon gar nicht leugnen, dass es in der mt Gemeinde eine Gruppe von γραμματεῖς gegeben hat, welche die Jesusüberlieferungen – auch das Mk-Ev – im Lichte der Bibel reflektierten und vertieften.27 Die Erfüllungszitate zeigen m. E., dass auch manche Sondergutsstoffe bereits vor Mt von Schriftgelehrten reflektiert und biblisch vertieft worden sind, z. B. in Mt 2 und in Mt 27,3–10. Aber der Ausgangspunkt dieser Reflexionen ist kaum je der biblische Text, sondern die Geschichte Jesu. Das zeigt sich 1. daran, dass biblische Referenzstoffe stets in eigentümlicher Gebrochenheit und Vielschichtigkeit auftauchen. Es gibt m. E. in oder hinter dem Mt-Ev keine in sich geschlossene Mose-Christologie, wie dies z. B. D. Allison meint.28 Das Jesuskind erfährt etwa in Mt 2 zwar ein Schicksal, das im Schicksal des Mosekindes typologisch vorgebildet ist; insbesondere die Entsprechungen zwischen Herodes und dem Pharao sind sehr eng. Aber zugleich liegt eine Antithese vor: Während Mose aus Ägypten flieht und das Volk ins Land Israel führt, flieht Jesus aus dem Land Israel nach Ägypten. 2. In sehr vielen Texten überlagern sich auch verschiedene biblische Traditionen, welche zur Interpretation helfen: In Mt 2 ist es nicht nur die Mosetradition, sondern wohl auch die Bileamprophezeihung Num 24,17. Der Rückbezug auf Hos 11,1 (= Mt 2,15) lässt nicht an eine Mose‑, sondern an eine Israeltypologie denken. Mt 27,51–53 setzt nicht nur Ez 37,12 f, sondern auch Sach 14,4 f voraus. Das zeigt sich schliesslich 3. daran, dass manchmal ein‑ und dieselbe Bibelstelle in ganz verschiedener Weise ausgelegt werden kann. Das schönste Beispiel ist Dan 7,13 f. Diese Stelle wird – wie im Urchristentum üblich auch von Matthäus – auf die Parusie Jesu bezogen (24,30; 26,64). Der Evangelist kann aber dieselbe Stelle auch auf die – nicht ewige, sondern durch das Ende der Welt zeitlich begrenzte – Herrschaft des Erhöhten hier und jetzt beziehen (28,18). Alle diese Beispiele zeigen, dass nicht die biblische Tradition den Referenzrahmen für die Jesusgeschichte bildet, sondern die Jesusgeschichte den Referenzrahmen für die biblische Tradition. Diese wird punktuell und selektiv – manchmal als direkte Weissagung, manchmal im Sinn eines Typus, manchmal in antitypischem Sinn, manchmal als blosses sprachliches Kolorit – herangezogen. Verdichtet wird dieser Umgang mit der Bibel in den matthäischen Erfüllungszitaten: Matthäus greift punktuell und exemplarisch auf prophetische Weissagungen zurück, um ihre Erfüllung im Leben Jesu aufzuzeigen. Dabei ist die Geschichte Jesu so sehr der Referenzrahmen, dass Matthäus auch vor Veränderungen im Wortlaut der Zitate nicht zurückschreckt. Obwohl er die Schrift nur punktuell aufnimmt, lässt dennoch sein Anspruch, dass durch Jesus Gesetz und Propheten „erfüllt“ würden (vgl. 5,17), dem nicht jesusgläubigen Teil Israels 27 Vgl. die vormt. schriftgelehrten Bearbeitungen von Jesusstoffen z. B. in Mt 12,9–14; Mt 21,1–9 und 27,46. 28 Dale C. Allison, The New Moses. A Matthean Typology, Edinburgh 1993.

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? 341

keinen Raum zur eigenen Aktualisierung der biblischen Texte mehr und bestreitet grundsätzlich den Anspruch, Erfüllungen der Schrift anderswo als bei Jesus zu sehen. Vom jüdischen Verständnis des Derasch her, der grundsätzlich einen neuen Sinn als Teil der der Schrift eigenen Bedeutungsfülle versteht und darum keinen Schriftsinn exklusiv gegen einen anderen ausspielt,29 ist so etwas nur schwer möglich. Gerade das zeigt, dass sein Anspruch anders begründet werden muss, nämlich von seiner Sicht der Geschichte Jesu her, die den archimedischen Punkt auch für seinen hermeneutischen Umgang mit der zum sekundären Referenztext gewordenen Bibel bildet. Insofern bildet das Matthäusevangelium als Neu-Erzählung eines neuen Grundtextes auch in seinem Umgang mit der Bibel einen völligen Neueinsatz. Es ergibt sich von da her, dass ich, gerade auch vom judenchristlichen Matthäusevangelium her, auf keinen Fall von der „wesentlichen Einheit des Alten und Neuen Testaments, von der einen, biblischen Traditionsbildung“30 sprechen könnte, es sei denn man definierte gerade die radikale Neuwerdung als das Wesensmerkmal dieses Traditionsprozesses. Das aber würde weder dem biblisch-jüdischen Traditionsprozess des Tanach, noch seiner Weiterführung gerecht, in dem die Grundgeschichte Israels der konstitutive Bezugstext blieb, noch dem neutestamentlich-christlichen Traditionsprozess, in dem eben dies für die Geschichte Jesu gilt. Dazwischen aber hat ein Wechsel der Grundgeschichte stattgefunden. Er ist revolutionär, auch wenn die neue Grundgeschichte dann weiterhin in gleicher oder ähnlicher Weise wie die alte, und mithilfe der alten weitererzählt und weiterentwickelt wurde. Der Wechsel der Grundgeschichte ist aber ein einmaliger und revolutionärer Umbruch. Dass er von einem grossen Teil Israels nicht akzeptiert werden konnte, verstehe ich nur zu gut. 2.4. Ganzheitliches Verstehen in der Gegenwart. Durch einen Midrasch wird jüdisch der gegenwärtige Sinn des biblischen Grundtextes für das Leben konstituiert. Wie ist der Gegenwartssinn der markinischen Jesusgeschichte bei Matthäus zu beschreiben? Er ist nicht nur und nicht einmal primär noetisch-konstativ: Es geht nicht um eine richtigere Erkenntnis der Grundgeschichte Jesu, sei es im Sinne der ἀσφάλεια des Historikers, oder sei es im Sinne einer theologischen Lehrbildung, z. B. einer richtigen christologischen Bekenntnisbildung. Vielmehr liegt er primär auf der existenziellen und praktischen Ebene. Darum ist die Verbindung semantischer mit affizierenden und pragmatischen Sprachelementen, die Beachtung der intendierten und in der Geschichte erfolgten Wirkungen des Textes auf seine Leser / ​innen und der Einbezug von lesetheoretischen, rhetorischen und psychologischen Überlegungen bei der Auslegung des Matthäus29 Vgl.

Stemberger, Midrasch (o. Anm. 24), 23. Hartmut Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, in: ders.,Vom Sinai zum Zion, BEvTh 64, München 1974, 17. 30 Gegen

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III. Studien zum Matthäusevangelium

evangeliums wichtig, denn es zielt auf ein ganzheitliches, religiöse Identität und ethische Praxis seiner Leser / ​innen leitendes Verstehen. Für den Sinn der mt Jesusgeschichte sind zwei Dimensionen wichtig: 1. Es geht um Selbstvergewisserung der eigenen Identität. In Frage gestellt ist vor allem das Verhältnis zu Israel: Die mt Gemeinde, die sich von Jesus her als Teil des Gottesvolkes Israel verstand, war vermutlich z.Z. des Mt bereits – „contre coeur“ – von „ihren“ lokalen Synagogen getrennt.31 Sie war dadurch aufs Äusserste verunsichert. Sie lebte im Spannungsfeld zwischen Israel, dem sie sich zugehörig wusste, und der mehr und mehr heidenchristlichen Grosskirche, welche sich in der Diaspora bereits weitgehend von Israel losgelöst hatte. Ihr wusste sie sich auch zugehörig, denn sie hatte deren rituelle Identitätsmerkmale – die Taufe (und nicht die Beschneidung!) und das Herrenmahl (das wohl ausserhalb des Rahmens der alljährlichen Passahfeier gefeiert wurde) – übernommen. In dieser Situation einer doppelten Zugehörigkeit, welche sie je länger desto schwieriger aufrecht erhalten konnte, versucht Matthäus durch seine Jesusgeschichte ihre Identität zu stärken und zu klären. In ihrer Abgrenzung gegen die böswilligen jüdischen Führer und gegen das von ihnen verführte „ganze Volk“ ist seine Jesusgeschichte nicht unproblematisch. Aber Abgrenzung nach aussen ist sozialpsychologisch ein wesentliches Moment der Identitätsstärkung und ‑bewahrung.32 2. Es geht Mt um ethisch um Aktivierung seiner Gemeinde auf dem „Weg der Gerechtigkeit“. Es geht ihm darum, dass die Gemeindeglieder in ihrem Gehorsam, in ihrer Liebe, in ihrem Streben nach „Vollkommenheit“ und in ihrer Gemeinschaft nicht erlahmen. Dazu dienen in erster Linie die fünf matthäischen Reden, in denen sie Jesus, der Immanuel, der sie bis zum Ende der Welt begleitet, direkt anspricht und auf sein Gericht hinweist, das auch ihnen bevorsteht. „Verstehen“ geschieht also bei der matthäischen Jesusgeschichte wie bei jüdischen Midraschim in der Gegenwart und ist eingebettet in einen Akt des Lebens. Verstehen, wer Jesus ist, dessen Geschichte Matthäus erzählt, heisst, bekennen. Bekennen ist wiederum nicht abzulösen vom eigenen Risiko und von der eigenen religiösen Erfahrung – so haben es Petrus und die Jünger auf dem See erfahren (14,28–33). Bekennen führt ins Leiden – so mussten es die Jünger wenig später erfahren (16,13–24). „Hören“ wird bei Matthäus zwar sprachlich unterschieden vom „Tun“, aber nur, wenn Hören zum Tun führt, entsteht ein standfestes Haus (7,24–27). „Verstehen“ ist zwar begrifflich nicht dasselbe wie „Früchte bringen“, aber nur dort, wo Früchte folgen, hat man wirklich verstanden (13,19.23). 31 Vgl.

Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 9), 392–396. Luz, Der Antijudaismus des Matthäusevangeliums als historisches und theologisches Problem, eine Skizze, EvTh 53 (1993), 323; in diesem Band Nr. 17, dort Abschnitte III. 4 f. 32 Ulrich

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? 343

Solches „Verstehen“ in der Gegenwart ist immer theologisch riskant. Und wenn die Grundlage eines solchen Verstehens eine im Blick auf die Gegenwart geschriebene, neue, eigene Jesusgeschichte ist, wird das Risiko noch grösser. Als Verfasser eines „rewritten Markan Gospel“ erzählt Matthäus seine Jesusgeschichte unmittelbar für die Gegenwart und seine eigene Erzählung verschmilzt mit der ihm vorgegebenen Geschichte. Aber Matthäus hat der Grundgeschichte Jesu, die er aktualisierte, und den ihm vorgegebenen Worten Jesu, die für ihn „Evangelium vom Reich“ waren, seinen Respekt erwiesen: Er hat sie weitgehend stehen lassen und eine überaus konservative neue Geschichte geschrieben. Er damit deutlich gemacht, dass seine Geschichte eine Neuerzählung einer vorgegebenen Geschichte sein will. Es gibt im Mt-Ev auch keinerlei Hinweise dafür, dass der Evangelist beabsichtigte, mit seiner neuen Geschichte das Markusevangelium, mit dessen Kenntnis er, wie einige Indizien zeigen, mindestens bei einigen Leser / ​innen rechnete, zu ersetzen, wie man dies bei Lukas vermutet hat. Die Gemeinden haben deshalb wohl auch schon früh die Evangelien nebeneinander benutzt. Das ist m. E. durchaus im Sinn des Matthäus, für den die Verkündigung Jesu das Evangelium ist und für den derjenige, der alle Tage bis ans Ende der Welt bei der Gemeinde bleibt, kein irgendwie gearteter Geist oder Paraklet, sondern Jesus selbst ist. Und dieselbe theologische Weisheit leitete wohl die Kirche, die uns vier Evangelien überlieferte und nicht nur eines, und zwar ausschliesslich solche, welche die Geschichte Jesu erzählen, um damit den Grund deutlich zu nennen, auf welchem alle ihre Aktualisierungen ruhen.

20. Intertexts in the Gospel of Matthew The introduction of the concept of intertextuality into critical discourse in the late 1960s transformed the discussion of all kinds of literature, including biblical literature. The relationship between the texts produced by early Christians and “the Bible” – that is, primarily the Septuagint – had, of course, occupied biblical scholars for centuries. But the explicit formulation of intertextuality as a new concept, and the development of a vocabulary for describing and discussing in detail its operation, have made it possible to bring greater refinement and precision to the study of the relationship between “the Bible” and the texts that would become the “New Testament”. In this essay, I review some of the ways in which the concept of intertextuality has been formulated and modified, and I introduce as well some terminology developed by other scholars to articulate the concept (I). I then use these theoretical tools to re-examine the relationship between the Gospel of Matthew and some of its intertexts, including the Bible (II).

Ι. Introduction I. 1 Definitions and models What do I mean when I speak about “intertexts”? Julia Kristeva, whose influential studies are the matrix of all discussions of intertextuality, stated: “Every text constructs itself as a mosaic of quotations; every text is an absorption and transformation of another text: The notion of intertextuality takes the place of the notion of intersubjectivity.”1 Moving toward a definition, Kristeva wrote: “Let us give the name ‘intertextuality’ to the textual interaction which takes place within a single text. For the subject, intertextuality is a notion which indicates how a text reads history and inserts itself into history.”2 History and society are 1 “Tout texte se construit comme mosaïque de citations; tout texte est absorption et transformation d’un autre texte: A Ia place de Ia notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité.” (Julia Kristeva, Sémeiotike. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969, 146). 2 “Nous appellerons intertextualité cette inter-action textuelle qui se produit a l’interieur d’un seul texte. Pour le sujet connaissant, l’intertextualite est une notion qui sera l’indice de la façon dont un text lit l’histoire et s’insère en elle.” (Julia Kristeva, Narration et transformation, Semeiotica 1 [1969], 443).

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reflected in texts and can themselves be read textually.3 In other words, “Every text appeals to the reader’s memory of other texts.”4 Seen in this way, every text becomes an “intertext”, as Roland Barthes says: “Every text is an intertext; other texts are present in it, on different levels, in more or less recognizable forms: the texts of the earlier culture and those of the surrounding culture. Each text is a new tissue of past quotations … a general field of anonymous formulas, whose origin is only rarely detectable; of unconscious or automatic quotations, reproduced without quotation marks.”5

Intertextuality is nothing less than the textual shape of how culture, history, and society are engraved in texts. This concept transcends a text-immanent structuralism and shows how texts are mirrors or echoes of the world.6 “Intertextuality thus becomes less a name for a work’s relation to particular prior texts than a designation of its participation in the discursive space of a culture.”7 Intertextuality is a comprehensive model of textuality, and it is possible to accentuate certain of its features so that the theory may be applied in very different ways. Intertextuality can be formulated as a synchronic principle describing the structure of texts: “Other texts” are present in a given text; they are assembled within it and form part of its structure. – Intertextuality can also be formulated with a stress on the diachronic dimension of textual analysis: Intertexts are memories preserved by a text – for example, sources, reminiscences, models, or patterns. – Intertexts can be specific or general: It is possible to narrow the definition of “intertexts” to specific texts that can be identified, and it is possible to widen the definition, so that all texts of a specific culture or a specific time are present in a text, regardless of whether an author or reader is conscious of their presence.8 – Intertextuality can be a tool for decentering the author, whereby the author is reduced to the status of a filter through which passes an endless stream of voices, echoes, texts, and reminiscences.9 – 1t can be a tool for the decon3 Ibid.

4 “Tout texte appelle a 1 a mémoire du lecteur, de Ia lectrice d’ autres textes.” /Daniel Marguerat / ​Adrian Curtis, “Preface”, in: Intertextualités. La Bible en échos, MoBi 40, Genève 2000, 5). 5  “Tout texte est un intertexte; d’autres textes sont présents en lui, à des niveaux variables, sous des formes plus ou moins reconnaissables: les textes de la culture antérieure et ceux de Ia culture environnante; tout texte est un tissu nouveau de citations révolues … un champ général de formules anonymes, dont l’origine est rarement repérable, de citations inconscientes ou automatiques, données sans guillemets.” (Roland Barthes, Art. “Texte”, in: Encyclopaedia Universalis [32 vols.; Paris 1990], vol. 22, 370–74, at 372). 6 Roland Barthes, Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1975, 78 uses the expression “une chambre d’échos” (“a chamber of echoes”). 7 Jonathan Culler, Presupposition and Intertextuality, in: idem, The Pursuit of Signs, London 1981, 103. 8  See, e. g., Harold Bloom, A Map of Misreading. New York 1975, 3: “There are no texts, but only relationships between texts.” 9 Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: Ulrich Broich / ​Manfred Pfister (Ed.), Intertextualität. Formen, Funktionen. Anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 21: An

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struction of texts, whereby the text becomes something like a cloud of music without precise meaning, into which the intended sense of a text may disappear completely; or, in the words of Roland Barthes, the text becomes “a music of figures, of metaphors, of thought-words; it is the signifier as a siren.”10 – But the concept of intertextuality can also be used as a tool for the reconstruction of the sense of a text, for the recovery of the author’s context with the goal of differentiating between the author’s own voice and the voices of his sources and reminiscences. And it can be a tool for formulating the sense of a text in a more precise way, as when one clarifies the affinities and differences between a text and its various intertexts. In this case, the reader does not passively absorb an ambient cloud of music, but rather listens attentively to discern single tones and melodies. Intertexts may be the product of the text or of the reader. In the first case, they belong to the rhetorical strategy of a text; in the second case, their detection is a performance by the text’s readers.11 If they are the product of the text, the number of intertexts in a given text is limited, because a text does not have an unlimited number of strategies, and an author has neither unlimited knowledge nor an unlimited number of intentions. Such intertexts are always temporally prior to the text. If they are the product of the reader, however, the number of intertexts is unlimited: Every reader has both the capability and the liberty to discover new intertexts in a given text; moreover, these intertexts can be temporally either prior or posterior to the given text. Intertextuality on the level of the text is primarily descriptive; it facilitates the precise description of the strategies of a text. A reader-oriented concept of intertextuality, however, tends to widen the meaning of a text. An example of a limited widening of meaning is the intertextual reading of a biblical text according to the principles of classical church exegesis or of fundamentalistic exegesis, where only other canonical texts may be cited as intertexts. An unlimited widening of meaning is proposed by Michael Riffaterre: “The intertext is the reader’s perception of the relations between an oeuvre and others that either precede or follow it.”12 In short, the concept of intertextuality is very fluid and can be used in many different ways. author is “a ‘chamber of echoes’, full of the sound and the roar of other texts” (“eine ‘Echokammer’, erfüllt vom Hall und Rauschen fremder Texte”). 10 Barthes, Roland Barthes (note 6), 148: “une musique de figures, de métaphores, de pensées-mots; c’ est le signifiant comme sirène.” 11 This is the approach of Michael Riffaterre, La syllepse intertextuelle, Poétique no. 40, 1979, 496: “L’intertextualite est un mode de perception du texte … le méchanisme propre de la lecture” (“intertextuality is a mode of perceiving the text … [It is] the proper mechanism of reading”). Riffaterre (ibid.) makes a distinction between this “literary reading of a text which creates the “significance” of a text and a merely “linear reading” which recovers its “sense” only. 12 “L’intertexte est la perception, par le lecteur, de rapports entre une oeuvre et d’autres qui l’ont précédée ou suivie” (ibid.).

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III. Studien zum Matthäusevangelium

In light of this conceptual fluidity, I want to qualify my own interest in intertextuality in three ways. First, as an exegete, I am interested in a model of intertextuality that is text-oriented and author-oriented. My concern is to seek specific and identifiable intertexts in a manner that is subject to control or verification. Consequently, I focus on intertexts that are consciously invoked by an author and that are part of the rhetorical strategy of a text. But I do not want to neglect or deny the existence of intertexts that are not intentionally invoked and that are not exegetically verifiable. – Second, as an exegete and historian, I am interested in a model of intertextuality that is attentive to history and interprets specific intertexts as reflections of a specific historical and cultural situation. Hence, I am not prepared to give up the quest for the real, extratextual author of a text. And I am not an advocate of an exclusively synchronic and text-immanent model of intertextuality. But I do concede that the quest for intertexts is primarily a synchronic quest, and that the synchronic quest for the presence and function of specific intertexts in a given text always comes first. – Third, as a hermeneut, I am interested in models of reader-oriented concepts of intertextuality, and I do not want to deny the fact that every text is fundamentally intertextual. But readers are always concrete persons in concrete situations. They are among the very first readers of a text, or they are readers whom we can locate in the reception history of a text, or they are readers of today. Each reads the texts in his or her own way, utilizing the specific intertexts which are important to that individual reader. My hermeneutical model, therefore, is not the model of Roland Barthes – the text as a diffuse cloud of music generated by “the signifier as a siren” – but rather the model of a musical score, which makes it possible that one and the same piece of music can be interpreted by different musicians in different ways. The task of the exegete is not to become lost in a diffuse cloud of music, but to compare the different performances of a specific piece of music, including his or her own, with the musical score and the instructions of the composer encoded within it. I. 2 Gérard Genette and Manfred Pfister In this essay I will foreground my first and second interests, as exegete and exegete-historian. Here I describe two conceptual and methodological refinements of the concept of intertexts, introducing a number of terms that will prove useful in the following discussion of Matthew. The first is Gérard Genette’s model of intertextuality, clearly summarized in the beginning of his book Palimpsestes.13 Genette defines “intertextuality” in the narrower sense of the word as “a relation of ‘co-presence’ between two or more texts … in most cases, taking the form of the effective presence of one text in another.”14 This includes phenomena 13 Gerard

Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, 7–16. 8: “une relation de coprésence entre deux ou plusieurs textes … le plus souvent, par la présence effective d’un texte dans un autre.” 14 Ibid.

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ranging from quotation to allusion and to plagiarism. Genette makes a distinction between “intertexts” in this sense and “paratexts”. Paratexts include titles, prefaces, marginal glosses, and footnotes.15 Different from these intertexts are “metatexts”. In Genette’s terminology, a metatext is a commentary, which explains its pretext while preserving a critical distance between itself and its pretext.16 In distinction from the relationship between metatext and pretext, Genette defines the relationship between a “hypertext” and its “hypotext”. A hypertext is a secondary text that is written entirely on the basis of a preceding pretext, the hypotext, but without being a formal commentary on its hypotext. For example, Virgil’s Aeneid is a hypertext to Homer’s Odyssey. Finally, there is the “architext”: for Genette, this term designates the general type or model underlying a specific text. It is the equivalent of the traditional term “genre”. The second model I want to introduce is that proposed by Manfred Pfister, a German scholar of English literature. Pfister aims to distinguish between the different ways that pretexts function within their metatexts, and also to establish a terminology for measuring the relative intensity of a pretext’s presence in its metatext. To this end he defines six categories:17 Referentiality. A pretext may simply be mentioned by a metatext, e. g., as a decorative element or as a mere reference. Alternatively, the pretext’s content and context may be fully exploited, as in the case of a quotation, when the literary context and the intention of the pretext is fully considered by the metatext. Accordingly, the level of referentiality of a pretext in relation to its metatext may be either low or high. Communicability. Pfister defines this as the degree of consciousness that an intertextual reference implies on the part of an author or reader. Allusions or idioms that belong to a common cultural heritage often used unconsciously and thus have a low degree of communicability. Specific pretexts that are explicitly marked in a metatext, or that are consciously concealed by a plagiarist, have a high degree of communicability. Autoreflexivity. Autoreflexivity is high when a pretext is not only mentioned in a metatext, but explicitly reflected within it.18 Structurality. The intensity of structurality is particularly high when “a pretext [serves as] the structural pattern of an entire text.”19 For example, the dependency of the Epistle to the Ephesians upon the Epistle to the Colossians displays a 15 Ibid.

10–11. 11–12. 17 Pfister, Konzepte (note 9), 25–30. 18 I will not make use of this category, however, because it seems to me almost indistinguishable from “communicability”. 19 Pfister, Konzepte, 28: “ein Prätext [wird] zur strukturellen Folie eines ganzen Textes”. 16 Ibid.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

high degree of structurality. (In Genette’s terms, Colossians is the hypotext upon which Ephesians, as hypertext, depends.) Selectivity. Selectivity of intertexts is more intensive in specific and pointedly marked intertexts than in mere topoi or motifs that are appropriated without being explicitly marked. Dialogicity. The degree of dialogicity of an intertext is particularly high when there is a tension between pretext and metatext, so that there is an explicit dialogue between the two texts. Pfister’s terminology is especially useful insofar as it allows for a greater degree of specificity when describing both the quality and degree of intertextuality than that permitted by the terms commonly used to classify intertextual relationships, such as “quotation”, “allusion”, or “motif”.

II. Intertexts in the Gospel of Matthew: Introductory Remarks Even if I use the term “intertexts” in the relatively narrow sense of “specific intertexts”, and even if I put my primary emphasis on pretexts that were intentionally invoked by the evangelist and that were possibly known to his first readers as well, my quest for intertexts nevertheless covers a broader territory than that defined by the traditional investigation in the use of the Bible in the Gospel of Matthew.20 This is true in three respects. First, not only the Bible, but also the Gospel of Mark, the Sayings Source (Q), and possibly other texts related to the Jesus tradition are intertexts. One problem is immediately evident: Matthew has used his two main groups of intertexts, the Bible and his sources about Jesus, in very different ways. Second, not only those specific texts which are quoted, alluded to, or used in the Gospel of Matthew are intertexts. While searching for intertexts, we must look also for hypotexts (to use Genette’s term) that shape the structure of the Gospel as a whole; for other structuring elements that can be connected with specific intertexts; and for motifs, persons, or historical events that are related to specific pretexts. And third, because the use of intertexts is part of the rhetorical strategy of a text, we must consider the reception of intertexts by its implicit reader, as well as by the actual first readers of that text.

20 George W. Buchanan, Introduction to lntertextuality, Lewiston 1994 unfortunately limits his program for intertextual exegesis to the Hebrew Bible.

20. Intertexts in the Gospel of Matthew

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II. 1 The Gospel of Mark as Intertext In the terminology of Genette, the Gospel of Mark is a hypotext that Matthew has absorbed and transformed in his hypertext.21 When we apply the categories introduced by Pfister to measure the relative intensity of intertextual presence, the result is interesting. The Matthean metatext displays a very high degree of structurality in relation to the Gospel of Mark; indeed, the Gospel of Mark determines the whole structure of Matthew’s Gospel. I would thus describe the Gospel of Matthew as an enlarged “new edition” of the Gospel of Mark. Matthew does not have an architext, because the genre of “gospel” did not yet exist when it was written; it has only a specific hypotext, the Gospel of Mark. Matthew also displays a high degree of referentiality. Matthew absorbs not only the plot and structure of Mark, but also its basic theological concerns, such as the rejection of Jesus in Israel, the mission to the Gentiles, the cross, and the role of suffering in discipleship. But Matthew’s Gospel is also a transformation of Mark’s Gospel. In Genette’s terms, the two most important methods of transformation are “extension” (by adding materials) and “concision” (by shortening and condensing individual narratives).22 The consequence of all this is that there is also a high degree of communicability between the two texts, so that it is possible to interpret the Gospel of Matthew as a hypertext engaged in a conscious dialogue with its hypotext. It is all the more astonishing, then, that Matthew does not make this dialogue explicit; the degrees of selectivity and dialogicity are low. The Gospel of Matthew never mentions its hypotext; it never thematizes or problematizes its relation to it. Remarkably, we find no explicit quotation of the all-determining hypotext, and this curious absence deserves comment. Matthew certainly knew the Gospel of Mark, but did Matthew’s audience know it? A conjectural answer to this question may be supplied on the basis of evidence external to the text. The Gospel of Mark, in my opinion written in Rome, became a rather widespread and in the Christian congregations well-known book within a few decades. There is no reason to reject the thesis that at least some of Matthew’s first readers, or hearers, must have known it, not to mention those hearers and readers in other churches where the Gospel of Matthew became known very quickly. But it is surprising that the evidence within the text amounts to almost nothing. It cannot be proved that the Gospel of Matthew presupposes the knowledge of the Gospel of Mark by its implicit reader. Only in a very few cases has Matthew omitted stories narrated in Mark. But in no case, not even in the case of Matthew’s omission of Mark 4:26–29 (the parable of the seed that grows without human aid), is it necessary to assume that the reader knows what 21 For the different possibilities of “transposition”, or transformation, of pretexts in a metatext, see Genette, Palimpsestes (note 13), 291–92. 22 Ibid., 364–72; 331–40.

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Matthew has omitted in order to understand his text.23 Drastic abbreviations of Markan narratives in the Gospel of Matthew are never so curt that the Matthean version of a story is understandable only by those readers or hearers who know the Markan pretext.24 A sometimes mentioned exception is Matthew’s account of the healing of the paralytic man (Matt 9:2–8), which omits Mark’s detail (2:4) that the friends of the paralytic made an opening in the roof through which they lowered his stretcher. In Mark, this notice is followed by the remark that “Jesus saw their faith” (v. 5). But Matthew’s statement that “Jesus saw their faith” is understandable without this detail; their faith is witnessed by their act of carrying the paralytic on his stretcher to Jesus. Matthew’s treatment of the Bible is entirely different from his treatment of Mark. Why? Several considerations may be helpful. First, the Bible is a canonical text of special dignity for Matthew, unlike the Gospel of Mark. It is characteristic of early Christianity in the first and second centuries that only the Bible is quoted as Scripture, whereas the acknowledgment of Christian intertexts takes different forms, even when the Gospels are quoted.25 Second, it is generally true in the ancient world that the way in which pretexts are used depends on their status and authority. Thus, classics and well-known authors are explicitly quoted more frequently than unknown or contemporary authors.26 Third, the way in which pretexts are invoked – that is, whether they are quoted or not quoted – depends also on the genre of the metatext. Deliberative and judicial genres and commentaries tend to quote frequently; in narrative genres, including Greek historiography, quotations are rather rare.27 A close analogy in genre to the Gospel of Matthew is provided by those Jewish texts that Geza Vermes and others call “parabiblical texts”28 or “rewritten 23 Compare Matt 13:1–23 to Mark 4:1–20, 26–29. In the rare cases where Matthew has omitted Markan texts, the reason for the omission is either compositional (e. g., in the case of Mark 1:23–27 and Mark 12:41–44) or motivated by the desire to eliminate doublets (as in the case of Mark 13: 33–37). 24  This is also true for Matt 8:28–34/ / ​Mark 5:1–20 and for Matt 14:3–12/ / ​Mark 6:17–29. 25 Wo1 f D.  Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT II/24, Tübingen 1987, 518–19. 26 Loveday Alexander, L’intertextualité et la question des lecteurs. Réflexions sur l’usage de la Bible dans les Actes des apôtres, in: Marguerat / ​Curtis, Intertextualites (note 4), 204–07. Later Greek historians prefer to quote the classics (e. g., Thucydides, Herodotus, and Xenophon) rather than contemporary authors. 27 See Dietrich-Alex Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, BHTh 69, Tübingen 1986, 11 n. 3. The Gospel of Luke, which belongs to the genre of historical monographs, must have been a rather strange book for its pagan readers precisely because it includes numerous quotations from only one “classical” book, the Septuagint. 28 Geza Vermes, Scripture and Tradition in Judaism, StPB 4, Leiden 21983, 67–126; and Florentino Garcia Martinez, The Dead Sea Scrolls Translated, Leiden, 1994, 217–299. See also Ulrich Luz, Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte, in: Stephen Chapman et al. (eds.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, BThSt 44, Neukirchen 2001, 68–71 (in this volume Nr. 19; section II 2.2).

20. Intertexts in the Gospel of Matthew

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Bibles”. These are texts that narrate the foundational history of the Bible anew, taking into account the needs of the present. Among them are Jubilees, the Liber antiquitatum biblicarum of Pseudo-Philo, the Genesis Apocryphon, and other Qumran texts. From a wider point of view, biblical texts like the Priestly work or Chronicles should be mentioned here. They, too, do not explicitly quote their biblical intertexts, but they do retell their foundational history. It seems to me that Matthew did retell his own foundational story – namely, the story of Jesus as narrated in the Markan Gospel – in an analogous way. II. 2 The Sayings Source (Q) as Intertext Matthew did not use the text of the Sayings Source (Q) as a structuring hypotext; rather, he disrupted its compositional integrity and inserted its individual elements into new contexts. Moreover, only in some sections of his Gospel did Matthew insert blocks of material from Q.29 Therefore, not only selectivity and dialogicity but also structurality with regard to Q are weak in Matthew. For Matthew, Q did not have its own literary dignity as a compositional unity; the Sayings Source was a mere collection of materials that he freely excerpted. Matthew even gave preference to the Gospel of Mark when positioning the five discourses within his Gospel, and he respected the order of the Sayings Source almost only insofar as it corresponded to the order of Mark. In four of Matthew’s five discourses, the materials from Mark precede those from Q. All this shows that Matthew’s esteem for Q as a literary text was very different from his esteem for Mark’s Gospel. The specific dignity Q had for Matthew is evident insofar as he excerpted its words of Jesus almost without omission and preserved their wording rather more faithfully than Luke did. To summarize, Matthew inserted the sayings of Jesus found in Q into his own story of Jesus, which he narrated on the basis of the Markan hypotext. Thus, Q became superfluous as a pretext. That the Sayings Source was not preserved by the church as an independent document is a fact that Matthew probably would not have resented very much. For him, Q was something like the ἀπομνημονεύματα of the apostles for Justin: a written codification of the living words of the Lord Jesus. II. 3 The Bible as Intertext I want to explore five different ways in which the Gospel of Matthew engages biblical intertexts. Beginning with cases where Matthew conjures biblical texts by naming persons and places of the Bible (a), I then examine how the title of the Gospel suggests the title of the first book of the Pentateuch (b). Next, I 29 Q 6:20–49 for Matt 5–7; Q 7:18–35 for Matt 11:2–19; Q 9:57–10:24 for Matt 9:37–10:40; Q 11:14–32 for Matt 12:22–35; Q 11:39–52 for Matt 23:1–36. See Ulrich Luz, Matthäus und Q, in: Rudolf Hoppe and Ulrich Busse (eds.). Vom Jesus zum Christus (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 208–212 (in this volume Nr. 11, part III).

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discuss some criteria for describing and evaluating allusions, both intentional and unintentional (c). Finally, I consider two forms of biblical quotations in Matthew: simple quotations of biblical texts (d), and the formulaic fulfillment quotations (e). a) Reminders of biblical stories, persons, and places; the genealogy The Gospel of Matthew is full of the names of biblical persons and places that would have been well known to its audience. These names function as abbreviations which call to mind various biblical texts, so that readers can enlarge upon Matthew’s terse mentions by drawing on their knowledge of the Bible. Examples include Abraham (3:8); Solomon (6:29); Tyre and Sidon, and Sodom and Gomorrah (11:21–24); the Ninevites and the queen of the South (12:41–42); and Abel and Zechariah (23:35). Of particular interest is the first major section of the Gospel, the genealogy (1:2–17), because it reveals something specifically Matthean: Matthew narrates here the history of Israel in the condensed form of a genealogy, which is fully comprehensible to its audience only when their treasury of biblical knowledge is opened. This is particularly true of the four women mentioned in the genealogy. In the beginning of his Gospel, Matthew has condensed the long history of Israel into a genealogy that ends with the genesis of Jesus, the Messiah (1:18). This short version of the history of Israel acquires a new function: What had been the foundational history of Israel now becomes the prehistory of a new foundational story, the new “book of Genesis” of Jesus Christ (1:1). In the case of the genealogy, the selectivity of the biblical intertext is very low – the genealogy refers to the whole Bible – but its communicability and structurality are high. b) The title of the Gospel and its pentateuchal structure The title of the Gospel (Matt 1:1) refers to the Bible as hypotext. Convincing are the arguments of William D. Davies and Dale C. Allison as well as Moisés Mayordomo-Marín that the title βίβλος γενεσέως Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ Δαυίδ υἱοῦ Ἀβραάμ refers to the whole book of Matthew and not only to its first chapter;30 the word βίβλος suggests this.31 Γένεσις probably refers to the Greek name of the first book of the Bible which is already well attested in the first century C. E. Matthew names his text “book of Genesis”, but qualifies it as the new “Genesis of Jesus Christ”. By choosing a biblical name for his book, Matthew makes an implicit claim to biblical authority. Matthew’s intention is 30 William D. Davies / ​Dale C. Allison, The Gospel according to St. Matthew, 3 vols., ICC, Edinburgh 1988–1997, vol. I, 149–155; Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–214. 31 Mayordomo-Marín, Den Anfang, 211–212, also makes a second proposal: In the literature of antiquity it is not necessary that the title of a book summarizes its entire content.

20. Intertexts in the Gospel of Matthew

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to tell a foundational story for the people of God, just as the Bible does. But his foundational story is a new story, the story of Jesus Christ. We have in Matthew’s use of the Pentateuch a clear case of what Genette would call a hypotext. But this biblical hypotext of the Gospel of Matthew is very different from its primary hypotext, the Gospel of Mark, because Matthew narrates a new story, like Virgil in the Aeneid; the Bible is something like a “secondary hypotext” to our Gospel. The degree of selectivity in Matt 1:1 is rather high, but this is not at all important, because its referentiality is low: Matt 1:1 understands βίβλος γενεσέως differently than Gen 2:4 and 5:1. The specific intertexts function here only as a sign of a structural affinity, or, to use Genette’s term, as a sign of the role of the biblical book of Genesis, or of the whole Pentateuch, as hypotext. Another structuring element that recalls the pentateuchal hypotext are the five great discourses of the Gospel of Matthew; thus does Matthew emulate the fivefold division of the Pentateuch. In 5:1–2, and particularly in 7:28–29, Matthew recalls the experience of Moses on Mount Sinai, and these notices are in harmony with the frequent reminiscences of Moses throughout Matthew’s Gospel32 and with its Immanuel christology (see especially 1:22–23 and 28:20). The promise of the presence of God with his people is a motif that pervades the whole of the Bible; to use a musical analogy, it is a cantus firmus sounding throughout the Bible.33 This cantus firmus, the Immanuel motif, is used by Matthew to interpret Jesus. Its sonority gives Matthew’s book the character of a new, Biblelike foundational story that narrates the saving presence of God with his people. c) Allusions I now tum to the use of specific biblical pretexts – first to allusions, and subsequently to quotations. As a source from which allusions and quotations are drawn, the Bible functions as a kind of reference text. The history of modern biblical exegesis attests that it is extremely difficult for scholars to reach a consensus about what constitutes an intentional biblical allusion. Questions that continue to attract discussion and debate include: 1) Where is the borderline between an intentional allusion to a biblical text and an unconscious biblicism that would come quite naturally to an author deeply influenced by the language of the Septuagint? 2) What is the difference between a reading of the Gospel of Matthew by a Jewish reader or hearer who has been familiar with the Bible from youth, and a reading by a Gentile Christian who is 32 Dale C. Allison, The New Moses: A Matthean Typology, Minneapolis 1993. I do not assume, however, that the various allusions to Moses form a coherent christology of Jesus as a “new Moses”. 33 See Horst D. Preuss, “ … ich will mit dir sein!”, ZAW 80 (1968), 139–73; Willem C. van Unnik, Dominus vobiscum: “The Background of a Liturgical Formula”, in: Angus J. B.  Higgins (ed.), New Testament Essays (FS T. W. Manson), Manchester 1959, 270–305; and David D. Kupp, Matthew’s Emmanuel, MSSNTS 90, Cambridge 1996, 138–56.

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not so well versed in the Bible? That is, to what extent is the implicit reader of the Gospel of Matthew a “biblically informed” reader? I think that, as a general rule, we should assume that the implicit reader of the Gospel of Matthew possessed a very deep familiarity with the Bible. Matthew, like most of his first readers, was a Jewish adherent of Jesus who knew Greek. Through contact with synagogues and also with churches, whose members included Christian scribes, the author and his implicit audience were familiar with the Bible. Unlike modern “overinformed” readers, however, they were familiar with at most a few books, if not only with the Bible itself. Allusions as a form of intertextuality are consequently very common in both late biblical and early Jewish writings. This can be illustrated, for example, by the numerous biblical allusions in apocalyptic texts; it is also apparent in the operation of the rabbinic principle of ‫גזירה ׁשוה‬, i. e., the interpretation of one verse in light of another verse containing similar words. Indeed, if two texts have just two characteristic words in common, the exegete can interpret one in light of the other. This hermeneutic principle presupposes an audience that is highly attuned to allusions to biblical texts, even if the textual signals are minimal. Thus, we can assume that the biblical intertext is present to a high extent for the readers whom Matthew had in mind, and that the practice of allusion was not only familiar to but even expected by them.34 Richard Hays and Dale Allison are among the scholars who have proposed rules for evaluating whether a similarity between texts may in fact be described as an intentional allusion.35 Following their lead, I propose four criteria for identifying biblical allusions intended by the author of a Gospel-text: 1) A Gospel text and its presumed biblical intertext must share more than one of the following elements: at least two specific lexical items, word order, syntax, themes, images, or structure. 2) The biblical intertext should have been recognized as such by earlier readers; that is, it should have a pedigree in the history of interpretation. 3) The probability of allusion is higher if the presumed biblical intertext is used elsewhere by the author, or if it is taken from a biblical book that is often quoted by the author. 4) The probability of allusion is higher if the presumed biblical allusion is in harmony with a coherent interpretation of the whole text in which it appears. I would now like to apply these criteria in a discussion of two narrative texts in Matthew in which biblical allusions have been spotted: 2:13–23, the flight of the holy family to Egypt and their return to Israel; and 28:16–20, the final verses of the Gospel. For each text, I will consider four categories of biblical references: 1) explicit quotations; 2) allusions intended by the author; 3) unintentional al34 Dale C. Allison, The Intertextual Jesus: Scripture in Q, Harrisburg, Pa. 2000, 9–17 has argued this point regarding the audience of Q. What he says is valid for Matthew as well. 35 Richard Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven, Conn. 1989, 29–32; and Allison, The New Moses (cf. footnote 32), 25–32.

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lusions that may be “discovered” by the reader; and 4) “biblical” language and themes. Matt 2:13–23. 1) This passage contains three explicit quotations, each marked by a fulfillment formula, in vv. 15, 18, and 23. 2) An obviously intentional allusion to Exod 4:19–20 is found in vv. 19–21. This allusion is obvious, because a) eight words are identical in the pretext and the metatext; b) the plural τεθνήκασιν is very awkward in the Matthean context; and c) the biblical context of the pretext is the story of the birth of Moses, which is alluded to more than once in Matthew 1–2. 3) In addition to this obviously intentional allusion, exegetes have postulated other allusions whose relation to a biblical pretext, however, is far less obvious. It is difficult to speak about intentional allusions in these cases; their degree of communicativity is very low. Among the possible pretexts is Gen 46:2–4, the journey of Joseph to Egypt, as proposed by David Daube.36 Another proposed allusion is the trace of the Passover Haggadah in the word νυκτός (2:14; compare Exod 12:30–31).37 Also, numerous biblical and Jewish traditions identify Egypt as a traditional destination for fugitives.38 In these cases I do not think that we can speak about intentional allusions, either because the texts do not share enough identical words, or because no single biblical text can be specified as the pretext of the allusion. Nevertheless, in each of these cases, the biblical character of the text conjures biblical associations. Readers may, and even should, “discover” biblical associations in these verses; the text encourages readers’ creativity, but does not direct it.39 4) Matt 2:13–23 contains several verbal formulas or narrative patterns that have in general a biblical character, such as γῆ Ἰσραήλ (v. 21); ἐν πᾶσιν τοῖς ὁρίοις (v. 16);40 and the pattern of exodus and return that underlies the whole passage.41 Such formulas and patterns demonstrate the biblical color of Matthew’s language and immerse the reader in a “biblical atmosphere” that facilitates associations between the Gospel and numerous biblical texts. But the formulas and patterns are not themselves allusions. On the narrative level, the story of Matt 2:13–23 is comprehensible to a reader who brings no biblical associations to the text. Consider the indication of time, νυκτός, in v. 14: It is not at all surprising that Joseph, who surely had his dream in the night, immediately departs for Egypt to deliver his family from imminent 36 See

David Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, London 1956, 189–92; for more references see Ulrich Luz, Matthew 1–7 (trans. by James E. Crouch), Hermeneia, Minneapolis 2007, 119 n. 1. George W. Buchanan, The Gospel of Matthew 1, Mellen Biblical Commentary NT 1, Lewiston, N. Y. 1996, 94–95 sees in Matt 2:13–15 a typology of an old and new Joseph. 37 Davies  / ​Allison, The Gospel according to St. Matthew (note 30), vol. I, 261. 38 Ibid., 259. 39 The history of interpretation in both ancient and modern times witnesses the creativity of readers thus set free by the text. 40 Five times in LXX. 41 Davies  / ​Allison, The Gospel according to St. Matthew (note 30), vol. 1, 263.

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danger, and the reader who does not know Exodus 12 will not be confused. Both the intentional and the “discoverable” biblical allusions, however, endow the text with a kind of biblical depth-dimension. Readers may notice or feel that many possible biblical associations are offered by the text, and behind this network of hermeneutic possibilities they may divine the mystery of the biblical God who is at work in the history of Jesus. Therefore they cannot use the intentional biblical quotations and allusions in order to construct a one-dimensional biblically grounded christology. For example, readers familiar with the Bible will remember that Hos 11:1 speaks of Israel as the son of God who was called from Egypt, while Exod 4:19–20 narrates the return of the family of Moses to Egypt. Such examples show that Matthew does not simply compose his story according to traditional biblical patterns;42 rather, he tells a new story about the salvation of the promised royal infant by the God of the Bible, a story that is in many respects surprising to its biblically informed readers. Matt 28:16–20. The final verses of Matthew are quite remarkable for their many intratextual allusions. Many motifs, themes, and verses from the Gospel of Matthew are here taken up again and brought to culmination in the Gospel’s conclusion. These intratextual allusions are more important than the equally numerous – but not equally clear – intertextual allusions. Turning to the latter, I again arrange them in my four categories. 1) There are no direct biblical quotations are present in this text. 2) Verse 18 b, however, contains a clearly intentional allusion to Dan 7:13–14. The texts share three words, and Dan 7:13–14 is quoted or alluded to in two other places in the Gospel (24:30–31; 26:64). It is striking, however, that Matt 28:18 alludes to these verses in a very free way. Dan 7:13–14 in Matt 28:18 b does not refer to the Parousia, as do Matt 24:30–31 and 26:64, but to the present rulership of the exalted Lord. Here the metatext, Matt 28:18, completely dominates its pretext; its referentiality is very low. 3) All the other allusions spotted in our text by exegetes belong to the third group: namely, allusions that biblically informed readers may “discover”, but that were hardly intended by the author. Among these are the allusions to the edict of Cyrus (2 Chr 26:23) emphasized by Hubert Frankemölle: The structure of the two texts is similar, but the verbal identities are not numerous and do not include specific words.43 Moreover, this pretext is unknown to the rest of the New Testament, and Matthew’s readers could hardly have taken from it any hermeneutic guidance.44 To this group of unintentional allusions belong also the 42 In

Matt 2:13–23, Jesus is not portrayed in a linear way as a “new Moses”; rather, he really is a new Moses! 43 Hubert Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi, NTA n.s. 10, Münster 1973, 51–53. 44 This is even more applicable to Gen 45:9–11, a text considered as an important intertext by Bruce Malina, The Literary Structure and Form of Matt 28:16–20, NTS 17 (1970–1971), 96.

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biblical texts about the pilgrimage of the peoples of the world to Mount Zion at the end of time; these “allusions” are stressed by Terrence Donaldson and Peter Stuhlmacher.45 Indeed, this motif is also found in Matt 8:11–12, where, however, it is used very differently. The verbal parallels between Matt 28:16–20 and those biblical texts describing pilgrimage to Zion that could be relevant here are extremely slight. Finally, I would place in this category the possible allusions to Deut 31:23; Jos 1:1–9; 1 Chr 22:1–16; and Jer 1:4–10 pointed out by Dale C. Allison.46 These texts display some structural analogies to Matt 28:16–20.47 The correspondences, however, are limited to the verb ἐντέλλομαι, “to command”, and to the motif of God being “with you” (μεθ᾿ ὑμῶν). “All that [someone] commands / ​has commanded” (πάντα ὅσα plus a form of ἐντέλλλομαι) occurs thirtysix times in the LXX, and so it is impossible to speak about the influence of a specific biblical intertext here. Likewise, the Immanuel motif is widespread in the Hebrew Bible, and it is important to the whole of Matthew’s Gospel.48 Once again, it is not possible to determine a specific biblical intertext to which the Gospel text was intended to allude. Rather, the Matthean text makes it possible for readers to recall every biblical text where the phrase μεθ᾿ ὑμῶν is predicated of God or where “all that I have commanded” occurs.49 The Matthean text gives the reader freedom to discover allusions to various biblical intertexts; such allusions were consequently “discovered” by biblical exegetes in the course of the history of interpretation, but misconstrued as intentional allusions of the author to specific texts. 4) The Septuagintal character of Matthew’s language in general produces many biblical echoes, including formulas like πάντα ὅσα + ἐντέλλομαι, πάντα τὰ ἔθνη (“all the nations”), and πάσας τὰς ἡμέρας (“all the days”), as well as others. These echoes contribute to the biblical character of the Gospel and create for readers the impression that they are wandering through a biblical narrative landscape. Again, on the narrative level, the close of the Gospel is comprehensible without any knowledge of its biblical depth-dimension. This depth-dimension, 45  E. g., Ps 2:6–8; Isa 2:2–4; 25:6; 56:7; Zech 2:10–16; 14:16–19. Compare Terrence L. Donaldson, Jesus on the Mountain, JSNT.S. 8, Sheffield 1985, 183–87, 197–202; and Peter Stuhlmacher, Zur missionsgeschichtlichen Bedeutung von Mt 28,16–20, EvTh 59 (1999), 115–17. For a critique, see Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Düsseldorf / ​Neukirchen 2002, 435–436. 46 Allison, The New Moses (cf. footnote 32), 262–266; see also Davies  / ​Allison, The Gospel according to St. Matthew (cf. footnote 30), vol. III, 677–687. 47 lt is therefore not advisable to speak about a biblical genre of “commissioning stories” (contra Benjamin J. Hubbard, The Matthean Redaction of a Primitive Apostolic Commissioning: An Exegesis of Matt 28:16–20, SBL.DS 19, Missoula 1984). 48 See footnote 33, above. 49 The “Immanuel” motif and πάντα ὅσα ἐνετείλ‑ point to a christology of the presence of God and not to a christology of Jesus as a new Moses (contra Davies  / ​Allison, The Gospel according to Matthew [note 30], vol. III, 679–680).

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III. Studien zum Matthäusevangelium

however, does exist, and it is very important. In these final verses, the motif of “God with us” is more important than the obvious and intentional allusion to Dan 7:13–14. Using the categories of Pfister, we may say that the latter has a high specificity, while the former has a very low specificity, because no specific biblical text is invoked. But the degree of communicativity and even of implicit dialogicity is much higher in the case of the Immanuel motif, because Matthew has used this biblical motif as a Leitmotiv throughout his Gospel. Furthermore, it is again true that this text, infused as it is with biblical language, enables and even encourages its readers and hearers to create their own biblical connotations, without directing them to specific intertexts. Biblical intertextualizations of Matthew’s text by readers are among the creative acts of reading that the text makes possible. It should be clear that both the intentional biblical allusions and the allusions whose “discovery” is enabled by the biblical character of the text are very important for an understanding of Matthew’s Gospel. These allusions demonstrate that the Matthean story of Jesus is deeply rooted in biblical tradition; yet at the same time it is an entirely new story that records a new action of the biblical God. It has a biblical depth-dimension that cannot – and should not – be definitively grasped by its readers. Such allusions also show an element of formal continuity between the Gospel narrative and the process of transmitting Israel’s foundational history as it is recorded in the Bible and in early Jewish texts. There is a fundamental difference, however, between Matthew’s unmarked absorption of Mark’s story of Jesus and Matthew’s unmarked biblical allusions: Mark’s text is transmitted and renarrated in its entirety insofar as it serves as the hypotext of Matthew’s Gospel. The unmarked allusions to biblical intertexts normally have no function as hypotexts. Those unmarked intertexts do not structure the Gospel of Matthew; rather, they appear – scattered and usually independent of each other – within a new foundational story. The adoption of that new foundational story is characteristic of the communities of Jesus followers, but it is not, of course, a feature of early, non-Christian, Jewish texts. Perhaps we may say that the biblical texts evoked by the intentional allusions are a secondary matrix for Matthew. His primary matrix, however, is the foundational story that he found in his new hypotext, the Gospel of Mark. d) Quotations I begin with a definition. A quotation – unlike a mere allusion – includes for me the conscious and “extensive, word-by-word” appropriation “of a longer given wording”.50 Nevertheless, the degree and the extent of verbal identity that distinguishes a quotation from an allusion cannot be defined mechanically. The 50 Koch,

Die Schrift (cf. note 27) 13.

20. Intertexts in the Gospel of Matthew

361

difference between allusion and quotation is fluid. The absence of an introductory quotation formula should not be a factor in evaluating a putative quotation; many quotations, particularly in Hellenistic literature, are not introduced by such a formula.51 In the Gospel of Matthew, however, most biblical quotations are formally introduced by a quotation formula. Matthew follows Jewish custom in this respect. The vast majority of Matthew’s biblical quotations are spoken by Jesus himself. This makes it clear for the reader that Jesus, “your only teacher” (Matt 23:8), is quoting and interpreting the Bible continuously and consciously. Most of the biblical quotations spoken by Jesus refer to the interpretation and the praxis of the Torah: Jesus “fulfills” the Torah and all its righteousness through his teaching and his life. Of the eight explicit quotations of the prophets and the Psalms in Matthew, six are predictions (Matt 11:10; 13:14–15; 21:16, 42; 22:44; 24:15), and two occur in a polemical context (15:8–9; 21:13). It is possible to contrast Matthew’s demonstration of Jesus’ fulfillment of the Torah with his presentation of Jesus’ fulfillment of prophetic texts. The fulfillment of the Torah is continuously proclaimed by Jesus himself through his teaching and his life. The fulfillment of the prophets, however, is stated by Jesus only occasionally. The majority of the prophetical intertexts quoted in Matthew’s Gospel are cited by the evangelist, especially in his fulfillment quotations. e) Fulfillment quotations A number of quotations from the prophets have been specially tagged. They are introduced by the fulfillment formula, which was probably inspired by Mark 14:49, but specifically composed by Matthew. The evangelist inserted these tagged fulfillment quotations throughout his book, but he concentrated them in his prologue for didactic reasons. Thus could he make clear to his audience, from the very beginning of his work, that the whole story of Jesus is one continuous fulfillment of prophetic predictions.52 All fulfillment quotations are comments made by the narrator.53 Such an abundance of formulaic comments by a narrator is unique in Jewish narrative literature. According to the criteria of selectivity and communicability, the fulfillment quotations are among the most pointed biblical intertexts of the New Testament. What triggered Matthew’s invention of the fulfillment quotation formula? Two factors had compelled the followers of Jesus to narrate his story as their new foundational story. The continuing parting of the ways with Judaism was 51 Ibid.

12. my view of the fulfillment quotations, see the excursus in Luz, Matthew 1–7 (cf. note 36), 125–131. 53 The only (relative!) exception is the prophetic quotation formulated by Jesus (Matt 13:14– 15), where the introductory formula resembles the fulfillment formula. 52 For

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III. Studien zum Matthäusevangelium

one factor; a second was the new perception, by those outside the movement, of Christianity as a distinct and novel religion. Christians were motivated to reflect on their own identity and to remember anew their own beginning, their ἀρχή (Mark 1:1).54 In Matthew’s Gospel, the painful experience of the parting of the ways elicits a bold response: The Matthean church programmatically claims the prophetic heritage of Israel as the legitimation for its own new foundational story.55 Considering the title of Matthew’s Gospel (1:1) and its other echoes of its “secondary hypotext”, the Bible, we can say that such nods toward the biblical text converge with the fulfillment quotations in their intention. By means of his title and the pentateuchal structuring elements of his book, Matthew aims to give his story of Jesus a Bible-like dignity. By means of the fulfillment quotations, he confirms that, in his story of Jesus, the prophetic promises of God have now been fulfilled. These two methods of appeal to biblical intertexts constitute the rhetorical strategy by which Matthew advances a claim to quasi-canonicity on behalf of his new foundational story. His portrayal of Jesus as one who quotes the Bible with authority strengthens this claim.

III. Concluding Remarks 1. In the Gospel of Matthew there are two entirely different types of intertexts. The first is the Gospel of Mark, the primary hypotext upon which Matthew’s hypertext is based. It remains invisible to Matthew’s readers. In spite of its invisibility, the Gospel of Mark completely determines the structure of the Gospel of Matthew and functions as its primary matrix. Matthew as a whole can be interpreted as a metatext of Mark in a rather strict sense of the word. This is not true for its relationship to Q, however, which merely supplements Matthew’s “primary matrix”. The case of the Bible as intertext is very different. It serves more generally as the basic text of reference that illuminates and interprets the new Matthean foundational story. Beyond that, it enhances the status of Matthew’s Gospel by giving it a quasi-canonical character. 2. In my opinion, it is not possible to speak about a continuing process of biblical tradition that links the Bible and Matthew – in spite of the close analogies between the ways in which biblical narrators, early Jewish narrators, and 54 Such reflection and remembering is in the Gospel of Mark a product of the Neronic persecution in Rome, when Christianity was proclaimed to be a new, specific “superstition” (Tacitus, Ann 15,44,3) different from Judaism. Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 233 correctly interpreted the writing of the Gospels as a decisive step towards the final separation of the Jewish and Christian faiths. The early Christians started to write their own foundational story, and this marked their departure from the narrative community of Judaism. 55 Luz, Matthew 1–7 (note 36), 161–162.

20. Intertexts in the Gospel of Matthew

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Matthew himself retell their stories and employ biblical materials and patterns. Even though Matthew borrows basic structures from biblical literature in order to construct his own book as a “new Genesis”, such continuity is eclipsed by his adoption of a new foundational story. Consequently, the foundational history of lsrael serves Matthew not as a constitutive “primary matrix”, but rather as a “reference text” subordinated to his new foundational story, the story of Jesus. 3. The very numerous allusions to the Bible throughout Matthew’s Gospel indicate that the Bible functions for Matthew not only as its interpretational “reference text”, but also as its “secondary matrix” insofar as it lends to that Gospel its biblical character. Because it is permeated by innumerable biblical background-texts and suffused by countless biblical echoes – some of which were intentionally invoked by the author, some of which are only discovered by the reader who explores the biblical character of the whole Gospel – Matthew’s story of Jesus acquires a biblical depth-dimension. Its readers may thus conclude that the God of the Bible is at work in the life of the Immanuel, Jesus, in a very intricate fashion.

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa I. Zu unserer hermeneutischen Situation Die kulturelle Situation in den verschiedenen westeuropäischen Ländern ist sehr unterschiedlich. Die Schweiz gehört, zusammen mit den skandinavischen Ländern, Teilen Deutschlands, Frankreich und den Niederlanden zu den am stärksten säkularisierten Ländern Westeuropas. Gerade als Theologe bin ich in der Schweiz alles andere als repräsentativ für die meisten meiner Landsleute. Nicht nur bewusste Christinnen und Christen, sondern auch christlich sozialisierte Menschen sind bei uns zu einer Minderheit geworden. Für die meisten Menschen, mit denen ich zusammenlebe, ist die Passionsgeschichte etwas Exotisches und Verstaubtes. Auch am Karfreitag und an Ostern werden bei uns die Kirchen zunehmend leerer. Die Menschen nehmen ein paar Freitage; sie gehen vielleicht skifahren. Sichtbar sind in diesen Tagen vor allem die Osterhasen aus Schokolade in immer neuen designs und die Ostereier, aber nicht die christliche Osterbotschaft. Vielen Menschen bei uns, vor allem den gebildeteren, begegnet die Passion Jesu auch im Kunstmuseum und bei Auslandreisen in den zu touristischen Sehenswürdigkeiten gewordenen Kirchenräumen. Kulturell interessierte Menschen gehen ausserdem vielleicht in ein Karfreitagnachmittagskonzert. Die Frage, wie die matthäische Passionsgeschichte heute in westeuropäischen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland gelesen wird, ist also falsch gestellt. Sie wird meistens nicht gelesen. Eher muss ich fragen: Wie möchte ich als Theologe, dass die Passionsgeschichte in unserem Kontext gelesen würde, wenn sie eben gelesen würde? Aber in Wirklichkeit hat die Passionsgeschichte weithin aufgehört, unser Leben zu bestimmen. Um das, was ich die „hermeneutische Situation“ der Lektüre der Passionsgeschichte nenne, zu erfassen, benutze ich die Wirkungsgeschichte der Passionsgeschichte. Die Wirkungsgeschichte kann erhellen, was wir durch die biblischen Texte oder angesichts der biblischen Texte geworden sind. Für unsere Fragestellung ist natürlich die neueste Wirkungsgeschichte, also das verflossene 20. Jahrhundert, besonders wichtig. Aus den verschiedenen Bereichen der Wirkungsgeschichte bevorzuge ich hier Literatur und Kunst, denn aus ihnen ergeben sich die besten Einblicke in die hermeneutische Situation theologisch

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III. Studien zum Matthäusevangelium

wenig beeinflusster Leser. Ich möchte ja darüber nachdenken, wie die Passionsgeschichte ausserhalb des binnenkirchlichen Bereichs und ausserhalb des theologischen und weithin auch kirchlichen Ghettos gelesen und verstanden werden kann. Textlich konzentriere ich mich auf zwei Perikopen, nämlich die Getsemani-Perikope Mt 26,36–46, und die Erzählung vom Tod Jesu Mt 27,45– 50, vor allem auf Mt 27,46, Jesu Ruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das paulinisch und reformatorisch geprägte Christusbild des für uns und unsere Sünden gestorbenen Christus hat heute seine Prägekraft weithin verloren. Seit der Aufklärung hat es mehr und mehr einem Christusbild Platz gemacht, in dem der Mensch Jesus im Zentrum stand. In der Aufklärung und auch im 19. Jahrhundert stand das souveräne Sterben Jesu im Vordergrund. Jesus war der grosse religiöse Heros, der die Menschen erlösen will. So bittet der Messias Klopstocks, nein, eher deklamiert er: Ich will leiden, den furchtbarsten Tod ich Ewiger leiden! Ich hebe gen Himmel mein Haupt auf, Meine Hand in die Wolken, und schwöre dir bei mir selber, Der ich Gott bin, wie du: Ich will die Menschen erlösen!1

Sein Jesus war der vollkommene Menschenfreund, bei dem nicht nur der Geist, sondern auch das Fleisch willig war. Mt 27,46 wurde im 19. Jahrhundert oft so gedeutet, dass Jesus zuversichtlich und getrost, mit den Worten des 22. Psalms auf den Lippen, stirbt. Er habe in Mt 27,46 nur den ersten Vers des Psalmes laut gesprochen und sei vorbildlich fromm einen Psalm rezitierend gestorben.2 Wie anders wurde dies im 20. Jahrhundert! Jesus wurde nun zum Prototyp des leidenden Menschen schlechthin, von dem sich Gott abgewandt hat und der uns gerade deshalb so nahe ist, weil Gott ihm fern zu sein scheint. Mt 27,46 zeigt nun gerade die Gottesverlassenheit Jesu. Die Erfahrung der Gottferne und der Gottverlassenheit scheint eine der Grunderfahrungen des zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu sein. Ich zitiere Rainer Maria Rilke, der sie in seinem Gedicht „Der Ölbaum-Garten“ eindrücklich formuliert. Es ist als Gebet Jesu formuliert. Hier wird das innere Leiden Jesu in Gethsemane zum Leiden am Verlust Gottes: Nach allem dies. Und dieses war der Schluss. Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde, und warum willst Du, dass ich sagen muss, Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde? Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein. Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein. 1 Friedrich

G. Klopstock, Der Messias, 4 Bde, Carlsruhe 1825, I 134–137 (= Bd. I 12). z. B. bei Friedrich D. E.  Schleiermacher, Der Christliche Glaube, Berlin 71960, Bd. II 154 (= § 104). 2 So

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa

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Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist …

Rilke nimmt im Folgenden die lukanische Version der Getsemani-Geschichte Lk 22,43f auf: Später erzählte man, ein Engel kam – . Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen. Die Jünger rührten sich in ihren Träumen. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht. Die Nacht, die kam, war keine ungemeine; so gehen hunderte vorbei. Da schlafen Hunde, und da liegen Steine. Ach eine traurige, ach irgendeine, die wartet, bis es wieder Morgen sei. Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern …3

Käthe Kollwitz, die einen nahe stehenden Menschen, ihren Sohn Peter, im Ersten Weltkrieg verloren hat, empfindet Jesus als jemanden, der ihr selbst nahe steht. Sie schreibt: „Als ob Jesus zuletzt doch noch auf das Wunder gewartet hat! Vielleicht etwas Ähnliches wie das, was ich in meinen kleinmenschlichen Verhältnissen erlebt hatte, als ich Peter gab und er fiel.“4 Das Wunder des göttlichen Eingreifens geschah nicht, weder im Leben von Käthe Kollwitz, noch bei Jesus. Ich füge dem zwei theologische Zeugnisse aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts an, die den Gottesverlust als die eigentliche Tiefe der Passion Jesu sehen: Nach Dorothee Sölle zeigt das Kreuz, dass „sich Gott aus der Welt herausdrängen“ lässt in die Ohnmacht, die Schwäche, die Unerfahrbarkeit. Jesus, der Stellvertreter, ist sein „Schauspieler“, der die Rolle des abwesenden Gottes zu spielen wagt. Gott, in der Welt „gefoltert, verbrannt und vergast“, hat sich selbst aufs Spiel gesetzt. Sölle fragt: Ist der ohnmächtige Gott die heutige Gestalt des christlichen Gottes?5 Hans Urs v. Balthasar, dem der Kreuzigungstext sehr wichtig war, sieht hier die Grenzen des Sagbaren. Er sagt: „Die Verlassenheit affiziert (Jesu) ganzes Verhältnis zum Vater, die Nebel hüllen auch die Spitze des Berges ein.“ Aber dennoch bleibt für ihn Gott, der 3 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt 1996, I 459 f. 4 Hans Kollwitz (Hrsg.), Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken. Käthe Kollwitz. Ein Leben in Selbstzeugnissen, Hannover 1968, 355. Peter Kollwitz (1896–1914) fiel als Musketier am 24. Oktober 1914 in Flandern und liegt auf dem deutschen Soldatenfriedhof Vladslo in der Nähe von Oostende begraben. Dort steht die berühmte Skulptur „Trauerndes Elternpaar“ von Käthe Kollwitz. 5 Vgl. Dorothee Sölle, Stellvertretung, Stuttgart 1965, 202.192.204.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Abb. 1: Edvard Munch, Kreuzigung

nicht mehr sagbar, sondern nur noch als Abwesender in mystischer Versenkung erfahrbar ist, „mein“ Gott.6 Ich möchte diese Überlegungen zur hermeneutischen Situation der Passionsgeschichte vertiefen, indem ich einige Beispiele aus der Kunstgeschichte hinzufüge. Das erste Beispiel ist ein Gemälde von Eduard Munch, entstanden um 1900 (Abb. 1).7 Nicht der Gekreuzigte prägt es, sondern die Menschen unter dem Kreuz: Lachend stehen manche da, in tiefer, stummer Trauer die Frauen, kommentierend ein alter Gelehrter, mit abgewandtem Gesicht, alles nicht zur Kenntnis nehmend ein Mensch am rechten Bildrand. In der unteren Bildmitte wird der Kopf eines alten Mannes mit weit aufgerissenen Augen sichtbar. Sein übergrosses Gesicht ist eine einzige, unbeantwortete Frage. – In andere und doch ähnliche Gefilde führt uns eine Skulptur des brasilianischen Künstlers Guido Rocha von 1975 (Abb. 2).8 Der Gekreuzigte ist ein Farbiger, ausgemergelt bis auf die Knochen, einer der Ärmsten der Armen. Er hat am Kreuz die Beine angezogen, als ob er sich davon abstossen und herunterspringen wollte. In seinem Schmerz scheint er sich ein letztes Mal aufzubäumen, und man meint, seinen Schrei hören zu können, in dem er seinen ganzen Schmerz, seinen Zorn 6 Hans

Urs v. Balthasar, Die Wahrheit ist symphonisch, Einsiedeln 1972, 34 f. Museum Oslo. Bild: Jaroslav Pelikan, The Illustrated Jesus through the Centuries, New Haven 1997, 104. 8 Standort: All Africa Conference of Churches Training Center, Nairobi. Bild: Hans Ruedi Weber, Und kreuzigten ihn. Meditationen und Bilder aus zwei Jahrtausenden, Göttingen 21982, 41. 7 Munch

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa

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Abb. 2: Guido Rocha, Der Gekreuzigte

und seinen Protest den Menschen zubrüllt. Der Gedanke an Ergebung, gottgewolltes Leiden oder gar an Gottes Liebe scheint weit weg. Wo bleibt Gott? Aus beiden Bildern, so verschieden sie sind, scheint er verschwunden. Das Getsemani-Bild in dem während des zweiten Weltkriegs entstandenen Passionszyklus von des Schweizer Malers Willy Fries drückt vielleicht etwas Ähnliches aus (Abb. 3):9 Die Grundtöne sind dunkel: blaubraun mit blau. Die Landschaft ist kahl; die Bäume sind ohne Blätter. Die drei Jünger kauern im Vordergrund im Schatten eines Felsens. Jesus kniet im Hintergrund; er kehrt dem Beschauer den Rücken zu. Vom Engel, der Jesus nach dem Lukasevangelium tröstet und der auf den meisten klassischen Getsemanibildern zentral ist, ist auf diesem Getsemani-Bild nichts zu sehen. Rechts von Jesus lassen die Felsen 9 Der Passionszyklus von Willy Fries (1907–1980) entstand 1936–1944 und befindet sich in der Garnisonskirche in Köln-Marienburg. Bild: Willy Fries, Passion, Zürich 1976, 27.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Abb. 3: Willy Fries, Getsemani

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa

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einen Spalt offen. Ein kleines bisschen Weite, ein kleines Stück Himmel wird sichtbar. Ist das ein ganz kleines Zeichen der Hoffnung? Ich kehre nochmals zur Kreuzigung zurück und beende meine Hinweise mit einem Bild, das auch aus dem 20. Jahrhundert, aber aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt. Es geht um das Kreuzigungsfresko der Kapelle des Libermann College in Douala (Kamerun) von Engelbert Mveng (Abb. 4).10 Auf diesem Fresko eines afrikanischen Theologen ist nichts von dem zu spüren, was unsere zeitgenössischen europäischen Kreuzigungsbilder dominiert: von der Erfahrung totaler Gottverlassenheit. Engsprechend ist unter den letzten Worten Jesu am Kreuz nicht Mt 27,46 am wichtigsten, sondern eher das zuversichtliche Wort Lk 22,46. Dabei ist gerade Afrika voll von Leidenserfahrungen: Die Märtyrer von Uganda, die beidseitig zu Füssen des Kreuzes stehen, stehen für Mveng stellvertretend für die vielen Leidenden und Gemarterten Afrikas. Auch sein Bild situiert also den Gekreuzigten in der Gegenwart und überspringt den garstigen breiten Graben der Differenz der Zeiten. Aber über den Gemarterten steht riesengross der gekreuzigte Christus, die Arme bis zum Himmel ausgespannt, mit einer Geste des Segens, welche weit über die Menschen Afrikas hinausreicht und die ganze Welt umfasst. Seine Augen sind offen; er ist der Lebendige, in dem die Leidenden geborgen sind. Mveng interpretiert sein Fresko folgendermassen: The whole is in three fundamental colours: red the colour of life, black the colour of suffering, and white the colour of death. Thus Africa, mankind, and the whole cosmos are evoked and comprised in the vast gesture of Christ on the cross: „Father into thy hands I commend my breath of life.“ But the splendour and majesty of this cross sings the paschal triumph of the resurrection: „I am the resurrection and the life; He who believes in me, though he dies, yet shall he live, and whoever lives and believes in me shall never die. 11

Hier lebt etwas von der Frömmigkeit der Alten Kirche wieder auf, die es verstand, die Passionsgeschichte im Lichte von Ostern zu lesen. Sie wusste, dass über und hinter dem Leiden das göttliche Leben steht. Für Mveng ist das Sterben Jesu gerade nicht der Ort der Gottverlassenheit, sondern der Ort seiner lebensspendenden und segnenden Präsenz. Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte, zum Beispiel mit Bildern, erhellt ja nicht nur den eigenen hermeneutischen Ort, sondern macht auch auf Korrektive aufmerksam, auf Interpretationen, die biblische Texte anders verstehen als wir. Das gilt besonders für Mvengs Kreuzigungsbild. Zurück zur hermeneutischen Situation Westeuropas angesichts der Passionsgeschichte: Für mich ist die Erfahrung der Gottverlassenheit und der Un10 Bild:

Weber a. a. O. 62.

11 Indigenousjesus.blogspot.ch/2012/05/engelbert-mveng-theology-of-life.html.

Weber, ebd.

Vgl. auch

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Abb. 4: Engelbert Mveng, Kreuzigung

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa

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erkennbarkeit Gottes, die sich für manche Menschen in Europa mit der Passion Jesu verbindet, so etwas wie der zentrale Nerv dessen, was ich unsere hermeneutische Grundsituation nennen möchte. Sie berührt sich mit der Erfahrung, dass Gott in der säkularen Gesellschaft des postchristlichen Europa von den meisten Menschen schlicht vergessen worden und zu einer überflüssigen Grösse geworden ist. Auch noch Anderes ist mit der Erfahrung des Gottesverlustes verbunden: Zum Verlust Gottes gehört auch der zunehmend zu einem Albtraum unserer Gesellschaft werdende Verlust jeder normativen Ethik. In dieser Grundsituation möchte ich versuchen, auf die Botschaft der Passionsgeschichte zu hören.

II. Sinnpotenzen der matthäischen Passionsgeschichte für Westeuropa Welche Sinnpotenzen der matthäischen Passionsgeschichte könnten in dieser hermeneutischen Situation wichtig sein? II. 1 Die Passionsgeschichte ist eine Erzählung Die matthäische Passionsgeschichte lehrt sehr wenig über die Bedeutung des Sterbens Jesu. Die soteriologische Deutung der Passion Jesu als Sterben Jesu für uns, welche der Reformation so wichtig war und uns so fremd geworden ist, ist in ihr wenig zentral. Erzählungen sind offen und in der Regel nicht Trägerinnen einer Lehre. Die grosse Finsternis in 27,45 beispielsweise, welche vor dem Tod Jesu die ganze Welt erfasst, kann, aber muss nicht gedeutet werden. Signalisiert sie kosmische Trauer, göttliches Gericht oder ist sie einfach ein Hinweis auf die grosse kosmische Pause, den absoluten Stillstand, der dann eintritt, wenn Unerhörtes passiert? Verschiedene antike Leserinnen und Leser des Matthäusevangeliums werden an ganz Verschiedenes gedacht haben, je nach ihrer – eher jüdisch-biblischen oder eher hellenistischen – persönlichen Enzyklopädie.12 Es gibt keine Assoziation, die sich unmittelbar aufdrängt oder die der Erzähler Matthäus evozieren will. Ihm genügt es, wenn die Leser erschrecken und merken: In den nächsten Stunden wird Unerhörtes geschehen! Es wird etwas geschehen, was die ganze Erde erschüttern wird. Nun wird Gott selbst am Werk sein. Auch die Zeichen nach dem Tode Jesu 27,51ff können, aber müssen nicht gedeutet werden: Die Leser mögen an das Ende des Kultes, an die göttliche Theophanie, an das kommende Weltgericht oder an die Auferstehung Jesu denken. Die erzählten Zeichen wecken in den Lesern biblisch-apokalyptische 12 Zu den Deutungsmöglichkeiten vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I 4, Düsseldorf / ​Neukirchen 2002, 333 f.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Assoziationen, aber es sind ganz verschiedene, und keine „stimmt“ völlig.13 Vielmehr werden in diesen wenigen Sätzen ihre biblischen Erinnerungen gleichsam durcheinander gewirbelt. Hören sie sie zum ersten Mal – manchen, mit der Passionsgeschichte des Markusevangeliums vertrauten Leser / ​innen ging es so – , so werden sie überrascht, schockiert und verwirrt sein. Sie ahnen, dass jetzt Gott selbst in geheimnisvoller, nicht verrechenbarer Weise eingreift und dass von jetzt an nicht mehr die Menschen, sondern eine Hand von oben die Regie führt – nicht um den Tod Jesu rückgängig zu machen, sondern um seine wahre Bedeutung ahnen zu lassen. Erzählungen stehen nicht für etwas – sie erzählen. Erzählungen halten den Leser zur Arbeit an ihnen an. Lesen oder hören sie von diesen Zeichen ein zweites oder drittes Mal, so werden sie ihr jüdisch-biblisches Grundwissen aktivieren und die einzelnen Zeichen zu deuten versuchen. Sie werden mit anderen Gemeindegliedern über ihre Bedeutung reden. Würden aber diese Zeichen abschliessend gedeutet, so würde die Arbeit der Leserinnen überflüssig und man bräuchte die Geschichte gar nicht mehr zu erzählen; man kennte ja dann ihre Bedeutung. Erzählungen haben ihre eigene Kraft. Sie ermöglichen den Hörer / innen in verschiedenster Weise, in sie hineinzukommen. Sie erwecken Sympathie, Bewunderung, Mitleid, Ärger oder Zorn. Sie bieten Erzählfiguren zur Identifikation an, in der Passionsgeschichte etwa den schweigenden, standhaften, betenden Jesus, den verleugnenden und bereuenden Petrus, gleichsam als „Normalchristen“, unter dem Kreuz den heidnischen Hauptmann, später die furchtsamen Frauen und in 28,16–20 die zweifelnden Jünger. Die Hörerinnen und Hörer werden die für ihre eigene Lebenssituation passendste Identifikation wählen. Sie empfinden Jesus als Vorbild, Petrus oder die Frauen als Verwandte und haben Verständnis dafür, dass es unter den Jüngern auch Zweifler gibt. Bei starken Erzählungen werden die Hörerinnen und Hörer unweigerlich identifiziert; sie geraten in die Erzählung hinein und nehmen Partei, auch wenn sie dies eigentlich gar nicht beabsichtigt haben. Die Passionsgeschichte ist eine inklusive Geschichte, welche ihre Hörer / ​innen mit ihren eigenen Erfahrungen in sich hineinzieht. Eine Erzählung ist also kein Lehrtext. Geschichten sind der Feind aller Definitionen. Sie schaffen in den Leser / ​innen nicht ein Bild, sondern viele Bilder. Geschichten sind der Feind aller Orthodoxien. Der christologische Gehalt der matthäischen Jesusgeschichte lässt sich nur so wiedergeben, dass man auf ihre mannigfachen Sinnpotenzen hinweist. Sinnpotenzen sind inhaltlich nicht ein13 Luz a. a. O. 357 weist darauf hin, dass die wichtigen Assoziationsmöglichkeiten nur teilweise „aufgehen“: Ez 37,12 ist zwar vom Öffnen der Gräber die Rede. Die in Ez 37 geschilderte Auferstehung findet aber gerade nicht in Jerusalem statt. In Sach 14,4f wird ein „Spalten“ des Ölbergs, ein Erdbeben und das Kommen der „Heiligen“ angekündigt. Aber dort geht es um die Rettung Jerusalems, hier gerade nicht. Die Leser spüren: Hier ist der biblische Gott am Werk. Aber er handelt neu, anders, auch als es die Propheten geweissagt haben. Darum fehlen in Mt 27,51–53 auch Zitate.

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deutig begrenzbar. In Geschichten lassen sich immer wieder neue Sinnpotenzen entdecken. In der christlichen Tradition aber ist Jesus in die Hand der Theologen geraten, die definiert haben, wer er ist. Definitionen sind „geschlossen“; sie zwingen dazu, zwischen Richtigem und Falschem zu unterscheiden. Die Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte hat gezeigt, dass Theologen verschiedener Schattierungen immer wieder ihre Mühe mit dem Matthäusevangelium hatten. Es bietet kein vollständiges und abgeschlossenes Jesusbild und unterscheidet selten zwischen falschen und richtigen Definitionen Jesu,14 wohl aber zwischen richtiger und falscher Praxis.15 Eben darin liegt m. E. eine grundlegende Bedeutung der matthäischen Jesusgeschichte für uns Theologen. Sie leitet verständige Theolog / ​ innen dazu an, nicht definieren zu wollen, wer der „Herr Jesus“ ist, sondern seine Geschichte wirken zu lassen. Die hermeneutische Chance der Passionsgeschichte in Europa besteht also darin, dass sie eine Geschichte ist. Gute Geschichten setzen sich immer wieder selbst durch, auch ohne Hilfe von Theologen und ohne Hilfe von Predigten auf den Kanzeln, denen in vielen Ländern Europas nur noch wenige zuhören. Dass die Evangelien, gerade ihre zusammenhängenden Passionsgeschichten, in ihrer Schlichtheit und Kargheit starke Geschichten sind, wird niemand bezweifeln. Ihre Wirkung kann jeder erfahren, der z. B. eine musikalisch rezitierte Passion hört, von den ältesten Sprechgesängen bis zu den oratorischen Passionen von Johann Sebastian Bach. Sie sind bis heute präsent geblieben, im Unterschied zu den den Bibeltext preisgebenden Passionsoratorien des 19. Jahrhunderts, von denen heute niemand mehr spricht. II. 2 Die Erzählung vom Immanuel Die matthäische Passionsgeschichte ist nicht irgend eine Erzählung, sondern sie ist der Abschluss der Erzählung vom Immanuel, dem „Gott mit uns“. Die Leser des Matthäusevangeliums wissen seit dem ersten Erfüllungszitat in 1,23, dass Jesus der „Immanuel“ ist, die Gestalt, in der der biblische Gott sie in ihrem Leben und auch in ihrem Leiden begleitet. Zu Beginn der Passionsgeschichte erinnerte Jesus seine Jünger beim letzten Mahl daran, dass er im Gottesreich dieses Mahl wieder mit ihnen feiern werde (26,29). Das ganze Matthäusevangelium endet mit der Verheissung der bleibenden Präsenz des Immanuel: „Ich bin mit euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (28,20). Die Passionsgeschichte erzählt also nicht einfach vom Beten, Leiden und Sterben irgendeines Menschen, der vielleicht sogar an Gott verzweifelt ist. Sie erzählt vielmehr das Leiden des Immanuel. 14 Eine 15 Vgl.

der seltenen Ausnahmen ist Mt 12,23 f. Mt 7,21–23; 12,46–50; 25,31–46.

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III. Studien zum Matthäusevangelium

Aber nun ist Jesus in der Passionsgeschichte nicht nur der Repräsentant Gottes, der als Menschensohn souverän den Weg geht, den er nach dem Willen Gottes gehen muss (26,2.24.45) und der gegenüber seinem irdischen Richter, dem Hohenpriester, auf sein Kommen als Weltrichter hinweist (26,64). Gerade in der Passionsgeschichte ist der „Immanuel“ auch das Gegenüber Gottes: Jesus bittet den Vater dreimal, dass der Kelch des Todes an ihm vorübergehe, ohne dass er, wie in Lk 22,43f, von Gott getröstet wird. Zu ihm schreit er schliesslich: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ (27,46). Jesus, der Repräsentant Gottes, ist zugleich der Beter, der von Gott Verlassene. Das Christus‑ und Gottesbild des Matthäusevangeliums scheint komplex, vielschichtig und nicht linear verrechenbar. Christliche Leser mag diese Komplexität an Luthers Unterscheidung zwischen dem Deus absconditus und dem Deus revelatus erinnern oder vielleicht noch mehr an die altkirchliche Zweinaturenlehre, mit der Matthäus vieles verbindet, obwohl er ganz anders denkt. Jedenfalls ist der einst allmächtige Gott, von dem der moderne Europäer Abschied genommen hat, nicht derselbe wie der mehrdimensionale Gott des Matthäusevangeliums. Aber auch Jesus, der in Getsemani zu Gott betet, ist für die ersten Leser des Matthäusevangeliums etwas anderes als der moderne Mensch, der auf seine Gebete um Gott keine Antworten mehr zu bekommen scheint. Woran zeigt sich in Mt 26,36–46, dass Gott „mit Jesus“ ist? Jesus fällt auf sein Antlitz, aber nicht als schier Verzweifelter, sondern wie es schon Abraham tat, wenn er mit seinem Gott redete (Gen 17,3.17). Er umschreibt seine eigene Trauer mit den vorgegebenen Worten eines biblischen Klagepsalms (Ps 41,6.12; 42,5 LXX). Sein Gebet richtet er an seinen Vater; es erinnert an die Worte des Unservaters. Als Betender bleibt er gehalten von Gott: Wer weiss, dass „euer Vater weiss, was ihr nötig habt, bevor ihr ihn bittet“ (Mt 6,8 im Vorspruch des Unservaters!), braucht keine spektakulären Gebetserhörungen und auch keine Engel zu seinem Troste. Jesu Gebet ist ein Akt der Frömmigkeit, des Gehorsams und des Vertrauens und nicht ein Akt der Verzweiflung. Darum braucht Matthäus keinen Stimmungsumschwung Jesu zu berichten, bevor er ihn in V 45f wieder gefasst, entschlossen und „wissend“ vor seine Jünger treten lässt. Jesus ist fromm, aber er ist kein religiöser Heros und kein abgeklärter Supermensch, der seines Gottes gewiss ist, sondern ein Mensch, der mit seinem Gott ringt, wie die biblischen Psalmbeter. Auch die Trauer, die Angst und die Verzweiflung Jesu bleiben für Matthäus von Gott getragen. Ähnlich ist es bei unserem zweiten Text, nämlich bei Mt 27,46. Natürlich ist der Ruf „mein Gott, warum hast du mich verlassen“, zum Nennwert zu nehmen. Die Passionsgeschichte zitiert immer einzelne Verse von Ps 22; es steht nie der ganze Psalm vor Augen.16 Es gibt also keinen Horizont der Gewissheit; vielmehr 16 Gegen Hartmut Gese, Psalm 22 und das Neue Testament, ZThK 65 (1968), 1–22, bes. 17, der eine alte Exegese des 19. Jahrhunderts in neuer Form wieder aufnimmt.

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ist in 27,45f die Finsternis total: Der äusseren Finsternis entspricht die innere der Gottverlassenheit. Der Aufbau der Passionsgeschichte ist konsequent: Jesus wird zuerst von seinen Jüngern verlassen (26,56), dann von Petrus (26,69–75), schliesslich auch von Gott. Dass noch Frauen in der Nähe sind wird bei Matthäus anders als bei Johannes erst nach dem Tod Jesu erwähnt. Jesus schreit sein Leiden und seine innere Verlassenheit hinaus, laut und vernehmbar, nicht resigniert oder gottergeben. Das Leiden ist nicht innerlich bewältigt oder akzeptiert, sondern es ist einfach da, schmerzhaft und dunkel, wie die Finsternis. Aber Jesus schreit nicht einfach in eine anonyme Finsternis hinein, sondern er schreit laut, fast anklagend, zu seinem Gott. Gott ist zwar nicht sichtbar; das Dunkel verschlingt alles. Und dennoch gibt es keinen anderen, an den Jesus sich in seiner Verlassenheit wenden könnte, als eben diesen Gott. Jesus sagt im Gebet „du“, nicht: „er“. Er spricht nicht in eigenen Worten, sondern in vorgegebener biblischer Gebetssprache. Dieser Schrei gegen Gott zu Gott steht wieder mitten in jüdischer Psalmenfrömmigkeit: Der lebendige Gott, zu dem die Psalmisten schreien, gibt weder einen Schlüssel zum Sinn des von ihm geschickten Leidens noch ein Rezept, wie es würdig zu ertragen sei. Aber Gott ist da und hört ihr Schreien. Anders als in manchen neuzeitlichen Interpretationen geht es in unserem Text nicht um das subjektive Bewusstsein Jesu, nicht darum, ob er psychologisch gesehen verzweifelt oder zuversichtlich gestorben ist. Vielmehr steht der Text in einem theologischen Horizont: Es geht beim Tod des „Immanuel“ Jesus um Gott, seine Abwesenheit und seine Gegenwart. Genauer: Es geht um das Wie seiner Gegenwart. Der biblische Gott trägt die, die zu ihm beten, gerade in ihrer Gottverlassenheit. Diese Nähe und Greifbarkeit Gottes in seiner Abwesenheit und Unbegreiflichkeit zeigt der Immanuel Jesus in seinem Gebet. Verstehen kann das nur, wer sich selbst als Subjekt nicht absolut setzt und über seine subjektive Befindlichkeit hinaus zu hoffen versteht. Das will der Text neuzeitlichen europäischen Menschen in ihrer Gottverlassenheit sagen: Eure Gottesverlassenheit ist nur dann absolut, wenn ihr euch selbst verabsolutiert. II. 3 Die ethische Dimension der matthäischen Passionsgeschichte Vordergründig und durchaus richtig sagt man: Der leidende Jesus hat Vorbildfunktion. In der Getsemanigeschichte wird das exemplarisch deutlich: Jesu Gebet erinnert ans Unservater: „Mein Vater!“ – „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ – „Dein Wille geschehe“ (26,39.42). Seine Jünger ermahnt er: „Wacht und betet, damit ihr nicht in die Versuchung kommt“ (26,41). In der Verhaftungsszene wird ein anderer Aspekt der Vorbildhaftigkeit deutlich: Obwohl Jesus zwölf Legionen Engel hätte herbeirufen können, befiehlt er Petrus, sein Schwert in die Scheide zu stecken. „Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen!“ (26,52f). Die fünfte Antithese der Berg-

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predigt klingt hier an: Leistet dem Bösen keinen Widerstand! Das Gegenüber des standhaften Jesus und des verleugnenden Petrus in den beiden ineinander verschränkten Szenen im hohenpriesterlichen Palast (26,57–75) hat wieder paränetische Bedeutung: Die Martyriumssituation steht im Hintergrund; das standhafte Bekenntnis zum Gottessohn ist auch von den Christinnen und Christen gefordert. Besonders deutlich wird die paränetische Dimension der matthäischen Passionsgeschichte schliesslich in der Verspottungsszene nach der Kreuzigung: „Rette dich selbst, wenn du Sohn Gottes bist, und steige vom Kreuz hinab!“ (27,40). So spotten die Vorübergehenden. Ähnlich die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten! Ist er König Israels, so steige er jetzt vom Kreuz, und wir werden an ihn glauben!“ (27,42) Und dann – mit Worten aus dem Lied vom leidenden Gerechten aus Sap Sal 2 –: „Er hat auf Gott vertraut. Der soll ihn jetzt retten, wenn er ihn will. Er hat ja gesagt: Ich bin Sohn Gottes!“ (27,43). Im Aufbau des Matthäusevangeliums entspricht dieses Gottessohnszene chiastisch der Versuchungsgeschichte (4,1– 11): Auch dort erwies Jesus seine Gottessohnschaft durch seinen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Spätestens hier wird deutlich, dass diese ethische Dimension zugleich eine theologische ist. Es gibt im Matthäusevangelium keine von der Beziehung zu Gott unabhängige Ethik. Ethik heisst immer: den Willen des Vaters tun. „Gerechtigkeit“ ist immer theonom und heisst, zu tun, was Gott, der seinem Volk die Treue hält, gebietet. Umgekehrt gibt es keine Gottesbeziehung und auch keine Christusbeziehung ohne Ethik. „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird ins Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut“ (7,21). Der Judenchrist Matthäus denkt ähnlich wie der judenchristliche Autor des Jakobusbriefs, dass zu glauben, dass es einen Gott gebe, aber keine Werke zu tun, eine Absurdität sei. Es gibt also für Matthäus kein von der Gottesbeziehung abgelöstes, autonomes Verhalten des Menschen, sondern in seiner Praxis steht seine Gottesbeziehung auf dem Spiel. Und es gibt keine nur theoretische Erkenntnis Gottes, sondern nur eine in der Praxis des Lebens riskierte und bewährte. Auch darin ist Matthäus vielen modernen europäischen Menschen sehr unähnlich: Viele Menschen, gerade Intellektuelle, neigen dazu, die Gottesfrage zu einer theoretischen, weltanschaulichen oder metaphysischen Frage zu machen und die Ethik von ihr abzulösen und dann – konsequenterweise – in die Verantwortung des aus religiöser Abhängigkeit zu ethischer Mündigkeit „befreiten“ Menschen zu legen. Bei Matthäus hat dagegen die Vorbildhaftigkeit Jesu eine theologische Dimension. Der leidende Jesus tut den Willen des Vaters. Er schweigt gegenüber seinen Feinden, wie der biblische leidende Gerechte (27,12–14). Er bewährt im Gehorsam gegenüber Gott seine Gottessohnschaft. Der heidnische Hauptmann, der alle Ereignisse um den Tod Jesu gesehen hat, entdeckt, dass Jesus Gottessohn

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war (27,54).17 Die ethische Dimension des Leidens Jesu in der matthäischen Passionsgeschichte ist mehr als die Darstellung des Todes eines Menschen, der voll und ganz zu seiner Sache steht und keine Kompromisse macht, um sich selbst zu retten. Schon das kann heutige Menschen beeindrucken, die in vielfältigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zwängen kaum Freiraum finden, um sich selber treu und ihren eigenen Idealen gegenüber konsequent zu sein. Aber Matthäus geht es um mehr. Es geht ihm um die Entdeckung Gottes im konsequenten Gehorsam gegenüber seinem Willen. Wer die „bessere Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) tut, ist auf dem Weg zu Gott: Das macht die Abfolge von Mt 5 und 6 deutlich: Wer gehorsam zu sein versucht bis zur Vollkommenheit (Mt 5,48), lernt, zum Vater zu beten. Im Aufbau der Bergpredigt führen die Antithesen hin zu ihrer Mitte, dem Unservater (Mt 6,9–14). Insofern ist gerade der gehorsame, leidende Gottessohn Jesus nicht nur Modell christlichen Verhaltens, sondern „Immanuel“, d. h. Ort der Entdeckung von Gottes Gegenwart.

III. Epilog: Matthäus und Israel In einem kurzen Epilog muss ich noch von einer weiteren Dimension der matthäischen Passionsgeschichte sprechen, welche für die Menschen Europas, gerade auch für Christinnen und Christen, wichtig sein muss. Sie hat nichts mit der hermeneutischen Grundsituation des Gottesverlustes zu tun. Es geht um das Verhältnis des matthäischen Jesus und seiner Gemeinde zu Israel. Die matthäische Jesusgeschichte erzählt als ganze, wie Jesus, der Davidssohn und Messias seines Volkes, vonseiten der Führer seines Volkes immer mehr Widerstand erfährt. In der Passionsgeschichte kommt diese Feindschaft zu ihrem Gipfelpunkt: Den falschen Führern Israels gelingt es, das „ganze Volk“ auf ihre Seite zu ziehen, sodass es von Pilatus die Kreuzigung Jesu fordert. Pilatus wäscht sich seine Hände in Unschuld; das ganze Volk nimmt mit der Bibel entliehenen Worten die Schuld auf sich: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Die beiden Verse Mt 27,24 f. sind fiktiv und nicht historisch18 – in der Quelle des Matthäus, im Markusevangelium, fehlen sie noch. Das Matthäusevangelium endet dann mit einem doppelten Ausblick auf die Gegenwart. Es erzählt, wie die jüdischen Führer sich in ihre eigene Lüge verstricken, die Grabwächter mit Geld bestechen, sodass sie Pilatus gegenüber ver17 Das imperfektische ἦν will kaum eine Einschränkung der Gültigkeit dieses Bekenntnis eines aussenstehenden Heiden andeuten. Wahrscheinlicher ist mir, dass Mt damit bewusst auf das Leben und Sterben Jesu zurückweisen will, das er in seinem Buch erzählt hat und in dem die Gottessohnschaft Jesu sichtbar wurde. Allerdings hat Mt hier den Text von Mk 15,39 weithin unverändert übernommen, sodass man für eine solche Deutung keine direkten Hinweise im Text findet. 18 Vgl. Luz, Mt 26–28 (o. Anm. 12), 268.

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schweigen, was geschehen ist. Die Szene ist bitter ironisch und muss christliche Leser zu einem bösen Lachen bringen: Wenn die Wächter – nach ihren eigenen Worten – geschlafen haben, können sie ja nicht einmal wissen, ob wirklich Jesu Jünger den Leichnam stahlen! So schlecht steht es um die jüdische Gegenthese zur Auferstehungsbotschaft! Darum hält sich „bei Juden“ – nicht: bei allen Juden – das Gerücht vom Leichendiebstahl „bis zum heutigen Tag“ (Mt 28,11–15).19 Demgegenüber steht der positive Abschluss des Evangeliums: Die Jünger sollen zu allen Völkern gehen und ihnen alle Gebote Jesu verkünden. Von Israel ist nun nicht mehr die Rede. Wieder fügt Matthäus einen Ausblick auf die Gegenwart an, diesmal eine Verheissung: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,16–20). Das Matthäusevangelium hat also sehr deutlich Züge, die ich als „antijüdisch“ bezeichnen würde, obwohl Matthäus und seine Gemeinde jüdische Jesusanhänger sind.20 Warum das so ist, lässt sich historisch verständlich machen: Matthäus und seine Gemeinde haben die Erfahrung der Trennung von den örtlichen Synagogen Israels machen müssen. Das, was Jesus, der Messias Israels, und sie selbst in Israel wollten, ist für sie im wesentlichen gescheitert. Diese Erfahrung war schmerzhaft und führte die Gemeinde in eine Krise. Sie verstand sich selber, wie Jesus, als Teil Israels, aber sie konnte dies nicht mehr sein. Als Antwort auf diese Krise schrieb Matthäus seine Jesusgeschichte, um seiner Gemeinde eine neue Orientierung zu geben. Sie endet in der Passionsgeschichte mit bösartigen und pauschalisierenden „antijüdischen“ Fiktionen. Diese gehören mit zu demjenigen christlichen Erbe, das jahrhundertelang die Beziehungen zwischen Kirche und Israel belastet hat, sodass in Europa unzählige Juden unter teilweise sehr kräftiger Mitwirkung der Kirche verfolgt und getötet worden sind. Diese Geschichte gilt es heute kritisch aufzuarbeiten. Dazu gehört nicht zuletzt die Aufarbeitung ihrer biblischen Wurzeln. Und hier – das wollte ich zum Schluss in diesem kurzen, aber wichtigen Epilog, sagen – liegt auch eine wichtige Bedeutung der mathäischen Passionsgeschichte für Europa.

19 Das Fehlen des bestimmten Artikels, auf das vor allem Hildegard Gollinger hingewiesen hat („… und diese Lehre verbreitete sich bei Juden bis heute“. Mt 28,11–15 als Beitrag zum Verständnis von Israel und Kirche, in: Lorenz Oberlinner / Peter Fiedler [Hg.], Salz der Erde – Licht der Welt (FS A. Vögtle), Stuttgart 1991, 357–373) ist ebenso auffällig wie das erst‑ und zugleich einmalige Vorkommen des Wortes Ἰουδαῖος im Evangelium. Matthäus formuliert hier sehr bewusst: Ἰουδαῖος drückt also eine gewisse Distanzierung aus. Zugleich macht er durch das Fehlen des Artikels deutlich, dass nicht alle in Israel sich dem Glauben an Jesus verweigert haben: Auch er und seine Gemeinde versteht sich als Teil – und als Zentrum – Israels. 20 Dazu vgl. in diesem Band den Aufsatz: Der Antijudaismus im Matthäusevangelium o. Nr. 17 Anm. 1.

22. Matthäus und das Judentum seiner Zeit Mit diesem Thema kommen wir in ein Sturmzentrum der heutigen Matthäusforschung. Vor fünfzig Jahren war die These weit verbreitet, dass Matthäus ein Heidenchrist gewesen sei. Ich erinnere nur an führende Autoren wie John Meier, Wolfgang Trilling oder Georg Strecker: Sie waren mit vielen anderen der Meinung, Matthäus sei ein Heidenchrist gewesen.1 Die eindeutig ins Judenchristentum weisenden Aussagen des Evangeliums wiesen sie der Tradition zu; das Judenchristentum repräsentiere eine ältere Stufe des Gemeindelebens. Die Frage nach dem Verhältnis des Matthäus zum Judentum seiner Zeit stellte sich dann nicht als zentrale Frage der Matthäusinterpretation – Matthäus hatte sich ja, so meinten diese Forscher, vom Judentum längstens gelöst und blickt auf es zurück. Heute ist das ganz anders. Dass das Matthäusevangelium ein judenchristliches Evangelium und sein Verfasser ein Judenchrist ist, ist eine fast selbstverständlich gewordene These. Alle sind damit einverstanden. Nur ist die Etikette „Judenchristentum“ ebenso vielschichtig und vieldeutig wie das Judentum in der Spätzeit des zweiten Tempels. Paul Foster bezeichnet das Wort „Judenchristentum“ mit Recht als „umbrella term“, unter dem ganz vieles Platz hat.2 Die Frage muss vielmehr lauten: Was für ein Judenchrist ist Matthäus? Diese Frage ist aber nur eine Vorfrage zu derjenigen Frage, die heute die Matthäusforschung am meisten bewegt und die wirklich zu ihrem „Sturmzentrum“ geworden ist: Ist Matthäus ein jüdischer Christ oder ist er ein christlicher Jude, oder besser: ein jesuanischer Jude? Versteht sich seine Gemeinde als Teil Israels, vielleicht sogar als das wahre Israel, oder versteht sie sich als Teil der christlichen Kirche, oder – das ist die dritte Möglichkeit – verbindet sie beide Identitäten miteinander? An dieser Frage scheiden sich heute die Geister. Sie ist für uns brennend wichtig, denn an ihr entscheidet sich auch, ob wir heute als christliche Kirchen das Matthäusevangelium seiner eigenen Intention nach überhaupt mit Recht als unser Buch 1 John P. Meier, Law and History in Matthew’s Gospel, AnBib 71, Roma 1976, 14–21; ders., The Vision of Matthew, New York 1979, 17–25; Georg Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, FRLANT 82, Göttingen 31964, 34 f; Wolfgang Trilling, Das wahre Israel, StANT 10, München 31964, 215. 2 Paul Foster, Q, Jewish Christianity, and Matthew’s Gospel. Das immer noch unpublizierte Manuskript wird erscheinen in: Christoph Heil (Hg.), Auf Fels oder Sand gebaut? Q-Forschung: Rückblicke – Einblicke – Ausblicke, BEThL 2016. Zitat: Abschnitt II Anfang.

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und als zentralen Text unseres Kanons beanspruchen dürfen, oder ob der Weg des Matthäusevangeliums in den christlichen Kanon späteren historischen Entwicklungen zu verdanken ist. Dies soll die entscheidende Frage sein, die ich in dieser kleinen Skizze diskutieren möchte. Bevor ich dazu komme, muss ich aber in einem ersten Hauptteil einen Überblick über den matthäischen Stoff geben, der es uns erlaubt, das Matthäusevangelium dem Judenchristentum oder einem christlichen Judentum zuzuordnen.

I. Die Stellung des Matthäusevangeliums im zeitgenössischen Judentum Am Anfang sollen zwei literarische und sprachliche Überlegungen stehen: 1. Literarisch orientiert sich der Verfasser des Evangeliums an der griechischen Bibel. Sie ist vielleicht das einzige Buch, das er kennt. Schon der Titel 1,1 bezieht sich darauf: Matthäus schreibt eine βίβλος γενέσεως, ein neues Buch Genesis. Sein Buch handelt aber nicht von der Schöpfung, und auch nicht wie seine Hauptquelle Markus, vom Gottessohn, sondern vom Messias Jesus, dem Davidssohn und Abrahamssohn. Der folgende Text, der Stammbaum, rekapituliert die mit Abraham beginnende biblische Geschichte in Kurzform. Auch weiterhin orientiert sich Matthäus an der Bibel als literarischem Grundmodell. Ich erinnere nur an die Erfüllungszitate, an die in die Erzählung eingeschobenen fünf Reden, welche sich direkt an seine Hörer / ​innen und Leser in der Gegenwart wenden und an die biblischen Farben seiner Christologie – ohne diese Farben könnte Matthäus gar nicht ausdrücken, wer Jesus ist. 2. Sprachlich ist der Erzählstil des Matthäus einerseits von der Bibel, andererseits vom zeitgenössischen Judentum inspiriert. In den vokabelstatischen Tabellen in der Einleitung zum ersten Band meines Kommentars habe ich bei allen matthäischen Vorzugsvokabeln notiert, wo Wendungen von der LXX inspiriert sind.3 Es sind unzählige; und es würden noch viel mehr, wenn man die Untersuchungen auf Erzählmotive ausdehnte. Manche matthäische Erzählungen, vor allem im Sondergut, wo Mt freier formuliert hat, klingen fast wie narrative Midraschim biblischer Stoffe, z. B. die Geschichte von der Flucht nach und der Rückkehr aus Ägypten in Mt 2. Ähnliches gilt für Jesusworte, z. B. für die durch und durch biblisch formulierten Seligpreisungen des Mt-Sonderguts (Mt 5,4.7–9) oder für den ganz weisheitlich klingenden Heilandsruf Mt 11,28–30. Manche Erzählungen, z. B. Wundergeschichten aus dem Markusevangelium, hat Matthäus dem Erzählstil der Bibel angenähert. Als Beispiele dafür, dass Matthäus sprachliche Entwicklungen im Judengriechisch seiner eigenen, zeitgenös3 Ulrich

52002,

Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Düsseldorf / ​Neukirchen 57–77.

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sischen Umwelt widerspiegelt, nenne ich βασιλεία τῶν οὐρανῶν statt βασιλεία τοῦ θεοῦ, den matthäischen Sprachgebrauch von δικαιοσύνη4, Ἱεροσόλυμα (statt Ἰερουσαλήμ), ὀλιγόπιστος oder die Abneigung des Matthäus gegenüber der Anrede von Lehrern mit ῥαββί (23,8); eben in seiner Zeit wurde das bisher untitular im Sinn von „Ehrwürdiger“ gebrauchte Wort zum Titel für einen Rabbi. 3. Jüdische Wertvorstellungen und Beurteilungskriterien. Ich erinnere hier an das negative image von „Heiden“, z. B. in 5,46 f: „Tun nicht auch die Heiden dasselbe?“, – nämlich nur Seinesgleichen auf der der Strasse grüssen; in 6,7: die Heiden denken, dass ihre Gebete erhört werden, wenn sie viele Worte machen: oder 18,17: ein Gemeindeausschluss bedeutet, dass man gleich dasteht „wie ein Heide oder Zöllner“.5 Natürlich kann man einwenden, dass solche Wendungen nur „mitgeschleppte Tradition“ seien, aber Tradition ist nie nur „mitgeschleppt“, sondern zeigt immer etwas über die eigene Perspektive eines Verfassers. Zu Jesus besteht hier ein Unterschied. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie er sich Zöllnern und in Ausnahmefällen Heidinnen und Heiden zugewendet hat. Auffällig ist auch seine Bildwahl in vielen Parabeln: Relativ oft werden – in der Regel ausländische – Landbesitzer zu positiven Bildspendern. 4. Ein sehr wichtiges Indiz ist die emphatische und grundsätzliche Bejahung der Gültigkeit der Torah durch den matthäischen Jesus. Die grundsätzliche, weithin redaktionell formulierte These, dass Jesus gekommen sei, Gesetz und Propheten zu erfüllen (5,17), hält dies unmissverständlich fest. Sie errichtet einen Damm gegenüber allfälligen anderen Auslegungen der folgenden Antithesen. Man kann nicht 5,17 von den Antithesen her deuten, wie dies z. B. Paul Foster versucht.6 Man liest bzw. hört ja 5,17 vor den Antithesen – darum hat man V 17 im Kopf, wenn man zu den Antithesen kommt. Umgekehrt geht es nicht. Dazu kommt, dass der folgende, traditionelle, aber von Mt intensiv bearbeitete Vers 5,18 den vorangehenden Vers 17 präzisiert: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder nicht ein einziges Häkchen von der Torah vergehen, bis alles geschieht“. Dieser Vers macht nicht nur deutlich, dass im vorangehenden Satz das Hauptgewicht auf der Erfüllung des Gesetzes und nicht etwa der Propheten liegt, sondern er verdeutlicht auch das christologische Gewicht des Wortes πληροῦν: Allein Christus „erfüllt“ das Gesetz, während seine Jünger alle seine Gebote „halten“ (τηρεῖν). Und Christus ist es, der durch das 4 Benno Przybylski, Righteousness in Matthew and his World of Thought, MSSNTS 14, Cambridge 1980, bes. 76. 5 Vgl. auch 6,32. 6 Paul Foster, Community, Law and Mission ind Matthew‘s Gospel, WUNT II 177, Tübingen 2004. 92 formuliert programmatisch: „This study utilises Matthew‘s own commentary (sc. die Antithesen) on the vv. 5,17–19 as the principal means for understanding the role of the law in the Matthean gospel“. 5,17–20 versteht er als Zwischenbemerkung (ebd 163); 5,17 richte sich gegen Feststellungen jüdischer Gegner, dass Jesusnachfolge die Aufhebung der von Gott gegebenen Torah bedeute (215). Vor allem in 5,18 f seien möglicherweise „slogans of his opponents“ aufgenommen.

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nun folgende Amen-Wort sagt, was das für die Torah bedeutet: Sie ist bis zum letzten Jota und Häkchen, auch in ihren kleinsten Geboten, in Geltung, solange die Welt besteht. Es macht dabei keinen grundsätzlichen Unterschied, ob man in 5,18 – im Sinne der Weltwochentheorie von Sanh 97 und in Unterscheidung von der ewigen Gültigkeit der Worte Jesu Mt 24,35 – das Gewicht auf die Begrenzung der Gültigkeit der Torah legt („nur bis zum Ende der Welt“), wie es die meisten Ausleger tun, oder auf ihre faktisch unbegrenzte Gültigkeit („solange die Welt besteht“), wie es vom Kontext her eigentlich näher liegt. Die Torah gilt also, weil Jesus gekommen ist, sie zu erfüllen, und weil er sie in Geltung setzt. Die Versuche der „heidenchristlichen“ Matthäusinterpretation, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen, indem man V 18 zu einer lediglich weiter überlieferten, aber faktisch nicht mehr gültigen Tradition erklärt, sind Wunschdenken. 4. Was aber heisst das konkret? Was sind für Matthäus gewichtige Gebote, und was „Jotas“ und „Häklein“, die aber auch gelten? Das können wir nur in grossen Linien beantworten. Wichtige Hinweise geben die Weherufe von Mt 23: Nach dem fünften Weheruf Mt 23,23 sind Recht, Barmherzigkeit und Treue „gewichtig“ im Gesetz, während das Verzehnten zu den kleinen Geboten gehört, die man aber auch nicht auslassen darf. Nach Mt 22,34–40 ist das doppelte Liebesgebot das Hauptgebot – und die Anordnung der Antithesen mit dem Gebot der Feindesliebe als Ausgangs‑ und Höhepunkt (5,23–26; 5,44–48) bestätigt dies. Nach dem zweimal wiederholten Zitat aus Hos 6,6 (= Mt 9,13; 12,7) steht Barmherzigkeit im Zentrum, während die Opfer zu den unwichtigen Geboten gehören. Nach Mt 12,1–14 ist das Sabbatgebot im Interesse des notleidenden Menschen auszulegen bzw. notfalls zu durchbrechen; aber Mt 24,20 zeigt wohl, dass die matthäische Gemeinde auch das Sabbatgebot gehalten hat. Das Argument mit dem am Sabbat in einen Brunnen gefallenen Schaf Mt 12,11 f zeigt überdies, wie vertraut Matthäus die rabbinischen Argumente über die Auslegung des Sabbatgebots sind. Die Bearbeitung von Mk 7,1–23 in Μτ 15 zeigt das Bestreben, das überlieferte Jesuswort Mk 7,15 nicht im Sinne einer grundsätzlichen Abschaffung der rituellen Reinheitsvorschriften zu deuten: Ausser Kraft gesetzt hat Jesus nach Matthäus lediglich die pharisäische Halakah über das Händewaschen (15,20). Das alles bestätigt unsere Auslegung von Mt 5,17 f. Jesus hält an der grundsätzlichen Gültigkeit der Torah fest, gewichtet aber die Gebote innerhalb der Torah sehr unterschiedlich. Damit steht er durchaus im Rahmen jüdischer Diskussionen. Man könnte vielleicht sagen: Jesus legt die Torah „liberal“ aus. Er versucht, sie zu einer „leichten Last“ und zu einem „milden Joch“ (Mt 11,30) zu machen. Er bewegt sich damit im Umkreis einer weisheitlich geprägten Torah­ auslegung, wie wir sie z. B. in den Testamenten der XII Patriarchen finden. Er steht in manchem Philo nahe, der die rituellen Gebote zwar allegorisch auslegt, aber in der Praxis hält. Er unterscheidet sich kaum von Johanan ben Zakkai, seinem rabbinischen Zeitgenossen, der auch Hos 6,6 zitieren kann. Aber Johanan greift nach der Zerstörung des Tempels auf Hos 6,6 zurück, als die Darbringung

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von Opfern nicht mehr möglich war – im Unterschied zum matthäischen Jesus. Er unterscheidet sich dagegen grundsätzlich von den von Philo bekämpften Allegoristen, welche die rituellen Gebote nicht mehr halten. Und genau an diesem Punkt unterscheidet er sich auch von Markus. Natürlich unterscheidet er sich auch von den Pharisäern, für die gerade die Reinheitsgebote und die Zehntengebote keine „kleinen Gebote“ und nicht blosse Jotas und Häkchen waren. Sie legen nach Mt 23,3 f den Menschen „schwere und unerträgliche Lasten“ auf. 5. Ein Punkt ist noch gesondert zu diskutieren, weil er für die Frage nach dem matthäischen Verständnis der Heidenmission, auf die ich später zurückkommen möchte, wichtig ist. Ist für Matthäus das Gebot der Beschneidung ein grosses oder ein kleines Gebot? Es fällt auf, dass Matthäus nie auf die Beschneidung zu reden kommt. Auf dem Berg in Galiläa, in Mt 28,19, spricht Matthäus nur von der Taufe der Völker, aber nicht von ihrer Beschneidung. Hat er die Beschneidung durch die Taufe ersetzt? Dann wäre allerdings ein Gebot dahingefallen, das damals wohl für die Mehrzahl der Juden viel mehr war als ein Jota oder Häkchen, sondern ein Zentralgebot. Oder war für Matthäus die Beschneidung eine so selbstverständliche Voraussetzung für die Taufe, dass er sie in 28,19 gar nicht erwähnen musste? Wie stand es mit der Bescheidung im zeitgenössischen Judentum? Es gibt eine Diskussion in der Forschung, ob damals eine beschneidungsfreie Heidenmission eine reale Möglichkeit war. Ihr Ergebnis ist, dass es kaum Belege dafür gibt. Ein Text, auf den man sich immer wieder beruft, ist der Bericht des Josephus über die Bekehrung des heidnischen Fürsten Izates von Adiabene. Nachdem ihm zunächst ein liberaler Jude, ein Kaufmann namens Ananias, aus politischen Gründen einen Übertritt zum Judentum ohne Beschneidung nahelegte, weil es möglich sei, Gott auch ohne Beschneidung zu verehren, forderte ihn ein anderer Jude, der Galiläer El’azar, wahrscheinlich ein Pharisäer, zur Beschneidung auf. So geschah es dann auch.7 Diese Geschichte besagt m. E. nicht, dass man ohne sich beschneiden zu lassen, Jude werden konnte. Dann wurde man eben nur ein „Verehrer“ Gottes – also „Gottesfürchtiger“ (σεβόμενος), wie wir es vor allem aus der Diaspora und aus der Apostelgeschichte kennen. Wollte man aber Volljude, d. h. Proselyt, werden, so musste man sich beschneiden lassen. Halakisch lautet also die Frage: Hat Matthäus, wenn er Jesus in 28,19 f Jesus die elf Jünger auffordern liess, zu den Völkern zu gehen und sie zu Jüngern zu machen, den Status dieser neuen Jünger als Proselyten oder als „Gottesfürchtige“ verstanden? Oder waren für ihn die heidnischen Jesusjünger – das ist die dritte Möglichkeit – einfach christliche Gojim, die mit Israel gar nichts zu tun hatten? Nur im ersten Fall ist die Be7 Jos Ant 20,34–48; vgl. Matthias Konradt, Matthäus im Kontext. Eine Bestandesaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum, wird demnächst in: ders,, Matthäusstudien, WUNT, 2016 erscheinen. Eine Übersicht über die – keineswegs einheitliche – Haltung des Judentums zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. gibt er ebd. 25 f (= Ad [1]).

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schneidung Voraussetzung für die Taufe, in den anderen beiden Fällen ist sie unnötig. Von der Entscheidung in dieser Frage hängt es ab, wie man die Stellung des Matthäusevangeliums im zeitgenössischen frühen Christentum beurteilt. 6. Matthäus als ‘am ha’aräz. Jesus selbst war ein galiläischer Prophet und Weisheitslehrer. Er hatte keine schriftgelehrte Bildung und war kein Pharisäer, sondern stammte aus dem sog. ‘am ha’aräz, dem nicht-pharisäischen „Volk des Landes“. Es gibt nun mehrere Indizien, die darauf hinweisen, dass der erste Evangelist aus einem ähnlichen Milieu stammte. Ich will sie kurz nennen: Auf das Argument vom Schaf, das am Sabbat in eine Grube gefallen ist (Mt 12,11 f), habe ich bereits hingewiesen. Es kommt auch in den Diskussionen über die Sabbatauslegung bei den Essenern und den Rabbinen vor. Aber es wird anders gebraucht.8 Nach den Rabbinen darf man am Sabbat zwar dem verletzten Tier Polster und Decken unterlegen und darf es füttern, aber man darf es nicht herausholen, wenn es dies nicht aus eigener Kraft schafft. Nach der noch strengeren essenischen Halakah darf man nicht einmal das, sondern man muss es unten lassen. Das matthäische Argument appelliert an die Evidenz. Uns Heutigen scheint es einleuchtend, das Tier auch am Sabbat zu retten, aber das war im zeitgenössischen Judentum keineswegs selbstverständlich. Nimmt Matthäus hier eine volkstümliche, nicht-pharisäische Halakah auf, die vielleicht von einem Bauern, der zum „Volk des Landes“ gehörte, formuliert worden war? Die anderen beiden Beispiele stammen aus der Weherede Mt 23, also aus antipharisäischer Polemik, und zwar aus Weherufen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf Jesus selbst zurückgehen, sondern von der Gemeinde nach ihm formuliert wurden. In der Einleitung zu den Weherufen lässt Mt in 23,5 a Jesus sagen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten „ihre Amulette (φυλακτήρια) breit machen“, um von den Menschen beachtet zu werden. Gemeint sind die Tefillin, die Gebetsriemen, welche die Pharisäer schon damals trugen. Dass sie als „Amulette“ bezeichnet werden, ist merkwürdig, so merkwürdig, dass manche ältere Ausleger meinten, nur Heiden, bzw. Heidenchristen könnten die Tefillin so missverstanden haben. Wir haben aber Belege dafür, das Tefillin tatsächlich als Amulette gebraucht wurden, z. B. schreienden Säuglingen in die Wiege gelegt oder als Schutz gegen die Dämonen.9 Wir tun hier einen Blick in galiläische Volksfrömmigkeit, sicher des ʿam haʾaräz und nicht der Pharisäer. Mein anderes Beispiel stammt aus dem zweitletzten Weheruf, der höchstwahrscheinlich auch nicht auf Jesus zurückgeht. Die Pharisäer werden hier mit geweisselten Gräbern verglichen, die von aussen schön aussehen, innen aber voll von Knochen und Unreinheit sind (Mt 23,27). Nun weisselte man tatsächlich im Frühling die Gräber, aber nicht, um sie zu schmücken und schön erscheinen zu lassen, sondern nach den Rabbinen, 8 BSchab

128 b; CDC 11,16. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Ostfildern 22012, 304 f. 9 Ulrich

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damit sie sichtbar waren und damit niemand aus Versehen auf sie trat und sich verunreinigte. Man fragte sich: Wie konnte ein Jude den Sinn des Gräberweisselns so missverstehen? Aber bei Juden, für die, wie für Jesus, Matthäus und Johanan ben Zakkai10 nichts an und für sich rein oder unrein ist, die aber trotzdem die ganze Torah mit allen Jotas und Häkchen halten wollen, ist es m. E. nicht unverständlich, dass sie den ritualgesetzlichen Sinn dieses Weisselns, der ihnen ja nicht einleuchten kann, nicht verstehen, und eine andere, einsichtigere Erklärung für dieses Gebot abgeben. Auch das weist wiederum auf das nichtpharisäische ‚Volk des Landes‘. Matthäus war wohl ein frommer Jude aus dem „Volk des Landes“, der von seinem „einzigen Lehrer“ Jesus gelernt hat, die ganze Torah, die grossen und die kleinen Gebote, zu halten, auch wenn sie ihm vielleicht nicht einsichtig sind. Ich fasse zusammen: Matthäus ist ein jüdischer Jesusanhänger, wahrscheinlich aus dem Volk des Landes. Als Schüler des Juden Jesus hat er Ansichten über die Torah und ethische Grundsätze vertreten, die im zeitgenössischen Judentum verbreitet, aber keineswegs von allen akzeptiert waren. Ich äussere noch eine zusätzliche Vermutung, die ich aber nicht weiter ausführen kann: Als einer, der aus einem ähnlichen jüdischen Milieu stammt wie Jesus selbst, hat er vielleicht seinen Lehrer Jesus sehr gut verstanden.

II. Matthäus – ein jesuanischer Jude oder ein jüdischer Christ? Früher wurde die Frage nach dem Verhältnis des Matthäus und seiner Gemeinde zum Judentum oft so gestellt, dass man fragte, ob der Ort der matthäischen Gemeinde „intra“ oder „extra muros“, d. h. innerhalb oder ausserhalb der Grenzlinie des Judentums gewesen sei.11 Eine solche Frage ist anachronistisch, weil es im damaligen, pluralistischen Judentum keine Instanz gab, die verbindlich über die Zugehörigkeit zum Judentum hätte entscheiden können. Aber auch die Frage, die ich am Anfang gestellt habe, nämlich ob Matthäus ein jesuanischer Jude oder ein jüdischer Christ gewesen sei, ist als Alternativfrage gar nicht beantwortbar, denn sie setzt eine feststehende Definitionen von „Jude“ bzw. „Christ“ voraus. Zur Zeit des Matthäus waren aber „Judentum“ und „Christentum“ erst im Entstehen begriffene und sehr vielgestaltige Grössen, die sich vielfach überschnitten und veränderten. In meinem Kommentar12 habe ich zwei wichtige Positionen der Forschung genannt, die bis heute den wissenschaftlichen Diskurs bestimmen. Die einen verstehen die matthäische Gemeinde als eine „deviante“, also „abweichende“ Grup10 Pesiq

40 b = Bill. I 179. Günther Bornkamm, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 1960, 36. 12 Luz, Mt 1–75 (o. Anm. 3), 95 f. 11  Z. B.

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pe innerhalb des sich langsam herausbildenden normativen Judentums („formative Judaism“). Sie neigen dazu, Matthäus als christlichen Juden zu verstehen (so z. B. Andrew Overman, Anthony Saldarini, Davies / ​Allison, tendenziell auch Matthias Konradt). Die anderen betonten den Bruch, der zwischen Matthäus und den Mehrheitssynagogen stattgefunden hat. Sie interpretieren die matthäische Jesusgeschichte als Konfliktgeschichte und das Matthäusevangelium im Ganzen als Versuch, diesen Bruch zu verarbeiten und die Identität der Jesusgemeinde in dieser schwierigen Übergangssituation neu zu begründen und zu stärken. Zu dieser Gruppe gehören u. a. Graham Stanton, Don Hagner und ich selber. Der Unterschied zwischen beiden Positionen ist aber nicht absolut, weil beide die Situation der matthäischen Gemeinde als Situation des Übergangs interpretieren: Die matthäische Gemeinde ist eine „beleaguered minority-sect“ (so Stanton), die unter Juden zunehmend isoliert ist und die – so Saldarini – „beginnt, eine neue Gemeinschaft zu bilden“.13 Es gibt allerdings einzelne Extrempositionen, wie z. B. diejenige von David C. Sim, der Matthäus für einen gesetzestreuen christlichen Juden hält und denkt, dass seine Gemeinde die Heidenmission zwar als grundsätzliche Möglichkeit gekannt, sie aber selbst nicht betrieben habe.14 Ich selber habe mich in den letzten Jahren der ersten Position ein Stück weit angenähert. Das möchte ich im folgenden zeigen. Jedenfalls würde ich heute nicht mehr so pauschal, wie noch manchmal im Kommentar, sagen, Matthäus gehöre „nicht mehr zur jüdischen Synagoge“ (ebd.). Es gibt verschiedene Ebenen, die man untersuchen muss. 1. Das Verhältnis zu den jüdischen Synagogen seiner Zeit. Matthäus spricht an verschiedenen Stellen von „ihren“ bzw. „euren Synagogen“ (συναγωγαί, z. B. 4,23; 23,34 u. ö.) und einmal von „ihren Schriftgelehrten“ (7,29). Er spricht auch von Verfolgungen und von Auspeitschungen in den Synagogen (z. B. 10,17; 23,34; vgl. 22,6). Das weist deutlich darauf hin, dass die Jesusjünger eigene Versammlungen gehabt haben. Sie hatten auch eigene Schriftgelehrte, wie wir aus Stellen wie 13,52 oder 23,34 wissen. Aber man muss hier sorgfältig differenzieren. Das griechische Wort συναγωγή heisst zunächst „Versammlung“ – ob man es im Matthäusevangelium schon technisch mit „Synagoge“ übersetzen sollte, ist umstritten. Die Verfolgungen, Auspeitschungen, ja Tötungen, von denen die Rede ist, haben wohl nur diejenigen Jesusleute betroffen, die als Wandermissionare unterwegs waren, nicht aber alle Anhängerinnen und Anhänger Jesu. Von einem formellen Ausschluss aus den Synagogen, von 13 Graham Stanton, A New Gospel for a New People, Edinburgh 1992, 157; Antonio Saldarini, The Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict, in: David L. Balch (Hg.), Social History of the Matthean Community, Minneapolis 1991, 60. 14 David C. Sim,The Gospel of Matthew and Christian Judaism: The History and Social Setting of the Matthean Community, Edinburgh 1998, vor allem 215–256. Ebd. 213 sieht er das Mt-Ev in einer Entwicklungslinie, die von der Beschneidungspartei in Galatien bis zu den späteren judenchristlichen Paulusgegnern führt.

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dem dann etwas später das Johannesevangelium spricht, ist im Matthäusevangelium noch nicht die Rede. Vor allem darf man eine Bestrafung oder gar einen Ausschluss aus lokalen Synagogen nicht mit einer Trennung vom Judentum überhaupt gleichsetzen. 2. Die Erfahrungen der Gemeinde mit der Mission in Israel. Manche Texte im Matthäusevangelium widerspiegeln die Erfahrung, dass die Mission der Jesusboten im Land Israel bei der Mehrheit des Volkes erfolglos gewesen ist. Der wichtigste Text ist die Parabel vom Hochzeitsmahl des Königssohns 22,2–8. Aber auch andere Stellen, z. B. das ausführlich zitierte Verstockungszitat aus Jes 6,9 f in Mt 13,14 f deuten darauf hin; Matthäus hat es betont, indem er es als Erfüllungszitat gestaltete. Nach 23,2 haben sich die jesusfeindlichen Schriftgelehrten und Pharisäer auf die Kathedra des Moses gesetzt, d. h., sie haben in den Synagogen das Sagen. Die verschiedenen jüdischen Gruppen, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrte, Hohenpriester, Älteste etc. tauchen oft in Zweier‑ oder Dreiergruppen auf. Sie werden fast austauschbare Etiketten für die jüdischen Gegner Jesu. Matthäus will den Eindruck vermitteln: Alle sind gegen Jesus und gegen uns – ob Pharisäer, Sadduzäer etc. ist eigentlich belanglos. Das ist in der Tat die Perspektive einer „belagerten Minorität“. Natürlich beziehen sich alle diese Stellen – im Rahmen der Jesusgeschichte – zunächst auf das Land Israel und die Mission dort und nicht auf die Diaspora in Syrien, wo die Gemeinde und der Evangelist jetzt leben. Aber dennoch hat diese Erfahrung der Erfolglosigkeit eine sehr grundsätzliche Dimension. Das zeigt der zweitletzte Text des Evangeliums, wo der Evangelist auf die Gegenwart blickt und feststellt, dass sich das Gerücht vom Leichendiebstahl der Jünger „bei Juden“ bis zum heutigen Tag verbreitet habe (28,15). Die Formulierung παρὰ Ἰουδαίοις ist in doppelter Hinsicht bedeutsam: Einerseits, weil der Evangelist ohne Artikel formuliert und nicht generalisierend sagt: „bei den Juden“. Es gibt also auch andere Juden. Andererseits aber, weil er hier zum ersten und einzigen Mal als Erzähler das distanzierende Wort Ἰουδαῖος braucht – sonst kommt es nur als Fremdbezeichnung Israels im Munde von Heiden vor. Matthäus spricht also in 28,15 nicht von Israel. Und dann folgt als Kontrast dazu im letzten Text des Evangeliums der Befehl des Auferstandenen, „alle Völker“ zu Jüngern zu machen. Es genügt also nicht, mit z. B. Matthias Konradt zu betonen, dass für Matthäus die Verkündigung in den Städten Israels weitergehen wird, bis der Menschensohn kommt (10,23).15 Ebenso wichtig ist, dass diese Israelmission für die matthäische Gemeinde, die nicht mehr in einer Stadt Israels, sondern in Syrien lebt, nicht mehr ihre Hauptaufgabe sein kann. 15 Vgl. Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 167 f. Konradt hat grundsätzlich Recht – so sehe ich heute das auch. Nicht einleuchtend ist m. E. dagegen sein Vorschlag, die πόλεις τοῦ Ἰσραήλ auf die Diaspora auszuweiten; dies ist m. E. eine Folgerung aus seinem eigenen Deutungsansatz, nicht aber aus dem Text.

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3. Der Auftrag zur Völkermission 28,16–20. Bei der Auslegung dieser Stelle versuche ich eine Gratwanderung. Ich möchte einen Mittelweg zwischen zwei Extremlösungen vorschlagen: Auf der einen Seite schliesst der Auftrag, „alle Völker“ (πάντα τὰ ἔθνη) zu Jüngern zu machen, Israel ein. Er ist wirklich universal gemeint. Es empfiehlt sich nicht, πάντα τὰ ἔθνη mit „alle Heiden“ zu übersetzen und den Missionsauftrag des Auferstandenen auf die Heidenmission zu begrenzen, wie ich es früher vertrat.16 Auf der anderen Seite setzt der Missionsauftrag einen deutlichen und gewollten Kontrast zum früheren Auftrag Jesu, nur den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu gehen, nämlich zu 10,5 f.17 Es geht nicht nur um eine einfache Ausweitung des Missionsauftrags, sondern auch um eine grundsätzliche Neuorientierung. Es genügt also nicht, mit Axel von Dobbeler das Verhältnis von Mt 10,5 f zu 28,19 f als komplementär zu sehen.18 Für die matthäische Gemeinde leitet der Auferstandene eine neue Ära ein. Vielleicht kann man – mit Matthias Konradt19 – die matthäische Christologie als Zweistufen-Christologie verstehen, so, dass der auferstandene Herr nicht nur Davidssohn bleibt, sondern, durch seine Auferstehung, Gottessohn für die ganze Welt ist. 4. Ich komme auf die Beschneidungsfrage zurück. Wir sahen, dass Matthäus nicht von der Beschneidung spricht. Man kann aber versuchen, aus anderen Befunden Rückschlüsse auf die Praxis seiner Gemeinde zu ziehen. Wie verfährt Jesus mit anderen jüdischen Ritualen? Eine interessante Analogie ist das Passah. Ähnlich wie Markus berichtet Matthäus, dass Jesus mit seinen Jüngern Passah feiert. Er hält also das Passahgebot der Torah. Beim Essen bricht Jesus das Brot und spricht den Segen, aber nicht so, wie man ihn von einem Hausvater am Passah erwartete. An die Stelle der üblichen Segensworte über Brot und Becher treten die Einsetzungsworte zum Herrenmahl, wie es überall in den christlichen Gemeinden gefeiert wurde. Ist es bei der Taufe ähnlich? Tritt an die Stelle der Beschneidung die Taufe? Wir wissen es nicht. Die Beschneidung wird in 28,19 nicht einmal erwähnt, sondern Jesus ordnet nur das Neue an, das entweder ihr zur Seite oder an ihre Stelle tritt, nämlich die Taufe, und die ist genau so, wie sie auch in anderen christlichen Gemeinden ausgeführt wurde. Vielleicht kann man einen Rückschluss vom matthäischen Gesetzesverständnis her ziehen. Matthäus unterscheidet zwischen gewichtigen und kleinen Geboten und hält rituelle Gebote wie Opfer, Zehnten, Reinheitsvor16 Ulrich Luz, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze, in diesem Band Aufs. Nr. 17, S. 287 und Anm. 17, mit Hinweis auf 24,9.14 und 25,32. 17 Vgl. auch den Kontrast zu 28,15. 18 Axel von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden, ZNW 91 (2000), 18–44. 19 Vgl. Matthias Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 329–334.400.

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schriften für „kleine“ Gebote. Von der Beschneidung spricht er leider nie. Aber man kann sich schlecht vorstellen, dass für ihn die Beschneidung ein „grosses“ Gebot gewesen ist. Mein Fazit: Ich weiss nicht, ob Matthäus dachte, dass die Menschen aus den Völkern vor ihrer Taufe zuerst beschnitten werden müssten und ob seine Gemeinde das so praktizierte. Aber ich vermute, dass ihm diese Frage nicht so wichtig war, weil sie ein kleines Gebot betraf. Möglicherweise hat er, wie die Gegner des Paulus in Galatien und anderswo, gedacht, dass die Jünger aus den Völkern zuerst beschnitten und so ins Gottesvolk Israel integriert werden sollten. Aber er hat sicher nicht, wie die Gegner des Paulus in Galatien, daraus einen Hauptpunkt gemacht. Darum denke ich auch nicht, wie David Sim und neuerdings Gerd Theißen und Eric Kung Chung Wong,20 dass das Matthäusevangelium voll von verdeckter Polemik gegen Paulus ist. Ich kann mir beispielsweise nicht vorstellen, dass Matthäus im „Feind“ der Unkrautparabel, der in der Nacht Lolchsamen aufs Weizenfeld sät (Mt 13,25), Paulus gesehen hat, denn dann würde er Paulus ja mit dem Teufel identifizieren (Mt 13,39). Vorstellen kann ich mir höchstens, dass er in Mt 5,19 bei denen, die eines der geringsten Gebote Jesu auflösen und entsprechend lehren, auch an Paulus gedacht hat. Auch ein solcher Mensch wird nach ihm noch im Himmelreich sein, auch wenn er dort „der geringste“ genannt werden wird.21 In diesem Sinn sind nicht, wie ich einmal dachte,22 die galatischen Gegner des Paulus seine nächsten christlichen Verwandten, aber auch nicht Paulus, sondern Petrus, der „liberale“ offene Judenchrist. Er ist der Fels, auf den die Kirche gebaut ist. In späterer, nachmatthäischer Zeit sind die Judenchristen in den Ignatiusbriefen Verwandte des Matthäus. Sie berufen sich auf das AT und halten viele Gebote, z. B. das Sabbatgebot, aber sie verlangen wahrscheinlich nicht die Beschneidung.23 In noch späterer Zeit sind es vielleicht die Elkesaiten und die Judenchristen in den Pseudoklementinen.24 Auf jüdischer Seite sind selbstverständlich nicht die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten, für welche die „kleinen“ Gebote so wichtig sind, seine Verwandten, sondern der in dieser Hinsicht „liberale“ Johanan ben Zakkai.

20 Sim, The Gospel of Matthew and Christian Judaism (o. Anm. 14), 165–213; Gerd Theißen, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: Oda Wischmeyer u. a. (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur: Texte und Kontexte, BZNW 170, 2011, 465–490; Eric Kung Chung Wong, Evangelien im Dialog mit Paulus, NTOA 89, 2012, 107–130. 21 Luz, Mt 1–75 (o. Anm. 3), 317 f zu Mt 5,19: Mt ist ein „‚halbliberaler‘ gesetzestreuer Judenchrist“. 22 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich / ​ Neukirchen 1985, 69 f. 23 Vgl. Ign Magn 9,1 (sie feiern den Sabbat); aus Philad 6,1 darf aber man wohl schliessen, dass sie die Beschneidung nicht verlangen. 24 Luz, Mt 1–75 (o. Anm. 3), 93.

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5. Der neuen Ära, welche die Völkermission nach Mt 28 für die matthäische Gemeinde einleitet, entspricht das Buch, das Matthäus für sie schreibt. Indem er seine Jesusgeschichte als βίβλος γενέσεως überschreibt (Mt 1,1), gibt er ihr eine bibelähnliche, sozusagen „protokanonische“ Autorität. Für ihn ist die Geschichte Jesu das Grundbuch, das der Gemeinde Orientierung, Halt und Hoffnung schenkt. Indem Matthäus seiner Geschichte Jesu als Grundbuch eine bibelähnliche Autorität gibt, bestimmt er zugleich die Stellung der Bibel Israels neu: Sie ist nach wie vor grundlegend wichtig, aber sie ist jetzt in erster Linie dasjenige Referenzbuch, ohne welches man weder die Person, noch die Sendung Jesu verstehen kann. Sie wird also in gewisser Weise zum zweitwichtigsten Buch, welches das Grundbuch der Gemeinde, das Buch der Genesis des Davids‑ und Abrahamssohns Jesu, allein verstehbar werden lässt. Und noch etwas anderes möchte ich hier anschliessen: Für dieses bibelähnliche Grundbuch, seine Geschichte Jesu Christi, hat Matthäus die Jesusgeschichte des Heidenchristen Markus als Hauptquelle benutzt. Das sagt über seinen Standort zwischen Israel und der Kirche sehr viel. Gewiss erweitert und verändert er diese Hauptquelle und setzt in ihr ganz neue Akzente, teilweise sehr andere als Markus. Aber er benutzt doch dieses Buch als Grundbuch und erzählt die Geschichte, die Markus erzählt hat, noch einmal neu. Dass dies auch ein Bekenntnis zur Gemeinschaft, welcher der heidnische Jesusjünger Markus angehört, einschliesst, versteht sich eigentlich von selbst. 6. Ich komme zum letzten Punkt dieses Abschnittes, nämlich zur Frage, wie sich die Situation des „Übergangs“ von Judentum zum Christentum bzw. des „Zwischen“, in der sich Matthäus befindet, in seiner „Ekklesiologie“ bzw. seinem Verständnis Israels niedergeschlagen hat. Hier ist es leichter zu sagen, was Matthäus nicht sagt, als, was er positiv sagt. Auf der einen Seite sagt Matthäus nicht, dass die Gemeinschaft der Jünger Jesu das wahre Israel sei. Der programmatische Titel Das „wahre Israel“, den Wolfgang Trilling über sein Matthäusbuch gesetzt hat, trifft das matthäische Verständnis der Jüngergemeinschaft nicht. Wenn Matthäus von „Israel“ spricht, so meint er immer das ganze Zwölfstämmevolk Israel, zu dem sich Jesus gesandt wusste. Und wenn er vom „Volk“ (λαός) spricht, meint er meistens das Gottesvolk Israel. Besonders wichtig ist hier der Mt 1,21, wo Matthäus die Bedeutung des Namens Jesus erklärt: Er ist der, „der sein Volk von ihren Sünden erretten wird.“ Auf der anderen Seite braucht Matthäus das Wort ἐκκλησία (Kirche) nur zweimal und überdies sehr verschieden. An der einen Stelle, in 18,18 bezeichnet er damit – ähnlich wie Paulus in seinen Briefen – die Gemeindeversammlung, die sich, wie die Volksversammlung in den hellenistischen Städten, an einem konkreten Ort trifft. An der anderen, nämlich an der berühmten Stelle Mt 16,18, lässt er Jesus von meiner ἐκκλησία sprechen, die er auf Petrus als Fels zu bauen verheisst. Hier steht der biblische Ausdruck ἐκκλησία (= ‫)קהל‬, die Versammlung Jahwes, im Hintergrund, den auch die Qumrangemeinde für sich in Anspruch nahm. In ähnlicher

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Weise tut dies bei Matthäus Jesus, indem er von „meiner Versammlung“ spricht. Im technischen Sinne von „Kirche“ wird ἐκκλησία weder an der einen, noch an der anderen Stelle gebraucht. Eher zeigen sie so etwas wie eine Ekklesiologie in statu nascendi. Deutlich wird das auch an der schwierigen Stelle Mt 21,43: Hier sagt Jesus am Schluss der Parabel von den bösen Weingärtnern: „Darum wird euch das Reich Gottes weggenommen werden und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt“. Der Vers wurde in der kirchlichen Auslegung meistens im Sinne einer Substitutionstheologie gedeutet: Das verheissene Gottesreich wird Israel weggenommen werden und geht auf die Kirche über. Das sagt aber dieser Vers nicht. „Euch“ bezieht sich auf die Führer des Volkes und nicht auf das Volk Israel. Das Gottesreich, das ihnen weggenommen wird, geht aber nicht auf neue Führer, sondern auf ein „Volk“ über. Das Wort ἔθνος, das Matthäus dafür braucht, erleichtert eine Assoziation an die Kirche aus den Völkern. Aber auch das ist nicht direkt gesagt, sondern bleibt eine – vielleicht gewollte – Assoziationsmöglichkeit. Sie wird überdies von der Bedingung abhängig gemacht, dass dieses Volk Früchte bringt. Auch die Kirche wird dereinst vor dem Gericht des Menschensohns Jesus stehen. Man kann vielleicht auch hier sagen: Mt 21,43 vertritt eine Substitutionstheologie in statu nascendi. Die matthäische Formulierung macht verstehbar, warum die Stelle später so ausgelegt wurde. Kurz: Im Blick auf das Verhältnis zu Israel hat Matthäus noch keine ausformulierte und in sich geschlossene Ekklesiologie oder Israeltheologie. Sie ist erst im Werden. Das entspricht der eigenen Situation des Matthäus zwischen Israel und der Kirche. Das Einzige, was an seiner „Ekklesiologie“ klar und konsequent durchdacht ist, ist der Bezug der Kirche auf Jesus. Jesus ist ihr einziger Lehrer. Er bleibt bei seinen Schülern, auch wenn es nur zwei oder drei sind (18,20). Kirche sein heisst, Jünger Jesu sein und ihm nachfolgen. Wohin Jesus seine Jüngergemeinschaft auf ihrem Weg bis ans Ende der Welt führen wird, weiss Matthäus selbst noch nicht. Ich fasse zusammen: Ist Matthäus jesuanischer Jude oder jüdischer Christ? Er ist beides. Er ist ein torahtreuer, aber offener, „liberaler“ jüdischer Anhänger Jesu. Seine Gemeinden haben von anderen Juden Anfeindungen erfahren, die sie als Verfolgung und „Bruch“ deuten. Sie sind unterwegs zu neuen Ufern und bauen Brücken zu den heidenchristlichen Jesusgemeinden. Durch das heidenchristliche Markusevangelium wird Matthäus dazu motiviert, eine neue, eigene Grundgeschichte von Jesus zu schreiben, welche die Identität seiner Gemeinden begründen und stabilisieren und zugleich neu ausrichten und verändern soll. Aber zugleich versteht er sich als Israelit und das Erbe Israels als ein Zeugnis für Jesus. Darum ist es auch verständlich, dass sein Buch von beiden Seiten rezipiert wurde: Von der späteren Kirche als ihr Evangelium, aber auch von den von dieser Kirche aus Distanz betrachteten oder abgelehnten Judenchristen als das ihrige. Die Kirche hat sich in der späteren Zeit durchgesetzt und ist zur Grosskirche geworden. Ihr Verständnis des Matthäusevangeliums ist das herr-

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schende geworden. Die von ihr getrennten Judenchristen sind aus der Geschichte verschwunden. Aber es ist wichtig, sich an ihr Verständnis des Matthäusevangeliums zu erinnern und so mit Hilfe des Matthäusevangeliums an der Brücke zur nicht-jesusgläubigen Mehrheit Israels zu bauen, welche die Gemeinde des Matthäus in ihrer Existenz zwischen Israel und der Kirche einst sein wollte.

23. Die neue Jesus-Christus-Geschichte des Matthäus Matthäus und Markus Im vorangehenden Aufsatz1 versuchte ich, die Situation des Matthäusevangeliums und des Evangelisten „zwischen“ Israel und der entstehenden Kirche zu skizzieren. Matthäus ist beides, Israelit und Jesusjünger. Er weiss sich einerseits Israel zugehörig, andererseits aber auch den Jesusgemeinden aus den Völkern, die in Syrien in der Diaspora entstanden sind, wo er jetzt lebt. Ein klares und eindeutiges ekklesiologisches Konzept, welches sein gegenwärtiges Verhältnis zu Israel reflektiert, hat er noch nicht. In Israel hatten viele Jesusjünger, vor allem die wandernden Jesusmissionare, Erfahrungen der Ablehnung, der Verfolgung und des Bruchs mit den örtlichen Synagogen gemacht. Ihre Mission in Israel ist weitgehend gescheitert. Das nötigte Matthäus, über den Standort und die Identität seiner Gemeinden neu zu reflektieren. Diese Reflexion konnte für ihn nur von Jesus her erfolgen. Die Möglichkeit dazu hat ihm das Markusevangelium gegeben, auf das seine Gemeinden in ihrer neuen Heimat Syrien gestossen sind. Matthäus reflektierte über die Situation, die Identität, die Grundlage, den Auftrag und die Zukunft seiner Gemeinde, indem er die Markusgeschichte neu erzählte. Beides ist hier wichtig: Dass er das Markusevangelium neu erzählte und dass er es neu erzählte. Dass gerade dieses Buch eines heidnischen Jesusjüngers für Matthäus und seine Gemeinde so wichtig wurde, vermag besser als alles andere zu beleuchten, dass sich der Jude Matthäus in einem „Zwischen“, auf dem Weg zu etwas Neuem befand. In diesem zweiten Aufsatz soll es darum gehen, der Rezeption des Markusevangeliums durch Matthäus nachzudenken. Dabei interessiert mich vor allem, wie sich der Evangelist in seiner Neufassung der Jesusgeschichte des Markus mit Israel und seinen Führern auseinandersetzt. Ich beginne mit ein paar allgemeinen Überlegungen zu Matthäus und Markus (I). Dann wende ich mich dem Erzählungsfaden des Matthäusevangeliums zu und beleuchte einige seiner Themen und Textabschnitte (II). In einem ganz kurzen Schlussabschnitt möchte ich einige Folgerungen für unsere heutige Lektüre des Matthäusevangeliums ziehen (III). 1 Die beiden Skizzen Nr. 22 und Nr. 23 gehören zusammen. Beide sind allgemeinverständliche, an einer Weiterbildungstagung für Priester gehaltene Vorträge.

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I. Matthäus, Markus und Q Matthäus hat die Jesusgeschichte des Markus und nicht die Logienquelle, die seiner eigenen Gemeinde vermutlich näher stand, als Basistext für seine Jesusgeschichte gewählt. Schon das dokumentiert die Offenheit der ursprünglich rein jüdischen Jesusgemeinde des Matthäus gegenüber nichtjüdischen Christen. Matthäus muss zwischen dem Markusevangelium und seiner eigenen Sicht Jesu eine tiefe Konvergenz erkannt haben, welche für ihn wichtiger war, als die Differenzen, die es auch gibt. Diese Konvergenzen möchte ich kurz entfalten: 1. Der Überlieferungsbestand. Ein grosser Teil der Jesusgeschichten, welche das Markusevangelium erzählte, muss Matthäus und seinen Gemeinden bekannt gewesen sein. In der früheren Forschung hat man oft gedacht, Mk und die QQuelle repräsentierten vollkommen verschiedene christliche Traditionsströme und Gemeinden, die erst spät, z. B. im Matthäusevangelium, zusammengekommen seien.2 Etwas weniger extrem urteilten andere, die im Frühchristentum unterschiedliche „Entwicklungslinien“ gesehen haben, z. B. von Q zum Thomasevangelium und zu den gnostischen Spruchevangelien, oder von Petrus über das Markus‑ und das Matthäusevangelium zur Didache. Neben diesen beiden Gestalten des frühen Christentums standen dann das paulinische Christentum und die johanneischen Gemeinden. Diese „Entwicklungslinien“ (trajectories) muss man sich fast wie verschiedene Konfessionen vorstellen. Die Sicht des Frühchristentums dieser Forscher war die eines religiösen Pluralismus; die einzelnen Gruppen hatten nur lockere Kontakte miteinander.3 Ich will Differenzen und Unterschiede im frühen Christentum nicht leugnen; aber man darf sie nicht übertreiben. Die vielen Überlappungen zwischen Mk und Q zeigen, dass es zwischen verschiedenen Traditionskreisen und Gemeinden viele Berührungen gegeben haben muss. Noch auffälliger ist, dass Q und Markus in den wichtigsten Stoffblöcken fast identisch aufgebaut sind. Konkret heisst das: Es muss viele Begegnungen und viel Austausch zwischen den Trägergruppen von Mk und Q gegeben haben. Die Logienquelle setzt überdies voraus, dass die Trägergruppen sehr viel mehr über Jesus wissen, als in der Logienquelle steht. Die Tradenten von Q kennen z. B. viele Wundertaten Jesu – das ergibt sich aus dem Weheruf über Betsaida und Chorazin Q 10,13. Sie wissen um seinen Tod Jesu in Jerusalem und seine Kreuzigung – das ergibt sich aus dem Jerusalemwort Q 13,34 f und dem Logion vom Kreuztragen Q 14,27. Sie haben grundlegende Kenntnisse über die Lebensweise 2 Walter Schmithals, Paulus und der historische Jesus, ZNW 53 (1962), 145–160, bes. 156–159; Ders., Das Bekenntnis zu Jesus Christus, in Ders., Jesus Christus in der Verkündigung der Kirche, Neukirchen 1972, 67–72; vgl. Ders., Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985, 99–126; Ulrich Wilckens, Jesusüberlieferung und Christuskerygma – zwei Wege urchristlicher Überlieferungsgeschichte, ThViat 10 (1965/66), 310–339. 3 Helmut Köster / ​James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971.

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Johannes des Täufers und Jesu (vgl. Q 7,33 f). Die Menschensohnworte setzen voraus, dass Jesus erhöht worden ist. Umgekehrt sagt das Markusevangelium immer wieder, dass Jesus lehrte, und spricht öfters von der Lehre Jesu. Das setzt voraus, dass seine Leser / ​innen mehr über die Lehre Jesu wissen, als das Markusevangelium erzählt. Auf einen interessanten historischen Sachverhalt hat jüngst Eckhard Rau4 aufmerksam gemacht: Die unbedingten Gerichtsankündigungen Jesu und einige seiner Worte an „diese Generation“ in der Logienquelle scheinen vorauszusetzen, dass Jesus gegen Ende seines Wirkens aus Galiläa weggegangen ist und in Jerusalem eine Entscheidung gesucht hat. Wenn er Recht hat, so würden diese Logien die Grundlinien des narrativen Entwurfs des Markusevangeliums bestätigen. Wie dem auch sei: Klar ist, dass weder in der Logienquelle, noch im Markusevangelium alles aufgeschrieben ist, was ihre Trägergruppen über Jesus wussten. Damit ist eine wichtige Grundlage dafür gegeben, dass Matthäus das Markusevangelium „komplementär“ zu den Traditionen seiner eigenen Gemeinde, die vor allem in der Logienquelle gesammelt waren, lesen konnte und nicht als „fremdes“ Buch. Er hat eine tiefe Konvergenz zwischen dem Markusevangelium und seinen eigenen Grundüberzeugungen erkannt. 2. Gemeinsame theologische Grundüberzeugungen. Beide, Markus und Matthäus, sind in der Bibel Israels verwurzelt. Markus beginnt sein Evangelium vom Gottessohn Jesus mit einem Bibelzitat aus Ex 23,20 und Jes 40,3 (Mk 1,2 f). Sogar seine Einleitungsformel zu den Erfüllungszitaten verdankt Matthäus wohl dem Markusevangelium (vgl. Mk 14,49). – Beide verstehen die Wundergeschichten „inklusiv“, d. h. sie erzählen nicht nur eine vergangene Geschichte, sondern deuten zugleich eigene Erfahrungen der Gemeindeglieder mit dem erhöhten Herrn Jesus Christus an. – Der markinischen Geschichte vom blinden Bartimäus verdankt Matthäus die Anregung, die Heilungen Jesu mit dem Davidssohntitel zu verbinden. – Nicht erst für Matthäus, sondern bereits für Markus ist „Gottessohn“ der wichtigste christologische Titel. – Bereits Markus versteht Christsein als Jüngerschaft und Nachfolge als Leidensnachfolge. – Bereits Markus umschreibt mit dem Ausdruck „Menschensohn“ das Ganze des Wirkens Jesu, auch seinen Weg in den Tod und die Auferstehung. – Auch im Markusevangelium ist die Auseinandersetzung mit den Führern Israels eine wichtige Konfliktlinie. – Vor allem aber ist die Völkermission ein für Markus zentrales Anliegen: Er lässt sie schon im irdischen Leben Jesu verwurzelt sein; Matthäus, der Jesus nur zu Israel gesandt sein lässt, macht daraus den Missionsbefehl des Auferstandenen. – Matthäus hat einen grossen Teil seines theologischen Grundvokabulars dem Markusevangelium zu verdanken: Ich nenne μαθητής und μικρός als Jüngerbezeichnungen; ἀκολουθέω als Ausdruck, der das Jüngersein nicht nur der Wanderradikalen, sondern auch der sesshaften Jesusjünger bezeichnet; εὐαγγέλιον; κηρύσσω; ἀναχωρέω für den Rückzug Jesu 4 Eckhard

Rau, Perspektiven des Lebens Jesu (hg. von Silke Petersen), Stuttgart 2013.

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vor seinen Feinden; Eingehen (εἰσέρχεσθαι) ins Gottesreich oder ins Leben. Das sind nur Beispiele für wichtige theologische Grundworte des Matthäus, zu deren Gebrauch er durch das Markusevangelium angeregt worden ist.– Am wichtigsten aber ist, dass Matthäus die Jesusgeschichte des Markusevangeliums als Grundgeschichte verstanden hat, welche für die Erfahrungen der Gemeinde nach Ostern, auch für diejenige seiner eigenen Gemeinden, transparent ist. Er konnte in sie die Erfahrungen seiner eigenen Gemeinde auf ihrem Weg aus dem Land Israel in das heidnische Syrien einzeichnen und diese Erfahrungen von der Geschichte Jesu her verstehbar machen. Beide Evangelisten schreiben eine „inklusive Geschichte“. Alle diese Gemeinsamkeiten helfen uns verstehen, warum Matthäus die Jesusgeschichte des Markus, die vermutlich von einem Heidenchristen in Rom geschrieben worden ist5 und von dort in ganz kurzer Zeit nach Syrien gelangte, zu seiner Hauptquelle gemacht hat. 3. Der Aufbau des Evangeliums. Dem Erzählungsfaden seiner Hauptquelle hat Matthäus einen fast ganz neuen Prolog vorangestellt, von dem wir noch sprechen müssen. Anders als im Kommentar6 würde ich ihn heute von 1,1–4,16 reichen lassen. Die dann folgenden beiden Hauptteile entsprechen genau denjenigen des Markusevangeliums. Sie beginnen in 4,17 und 16,21 fast wörtlich gleich: „Von dann an fing Jesus an, zu verkünden und zu sagen: Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!“ (4,17). Und: „Von dann an fing Jesus an, den Jüngern zu zeigen, dass er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse etc“ (16,21). Das entspricht den beiden Hauptteilen des Markusevangeliums und der grossen Zäsur in Caesarea Philippi. Im ersten Hauptteil sind die Eingriffe des Matthäus in den markinischen Erzählungsfaden am Anfang am grössten: Hier setzt er die neuen Akzente und vermittelt seinen Lesern die Blickpunkte, unter denen sie die ihnen vielleicht vertraute Geschichte des Markus neu lesen sollen. Ab Kapitel 12 lässt er den Markusfaden fast unverändert stehen, sieht man von den zusätzlichen Stoffen ab, die er in ihn einfügt. 4. Die Reden. In seinem Evangelium gestaltet Matthäus ausführliche Reden Jesu, welche einen grossen Teil des Stoffes aus der Logienquelle und auch etliches Sondergut aufnehmen. Es gibt im Matthäusevangelium zwei verschiedene Arten von Reden. Die fünf grossen Reden, die Matthäus durch eine besondere Abschlussformel klar gekennzeichnet hat (7,28; 11,1; 13,53; 19,1 und 26,1), sind „zum Fenster hinaus“, d. h. direkt zu den gegenwärtigen Lesern gesprochen. Sie treiben die Geschichte Jesu nicht voran, sondern unterbrechen sie.7 Literarisches 5 So die meisten. Anders sehen das Petr Pokorny / ​Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, UTB, Tübingen 2007, 375, die Mk für einen Judenchristen halten, der an heidenchristliche Adressat / ​innen schreibt. 6 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Düsseldorf / ​ Zürich 52002, 34 f. 7 Besonders deutlich wird das in 11,1: Nach der Aussendungs rede gehen nicht die Jünger, sondern Jesus weg. Auch ihre Rückkehr wird, anders als bei Lk, nicht geschildert.

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Vorbild sind die Reden des Mose im Pentateuch, in denen das zeitgenössische Israel angesprochen wird. Neben diesen „grossen Reden“ stehen andere Reden, die ich „kleine Reden“ nenne, obwohl sie nicht in allen Fällen kürzer sind als die „grossen“ Reden. Sie sind nicht besonders gekennzeichnet und treiben im Unterschied zu den grossen Reden die Geschichte Jesu voran. Inhaltlich haben sie alle mit der Auseinandersetzung mit Israel zu tun. Sie sind nicht so straff komponiert und werden öfter durch Neueinsätze unterbrochen. Zu ihnen rechne ich die beiden Redekomplexe 11,7–30 und 12,25–50, die zweite Gleichnisrede 21,28–22,14 und die Weherede von Kap. 23. Anknüpfungspunkt für alle grossen Reden ist eine entsprechende kürzere oder längere Rede im Markusevangelium, die Matthäus erweitert oder umgestaltet hat. Die Bergpredigt ist die einzige Ausnahme von dieser Regel. 5. Die Zertrümmerung von Q. In alle Reden hat der Evangelist den Q-Stoff eingefügt, indem er die Q-Quelle jedesmal fortlaufend exzerpierte. Er hat so die Q-Quelle als Materialsammlung aufgebraucht und als literarisches Dokument zertrümmert. Daran zeigt sich um deutlichsten das ungleiche Gewicht seiner beiden Hauptquellen. Markus war ihm als literarisches Ganzes, als story, unglaublich wichtig, Q dagegen betrachtete er als blosse Stoffsammlung. Dass uns die Logienquelle als literarisches Dokument nicht erhalten geblieben ist, ist in gewisser Weise durchaus im Sinn des Matthäus: Nicht die Logienquelle als literarisches Dokument ist wichtig, sondern ihre λόγια.8 Man ist versucht, dies symbolisch zu deuten: Matthäus, der Evangelist am „Scheideweg“9, nimmt Abschied von seiner eigenen Herkunft in der jüdischen Jesusbewegung und wendet sich einer neuen Zukunft, in der von Nichtjuden dominierten Kirche, zu.

II. Die Jesusgeschichte des Matthäus 1. Der Prolog 1,2–4,16. Schon im Titel 1,1 macht Matthäus seine neuen Akzente deutlich. Sein Buch Buch wird von Jesus, dem Christus, d. h. dem Messias erzählen, dem Davidssohn und Abrahamssohn. „Davidssohn“ weckt bei den Hörern und Lesern klare Assoziationen: Es geht in dieser Geschichte um den Messias Israels. Bei „Abrahamssohn“ werden sie unsicher reagieren: Gewiss denken sie zuerst an die Söhne und Töchter Abrahams in Israel. Aber auch die Proselyten, d. h. die aus den Heiden kommenden Israeliten sind Kinder Abrahams. Woran sollen sie denken? Der dann folgende Text, der Stammbaum 1,2–16, füllt diese Leerstelle vorläufig: Sie sollen an die physische Abstammung von Abraham 8 Vgl.

in diesem Band .den Aufsatz Nr. 12, Abschnitt 4. Stichwort stammt aus dem Aufsatz Ulrich Luz, L’évangeliste Matthieu: Un judéochrétien à la croisée des chemins. Réflexions sur le plan narratif du premier Evangile, in: Daniel Marguerat / ​Jean Zumstein (Hg.), La mémoire et le temps (FS P. Bonnard), MB 23, Genève 1991, 77–92. 9 Das

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denken. Aber er schafft eine neue Leerstelle, indem er vier Frauen in den männerdominierten Stammbaum einfügt: Tamar, Rahab, Rut und Batseba. Warum stehen sie im Stammbaum? Die vier Frauen sind alle, durch Abstammung oder durch Heirat, Heidinnen. Der Stammbaum hat also noch eine zweite Sinnebene. Zwei Sinnebenen sind im Prolog immer wieder zu entdecken, und das macht ihn unter allen antiken Prologen m. E. einzigartig. Man kann sagen: Der Prolog erzählt den Anfang der Jesusgeschichte und er ist zugleich eine Prolepse der ganzen Jesusgeschichte. Der Anfang – das ist klar: Er erzählt von der Abstammung und frühesten Kindheit des Jesuskindes, überspringt dann in einem grossen Sprung seine Jugend und Bildung, um in Kapitel 3 zum Beginn seines öffentlichen Wirkens zu kommen, zu seiner Berufung in der Taufe und zu seiner Bewährung in der Versuchung. Auf der anderen Seite ist der Prolog eine Prolepse des ganzen Evangeliums: Das lässt sich am besten an den Erfüllungszitaten, die den geographischen Weg Jesu kommentieren, ablesen: Der Weg Jesu beginnt in der Davidstadt Betlehem, im Land Juda (2,6), führt in das heidnische Zufluchtsland Ägypten (2,15) und endet im letzten Text des Prologs im „Galiläa der Heiden“ (4,15 f), also dort, wo auch das ganze Matthäusevangelium enden wird. Dieser, im Prolog vorweggenommene Weg Jesu entspricht dem Weg der Jesusgemeinde nach Ostern, der sie hinaus aus dem Land Israel ins heidnische Syrien führen wird. Sie werden dort, wie Jesus selbst, „Nazoräer“ genannt werden (2,23). Wie das ganze Evangelium, so blickt auch der Prolog nicht nur auf die damaligen Erfahrungen Jesu in Israel, sondern er öffnet den Blick auch für die Erfahrungen der nachösterlichen Gemeinde. Dem entspricht die matthäische Christologie: Jesus, der „Immanuel“, ist nicht einfach eine Gestalt der Vergangenheit, sondern verkörpert zugleich die Gegenwart Gottes „mit“ seiner Gemeinde. Noch mehr deutet der Prolog an: Er erzählt in Mt 2 von heidnischen Magiern, die von Osten kommen, um das Jesuskind zu verehren, und als Gegenpol vom Judenkönig Herodes, der vor diesem Jesuskind erschrickt und es vernichten will. Dann heisst es in Mt 2,3 ominös: Nicht nur er erschrickt, sondern „ganz Jerusalem mit ihm“. Auf der Oberflächenebene der erzählten Geschichte ist diese Bemerkung absurd: Warum sollte ganz Jerusalem in Eintracht mit dem verhassten Halb-Edomiten Herodes über die Geburt des Messiaskindes erschrecken? Bei den Lesern entsteht wieder eine Leerstelle. Später merken sie: Ähnlich war es am Ende, bei Jesu Passion. Den Lesern des Evangeliums wird diese Tiefe vielleicht erst aufgehen, wenn sie das Evangelium zum zweiten Mal lesen. So hat der ganze Prolog eine tiefere, über die Oberflächengeschichte hinausweisende Bedeutungsebene. 2. Jesus als Messias Israels. Fast zu Beginn seines ersten Hauptteils (Mt 4,17– 16,20) fasst Matthäus das Wirken Jesu in einem Summar zusammen, das er später wiederholen wird: „Jesus zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen und verkündete das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk“ (4,23, vgl. 9,35). Für „Volk“ braucht er hier das Wort λαός, welches das Gottesvolk Israel bezeichnet. Νach den folgenden Versen folgten

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ihm Volksmassen aus Galiläa, der Dekapolis, Jerusalem, Judäa und dem Ostjordanland, d. h. aus dem ganzen heiligen Land. Von Idumäa oder Tyrus und Sidon, wovon Markus in 3,8 sprach, spricht Matthäus nicht mehr, nur die „Kunde von ihm“ breitete sich in „ganz Syrien“ aus. Jesus wirkt also nur im heiligen Land. Ins Land der Gadarener und ins Gebiet von Tyrus und Sidon macht er nur noch ganz kurze Abstecher (8,18–34; 15,21–28). Eine grössere Reise in heidnisches Gebiet gibt es nicht mehr. So sendet denn Jesus auch seine Jünger nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“, und nicht „auf die Strasse der Heiden“ oder in eine „Stadt der Samaritaner“ (10,5 f). Dem entspricht, dass der Davidssohntitel eine sehr grosse Bedeutung hat: Jesus heilt als Messias seines Volkes Israel. Fast immer steht „Davidssohn“ im Zusammenhang mit Heilungsgeschichten (9.27; 12,23; 15,22; 20,30 f). Für die judenchristlichen Leser / ​innen findet eine Transformation des Davidssohntitels statt: Verbanden sie damit zunächst die davidische Abstammung und ihre eigenen jüdischen, vielleicht messianischpolitischen Hoffnungen, so werden diese jetzt verändert. Jesus ist, so erfahren sie, der heilende Davidssohn, der sich der Kranken in seinem Volk erbarmt. In der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem Kap. 21 wird er als gewaltloser und friedlicher Messias auf zwei Eseln in die Stadt einreiten, von den Pilgermassen und den Kleinen (παῖδες) im Tempel zweimal mit „Hosanna dem Sohn Davids“ bejubelt, anders als bei Markus (21,9.15). Umso dunkler wirkt dann die Ablehnung gerade dieses Messias durch die Mehrzahl Israels. 3. Die Bibel als Schlüssel zur matthäischen Jesusgeschichte. Die Bibel ist der Schlüssel zur matthäischen Jesusgeschichte. Sie ist auf Schritt und Tritt in biblische Farben getaucht und mit biblischen Erinnerungen durchsetzt. Bei der Flucht nach Ägypten beispielsweise kommt den Leser / ​innen Mose in den Sinn. Wenn die Kranken den Herrn Jesus um Erbarmen bitten, denken sie an Bitten in den Psalmen. Fast in der Mitte des Evangeliums, in 12,18–21, wird das Ganze der Geschichte Jesu in einem Erfüllungszitat aus dem Gottesknechtlied Jes 42,1–4 gebündelt: Dieser Text erzählt mit biblischen Worten vom gewaltlosen und leidenden Gottesknecht Jesus, den Gott erwählt hat. Er erzählt seine Geschichte von der Taufe bis zu seinem österlichen „Sieg“ und bis zur nachösterlichen Verkündigung, die ihn zur Hoffnung für die Heiden werden lässt. Die Jesusgeschichte des Matthäus lässt bei ihren damaligen und heutigen Lesern unzählige biblische Intertexte anklingen.10 Auch in der ethischen Verkündigung klingt immer wieder biblische Musik an – man denke an die sekundären Seligpreisungen Mt 5,7–9 als Beispiel. – Wer Jesus ist, kann Matthäus nur in biblischen Kategorien ausdrücken: Er ist die Gegenwart Gottes, der Immanuel, der seine Gemeinde begleitet. Er ist und bleibt der Davidssohn, der Messias des Gottesvolks Israel. Er ist der erwählte, gehorsame und leidende gerechte Gottessohn. Er deutet seine eigene Geschichte von seinem irdischen Wirken bis 10 Vgl.

oben den Aufsatz Nr. 20.

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zur Parusie mithilfe einer biblischen Kategorie, der des Menschensohns. Dieser Ausdruck umspannt seine ganze Geschichte von seinem Erdenwirken bis zur Parusie, In all dem ist Jesus immer Modell und Vorbild für das eigene Leben seiner Jünger, die in ihrem Leben und ihrem Leiden jesusförmig werden sollen (10,24 f). Das Studium der Bibel wird so für die Leser / ​innen des Evangeliums nicht nur zum Schlüssel, um Jesus zu verstehen, sondern durch ihn auch zur Richtschnur und zur Verheissung für ihr eigenes Leben. 4. Die Gerichtspredigt gegen Israel. Je deutlicher die Ablehnung Jesu durch die Führer Israels und durch Teile des Volkes wird, desto mehr spitzt sich die Gerichtspredigt Jesu gegen Israel zu. Sie wird schon im ersten Hauptteil des Evangeliums in Galiläa deutlich, wo sich die Gegenüberstellung zwischen „dieser Generation“ und den Jüngern Jesu anbahnt (11,16–24; 12,38–45). Zu ihrem Höhepunkt kommt das Ringen um Israel und die Auseinandersetzuinmg mit seinen Führern aber erst in Jerusalem. Einen ersten Höhepunkt erreicht sie in der Weherede gegen die jesusfeindlichen Führer Israels, die Matthäus pauschal unter dem label „ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler“ (Mt 23) zusammenfasst. Matthäus kombiniert in Kap. 23 literarisch und rhetorisch höchst gekonnt die Weherufe von Q 11 und zwei Gerichtsworte zu einer grossen prophetischen Gerichtsrede. Das siebenfache Wehe hat dabei die Funktion prophetischer Scheltworte, die beiden Gerichtsankündigungen diejenige prophetischer Drohworte. Zu allen Logien gibt es zahlreiche Parallelen in innerjüdischen Polemiken. Wie jene, so sind auch die Schelte von Mt 23 überzeichnet und pauschalisierend. Wie in Polemik üblich, verallgemeinern sie negative Einzelfälle, überzeichnen oder arbeiten mit Stereotypen und Übertragungen. Wie viele Polemiken sind sie ungerecht. In doppelter Hinsicht aber stellen sie alles in den Schatten, was ich aus vergleichbarer jüdischer Polemik kenne: 1. Die Schelt‑ und Gerichtsworte sind im Rahmen des Matthäusevangeliums Worte des Menschensohns, d. h. des kommenden Weltrichters. Deswegen beanspruchen sie eine Autorität und erhalten eine Definitivität, die ich aus vergleichbaren jüdischen Texten nicht kenne. 2. Im Unterschied zu den Weherufen gelten die beiden Gerichtsworte nicht nur den jesusfeindlichen jüdischen Führern, sondern dem ganzen Volk: „Über diese Generation“ wird „alles gerechte Blut“ kommen, das von Abel bis Sacharja in Israel vergossen wurde (23,34–36). Und für ganz Jerusalem, das die Propheten tötet und steinigt, kündigt der Menschensohn Jesus die Zerstörung des Tempels und sein eigenes Verschwinden an. Erst, wenn die Jerusalemer ihn bei der Parusie wieder sehen, werden sie ihn mit einem Segensruf begrüssen – aber dann ist es zu spät (23,37–39). So würde ich den sehr umstrittenen Schlussvers der Weherede 23,39 interpretieren.11 Jesus besiegelt anschliessend seine Gerichts11 Für eine differenzierte andere Deutung Matthias Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, 254–257.

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worte, indem er mit seinen Jüngern den Tempel verlässt, um ihn nie wieder zu betreten. Für seine Leser liegt darin die Aufforderung, es Jesus und den Jüngern gleichzutun und die Brücken zu den von den Gegnern Jesu geleiteten Synagogen abzubrechen. 5. Die Erweiterungen des Markustexts in der Passionsgeschichte. Der nächste Höhepunkt der Gerichtsankündigung an Israel ist ein kurzer narrativer Text, nämlich die Episode vom Händewaschen des Pilatus (Mt 27,24 f), den der Evangelist in seine Markusquelle eingefügt hat. Vermutlich hatte er dafür keinen Anhalt an der Tradition; der Text ist vielmehr seine eigene theologische Fiktion. Seine Interpretation ist wiederum höchst umstritten. Pilatus wäscht sich in V 24 mit einem biblischen Ritus die Hände, um sich von der Blutschuld an Jesu Tod zu entlasten. Nach Judas (27,4) und der Frau des Pilatus (27,19) ist Pilatus der dritte Unschuldszeuge für Jesus. Das „ganze Volk“ antwortet darauf in V 25 mit der biblisch geprägten Wendung: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Auffällig ist, dass Matthäus anstelle des bisher in diesem Abschnitt gebraucht Wortes für die Volksmasse, ὄχλος, das Wort λαός braucht. Sein Wortsinn ist m. E. eindeutig. Λαός meint bei Matthäus immer das Gottesvolk. Das gilt auch für 26,3.47; 27,1, wo das Wort in Verbindung mit den jüdischen Führern gleichsam zu deren Amtsbezeichnung gehört,12 und für 26,5; 27,64, wo Matthäus die jüdischen Führer sprechen lässt.13 Auf der Ebene der erzählten Geschichte ist natürlich der auf dem Plätzchen vor dem Prätorium versammelte Volkshaufe gemeint, also die wenigen Bewohner Jerusalems, die auf dem kleinen Plätzchen vor dem Prätorium Platz haben. Πᾶς ὁ λαός ist also identisch mit den ὄχλοι von 27,20. Auf der Tiefenebene ist aber der Wechsel in der Wortwahl sehr auffällig. Πᾶς ὁ λαός, das ganze (Gottes)volk, hat nach Matthäus diese ominösen Worte gesprochen. Natürlich denkt Matthäus bei dieser in 27,25 in biblischer Diktion formulierten „bedingten Selbstverfluchung“ nicht an das Jüngste Gericht und an einen ewigen Fluch, der auf Israel lastet. Das endgültige Gericht des Menschensohns wird Israel, ebenso wie der Kirche und der ganzen Menschheit, noch bevorstehen. Er denkt an ein innerzeitliches Gericht, an die Zerstörung Jerusalems durch die Römer, die er als göttliche Strafe für die Ermordung von Propheten und Gerechten, und vor allem Jesu interpretiert. Das macht der Rückbezug auf 23,34–39 deutlich. Aber das hebt die raffinierte Perfidie dieser Verse nicht auf. 12 Genau

so ist es in 2,4; 21,23. formuliere hier im Gespräch mit der Interpretation von Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 435–437; vgl. ausführlicher ders., Israel, o. Anm. 11), 170–173. Konradt hält λαός für einen offenen, ambivalenten Ausdruck, der nur „auch im theologisch aufgeladenen Sinn Israel als ‚Gottesvolk‘ bezeichne“. So kann er πᾶς ὁ λαός auf das Volk von Jerusalem begrenzen und von Israel unterscheiden. Für die Oberflächenebene der erzählten Episode ist das natürlich richtig. Aber im Ganzen der für die Geschichte der mt Gemeinde transparenten Jesus-Christusgeschichte des Mt legt sich eine andere Deutung nahe. Vgl. die Fortsetzung des Haupttextes. 13 Ich

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Ich bin auf diesen Text relativ ausführlich eingegangen, weil er für die später in christlichen Ländern lebenden Juden schreckliche Folgen gehabt hat. Mt hat so den Schmerz darüber verarbeitet, dass zu seiner Zeit die grosse Mehrheit des Volkes Israels Jesus und seine Boten abgelehnt hat und anderen religiösen Führern, eben den Pharisäern und ihren Schriftgelehrten, gefolgt ist. Die Wege beginnen sich also zu trennen. Die Gemeinden des Matthäus, vor allem ihre Wandermissionare, hatten bei ihrer Israelmission zweifellos manche Erfahrung von Leiden und Verfolgung und vermutlich auch ein paar Martyrien zu verarbeiten. Dass Matthäus sie aber auf diese Weise verarbeitet, wird m. E. nur verständlich, wenn man den ungeheuren Anspruch bedenkt, den Jesus selbst für seine Person und seine Botschaft gestellt hat. Jesus selbst hat sich, so denke ich, für den noch im Verborgenen wirkenden künftigen Menschensohn, den Menschensohn designatus, gehalten. Darum war das Nein zu ihm, dem künftigen Weltrichter, in den Augen des Matthäus so katastrophal. Unsere Überlegungen müssen deshalb auch zu kritischen Anfragen an diesen Selbstanspruch Jesu führen. 6. Am Schluss seiner Geschichte erzählt Matthäus vom Fiasko der jüdischen Führer. In die markinische Geschichte Jesu hat er die Erzählungen von den Grabwächtern eingefügt (27,62–66), vermutlich wieder ohne oder mit nur wenig Anhalt an der Tradition. Die Strategie der jüdischen Führer basiert nach Matthäus auf Geld und Lügen. Gott selbst hat diese Strategie durch die Auferweckung Jesu buchstäblich durcheinandergewirbelt: Die Grabwächter fallen um wie tot (28,4). Die jüdischen Führer verstricken sich endgültig in Lügen und können die Wahrheit nur mit Hilfe von Schmiergeld unterdrücken (28,11–15). Der Weg der Jesusjünger aber öffnet sich, hin zur Völkermission (28,16–20). 7. Die Völkermission. Das Ziel des Matthäusevangeliums ist der Befehl des Auferstandenen auf dem Berge in Galiläa, alle Völker zu Jüngern zu machen (28,16–20). Schon im Prolog war dieses Ziel deutlich signalisiert (2,1 f; 4,15; vgl. 2,13–15). Entsprechende Signale wiederholen sich in den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Ich erinnere exemplarisch an die beiden Episoden vom Hauptmann von Kapernaum (8,5–13) und von der Kanaanitin (15,21–28) oder an universalistische Aussagen wie 5,13 f oder 13,38. Wichtig sind direkte Weissagungen (z. B. 8,11 f; 12,18.21) und verdeckt-andeutende Weissagungen wie 21,43 (ἔθνος!). In 24,9–13 ist von den Verfolgungen und Drangsalen der Jünger, die in der Zeit vor dem Ende bereits unter den Völkern leben, die Rede. Der Missionsbefehl in 28,19 gilt allen Völkern, nicht nur den Heiden. Matthäus will eine weitergehende Israelmission also nicht ausschliessen. Mt 10,23, das Gebot der Israelmission, gilt weiterhin bis der Menschensohn kommt.14 Insofern wird Jesu früherer Befehl, nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu gehen 14 Das habe ich von Matthias Konradt gelernt, vgl. seine Interpretation Konradt, a. a. O. (Mt), 167 f. Ich vermute allerdings, dass die Israelmission für die mt Gemeinde selbst nicht mehr eine vordringliche Aufgabe ist, da sie ja in Syrien lebt.

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(10,5 f), auf den sich Matthäus deutlich zurückbezieht, ausgeweitet. Da er aber deutlich exklusiv formuliert war („geht nicht auf die Strasse der Heiden“), wird er zugleich zurückgenommen und korrigiert. Vergleicht man die matthäische Jesusgeschichte mit derjenigen des Markus, so kann man sagen: Markus hat den Beginn der Heidenmission bereits im Leben des irdischen Jesus verankert. Matthäus verschiebt ihn nach Ostern. Geht man vom Königsohngleichnis 22,1–14 aus, verschiebt er sie auf die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems (22,8–10). Vergleicht man ihn mit Paulus, so muss man sagen: Was die Heidenmission betrifft, besteht kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen beiden. Im Gegenteil: Die negativen Erfahrungen der matthäischen Gemeinde in der Mission Im Land Israel führen seine Gemeinde zeitlich verspätet auf den selben Weg, welchen Paulus fast ein halbes Jahrhundert vor ihr begangen hatte. 8. Das matthäische Evangelium. Ich möchte in diesem Abschnitt am Sprachgebrauch des Wortes εὐαγγέλιον aufzeigen, was an der matthäischen Jesusgeschichte gegenüber dem Markusevangelium neu geworden ist. Markus setzte das Wort εὐαγγέλιον in den Titel seines Buches: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Εὐαγγέλιον ist ein Wort, das im paulinischen Christentum beheimatet ist: Paulus spricht von der „guten Botschaft von Gott“ oder von der „guten Botschaft von Christus“. Auch in Mk 1,1 ist Ἰησοῦ Χριστοῦ ein Genetivus objectivus: die gute Botschaft von Jesus Christus. In Mk 1,14 ist εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ die „gute Botschaft von Gott“, die Jesus verkündet. Von hier aus führt eine Brücke zum Sprachgebrauch des Matthäus. Bei ihm fehlt das Wort εὐαγγέλιον im Titel. Εr verbindet das Wort an drei von vier Stellen mit dem Genetiv τῆς βασιλείας (4,23; 9,35; 24,14): Βασιλεία ist das inhaltliche Stichwort für das, was Jesus in den Synagogen Israels verkündete und lehrte. Bei Matthäus tritt also das Evangelium Jesu, verstanden als Genetivus subjectivus, an die Stelle der Verkündigung von Jesus Christus. Gleich im Anschluss an die erstgenannte Stelle 4,23 wird Jesus sein Evangelium von der Königsherrschaft verkünden, nämlich in seiner ersten programmatischen Rede, der Bergpredigt. Diese kleine Veränderung im Sprachgebrauch eines einzigen Wörtchens widerspiegelt viel von dem, was bei Matthäus gegenüber Markus neu geworden ist. Ich möchte zwei Dinge nennen. 1. Die Verkündigung Jesu ist ihm wichtig; sie ist „Evangelium“. Sie wird zum Inhalt der Verkündigung der Jesusjünger in der Welt. Darum hat Matthäus in die Markusgeschichte seine fünf Reden eingefügt, welche die Lehre Jesu entfalten. In seiner Zeit, in der die Sache mit Jesus bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegt und in der Falschpropheten auftreten, will er die Verkündigung seiner Gemeinden sichern, indem er sie an Jesus zurückbindet und an ihr misst. Dem entspricht der Missionsauftrag des Auferstandenen an seine Jünger: „Lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe“ (28,19). Darum lautet auch seine abschliessende Verheissung: „Ich, Jesus, werde bei euch sein alle Tage bis ans Ende der Welt“ – und nicht etwa der Geist, wie es Joh 14,26 in fast gleicher

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Formulierung heisst. Jesu Verkündigung ist der bleibende Massstab für die Verkündigung der Kirche. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu unserem heutigen Sprachgebrauch von „Evangelium“ als Buch, das von Jesus Christus erzählt. Kurz nach Matthäus wird in Did 8,2 das Buch des Matthäus zum ersten Mal als „Evangelium“ bezeichnet. Auch die Evangelienüberschriften nehmen diesen Sprachgebrauch auf. 2. Die Bergpredigt macht exemplarisch deutlich, dass man im Matthäusevangelium zwischen dem, was wir bei Paulus „Indikativ“, und dem, was wir „Imperativ“ nennen, nicht unterscheiden kann. Beides liegt in der Bergpredigt ineinander, von den Seligpreisungen am Anfang über die Antithesen und das Unservater bis zum Ausblick auf das Gericht nach Werken am Schluss. Das entspricht jüdischem Denken: Der Jude Matthäus weiss, dass die Torah die grösste Gabe ist, die Gott Israel geschenkt hat. Noch vielmehr gilt das von der von Jesus ausgelegten und erfüllten alt-neuen Torah (vgl. 5,17–19). Darum gibt der matthäische Jesus im Missionsbefehl seinen Jüngern nicht den Auftrag, allen Völkern das Evangelium zu verkünden, sondern er sagt: „Lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,20 a), alles, vom kleinsten Gebot bis zum Gebot aller Gebote, dem Liebesgebot. Das ist das Evangelium von der Königsherrschaft! In dieser Zuspitzung ist sein Evangelium nicht nur sachgemäss, d. h. es entspricht der Verkündigung des Juden Jesus, sondern auch zeitgemäss, denn die matthäische Gemeinde musste die Erfahrung machen, dass die „Gesetzlosigkeit überhand nimmt und die Liebe erkaltet“ (24,12). Gerade in einer solchen Zeit ist es gefährlich, auch nur eines der geringsten Gebote Jesu aufzulösen und entsprechend zu lehren (vgl. 5,19). In seinem Gesetzesverständnis und nicht bei der Heidenmission, liegt das, was den Juden Matthäus von jüdischen Apostel Paulus trennt. Ich versuche, zusammenzufassen: Meine These ist, dass der jüdische Jesusjünger Matthäus in der Verunsicherung, welche die zunehmend deutliche Ablehnung der Jesusverkündigung in Israel für seine Gemeinde bedeutet, die Jesusgeschichte des Markus neu schreibt, um seiner Gemeinde Orientierung zu verschaffen und ihre Identität zu stärken. Worin besteht die Identität, welche diese Jesusgeschichte der Gemeinde verschafft? Wenn ich das, was Matthäus meint, zu bündeln versuche, so würde ich sagen: Sie besteht nicht darin, dass seine Gemeinde nun eine Israellehre oder Ekklesiologie entwerfen kann. Sie besteht auch nicht darin, dass die Gemeinde nun kurz und bündig sagen kann, was Jesus Christus für sie bedeutet. Sondern sie besteht darin, dass die Gemeinde alles halten soll, was Jesus ihr geboten hat und alles tut, was er ihr sagt. Nur dann kann sie den Test bestehen, der auch von ihr gefordert ist, denn der Prüfstein für ihre Identität ist das jüngste Gericht. Allein Jesus, der Menschensohn wird entscheiden, wer sie gewesen ist. Vorher war ihre Identität verborgen, hoffentlich als Weizen unter dem Lolch im Acker der Welt, oder hoffentlich als gute Trauben unter den unbrauchbaren Früchten an den Reben des Weinbergs, welcher Israel

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ist. Darum ist es für Matthäus auch nicht eine Frage von letzter Wichtigkeit, ob seine Gemeinde nun zu Israel oder zur Kirche gerechnet wird. Denn erst der Menschensohn wird im Jüngsten Gericht über ihre Identität entscheiden. In der Zwischenzeit aber wusste sich Mt – auf dem Acker, der die Welt ist – beiden zugehörig.

III. Zur Aktualität des Matthäusevangeliums heute Das Matthäusevangelium könnte eine Brücke bilden zwischen dem Judentum und dem Christentum. Es erzählt vom Juden Jesus, dem Messias Israels, und öffnet diese Erzählung für die Jesusanhänger aus den Völkern. Es ist ein jüdisches Evangelium, das sich auf die spätere Kirche zu bewegt. Auf diese Weise kann es heute als Brücke zwischen Juden und Christen gelesen werden. Diese Brücke ist aber belastet. Sie ist belastet durch die matthäische Interpretation der Bibel Israels, die für andere jüdische Interpretationen keinen Raum mehr lässt. Sie ist belastet durch die schroffe, pauschale und ungerechte Polemik gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer in Kapitel 23. Sie ist belastet durch die Geschichtsfiktionen in der Passions‑ und Ostergeschichte mit ihren schrecklichen Folgen. Matthäus hat mit solchen Texten die Türen verschlossen, die wir öffnen möchten. Er hat die Vorfahren derjenigen ausgesperrt, mit denen wir heute den Dialog suchen. Es war ihm unmöglich, seine Feinde, die Pharisäer, Schriftgelehrten und anderen jüdischen Führer so zu lieben, wie auch sie es im Lichte von Jesu Gebot der Feindesliebe verdient hätten. Es gibt im matthäischen Bild Jesu eine tiefe Spannung zwischen dem Jesus der Gottesliebe und der Feindesliebe, und dem Jesus der Weherufe und der Gerichtsankündigungen. Diese Spannung hat wahrscheinlich ihre Wurzeln bei Jesus selbst. Jesus verkündete die Ankunft des Gottesreiches als grenzenlose Liebe. Aber es hatte eine Kehrseite: Wer es – und ihn, seinen Verkünder – , ablehnte, verfiel dem Gericht. Wie sollen wir heute mit dieser Spannung umgehen? Ich denke, wir können es nur so, dass wir sie offen benennen, bei Matthäus und auch bei Jesus. Anders als Matthäus können wir, so denke ich, Jesus nur so treu bleiben, dass wir Jesus gegen Jesus halten: den Jesus der unerermesslichen Liebe Gottes und der grenzenlosen Feindesliebe gegen den Jesus, der an der Stelle Gottes die Welt zu richten hoffte und das Gerichtsfeuer auf die Erde warf. Solche Fragen zielen auf das Zentrum unseres Glaubens. Sie tun weh, weil sie uns selbst in Frage stellen. Aber sie tun auch gut, weil sie vielleicht Türen öffnen, die vom Matthäusevangelium im Namen Jesu verschlossen worden sind.

IV. Studien zu den übrigen Evangelien

24. Einleitung Das folgende Kapitel umfasst nur zwei Aufsätze, die weder zeitlich, noch thematisch etwas miteinander zu tun haben. Den aus dem Jahre 1975 stammenden Aufsatz „Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition“ (= Nr. 25) aus der Festschrift für meinen Lehrer aus der Studentenzeit, Hans Conzelmann, wollte ich aufnehmen, weil ich denke, dass er nicht genügend beachtet worden ist. Er ist zwar alt und geht an manchen Punkten von forschungsgeschichtlich überholten Positionen aus. Aber er bleibt m. E. wichtig. Für den Abdruck habe ich ihn gekürzt, von manchen Seitenblicken und nicht mehr wichtigen Anmerkungen befreit und gelegentlich verdeutlicht. Seine These lautet, dass die vormk Tradition ein in mancher Hinsicht anderes Profil aufweist als die Q-Überlieferungen. Das lässt sich zunächst einmal an denjenigen – nicht wenigen – Texten zeigen, die sowohl in Q, als auch im Mk-Ev vorkommen. Die Beobachtungen bestätigen sich, wenn man das „Sondergut“ der Mk-Überlieferungen und der Q-Tradition betrachtet. Sie bestätigen sich weiter, wenn man die Gattungen der Mk-Stoffe mit einbezieht: Sowohl im Mk-Ev, als auch in der Q-Tradition gibt es „Vorzugsgattungen“. Auch aus den vermutbaren vormk Traditionssammlungen lassen sich vorsichtig Schlüsse ziehen. Das erste Ergebnis der Studie lautet, dass die vormk Traditionen eine deutliche Tendenz zur Enteschatologisierung aufweisen. Ihr entsprechen die in der Markustradition besonders häufigen Gattungen: Wundergeschichten, Apophthegmen, Legenden. Das zweite Ergebnis lautet, dass die Lebenswirklichkeit der Gemeinden, welche diese Traditionen überliefern, durch den irdischen Jesus geprägt ist. Der irdische Jesus ist für sie „Grund des Glaubens“. Das wird an den Wundergeschichten besonders deutlich: In den Wundern Jesu zeigt sich für die Gemeinden die Präsenz des Heils. Ähnliches zeigt sich aber auch in den Apophthegmen und Streitgesprächen: In ihnen zeigt sich, wie der irdische Jesus in seiner Vollmacht und durch seine Taten das Leben der Gemeinde bestimmt. In gewissem Sinn sind Wundergeschichten und Apophthegmen mit ihrem grundlegenden Bezug auf den irdischen Jesus eine „Keimzelle“ des Evangeliums. Für den Evangelisten stellte sich dann die Frage, wie er die so verstandenen Wundergeschichten und Apophthegmen mit der Passionsgeschichte verbinden konnte. Diese Frage bestimmte wohl den Entwurf seines Evangeliums, wie die Jüngerunverständnisse und ‑missverständnisse zeigen. Es stellte sich auch die Frage nach dem Stellenwert, den in dieser Frömmigkeit die Hoffnung auf

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

die Wiederkunft des Menschensohns Jesus hat. Sie mag ihn zur Einfügung der „Apokalypse“ von Mk 13 in sein Buch geführt haben. Ihr Stellenwert im Ganzen des Markusevangeliums ist eine m. E. bis heute ungelöste Frage. Aus heutiger Sicht würde ich den Aufsatz in manchem anders akzentuieren. Zu selbstverständlich ging ich von der 1975 gängigen Annahme aus, dass es im Frühchristentum verschiedene, voneinander unterschiedene „Traditionskreise“ gegeben habe. Ich würde heute die „overlaps“ zwischen dem Markusevangelium und der Logienquelle Q stärker betonen und entsprechend den intensiven Kontakt zwischen frühchristlichen Gemeinden. Zu selbstverständlich habe ich in dem Aufsatz auch angenommen, dass die ins Markusevangelium bzw. in die Logienquelle aufgenommenen Traditionen den ganzen, den jeweiligen Gemeinden bekannten Überlieferungsbestand enthalten. In beiden Punkten habe ich meine eigenen, dem Abschnitt II vorausgestellten „Warnsignale“ nicht beachtet.1 Zu wenig bedacht habe ich schliesslich auch, dass eine zunehmende Rückwendung zur Geschichte Jesu sich nicht nur in den vormk Apophthegmen und Wundergeschichten und im Markusevangelium, sondern auch im Aufriss der Logienquelle zeigt, die schon Jülicher nicht ganz zu Unrecht als „Halb-Evangelium“ bezeichnet hatte.2 Jürgen Roloff hatte schon damals in einem wichtigen Buch auf solche Tendenzen aufmerksam gemacht.3 Eine wichtige Frage betrifft die unterschiedliche Nähe der Markusüberlieferungen und der in der Logienquelle gesammelten Traditionen zum Judentum. Beobachtungen, die ich im Aufsatz von 1975 gemacht habe, lassen sich vertiefen: Einige der Besonderheiten der mk Apophthegmen kann man so erklären, dass ihre Tradenten in einem Milieu lebten, in dem es keine Pharisäer gab, mit denen sich die Gemeinde direkt auseinandersetzen musste.4 Erst im Mt-Ev wird der Gesetzeslehrer von Mt 22,34 f ein Pharisäer und damit ein Sprecher der Jesus insgesamt ablehnenden jüdischen Führer. In der vormk Überlieferung von Mk 12,28–34 steht er Jesus nahe.5 Mk 12,38–40 und das Fehlen der Weherufe von Q zeigt, dass es in der mk Gemeinde keine direkten Auseinandersetzungen mit jüdischen Schriftgelehrten gegeben haben dürfte. Wichtig ist auch die unterschiedliche Stellung der vormk Überlieferungen und der Logienquelle 1 Vgl.

u. S. 417. Jülicher / Erich Fascher, Einleitung in das Neue Testament, GThW VII, Tübingen 71931, 347. 3 Jürgen Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1970. 4 Vgl. im Aufsatz Anm. 46: Pharisäer sind „nur vom Hörensagen bekannt“. 5 Die Besonderheit der mk Überlieferung des Doppelgebotes der Liebe (Mk 12,28–34), die mit einem Lob Jesu für den jüdischen Schriftgelehrten endet, macht auch deutlich, dass die mk Streitgespräche ihren Sitz im Leben kaum in Auseinandersetzungen der Gemeinde mit Rabbinen über Gesetzesfragen gehabt haben. In Mk 12,28–34 scheint das Bekenntnis des Schriftgelehrten zum Monotheismus der Grund zu sein, weswegen er für Jesus „nicht fern vom Reich Gottes“ ist (V 34). Von da her bestätigen sich meine kritischen Bemerkungen zu Bultmanns Analyse der Streitgespräche in Anm. 43 f. des Aufsatzes. 2 Adolf

24. Einleitung

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zur Torah: Während in der Logienquelle die Gültigkeit aller Gebote der Torah wichtig ist (Q 16,17), auch der sog. rituellen, und in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten nur die Frage ihrer Gewichtung strittig ist (Q 11,42), stehen die vormk Gemeinden den rituellen Geboten mit offensichtlichem Unverständnis gegenüber (Mk 7,15.18 f). Kurz: Manche vormk Überlieferungen deuten darauf hin, dass ihre Tradenten in einem Milieu – fern vom Land Israel – lebten, das nicht durch Auseinandersetzungen mit jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäern geprägt war. Trotz aller Umakzentuierungen und Vertiefungen, die ich heute gegenüber dem alten Aufsatz von 1975 vornehmen würde, möchte ich an seiner These festhalten, dass die vormk Traditionen – wenn man von Mk 13 absieht und die vormk Passionsgeschichte einmal ausklammert – und die in der Logienquelle gesammelten Traditionen ein unterschiedliches Profil aufweisen. Die Beobachtungen, die ich an vielen Texten gemacht habe, scheinen mir nach wie vor wichtig, und ich möchte sie deshalb wiederum zur Diskussion stellen. Der zweite Aufsatz dieses Kapitels „Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17). Ein Gespräch mit Jean Zumstein“ (= Nr. 26) stammt aus der 2009 erschienenen Festschrift für Jean Zumstein. Sein Thema ist die johanneische Abschiedsrede Joh 13–17. Ich formuliere im Singular, denn die These meines Aufsatzes ist, dass Joh 13–17 ohne unüberwindbare Schwierigkeiten als einheitliche, von einem einzigen Autor stammende Rede gelesen werden kann. Das ist eine (noch?) nicht allgemein akzeptierte These, denn immer noch sprechen die meisten Forscher von mehreren Abschiedsreden.6 Im Gefolge von Rudolf Schnackenburg wird sehr oft Joh 15–17 als Nachtrag verstanden, der einer späteren Bearbeitung des Johannesevangeliums zuzuschreiben ist.7 Christian Dietzfelbinger spricht gar von vier Abschiedsreden.8 Jean Zumstein versteht die zweite Abschiedsrede (Joh 15,1–16,33) als Frucht eines Prozesses einer „Relektüre“ von Joh 13,31–14,31 in der joh. Schule: Die erste Abschiedsrede versteht er im Sinne der Intertextualitätstheorie von Gérard Genette9 als „Hypotext“, auf dessen Grundlage ein Späterer als „Hypertext“ die zweite Abschiedsrede fortschrieb.10 Im Gespräch vor allem mit Jean Zumstein entstand also dieser  6 Es gibt aber eine steigende Tendenz, das Johannesevangelium wieder als literarische Einheit zu verstehen, Dies zeigen z. B. die letzte Äusserung von Raymond Brown zu den Abschiedsreden (im Aufsatz Anm. 1) und der Johanneskommentar von Udo Schnelle, der Joh 1–20 „als literarische Einheit“ versteht (Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 13). In diese Tendenz fügt sich auch der folgende Aufsatz ein.  7 Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/3, Freiburg / ​Basel / ​Wien 1975, 101–103.  8 Christian Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden, WUNT 95, Tübingen 1997, 359 f oder ders., Das Evangelium nach Johannes II, Joh. 13–21, ZBK IV/2, Zürich 22004, 32.249.  9 Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, 7–16. 10 Jean Zumstein, L’évangile selon Saint Jean (13–21), CNT IVb, Genève 2007, bes. 91–93.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

Aufsatz. Sein Titel müsste präzisiert werden, damit der Gegensatz klarer wird: „(Intertextuelle) Relektüre? (Intratextuelle) Reprise!“ Der vorbereitende Abschnitt II versucht zunächst, zwei Schwierigkeiten meiner These zu relativieren, nämlich 14,31 c und der in sich geschlossene Aufbau der „ersten“ Abschiedsrede, die keine Fortsetzung erfordert. Für meine These sprechen andererseits zwei wichtige Beobachtungen: Der ganzen Abschiedsrede scheint die markinische Episode Mk 14,26–31 als Hypotext zugrunde zu liegen, in dem Jesus die Verleugnung des Petrus (Mk 14,29 f = Joh 13,38) und die Zerstreuung der Jünger (Mk 14,27 = Joh 16,32) ankündigt. In diese Episode hat der Evangelist seine Abschiedsrede eingelegt. Die zweite Beobachtung betrifft die Parakletsprüche: Sie bilden einen sich durch Kap. 14–16 durchziehenden Themastrang, in dem ein Parakletspruch durch den folgenden aufgenommen und vertieft wird. Der zweite Parakletspruch (Joh 14,26) lässt bei den Lesern und Leserinnen des Joh-Ev eine Leerstelle offen, die erst die folgenden Parakletsprüche, vor allem der letzte, Joh 16,12–15, füllen werden. Die beiden Parakletsprüche der „ersten“ Abschiedsrede wären ohne die folgenden inhaltsarm und dürftig. Der Abschnitt III untersucht die beiden Themastränge, die im Eingangsabschnitt 13,31–35 als Grundthemen der Abschiedsrede hervorgehoben werden, „Verherrlichung“ und „Liebe“. Beide sind im vorangehenden Text von Joh 1–12 vorbereitet. Sie werden in der Abschiedsrede immer wieder aufgenommen, neu beleuchtet, vertieft, erweitert und im Abschiedsgebet Joh 17 zum Höhepunkt geführt. Joh 17 verstehe ich als Höhepunkt und Abschluss der Abschiedsrede. Mit seiner sechsmaligen Anrufung des Vaters dieser Text ist ein Gegenprogramm zu dem auf Mk 14,26–31 folgenden Getsemani-Text, in dem Jesus dreimal seinen Vater bittet, dass der Kelch des Leidens und Sterbens an ihm vorbeigehen möge. Die Untersuchung der beiden Themastränge zeigt, wie beiden Grundthemen „Verherrlichung“ und „Liebe“, die in 13,31–35 in verdichteter Form eingeführt werden, immer wieder aufgenommen11 werden und in neuen, Gott, den Offenbarer Jesus und die Jünger einschliessenden Aspekten beleuchtet und vertieft werden. Die johanneische Abschiedsrede Kap. 13–17 erweist sich als ein in sich geschlossenes Ganzes, wenn man darauf verzichtet, heute übliche Massstäbe von Kohärenz und Widerspruchsfreiheit an sie anzulegen. Johanneisches Denken darf nicht als lineares Denken interpretiert werden, sondern ist assoziativ, voller Lücken, Gedankensprünge, Leerstellen und sogar Widersprüche auf der Textoberfläche. Am ehesten kann man es mit einem Musikstück vergleichen, in dem bestimmte Motive und Themen immer wieder neu aufgenommen und variiert werden und so dem Hörer immer wieder neue Klangfarben vermitteln bis zum grossen Finale. Mit diesem Vergleich schliesst der Schlussabschnitt IV des Aufsatzes. 11 Darum

spreche ich von „Reprisen“.

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition

Hans Conzelmann zum 60. Geburtstag

I. Einleitung In der Analyse der synoptischen Tradition folgte auf eine vorwiegend literarkritische Forschungsphase die form‑ und traditionsgeschichtliche, die der Vorgeschichte der evangelischen Stoffe in der mündlichen Tradition galt. Beide analytischen Arbeitsgänge zusammen machten die redaktionsgeschichtliche Interpretation der Evangelien möglich, die durch den Jubilar wesentlich mit inauguriert wurde1 und seither in unendlichen Einzelanalysen eine reiche Ernte eingebracht hat. Über die Theologie der einzelnen Evangelisten wissen wir heute in mehr oder weniger deutlichen Umrissen Bescheid. Auffällig ist aber, daß der Analyse der synoptischen Tradition eine entsprechende Interpretation der Theologie bzw. der Theologien der synoptischen Tradition weithin nicht gefolgt ist. Das hat viele und verständliche Gründe: Die Resultate der traditionsgeschichtlichen Analysen sind ungleich hypothetischer geblieben als die der literarkritischen, auf die sich die redaktionsgeschichtliche Interpretation stützt. Von dem uns allein zugänglichen schriftlichen Textbestand her sind Rückschlüsse auf noch nicht verschriftlichte Textformen nur mit großer Zurückhaltung möglich.2 Sobald wir den uns vorgegebenen Rahmen eines Evangeliums auflösen, können wir mit einiger Zuverlässigkeit nur noch einzelne Texte oder Textkomplexe 1 Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BhTh 17, Tübingen (1954) 51964; ders., Geschichte und Eschaton nach Mc 13, ZNW 50 (1959), 210– 221; ders., Der geschichtliche Ort der lukanischen Schriften im Urchristentum, in: Georg Braumann (Hg.), Das Lukasevangelium, WdF 280, Darmstadt 1974, 236–260. 2 Die Kritik von Erhardt Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, BEvTh 54, München 1970, bes. 69ff an der von der Traditionsgeschichte vorschnell postulierten Kontinuität zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache ist grundsätzlich berechtigt. Dass Güttgemanns Anfragen nicht sogleich zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber allen traditionsgeschichtlichen Arbeitsmöglichkeiten führen müssen, zeigen kluge Ausführungen von Dietrich A.  Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin 1975, 8ff und Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, SNT 8, Gütersloh 1974, 189 ff.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

interpretieren; wir wissen jedoch nicht, woher diese Texte stammen und mit welchen Texten sie zusammengehörten. Bisherige Versuche, aufgrund verschiedener Kriterien zur Rekonstruktion von Überlieferungskreisen mündlicher Tradition zu kommen, wirken in ihrer hypothetischen Zufälligkeit eher abschreckend.3 So bleibt als vorläufige Feststellung, daß es sehr schwierig ist, auf der Ebene der mündlichen Tradition in der synoptischen Überlieferung bestimmte in ihrer Tendenz und Theologie bestimmbare und in ihrem Überlieferungsstoff begrenzbare Traditionskreise zu rekonstruieren. Die meisten Forscher halten es denn auch mit der Vorsicht: Der Jubilar etwa spricht in seiner Theologie des Neuen Testaments zusammenfassend vom synoptischen Kerygma und verzichtet in seiner „Geschichte des Urchristentums“ auf eine Darstellung der Geschichte der synoptischen Gemeinden.4 Dennoch ist eine Differenzierung nötig: Etwa im matthäischen oder lukanischen Sondergut treten deutlich erkennbare Sonderinteressen und Sonderthemen zutage. Einen Schritt weiter kam die Forschung in den letzten Jahren durch die Beschäftigung mit der Logienquelle, der immer häufiger nicht nur eine selbständige Theologie, sondern auch eine selbständige Gemeinde als Trägerschaft zugestanden wird.5 Die hier vorgelegte Studie versucht, in dieser Richtung einen Beitrag zu leisten. Es wird hier gefragt, wie Jesus in frühester Zeit gesehen wurde. Ausgangspunkt einer möglichen Differenzierung ist der hinter der Logienquelle stehende Traditionskreis. Wie Paul Hoffmann und andere nehme ich an, dass hinter Q eine Gruppe von Jesus als Menschensohn-Weltrichter erwartenden prophetischen 3 Gottfried Schille, Anfänge der Kirche. Erwägungen zur apostolischen Frühgeschichte, BEvTh 43, München 1966, bes. 160ff verwendet die geographischen Angaben der evangelischen Texte zur Rekonstruktion von „Traditionskreisen“. Siegfried Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 43 unterscheidet mit Hilfe der „konsequent traditionsgeschichtliche(n) Methode“ fünf urchristliche Gemeindebereiche, nämlich Q, das Kerygma der Jerusalemer Gemeinden, das Kerygma der vormarkinischen Gemeinden, die vorpaulinische Tradition und die vorjohanneische Tradition und rechnet nur mit sekundären traditionsgeschichtlichen Rückwirkungen zwischen ihnen, ohne nach ihrem gemeinsamen Ursprung und Bezugspunkt, Jesus, zu fragen. Für beide gelten die kritischen Bemerkungen von Martin Hengel, Christologie und neutestamentliche Chronologie, in: Heinrich Baltensweiler  / ​ Bo Reicke (Hg.), Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), Zürich / ​Tübingen 1972, bes. 60 (abgedruckt in: Martin Hengel, Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, Tübingen 2006. 27–51, bes. 44). 4 Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, München 1967, 115 ff. Seine Geschichte des Urchristentums (ders., Geschichte des Urchristentums, GNT 5, Göttingen 1969) ist stofflich ein kritisch korrigierter lukanischer Aufriß, der über viele Fragen kaum Auskunft gibt, z. B. über den historischen Ort der Evangelien. 5 Heinz Eduard Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959, 212ff; William D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1964, 366ff; Athanasius Polag, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen 1977; Dieter Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen 1969; Paul Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster 1972; Siegfried Schulz, Spruchquelle (o. Anm. 3).

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition

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Boten und die von ihnen geprägten Gemeinden stehen. Von dieser Erwartung her ist m. E. nicht nur die explizite Christologie der Logienquelle, sondern zum Teil auch die Auswahl des in ihr überlieferten Jesusstoffs bestimmt. Die Logienquelle überliefert uns nicht nur eine bestimmte Christologie, sondern als ihren Teil auch ein bestimmtes Jesusbild, d. h. einen mit ganz bestimmter „Brille“ gesehenen Jesus. Betrachten wir den Jesus der Logienquelle einmal für sich und nicht nur als Teil der synoptischen Tradition, so zeigt sich, dass er vom Jesus der markinischen Überlieferung recht verschieden ist. In der Markustradition dominieren Erzählungen, vor allem Wundergeschichten, Apophthegmen und Legenden, in Q apokalyptisches Gut, Sprüche und prophetische Worte.

II. Methodische Fragen Die Schwierigkeiten der Untersuchung sind gross. Ist es überhaupt erlaubt, die im Markusevangelium überlieferten Stoffe für sich zu betrachten und ihr theologisches Profil für die Tendenzen eines ganz bestimmten Traditionskreises in Anspruch zu nehmen? Vielerlei Voruntersuchungen wären hier nötig: Ist der im Markusevangelium enthaltene Stoff erschöpfend, d. h. gibt er Auskunft über den ganzen in seiner Gemeinde bekannten Überlieferungsbestand? Lässt es sich wahrscheinlich machen, dass Markus, anders als wohl Lukas, nicht systematisch und aus mehreren Gemeinden Überlieferungen gesammelt hat, sondern im wesentlichen den Stoff eines einzigen Traditionskreises, seiner Gemeinde, darstellt? Diese Fragen seien gleichsam als Warnsignale im Voraus gestellt. Auf jeden Fall kann der Gegenstand unserer Untersuchung nur diejenige Gemeinde bzw. diejenigen Gemeinden sein, die den markinischen Stoff in seiner Letztgestalt, so, wie er dem Evangelisten vorlag, überlieferten. In dieser Weise wird hier „vormarkinisch“ verstanden. Es bleibt m. E. für die Rekonstruktion einer Theologie synoptischer Gemeinden nur die Möglichkeit, versuchsweise vom Überlieferungsbestand einer literarischen Einheit auszugehen, also von Mk oder Q (oder vom Sondergut von Mt und Lk), und zu fragen, ob der vorredaktionelle Textbestand möglichst zahlreicher Texte so viele gemeinsame Eigentümlichkeiten und Tendenzen aufweist, dass bestimmte Folgerungen möglich sind. Insbesondere möchte der vorliegende Versuch folgende methodischen Vorschläge zur Diskussion stellen: 1. Der sicherste Ausgangspunkt ist die Betrachtung der Varianten zwischen Q und Markus. Zeigen sich bei verschiedenen Texten aus Markus und Q, die Varianten derselben Überlieferung sind, jeweils ähnliche Skopoi oder Traditionsentwicklungen, so kann von einer für die vormarkinische Überlieferung oder für Q charakteristischen Tendenz gesprochen werden. 2. Stimmen die in den Varianten beobachteten Tendenzen mit vorredaktionellen Tendenzen bei anderen Überlieferungen desselben Überlieferungsbereichs

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

überein, so verstärkt sich ihr Gewicht. Eine relativ sichere Basis, um von einer theologischen Tendenz der vormarkinischen Gemeinde zu sprechen, haben wir also dann, wenn bestimmte Traditionsentwicklungen und Tendenzen in zahlreichen Texten auftauchen. 3. Formgeschichtlich werden wir besonders auf diejenigen Formmerkmale der Vorzugsgattungen der Markustradition achten müssen, die in andern Bereichen der evangelischen Überlieferungen so nicht vorkommen. Dabei ist darauf zu achten, ob in verschiedenen Gattungen ähnliche Tendenzen festzustellen sind. 4. Wichtig ist die Frage, ob Tendenzen, die sich im vorredaktionellen Skopos einzelner Texte zeigen lassen, mit den Tendenzen übereinstimmen, die die Auswahl der Stoffe im Ganzen (soweit feststellbar) und die Auswahl der Formen und Gattungen (Vorzugsgattungen) bestimmen. 5. Das Vorliegen vormarkinischer Traditionssammlungen6 könnte Indizien für die Existenz und die Tendenzen der vormarkinischen Gemeinde(n) geben, sofern sich verschiedene Sammlungen in ihrer Tendenz entsprechen und mit derjenigen anderer Texte übereinstimmen. Auf dieser methodischen Basis wird sich zweierlei zeigen: Erstens: Die vormarkinische Tradition zeigt eine starke Tendenz zur Enteschatologisierung, die der Tradition und nicht erst der Redaktion durch den Evangelisten zuzuschreiben ist. Zweitens: Der Enteschatologisierung entsprechend sind sehr viele Texte durch den Glauben geprägt, daß der irdische Jesus selbst in seinem irdischen Wirken kerygmatische, den Glauben begründende Funktion habe.

III. Die Eschatologie der vormarkinischen Überlieferung III. 1 Doppelüberlieferungen in Mk und Q Wir analysieren zunächst diejenigen Stellen, die eine Variante in der Logienquelle haben. In der Aussendungsrede Mk 6,(7)8–11(12 f) fehlt der Hinweis auf die Nähe des Gottesreichs als Verkündigungsinhalt. Damit zu vergleichen sind Q 10,9, die eschatologisch ausgerichteten Sendungsworte Q 10,2.3 und die Gerichtsworte Q 10,12.13–15. In Mk 6 liegt ein stärkeres Gewicht auf den von den Boten in der Gegenwart vollbrachten Wundern und Exorzismen (Mk 6,7.12 f). – Auch in der Täuferperikope Mk 1,2–8 par. Q 3,(3)7–9.16 f ist der Unterschied derselbe: Mit dem Zurücktreten des Verkündigungsinhalts der Täuferpredigt tritt auch der eschatologische Gesichtspunkt zurück. Der von Johannes verkündete 6 Als

vormarkinische Traditionssammlungen würde ich annehmen: Mk 1,2–13 (vgl. Q); Mk 2,1–28; Mk 4,3–9.14–20.26–32; Mk 8,34–38 (vgl. Q 14,26 f); Mk 9,37.41–49; Mk 13 und die Passionsgeschichte, wobei in den letzten beiden Komplexen der Umfang des vormarkinischen Zusammenhangs jetzt auf sich beruhen kann. Vgl. zum ganzen Problem: Heinz W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium, StUNT 8, Göttingen 1971 (mit teilweise abweichenden Resultaten).

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition

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„Stärkere“ ist in Q wohl der Weltrichter, in der vormarkinischen Tradition der geglaubte Christus der Gemeinde, der ihr den heiligen Geist schenkt (Mk 1,8). – Ähnliches gilt von der Perikope vom Jonazeichen (Mk 8,11 f, par. Q 11,29ff), die in Q nicht nur durch das Menschensohnwort, sondern auch durch das anschließende Logion von den Gerichtszeugen gegen Israel (Q 11,31 f) eindeutig eschatologischen Sinn hat. Anders in der vormarkinischen Tradition: Hier geht es lediglich darum, daß Jesus diesem Geschlecht ein ihn als göttliches Wesen epiphan machendes σημεῖον verweigert.7 – In der Perikope vom Beelzebul (Mk 3,22.24–29[30]) fehlen die beiden eschatologisch ausgerichteten Logien Q 11,19.20. Das Fehlen von Q 11,20 ist besonders wichtig: Eine eschatologische Deutung der Wunder vom Anbruch des Gottesreiches her gibt es in der markinischen Überlieferung nicht. Am wichtigsten ist das Schlusslogion Mk 3,28 f: In der markinischen Fassung wird gerade nicht zwischen dem irdischen Jesus und dem heiligen Geist unterschieden, dessen Lästerung den Menschen verboten ist. Einen Sinn in seinem jetzigen Kontext gewinnt das Logion nur, wenn Jesus als Geistträger verstanden wird: Die Lästerung, dass Jesus den Beelzebul habe (Mk 3,22 a), ist unvergebbar. So formuliert es jedenfalls V 30, dessen Zugehörigkeit zur Tradition allerdings unsicher ist. Weiter ist auffällig: Im Logion Q 12,10 hat das Futur ἀφεθήσεται eindeutig eschatologischen Sinn;8 in Mk 3,29 blickt οὐκ ἔχει ἄφεσιν εἰς τὸν αἰῶνα dagegen auf die sich bis zum Eschaton erstreckende Gegenwart. – In der markinischen Pharisäerrede (Μk 12,38–40) ist nicht nur auffällig, daß die meisten der lukanischen Gerichtsrufe aus Q 11,39ff fehlen, sondern vor allem, dass das eschatologische „Wehe“ als solches weggefallen ist. Die Schriftgelehrten nicht mehr direkt angesprochen; die Gerichtsandrohung hat ihren Sitz in der Gemeindeparänese, wo die Schriftgelehrten als abschreckendes und warnendes Beispiel hingestellt werden. Möglicherweise diente die durch das Stichwort χήρα mit unserer Perikope verbundene Geschichte von der freigebigen Witwe in Mk 12,41–44 als positives Gegenbeispiel für Freigebigkeit. Auch in einigen weiteren Varianten tritt vermutlich bei Markus die eschatologische Ausrichtung zurück: Wenn Mk 10,38 eine Variante zu Lk 12,49 f ist, so beobachten wir auch hier eine Deutungsverschiebung vom Gericht auf das Martyrium. – Mk 9,42 denkt – parallel zu V 41 und zu V 43 –47 – an ein innerweltliches 7 Die

Formulierung σημεῖον ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ (Mk 8,11) hat gelegentlich Anlass gegeben, an ein eschatologisch-apokalyptisches Zeichen zu denken (Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, KEK I/2, Göttingen 141957, 155; Walter Grundmann, Das Evangelium nach Markus, ThHK 2, Berlin 21959, 161; Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1967, 89). Dagegen spricht aber: Ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ ist zυnächst aus dem Material der vormarkinischen Tradition zu deuten und heißt dann von Mk 11,30 f her: von Gott kommend, nicht von Menschen. Jüdische Parallelen (Jer LXX 10,2; Josephus, ant 2,237) könnten auch auf ein vom Himmel her geschehendes Wunder hinweisen, wie etwa eine Sonnenfinsternis etc., das ein bloß irdisches Wunder überbietet; vgl. Mk 1,10 f; 15,33. Diese beiden Deutungen sind möglich; ein apokalyptischer Kontext ist dagegen von außen (Q?) her in den Text eingelesen. 8 Nach Q 12,8 f.

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σκανδαλίζειν der Glaubenden. Ιn Q 17,1 f stehen dagegen die σκάνδαλα im Zusammenhang mit dem Kommen des Endes. – Mk 9,50 ist wohl eine paränetische Variation (Salz der Friedfertigkeit!) eines in Q eschatologischen Gerichtswortes (vgl. ἔξω βάλλουσιν αὐτό). – Auch Q 12,2 hat eschatologischen Sinn, während die Variante Mk 4,22 in ihrem markinischen Kontext sicher nicht-eschatologisch auf die Gleichnisse zu beziehen ist. Für die vormk Tradition widerrät die Parallelität zum Lichtwort 4,21 ebenfalls einer eschatologischen Deutung. – Beim Senfkorngleichnis (Mk 4,30–32) schließlich hebt die markinische Überlieferung die Kleinheit des Senfkornes hervor und betont den Vorgang des Wachsens, während die Q-Fassung allein das übergrosse Ende (δένδρον! Q 13,19) betont. Dass der Blick dadurch bei Markus auf die Gegenwart des Erzählers gerichtet werden soll, wird, wie H. W. Kuhn gezeigt hat,9 durch die vormarkinische Form von Mk 4,26–29 und durch Mk 4,14–20 bestätigt. In allen untersuchten Fällen ist in der vormarkinischen Tradition der eschatologische Skopus der Texte zurückgetreten. In einigen Fällen verband sich damit eine höhere Bewertung des irdischen Jesus. Von dieser Regel gibt es nur eine Ausnahme: Mk 8,38 hat den eschatologischen Skopus der Q-Parallele Q 12,8 f voll bewahrt. Der strenge Parallelismus von Q ist allerdings verlorengegangen; das Logion steht in einem vermutlich vormarkinischen Kontext in Mk 8,34–38, in dem es um das rechte Sich-Einlassen der Jünger auf den irdischen Jesus geht. Das knappe μέ der Q-Fassung wird durch καὶ τοὺς ἐμοὺς λόγους expliziert: es bezieht sich auch auf die nachösterliche Verkündigung Jesu. Gedacht ist vermutlich nicht wie in Q an eine Situation des Gerichtes, sondern an die Verkündigung des Evangeliums unter „diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht“.10 Anders als in Q wird das Kommen des Menschensohns vorstellungsmäßig im Sinne der Gemeindeapokalyptik11 ausgemalt; die Zeiten erscheinen stärker auseinandergelegt und distanzierter beschrieben. III. 2 Die vormarkinische Wunderüberlieferung In den Wundergeschichten zeigt sich eine ähnliche Tendenz zur Enteschatologisierung. In der Logienquelle steht jenes bekannte, vermutlich authentische Logion Jesu, das die Wunder Jesu als Hinweis auf den Anbruch des Gottesreiches deutet (Q 11,20). In der Q-Tradition selbst haben – von Q 7,1–10 abgesehen – die Wunder kein selbständiges Gewicht. Die wenigen Wunder Jesu, die in Q sonst noch erzählt werden (Q 10,13; 11,14), sind wie diejenigen seiner Boten (vgl. Q 10,9) offenbar gleichermaßen Zeichen des anbrechenden Gottesreichs.  9 Kuhn,

Ältere Sammlungen (o. Anm. 6), 125 f. die Erweiterung καὶ τοὺς ἐμοὺς λόγους als auch der Gebrauch von ἐπαισχύνομαι in Röm 1;16; 2 Tim 11,18.12 sprechen dafür, dass sich Mk 8,38 auf die Situation der Verkündigung bezieht. In Q dürfte hinter dem ganzen Abschnitt Q 12,2–12 die Situation des Gerichtes stehen (vgl. V 4.11). 11 Vgl. Mk 13,2 f par; 1 Thess 4,16; 2 Thess 1,7; Joh 1,51; 1 Thess 3,13; Apk 3,5. 10 Sowohl

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Denen, welche die Botschaft und ihre Boten aufnehmen, sind sie ein Zeichen des Friedens (Q 10,6), den anderen ein Zeichen des Gerichts (Q 10,14 f; vgl. 11,23.29 f). Grundlegend für die sehr reich fließende markinische Überlieferung von Wundergeschichten ist dagegen, dass in ihnen von den Wundern Jesu in besonderer Weise gesprochen wird: Sie sind ein integraler Teil der Wirksamkeit des irdischen Jesus, nicht des Anbruchs des Reiches Gottes. So verstanden sind sie konstitutiv für den Glauben der Gemeinde.12 In keinem markinischen Text werden Jesu Wunder in einen Zusammenhang mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ gestellt. Auch in einen Zusammenhang mit der Gerichtsverkündigung treten Jesu Wunder nie. Das wird gerade an Mk 3,22ff, wo ein konkretes Wunder Jesu nicht mehr berichtet wird, deutlich. Vielmehr steht im Hintergrund der markinischen Wundergeschichten oft eine andere Form der Eschatologie: Zahlreiche Wundergeschichten werden durch alttestamentliche Traditionen interpretiert. Ich denke hier vor allem an die auffälligen Übernahmen von Wundern und Motiven aus dem Elia-Elisa-Zyklus in die vormarkinische Tradition13 oder an die Übernahme von Motiven aus der Wüstenzeit in Mk 6,34–4414 und von Motiven aus der Schilderung der Heilszeit nach Jes 35,5 in Mk 7,31–37. Durch solche Aufnahmen wird die durch die Wunder Jesu gekennzeichnete Gegenwart als eschatologische Heilszeit charakterisiert. Allerdings kommt es nie zu einer expliziten typologischen Gegenüberstellung von alter und neuer Heilswirklichkeit. Dagegen werden die Wundergeschichten in der vormarkinischen Tradition nie explizit in einen apokalyptischen Kontext hineingestellt. Eindeutig ist, dass alles Gewicht auf die Gegenwart fällt: Die Zeit Jesu wird ganz unapokalyptisch als Heilszeit selbst verstanden, nicht als Anbruch eines noch ausstehenden Heils. III. 3 Die Paränese Die Formen der eschatologischen Paränese, die in Q einen so großen Raum einnehmen, fehlen bei Markus fast völlig. Nicht das nahe Gericht motiviert zum Handeln, sondern die vom irdischen Jesus in seiner spezifischen Vollmacht gegebenen Handlungsanweisungen, wie bei der Besprechung der Apophthegmen noch verdeutlicht werden wird. Eschatologische Paränese gibt es bei Markus nur ganz spärlich (vgl. Mk 8,35.38; 10,29 f). Im (traditionellen?) Predigtstück Mk 1,14 f liegt der Akzent auf der Gegenwart, nicht auf dem kommenden Gericht. Aufschlussreich ist auch ein Vergleich zwischen Mk 9,35 und 10,43 f mit der eschatologisch formulierten Variante Mt 23,11 f. Auch Lk 22,25–27 ist in seiner vorlukanischen Textgestalt durch die Verbindung mit V 28–30 stärker 12 Vgl.

unten Abschnitt IV. 2. unten Anm. 33. 14 Vgl. Gerhard Friedrich, Die beiden Erzählungen von der Speisung in Markus 6,30ff und 8,1ff, ThZ 20 (1964), 14 ff. 13 Vgl.

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eschatologisch akzentuiert als Mk 10,42–45. Nur Mk 13,33–37 ist eine Ausnahme. Hier hat Markus selbst eine eschatologische Paränese im Anschluss an die Gleichnisse vom Türhüter und den Knechten gestaltet. Da die Paränese erst von Markus stammt,15 interessiert uns nur das übernommene Gleichnismaterial, dessen stark zersagte Gestalt und unsachgemäße Kombination von Einzelmotiven16 ein Hinweis auf das geringe Interesse der Gemeinde an solchen Stoffen sein könnte. Bei der Apokalypse von Mk 13, die in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall ist,17 interessiert hier nur, dass im Zusammenhang mit dem Kommen des Menschensohns eine die Paränese begründende Gerichtsschilderung fehlt, obwohl Daniel 7 bekannt ist. III. 4 Gleichnisse Beim markinischen Gleichnisstoff fällt negativ das Fehlen fast sämtlicher Gottesreichgleichnisse und aller Krisisgleichnisse auf. Die drei Gleichnisse von Mk 4 gehören zum Sondertypus der Kontrastgleichnisse; in ihnen geht es vor allem um die Gegenwart, nicht um den Ausblick ins Eschaton. Bei der aus der Gemeinde stammenden Gleichnisdeutung Mk 4,14–20 fällt überdies auf, dass das Kommen des Satans (4,15) ganz uneschatologisch gefasst ist und zu den übrigen, weltlichen Versuchungen einfach parallel steht. Auch θλῖψις, διωγμός und σκανδαλίζω in V 17 sind, anders als etwa in Q 17,1 f oder auch in Mk 13,19.24par., uneschatologisch verstanden. Αἰών in V 19 ist nicht durch den Zusatz οὗτος einer zukünftigen Welt gegenübergestellt. Der Hinweis des Sämannsgleichnisses auf die Ernte, eine traditionelle jüdische Gerichtsmetapher, wird nicht gedeutet. Auch die heilsgeschichtliche, nicht ins Eschaton verlängerte Allegorie Mk 12,1–12 passt gut in dieses Bild. Fazit: Die Akzente bei den einzelnen Gleichnissen und die Stoffauswahl bzw. Nichtauswahl im Ganzen ergänzen sich wechselseitig und stützen die These von einem Zurücktreten der futurischen Eschatologie in der markinischen Überlieferung. III. 5 Legenden Sowohl die Tauf‑ als auch die Verklärungsgeschichte enthalten Anspielungen auf apokalyptisch-eschatologische Motive. Sie bleiben aber isoliert und machen es unmöglich, die im Markusevangelium enthaltenen Legenden als Ganze aus einem eschatologischen Zusammenhang heraus zu interpretieren.18 Die Ge15 Vgl.

Rudolf Schnackenburg, Das Evangelium nach Markus II, GSL.NT 2/2, Düsseldorf 1971, 217; Rudolf Pesch, Naherwartungen, KBANT, Düsseldorf 1968, 195ff; Jan Lambrecht, Die Redaktion der Markus-Apokalypse, AnBib 28, Roma 1967, 228 ff. 16 Vgl. Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 9 1977, 51. 17 Vgl. unten Abschnitt ΙΙΙ. 6. 18 Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel, FRLANT 83, Göttingen 1963, 334ff

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schichte vom Einzug Jesu in Jerusalem enthält Mk 11,10 a ein eschatologisches Motiv, das aber merkwürdig isoliert im Kontext steht und von den Seitenreferenten denn auch weggelassen wurde. Die Legende selbst beginnt in V 1 b–6 mit der wunderbaren Auffindung des Esels, auf dem Jesus reiten wird. Sie ist in der Gemeindetradition zur Personallegende zum Ruhme des wundervoll vorherwissenden Jesus ausgestaltet worden. Sofern Mk 11,17 ein vorredaktionelles Zitat aus Jes 56,7 ist, ist das Fehlen einer ausdrücklichen Anspielung auf die eschatologische Wallfahrt der Heiden zum Zion auffällig. In der markinischen Abendmahlstradition steht der eschatologische Ausblick anders als in Lk 22,15–20 in nur einfacher Form am Schluss. Das zeitliche Element, das im lukanischen ἔλθῃ (Lk 22,18) enthalten ist, fehlt. Die Deutung der Elemente steht im Vordergrund. 1 Kor 11,23–25 ist hierin mit Mk 14,22–25 zusammenzusehen. Schließlich sei noch daran erinnert, dass in der mk Tradition nirgendwo die Auferstehung Jesu im Kontext der allgemeinen künftigen Totenauferweckung interpretiert wird. Das Auferstehungskerygma wird in die Legende von den Frauen am Grab eingebettet; auch das ist aufschlussreich. Die mk Leidensankündigungen Mk 8,31; 9,31; 10,32–34 bestätigen diese Beobachtung: Hier wird die Niedrigkeit des Dahingegebenen und Getöteten der Herrlichkeit des nach drei Tagen Auferstehenden gegenübergestellt. Eine Ausweitung dieser Herrlichkeit zum Eschaton hin, etwa zur Parusie, fehlt in den markinischen Leidensankündigungen, obwohl die Gemeindetradition den ursprünglich in der Apokalyptik verwurzelten Titel „Menschensohn“ braucht, um den Kontrast zwischen Niedrigkeit und Herrlichkeit zu umspannen. Im Lichte der traditionellen Herkunft des Menschensohntitels ist die uneschatologische Gestalt der Leidensankündigungen doppelt auffällig. „Menschensohn“ betont vielmehr an verschiedenen Stellen der vormarkinischen Tradition den Vollmachtanspruch des Irdischen. Eine Brücke zu den vom Kommen des Menschensohns-Weltrichters sprechenden Logien Mk 8,38; 13,26 f und 14,62 ist nicht zu schlagen. Dazu passt, dass die Auferstehungsaussagen der vormarkinischen Leidensankündigungen durchweg das die Passivität Jesu betonende Passivum ἐγείρομαι vermeiden und mit dem Jesu eigenes Handeln stärker hervortreten lassenden Medium ἀναστῆναι formuliert sind.19 versucht, in der Tauf‑ und Verklärungsgeschichte eine ursprüngliche palästinisch-apokalyptische und eine stärker an der Gegenwart orientierte vormarkinisch-hellenistische Schicht zu rekonstruieren. Seine Rekonstruktion hat mich nicht wirklich überzeugt, aber sie zeigt, dass die Markus vorliegenden Fassungen der Tauf‑ und Verklärungsgeschichte nicht von einem durchgehenden apoklyptischen Motivgitter her verstehbar sind. Die Distanz zwischen dem vormarkinischen Verständnis der Taufgeschichte und einer hypothetischen apokalyptischen Grundschicht dürfte am deutlichsten in der vormarkinischen Verbindung von Tauf‑ und Versuchungsgeschichte zum Ausdruck kommen: Die Taufgeschichte wird zur Personallegende des Gottessohns. 19 Vgl. dazu Helmut Köster, Grundtypen und Kriterien frühchristlicher Glaubenskenntnisse, in: Helmut Köster / ​James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 212.

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III. 6 Mk 13 als Schwierigkeit. Eine crux für diese sonst ziemlich eindeutigen und im ganzen sehr zahlreichen Beobachtungen ist Mk 13, die synoptische Apokalypse. Der vorliegende Versuch kann und will diese Schwierigkeit nicht beseitigen. Ohne Mk 13 könnte die explizite futurische Eschatologie der Markusstoffe auf 8,38 f; 10,28–31.37–40 und 14,25.62 reduziert werden. Immerhin sei mit Nachdruck auf die im einzelnen recht konstruktionsfreudige, aber völlig anders begründete These von Rudolf Pesch hingewiesen, wonach Mk 13 als ganzes Kapitel vom Evangelisten aus aktuellen Gründen in das schon fertig konzipierte Markusevangelium eingefügt worden sei.20 Peschs These passt fast verführerisch gut zu unseren Beobachtungen. III. 7 Fazit Die zunächst an den Q-Varianten im Markusevangelium festgestellte Tendenz zur Enteschatologisierung ist in der ganzen Markusüberlieferung weit verbreitet. Sie geht eindeutig auf das Konto der Gemeindetradition und nicht erst der Redaktion. Sichtbar wird sie sowohl im Spiegel der bei Markus besonders hervortretenden Gattungen Wundergeschichte, Apophthegma und Legende, als auch an zahlreichen einzelnen Texten. Der Enteschatologisierung entspricht positiv ein bestimmter Typus der Christologie; diesem haben wir uns nunmehr zuzuwenden.

IV. Die Christologie der vormarkinischen Überlieferung IV. 1 Doppelüberlieferungen in Markus und Q Wiederum beschäftigen wir uns zuerst mit denjenigen Texten, die eine Variante in Q haben. Das Bild ist weniger deutlich als bei der Eschatologie, aber dennoch stellen wir in einigen Texten eine deutliche Akzentverschiebung auf den irdischen Jesus fest. In der markinischen Täufertradition (Mk 1,[2 f]4–8) zeigt das Fehlen des Spruches von der Worfschaufel (Q 3,17), des Hinweises auf die Feuertaufe (Q 3,16) und die Verbindung des Hinweises auf die Geistestaufe mit der Herabkunft des Geistes auf Jesus (Mk 1,10), dass der „Stärkere“ der geglaubte Jesus der Gemeinde ist, der ihr den heiligen Geist in der Taufe schenkt. – Aus der markinischen Fassung der Geschichte vom Jonazeichen (Mk 8,11–13) sind alle eschatologischen Züge verschwunden. An ihrer Stelle haben wir eine kleine Personallegende, in deren Mitte die Person, nicht das Wort Jesu steht: Durch die Verweigerung eines Zeichens vom Himmel erweist sich Jesus als der „diesem Geschlecht“ total Überlegene, der die an ihn herangetragene 20 Pesch,

Naherwartungen (o. Anm. 15).

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Versuchung besteht. Das Moment der an Jesus herangetragenen Versuchung ist in diesem Falle nicht einfach überflüssige, die Pharisäer diskreditierende Garnitur, sondern dient dazu, das Interesse des Lesers bzw. Hörers auf die Person Jesu zu konzentrieren: Wird er die Versuchung bestehen? – Die Interpretation des vormarkinischen Beelzebulgesprächs (Mk 3,22.24–29[30]) ist dadurch erschwert, dass wir über die Zugehörigkeit des für die Interpretation entscheidenden Verses 30 zur Tradition nichts Sicheres sagen können. Immerhin gibt es auch ohne Heranziehung von V 30 Indizien im Text, welche die oben vorgetragene Deutung auf Jesus als Geistträger, der nicht gelästert werden darf, stützen: Durch das Fehlen der Dämonenaustreibung Q 11,14 und durch die generelle Formulierung Βεελζεβοὺλ ἔχει wird der Vorwurf der Schriftgelehrten zu einem solchen gegen die Person Jesu überhaupt, nicht nur gegen seine Exorzismen. So versteht es auch Mk in der Rahmung V 20 f.31–35. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass ausgerechnet die nur mit dem Problem der Exorzismen befassten Logien Q 11,19 f in der vormarkinischen Überlieferung fehlen. – In Mk 9,42 werden die μικροί anders als in Q als πιστεύοντες bezeichnet; mit diesem Wort, das in der Q-Parallele Q 17,1 f fehlt, wird auf jeden Fall eine den irdischen Jesus mit einschließende personale Relation bezeichnet. – Auch Mk 8,35 dürfte sich in der vorredaktionellen Fassung von seiner Q-Parallele Q 17,33 dadurch unterscheiden, dass es bereits einen expliziten Bezug auf dem geglaubten Jesus (ἕνεκεν ἐμοῦ) enthält. IV. 2 Wundergeschichten Eine Skizze der Christologie der vormarkinischen Tradition muss vor allem die Wundergeschichten berücksichtigen, die ja in erstaunlicher Weise das Markusevangelium dominieren, während sie in Q fast ganz fehlen. Versucht man im Gegenzug zur klassischen Formgeschichte21 nach dem Spezifischen zu fragen, was diese Wundergeschichten von manchen antiken Parallelen unterscheidet, so werden wir davon ausgehen müssen, dass die meisten auf die Person des Wundertäters aufmerksam machen wollen, also eigentlich Wundertätergeschichten sind.22 Das geschieht in verschiedener Weise: Die Schlussfrage der Geschichte kann auf die Person des Wundertäters aufmerksam machen: τίς ἄρα οὗτός ἐστιν …; (Μk 4,41). In die Wundergeschichten können göttliche

21 Vor allem Bultmanns Einteilung der Gattungen hat dazu geführt, dass lange die Frage nach dem die neutestamentlichen Wundergeschichten mit antiken Parallelen Verbindenden im Vordergrund des Interesses stand. 22 Solche Wundergeschichten werden in der Literatur gelegentlich als Aretalogien bezeichnet. Zur Problematik dieser Gattungsbezeichnung vgl. David L. Tiede, The Charismatic Figure as Miracle Worker, SBL.DS 1, Missoula 1972, 1 ff. Der Unterschied zwischen den Jesusgeschichten und vielen antiken Parallelen liegt nicht so sehr im Faktum der Hervorhebung des Wundertäters, als in der Art und Weise, wie er interpretiert wird.

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Züge eindringen und das Bild Jesu prägen, z. B. die Proskynese23 oder Motive von Theophanieschilderungen.24 Dadurch unterscheidet sich das Bild des vormarkinischen Jesus von den in Annäherung an den hellenistischen θεῖος ἀνήρ interpretierten, aber von Gott unterschiedenen Patriarchengestalten des hellenistischen Judentums, z. B. Mose,25 aber nicht von denjenigen hellenistischen θεῖοι ἄνδρες, für die gerade die Vermischung von Menschlichem mit Göttlichem charakteristisch ist. Die nächsten religionsgeschichtlichen Analogien zum vormk WundertäterJesus liegen also wohl im hellenistischen Bereich. Aber auch hier gilt es, nicht vorschnell durch die Etikette θεῖος ἀνήρ die Eigentümlichkeiten des vormarkinischen Jesusbildes zuzudecken.26 Suchen wir diejenigen Gestalten des Hellenismus heraus, die dem θεῖος ἀνήρ der Markustraditionen am nächsten verwandt sind, nämlich jene Gottmenschen, die sich durch charismatische und thaumaturgische Tätigkeit auszeichneten, wie etwa Menekrates von Syrakus oder Apollonios von Tyana, so wird der Vergleich durch die schlechte Quellenlage erschwert. Entweder sind uns keine Quellen mehr erhalten, oder sie sind anderer Art als das Markusevangelium. Das gilt auch für die Apollonius-Biographie des Philostrat. Er benutzt zwar Traditionen, denen es wie den Markusstoffen darum geht, die Macht des θεῖος ἀνήρ zu verherrlichen und zu verkünden. Selber ist er aber daran interessiert, seinen Helden als wahren σοφός und Philosophen, nicht aber als bloßen Zauberer und Goëten darzustellen. Philostrat unterscheidet sich auch dadurch von den markinischen Texten, daß er für ein gebildeteres Leserpublikum schreibt.27 Parallelen aus der Antike, welche direkt das Wunder in den Dienst religiöser Verkündigung stellen, gibt es zwar auch, aber fast nur als

23 Proskynese (Mk 5,6; vgl. 1,40) erfolgt vor Göttern, im Orient auch vor Herrschern, (bei Sklaven) vor Herren, im A. T. auch vor hervorragenden Geistträgern, z. B. vor Elisa (2 Kön LXX 2,15; 4,37). 24 Am deutlichsten in Mk 6,45–52. Die nächsten Sachparallelen zu diesem Text stammen aus hellenistischen Theophanieschilderungen, vgl. die Parallelen bei Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 31957, 252 f. Die einzelnen Motive sind aber z. T. stark alttestamentlich geprägt: Der die durch die übernatürliche Erscheinung entstandene Furcht zerstreuen wollende Zuruf Jesu μὴ φοβεῖσθε ist im A. T. bei Orakeln und Theophanieschilderungen häufig. AT.lich geprägt sind auch Offenbarungsformel ἐγώ εἰμι und das geheimnisvolle „er wollte an ihnen vorübergehen“ (V 48, vgl. Ex 33,19.22; 1 Kön 19,11; Gen 32,32 LXX). 25 Vgl. dazu Tiede, Charismatic Figure (o. Anm. 22), 101ff; Wayne A. Meeks, The Prophet-King. Moses Traditions and the Johannine Christology, NT.S 14, Leiden 1967, 100 ff. 26 Vgl. die scharfe Warnung von Hans Conzelmann, Literaturbericht zu den synoptischen Evangelien, ThR 37 (1972), 244 vor undifferenziertem Gebrauch von Begriffen wie „Epiphanie“, θεῖος ἀνήρ etc. Differenzierung zwischen verschiedenartigen, im Zuge religionsgeschichtlicher Typisierung oft zu schnell vereinerleiten verschiedenen Konzeptionen ist die Hauptforderung von Tiede, Charismatic Figute (o. Anm. 22), bes. 238 ff. 27 Zur Intention Philostrats vgl. Gerd Petzke, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, SCHNT 1, Leiden 1970, 63 ff.

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Aretalogien von Göttern, z. B. der Isis, des Sarapis, des Asklepios oder anderer.28 So sind die Vergleichsmöglichkeiten beschränkt. Wir stellen zunächst einmal fest, dass die mk Wundergeschichten stärker als ihre paganen Parallelen die Bedeutung der Person des Wundertäters durch einen Titel hervorheben. Die auch bei Philostrat auftauchenden Titel, z. B. σοφός, φιλόσοφος, διδάσκαλος, θεῖος etc., gehen überdies mindestens zum Teil erst auf das Konto der schriftstellerischen Tätigkeit des Philostrat,29 während in der markinischcn Überlieferung mindestens denkbar ist, dass Titel (etwa in den Akklamationen) aus theologischen Gründen (z. B. wegen des Messiasgeheimnisses) vom Evangelisten auch weggelassen wurden.30 Die Eigenart der markinischen Stoffe wird durch die Titel auch inhaltlich ein Stück weit verdeutlicht: Die in den Wundergeschichten auftauchenden Titel haben gerade nicht die Absicht, Jesus als Vertreter einer gewöhnlichen Menschen überlegenen „Kategorie“ des Gottmenschen darzutun, sondern seine Einzigartigkeit hervorzuheben. Das geschieht dadurch, dass Titel, die ursprünglich gerade nicht mit der Topik verbunden sind, sondern vom Hintergrund des alttestamentlich-jüdischen Glaubens an den einen Gott her zu verstehen sind, die Wundergeschichten interpretieren: Dazu gehören etwa ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ in 1,24 oder υἱὸς Δαυίδ in 10,47 f. Auch der Titel υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου stammt gerade nicht aus der Topik des θεῖος ἀνήρ, sondern aus der alttestamentlich-jüdischen Messiaserwartung und hat sich bereits vor Markus in Mk 5,7 mit einer Wundergeschichte verbunden,31 um dann bei Markus vollends wichtig zu werden. Auch die Verklärungsgeschichte kann deutlich machen, wie die vormarkinische Tradition gerade mit Hilfe dieses Titels die Einzigartigkeit Jesu ausdrückte. Im Falle von Mk 2,1–12 ist die Wundergeschichte durch den sekundären Einschub von 2,5 b–10, der auch den Menschensohntitel beisteuerte,32 zu einer auf die überragende Vollmacht des Menschensohns Jesus hinzielende Geschichte geworden – das dürfte der primäre Sinn des Einschubs gewesen sein. Der Titel „Menschensohn“, mit dem Jesus in 2,10 (vgl. 2,28) als der nach 2,7 Gottes Vollmacht in Anspruch Nehmende charakterisiert wird und der in den Leidensankündigungen dem Auferstehenden zukommt, bezeichnet eine einzigartige Würde Jesu und hebt ihn über alle anderen charismatischen 28 Vgl.

die Belege bei Arthur D. Nock, Conversion, Nachdruck Oxford 1972, 84 ff. Petzke, Apollonius (o. Anm. 27), 191 ff. 30 Theißen, Wundergeschichten (o. Anm. 2), 169 ff. 31 Wülfing v. Martitz, Art. υἱός κτλ., ThWNT VIII, 339,29ff stellt fest, dass in den θεῖος-ἀνήρ-Traditionen der Titel „Gottessohn“ nur in speziellen Fällen (bei göttlichen Ärzten wie Asklepios und seinen Söhnen oder im Herrscherkult) in alte Zeit zurückgehe, also keineswegs als für die Topik des θεῖος ἀνήρ im 1. Jahrhundert n. Chr. bezeichnend gelten könne. Das legt nahe, dass der Titel „Gottessohn“ in Mk 5,7 keine selbständige Wurzel in der θεῖος ἀνήρ-Überlieferung hat, sondern aufgrund einer innerchristlichen Traditionsentwicklung vermutlich aus der davidischen Messiaserwartung in die Wundergeschichte eingedrungen ist. 32 Mit den meisten Exegeten nehme ich einen sekundären Einschub in die Heilungsgeschichte an, der nie selbständig existiert hat. Damit ist auch entschieden, dass der Menschensohntitel in V 10, einem nicht selbständig tradierbaren Logion, sekundär ist. 29 Vgl.

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oder messianischen Gestalten hinaus. Im Falle der Speisungsgeschichte Mk 6,34–44 geschieht dasselbe durch das vorangestellte Wort vom guten Hirten (V 34), wobei unsicher ist, ob das bereits in der Tradition geschah oder ob erst Markus für seine Verbindung mit der Speisungsgeschichte verantwortlich ist. Wenn also Jesus durch die in den vormarkinischen Wundergeschichten vorkommenden Titel als eine einzigartige und mit andern gerade nicht vergleichbare Gestalt dargestellt wird, so wird das durch den alttestamentlich-jüdischen Hintergrund der Titel möglich. Neben den Titeln ist noch auf einige andere Eigentümlichkeiten zu verweisen, welche die Gestalt Jesu in den markinischen Wundergeschichten zu einem Sonderfall eines θεῖος ἀνήρ machen: In zahlreichen Wundergeschichten spielen implizite Gegenüberstellungen zum Alten Testament, besonders Reminiszenzen an Wunder aus dem Elia-Elisa-Zyklus bei der Entstehung und Tradierung der Perikopen eine erhebliche Rolle.33 Ob diese Reminiszenzen, die in den Texten kaum je explizit gemacht werden, den Hörern in den vormarkinischen Gemeinden bewusst gewesen waren, ist allerdings unsicher. Wenn ja, so dienten sie dazu, die Einzigartigkeit Jesu zu verdeutlichen, der eine neue, die Zeit Elias (oder in den Speisungsgeschichten die Zeit Mose) wiederholende und überbietende Heilszeit einleitet. – Das Erbarmen Jesu wird mit dem Verbum σπλαγχνίζομαι geschildert (Μk 1,41; 6,34; 8,2; 9,22), das in den Evangelien „ganz zum Attribut des göttlichen Handelns geworden“ ist.34 – Auch die Gegenüberstellung der Macht Jesu und des Versagens der Jünger (Mk 6,34–44; 8,1–10; 9,14–29) dient dazu, Jesus vor seinen Jüngern herauszuheben. – Vor allem sind die ganz auf die Person Jesu bezogenen Gespräche über den Glauben (vgl. Mk 4,40; 5,36; 9,22 f) zu erwähnen.35 In ihnen wird der Begriff des Glaubens in eigenständiger Weise profiliert: Er bezeichnet in unseren Texten das rettende Gottesverhältnis, das sich an der Begegnung mit dem Wundertäter Jesus entscheidet. Als derjenige, der den Glauben zuspricht36 und an dem sich der Glaube entscheidet, hat Jesus 33 Der Befund ist auffällig: Für Anleihen aus dem Elia-Elisazyklus kommen bei Mk ernsthaft in Frage: die Wundergeschichten Mk l,23–28; 1,40–45; 5,21–43; 6,34–44; 8,1–10, die Nachfolgegeschichten; vgl. ferner 1,12 f; 6,15; 8,28; 9,4 f.12 f; 15,35. Das Material scheint weder auf die jüdischen Vorstellungen von der eschatologischen Rolle Elias noch auf die Vorstellungen von Elia als Nothelfer zu passen. Mk 6,15; 8,28 bezeugen, dass die Berührungen Jesu mit Elia nicht nur uns, sondern auch Zeitgenossen Jesu und Menschen in den frühen Gemeinden aufgefallen sind: Jesus wird als der geschildert, der die Wunder Elias wiederholt. Liegt hier eine sehr alte, volkstümliche Christologie vor? 34 Helmut Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., ThWNT VII, 553,31. 35 Antike Parallelen bei Theißen, Wundergeschichten (o. Anm. 2), 133 ff. Die wichtigsten Unterschiede zu den antiken Parallelen sind: 1. die stärkere terminologische Konzentration auf den Wortstamm πιστ-; 2. die stärkere Konzentration des Glaubens auf den Wundertäter statt auf den Vorgang des Wunders. 3. Der Glaube hat eine völlig andere Dimension („rettender Glaube“). 36 Der theologisch reflektierte Sprachgebrauch der vormk Tradition zeigt sich daran, dass – von Mk 2,5 abgesehen – der Glaube nie habitueller Besitz der Glaubenden ist, sondern zugesprochen wird.

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für die Gemeinde der Glaubenden (vgl. 9,42) eine weit über andere θεῖοι ἄνδρες hinausreichende Bedeutung. Fazit: Es ist in.E. vorschnell, die Christologie der markinischen Wundergeschichten als θεῖος-ἀνήρ-Christologie zu bezeichnen, ohne zu betonen, dass diese Kategorien in ganz bestimmter Weise überhöht und durchbrochen worden sind. Damit stehen wir schon bei einer zweiten Feststellung, welche diese Erwägungen ergänzt: Die in der markinischen Tradition überlieferten Wunder Jesu haben für den Glauben und die Existenz der sie erzählenden und verkündenden Gemeinde eine grundlegende Bedeutung, die das, was wir hierzu aus der antiken Literatur an Parallelen beibringen können,37 weit hinter sich lässt. Ich stelle einige Beobachtungen verschiedenster Art zusammen. Die These, dass die Wundergeschichten einen Sitz im Leben u. a. in der Missionspredigt der Gemeinde gehabt haben, ist wohl für manche Wundergeschichten zutreffend.38 Aber im Unterschied zu den etwa in der Apostelgeschichte berichteten Wundern der Verkündiger, die deren Verkündigung unterstützen, sind die Wunder des Verkündigten, Jesus, zentraler Verkündigungsinhalt. Das zeigen die christologische Zuspitzung vieler Wundergeschichten und die darauf bezogenen Chorschlüsse (Mk 1,27; 4,41; 7,37). In zahlreichen Akklamationen der markinischen Wundergeschichten scheint die Reaktion der Zuhörer auf die christliche Missionspredigt und die christlichen Wunder anzuklingen.39 Daneben sind die Wunder Jesu aber auch für das Leben der Gemeinde grundlegend: Nicht nur Jesus, sondern auch die christliche Gemeinde vollbringt Wundertaten (Mk 6,7.13; 9,28 f.38–40). Diese Wunder geschehen aber im Namen oder durch Bevollmächtigung Jesu; d. h. Jesu eigene Taten konstituieren ein Stück Lebenswirklichkeit der Gemeinde. Der von Jesus zugesprochene wunderbare Glaube (Mk 11,23 f) und die von Jesus geübte Sündenvergebung (Mk 11,25) wird auch in der Gemeinde unter Berufung auf die Vollmacht Jesu (vgl. 11,25) praktiziert. Da sich die Gemeinde als Glaubende versteht, geht es in denjenigen Wundergeschichten, wo Jesus Kranke zum Glauben auffordert oder ihnen Glauben zuspricht, um ihre eigene Sache, ihr eigenes Christsein. Jesus dürfte selbst vom Glauben gesprochen haben; aber es gibt auch Stellen, wo erst die Gemeinde das Glaubensmotiv in eine 37 Die

nächsten Sachparallelen finden sich bezeichnenderweise im Judentum, wo Mose nicht nur durch seine Rolle in der Israel konstituierenden Geschichte, sondern auch für die Frömmigkeit des Einzelnen als vollkommenster Mensch (Philo. Vit Mos 1,1) und Hierophant (vgl. Philo, Somn 1,164) wichtig ist, allerdings neben anderen Gestalten der Geschichte Israels. Im Bereich des Hellenismus könnte man am ehesten an diejenigen ἀρεταί von Göttern denken, die einen Kultus entstehen ließen, z. B. an das hilfreiche Eingreifen des Sarapis bei der Begründung seines Kultes in Delos (Ditt. Syll. IV Nr. 663). Dennoch bleibt jene Geschichte im Rahmen einer lokalen Kultätiologie stehen, die für die Sarapisreligion im Ganzen nur periphere Bedeutung hat. 38 Vgl. dazu die Ausführungen von Koch, Wundererzählungen (o. Anm. 2), 25ff und Theissen, Wundergeschichten (o. Anm. 2), 257 ff. 39 Theißen, Wundergeschichten (o. Anm. 2), 165 f.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

Wundergeschichte eingetragen hat, z. B. bei der Sturmstillungsgeschichte (4,40), wahrscheinlich aber auch bei der Heilung des Epileptischen (Mk 9,21ff).40 Der Grund, weswegen das Glaubensmotiv von der Gemeinde in Wundergeschichten eingetragen wurde, kann nur darin liegen, dass in der Erwähnung des Glaubens die Gemeinde ein Stück Relevanz dieser Geschichten für ihre eigene Wirklichkeit sah. Das heißt dann etwa für die Geschichte von der Sturmstillung, dass nicht erst der Evangelist Matthäus, sondern bereits die Gemeinde vor Markus in der Situation der im Schiff vom Sturm bedrängten Jünger (Mk 4,35–41; 6,45–52) ihre eigene Situation dargestellt sah,41 ja, u. U. diese Geschichten nach biblischen und profanen Analogien gerade deswegen gebildet hat. Schließlich ist noch auf die Speisungsgeschichten (Mk 6,34–44; 8,1–10) hinzuweisen: Ihre traditionsgeschichtliche Entwicklung braucht hier nicht im einzelnen diskutiert zu werden; es genüge der Hinweis, dass die Formulierungen in 6,41 bzw. 8,6 von Hörern, welche die Abendmahlsparadosis von Mk 14,22–25 kannten, nicht ohne Erinnerung daran verstanden werden konnten.42 Das heißt: Die Hörer der Speisungsgeschichten dachten beim Hören an ihre eigenen Erfahrungen, an die Gabe des Herrenmahls, die sie selbst von Jesus empfangen hatten. Matthäus hat auch hier nur bereits vorliegende Verständnishorizonte verdeutlicht. Fazit: Die Wundergeschichten haben für die Gemeinde eine grundlegende Funktion, weil sie ihre eigene Wirklichkeit durch den irdischen Jesus konstituiert weiß. Dem entspricht, dass die Bedeutung Jesu in diesen Wundergeschichten die Dimension des θεῖος ἀνήρ sprengt. Die Wundergeschichten haben also für die Gemeinde in diesem Sinn kerygmatische Funktion. Ihrer Wichtigkeit entspricht die große Zahl der in der markinischen Tradition überlieferten Wundergeschichten. IV. 3 Apophthegmen Apophthegmen, vor allem Streitgespräche, sind neben den Wundergeschichten die zweite in der markinischen Überlieferung hervortretende Gattung. Wiederum bietet Q, wo nicht Streitgespräche, sondern weisheitliche Worte und Gerichtsworte dominieren, die höchstens gelegentlich mit einer sekundären biographischen Rahmung versehen wurden, ein ganz anderes Bild. Bultmann suchte den Sitz im Leben der Streitgespräche in den Auseinandersetzungen zwischen der christlichen Gemeinde in Palästina43 und ihren jüdischen Gegnern. Die Form der Streitgespräche sei die der rabbinischen Disputation.44 Wiederum 40 Mit Jürgen Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1970, 143ff und Theißen, Wundergeschichten (o. Anm. 2), 139. 41 Vgl. Hans Conzelmann, Auslegung von Markus 4,35–41par.; Markus 7,31–37par.; Röm 1,3 f, EvErz 20 (1968), 251 f; Koch, Wundererzählungen (o. Anm. 2), 97 f. 42 Vgl. schon Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 31959, 92. 43 Bultmann, Tradition (o. Anm. 24), 49. 44 Ebd. 42 ff.

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition

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scheint mir, dass mit dieser Einordnung der markinischen Streitgespräche in eine den christlichen Raum überschreitende Gattung ihre Eigenart nicht voll zur Geltung kommen könne. Wir brauchen die Frage, ob es wirklich möglich ist, die Apophthegmen unter einseitiger Hervorhebung rabbinischer und unter starker Vernachlässigung hellenistischer Analogien im Unterschied zu den Wundergeschichten als palästinisch zu bezeichnen,45 hier nicht zu diskutieren. Nicht nur die einseitige Bevorzugung rabbinischen Parallelenmaterials vor hellenistischem, sondern auch die zunehmende Einsicht in die Unmöglichkeit einer pauschalen Unterscheidung zwischen „palästinisch“ und „hellenistisch“ macht die Thesen Bultmanns problematisch. Vielmehr soll es hier darum gehen, einige Eigenarten der markinischen Apophthegmen gegenüber ihren jüdischen und hellenistischen Parallelen herauszustellen. Hier sind zu nennen: 1. die Dominanz der Streitgespräche gegenüber den im rabbinischen Bereich dominierenden Schulgesprächen. Dabei reicht der Hinweis auf die Auseinandersetzungen der Gemeinde mit dem Judentum zur Erklärung m. E. nicht aus. Es fällt auf, dass in manchen Streitgesprächen die Gegner nur vom Hörensagen bekannt zu sein scheinen und entsprechend unzutreffend geschildert werden.46 Die Fragen und Einwände an Jesus sind im Munde der Gegner nicht immer passend und oft nur auf den Skopus des Textes hin entworfen. Ein Beispiel dafür ist die Frage der Pharisäer in Mk 10,2. Die Typisierung der Gegner Jesu ist sehr weit fortgeschritten, z. B. in Mk 2,6–8. Es scheint, dass die Gattung Streitgespräch auch abgesehen von konkreten Auseinandersetzungen der Gemeinden mit jüdischen Gegnern wichtig gewesen ist, weil sie geeignet war, die Vollmacht Jesu zu zeigen. An dieser Stelle entsprechen sich die Intention von Streitgesprächen und Wundergeschichten:47 Es geht in beiden um die Vollmacht Jesu in Wort und Tat. Dem entsprechen auch die nicht selten auftauchenden Mischformen: Ein Wunder wird zum Anlass eines Streitgespräches (Mk 2,1–12; 3,1–6; vgl. 9,14–29). Formelemente der Wundergeschichten finden sich auch im Streitgesprächen, z. B. der als Reaktion auf Jesu Vollmachtstat verständliche Chorschluß (Mk 12,17 b: θαυμάζω). Auf der anderen Seite wird bereits vor Markus, nicht erst bei Matthäus, das Gespräch Jesu mit den Geheilten oder ein Wort Jesu 45 Auf hellenistische Parallelen („Chrien“) weist yor allem Dibelius, Formgeschichte (o. Anm. 42), 149 ff. Seine Bestimmung der Gattungen von ihrem Sitz im Leben in der christlichen Gemeinde her, also der Apophthegmen und anderen Kurzgeschichten als „Paradigmen“, öffnet auch den Blick für die unten zu besprechende sachliche Nähe zwischen vielen Wundergeschichten und Streitgesprächen. Allerdings – und hier liegt m. E. die größte Schwierigkeit seines Entwurfs – kann man m. E. für die wenigsten evangelischen Texte damit rechnen, dass sie nur einen Sitz im Leben gehabt haben. 46 Z. B. Mk. 2,15: die Pharisäer sind kaum bei einem Zöllnergastmahl anwesend; Mk 2,24: die Pharisäer spazieren kaum am Sabbat über die Felder; Mk 2,18: die Pharisäer haben keine Jünger. 47 Auf die Berührungen zwischen Streitgesprächen und Exorzismen verweist auch James M. Robinson, Das Geschichtsverständnis des Markus-Evangeliums, AThANT 30, Zürich 1956, 55 ff.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

für die Deutung von Wundergeschichten wichtig.48 Wenn H. W. Kuhn mit seiner Exegese von Mk 2,28 recht hat, so haben wir in diesem Vers den Abschluss einer vormarkinischen Streitgesprächsammlung erhalten, die zeigt, worum es im Sinn der Gemeinde in den vier Streitgesprächen von Mk 2 ging: Um die Vollmacht des Menschensohns, die er auch über den Sabbat erweist.49 Mk 8,11; 10,2 und 12,13 enthalten das Motiv der Versuchung, die Jesus durch sein souveränes Handeln besteht. Auch für den Evangelisten Markus liegt das Gewicht bei den Streitgesprächen auf der Person Jesu: In 3,6 lässt er die erste Reihe der Streitgespräche mit dem Todesbeschluss gipfeln. In 12,1–34 geht es ihm darum, Jesus vor seinem Tod durch seine vollmächtige Lehre seine verschiedenen Gegner überwinden zu lassen. Darum auch der Schluss in Mk 12,34 b: „Niemand mehr wagte ihn zu fragen“, der – falls er nicht schon vormarkinisch ist – immerhin zeigen kann, wie Markus die ihm aus der Gemeinde überkommenen Streitgespräche verstanden haben wollte. Fazit: Mit Hummel, Minette de Tillesse und anderen50 würde ich das Interesse der Gemeinde an den Streitgesprächen stärker als Bultmann als christologisches bestimmen.51 2. Gegenüber rabbinischen wie hellenistischen Parallelen fällt auf, dass der Situation in den markinischen Streitgesprächen oft größere Bedeutung zukommt.52 Ausführliche Situationsschilderungen sind nicht selten.53 Die Ausführlichkeit der Situationsschilderungen scheint mir einen doppelten Grund zu haben: Sehr oft geht es in den Apophthegmen um bestimmte Verhaltensweisen der Gemeinde, die im Text geschildert und durch den Text begründet werden sollen. Bultmann hat darauf ausführlich hingewiesen,54 sodass hier wenige Hinweise genügen: In Mk 2,18–22 lässt die Gemeinde nicht nur ihre ursprüngliche, sondern auch ihre gegenüber der ursprünglichen wieder geänderte Fastenpraxis durch ein Wort des irdischen Jesus autorisiert sein (2,20). In den Apophthegmen von Mk 10 wird – in einer vormarkinischen Sammlung? – eine „Lebensordnung“ für bestimmte Bereiche des Gemeindelebens entworfen.55 In den Apophthegmen geht es also um das Leben der Gemeinde, aber nicht einfach so, dass Jesus bloß als 48 Vgl. z. B. Mk 2,1–12; 4,35–41; 5,25–34; 7;24–30; 9,14–29; 10,46–52, wobei mindestens in einigen Fällen das Gespräch traditionsgeschichtlich eine sekundäre Erweiterung ist, also das Interesse der Gemeinde spiegelt. 49 Kuhn, Ältere Sammlungen (o. Anm. 6), 73. 83. 50 Reinhart Hummel, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvTh 35, München 1963, 53 f; Gaëtan Minette de Tillesse, Le Secret Messianique dans l’Evangile de Marc, LeDiv 47, Paris 1968, 112 ff. 51 Vielleicht ist es auch nicht zufällig, dass wir in Q nur Nachfolgeparadigmen haben, bei denen die Wirkung des Rufes in die Nachfolge nicht erwähnt wird (Q 9,57–60), während es bei Markus in 1,16–18.19 f und 2,15 darum geht, die Menschen überwältigende Wirkung von Jesu vollmächtigem Ruf in die Nachfolge herauszustellen. 52 Vgl. Dibelius, Formgeschichte (o. Anm. 42), 158. 53 Mk 2,1–4.15.23; 7,2; 8,11 etc. 54 Bultmann, Tradition (o. Anm. 24), 50. 55 Kuhn, Ältere Sammlungen (o. Anm. 6), 173.

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition

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Lehrer auftritt, sondern so, dass er in seiner Vollmacht ein bestimmtes Verhalten der Gemeinde nicht nur gebietet, sondern auch begründet und ermöglicht. Die Praxis der Gemeinde ist nicht ohne weiteres eine allgemein einsichtige und die Freiheit der Gemeinde nicht eine selbstverständliche, sondern eine von Jesus vermittelte und geschenkte.56 Darum wird so oft das Handeln der Gemeinde, etwa ihre Freiheit vom Sabbatgebot, nicht nur durch Jesu Wort, sondern auch durch Jesu Tat begründet. Diesen Zusammenhang von Leben der Gemeinde und Leben Jesu vermögen die Apophthegmen in hervorragender Weise zu erläutern. Im Unterschied zur paulinischen Dialektik von Indikativ und Imperativ erfolgt dabei die christologische Verankerung des Verhaltens der Gemeinde nicht von dem von Tod und Auferstehung Jesu her verstandenen Heilswerk, sondern von der vollmächtigen Lehre und vom vollmächtigen Handeln des irdischen Jesus her. Fassen wir zusammen, so zeigt sich, wie nahe Apophthegmen und Wundergeschichten zusammengehören: Hier wie dort ist der christologische Skopus, die Vollmacht und die Tat des irdischen Jesus wesentlich. Hier wie dort geht es darum, dass Jesus sich gegenüber der „Welt“ durchsetzt. Hier wie dort zeigt sich, dass die Gemeinde in ihrer konkreten Existenz durch den irdischen Jesus grundlegend bestimmt ist.

V. Ergebnisse und Fragen Unsere Frage war, ob es methodisch möglich sei, durch eine Untersuchung der Differenzen zwischen markinischen und Q-Varianten, durch Untersuchungen zu den markinischen Vorzugsgattungen und ihren spezifischen Formen sowie durch die Untersuchung der gemeinsamen Tendenzen, die in einzelnen Texten verschiedener Gattungen festzustellen sind, ein Bild der vormarkinischen Gemeinde zu bekommen. Unsere Untersuchung war fragmentarisch, sowohl was die Textauswahl im Ganzen, als auch, was die thematischen Gesichtspunkte betrifft. Sie müsste ausgedehnt werden in textlicher Hinsicht, z. B. auf die Passionsgeschichte, und in inhaltlicher Hinsicht, z. B. auf das Gesetzesverständnis der vormarkinischen Gemeinden. Die vorläufige Untersuchung brachte aber dennoch gewisse Ergebnisse: 1. Eine Differenzierung zwischen grundlegenden Tendenzen der Q-Stoffe und solchen der im Markusevangelium überlieferten Stoffe ist ziemlich deutlich möglich.

56 Nur am Rande wird mit dem Evidenzprinzip gearbeitet und das Verhalten der Gemeinde als das eigentlich allein vernünftige und einleuchtende dargestellt. Seinen klassischen Ausdruck hat das Evidenzprinzip im Lasterkatalog Mk 7,21 f und vor allem in 7,19 gefunden.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

2. Im markinischen Traditionskreis stoßen wir auf das Vorherrschen eines Typus des Kerygmas, der sich dadurch auszeichnet, dass der irdische Jesus für die Wirklichkeit und das Leben seiner Gemeinde schlechthin konstitutiv ist. Der Blick ruht dabei auf dem Leben der Gemeinde in der Gegenwart, die durch die im Leben des irdischen Jesus geschehene Präsenz des Heils bestimmt ist. Es ist der irdische Jesus, der in diesen Texten als Grund des Glaubens erscheint. Dabei werden Kategorien aus dem weiten Feld der θεῖος-ἀνήρ-Topik zu seiner Schilderung verwendet. Aber gerade deswegen, weil die exklusive Berufung auf Jesus für die Gemeinde grundlegend ist, genügt die Kennzeichnung der vormarkinischen Christologie als θεῖος-ἀνήρ-Christologie nicht. 3. Dieser für den Glauben konstitutiven Berufung der Gemeinde auf den irdischen Jesus entsprechen in hervorragender Weise die Gattungen der Wundergeschichte und des Apophthegma. Die Bevorzugung dieser Gattungen hat theologische Bedeutung: Da in ihnen der grundlegende Bezug des Glaubens auf den irdischen Jesus in formal ähnlicher Weise ausgedrückt ist wie später im Markusevangelium, dürfen sie im weitesten Sinn als eine Keimzelle des späteren Evangeliums verstanden werden. 4. Theologisch stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Auferstehungskerygmas im Bereich der vormarkinischen Gemeinden. Unsere Skizze ist davon ausgegangen, dass sich die Gemeinde am irdischen Jesus orientiert hat und von ihm her bestimmt ist. Um dieses Bestimmtsein zu begründen, erweist sich der explizite Verweis auf die Auferstehung Jesu im der Regel als nicht nötig. Dem entspricht, dass das Auferstehungskerygma in Markusevangelium durch die Geschichte vom leeren Grab in verhältnismäßig peripherer Weise vertreten ist. Gewichtiger ist es in den Leidensankündigungen, aber auch dort ist es nicht auf seine eschatologische Bedeutung hin entfaltet. Es liegt aber nicht in der Absicht dieses Aufsatzes, aus der hier formulierten Frage eine These zu machen.57

57 Die These von einem hinter den markinischen Wundergeschichten stehenden nicht im Auferstehungsglauben zentrierten Kerygma wird in vorsichtiger Weise von Köster, Grundtypen und Kriterien (o. Anm. 19), 195 vertreten, sehr konstruktiv von Gottfried Schille, Die urchristliche Wundertradition, AzTh I 29, Stuttgart 1967, 42ff; vgl. ders., Osterglaube, AzTh I 51, Stuttgart 1973, 31 ff. Ich bin hier zurückhaltend.

26. Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17) Ein Gespräch mit Jean Zumstein I. Hinführung und These Literarkritische Schichtungshypothesen im Johannesevangelium haben heute keine Konjunktur. In den neuesten Kommentaren dominieren moderate Schichtungs‑ und Glossenhypothesen, wenn nicht überhaupt auf solche verzichtet wird.1 Die Zurückhaltung hat zwei Hauptgründe: Einerseits verstehen viele Exegeten das Johannesevangelium als Produkt einer christlichen Schule, welche ihren eigenen besonderen Sprach‑ und Denkstil pflegte und ihre eigenen theologischen Anschauungen vertiefte und weiterentwickelte. Wo man aber keine wirklichen Unterschiede im Stil und im Vokabular mehr feststellen kann und wo es theologisch keine Brüche und unterschiedlichen Positionen mehr gibt, wird der Nachweis, dass unterschiedliche Autoren an der Abfassung eines Textes beteiligt gewesen sind, schwierig. Andererseits erkennt man immer deutlicher, dass der Denkstil der Reden Johannesevangeliums ein ganz besonderer ist: Es ist oft nicht möglich, einen klaren, logischen Gedankenaufbau einer Rede zu konstatieren. Zwar gibt es immer wieder eindeutige, etwa durch wiederholte Stichworte gekennzeichnete Abschnitte mit einer thematischen Einheit. Und es gibt immer wieder Zuspitzungen, Höhepunkte und oft einen klaren Ausgangs‑ und Zielpunkt einer Rede. Aber ebenso oft hat man den Eindruck von Motiv‑ und Themengeflechten, deren einzelne Fäden eher assoziativ als logisch-stringent miteinander verbunden sind. Oft wird ein Thema nur angetippt oder kurz in einem Aspekt beleuchtet, um dann liegen gelassen und an späteren Stellen im Evangelium wieder aufgenommen zu werden. Man hat dann den Eindruck, 1 Ein Beispiel dafür ist die 2003 posthum veröffentlichte neue Kommentareinleitung von Raymond E. Brown zu seinem Johanneskommentar. Er reduziert die Zahl der in seiner früheren Einleitung postulierten Entwicklungsstadien der Niederschrift des Evangeliums auf dasjenige des Evangelisten und des Endredaktors und sagt zu Kap. 15–17 nur noch vorsichtig: „Many think he (sc. der Endredaktor) added such a collection (sc. von joh. Abschiedsredentexten) to the Last Supper Discourse of Jesus in chs. 15–17“, um am Schluss des Abschnittes mit Alan Culpepper emphatisch zu sagen: „In the present form, if not in its origin, the Gospel must be approached as a unity, a literary whole“ (Raymond E. Brown (hg. Francis Moloney), An Introduction to the Gospel of John, AncB Reference Library, New York etc 2003, 84. 86).

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

johanneisches Denken umkreise eher die Fülle der göttlichen Offenbarung, die Person des Offenbarers und die verschiedenen Aspekte des christlichen Lebens, als dass es zielgerichtet und argumentativ sei. In solchem assoziativem und kreisenden Denken Brüche festzustellen, die nach einer diachronen Erklärung verlangen, ist schwierig.2 Für Jean Zumstein war es vor allem der erste dieser beiden Aspekte, der ihn zu einem sehr moderaten Diachroniemodell geführt hat. Abgesehen von Kapitel 213, ist es nach ihm vor allem die zweite Abschiedsrede Joh 15,1–16,33, welche der ersten Abschiedsrede sekundär zugefügt wurde.4 Das Abschiedsgebet Joh 17, welches Themen des ganzen Evangeliums, besonders aber der Abschiedsreden – auch der zweiten – wieder aufnimmt,5 ist dann wohl ein weiterer „Nachtrag“. In welcher Weise er auch im ersten Teil des Johannesevangeliums mit verschiedenen Verfassern rechnet, wird der erste Band seines Kommentars zeigen, auf den wir noch warten.6 Viel wichtiger als die Annahme von unterschiedlichen Händen, welche am Johannesevangelium gearbeitet haben, ist aber für ihn das Konzept der „Relektüre“: Ein „Relektüreprozess“ liegt dann vor, „wenn ein erster Text die Produktion eines zweiten Textes veranlasst und dieser zweite 2 Illustrativ

für die Schwierigkeiten, auf die die Literarkritik im Bereich der johanneischen Abschiedsreden stiess, sind die zahlreichen Vorschläge, die Abschiedsreden als eine Sammlung von eigenen Texten des Evangelisten zu sehen. Vgl. z. B. Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie III, WUNT 117, Tübingen 2000, 118: Für ihn stammen die Abschiedsreden Joh 15–17 „gleichfalls vom Evangelisten“. Sie enthalten Variantentexte, die stehen geblieben sind, weil der Evangelist sein Werk nicht mehr endgültig redigieren konnte. Ähnliches schlug schon Charles H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1960, 407 vor. Einen etwas anderen Vorschlag machte Barnabas Lindars, The Gospel of John, NCeB, London 1972, 50 f: Joh 15 f ist ein vom Evangelisten verfasster „supplementary discourse, added in the second edition“. Im Unterschied zu Frey kann Lindars mit seiner (nur postulierbaren!) These von einer zweiten Edition des Evangeliums die vielen Beobachtungen berücksichtigen, die für eine sorgfältig konzipierte Abfolge der fünf Kapitel 13–17 sprechen. Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, 2. Teilband: Kapitel 11–21, ThKNT IV/2, Stuttgart 2001, 136 rechnet in den Abschiedsreden mit unterschiedlichen eigenen Textfassungen, auf die der Evangelist nicht verzichten wollte. – Eine andere Möglichkeit, mit der Schwierigkeit fertig zu werden, dass innerhalb von Joh 13–17 eigentlich alle Textabschnitte „völlig joh.“ sind, stellen die Umstellungsvorschläge dar, welche Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 151957 (Zitat 349) gemacht hat: Er platziert Joh 17 zwischen Joh 13,30 und 31 und Joh 15,1–16,33 hinter Joh 13,35. Sie haben mit gutem Grund in der Forschung keinen Anklang gefunden. 3 Vgl. Jean Zumstein, Die Endredaktion des Johannesevangeliums (am Beispiel von Kapitel 21), in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, AThANT 84, Zürich 22004, 291–315. 4 Jean Zumstein, L’évangile selon saint Jean (13–21), CNT IVb, Genève 2007, 90. Wichtig ist für ihn die Arbeit von Andreas Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten, FRLANT 169, Göttingen 1995, welcher Joh 15,1–17 als Relecture von Joh 13,1–17 und 13,34 f und Joh 16,4 b–33 als Relecture von Joh 13,31–14,31 versteht. 5 Zumstein, Saint Jean II, 161 f. Dettwiler a. a. O. (Gegenwart), 271 formuliert in Bezug auf Joh 16,4 b–33, diese Rede sei „von Anfang an als Vertiefung und Weiterführung, kurz: als Explikation von 13,31–14,31 konzipiert worden“. 6 Nachtragsanmerkung: Der erste Band des Kommentars ist inzwischen erschienen: Jean Zumstein, L’évangile selon saint Jean (1–12), CNT IVa, Genève 2014.

26. Relektüre? Reprise!

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Text seine volle Verständlichkeit erst in Bezug auf den ersten Text gewinnt“7. Der zweite Text ist nur im Blick auf den ersten voll verständlich. Es ist einleuchtend, dass dieses Verfahren ein hohes Mass an Kontinuität in einer Erinnerungs‑ und Traditionsgemeinschaft voraussetzt, welche den Nachweis „verschiedener Hände“ apriori schwierig macht. Ich werde im folgenden Gespräch mit Jean Zumstein die These vertreten, dass eine „Relektüre“-These mindestens ebenso gut, wahrscheinlich aber leichter zu vertreten ist, wenn man auf die Annahme „verschiedener Hände“ verzichtet und annimmt, dass ein und der selbe Verfasser Motive und Themen seines eigenen vorangehenden Textes wieder aufnimmt, wiederholt, expliziert, vertieft, unter neuen Aspekten beleuchtet und so weiterführt. Da „relecture“ von Zumstein in der Regel als intertextueller Rezeptions‑ und Produktionsvorgang verstanden wird, der erlaubt, „die joh. Literarkritik in einer anderen Perspektive wahrzunehmen“8, möchte ich in diesem Fall nicht von „Relektüre“, sondern lieber von intratextueller „Reprise“ (Wiederaufnahme) liegen gelassener Themen und Motive, Vertiefung und Weiterführung durch denselben Autor sprechen. Ich denke, dass diese Art der wiederholenden und vertiefenden Didaktik für das ganze Johannesevangelium charakteristisch ist und nicht nur für die Abschiedsreden. Solche „Reprisen“ kommen auch im ersten Teil des Evangeliums häufig vor und lassen sich m. E. kaum je mit literarkritischen Schichtungshypothesen auf plausible Art und Weise kombinieren. Bei den Abschiedsreden ist dies allerdings leichter möglich, denn es gibt mindestens zwei handfeste Argumente dafür, dass Joh 15,1–16,33 einem zweiten, späteren Autor aus der johanneischen Schule zu verdanken sind. Sie möchte ich im folgenden Abschnitt II besprechen, relativieren (= a] und b]) und ihnen zwei Argumente für meine eigene These, dass die ganze Abschiedsrede von einem einzigen Verfasser stammt, gegenüberstellen (= c] und d]).

II. Gegenargumente und Argumente a) Das stärkste Argument dafür, in Joh 15–17 eine zweite, sekundäre Abschiedsrede mit abschliessendem Gebet Jesu zu sehen, war seit jeher Joh 14,31 c. Die natürlichste Deutung von ἐγείρεσθε ἄγωμεν ἐντεῦθεν ist gewiss diejenige, dass Jesus seine Jünger zum Aufbruch von dem nicht genannten Ort, an dem er bisher zu den Jüngern gesprochen hat, auffordert, weil nun seine Verhaftung naht.9 7 Jean Zumstein, Der Prozess der Relektüre in der johanneischen Literatur, in: ders., Kreative Erinnerung (o. Anm. 3), 15. 8 Zumstein a. a. O. (Prozess), 24; ähnlich auch Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 46. Auch nach Dettwiler gibt es die Möglichkeit „autographer“ (statt „allographer“) Relecture (ebd. 51). Sie wird aber von ihm nicht ernsthaft in Betracht gezogen. 9 Für diese „natürliche“ Interpretation spricht auch die sehr enge Parrallele Mk 14,42/Mt 26,46: ἐγείρεσθε ἄγωμεν. Die Fortsetzung (καὶ  … ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος in Mk 14,43Parr.)

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

Am natürlichsten wäre es also, 14,31 c als Übergang zu 18,1 zu verstehen – nur kommen dieser „natürlichen“ Deutung leider die dazwischen stehenden Kapitel 15–17 in die Quere. Allerdings ist der Übergang nicht glatt, denn in 13,31 a hiess es bereits von Jesus, er sei „hinausgegangen“ (ἐξῆλθεν), was in 18,1 wiederholt wird; die vorgestellte „Geographie“ bleibt also unklar.10 Alle Versuche, 14,31 c in irgend einer Weise übertragen zu deuten, scheinen aber heutigen Lesern künstlicher.11 Den wichtigsten Einwand gegen die „natürliche“ Deutung hat Jean Zumstein formuliert: Wenn 14,31 c für den Evangelisten oder einen Endredaktor des Evangeliums ebenso störend gewesen wäre wie für moderne Literarkritiker, so wäre es für ihn leicht gewesen, die letzten drei Worte von V 31 wegzulassen. Der Endredaktor deutet also nach ihm V 31 c wohl als ein Signal an den Leser, das sie zu einem „processus de relecture“12 auffordert, der mit der zweiten Abschiedsrede in Kap. 15 f beginnt. Die „natürliche“ Deutung von 14,31 c, die den Schluss von Kapitel 14 mit Kapitel 18 zusammenbindet, ist also keineswegs ohne Schwierigkeiten.13 Es ist m. E. möglich, den Tiefensinn der drei Worte als Erinnerung an die Leser zu verstehen, dass auch sie sich, wie damals Jesus und die Jünger, mitten in der „Nacht“ (13,30) befinden und dass auch ihre eigene Passion noch bevorsteht. Aus dieser Dunkelheit sollen sie „aufbrechen“ – aber ihr „Aufbruch“ kann gar nicht anders erfolgen als so, dass sie hören und verstehen lernen, was der weggehende und wiederkommende Jesus ihnen sagen wird. Ein unüberwindliches Hindernis gegen die Möglichkeit, die Abschiedsrede 13,31–17,26 als einen einheitlichen, von einem Verfasser stammenden Text zu deuten, stellt 14,31 c m. E. nicht dar. b) Ein zweites, starkes Argument dafür, dass mit 15,1 eine neue, sekundäre Abschiedsrede Jesu einsetzt, ist der klare Aufbau der ersten Abschiedsrede Joh 14: Er ist zwar nicht in Einzelheiten, wohl aber im Ganzen deutlich: Der Rahmen 14,1 a und 27 c gibt ihre pragmatische Intention an: μὴ ταρασσέσθω ὑμῶν ἡ könnte nach Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 238 den Evangelisten angeregt haben, mit der Rede Jesu weiterzufahren. 10 Darauf macht schon Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 1933, 189 aufmerksam: Deutet man ἐξῆλθεν in 18,1 auf das Verlassen der Stadt, so müsste Jesus die Abschiedsrede Kap. 15 f und das Gebet Kap. 17 auf den Strassen Jerusalems gesprochen haben. Mein Fazit: Der Evangelist hat auf eine äusserliche geographische Kohärenz seiner Erzählung wenig Wert gelegt. 11 So z. B. bei Dodd, Interpretation (o. Anm. 2), 409 (es geht um einen inneren Aufbruch); ähnlich Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 636 f. Ders., Art. Johannesevangelium, TRE 17, Berlin 1988, 216 spricht pointiert von einem „Signal … nicht für den Literarkritiker, sondern für den Leser“, der vor der Passsion steht, aber noch nicht mitgehen kann, sondern „neuen Zuspruch“ brauche; ähnlich Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 235; Wengst, Johannesevangelium II (o. Anm. 2), 136. 12 Zumstein, Saint Jean II (o. Anm. 4), 89. 13 Geringer, aber dennoch notierenswert ist auch die Schwierigkeit in 17,1: Ταῦτα ἐλάλησεν Ἰησοῦς – aber damit ist nicht das Ende der Rede Jesu angezeigt, sondern Jesus spricht noch ein ganzes Kapitel lang weiter.

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καρδία. 14,28 a resumiert ihr Thema: ὑπάγω (vgl. 13,33 b.36; 14,4) καὶ πάλιν ἔρχομαι πρὸς ὑμᾶς (vgl. 14,3 b), das Weggehen und das Wiederkommen Jesu. Ihr erster Teil wird durch das Motiv des Weggehens, ihr zweiter durch dasjenige des Wiederkommens Jesu dominiert.14 In V 27 steht nicht unpassend am Ende die Friedensgabe des Abschied-Nehmenden. Die Abschiedsrede von Joh 16 endet auch mit einem Friedenswunsch (16,33), aber sonst ist ihr Aufbau im Unterschied zur ersten weniger klar. Gerade beim Vergleich beider Reden fällt auf, dass die erste Rede ein in sich geschlossenes Ganzes ist, das eigentlich keiner Fortsetzung mehr bedarf. War sie ursprünglich als Ganzes konzipiert und wurde erst später ergänzt? Schlüssig ist aber auch dieses Argument nicht. Auch eine gut konzipierte, in sich geschlossene Rede kann ergänzungsbedürftig sein. Darauf, dass dies gerade für diese „erste“ Abschiedsrede gelten könnte, weisen zwei Beobachtungen: Einerseits enthält sie, wie wir noch sehen werden, mehrere Gedanken, die nur kurz angerissen, aber nicht ausgeführt sind und die wie aphoristische Gedankensplitter im Text stehen. Sie sind ergänzungsbedürftig. Andererseits weist οὐκέτι πολλὰ λαλήσω μεθ᾽ ὑμῶν (14,30 a) gerade nicht darauf, dass Jesus den Jüngern nun gar nichts mehr sagen kann, sondern nur darauf, dass die Zeit seines Redens begrenzt ist. Die in der Welt zurückbleibenden und durch das Kommen des „Herrschers der Welt“ bedrängten Jünger bzw. Leser / ​innen werden ihm dankbar sein, wenn er noch ein kleines Weilchen mit ihnen redet. Dem gegenüber stehen zwei Beobachtungen, die deutlich dafür sprechen, dass der ganze Text der Abschiedsreden, also Kapitel 14–16 als Einheit zu verstehen ist. c) Die erste Beobachtung betrifft den Rahmen der eigentlichen Abschiedsreden. Nach der letzten Mahlzeit Jesu folgt in der markinisch / ​matthäischen Passionsgeschichte das Gespräch Jesu mit den Jüngern auf dem Wege zum Ölberg, in dem er die Jüngerflucht und die dreimalige Verleugnung des Petrus ankündigt (Mk 14,26–31/ / ​Mt 26,30–35). Dann folgt die Getsemaniszene und die Verhaftung Jesu. Der vorjohanneischen Passionsgeschichte lag vermutlich derselbe Ablauf zugrunde: Die Abschiedsreden sind also in die Episode des Weges zum Ölberg gleichsam eingelegt: Nach dem Hinausgehen aus dem Raum der letzten Mahlzeit (ἐξῆλθ‑ Mk 14,26 Par.; Joh 13,31) kündigt Jesus an ihrem Anfang die Verleugnung des Petrus (Joh 13,38 = Mk 14,29 f) und am Schluss die Zerstreuung der Jünger an (Joh 16,32 = Mk 14,27). Das Unverständnis der Jünger zeigt sich am Anfang und am Schluss der Abschiedsreden: Am Anfang manifestiert es sich in der Jüngerfrage des Petrus und des Thomas: „Herr, wohin gehst du“ (13,36; vgl. 14,5)15 und ihrer Unfähigkeit, ihm in den Tod zu folgen, 14 Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil ist allerdings sehr fliessend und nicht eindeutig festlegbar. 15 16,5 sagt Jesus das Gegenteil: „Niemand von euch fragt mich: Wohin gehst du?“ Die Stelle ist für alle Interpreten schwierig. Beliebt ist die (durch den Kontext gestützte) Deutung der Stelle als Ausdruck der Trauer: Die Trauer über Jesu Abschied hat den Jüngern gleichsam

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trotz der vollmundigen Martyriumsbereitschaft des Petrus. Am Schluss der Abschiedsreden zeigt sich ihr Unverständnis wiederum: Auf Jesu Ankündigung, die Stunde, wo er nicht mehr in Rätselbildern, sondern frei heraus (παρρησίᾳ) zu ihnen reden werde (16,25), reagieren die Jünger, als ob diese Stunde schon da sei und sie selbst im Vollbesitz direkter Erkenntnis seien: „Siehe, jetzt sprichst du frei heraus und sagst kein Rätselwort!“ (16,29 Das diesem direkten „Erkennen“ entsprungene „Bekenntnis“ der Jünger, dass Jesus allwissend sei und dass „jener Tag“, an dem Jesus keine Fragen mehr nötig hat (vgl. 16,23), schon gekommen sei16, antwortet Jesus mit einem zweifelnd-ironischen: „Jetzt glaubt ihr?“ und der Ankündigung, dass die Stunde komme und schon da sei, wo jeder seiner Jünger „zerstreut werde (σκορπισθῆτε) zu seinen eigenen (Dingen)“ und Jesus allein bleibe, von allen verlassen, nur nicht von seinem himmlischen Vater (16,32).17 Johannes erzählt zwar von keiner Jüngerflucht, weiss aber sehr wohl, dass bei der Kreuzigung Jesu nur noch der Lieblingsjünger und die beiden Marien anwesend sind.18 Von den übrigen Jüngern ist nach der Verhaftungsszene und nach der Verleugnung des Petrus nicht mehr die Rede. Der Bezug auf den den Mund verstopft und den Blick in die Zukunft verstellt (so z. B. Zumstein, Saint Jean II (o. Anm. 4), 129). Ein schöner Gedanke, der aber den Widerspruch zu 13,36; 14,5 nicht aufhebt. Oder man kann 16,5 als Steigerung deuten: Die Jünger fragen Jesus nicht mehr, wohin er gehe. Aber das steht nicht da! 16,5 als Relektüre von 13,36; 14,5 zu charakterisieren (so Dettwiler, Gegenwart [o. Anm. 4], 219 f), die den Blick auf einen gegenüber Kap. 14 neuen Aspekt, die Befindlichkeit der Jünger lenke, ist schwierig: Diese „neue Lektüre“ widerspricht der alten frontal. Richtiger ist wohl, dass Johannes an Kohärenz im Äusserlichen nicht viel liegt. Am leichtesten haben es diejenigen Interpreten, die mit zwei verschiedenen Verfassern und zwei verschiedenen Reden rechnen. Sie brauchen nur zu erklären, warum der Evangelist diese offensichtliche Inkohärenz nicht beseitigt hat. 16 Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 258 meint, dass in V 29 f „erstmals … die Jünger … als Verstehende reagieren. Ähnlich deutet Zumstein, Saint Jean II (o. Anm. 4), 154 die Jüngerantwort 16,30 b: „les disciples … s‘inscrivent dans la droite ligne du credo joh.“. Ich zweifle an dieser positiven Interpretation: Die Ankündigung Jesu in 16,25, dass die Stunde komme, wo er nicht mehr in Rätseln, sondern παρρησίᾳ über den Vater sprechen werde, beziehen die Jünger in V 29 auf ihre eigene Gegenwart und missverstehen sie grob. Die Erkenntnis der Allwissenheit Jesu war im Johannesevangelium bisher nie mehr als ein Ausdruck eines Glaubens im allerersten Anfangsstadium, vgl. 1,47–49; 4,16–19). Weiter als Nathanael in 1,49 sind die Jünger am Ende der Abschiedsrede noch nicht. Auch die Ankündigung, dass „ihr mich an jenem Tage nichts fragen werdet“ (16,23), legen die Jünger auf merkwürdige Weise aus: „Du hast es nicht nötig, dass irgend einer dich fragt“ (16,29). Was Jesus von diesem Glauben der Jünger hält, macht er in V 31 f deutlich. 17 Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 279 f deutet das Verhältnis von 16,29–32 zu 13,36– 38 als Relecture. Ich halte diese Verhältnisbestimmung nicht für sinnvoll, da kein einziger der besonderen Einzelzüge der Petrusepisode von 13,36–38, nicht einmal die Gestalt des Petrus, wieder aufgenommen ist. 18 Raymond E. Brown, The Gospel according to John XIII–XXI, AB 29B, Garden City 1966, 736 f und Christian Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes II, Joh. 13–21, ZBK IV/2, Zürich 22004, 180 f nehmen an, dass Johannes das Motiv der Jüngerflucht nicht kennt oder bewusst nicht erzählt. Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 262 spricht von einer „externen Prolepse“ (der Situation der nachösterlichen Gemeinde). Ich zweifle, dass man die joh. Passionsgeschichte so lesen darf. 18,8 f sagt nichts darüber, was die Jünger nach der Ver-

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Prätext Mk 14,27 ist in 16,32 durch das Stichwort – σκορπίζω deutlich gegeben. Die Abschiedsreden sind also gleichsam in die markinische Szene Mk 14,26–31 „eingelagert“. Das spricht m. E. deutlich für ihre Einheit. Inhaltlich entspricht dem, dass die Jünger in der Abschiedsrede durchgehend „dumme“ Fragen stellen (13,36; 14,5.8.22; 16,16–18). d) Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die Parakletsprüche. Sie sind eng mit ihrem johanneischen Kontext verflochten,19 bauen aufeinander auf, nehmen die jeweils vorangehende Verheissung des Parakleten wieder auf, vertiefen und erweitern sie. Sie stellen ein gutes Beispiel von johanneischen „Reprisen“ dar.20 Sie bilden einen „Themastrang“21, der aus verständlichen Gründen nur innerhalb der Abschiedsrede, aber zugleich: innerhalb der ganzen Abschiedsrede zu finden ist. Der erste Parakletspruch 14,16 f verheisst „einen anderen (als) Parakleten“. Ich lasse es offen, ob der Ausdruck παράκλητος für die Leser des Johannesevangeliums zunächst „ein blosses X“22 ist, das sie mithilfe des folgenden Textes zu füllen haben, oder ob sie an den in den Himmel erhöhten Christus-Paraklet denken, der bei Gott für die sündigen Menschen fürbittend eintritt (1 Joh 2,1; vgl. Röm 8,34; Hebr 7,25).23 Dieser „andere Paraklet“ ist der „Geist der Wahrheit“, wobei die Leser noch im Ohr haben, dass Jesus selbst die Wahrheit ist (14,6). Ihn kann die Welt nicht erkennen. Von ihm sagt Jesus zunächst nur – aber dies gleich zweimal variierend – , dass er nicht weggehen werde, sondern „in Ewigkeit mit euch sei“, bzw. „bei euch bleibt und in euch sein wird“ (14,16 f). Erst der zweite Parakletspruch 14,26 deutet an, worin die Hilfe bestehen wird, den die Leser / ​innen vom heiligen Geist erfahren werden. Er, den der Vater haftung Jesu wirklich taten. Der Lieblingsjünger, der als einziger Jünger unter dem Kreuz steht, ist kein Repräsentant der übrigen Jünger. Nur eine Flucht nach Galiläa kennt Joh nicht. 19 Die Parakletsprüche können deshalb keine eigenständige bereits vorgeformte Tradition sein, die der Evangelist aufgenommen und in sein Buch eingefügt, wie es die ältere Forschung manchmal behauptet hat (so zuletzt Siegfried Schulz, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1972, 188). Diese These ist von der neueren Forschung mit Recht aufgegeben worden. 20  Der letzte Parakletspruch in Kapitel 16 (16,13–15) kann dabei in besonderer Weise als „Wiederaufnahme“ (Reprise oder Relektüre) des zweiten (14,26) gedeutet werden. Für den zweitletzten Parakletspruch in Kap. 16 (16,7–11) gibt es keine vergleichbar enge Beziehung zu Kap. 14. 21 Unter „Themastrang“ verstehe ich ein theologisches Thema, das durch verschiedene theologische Leitworte (manchmal auch Motive) kenntlich gemacht wird. Im johanneischen Textgeflecht taucht ein solcher „Strang“ immer wieder auf, verschwindet dann über längere Textabschnitte und wird plötzlich wieder aufgenommen und sichtbar (= „Reprise“), um dann wieder zu verschwinden. Die „Reprisen“ führen das Thema weiter, akzentuieren und vertiefen es. 22 Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 187. 23 Für diese zweite Möglichkeit spricht das ἄλλος, das auf eine der Gemeinde bekannte Paraklet-Gestalt verweist. Dass der Evangelist auf eine in den Gemeinden schon „zeitig“ verwendete Bezeichnung des Geistes als παράκλητος zurückgreift, wie Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium III, HThK IV 3, Freiburg etc. 1975, 168 meint, glaube ich nicht: In allen Parakletsprüchen mit Ausnahme des vierten erklärt der Evangelist seinen Lesern, dass der Paraklet „der Geist der Wahrheit“ ist.

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senden wird, wie er Jesus gesandt hat (14,24), wird sie „alles“ lehren, also – so kann man den vorangehenden V 25 aufnehmen – nicht nur das, was Jesus bereits gesagt hat, als er bei den Jüngern war. Er wird sie zudem an alles erinnern, was Jesus gesagt hat. Eine „kreative Erinnerung“ ist ihnen also verheissen – was darunter verstanden werden könnte, bleibt erklärungsbedürftig. Die Leser sind darum dankbar für die nächste „Reprise“ der Paraklet-Verheissung in 15,26. Wieder hören sie Bekanntes: die Sendung des „Geistes der Wahrheit“ – diesmal durch Jesus vom Vater her. Neu ist das Stichwort μαρτυρέω. Nimmt man an, dass eine ähnliche Tradition wie Mk 13,9–11 im Hintergrund steht, so passt dieser Spruch gut in den Kontext: Der „Geist der Wahrheit“ trägt mit seinem Zeugnis dasjenige der Jünger, die in der Welt verfolgt, ausgeschlossen und gehasst sind und vor Gericht stehen werden. Die letzten beiden Parakletsprüche sind die längsten. Zugleich folgen sie fast unmittelbar aufeinander (16,8–11 und 16,13–15). Der vorletzte Teil der Abschiedsrede gipfelt also recht eigentlich in einer Offenbarung des Parakleten, bevor Jesus zu ihrem Schlussteil in 16,16–33 übergehen wird. Nachdem 16,5–7 den Weggang Jesu und die damit verbundene Trauer der Jünger angesprochen haben, greift der vierte Parakletspruch 16,8–11 auf die Prozesssituation zurück, welche im dritten Parakletspruch angeklungen war. Er spricht von der Wirkung des Zeugnisses gegenüber der feindlichen Welt auf die Jünger.24 Der Paraklet deckt auf, was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist. Die drei kurzen Definitionssätze sind in sich kaum verständlich. Die Leser des Johannesevangeliums sind aber auf sie vorbereitet worden. Sie erinnern sich bei „Sünde“ an 9,41 und vor allem an 15,22–24, bei „Gericht“ an 12,31 und an 14,30, bei „Gerechtigkeit“ – ein bisher bei im Johannesevangelium noch nie vorgekommenes überraschendes Stichwort – an die Fassungslosigkeit der Jünger angesichts der Ankündigungen des Abschieds Jesu (13,36 f; 14,4 f; 16,5 f). Der Paraklet stellt durch sein „Überführen“ alle weltlichen Beurteilungen auf den Kopf. Der fünfte Parakletspruch 16,12–15 schliesst die Reihe der Parakletsprüche ab. Er spricht wiederum von der Innendimension des Wirkens des Geistes: Die Jünger können offensichtlich jetzt noch nicht „tragen“, was Jesus ihnen sagen könnte – ihre bisherigen Zwischenfragen (14,5.8.22; vgl. 16,5) haben das deutlich dargetan. Darum weist dieser letzte Parakletspruch auf die Unabgeschlossenheit der Offenbarung: Der „Geist der Wahrheit“ leitet die Jünger „in 24 Weil die Welt den Geist nicht fassen und erkennen kann (14,17), ist nicht an die Wirkung des Zeugnisses des Geistes nach aussen, auf die Welt zu denken, sondern an seine Wirkung in den Jüngern, welche die wahre Dimension des Prozesses mit der ungläubigen Welt, in dem sie (bzw. Christus) stehen, erkennen können. Die Welt kann weder erkennen, dass Sünde nichts anderes als Unglaube ist, noch, dass der Abschied Jesu und sein Weg zum Vater Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit ist (vgl. 1 Tim 3,16!), noch, dass der Fürst der Welt bereits gerichtet ist. Der Paraklet vermittelt also der Gemeinde eine strikte Insider-Erkenntnis. Vgl. auch Frey, Eschatologie III (o. Anm. 2), 183 f.

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der ganzen Wahrheit“25 und wird ihnen auch „das Kommende“ offenbaren, d. h. alles, was ihnen Jesus jetzt noch nicht sagen konnte. Damit vertieft er vor allem das „alles lehren“ von 14,26. Aber zugleich betont er das, was 14,26 mit dem Stichwort „erinnern“ andeutete: Die jetzt noch unbekannte Offenbarung der „kommenden Dinge“ bleibt an Jesus gebunden, lebt von ihm her und dient seiner Verherrlichung.26 Und – so fügt Jesus in V 15 in einem Kommentar hinzu – die künftige Offenbarung durch den Geist ist die Offenbarung des Vaters, denn es gibt kein Geheimnis über das hinaus, was der Vater Jesus übergeben hat (vgl. 13,3) Ich verstehe die fünf Parakletsprüche als in ihrer Reihenfolge nicht zufällige, sondern sorgfältig in den jeweiligen Kontext eingepasste, weiterführende „Reprisen“ des Themas „heiliger Geist“ unter dem besonderen Aspekt, dass der Geist als Paraklet Nachfolger und „Platzhalter“ Jesu ist und die Leere seines Abschieds füllt. Wie arm wäre die johanneische Parakletverheissung, wenn der Verfasser der angeblich ursprünglich einzigen Abschiedsrede 13,31–14,31 alles das, was er sich für die dritte, vierte und fünfte Parakletverheissung zu sagen aufgespart hat, gar nicht gesagt hätte, wenn nicht er, sondern erst ein Späterer seine Aussagen aufgenommen und weitergeführt hätte! Dieser Spätere hätte völlig zu Recht den Eindruck gehabt, die Parakletsprüche der „ersten“ Abschiedsrede seien defizient. Ich fasse zusammen: Zunächst versuchte ich, zwei scheinbar unumstössliche Pfeiler, auf denen die literarkritische Schichten-Theorie von Joh 13–17 und auch die Relecture-Theorie in ihrer intertextuellen Fassung ruht, etwas auszuhöhlen und zu relativieren. Sodann versuchte ich, mit dem Hinweis auf die „Einlagerung“ der Abschiedsreden in die in Mk 14,26–31 überlieferte Tradition und durch die Interpretation der Parakletsprüche als weiterführende „Reprisen“ zwei Argumente für die Möglichkeit aufzustellen, dass Joh 14–16 als einheitlicher Text eines einzigen Verfassers gelesen werden kann.

III. Zwei Themastränge: Verherrlichung und Liebe Im folgenden Abschnitt möchte ich an zwei Beispielen meine These einer intratextuellen „Reprise“ von Themen, Motiven und Schlüsselworten im Johannesevangelium erläutern. Die beiden Themenstränge die ich herausgreifen werde, sind a) die Verherrlichung und b) die Liebe. Das sind die beiden im Einleitungsabschnitt 13,31–35 hervorgehobene Grundthemen der Abschiedsrede. Im Unterschied zum Themastrang „Paraklet“ sind sie aber bereits durch frühere Stellen 25 Es klingt 14,6 an: Der Geist führt die Wirksamkeit Jesu weiter, der „Weg“ und „Wahrheit“ ist, indem er die Gemeinde ὁδηγήσει … ἐν τῇ ἀληθεία πάσῃ (16,13). 26 Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 235 formuliert prägnant: „Die Offenbarung selbst hat noch eine Zukunft vor sich“.

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im Johannesevangelium vorbereitet. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass die textliche Abfolge dieser „Reprisen“ nicht zufällig ist: Innerhalb des Makrotextes findet eine sinnvolle Erweiterung und Vertiefung des „Themas“ statt. Dabei beziehe ich das Abschiedsgebet Jesu in Joh 17 ein, das m. E. nicht nur einen sinnvollen Abschluss der Abschiedsreden darstellt, sondern im Blick auf die fortdauernde „Anfängersituation“ der Jünger, die sich in 16,29–32 zeigt, fast den einzig möglichen. Nicht zuletzt Jean Zumstein hat gezeigt, wie eng Joh 17 intratextuell mit Joh 13–16 verbunden ist.27 Meine beiden Beispiele werden zeigen, dass Jesu Aussagen sowohl über die Verherrlichung als auch über die Liebe in Joh 17 ein theologisches „Finale“ der vorangehenden Reprisen des Themas darstellt, welches die früheren Aussagen bündelt und im Aufblick zu Gott theologisch aufgipfelt.28 Dazu passt, dass Jesu Abschiedsgebet, in dem er seine Augen zum Himmel erhebt (17,1) und auf seine Präexistenz (17,5.15.24) zurückblickt, ihn bereits auf dem Weg zu seinem himmlischen Vater zeigt: Er hat sein „Werk“ schon abgeschlossen und hat Gott auf der Erde verherrlicht (17,4). Mehrfach blickt er auf sein Werk und seine Offenbarungstätigkeit auf der Erde zurück (V 6.8.12.14). Jetzt ist er „nicht mehr auf der Welt“ (17,11),29 sondern kommt zum Vater (νῦν δὲ πρὸς σὲ ἔρχομαι) (17,13).30 Indem Jesus „seine Rede an den Vater richtet, vollzieht er den Abschied“.31 Die Perspektive des Gebets ist also durch und durch eine österliche bzw. himmlische: Joh 17 ist nicht ein Gebet eines Abschied-Nehmenden, sondern eher ein Gebet des beim Vater bereits Angekommenen. Zugleich ist es der grosse johanneische Gegen-Satz zum markinisch-matthäischen Getsemanigebet: Ebenso wie 13,36–16,33 die synoptische Übergangsperikope Mk 14,26–31 Parr. aufnehmen, erweitern und ersetzen, ebenso ist das Gebet Joh 17, in dem Jesus sechsmal Gott als „Vater“ anredet, ein johanneisches Gegenprogramm zum dreimaligen Gebet Jesu zu seinem Vater in Getsemani (Mk 14,32–42). a) Die Interpretation der Passion und Auferstehung Jesu als Verherrlichungsgeschehen ist den Leser / ​innen des Johannesevangeliums nicht unbekannt: Der Wortstamm δοξ‑ ist Teil des theologischen Grundvokabulars der johanneischen Gemeinde. In 7,39; 12,16.23 taucht der Verherrlichungsgedanke beiläufig auf; 27 Zumstein,

Saint Jean II (o. Anm. 4), 161 f. Studien zu den Abschiedsreden, welche diese literarkritisch in verschiedene, zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen geschriebene Reden zerlegen, beschränken sich auf 13,31–16,33 und berücksichtigen Kap. 17 nicht oder nur am Rande. M. E. erleichtert diese Einschränkung des Blickwinkels die diachronen Zerlegungshypothesen. 29 Zumstein, Saint Jean (o. Anm. 4), 172 fügt in seine Übersetzung von V 11 das Wörtchen „désormais“ ein: „[Désormais] je ne suis plus dans le monde“. Nein! Schon jetzt ist der betende Jesus nicht mehr in der Welt. 30 Vgl. die schöne Deutung von Wilckens, Evangelium (o. Anm. 11), 258 f. 31 Wilckens, Evangelium (o. Anm. 11), 268. In V 24 „will“ Jesus, dass auch die Jünger „wo ich bin, … mit mir sind“. Wo ist Jesus? Jedenfalls an einem Ort, wo seine Herrlichkeit sichtbar ist. 28 Manche

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der Evangelist muss ihn seinen Leser / ​innen nicht erklären. Auch die Einbeziehung des Lebens des irdischen Jesus in das Verherrlichungsgeschehen ist ihnen bereits vertraut: Das Wunder der Auferweckung des Lazarus dient der Verherrlichung des Gottessohns (11,4; vgl. 2,11). Deutlich ist ihnen auch die „vertikale“ Dimension des Verherrlichungsgeschehens: Wahre δόξα ist Herrlichkeit Gottes und kann nur von ihm erbeten und verliehen werden; mit der „Ehre“ (δόξα), die Menschen verleihen können, hat sie nichts zu tun (5,41.44; 7,18; 8,50.54). In 12,28, der vorweggenommenen joh. „Getsemaniszene“, wird das Thema der Verherrlichung zum ersten Mal „verdichtet“: Jesus bittet den Vater um seine Verherrlichung. Der himmlische Vater antwortet auf sein Gebet: Er hat den Sohn verherrlicht (ἐδόξασα, z. B. durch seine Wundertaten), und er wird ihn verherrlichen (δοξάσω, nämlich in der bevorstehenden Passion). Wie weit die Leser / ​innen solche Kurzformulierungen in ihrer Tragweite begreifen und mit Sinn füllen können, bleibt offen. Sie haben mindestens zum Teil auch den Charakter von geheimnisvollen Rätselworten, die im folgenden vertieft und entfaltet werden müssen. Dies geschieht zu einem grossen Teil durch die folgende Abschiedsrede. Sie setzt in 13,31 f wiederum mit „verdichteten“ Verherrlichungsaussagen ein, die 12,28 aufnehmen.32 Im unmittelbaren Kontext stehen sie in jähem Kontrast zu dem Dunkel der Nacht des Verrates (13,30). In grosser Dichte folgen sich vier33 Verherrlichungsaussagen. Wie in 12,28 sind die Tempora verschieden; aoristische und zukünftige Aussagen stehen nebeneinander. Hier geht es aber nicht mehr nur um eine lineare Rückwärtsverlängerung der in der Passion bevorstehenden Verherrlichung in das Leben des irdischen Jesus, denn beide – die vergangene Verherrlichung Jesu und die zukünftige – werden durch Tempusadverbien (νῦν, εὐθύς) auf die Gegenwart hin zugespitzt. Die lineare Zeit wird durcheinandergewirbelt, was in der folgenden Abschiedsrede auch wieder zu beobachten ist. Neu ist gegenüber 12,28 auch, dass Gott in das Verherrlichungsgeschehen einbezogen wird: Gott selbst wird durch den Menschensohn verherrlicht (13,31 c). V 31 f haben also die Funktion einer verdichteten, titelartigen Ankündigung von etwas, was die folgende Abschiedsrede entfalten und verdeutlichen wird. Die Entfaltung erfolgt durch beiläufige Verherrlichungsaussagen in den folgenden drei Kapiteln. Für sie gilt, was im Johannesevangelium immer wieder zu beobachten ist: Nach einer verdichteten Einführung eines Themas wird es 32 Abgesehen vom Wort δοξάζω ist zu beachten, dass in unmittelbarer Nähe von 12,28, nämlich in 12,23.34, der Menschensohntitel vorkommt, nämlich in 12,23 in Verbindung mit δοξάζω, gefolgt von einem mit ἔτι μικρόν eingeleiteten Ausblick auf den Abschied Jesu von der Welt in 12,35 a. 33 V 32 a ist textkritisch schwierig. Aufgrund des Gewichtes der Handschriften bevorzuge ich den kürzeren Text und verstehe V 32 a als einen Versuch eines Glossators, den schwierigen Gedankengang logisch verständlicher zu machen.

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durch beiläufige Aussagen immer wieder aufgenommen, „erinnert“, ausgeweitet und vertieft. Das Thema „Verherrlichung“ wird zum Teil von johanneischen „Themengeflechten“34 und taucht immer wieder, manchmal ganz unvermittelt auf, ähnlich wie ein Motiv in einem Musikstück. Solche „Reprisen“ des Verherrlichungsthemas sind 14,13 f und 15,8. Beide Male geht es um die in 13,31 c erstmals erwähnte Verherrlichung Gottes. Ihr Ort wird aber ausgeweitet: die Verherrlichung Gottes erfolgt nicht mehr nur durch die Passion Jesu, sondern als dauernde Verherrlichung in der Zukunft der nachösterlichen Gemeinde: durch die der Gemeinde verheissene Gebetserhörung (14,13) und durch die „Frucht“, die der Weinstock durch die Reben hervorbringt (15,8). Eine dritte ausweitende „Reprise“ des Verherrlichungsthemas finden wir in 16,14 f: Hier ist es der Geist, der Jesus verherrlicht, indem er aus dem Seinen und dem, was der Vater hat, schöpft und die Verkündigung Jesu auf das Kommende ausweitet. So vorbereitet, sind die Leser / ​innen nicht überrascht, zu Beginn des grossen Gebets Jesu in 17,1–5 wieder auf eine „Verdichtung“ des Verherrlichungsthemas zu stossen: Jesus nimmt sein früheres Gebet von 12,28 a wieder auf und entfaltet es: Viermal taucht das Stichwort δοξάζω in den Eingangsversen des grossen Gebetes auf. Wie in 13,31 b finden wir das zeitlich zuspitzende νῦν. Wiederum ist die „Verherrlichung“ des Sohnes und die „Verherrlichung“ des Vaters eine wechselseitige. Wiederum blickt Jesus zurück auf die Zeit seines irdischen Wirkens, auf das „Werk“ seiner Sendung (17,4). Wiederum steht dieses „Werk“ innerhalb des Prozesses der wechselseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn: Es ist ein Werk, das der Vater dem Sohn „gegeben“ hat. V 5 macht deutlich, dass der betende Jesus, der zum Vater geht, eigentlich schon beim (παρὰ) Vater ist: Er blickt über die Geschichte hinaus in seine himmlische Präexistenz. Bei diesem Blick erweist sich, dass die Herrlichkeit, um die der Sohn den Vater im Blick auf seine Passion bittet, eine Herrlichkeit ist, die er schon immer gehabt hat, schon bevor die Welt zu sein begann. Nach diesem Eingangstor zum grossen Gebet braucht das Thema der Verherrlichung nur noch erinnernd aufgenommen zu werden: Dies geschieht zweimal so, dass die Gemeinde in Jesu bzw. Gottes Herrlichkeit hineingenommen wird: Nach 17,10 ist Jesus in den Seinen, die ihm Gott gegeben hat und für die er bittet, bereits bleibend verherrlicht (δεδόξασμαι). Im Blick auf sie sagt er, dass „alles was mein ist, dein ist“; darum gehören sie Gott (17,9). Nach 17,22 hat Jesus die Herrlichkeit, die ihm der Vater gegeben hat, den künftigen Gläubigen 34 Als „Themengeflecht“ bezeichne ich solche joh. Textabschnitte, in denen verschiedene Themen auftauchen, kurz erinnert werden, oft nur durch assoziative Verbindung nebeneinander gestellt werden und so den Eindruck vermitteln, der Text sei ein „Geflecht“, in dem ganz verschiedene Motive und Themen ohne klaren Gedankengang „blumenstraussartig“ zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Ein linearer Gedankengang und eine klare Disposition des Mikrotextes ist in solchen Texten oft schwer festzustellen. Beispiele sind z. B. Joh 3,11–21.31– 36; 8,12–36; 10,1–30; 12,44–50; 14,8–26; 16,16–33 und z. T. Joh 17.

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weitergegeben, damit sie vollendet würden zur Einheit. Im Schlussteil des Gebets (17,22–24) schliesslich führt Johannes das Thema der Herrlichkeit mit dem Thema der Liebe zusammen, von dem gleich die Rede sein wird: Die Herrlichkeit Gottes besteht in der Liebe, mit der er Jesus schon vor der Zeit geliebt hat (17,24). Nach dieser nicht systematischen, sondern punktuell verdichteten und in mehreren „Reprisen“ erinnerten pädagogischen Annäherung an das Geschehen der Herrlichkeit Gottes haben die Leser / ​innen die Augen bekommen, mit denen sie die nun erzählte Passionsgeschichte „von oben“ lesen können. Das Themawort δοξάζω braucht nicht mehr aufzutauchen. Nur ein einziges Mal kommt es noch vor, im sekundären Nachtragskapitel 21,19, dort in deutlich unjohanneischer Weise.35 b) Auch der Themastrang „Liebe“ ist in Joh 1–12 präludiert. Liebe hat eine vertikale und eine horizontale Dimension. Die vertikale Dimension, die Liebe Gottes zu Christus und zu den Menschen, klang bereits in Joh 3,16.35; 10,17 an. Von der Liebe der Menschen zu Gott war in traditionell biblisch-jüdischem Sinn in 8,42 die Rede. Die Liebe Christi zu den Seinen, die sich in seiner Passion am deutlichsten erweist, wird zu Beginn des zweiten Teils des Evangeliums in 13,1 programmatisch angesprochen: Zweimal wird in einer semitisierenden Partizipialkonstruktion die Liebe Christi erwähnt (ἀγαπήσας … ἀγάπησεν; 13,1). Zugleich ist zweimal programmatisch davon die Rede, dass Jesus nun aus der Welt weg und zum Vater gehen wird. Die dann erzählte Fusswaschungsgeschichte veranschaulicht und deutet Jesu Liebe. In der programmatischen Einleitung zur Abschiedsrede 13,31–38 kündigt Jesus nach den Verherrlichungsaussagen von 13,31 f zunächst an, dass er nur noch eine kurze Zeit (ἔτι μικρόν) bei den Jüngern sein werde. Jesus verweist ausdrücklich auf 7,33 f zurück, wo er dasselbe bereits den Juden angekündigt hatte. Er rückt also die Jünger in die Nähe der Juden; auch die Reaktion des Petrus, die V 36–38 erzählen wird, wird zeigen, dass die Jünger sich nicht völlig von den Juden unterscheiden. V 33 folgt also auf den theologischen Höhenflug Jesu in V 31 f sehr unvermittelt und abrupt die Ankündigung, dass die Jünger nicht mit Jesus in die Herrlichkeit gehen können.36 Diese Ankündigung wird mehrfach aufgenommen und variiert werden.37 35 21,19

versteht den Tod des Märtyrers Petrus als „Verherrlichung“ Gottes. Sonst gibt es im Johannesevangelium keine direkte Verherrlichung Gottes durch Gläubige, es sei denn durch das, was Christus oder der Geist an und durch die Gläubigen tut (14,13; 15,8; 16,14; 17,10). Vgl. Zumstein, Saint Jean II ( o. Anm. 4), 313 Anm. 23. 36 Nicht nur die Abfolge von V 33 zu V 34, sondern auch diejenige von V 32 zu V 33 ist sehr hart und unvermittelt. Allerdings hat sie, im Unterschied zu jener, die Literarkritiker nicht auf den Plan gerufen. 37 Joh 14,19; 16,16–19. 14,19 ist eine weiterführende Reprise, welche anders als 13,33 ankündigt, dass die Jünger im Unterschied zur Welt Jesus sehen werden. Aber wann? An Ostern, in der nachösterlichen Zeit, bei der Parusie? Die Frage bleibt offen. Die Ankündigung von 14,19 wird in 16,16 in temporal präziserer Formulierung (καὶ πάλιν μικρόν καὶ ὄψεσθέ με)

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

Dann folgt ebenso abrupt und unvermittelt das „neue Gebot“ der wechselseitigen Liebe (13,34 f). Die Versuchung, es durch eine literarkritische Operation aus dem Kontext zu entfernen und als sekundären Zusatz zu erklären, ist gross – aber man sollte ihr nicht erliegen: Die Platzierung der beiden Verse ist sinnvoll. Nach der Angabe des ersten „Hauptthemas“ der Abschiedsrede Kap 14–17, der Verherrlichung, in 13,31 f folgt in 13,34 f konsequent die des zweiten. V 34 f machen dadurch, dass sie auf die Ankündigung des Weggehens Jesu in V 33 folgen, klar, dass das neue Gebot der wechselseitigen Liebe ein Gebot in der Situation des Abschieds ist, welches die durch Jesus zurückgelassene Leere füllt. Dass das neue Gebot der Liebe so unvermittelt und überraschend in den Kontext hineinplatzt, unterstreicht literarisch wirkungsvoll seine Neuheit. Noch öfters wird der Evangelist in späteren Reprisen dieser programmatischen Stelle ganz unvermittelt von der Liebe sprechen (vgl. 14,15.21.23 f). Es entspricht johanneischer Technik, die einzelnen Themen, die zum Ganzen des christlichen Lebens gehören, unvermittelt nebeneinanderzustellen. Sie entsprechen der Fülle eines Musikstückes, zu dem diverse Motive und Themen gehören, aber nicht einem linearen argumentativen Gedankengang, wo ein Baustein notwendig auf dem vorangehenden ruht.38 Ich halte aus all diesen Gründen bei 13,34 f eine literarkritische Erklärung der Verse als später hinzugefügte Glosse für unnötig.39 Das neue Gebot, das der abschiednehmende Christus den Seinen gibt, lautet, dass sie einander lieben sollen. Die ekklesiologische Dimension, die in ἀλλήλοις enthalten ist, wird durch V 35 expliziert: Die Liebe der Gemeindeglieder untereinander ist das Kennzeichen der Gemeinde für die Aussenstehenden. Sie entspricht der Liebe Christi (13,34 b), von der in 13,1 die Rede war. Die beiden Verse umreissen die ekklesiologische Konsequenz der Liebe Christi und bringen zugleich den theologischen Kern des ganzen Abschnittes 13,1–20 auf den Punkt. Kapitel 14 enthält drei „Reprisen“ dieser programmatischen Formulierungen: 14,15.21.23. Sie sprechen von einer anderen Dimension der Liebe, der Liebe wieder aufgenommen. Die temporale Frage nach der kurzen Zeitspanne (μικρόν) bereitet den Jüngern Verlegenheit – sie diskutieren sie umständlich unter sich (16,17 f). Sie wird von Jesus durchschaut (16,19), aber in 16,20–22 gerade nicht beantwortet. 38 14,12–26 ist als linearer Gedankengang kaum verstehbar: Grundmomente christlichen Lebens wechseln sich ab. Grössere Werke, Gebet, Liebe, Abschied und Leben, Einheit von Vater und Sohn, Kommen des Vaters, des Sohnes und des Parakleten stehen unverbunden nebeneinander. Auf die sehr verständliche Zwischenfrage, die der Jünger Judas zu stellen wagt (14,22!) geht Jesus in geradezu pointierter Weise nicht ein. Und trotzdem hat kaum jemand versucht, in diesem Abschnitt literarkritisch in verschiedene Schichten zu unterscheiden. 39  So z. B. Schnackenburg, Johannesevangelium III (o. Anm. 23), 59; Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes Kap. 11–21, ÖTK IV/2, Gütersloh 31991, 532.536; Christian Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden, WUNT 95, Tübingen 1997, 26 f; ders., Evangelium II (o. Anm. 18), 39; Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 63; Zumstein, Saint Jean II (o. Anm. 4), 49 („lieu commun de l’exégèse joh“). Ähnliche Gedankensprünge gibt es aber auch anderswo im Johannesevangelium, z. B. kurz vorher die Abfolge von 13,18 f und 13,21ff mit dem dazwischen geschobenen Vers 20.

26. Relektüre? Reprise!

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(ἀγαπάω) der Jünger zu Christus. Sie besteht darin, dass die Jünger seine Gebote (ἐντολαί – hier Plural) halten. Von 13,34 f her gelesen muss damit vor allem das neue Gebot der wechselseitigen Liebe gemeint sein. Alle drei Reprisen sind – wie 13,34 f auch – völlig unvermittelt und scheinbar zusammenhangslos in den jeweiligen Kontext eingesprengt. Sie gehören zur „Musik“ des christlichen Lebens. Die zweite Reprise in 14,21 führt dabei über die erste hinaus, indem sie die Beziehung zur Liebe des Vaters und des Sohns herstellt: „Wer mich liebt wird von meinem Vater geliebt werden und ich werde ihn lieben“. Das Schlusssätzlein καὶ ἐμφανίσω αὐτῷ ἐμαυτόν wird in V 23 aufgenommen und interpretiert: Die in V 21 angekündigte Offenbarung bedeutet, dass der Vater und der Sohn zum Gläubigen „kommen“ und bei ihm „Wohnung“ nehmen werden. Mit den Stichworten ἔρχομαι und μονή ist der Horizont, in dem das ganze Kap. 14 steht, abgesteckt (vgl. 14,2 f). Es ist in diesem Fall besonders deutlich, dass die drei Reprisen echte und in ihrer Reihenfolge unumkehrbare Erweiterungen des Grundthemas sind. Die nächste Reprise des Themas „Liebe“ erfolgt in 15,9–17 in verdichteter Form. Sie erweitert wiederum den Horizont: Zunächst ist von der Liebe des Vaters zu Jesus die Rede (15,9 a) – das entspricht dem theologischen Grundzug des vorangehenden Abschnitts 15,1–8, der in V 1 mit dem Hinweis auf den Vater, welcher der Weingärtner ist, beginnt, und mit der Verherrlichung des Vaters in 15,8 schliesst.40 Das entspricht auch 14,23, wo die theologische Grundlegung der Liebe zum ersten Mal als Verheissung auftauchte. Eine ähnliche theologische Rahmung gibt es im zweiten Abschnitt 15,9–17: Er beginnt mit der Liebe des Vaters zu Christus (V 9) und schliesst mit der Verheissung, dass der Vater den Jüngern geben wird, worum auch immer sie ihn im Namen Jesu bitten (15,16 c). Die Liebe des Vaters zu Jesus ist der Grund, auf dem die Liebe Jesu zu den Seinen ruht und der ihr „Bleiben“ in dieser Liebe ermöglicht. In V 12 und 17 wird zusätzlich das ekklesiologische Stichwort ἀλλήλους aus 13,34 f aufgenommen; das zweite ekklesiologische Stichwort, μαθηταί, war schon 15,8 gefallen. Von 13,34 f aus gesehen ist der ekklesiologische Grundsatztext Joh 15,1–17 keinesfalls ein Fremdkörper innerhalb der Abschiedsrede. Eine zusätzliche „Brücke“ zu 13,34 und zu 14,15.21 bildet das Wort ἐντολή, das in 15,10.12 im Singular und im Plural vorkommt. Inhaltlich ist im ganzen Abschnitt 15,9–17 auffällig, wie sehr in dieser Reprise von 13,34 f der christologisch-soteriologische Aspekt dominiert: Der begründende Satz καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς aus 13,34 b wird zweimal aufgenommen (15,9 b und 15,12 c). Die Verse 13–16 b führen dann genau diesen Aspekt des Themas „Liebe“ weiter aus, indem sie Christi Liebe durch den Topos von der Freundesliebe verdeutlichen und das Erwählungsmotiv auf40 Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 64–110 versteht mit Recht den ganzen Abschnitt 15,1–17 als „Relecture“ von 13,1–17 und notiert dazu viele treffliche Beobachtungen, die ich in meine Reprisen-These alle aufnehmen kann. Nur auf seine literarkritische Schichtungshypothese möchte ich verzichten.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

nehmen (vgl. 6,70; 13,18). Auch der in 15,1–16 durchweg gebrauchte Singular von καρπός zeigt, dass es in Joh 15 nicht um einzelne gute Werke geht. Der wichtigste Hinweis auf die Dominanz der Soteriologie in der johanneischen Ethik der Liebe ist das Verbum μένειν, das in 15,1–16 elfmal vorkommt: Es geht um das „Bleiben“ am Weinstock, resp. in Christus resp. in seiner Liebe. Darin besteht also die Neuheit des an sich durchaus „alten“ Liebesgebotes, dass die Liebe der Jünger zu „einander“ nichts anderes ist als das Ausleben der von der Liebe des Vaters getragenen Liebe Christi zu ihnen. In dem noch folgenden Rest der Abschiedsrede vor dem Abschlussgebet gibt es nur noch eine „Reprise“ des Liebes-Themas, nämlich in 16,27 f. Das Verbum ἀγαπάω kommt hier nicht vor, dafür das durch das Freundschaftsmotiv 15,12–15 vorbereitete sinngleiche Verbum φιλέω. Wieder geht es um die theologische Akzentuierung des Liebesthemas, die seit 14,23 im Raum stand. Wie in 15,16 c zeigt sich die Liebe des Vaters in der Erhörung der Gebete. Diese Zusage ist gegenüber früheren Texten (14,13; 15,16 c) zugespitzt: Die Gläubigen erfahren die Liebe des Vaters direkt, ohne Christus als Mittler, aber nur, weil sie Christus lieben und an ihn glauben. Erst am Schluss des Abschiedsgebets wird das Liebesthema nochmals aufgenommen und verbindet sich dort mit dem anderen grossen Thema der Abschiedsrede, dem der Verherrlichung. Zumstein beobachtet mit Recht eine Inklusion zwischen 17,24–26 und 17,1–5.41 Dietzfelbinger sagt: „Doxa und Liebe des Vaters fliessen hier zusammen“.42 Die Liebe des Vaters zu Jesus und zu den Jüngern nimmt Jesus in 17,23 und in 17,24–26 auf; vorher hatte er mit anderer Begrifflichkeit („Sein in …“; in Bezug auf die Jünger „eins sein“) davon gesprochen. Diese Liebe, die mit der Erkenntnis Gottes und dem Sehen seiner Herrlichkeit identisch ist, ist eine einzige grosse Bewegung von oben nach unten: „… damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen (sei) und ich in ihnen“ (17,26). Sie realisiert sich unten in der Welt im „Eins-sein“ der Gläubigen, das nichts anderes ist als die durch Christus ermöglichte und die Kirche kennzeichnende „Liebe zueinander“. Es scheint mir deutlich, dass mit 17,24–26 der Höhepunkt der johanneischen Liebestheologie erreicht ist: Hier wird abschliessend gebündelt, was in seinen verschiedenen Aspekten schon früher angeklungen war und was insbesondere durch 13,1 und 13,34 f angestossen war. Auffällig ist, dass auch in diesem Schlusstext der theologische Aspekt des Liebesthemas dominiert, der seit 14,23 immer deutlicher aufgeklungen war. Auch beim Thema „Herrlichkeit“ hatten wir beobachtet, dass die „Reprisen“ dieses Themas nach 13,31 f es immer deutlicher theologisch akzentuierten. Diese 41 Zumstein,

Saint Jean II (o. Anm. 4), 186.

42 Dietzfelbinger, Abschied (o. Anm.  39), 329. Vgl. Wilckens, Evangelium (o. Anm. 11),

267: Das Wesen der Herrlichkeit „ist die Liebe, mit der der Vater seinen ‚einziggeborenen‘ Sohn vom ewigen Ursprung her geliebt hat“.

26. Relektüre? Reprise!

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Tendenz kommt im Abschiedsgebet Jesu zu ihrem Höhepunkt. Hier, wo Jesus so zu seinen Jüngern spricht, dass er zu seinem Vater spricht, muss der theologische Aspekt dominieren.

IV. Schlussbemerkungen Mein Vorschlag ist also, das Konzept der „Relektüre“ auf der Basis einer intertextuell zu erschliessenden Mehrschichtigkeit der johanneischen Abschiedsreden durch ein Konzept von vertiefenden und erweiternden „Reprisen“ durch einen einzigen Autor auf der Basis einer intratextuell zu erschliessenden Einheitlichkeit der johanneischen Abschiedsrede Joh 13–17 zu ersetzen. Gewiss konnte ich auf beschränktem Raum dafür nur exemplarisch Argumente geben. Die im vorigen Abschnitt kurz skizzierten Themenstränge wären durch andere zu ergänzen, die innerhalb der Abschiedsrede und im ganzen Johannesevangelium zahlreich zu finden sind. Gewiss war meine Argumentation nicht beweiskräftig: Sie zeigte nur, dass die Abschiedsrede als einheitliches Dokument synchron gelesen werden kann, nicht, dass sie so gelesen werden muss. Und gewiss hängt die Feststellung dieser Möglichkeit einer synchronen Lektüre wieder von dem ab, welchen Denkstil man beim Evangelisten findet und was man bei ihm an Kohärenz und Linearität voraussetzt, resp. was man ihm an Gedankensprüngen, Assoziationen, „Lücken“ und sogar Widersprüchen „erlaubt“. Insofern kann ich nicht hoffen, dass mein Versuch einer Lektüre der Abschiedsrede unter der Voraussetzung ihrer literarischen Einheitlichkeit alle Leser / ​innen gleichermassen (und sogar den Jubilar?) überzeugt. Nur meine ich: Der Aufweis einer Möglichkeit der Lektüre eines Textes unter der Voraussetzung seiner Einheitlichkeit ist schon viel und verdient grundsätzlich den Vorzug gegenüber der ebenfalls bestehenden Möglichkeit, ihn als mehrstimmiges Produkt einer Schule zu lesen. Ich möchte mit zwei Bemerkungen schliessen. Die erste betrifft den mittleren Abschnitt 15,1–16,4 a, den viele – nach 14,31 c – für einen neuen Text halten. Zumstein stellt mit anderen fest, dass hier der Abschied Jesu „ne joue plus aucun rôle“ 43. Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass dieser Textabschnitt sehr vieles aus den vorangehenden beiden Kapiteln „aufnimmt“.44 Wir sahen auch, dass die ekklesiologische Dimension der Liebe „untereinander“ in 13,34 f grundlegend ist und dass 15,1–17 gerade sie thematisiert, von V 9 an explizit. Das „Sein in …“ bzw. „Bleiben in …“ der Jünger in Jesus ist die ekklesiologische 43 Zumstein,

Saint Jean II (o. Anm. 4), 90. Kapitel 15 entfalte „une toute nouvelle thématique“. Da er 15,1–16,33 – im Unterschied zu vielen – mit guten Gründen literarkritisch als eine einzige Rede betrachtet, bezeichnet er sie dennoch als als „Abschiedsrede“, obwohl sie zunächst keine solche ist. Ganz konsequent finde ich das nicht. 44 Das hat gerade Zumstein, Saint Jean II (o. Anm. 4), 92 durch seine eindrucksvolle Liste von Berührungen zwischen Kap 14 und 15 deutlich gemacht.

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IV. Studien zu den übrigen Evangelien

Ausweitung von 14,11. 14,20 f ist eine Art Themaangabe von 15,1–17. Der Themastrang „Gebetserhörung“ zieht sich von 14,13 f über 15,7.16 bis zu 16,23 f.26 f durch. Von der „Freude“ durch den Abschied Jesu war erstmals in 14,28 kurz die Rede, zentraler dann in 15,11 und schliesslich ausführlich in 16,20–24. Der Abschnitt 15,18–16,4 a ist durch die Aussagen über die grundsätzliche Distanz zwischen Geist und Welt in 14,17.19.22, durch das Jesuswort in 13,16, auf das sich Jesus in 15,20 zurückbezieht, durch die Erwählungsaussage von 15,16, und noch vor den Abschiedsreden etwa durch 9,22.41 vielfach vorbereitet. Der „Hass der Welt“, die Grunderfahrung der Gemeinde, von der 15,18–16,4 a sprechen, wird im Abschiedsgebet in 17,6–16 wieder thematisiert und theologisch reflektiert. Und schliesslich: Stimmt es wirklich, dass der Abschied Jesu in 15,1–16,4 a nicht vorkommt? In 15,1–16 ist μένειν das dominierende Leitwort. Ist diese Betonung des „Bleibens“ Jesu und des „Bleibens“ der Gemeinde in ihm, das an 14,23 (μονή!) anklingt, ein versteckter Kontrapunkt gegenüber der Feststellung, dass Jesus jetzt „weggeht“?45 Und warum blickt Jesus gerade im Abschnitt 15,1–16,4 a so häufig auf sein vollendetes und bleibend gültiges „Reden“ zurück?46 – Kurz: 15,1–16,4 a ist sehr gut in der Abschiedsrede verankert, bei weitem nicht nur dadurch, dass man 15,1–17 als vertiefende „Relecture“ von 13,1–20 verstehen kann.47 Die andere Bemerkung bezieht sich auf den Aufbau der ganzen Abschiedsrede Joh 13–17. Sie lässt sich als in sich geschlossenes Ganzes gut verstehen. Der Evangelist führt seine Leser / ​innen von der Ausgangssituation und der Themenangabe (13,31–38) über eine christologische Meditation über das Weggehen und Kommen Christi (14,1–31), eine Meditation über die in Christus bleibende und in seiner Liebe Frucht bringende Kirche (15,1–17), eine Meditation über ihre negativen Erfahrung in der feindlichen Welt und das Wirken des Parakleten in ihr (15,18–16,4 a) hin zu ihrer eigenen Befindlichkeit in dieser Welt, ihrer Trauer, ihrer Angst und der in ihr verheissenen Freude und Gotteserkenntnis (16,4 b–33). Die Rede endet mit dem grossen Gebet des zum Vater zurückkehrenden Jesus für seine Jünger, die irgendwo zwischen Angst und Grossmauligkeit stecken bleiben und sich auf nichts anderes verlassen können als darauf, dass der zum Vater zurückgekehrte Jesus mit seiner von Gott verliehenen Herrlichkeit und seiner in der Liebe Gottes gründenden Liebe dauernd in ihnen bleibt (17,1–26). Ich gebe an dieser Stelle Christian Dietzfelbinger das Wort, der nach literarkritischen Aufteilung der Abschiedsrede in vier Reden48 am Schluss wieder 45 Vermutung von Konrad Haldimann, Rekonstruktion und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu Joh 15 und 16, BZNW 104, Berlin 2000, 405 f. 46 Das zurückblickende ταῦτα λελάληκα im Perfekt kommt in 15,1–16,4 a 3x vor (15,11; 16,1.4), sonst in der Abschiedsrede noch weitere dreimal (14,25; 16,6.33), ausserhalb der Abschiedsrede nie. 47 Vgl. Dettwiler, Gegenwart (o. Anm. 4), 107–110. 48 13,31–14,31; 15,1–16,15; 16,16–33; 17,1–26.

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zur Abschiedsrede im Ganzen zurückkehrt, ihre literarische und theologische Geschlossenheit würdigt und fordert, sie als „ein in sich abgeschlossenes … neues und grösseres Ganzes“ zu interpretieren. Geradezu enthusiastisch preist er den durch die redaktionelle Zusammenfügung erzielten „Gewinn“: „Man schuf die umfassendste ekklesiologische Äusserung des Neuen Testaments, die in christologischer Perspektive durchdachteste Analyse der Gemeinde in ihrer Gegenwart und hinsichtlich ihrer Zukunft“.49 In der Tat ist diese Rede, die ihren Leser / ​innen wie ein Musikstück durch viele Motive, die immer wieder aufgenommen werden, immer wieder neue und tiefere Klänge vermittelt, so, wie sie heute vorliegt, ein gut durchdachtes Ganzes. Ob sie das nicht von Anfang an gewesen ist?

49 Dietzfelbinger, Abschied (o. Anm. 39), 359. 361. 359; vgl. ders., Evangelium II (o. Anm. 18), 252 und Brown o. in Anm. 1.

V. Studien zum Corpus Paulinum

27. Einleitung Dieses Kapitel enthält vier Paulusstudien, die zwischen 2003 und 2010 entstanden sind, und eine Studie zum Epheserbrief aus dem Jahr 1989. Früher geschriebene Aufsätze habe ich weggelassen, weil sie zu sehr in Fragestellungen und Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts verhaftet waren. Dazu gehören auch zwei für mich wichtige Studien, nämlich der Aufsatz „Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus“, der im Zusammenhang mit einem interdisziplinären Friedensforschungsprojekt der FEST in Heidelberg entstanden ist,1 und die erstmals mit wirkungsgeschichtlichen Fragestellungen arbeitende Studie „Rechtfertigung bei den Paulusschülern“.2 Zwei der ausgewählten vier Paulusaufsätze beschäftigen sich mit der Theologie des Paulus, nämlich mit seinen Rechtfertigungs‑ und Gerichtsaussagen (Nr. 28 und 31). Zwei beschäftigen sich mit der Frömmigkeit des Paulus und seinen religiösen Erfahrungen. Paulus interpretiert seine religiösen Erfahrungen vor allem mit partizipatorischen und pneumatologischen Kategorien, nicht mit juridischen. Die Aufsätze Nr. 29 und 30 fragen, ob wir dies sinnvoll mit der (neuzeitlichen) Kategorie „Mystik“ interpretieren können. – Die Paulusaufsätze sind in chronologischer Reihenfolge abgedruckt; der Aufsatz zum deuteropaulinischen Epheserbrief steht am Schluss. Der Aufsatz „Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes“ (= Nr. 28) setzt sich mit den neutestamentlichen Gerichtsaussagen auseinander. Die Gerichtsaussagen des Matthäusevangeliums oder der Johannesapokalypse gehören zu den dunklen Seiten Gottes im Neuen Testament; sie flössen Angst und Schrecken ein. Für die Gerichtsaussagen anderer neutestamentliche Bücher gilt das nicht, z. B. für diejenigen des Johannesevangeliums. Der Aufsatz untersucht die Gerichtsaussagen der Paulustradition. Er geht aus von den Gerichtsaussagen des Kolosserbriefs. In diesem m. E. von einem Mitarbeiter des Paulus geschriebenen Brief steht Christus als Versöhner im Mittelpunkt. Von diesem Mittelpunkt her kann der Verfasser eine Theologie entwickeln, die 1 Ulrich

Luz, Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus, in: Gerhard Liedke (Hg.), Eschatologie und Frieden in biblischen Texten, TM-FEST Reihe A Nr. 7, Heidelberg 1978, 225–282; Neudruck in: Ulrich Luz u. a., Eschatologie und Friedenshandeln. Exegetische Beiträge zur Frage christlicher Friedensverantwortung, SBS 101, Stuttgart 1981, 153–193. 2 Ulrich Luz, Rechtfertigung bei den Paulusschülern, in: Johannes Friedrich u. a. (Hg.), Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen / ​Göttingen 1976, 365–383.

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V. Studien zum Corpus Paulinum

getragen ist von vollkommener Heilsgewissheit und frei von Gerichtsangst. Die Ethik ist in ihr zentral (II). Im „deuterokolossischen“ Epheserbrief ist das ähnlich. Seine theologische Mitte ist nicht die „All-Versöhnung“, sondern eher die „All-Erfüllung“ des Kosmos durch Gott im Leib Christi. Auch hier gibt es für ein Vernichtungsgericht über Christinnen und Christen kaum einen Raum (III). In den echten Paulusbriefen sind die Gerichtsaussagen vielfarbig und nicht spannungsfrei. Man kann drei Aussagereihen unterscheiden: 1. Die Aussagen vom universalen Gericht über die Werke von Juden und Heiden (Röm 1,18–3,20) haben im Römerbrief lediglich eine propädeutische Hilfsfunktion. 2. Die für Paulus wichtigste Aussagelinie formuliert Röm 5,9: Die Konsequenz der Rechtfertigung ist, dass die Gerechtfertigten „aus dem Zorn gerettet werden“. Diese Konsequenz nimmt Röm 8,1 auf: „Es gibt keine Verurteilung für die in Christus Jesus“. Röm 8,28–39 entfalten diese Feststellung. Diese Aussagelinie ist für Paulus die wichtigste: Nur sie ist direkt auf zentrale kerygmatische Aussagen bezogen (Röm 3,24 f; 8,32.34) und entfaltet ihre Bedeutung. Sie entspricht der grundlegenden Intention der – christologisch anders begründeten – Aussagen des Kolosser‑ und des Epheserbriefs. 3. Die dritte Gruppe von Aussagen besteht aus vielen verstreuten Gerichtsaussagen, die oft in paränetischen Zusammenhängen vorkommen. Sie sind meist von einer grossen Beiläufigkeit und haben primär pragmatische Bedeutung: Oft stabilisieren sie die Identität der Gläubigen, zerstören falsche Heilssicherheit und unterstreichen die Paränese (IV). Der Aufsatz „Paulus als Mystiker“ (= Nr. 29) ist die deutsche Originalfassung des 2004 englisch in der Festschrift für James D. G. Dunn erschienenen Aufsatzes „Paul as Mystic“. In seinem ersten Abschnitt versucht er in einem Durchgang durch neuzeitliche Mystikverständnisse festzustellen, welches Verständnis von Mystik allenfalls für Paulus produktiv sein könnte. Am ehesten gilt dies für ein Verständnis von Mystik, das im Anschluss an Thomas von Aquino Mystik als „cognitio divinae bonitatis … affectiva seu experimentalis“ versteht.3 Schon durch diese Definition ist klar, dass es bei Paulus nicht um eine „unio“ mit Gott, sondern um eine Erfahrung von Gottes Liebe und Güte geht. Der Hauptabschnitt des Aufsatzes versucht sechs Grundmerkmale paulinischer „Mystik“ zu skizzieren: 1. Zentrum der paulinischen „Mystik“ ist die Erfahrung des Geistes. „Der Herr ist Geist“ (2 Kor 3,17), ohne dass er in den Geisterfahrungen, die er bewirkt, aufgeht. Paulus kennt also nicht nur den „Christus extra nos“ und den „Christus pro nobis“, sondern auch den „Christus in nobis“. 2. Ekstatische Erfahrungen des Paulus, wie z. B. Zungenrede oder seine Entrückung in den dritten Himmel, sind nicht das Zentrum paulinischer „Mystik“. 3. Die für Paulus grundlegende Christusbegegnung vor Damaskus interpretiert er als Erfahrung eines Ich-Wechsels (Gal 2,20), die alle Christinnen und Christen in der Taufe in ähnlicher Weise machen. 4. „Mystische“ Aussagen bei Paulus finden sich vor allem 3 Thomas

von Aquino, STh 2/II 97 art. 2.

27. Einleitung

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dort, wo er Erfahrungen interpretiert, die alle Christinnen und Christen machen. Insofern ist die paulinische „Mystik“ nicht „elitär“, sondern „demokratisch“. 5. Paulinische „Mystik“ ist Christusmystik. Sie zielt auf das Gleichgestaltigwerden der Gläubigen mit Christus, und zwar nicht nur in seinem Leiden, sondern auch in seiner Auferstehung (z. B. 2 Kor 3,18). 6. Paulinische „Mystik“ ist zur Ethik hin offen. Die „Verwandlung“ hat einen ethischen Aspekt (Röm 12,2). Der Leib Christi ist ein Raum der Liebe. Das alles bedeutet, dass die paulinische „Mystik“ eine Mystik sui generis ist und keine geeignete Basis, um „Mystik“ als ein allgemein-menschliches, interreligiöses Phänomen zu definieren. Vielmehr zeigt Paulus, dass es „Mystik“ nur als „Mystik von … „ gibt, d. h. als christliche, jüdische, islamische, buddhistische, oder eben: paulinische Mystik.4 Es gibt keine direkte „mystische Ökumene“, wohl aber eine indirekte: Im interreligiösen Gespräch sind Christ / ​ innen eingeladen, anderen Menschen von ihren besonderen Erfahrungen mit dem Göttlichen zu erzählen und sie nach ihren besonderen Erfahrungen mit dem Göttlichen zu fragen. Der Aufsatz „Paulus als Charismatiker und Mystiker“ (= Nr. 30) hat eine lange Entstehungsgeschichte. Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Juni 1996 anlässlich eines Festakts zum 65. Geburtstag von Traugott Holtz in Halle gehalten habe. Die Anmerkungen hatte ich im damaligen Vortragsmanuskript nur angedeutet. Seine jetzige Fassung stammt aus dem Jahr 2008, als mich Karl Wilhelm Niebuhr fragte, ob ich bereit wäre, den Vortrag im zweiten Aufsatzband von Traugott Holtz zu veröffentlichen, den er nach dem Tod dieses grossen Gelehrten herausgab. In die Anmerkungen sind also auch Früchte des bereits 2004 veröffentlichten Aufsatzes „Paul as Mystic“ (Nr. 29) eingeflossen. Ein erster Abschnitt zeigt, dass Paulus nicht nur überragender Zungenredner, sondern auch Wundertäter, Prophet und Ekstatiker gewesen ist. Er hatte offensichtlich alle der verschiedenen Gnadengaben, von denen er in 1 Kor 12,8–10 spricht (I). Der zweite Abschnitt fragt, ob es sinnvoll sei, solche Erfahrungen als „mystisch“ zu interpretieren. „Mystik“ ist eine neuzeitliche, darum anachronistische Kategorie; verschiedene neuzeitliche Mystikverständnisse scheinen nicht so recht auf Paulus zu passen. Als heuristische Kategorie ist aber „Mystik“ gerade im Protestantismus eine sinnvolle Kategorie, denn sie erlaubt es, gegen den protestantischen Hauptstrom zu schwimmen und Züge in der paulinischen Frömmigkeit und Theologie ins Licht zu rücken, die in reformatorisch geprägten Paulusinterpretationen meist vernachlässigt und oft als „schwärmerisch“ ausgeblendet wurden (II). Der dritte Abschnitt fragt, wie Paulus diese Erfahrungen interpretiert. Ekstatische Erfahrungen wie seine Entrückung in den dritten Himmel oder die Zungenrede relativiert Paulus, indem er sich von 4 Vgl. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp TB 330, Frankfurt 1980, 6.

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V. Studien zum Corpus Paulinum

ihnen distanziert oder sie „von unten“ um-interpretiert. Die für ihn grundlegende Damaskuserfahrung interpretiert er in Gal 2,20 und in Röm 7,7–8,11 „mystisch“ als Erfahrung, die alle Christinnen und Christen in der Taufe machen (III). Der Schlussabschnitt versucht in ähnlicher Weise wie der vorangehende Aufsatz einige Grundlinien der paulinischen „Mystik“ herauszuarbeiten (IV). Der vierte Aufsatz „Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development“ (= Nr. 31) geht auf den am ersten Pauluskongress in Tarragona 2008 gehaltenen Eröffnungsvortrag zurück. Im Gespräch mit den Vertretern der „New Perspective“, vor allem mit James D. G. Dunn vertritt er die These, dass man die paulinische Theologie nicht von den stabilen Grundlagen des jüdischen Bundesnomismus her verstehen kann, sondern dass sie sich entwickelt und verändert hat. Nach einigen Bemerkungen über den vorchristlichen Paulus, der m. E. keineswegs ein „Normaljude“ war (II), fragt Abschnitt III nach den Ursprüngen der Rechtfertigungsaussagen. Sie liegen wohl in frühchristlichen Taufinterpretationen: Im vorpaulinischen Gemeindechristentum wurde die Taufe als „Rechtfertigung“, d. h. als vorweggenommer Freispruch vom endzeitlichen Gerichtsurteil oder als „Versiegelung“ für das Gericht verstanden (1 Kor 6,11; 2 Kor 1,21; vgl. 1 Kor 1,30). – In der Auseinandersetzung mit dem Torahverständnis der Judaisten in Galatien hat Paulus Rechtfertigungsaussagen aufgenommen und einen Grundsatz formuliert: Οὐ δικαιοῦται ἄνθρωπος ἐξ ἔργων νόμου ἐὰν μὴ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ (Gal 2,16; Röm 3,20). Obschon Pls im Kontext von Gal 2 vor allem an die Israel von den Nichtjuden abgrenzenden Speise‑ und Ritualgebote und an die Beschneidung denkt, enthält dieser Grundsatz einen Sinnüberschuss: Man darf nicht nur an „boundary-marking laws“ denken. Paulus spricht in Gal 2–4 von der Torah überhaupt. Er macht ausschliesslich negative Aussagen über sie. Christus und die Torah scheinen axiomatisch zwei einander entgegengesetzte Heilsprinzipien zu sein (IV). – Anders ist es dann im kurze Zeit später geschriebenen Römerbrief. Hier interpretiert Paulus sein Evangelium als Rechtfertigungslehre, und zwar nicht in polemischer Zuspitzung wie im Galaterbrief, sondern im Blick auf die römische Gemeinde oder auf den heimlichen Adressaten „Jerusalem“ im Ganzen eher apologetisch. Das führt ihn zu Erweiterungen, Vergrundsätzlichungen und Revisionen seiner Darlegungen im Galaterbrief. Im Römerbrief – und nur im Römerbrief – betont er den theozentrischen Aspekt der Rechtfertigungsaussagen und spricht von der „Gerechtigkeit Gottes“. Der Frage, inwiefern die im Galaterbrief ausschliesslich negativ gewertete Torah denn Torah Gottes sein kann, stellt er sich nun ebenso wie der Frage nach der bleibenden Erwählung des Gottesvolks Israel. Mit anderen Worten: Im Römerbrief kehrt Paulus zu grundlegenden Überzeugungen des jüdischen Bundesnomismus zurück, die er im Galaterbrief preisgegeben zu haben scheint (V). – Im Philipperbrief, m. E. dem spätesten Paulusbrief, spricht Pls. nur in 3,4–9 von Rechtfertigung. Hier haben seine Rechtfertigungsaussagen einen individuell-biographischen, nicht einen heilsgeschichtlichen Horizont. Er

27. Einleitung

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spricht darum von „Gerechtigkeit aus Gott“ (nicht von „Gerechtigkeit Gottes) im Gegensatz zu seiner eigenen Gerechtigkeit (nicht zu Israels Gerechtigkeit) und verbindet seine Rechtfertigungsaussagen mit partizipatorischen Aussagen. Als Brücke zu den konfessionellen Debatten des 16. Jh., in denen es ebenfalls um die Rechtfertigung des einzelnen Menschen ging und in denen die Frage strittig war, wie weit diese in juridischen oder in partizipatorischen Kategorien zu interpretieren sei (iustitia imputata versus iustitia infusa) ist er besonders wichtig (VI). Einige Schlussreflexionen über das Verhältnis des Paulus zu reformatorischer Theologie schliessen den Aufsatz ab (VII). Der letzte Aufsatz dieses Kapitels, nämlich die Studie „Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese“ (= Nr. 32) aus der Festschrift für Rudolf Schnackenburg (1989) war eine Vorbereitung für meinen 1998 veröffentlichten Kommentar zum Kolosser‑ und Epheserbrief.5 Seine wichtigsten Thesen lauten: 1. Die Paränese des Epheserbriefs (Kap. 4–6), die mehr als die Hälfte des ganzen Briefs umfasst, ist sehr wichtig. Dass der Verfasser sich in ihr weitgehend an den Kolosserbrief anlehnt, zeigt, dass ihm gerade dieser Teil des Kolosserbriefs wichtig war. Im Vergleich mit dem Kol gleicht der Eph einem Haus, dessen Parterre weitgehend neu gebaut wurde, während das erste Stockwerk stehen blieb. Der Aufsatz untersucht vor allem die beide Stockwerke verbindenden „Treppenhäuser“ (I). 2. Der erste Teil des Eph ist nicht als „Traktat“, sondern als Gebetsbrief zu verstehen. Er beginnt in Kap 1 mit Lobpreis und Dankgebet und endet in 3,14–21 wiederum mit einem solchen. Der Brief führt auch seine heidenchristlichen Hörer / ​innen ins Gebet: Es geht in ihm weder um Theologie noch um Informationen, sondern um Dank und Lob. Dem entspricht, dass im paränetischen Teil die gottesdienstliche Akklamation (4,1–6) und die Aufforderungen zum Gebet (5,18–20; 6,18 f)) an herausgehobener Stelle stehen (II). Inhalt des Dankgebetes der Gemeinde ist ihr Leben als neue Geschöpfe in Christus (2,10), das ihr durch das Werk des Völkerapostels Paulus geschenkt wurde. Deshalb ist Eph 2,11–3,13 am besten als dankbare Rückerinnerung an den Apostel Paulus zu verstehen, dessen Lebenswerk es war, Heiden und Juden in einem Leibe zu versöhnen und die zwischen ihnen bestehende Mauer niederzureissen. Indem der Verfasser im Eingangsteil seiner Paränese zur Bewahrung der Einheit und zur Liebe auffordert (4,1–16), fordert er sie zugleich dazu auf, das Lebenswerk des Völkerapostels weiterzuführen (III). Ein kurzer Abschnitt „Ausblicke“ enthält Hinweise auf weitere die beiden Stockwerke des Hauses verbindende „Treppenhäuser“, die in dem Aufsatz nicht mehr eingehend untersucht werden konnten (IV).

5 Ulrich Luz, Der Brief an die Epheser, in: Jürgen Becker / ​Ulrich Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, NTD 8/1, Göttingen 1998, dort 107–180.

28. Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes Überlegungen zu den Gerichtsaussagen der Paulustradition I. Einführung Das Jüngste Gericht1 gehört zu den dunklen Seiten Gottes. Walter Dietrich und Christian Link schreiben in ihrem bemerkens‑ und bedenkenswerten zweibändigen Werk über dieses Thema: „Die Bibel (verbindet) die Hoffnung auf (die) Vollendung mit der Ansage eines letzten, Jüngsten Gerichts, in dem sich die Scheidung zwischen alt und neu, zwischen dem, was sich bewährt hat und dem, was zum Vergehen bestimmt ist, vollzieht. Damit verdunkelt sich der Horizont“.2 Die Verfasser zitieren Thomas von Celano, verbinden diesen schrecklichen Text mit Zephanja 1,14 f und dem matthäischen Heulen und Zähneknirschen (Mt 8,12 u. ö.), um sich dann von beidem zu distanzieren: Angstmachen kann nicht das sein, was der biblische Gott tut. Sie geben sich Mühe, die positiven Aspekte des biblischen Gerichtsgedankens in den Vordergrund zu stellen: Die Aufdeckung von Gewalt und Unrecht der Geschichte bedeute Treue Gottes gegenüber den Opfern, die das Unrecht beim Namen nennt (319). Das Endgericht bedeute, dass Gott den Menschen die Geschichte mit ihrem „tödlichen Gefälle“ (353) aus den Händen nehme und selbst Gerechtigkeit übe und damit unserer Ungerechtigkeit ein Ende setze. Gottes Gericht bedeute Gottes „Widerspruch […] gegen die Macht, die sein Recht mit Füssen tritt“ (354). Gottes Gericht bringe die Taten der Menschen „aus jeder […] Verdrängung ans Licht“ (318) der Wahrheit3 und nehme so den Menschen in seinen Taten ernst. Gerade darum bedeute sein Gericht eine eine Zuwendung zum Menschen.4 Letztlich setzt sich also 1 Diese Zeilen sind teilweise Spätfrüchte eines gemeinsamen exegetisch-systematischen Seminars über das Jüngste Gericht im NT in Bern im SS 1993 mit Christian Link, an das ich mich mit Dankbarkeit erinnere. 2 Walter Dietrich / ​Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen 2000, 316. Seitenzahlen im Text aus diesem Buch. 3 Besonders stark betont dies auch Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, 469. 4 Ähnlich Eberhard Jüngel, Gericht und Gnade, in: Konrad v. Bonin (Hg.), Deutscher Evangelischer Kirchentag Berlin 1989, Stuttgart 1989, 235 f. Pointiert formuliert er: „Das Jüngste Gericht ist das therapeutische Ereignis schlechthin“. Jüngels Vortrag ist eindrücklich

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im Jüngsten Gericht der Schalom Gottes durch. Solche Sätze lesen sich gut, und sie sind wirklich hilfreich als Versuch, den biblischen Texten so weit wie irgendwie möglich einen positiven Sinn abzugewinnen und sie nicht primär gegen ihren Strich, sondern gegen unseren Strich zu lesen. Wir sind in der Tat den biblischen Texten, deren Anwälte wir als Exegeten sind, weitestgehende Solidarität schuldig.5 Aber dennoch will diese Solidarität nicht völlig gelingen. Die Verzweiflung an Gott, die Vernichtung des eigenen Selbstwertgefühls, die Versklavung von Menschen unter sie manipulierende bibeltreue Bussprediger, welche die Wirkungsgeschichte der biblischen Gerichtsverkündigung durch die Jahrhunderte hindurch belegt: Alles das ist nicht nur eine Folge von kirchlichen Manipulationen der biblischen Texte oder eine Folge der bedauerlichen Tatsache, dass sie selten ganz richtig verstanden worden sind (warum eigentlich?), sodass theologische Aufklärung über ihren wahren Sinn und exegetisches „Ins-rechteLicht-Rücken“ nun endlich in höchstem Masse an der Zeit wäre. Das alles gilt auch, aber nicht nur! Niemand kann z. B. aus gewissen matthäischen Texten oder aus der Apokalypse den Gedanken der Angst herausoperieren, die sie nicht nur den anderen, sondern gerade auch der Gemeinde einflössen wollen. Ein schlüssiger exegetischer Beweis, dass man neutestamentliche Texte falsch liest, wenn man sie vom Gedanken des Weltgerichts mit seinem doppelten Ausgang her liest, ist kaum möglich. Natürlich gibt etwa der Ausgang der matthäischen Jesusgeschichte, insbesondere Jesu letztes Wort an seine Jünger (Mt 28,20!), einen deutlichen Hinweis darauf, von welcher Mitte aus sie zu lesen ist. Aber sind die Gerichtsworte Jesu an seine Gemeinde, insbesondere diejenigen seiner letzten Rede Mt 24 f, die in unablässig wiederholender Monotonie den doppelten Ausgang der Weltgeschichte verkünden (Mt 24,41 f.45–51; 25,10–12.21.23.30.31–46) und den Schrecken der Vernichtung der Verlorenen einschärfen (Mt 24,28.30.51; 25.12.30.46) nicht auch entscheidend wichtig? Ist nicht auch das letzte Wort der öffentlichen Verkündigung Jesu im Matthäusevangelium (Mt 25,46), das vom doppelten Ausgang des Gerichtes spricht, ein Schlüsseltext? Natürlich gilt gerade für die Johannesapokalypse, dass sie aus der Perspektive der Opfer zu lesen ist. Zu deren Hoffnung muss gehören, dass Gog und Magog, und hilfreich; was er sagt, ist goldrichtig, sofern man es nicht als Interpretation der biblischen Aussagen, sondern als sachkritische Lektüre gegen die biblischen Aussagen mithilfe des biblischen Zeugnisses versteht. Als direkte Lektüre gilt etwa für die matthäische „Feuerhölle“ oder den „Feuersee“ von Apk 20,10.14, in den nicht nur der Teufel und der falsche Prophet, sondern auch die menschlichen Übeltäter geworfen werden, damit sie nie mehr (!) auferstehen, leider gerade nicht, dass das Feuer des Geriches Gottes „das Brennende seiner Liebe sei“ (ebd. 236). Dieses Feuer verbrennt! 5 Ich habe das gegenüber den matthäischen Gerichtsaussagen, die zu den härtesten (und problematischsten!) im Neuen Testament gehören, auch versucht: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen / ​Düsseldorf 1997, 551–557.

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der Teufel, das Tier und der falsche Prophet endgültig gefesselt werden. Aber wie steht es mit all den „grossen und kleinen Bösewichtern“,6 die ihr grässliches Schicksal teilen? Das Problem besteht darin, dass es nicht nur „die Opfer der Weltgeschichte“ gibt „und … die Täter“.7 Die meisten heutigen Leserinnen und Leser der Apokalypse sind in unterschiedlicher Mischung Opfer und Täter zugleich. Niemand kann sich angesichts des Gerichtes Gottes das Recht nehmen, ihre Texte ausschliesslich aus der Opferperspektive zu lesen. Und wie steht es schliesslich mit Jesus? Er war Verkündiger des nahen Gottesreichs, das alles die Menschen von Gott und voneinander Trennende einschmilzt – und zugleich Verkündiger des Endgerichts mit doppeltem Ausgang. Nachdem dieser zentrale Aspekt der Verkündigung in der Forschung des 20. Jh.s meist verdrängt worden ist, ist er erst unlängst wieder in den Vordergrund der Jesusforschung gerückt worden.8 Zwar bedeutet die Ankunft des Gottesreichs Vergebung für die Sünder, Gesundheit für die Kranken, Selbstbestimmung für die Besessenen, Aufwertung für die Frauen, Integration für die Randsiedler Israels im Namen Gottes. Aber wehe denen, die auf Jesu Worte nicht hören und diese Liebe Gottes ablehnen (z. B. Q 6,49; 12,8 f; Lk 14,21–24 )! Die Rückseite der Liebe Gottes ist in der Verkündigung Jesu das Gericht. Mk 16,16 formuliert in der Perspektive Jesu völlig richtig: „Wer zum Glauben gekommen ist und getauft wurde, wird gerettet werden, wer aber nicht zum Glauben gekommen ist, wird verurteilt werden“. Die Kirchen haben später das Heil an die eigene Auslegung der Verkündigung Jesu gebunden, nicht ganz ohne Anhalt am Neuen Testament. Hier liegt m. E. für uns die dunkelste Stelle im Dunkel des Jüngsten Gerichtes.9 Die Ankunft des Reiches Gottes im Wirken Jesu lädt alle Menschen in Israel ohne Grenzen ein, Gottes Kinder zu sein. Aber es schafft zugleich eine neue Grenze. Wie ist Jesus zu lesen? Ich sehe die Stärke der Interpretationen biblischer Gerichtstexte durch W. Dietrich und C. Link darin, dass sie „evangelische“ Kehrseiten dieser dunkeln Texte deutlich gemacht haben. Zugleich aber haben sie eine letzte Ambivalenz, die im Gerichtsgedanken selbst liegt, nicht beseitigt. Ich kann und will diese Ambivalenz auch nicht beseitigen. Meine Absicht ist es nicht, den biblischen Gerichtsgedanken noch evangelischer und heller machen, als dies im Versuch von Dietrich und Link geschehen ist. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass bei einigen neutestamentlichen Autoren der Gerichtsgedanke nicht im Zentrum steht. Ich wähle als Beispiel Paulus und seine Schule. 6 Dietrich / ​Link,

Die dunklen Seiten (o. Anm. 2), 354. 318. 8 Marius Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA NF 23, Münster 1990; Christian Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23/653, Bern u. a. 1999. 9 Kolakowski hat dieses Dunkel in seiner Fabel „Wie Gott Maior seinen Thron verlor“ in grossartiger Weise karikiert und auf seine Weise aufgelöst: Leszek Kolakowski, Dreizehn Fabeln aus dem Königreich Lailonien für Gross und Klein, in: ders., Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten, München 1966, 157–165. 7 Ebd.

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Ich könnte aber auch das johanneische Schrifttum oder den Hebräerbrief wählen. Ich möchte von da aus die Frage stellen, ob der Gerichtsgedanke, verstanden als doppelter Ausgang der Weltgeschichte auf Grund des Gerichtsurteils Gottes oder Christi im Jüngsten Gericht, wirklich zur Mitte des Neuen Testamentes gehört. Ich möchte fragen, warum manche neutestamentlichen Texte den Gerichtsgedanken zurücktretenlassen können und was dabei gewonnen und was verloren wird. Ich möchte also nicht das Dunkel des Gerichtsgedankens aufhellen, was man zweifellos auch tun soll, sondern auf Lichtflecken hinweisen, die im Neuen Testament neben den scheinbar (und m. E. wirklich!) dunklen Aussagen über Gottes Gericht stehen. Mit dem Alten Testament beschäftige ich mich in diesem Versuch nicht. Dies nicht nur aus professioneller Bescheidenheit und auch nicht deswegen, weil es im Alten Testament nicht auch Lichtflecken zu entdecken gäbe, sondern vor allem, weil in dem verdienstvollen, von einem Alttestamentler und einem Systematiker geschriebenen Buch über die dunkeln Seiten Gottes das Neue Testament generell zu kurz zu kommt. Die Gründe dafür sind zwar naheliegend, aber das Zurücktreten des Neuen Testamentes ist trotzdem schade: Lichter und dunkle Seiten Gottes gibt es in beiden Testamenten, und in beiden Testamenten ist es so, dass das scheinbar Dunkle auch leuchten kann, während das scheinbar Helle das Dunkel des Lebens vielleicht gar nicht voll ausleuchtet. Wie sich dunkle und lichte Seiten Gottes in beiden Testamenten zueinander verhalten, verdiente eine eigene Erörterung in einem eigenen Buch, das leider noch nicht geschrieben ist. Ich beginne mit dem Kolosserbrief (II), den ich für einen zu Lebzeiten des Paulus geschriebenen Mitarbeiterbrief halte, und mit dem Epheserbrief (III). In beiden Briefen tritt das Endgericht ganz stark zurück. Von ihnen her möchte ich zurückgehen und nach Paulus fragen (IV).

II. Der Kolosserbrief Im Kolosserbrief treten die Gerichtsaussagen gegenüber Paulus sehr zurück. Da der Brief von paulinischem Denken und paulinischer Sprache ausserordentlich stark geprägt ist, fällt das auf. Zwar klingt das Gericht an verschiedenen Stellen noch an: In Kol 1,22 f ist als Ziel von Christi Versöhnungshandeln angegeben: „um euch heilig und makellos und unbescholten vor sich hinzustellen“. Das Verbum παρίστημι erinnert die Leser / ​innen an das ihnen bekannte Gericht, daran, dass sie einst vor den Richterstuhl Christi gestellt sein werden (vgl. Röm 14,10; 2 Kor 4,14; 11,2; 1 Kor 8,8). Aber der Text enthält keinen expliziten Hinweis, der die Gerichtsvorstellung in den Leser / ​innen aktiviert. ͗Άμωνος, ein bei Paulus nur in Phil 2,15 verwendetes, aber vom Eph zweimal aufgenommenes Adjektiv, entstammt dem kultischen Bereich. ͗Ανέγκλητος, „unbescholten“ wird

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zwar umgangssprachlich häufig in rechtlichen Kontexten gebraucht10 und taucht bei Paulus einmal auch im Kontext des Jüngsten Gerichts auf (1 Kor 1,8), aber im Unterschied zu jener Stelle wird „der Tag unseres Herrn Jesu Christi“ gerade nicht erwähnt. Ἅγιος hat keine besondere Nähe zum Gerichtsgedanken. Die ganze Aussage ist vom Heilshandeln Christi geprägt: Er ist derjenige, der durch seinen Tod die Gläubigen versöhnt hat; er wird sie vor seinen Thron stellen.11 Die Aktivität der Gläubigen besteht im „Bleiben im Glauben.“ Ein ganz ähnliches Bild zeigt die parallele Stelle Kol 1,28. Auch hier ist im Rahmen einer Verkündigungsaussage vom παραστῆσαι die Rede. Auch hier mögen die Leser / ​innen an das Gericht gedacht haben, aber der Text enthält keine Aussage, welche diese Assoziation stützt. Auch hier ist die Aussage nicht in einen paränetischen Zusammenhang eingebettet, sondern bezeichnet, ähnlich wie 2 Kor 11,2, das Ziel der apostolischen Verkündigung des Paulus. Gerade angesichts der Nähe der Texte zu paulinischen Aussagen fällt auf, dass die Assoziationen an das Gericht, welche im Repertoire der Leser vorkommen, eher „abgelöscht“ bleiben. Der Verfasser scheint jede explizite Erwähnung des kommenden Gerichtes zu vermeiden. Kol 3,4 bestätigt diesen Befund. Auch hier wird ein paulinischer, ja biblischer Gedanke modifiziert. Paulus und andere frühchristliche Autoren verstehen die Parusie als Epiphanie Christi (1 Kor 1,7; vgl. 1 Joh 2,28; Mt 24,27.30; Apk 19,11ff). Sein Gericht bedeutet die endgültige Offenbarung aller menschlichen Taten (Röm 2,16; 1 Kor 4,5; 2 Kor 5,10; vgl. syBar 83,3). Der Akzent unserer Stelle ist charakteristisch anders: Nicht um die Offenlegung der verborgenen menschlichen Taten und Absichten geht es, sondern um das Offenbarwerden des Lebens. Christus, „euer Leben“, wird sich offenbaren, und dazu gehört, dass auch das jetzt noch verborgene Auferstehungsleben der Gemeinde sich in Herrlichkeit offenbaren wird. Nicht das, was die Gläubigen noch nicht sind, wird dann offenbar, sondern das, was sie jetzt schon sind. Nicht an die apokalyptische Tradition von den verborgenen Werken, die im Jüngsten Gericht, wenn die Bücher aufgeschlagen sind, öffentlich gemacht werden, knüpft der Verfasser an, sondern an die apokalyptische Tradition von dem bei Gott verborgenen Heil, das am Ende offenbart werden soll (vgl. z. B. 4 Esr 7,26; syBar 51,8). Auch im Kolosserbrief steht der Ausblick auf die Parusie im Dienst der Paränese (Kol 3,2.5–17). Aber er zielt nicht darauf ab, „einen eschatologischen Vorbehalt zu formulieren, sondern (dient) der eschatologischen Vergewisserung“.12 Nicht die Ungewissheit des Heils, sondern seine Gewissheit ist die Grundlage der 10 James

H. Moulton / ​George Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament, Grand Rapids 1930, 40. 11 Ähnlich in 1 Kor 4,14. In Röm 14,10 sind die Gläubigen Subjekt der passiv formulierten Aussage. 12 Michael Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTBK 12, Gütersloh / ​Würzburg 1993, 170.

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Paränese – und diese ist im Kolosserbrief nicht minder zentral als in anderen paulinischen Briefen. Werfen wir noch kurz einen Blick auf Kol 3,6: Durch die Leidenschaften, die in dem kurzen Lasterkatalog 3,5 aufgezählt werden, und die in den typisch heidnischen Lastern „Habsucht“ und „Götzendienst“ gipfeln, „kommt der Zorn Gottes“. Dass er „über die Söhne des Ungehorsams“ kommt, ist eine sachlich zwar richtige, aber textkritisch wohl sekundäre Eintragung aus Eph 5,6.13 Der Verfasser spricht vom Gericht über die Nichtchristen. Das ergibt sich aus dem Kontext: Es geht um Gottes Zorn über die Laster, in denen die Gläubigen einst wandelten (3,7). Das ergibt sich auch aus Röm 1,18–32, dem Paulustext, der im Hintergrund steht. Kol 3,6 ist die einzige Stelle im Brief, an der das Gericht Gottes explizit genannt wird, aber gerade nicht das Gericht über die Christinnen und Christen. Dennoch aber muss es der Verfasser um der Gemeinde willen erwähnen: Das heidnische Leben liegt ja nicht einfach ein für alle Male hinter den Gläubigen, sondern sie müssen „im Glauben bleiben“ (1,23), indem sie ihr neues Leben bewähren: Darum die paränetischen Aussagen: Νυνὶ δὲ ἀπόθεσθε καὶ ὑμεῖς τὰ πάντα. Die Gläubigen können ihr neues Leben wieder verfehlen und durch ihre Praxis aus dem Glauben herausfallen. Kol 1,22 macht den soteriologischen Grundansatz des Kolosserbriefes deutlich: Christus wird als Versöhner gesehen. Die Rechtfertigungstheologie tritt im Kol bekanntlich zurück und damit auch die forensische Terminologie. Wenn im Versöhner das ganze Pleroma wohnt (1,19), wenn er durch seinen Tod den ganzen Kosmos befriedet hat (1,20), wenn er als Haupt der Kirche zugleich das Haupt des Alls ist (1,18), wenn die Versöhnung bis in den Anfang der Welt verlängert wird und für den Glauben der ganze Kosmos im Versöhner Christus seinen Bestand hat (1,15–17), dann gibt es keinen Raum mehr für die finstere Macht des Bösen. Alle Throne, Herrschaften, Mächte und Gewalten sind ihm untertan. Dann braucht der Versöhner nicht bis zum Endgericht zu warten, bis er sich in der Welt siegreich durchsetzt: Er hat sich bereits durchgesetzt und die Gemeinde, die ihn anruft, kann seinen Sieg lobpreisend im Gebet und handelnd in ihrer Praxis nachvollziehen. Das christliche Handeln kann und darf sich auf nichts anderes stützen als auf die durch Christus gewirkte kosmische Versöhnung. Diese Theologie ist grossartig, frei von Angst und getragen von vollkommener Heilsgewissheit. Sie vernachlässigt die Ethik in keiner Weise. Wohl aber kann und muss man sich fragen, ob sie nicht ein bisschen harmlos ist. Ist die von Christus erlöste und befriedete Welt des Kolosserbriefs, die in ihm allein Bestand hat, wirklich identisch „mit der wirklichen Welt, wie wir sie heute tagtäglich erfahren, mit der friedlosen, leidenden, zur Ware gewordenen und 13 Gegen Nestle-Aland27 und Andreas Lindemann, Der Kolosserbrief, ZBK.NT 10, Zürich 1983, 55 f.

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bedrohten Welt“?14 Die Rede von einem kommenden Gericht Gottes erlaubt es, das Böse als solches zu benennen. Sie verhindert die Verwechslung der mit Gott versöhnten Innenwelt der Kirche und der christlichen Frömmigkeit mit der wirklichen Welt. Nicht in das Gesamtbild passen die Ausführungen in der Sklavenparänese der Haustafel Kol 3,24 f. Sie sind von Tradition bestimmt: „Denn ihr wisst, dass ihr vom Herrn als Vergeltung das Erbe bekommen werdet“ (V 24) entspricht dem traditionellen Text der vom Verfasser aufgenommenen Haustafel. V 25 („wer … Unrecht tut, wird wieder erhalten, was er an Unrecht getan hat, und es gibt kein Ansehen der Person“ ist vermutlich Zufügung des Briefverfassers.15 Hier und nur hier – in der Interpretation eines traditionellen Textes – setzt auch unser Verfasser ein Gericht über Christen voraus. Ob dies ein Weltgericht ist, das am Jüngsten Tag stattfindet, oder ein individuelles Gericht nach dem Tode jedes einzelnen Menschen, bleibt offen. Seine eigenen Formulierungen sind von Pls geprägt (Röm 2,11; 2 Kor 5,10); in der Sache unterscheidet sich Kol 3,25 allerdings von Röm 2,11, da hier nicht Gott, sondern Christus Richter „ohne Ansehen der Person“ ist und da es nicht, wie Röm 2,12–16, um das Weltgericht über alle Nichtchristen, sondern um das Gericht über Christen geht.

III. Der Epheserbrief Im vom Kolosserbrief abhängigen Epheserbrief ist das Böse als Böses benannt, allerdings ohne dass der Verfasser dafür auf das Jüngste Gericht rekurriert. Ich denke hier an die Sondergutsparänese von der Waffenrüstung Gottes Eph 6,11–17. Hier wird das Böse mythisiert und damit überhöht: Nicht um den Kampf „gegen Fleisch und Blut“ geht es, „sondern gegen die Mächte, gegen die Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den Himmeln“ (Eph 6,12). Das Böse, das die Gemeinde mit der von Gott geschenkten Waffenrüstung bekämpfen soll, wird hier sehr ernst genommen. Mit der im Lobpreis vorweggenommen Perspektive, welche Christus bereits in diesem Äon über allen Mächten als Herrscher thronen (1,21 f) und die Gemeinde mit ihm in den Himmeln sieht (2,6), kontrastiert diese Paränese auffällig. Dennoch rekurriert sie gerade nicht auf das Jüngste Gericht: Der „böse Tag“ (6,13) ist nicht etwa der eschatologische Gerichtstag, sondern die Gegenwart. Die präsentische Eschatologie des Epheserbriefs überspielt also den Blick für die Realität des Bösen in der Welt keineswegs. Wohl aber bildet sie gleichsam das Vorzeichen des Kampfes der Gemeinde gegen das Böse. Das deutet V 10 an: „Lasst euch kräftig machen im Herrn und in der Kraft seiner Stärke“. Was damit gemeint ist, wissen die Leserinnen und Leser z. B. aufgrund von 1,19; 3,16.20: Durch die Auferweckung und Erhöhung Jesu hat Gott seine überwältigende 14 Ulrich Luz, Der Brief an die Kolosser, in: Jürgen Becker / ​Ulrich Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, 1998, NTD 8/1, Göttingen 1998, 206. 15 Zur Analyse vgl. Luz a. a. O. 233.

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Kraft erwiesen. Darum soll sich auch die Gemeinde durch den Herrn Kraft schenken lassen. Von ihm geht alles aus. Darum ist die von Gott geschenkte Waffenrüstung – Wahrheit, Gerechtigkeit, das Evangelium, der Glaube, die Rettung, der Geist, das Wort Gottes – ihr Verteidigungsmittel gegen die Angriffe des Bösen. Und darum mündet die Paränese – für den Verfasser des Briefes typisch16 – in eine Aufforderung zum Gebet (5,18). Gott, bzw. der Herr Christus ist es, welcher der Gemeinde das eigene Wirken schenkt und damit auch die Gewissheit, diesen Kampf zu bestehen. Im Übrigen ist der Befund ähnlich wie im Kolosserbrief. Das Gericht über die Christen spielt keine Rolle. Im ganzen ersten Teil des Briefes, der grossen Anbetung und dankbaren Erinnerung an das Missionswerk des Paulus,17 kommt das Jüngste Gericht nicht vor. Im zweiten, paränetischen Hauptteil des Briefes gibt es einige Belege, aber abgesehen von den aus dem Kolosserbrief weitgehend18 übernommenen Stellen in der Haustafel 6,8 f, sprechen sie nicht explizit von einem Gericht über Christinnen und Christen. Charakteristisch ist Eph 4,30: Hier ist vom zukünftigen „Tag“ die Rede, aber nicht vom Tag des Gerichts oder vom „Tag des Herrn“, sondern vom „Tag der Erlösung“: „Für den Verfasser verbindet sich … der Gedanke des ‚Tages‘ nicht mit der Vorstellung des Gerichts, sondern mit der Erlösung“.19 Wie schon bei 6,12 zeigt sich, dass der Verfasser die Zeit je nach seiner Blickrichtung verschieden einsetzt. Er spricht von der Erlösung bzw. vom Sieg über die Mächte in der Gegenwart bzw. in der Vergangenheitsform, wenn er betend nach oben blickt, und zugleich erhofft er sie erst für die Zukunft, wenn er von den Aufgaben der Gemeinde in der Welt spricht.20 Eph 5,5 f spricht wie Kol 3,5 f vom Gericht über die Nichtchristen,21 von denen sich die Gläubigen trennen sollen (3,7). Neben Kol 3,5 f klingen 1 Kor 6,9 und Gal 5,21 an. Ob „Reich des Christus und Reich Gottes“ – beides wird identifiziert – präsentisch (vgl. 1,22 f) oder futurisch zu fassen ist, bleibt offen. Der kommende Zorn Gottes dürfte wie in 1 Thess 1,10 (vgl. 1 Thess 5,2 f.9; Röm 16 Vgl. Ulrich Luz, Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese, in: Helmut Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg u. a.1989, 376–396, dort 385 f. 395 f; in diesem Band Aufsatz Nr. 34, dort Abschnitt 2.2. 17  Ebd. 386–393 = Aufsatz Nr. 34, dort Abschnitte 2.1 und 3.1. 18 Καὶ προσωλημψία οὐκ ἔστιν παρ᾿ αὐτῷ ist in die Herrenparänese verschoben worden. Das traditionelle ἀπὸ κυρίου ἀπολήμψεστε τὴν ἀνταπόδοσιν τῆς κληρονομίας fehlt; dadurch ist der Gerichtsgedanke im ganzen weniger betont. Wieder bleibt offen, ob von einem Jüngsten Gericht über die ganze Welt oder von einem nachtodlichen Gericht über die einzelnen Menschen die Rede ist. 19 Andreas Lindemann, Die Aufhebung der Zeit: Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief, 1975 StNT 12, Gütersloh 1975, 231. 20 Ich möchte nicht, wie Lindemann a. a. O. (Aufhebung der Zeit), 231 f, die hier bestehende Spannung logisch systematisieren und denke deshalb nicht, dass der Verfasser hätte formulieren können, dass „die Christen am ‚Tag der Erlösung‘ als bereits Erlöste durch das Siegel erkannt werden“. 21 Gegen Markus Barth, Ephesians, 1974 AncB 34A, Garden City 1974, 576. Vgl. 2,2 und den Kontext ab 4,17.

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1,18; 2,5.8; 3,5) das zukünftige Gericht bezeichnen. Es ist das Ende des Bereichs der „Finsternis“, mit dem die Gläubigen nichts mehr zu tun haben sollen. An die Stelle des „Offenbarwerdens“ des Bösen im Jüngsten Gericht (1 Kor 4,5) ist das „Überführen“ des Bösen durch die Verkündigung und die Praxis der Gemeinde getreten (Eph 5,11.13 f), wofür Eph 6,11–17 ein Beispiel ist. Im Ganzen lässt sich sagen, dass ein Gericht über die Christ / ​innen im Denken des Epheserbriefs keinen Platz hat. Nicht das kommende Gericht, sondern gerade die Freiheit von ihm, das Wissen darum, dass die Gläubigen als „Kinder des Lichts“ (5,8) einem anderen angehören, nämlich Christus, der ihnen aufgestrahlt ist (5,14), motiviert das Handeln. Im Unterschied zum Kolosserbrief ist es nicht der christologisch gefasste Gedanke der kosmischen Versöhnung, welcher das theologische Zentrum des Briefes ausmacht, sondern es ist das nur lobpreisend nach-zu-denkende Handeln Gottes, das allem menschlichen Handeln vorausgeht (Eph 1,4 f.9–11). Gott gibt Christus allen zum Haupt (1,10). Er hat durch Christi Auferweckung und Erhöhung die „überragende Grösse seiner Macht offenbart“ (1,19). Er „erfüllt alles in allem“ durch die instrumental verstandene verkündigende Kirche vom Haupte Christus her (1,23). Die Akzente haben sich gegenüber dem christologischen Ansatz des Kolosserbriefs verschoben, ohne dass ein Gegensatz zu ihm bestünde – aber m. E. nicht in Richtung auf die Ekklesiologie, sondern eher in Richtung auf die Theologie.22 An die Stelle des Jüngsten Gerichtes tritt nicht – wie im Kolosserbrief – eine „All-Versöhnung“, sondern eine von Gott ausgehende, durch Christus vollzogene, sich ausdrucksmässig mit stoischen und orphischen pantheistischen Denkweisen berührende wirkungsmächtige „All-Erfüllung“ durch Gott. Sie lässt für die Gläubigen das Gericht von einer Zukunfts‑ zu einer Vergangenheitsperspektive werden, weil es für es im „erfüllten“ All keinen Raum mehr für ein Vernichtungsgericht gibt.

IV. Die paulinischen Briefe Wie steht es bei Paulus, dem grossen Inspirator der Briefe an die Kolosser und Epheser? Ich gehe aus von der Vermutung, dass die beiden Briefe, die sich sprachlich und inhaltlich in ihren Aussagen so sehr auf Paulus stützen, diesen nicht völlig missverstanden haben. Allerdings hat Paulus mindestens im Römer‑ und im Galaterbrief das Evangelium anhand des Leitfadens der Rechfertigung ausgelegt; dadurch steht er dem forensisch verstandenen Gedanken eines Jüngsten Gerichtes näher, als dies im Kolosserbrief mit seiner Versöhnungstheologie und im Epheserbrief mit seiner Erfüllungstheologie möglich ist.

22 Das „Thema“ des Eph ist nicht die „Kirche“ (gegen Andreas Lindemann, Der Epheserbrief, ZBK.NT 8, Zürich 1985, 14).

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Die paulinischen Gerichtsaussagen sind nicht nur zahlreich, sondern auch vielfarbig und vielgestaltig. Mit denen des Kolosser‑ und des Epheserbriefs berühren sie sich darin, dass nirgendwo eine ausführliche Gerichtsbeschreibung vorliegt. Die derzeitige Forschungslage möchte ich durch zwei divergierende Tendenzen charakterisieren: Die eine Forschungsrichtung versucht, die verschiedenen paulinischen Gerichtsaussagen vorstellungsmässig und theologisch so weit wie möglich, wenn auch nicht unbedingt einlinig, zu systematisieren (a); die andere rechnet eher damit, dass Paulus weitgehend von unterschiedlichen Traditionen geprägt ist, welche er in verschiedenen Kommunikationssituationen sehr verschieden anwendet (b): a) Zum ersten Typus gehört z. B. K. P. Donfried: Ausgehend von der in Käsemanns Sinn verstandenen Rechtfertigungsbotschaft versteht er das universale Jüngste Gericht als Vollendung des eschatologischen Rechtfertigungsprozesses. Er schliesst Gottes Zorn über denjenigen, „who has been disobedient to his calling in Christ“, ein.23 C. J.  Roetzel möchte die Gerichtsaussagen nicht im Horizont der Rettung des Einzelnen, sondern breiter im Horizont des Handelns Gottes durch und an der Kirche interpretieren: Die Kirche, die bereits jetzt als Gottes Werkzeug des Gerichts sich selber „erbaut“ und reinigt, wird selbst im Endgericht gereinigt werden, wenn sie am eschatologischen Sieg Christi teilnimmt.24 M. Klinghardt sieht in der jüdischen Vorstellung vom „Züchtigungsgericht“ des Bundesgottes gegenüber Israel den traditionsgeschichtlichen Hintergrund, auf dem sich alle paulinischen Gerichtsaussagen, nicht nur 1 Kor 3,12–15; 5,1–5 und 11,27–32, sondern auch diejenigen von Röm 2 und Röm 9,6–29 erklären lassen.25 K. L.Yinger gelangt im Anschluss an E. P. Sanders’26 Interpretation des Judentums als „Bundesnomismus“ zu einem einheitlichen Verständnis des paulinischen Gerichtsverständnisses: „One ‘enters’ the sphere of salvation … by God’s grace and election. One ‘stays in’ by obedience“, und eben dieses ‚Bleiben‘ wird im Gericht nach Werken überprüft.27 In einer verwandten Grundkonzeption hatte schon früher J. Jeremias von zu einer von einer doppelten Rechtfertigung gesprochen, der ersten aus Glauben bei der Taufe, der zweiten aufgrund der Praxis des Glaubens beim Jüngsten Gericht.28 Andere sehen bei Paulus zwei unterschiedliche Typen von Gerichtsaussagen: Am profiliertesten ist hier der Entwurf von L. Mattern.29 23 Karl P. Donfried, Justification and Last Judgement in Paul, ZNW 67 (1976), bes. 103–110, Zitat 103 f. D. geht so weit, dass er die eschatologische Rettung des Sünders von 1 Kor 5,5 und auch diejenige des aus dem brennenden Haus seiner Werke Geretteten von 1 Kor 3,15 bezweifelt (105.107–110). Es scheint mir aber sehr unwahrscheinlich, dass die Leser / ​innen σώζω anders als im Sinn der eschatologischen Rettung eines Einzelnen verstehen konnten. 24 Calvin J. Roetzel, Judgement in the Community, Leiden 1972, bes. 109–180. Die individuell-anthropologische Dimension der Gerichtsaussagen wird von ihm allerdings vernachlässigt. 25 Matthias Klinghardt, Sünde und Gericht von Christen bei Paulus, ZNW 88 (1997) 56–80. Bei Röm 2 (V 8!) und Röm 9 (V 22: σκεύη ὀργῆς κατηρτισμένα εἰς ἀπώλειαν) wird seine These allerdings besonders schwierig. 26 Ed P. Sanders, Paul, the Law and the Jewish People, Philadelphia 1983, 17–167. 27 Kent L. Yinger, Paul, Judaism and Judgment according to Deeds, MSSNTS 105, Cambridge 1999, bes. 285.288 f. (Zitat 288). 28 Joachim Jeremias, Paul and James, ET 66 (1954/55), 370. 29 Lieselotte Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus, AThANT 47, Zürich 1966, 51–215.

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Nach ihr sind Christinnen und Christen als Personen vom Vernichtungsgericht befreit, sofern sie Christen bleiben. Allerdings werden ihre unterschiedlich guten Werke von Gott unterschiedlich beurteilt werden. In der Systematisierung der unterschiedlichen paulinischen Gerichtsaussagen herrscht also weder methodisch noch inhaltlich Einigkeit. Der Gegensatz etwa zwischen Donfried, der die Mitte der paulinischen Gerichtsaussagen in der eschatologischen Gerechtigkeitsmacht Gottes sieht, die in Christus offenbart wurde, und Klinghardt, für den sie im biblisch bezeugten Handeln des Bundesgottes Israels liegt, der durch Christus nur einen zusätzlichen Schritt auf die Heiden hin gemacht hat, könnte nicht grösser sein. b) Der Aufsatz von M. Klinghardt, der aufgrund eines einheitlichen Traditionshintergrundes für die Geschlossenheit der paulinischen Gerichtsvorstellungen plädiert, leitet über zur zweiten Grundposition. Ihr wohl wichtigster Vertreter ist E. Synofzik30 der seinerseits wichtige Grundgedanken der klassischen Monographie von H. Braun31 aufnimmt. Nach Synozik übernimmt Paulus die unterschiedlichsten Gerichtstraditionen aus der jüdischen und christlichen Tradition, die er zwar interpretiert, aber nicht systematisiert. Besonders bei einigen paränetischen Aussagen muss man auch von jüdischen Relikten im corpus Paulinum sprechen.32 E. Brandenburger sieht fünf verschiedene frühjüdische Gerichtstypen, welche im NT und auch bei Pls ihren Niederschlag finden.33 M. Konradt34 führt seine These weiter und berücksichtigt überdies die für Paulus in seinen jeweiligen Kommunikationssituationen wichtigen texttpragmatischen Aspekte: Im 1 Thess dient der Gerichtsgedanke vor allem der auf Abgrenzung gegenüber dem Heidentum beruhenden Selbstvergewisserung der Gemeinde, im 1 Kor der selbstkritischen Reflexion eigener Heilsgewissheit.

Die paulinischen Gerichtsaussagen lassen sich gewiss nicht völlig systematisieren.35 Dennoch denke ich, dass sich in ihnen gewisse Grundkonzeptionen des Denkens des Apostels wiederspiegeln. Ich schlage vor, die paulinischen Gerichtsaussagen probeweise drei hauptsächlichen Aussagellinien36 zuzuordnen: 30 Ernst Synofzik, Die Gerichts‑ und Vergeltungsaussagen bei Paulus. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, GTA 8, Göttingen 1977. 31 Herbert Braun, Gerichtsgedanke und Rechtfertigungslehre bei Paulus, UNT 19, Leipzig 1930. 32 Synofzik, Gerichtsaussagen (o. Anm. 30), 107; vgl. Braun a. a. O. 66–68.96–98 33 Egon Brandenburger, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums, SBAB 15, Stuttgart 1993, 289–338, dort 307–324; vgl. ders., Art. Gericht Gottes III. Neues Testament, TRE 12 (1984), bes. 475–478. 34 Matthias Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin 2003. 35 Allerdings halte ich die Differenzierungen Brandenburgers für wenig hilfreich. Grundsätzlich unterscheiden kann man im Frühjudentum m. E. nur 1. die Vorstellung eines (forensischen) Beurteilungsgerichtes, 2. diejenige eines endzeitlichen Kampfs und Siegs über die Mächte des Bösen, die unterworfen und vernichtet werden (Konradt a. a. O. 15 spricht von „Straf‑ bzw. Vernichtungsgericht“, was aber von einem „Beurteilungsgericht“ nicht unterscheidbar ist), und 3. den weisheitlich geprägten, durchweg innergeschichtlichen Gedanken eines Erziehungs‑ oder Läuterungsgerichts. Die zweite Aussagelinie ist bei Pls vor allem in christologischen Aussagen wichtig (Phil 2,9–11; 1 Kor 15,24–28 etc). 36 Ich nehme darin Ansätze von Jeremias, Mattern und Yinger auf und denke, dass die von Konradt zu Recht beobachtete Abhängigkeit der Gerichtsaussagen von bestimmten ethischen

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1. Wie seine Schüler im Epheser‑ und Kolosserbrief so spricht auch Paulus vom universalen Gericht, dem die Nichtchristen, Juden und Heiden verfallen sind. Dieser Aussagelinie ist vor allem Röm 1,18–3,20 zuzuordnen. Am deutlichsten und ausführlichsten äussert sich Paulus in Röm 2,5–16 über das Jüngste Gericht. Hier ist vom endzeitlichen universalen Gericht die Rede, das alle, Juden und Heiden, trifft. Die Perspektive ist die eines „Beurteilungsgerichts“37 mit doppeltem Ausgang, wobei allerdings die negative Perspektive, die des Zornes Gottes, überwiegt: Paulus geht es ja darum, zu zeigen, dass aus Werken des Gesetzes kein einziger Mensch, weder Jude noch Heide, gerettet wird, sondern alle aufgrund ihrer Taten vom Weltrichter, der ohne Ansehen der Person richtet, verurteilt werden, obwohl theoretisch die Möglichkeit zur Rettung besteht. Im Aufriss des Römerbriefs besteht die Funktion dieses Abschnittes darin, deutlich zu machen, aus welcher unheilvollen Verstrickung die durch Christus geoffenbarte Gerechtigkeit Gottes die Glaubenden erlöst (Röm 3,21ff). Von Christen ist in Röm 1,18–3,20 nicht die Rede; erst die folgenden Kapitel des Briefes werden im Anschluss an die Auslegung der Rechtfertigungsbotschaft verdeutlichen, was diese für das Schicksal der Christinnen und Christen im universalen Weltgericht bedeutet.38 Es ist also m. E. falsch, Röm 2 aus dem Aussagezusammenhang herauszulösen und „als die paulinische Gerichtserwartung“ auszugeben“.39 Vielmehr geht es hier allein um „den kommenden Zorn“,40 aus dem Christus rettet (1 Thess 1,10; vgl. 5,3). „Gott hat uns nicht für den Zorn bestimmt, sondern zur und ekklesiologischen Kontexten und den entsprechenden Kommunikationsabsichten die hier postulierten drei hauptsächlichen Aussagelinien nicht aufhebt. Eine Varietät der Aussagen ist in allen drei Aussagelinien festzustellen. Am grössten ist sie allerdings in der dritten, die ich mit Konradt ganz allgemein als ethische und ekklesiologische Aussagen umschreiben möchte (vgl. seinen Untertitel). Hier macht Pls. auch die konkretesten und situationsbezogensten Aussagen, was für ihre Varietät wesentlich ist. 37 Konradt, Gericht und Gemeinde (o. Anm. 34), 16. 38 Es ist also eine über den Text von Röm 2 hinausgehende Einlesung, wenn Mattern, Verständnis des Gerichtes (o. Anm. 29), 123 sagt, das Gericht „urteil(e), ob der Christ Christ war“; vgl. ähnlich auch Yinger, Paul (o. Anm. 27), 181 f. 202. Paulus sagt in Röm 2 über Christen bewusst gar nichts, sondern stellt die Juden ohne Christus und die Heiden ohne Christus vor dem Gericht grundsätzlich gleich. 39 Das sieht Konradt, Gericht und Gemeinde (o. Anm. 34), 510 richtig. 40 Ich möchte ὀργή Gottes auch in Röm 1,18 als zukünftigen Gerichtszorn Gottes deuten: So werden die Leser von ihrer jüdischen Enzyklopädie her am ehesten verstehen und so ist der Sprachgebrauch im ganzen Röm kohärent. Dass die künftige ὀργή Gottes sich schon in der Gegenwart auswirken kann, ist dadurch nicht ausgeschlossen. Solche Auswirkungen zeigen nicht nur Röm 1,21–31, sondern auch Röm 7,14–24. Das heisst aber nicht, dass Strafe Gottes grundsätzlich nicht „etwas (ist), was Gott über den Menschen eigens verhängt“, sondern „das, was der Mensch über sich selbst verhängt“ (so Gisbert Greshake, Heil und Unheil? Zu Bedeutung und Stellenwert von Strafe und Sühne, Gericht und Hölle in der Heilsverkündigung, Theologisches Jahrbuch, Leipzig 1986, 48–72, dort 55). Schon in Bezug auf den alttestamentlichen Tun‑ und Ergehenszusammenhang ist das ein modernisierendes Verständnis, um wieviel mehr in Bezug auf das Endgericht Gottes!

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Erlangung der Rettung“ (1Thess 5,9).41 Dieselbe Perspektive zeigt sich in 1 Kor 6,9; nur ist sie hier nicht als direkte Gerichtsaussage formuliert. Paulus liegt also wenig daran, das universale Jüngste Gericht mit doppeltem Ausgang nach Werken als unausweichliche Perspektive, die gleicherweise für Christen und Nichtchristen gilt, zu schildern. Dem entspricht, dass er die künftige Auferstehung nicht als Auferstehung der Gerechten und Ungerechten zum Gericht versteht, sondern nur von der aus der Auferstehung Christi sich herleitenden Auferstehung der Gläubigen zum Leben spricht. In den grossen apokalyptisch geprägten Auferstehungstexten von 1 Kor 15,1–58 und 1 Thess 4,13–18 fehlt der Gerichtsgedanke.42 Dem entspricht ferner, dass in der Gegenüberstellung der „Geretteten“ und der „Verlorenen“ in 1 Kor 1,18 die Gläubigen von vornherein mit den Geretteten identifiziert werden: τοῖς δὲ σῳζομένοις ἡμῖν. Dies entspricht grundsätzlich dem Befund im Kolosser‑ und im Epheserbrief. Völlig anders ist es im Matthäusevangelium (Mt 25,31–46). Wohl aber zeigt Paulus bei allen Differenzen an diesem Punkt eine gewisse Nähe zur Apokalypse, welche die treu gebliebenen Christinnen und Christen einer ersten Auferstehung würdigt (Apk 20,4–6) und sie nicht ins endgültige Gericht kommen lässt. 2. Die Hauptaussage, welche Paulus im Römerbrief über die Christinnen und Christen macht, ist diejenige vom Röm 5,9: „Um wie viel mehr nun werden wir, die wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt worden sind, durch ihn aus dem Zorn gerettet werden“. Er schliesst daran in V 10 f eine Aussage über die Versöhnung an, welche dem Verfasser des Kolosserbriefs vielleicht nicht unwichtig war,43 aber er bezieht sie nicht, wie sein Mitarbeiter und Schüler, auf den ganzen Kosmos, sondern beschränkt sie auf die Gläubigen.44 In Röm 8,1 nimmt Paulus an bedeutsamer Stelle den Gedanken von 5,9 wieder auf: „Es gibt also keine Verurteilung für die in Christus Jesus“. Wiederum ist deutlich: Paulus beschränkt diese Aussage auf die Gläubigen. Er führt nicht aus, ob das Nicht-Verurteiltwerden so geschieht, dass die Gläubigen gar nicht ins Gericht kommen – dafür spricht nur die in der Tradition von Mt 19,28 stehende Stelle 1 Kor 6,2 – oder so, dass Christus im Jüngsten Gericht den Glaubenden den in der Rechtfertigung 41  Konradt, Gericht und Gemeinde (o. Anm. 34), 23–196 passim stellt für den 1 Thess fest, dass ausschliesslich von einem Vernichtungs‑ nicht aber von einem Beurteilungsgericht die Rede sei, vgl. ebd. 412 f. Dies liegt aber m. E. nicht daran, dass Pls. auf andere Vorstellungen zurückgreift als z. B. in Röm 2, sondern nur daran, dass er im 1 Thess vom Beurteilungsgericht in einer ganz bestimmten Perspektive spricht und im Übrigen seine Vorstellungen nicht entfaltet. Ὀργή ist ein charakteristisches Stichwort sowohl von 1 Thess als auch von Röm 2. 42 Synofzik, Gerichtsaussagen (o. Anm. 30), 107. 43 Vgl. Luz, Kol (o. Anm. 14), 205. 44 Röm 8,18–22.37–39; 11,32–36 und 1 Kor 15,24–28 zeigen, dass auch Paulus die kosmische Perspektive nicht fern war. Allerdings wird die kosmische Versöhnung nicht direkt mit dem Tod Christi verbunden, sondern bleibt Zukunftshoffnung. Im Unterschied zum Kol ist bei Paulus auch die Perspektive des endgültigen Siegs und der Herrschaft Christi über die (feindlichen) Mächte und Gewalten wichtig. Aber die Unterschiede sind relativ, wie z. B. Kol 2,15; Eph 1,20–23; 6,11–17 zeigen können.

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bereits vorweg vollzogenen Freispruch bestätigt. Für letzteres spricht Röm 8,31– 34, wo Paulus eine Gerichtsszenerie mit Gott als Richter und Christus als Anwalt vorauszusetzen scheint. So lässt sich Röm 8,1 auch leichter mit Röm 2,5–16 und mit zahlreichen Stellen der dritten Aussagereihe wie z. B. 2 Kor 5,10; 1 Thess 3,12 oder Röm 14,10–12 verbinden. An weltanschaulicher Widerspruchslosigkeit liegt aber Paulus wenig, obwohl m. E. wenigstens seine Grundaussagen über das endzeitliche Beurteilungsgericht weithin kohärent sind.45 Röm 8,1 wird in Röm 8,28–39 entfaltet. Die Rechtfertigungsbotschaft zielt auf uneingeschränkte Heilsgewissheit. Wenn Gott erwählt, berufen und gerechtfertigt hat, gibt es kein „Wenn“ und „Aber“. Vielmehr gilt ohne jede Einschränkung: „Die, die er gerechtgesprochen hat, hat er auch verherrlicht“. Die Katene Röm 8,28–30 will gerade das gewiss machen. Entsprechend ist auch die Fortsetzung des Texts von absoluter Heilsgewissheit getragen: Zweimal beruft sich Paulus auf Jesu Tod (Röm 8,32.34), zweimal betont er, dass den Gläubigen durch ihn alles geschenkt sei: Kein Ankläger ist mehr da; nichts kann sie von der Liebe Gottes trennen (Röm 8,32 b–34 a.35). Triumphierend endet dieser Hauptteil des Briefes (Röm 8,37–39). Freiheit der Christen vom Gericht und ihre uneingeschränkte Heilsgewissheit ist das Ziel der der paulinischen Entfaltung des Evangeliums in Röm 1–8. Der erste Thessalonicherbrief bestätigt diesen Befund (1 Thess 1,9 f; 5,9). Dass deutlicher als im Kolosserbrief und im Epheserbrief vom Gericht die Rede ist, hängt einerseits mit dem rechtfertigungstheologischen Ansatz des Paulus im Römerbrief zusammen, der selber dem forensischen Denken entstammt, andererseits mit seiner futurischen Eschatologie. Diese Aussagelinie ist für Paulus die wichtigste, denn nur sie hängt direkt mit dem Zentrum seines Evangeliums zusammen, der als verweggenommene Rechtfertigung verstandenen Gnade Gottes durch den Tod und die Auferstehung Christi. 3. Die Mehrzahl der paulinischen Gerichtsaussagen fällt in eine dritte Kategorie, die man als Gerichtsaussagen in im weitesten Sinn paränetischen Zusammenhängen bezeichnen könnte. Diese Aussagen enthalten im Unterschied zu denen des Kolosser– und des Epheserbriefs eine deutliche futurische Perspektive und explizite Nennungen der Parusie (1 Thess 2,19; 3,13; 5,23; vgl. 1 Kor 15,23; 1 Thess 4,15), des kommenden „Tages“ des Herrn (1 Kor 1,8; 5,5; 2 Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1 Thess 5,2; vgl. Röm. 13,12; 1 Kor 4,3) und seines Gerichts (2 Kor 5,10; Röm 14,10–12). Dennoch aber gibt es auch hier sehr viele inhaltliche Verbindungen zu den deuteropaulinischen Briefen: 3.1 Viele paulinischen Gerichtsaussagen sind wie diejenigen des Kol und des Eph von einer grossen Beiläufigkeit. Das Gericht und die Parusie werden meist nur gerade erwähnt. Die Formulierungen sind oft relativ stereotyp; Paulus greift 45 Wichtige Ausnahmen: 1 Kor 3,12–15; 6,2. Widersprüchliche Aussagen macht Pls auch über die Person des Richters.

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auf christliches Traditionswissen zurück. Die zugrundeliegenden Vorstellungen werden kaum entfaltet.46 3.2 Manche Gerichtsaussagen in den echten Paulinen stellen nicht etwa die Heilsgewissheit der Christen in Frage, sondern vergewissern und akzentuieren sie geradezu. Neben Stellen wie 1 Thess 1,10; 5,9 f sind das vor allem Aussagen, welche betonen, dass Gott selbst letztlich das Wollen und das Vollbringen schafft (Phil 2,12 f) und dass Christus in den Gemeinden die Liebe und die Heiligung vollbringt und die Gläubigen stärkt (1 Thess 3,12 f; 5,23; 1 Kor 1,7–9), sodass das Gebet die beste Vorbereitung für das Gericht ist. 3.3 M. Konradt hat zutreffend beobachtet, dass im 1 Thess (4,5 f) und im 1 Kor (5,1–6,11) Gerichtsaussagen oft im Zusammenhang mit den typisch heidnischen Kardinallastern Unzucht, Götzendienst und Habsucht (vgl. 1 Kor 6,9 f) vorkommen. Diesen Stellen sind die Warnungen vor dem Götzendienst in 1 Kor 8,9–13; 10,7–22 zuzuordnen. Sie haben die Funktion von „boundary markers“.47 Diesen Stellen ist auch Phil 3,18 f und der die Paränese des Gal abschliessende Text Gal 6,7 f zuzurechnen.48 Christlicher Glaube ist für Paulus kein unverlierbarer Besitz, sondern muss in der Praxis bewährt werden (vgl. Kol 1,22 f).49 Hier ergibt sich nicht nur ein Berührungspunkt zur ersten Aussagereihe, sondern auch einer zu den gegenüber heidnischer Existenz abgrenzenden Paränesen in Kol 3,5ff und Eph 4,17ff mit ihren Gerichtsansagen. 3.4 Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass es in einigen paulinischen Gerichtsaussagen Ansätze zu einer Unterscheidung von Person und Werk gibt (1 Kor 3,14 f; 5,5; vgl. 1 Kor 11,31 f). An diesen jeweils sehr besonderen Stellen, die keineswegs einen Schlüssel zum paulinischen Gerichtsverständnis darstellen, nimmt Paulus Motive aus dem Umkreis des jüdischen „pädagogischen Gerichtes“ auf.50 Er kann so die Tragkraft der Gnade auch in ganz spezifischen „Grenzfällen“ betonen. Mindestens in dieser Grundintention treffen sich solche Aussagen mit Eph und Kol. Ich kann hier nicht alle Gerichtsaussagen, welche dieser dritten Aussagelinie noch zuzuordnen wären, besprechen.51 Der bisherige Durchgang durch die paulinischen Texte dürfte aber ausreichen, um viererlei deutlich zu machen: 46 Vgl. Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh 49, München 1968, 310 –317. 47 Konradt, Gericht und Gemeinde (o. Anm. 34), 457. 48 Auch die galatische „Häresie“, der gegenüber die ganze Paränese des Gal formuliert ist, wird von Pls. als Abfall vom Evangelium betrachtet. 49 Dass nach Pls. im Gericht beurteilt wird „ob der Christ Christ war“ (Mattern, Verständnis des Gerichtes [o. Anm. 29], 123), ist also grundsätzlich richtig, nur nicht in Bezug auf Röm 2,5 ff. 50 Vgl. Klinghardt, Sünde und Gericht (o. Anm. 25), 59–72. 51 Die wichtigste nicht besprochene Aussagegruppe sind diejenigen Aussagen, in denen Pls mit dem Hinweis auf das zukünftige Gericht ein menschliches Richten von Gemeindegliedern abweist (1 Kor 4,4 f; Röm 12,19; 14,10–13.22 f; vgl. 1 Kor 3,3–17; Gal 6,3–5 und Synofzik, Gerichtsaussagen [o. Anm. 30], 39–49).

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1. Paulus erwartet wie das gesamte Urchristentum ein universales eschatologisches Beurteilungsgericht Gottes (bzw. Christi) nach Werken. Seine Vorstellungen darüber präzisiert er selten. 2. Die Perspektive dieses Gerichts ist kein Zentrum der paulinischen Evangeliumsverkündigung. Das Zentrum seiner Verkündigung liegt vielmehr in der Freiheit der Gläubigen von einer Verurteilung in diesem Gericht (Röm 8,1). Auch ein Teil der Gerichtsaussagen der dritten Aussagelinie betont in diesem Sinn den Primat der Gnade. Gegenüber dem biblisch-jüdischen Bundesnomismus bedeutet all dies m. E. eine neue Gewichtung. 3. Versteht man die Aussagen der dritten Aussagereihe primär als sprachliche „Argumentationsmittel“52 in konkreten Kommunikationssituationen, so ist zu fragen: Was gewinnt Paulus dadurch, dass er vom Gericht über die Christinnen und Christen spricht? Der Sprachgewinn liegt, wie Konradt einleuchtend gezeigt hat, primär auf der textpragmatischen Ebene: Paulus kann so die Identität der Gläubigen stabilisieren; er kann zur Selbstgewissheit übersteigerte Heilsgewissheit in Frage stellen und die Gemeinschaft stärken; er kann die Bedeutung der im σῶμα gelebten Praxis des Glaubens einschärfen; er kann das kommende Gericht erwartende Gemeindeglieder ermutigen und stärken, und er kann seiner eigenen persönlichen Heilsgewissheit Ausdruck geben. 4. Die Verfasser des Kolosser‑ und des Epheserbriefs haben Paulus im ganzen gut verstanden und ihn von ihren eigenen christologischen und eschatologischen Grundansätzen her sachgemäss interpretiert und weitergeführt.

V. Schlussbemerkungen Am Schluss dieses Aufsatzes kann nur die Feststellung stehen, dass im paulinischen (und ebenso im johanneischen!) Strom des frühen Christentums das Dunkel des Gerichtes Gottes aus dem Zentrum der Verkündigung weggerückt ist und für die Gläubigen gleichsam zum bleibenden Hintergrund geworden ist, auf dem Gottes Licht leuchtet. Eine Formulierung E. Jüngels fasst das paulinische Evangelium gut zusammen: „Ein vollzogener Gnadenakt unterliegt […] keiner Beurteilung durch ein Gericht. Gnade ist gerichtsfrei“.53 Das ist m. E. eine Aussage, welche in ihrer Definitivität so nur vom Neuen Testament her möglich ist, noch nicht vom Alten. Und gewiss betrifft sie nicht das Ganze des Neuen Testaments gleichermassen. Dennoch meine ich, dass damit ein Grundgefälle des Neuen Testaments angedeutet ist, das sich beim Juden Jesus anzeigt und das bei Paulus und bei Johannes zu voller Klarheit gekommen ist.

52 Synofzik, 53 Jüngel,

Gerichtsaussagen (o. Anm. 30), 105. Gericht und Gnade (o. Anm. 4), 225.

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Damit will ich nicht sagen, dass dieses helle Licht Gottes im Neuen Testament keine dunkle Kehrseite habe. Die Kehrseite sehe ich darin, dass hier nicht nur das Licht Gottes seine endgültige Helle gewonnen hat, sondern auch seine Kehrseite, die Ablehnung des Lichtes, ihr endgültiges Dunkel. Die spezifisch dunkle Seite des neutestamentlichen Gottesbildes sehe ich auch darin, dass es „wegen der überströmenden Herrlichkeit“ (2 Kor 3,10) seines Lichts nur schwer einen eigenen Zugang mehr finden lässt zu dem, was angesichts seines Lichtes nun definitiv der Dunkelheit angehören zu scheint, nämlich zum Judentum und zu den nichtchristlichen Religionen. Und die Frage, mit der ich enden möchte, ist die, ob nicht gewisse Seiten der neutestamentlichen Aussagen über das Endgericht, z. B. das jesuanische „Richtet nicht …“ (Mt 7,1), die paulinischen Warnungen vor eigenem Urteilen oder das matthäische Wissen darum, dass auch der Gemeinde das Gericht Christi noch bevorsteht, dieses Dunkel aufhellen könnten.

29. Paulus als Mystiker Ist Paulus ein Mystiker? Dieser Frage, die mich seit meinen theologischen Anfängen in Japan immer wieder beschäftigt hat, möchte ich in einigen Überlegungen nachgehen. Mein Interesse dabei ist das an der Religion des Paulus. Der Protestantismus, mindestens in der Schweiz, vielleicht aber auch in anderen europäischen Ländern, steht vor der merkwürdigen Situation, dass sich die Wege von Religion und protestantischer Kirche und Theologie getrennt haben. Während zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Väter der dialektischen Theologie entschlossen festgestellt haben, dass der christliche Glaube keine Religion sei, sondern vielmehr das Ende aller menschlichen Religion,1 stellen wir heute bekümmert fest, dass die lebendige Religiosität zu einem grossen Teil aus den main-stream-Kirchen ausgewandert ist und anderswo blüht: auf den bunten Wiesen von New Age, in den lebendigen Gemeinschaften neocharismatischer Gruppen, in open-airs diversester couleur etc. Anders als die dialektischen Theologen müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass die Zukunft anscheinend der Religion gehört und nicht den christlichen Traditionskirchen.

I. Zur Definition von „Mystik“ Die Exegese hat unentwegt nach der Theologie des Paulus gefragt. Seine Religion, seine Frömmigkeit, seine religiösen Erfahrungen haben sie wenig interessiert. Ich möchte die Frage nach der „Mystik“ des Paulus deshalb als Einstieg in die Frage nach seiner „Religion“ stellen. Im Gegenzug zu der von protestantischer Worttheologie in den Vordergrund gestellten Frage nach dem Handeln Gottes „extra me“ möchte ich die Frage nach dem Handeln Gottes „in me“ stellen. Sie ist wichtig, damit Theologie und religiöse Erfahrung, Glaube und Frömmigkeit beisammen bleiben. Wenn man“ – mit Jacques Waardenburg – „unter Mystik im weitesten und allgemeinsten Sinn des Wortes die Deutung und Pflege bestimmter Erfahrungen des Absoluten … versteht“,2 so ist Paulus sicher ein Mystiker. Die religions1 Der programmatische Titel von § 17 der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths I/2 lautet: „Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion“ (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 1948, 304). 2 Jaques Waardenburg, Religionen und Religion, SG 2228, Berlin 1986, 221.

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geschichtliche Schule, die ihn immer wieder als Mystiker interpretierte, hat dies deswegen getan, weil seine Frömmigkeit von der Erfahrung des Geistes geprägt ist. Für Wilhelm Bousset ist die „Christusfrömmigkeit des Paulus“ bestimmt durch „das intensive Gefühl der persönlichen Zugehörigkeit und der geistigen Verbundenheit mit dem erhöhten Herrn“. Der Christus des Paulus ist „die überweltliche Kraft, welche sein ganzes Leben trägt und mit seiner Gegenwart erfüllt“,3 also eben der Herr, der Geist ist (2 Kor 3,17). Grundsätzlich ähnlich verstand Albert Schweitzer den Geist als „Erscheinungsform von Auferstehungskräften“ und das Sein im Geist „als Erscheinungsform des Seins in Christo“.4 Paulus als Mystiker – dieses grosse Thema der religionsgeschichtlichen Schule5 hat die protestantische Paulusdeutung im Ganzen wenig geprägt. Die Gründe sind bekannt und reichen weit in die Geschichte des Protestantismus zurück: Bereits in der Zeit der Reformation war die Abneigung gegen jede Form von Spiritualismus und Schwärmerei stark. Man wehrte sich gegen jeden Versuch, den Geist und den Glauben gegenüber seinen von Gott gesetzten äusseren Vorgaben, dem Wort und dem Sakrament, zu verselbständigen. In unserem Jahrhundert hatte das Nein der dialektischen Theologie gegen die Mystik weitreichende Folgen.6 Dass die Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule, allen voran Albert Schweitzer, von der Mystik des Paulus her seine Rechtfertigungstheologie zu relativieren versuchten,7 hat die protestantische Abneigung gegen sie noch verstärkt. Auch heute hat die Frage trotz eines sehr grossen Interesses an Mystik in unserer Gesellschaft keine Konjunktur. Angesichts der Flut der Paulusliteratur bleibt die Zahl der Arbeiten, die sich heute mit diesem Thema beschäftigen, relativ gering. Es dominiert die Vorsicht: Romano Penna versteht paulinische Mystik nicht von ekstatischen Erfahrungen her, sondern als „knowledge of and communion with God that is 3 Wilhelm Bousset, Kyrios Christos, FRLANT 21, Göttingen 21921, 104; vgl. Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 166: „Das Sein im Geist ist … eine Erscheinungsform des Seins in Christo“. 4 A. a. O. 165 f. 5  Vgl. ausser Bousset und Schweitzer bes. Adolf Deissmann, Paulus. Eine kultur‑ und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 21925. Wichtige forschungsgeschichtliche Nachzügler der Paulusdeutung der religionsgeschichtlichen Schule sind: Martin Dibelius, Glaube und Mystik bei Paulus (1931), in: ders., Botschaft und Geschichte II, Tübingen 1956, 94–116; ders., Paulus und die Mystik (1941), ebd. 134–159; Alfred Wikenhauser, Die Christusmystik des Apostels Paulus, Freiburg 21956. 6 Brunner interpretierte sie als „Erleben“ und „Intensität des Gefühls“ (Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, 4). Gogarten sprach von der „Unendlichkeit der mystisch-sittlichen Aufgabe (!) der Selbstentwerdung“ als „Versuch, mit menschlichem Tun zu Gott zu gelangen“ (Friedrich Gogarten, Die religiöse Entscheidung, Jena 1921, 66.64). Bultmann interpretierte mystische Ekstase als „Selbstzweck und Genuss“ (Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, 115). Auf ihren Bahnen wandelt exegetisch z. B. Fritz Neugebauer, In Christus, Berlin 1961. 7 Schweitzer, Mystik (o. Anm. 3), 220.

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out of the ordinary“8 und deutet von da her die ganze Fülle der paulinischen Partizipationserfahrungen an Christus als „Mystik“. Alan F. Segal deutet die Berufung des Paulus und seine Transformationserfahrungen (z. B. 2 Kor 3,18; Phil 3,21; 1 Kor 15,49; Gal 4,19) auf dem Hintergrund jüdisch-apokalyptischer Mystik.9 Daniel Marguerat möchte in seinem differenzierten Aufsatz10 am Begriff „Mystik“ für Paulus nur dann festhalten, wenn einerseits die Christozentrik der paulinischen Mystik, andererseits die Verbindung der paulinischen Mystik mit Erfahrungen des Leidens und der Vorläufigkeit festgehalten wird. Samuel Vollenweider spricht in seinem herausragenden Aufsatz „Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden“ zwar von „Einwohnung“ und „Partizipation“, aber nur ganz beiläufig von „Christusmystik“ des Paulus.11 Die Heidelberger Dissertation von HansChristoph Meier12 orientiert sich in erster Linie an den ekstatischen Erfahrungen des Paulus. Recht vorsichtig äussert sich auch der Jubilar James D. G. Dunn in seinem grossen Paulusbuch: Obwohl „study of the participation in Christ leads more directly into the rest of Paul’s theology than justification“, bezeichnet er Paulus nur mit Zurückhaltung als Mystiker: „It is hard to avoid talk of something like a mystical sense of the Divine presence of Christ within and without“.13

Die Zurückhaltung der Forschung gegenüber der Bezeichnung des Paulus als „Mystiker“ hat seinen Grund in der Unklarheit dessen, was als Mystik gelten soll. „Mystik“ ist ein erst in der Neuzeit aufgrund der zunehmenden Individuierung der Frömmigkeit als eigenständiger Frömmigkeitstyp wahrgenommenes Phänomen. Der Begriff „Mystik“ ist ein neuzeitlicher Begriff, entstanden durch die Verselbständigung des griechischen Adjektivs μυστικός, das in spätantiker und mittelalterlicher Theologie am häufigsten mit θεολογία (μυστικὴ θεολογία) verbunden war.14 Man könnte darin geradezu ein geistesgeschichtliches Geschick der Neuzeit sehen: Entstanden ist der Begriff „Mystik“ durch die Verselbständigung eines bestimmten Frömmigkeitstyps gegenüber dem ihn tragenden transzendenten Grund. Nach „Mystik“ bei Paulus fragen kann also nur, wer weiss, dass diese Frage anachronistisch ist. Je nach vorausgesetzter Mystikde 8 Romano Penna, Problems and Nature of Pauline Mysticism, in: ders., Paul the Apostle. Wisdom and Folly of the Cross, Collegeville 1996, 235–273, Zitat 271.  9  Alan F. Segal, Paul the Convert, New Haven / ​London 1990, bes. 58–71; vgl. ders., Paul’s Thinking about Resurrection in its Jewish Context, NTS 44 (1998), 400–419. 10  Daniel Marguerat, La mystique de l’apôtre Paul, in: Association Catholique Française pour l’étude de la Bible (Hg.), Paul de Tarse, LeDiv 165, Paris 1996, 307–329. 11 Samuel Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie (1996), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 163–192, dort 175. Vgl. ders., Grosser Tod und Grosses Leben. Ein Beitrag zum buddhistisch-christlichen Gespräch im Blick auf die Mystik des Paulus (1991), ebd. 215–235. 12 Hans-Christoph Meier, Mystik bei Paulus, TANZ 26, Tübingen 1998. 13 James D. G.  Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh / ​ Minneapolis 1998, 395.401. 14 Vgl. dazu bes. Alois M. Haas, Was ist Mystik, in: ders., Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt 1989, 23–44, bes. 32–36, und Bernhard Neuenschwander, Mystik im Johannesevangelium, Biblical Interpretation Series 31, Leiden 1998, 11–15.

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finition15 ist Paulus ganz, teilweise, nur am Rand oder gar kein Mystiker. Die Wahl einer Mystikdefinition ist also nicht objektiv, sondern interessegeleitet. Mein eigenes Interesse liegt in der Verbindung von Theologie und religiöser Erfahrung bei Paulus, dogmatisch gesprochen: in der Verbindung des „Christus pro nobis“ und des „Christus in me“. Im Blick auf Paulus „ergiebig“ ist ein Mystikverständnis, das an die „cognitio divinae bonitatis … affectiva seu experimentalis“ (Thomas v. Aquino) und damit die Erfahrung der göttlichen Liebe anknüpft16 und Mystik primär als „Erfahrung Gottes“ bzw. spezifischer als Erfahrung der Distanzüberwindung, der unio, der communio oder der Verbindung mit Gott versteht. Mystik als unmittelbare17 Erfahrung bedeutet eine Überwindung der Distanz zum Göttlichen, bzw. eine Verbindung mit dem Göttlichen.18 Ich spreche absichtlich nicht einfach von der „unio mystica“, denn ich denke, dass die Erfahrung der Distanzüberwindung sowohl die Gestalt der Verschmelzung mit dem Göttlichen19, als auch die Gestalt der Gemeinschaft mit ihm, als auch die Gestalt der Anschauung, der Kontemplation des Göttlichen haben kann. Im Blick auf Paulus wenig ergiebig ist ein Mystikverständnis, das Mystik als Gegentyp zum „Prophetischen“ versteht.20 Relativ wenig ergiebig ist auch ein Mystikverständnis, das – in gut neuzeitlicher Wahrnehmung – „Mystik“ primär als Frömmigkeit von Einzelnen versteht, welche traditionelle Mythen, Lehren, Riten oder Praxen einer Religion durch 15 Eine gute Übersicht über die Grundtypen der Mystikdefinitionen gibt Neuenschwander a. a. O. 16–20. 16 Thomas, STh 2/II 97 art. 2; vgl. Bonaventura, De perfectione Evangelica. I, concl. = Opera omnia 5, Clarae Aquae 1891, 120 („cognitio causarum altissimarum et primarum … per motum cognitionis … saporativae et experimentalis“) (die Hinweise verdanke ich Prof. A. Haas, Zürich). Vgl. auch Hans Urs v. Balthasar, Pneuma und Institution. Skizzen zur Theologie 4, Einsiedeln 1974, 302; Alois Haas, Die Problematik von Sprache und Erfahrung in der deutschen Mystik, in: Werner Beierwaltes u. a., Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, 75 f. 17 Das betont Marguerat, Mystique (o. Anm. 10), 311 in seiner Definition: „un mode de perception immédiate du divin, qui recherche et qui met en oeuvre une conscience intime de la présence de la transcendance“. 18 Für ein weites Mystikverständnis, das nicht die unio mystica zum Definitionsmerkmal von Mystik macht, plädiert auch Deissmann, Paulus (o. Anm. 5), 118 f: Mystik ist für ihn „jede Frömmigkeit, die den Weg zur Gottheit durch innere Erfahrung ohne rationale Vermittlung direkt gefunden hat … Die Unmittelbarkeit der Verbindung mit der Gottheit ist … konstitutiv“. Noch weiter definiert Meier, Mystik (o. Anm. 12), 20 Mystik als „unmittelbare Erfahrung göttlicher Wirklichkeit“ überhaupt. So droht „Mystik“ zum Oberbegriff für jede Form religiöser Erfahrung zu werden. 19 Die Verschmelzung steht bei Friedrich Heiler im Vordergrund: „Mystik ist jene Form des Gottesumgangs, bei der die Welt und das Ich radikal verneint werden, bei der die menschliche Persönlichkeit sich auflöst, untergeht, versinkt in dem unendlichen Einen der Gottheit“ (Friedrich Heiler, Das Gebet, München 21920, 249). 20 Heiler a. a. O. (Gebet) 248–283; vgl. Gustav Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft, Heidelberg 1949, 155–157. Die Entgegensetzung des Prophetischen und des Mystischen wird weder frühjüdischen Texten wie z. B. Sap. Sal. oder Philo, noch den als Mund des Auferstandenen sprechenden urchristlichen Propheten, noch Paulus gerecht.

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ihre eigene Begegnung mit Gott vertiefen.21 Für mein Erkenntnisziel wenig fruchtbar ist auch eine Bestimmung der Mystik als transreligiöses Phänomen wie etwa die klassische Definition von Evelyn Underhill, die Mystik als „Äusserung des eingeborenen Strebens des menschlichen Geistes nach vollkommener Harmonie mit der übersinnlichen Ordnung der Dinge, wie auch die theologische Formel für diese Ordnung lauten mag“,22 versteht. Das leitende Interesse ist bei ihr dasjenige der Entdeckung interreligiöser Konvergenzen.

Ich frage also nach religiösen Erfahrungen bei Paulus, welche die Distanz zum Göttlichen überwinden und eine Verbindung mit dem Göttlichen schaffen und versuche, das Besondere dieser Erfahrungen bei Paulus zu skizzieren. Dies geschieht in Form einer knappen exegetischen Skizze, die aus Thesen und Erläuterungen bestehen.

II. Sechs Thesen zum Profil der paulinischen Mystik 1. „Mystisch“ klingende Aussagen gibt es m. E. bei Paulus vor allem dort, wo er die Erfahrung des Geistes, der den Gläubigen geschenkt ist, als Christuserfahrungen interpretiert. Der „Herr ist Geist“ (2 Kor 3,17; 1 Kor 15,45; 1 Kor 6,17), ohne dass er in den Geisterfahrungen, die er bewirkt, aufgeht. Zwischen dem „Herrn“ und dem „Geist“ besteht bei Paulus eine Wirkungs-Identität insofern, als der „Herr“ als „Geist“ in den Gläubigen wirkt und ihr neues Personzentrum ist (Gal 2,20; Röm 8,9 f). Paulus kennt also nicht nur den Christus „extra nos“ und „pro nobis“ und nicht nur das „verbum alienum“ Gottes, sondern auch den real erfahrenen Christus „in nobis“ und die in den menschlichen Herzen wirksame Gegenwart Gottes. Die Identifikation des auferstandenen Herrn mit dem Geist ist m. E. ein Grundaxiom paulinischer Theologie. 1 Kor 15,45 ist nicht das einzige Zeugnis dafür.23 Auch 2 Kor 3,17 bezeugt m. E. diese Identität: Es ist m. E. für die Leser / ​innen nach 2 Kor 3,14 kaum  Vgl. Ernst Troeltsch, The Social Teaching of the Christian Churches II, Chicago / ​ London, rp. 1976, 730: Charakteristisch für Mystik ist nach Troeltsch „the insistence upon a direct inward and present religious experience“ entweder als „reaction“ gegen das Erstarren von traditionellen Religionen in Institutionalisierung und Objektivierung von Religionen, oder als „supplementing of traditional forms of worship by means of a personal and living stimulus“. In ähnlicher Weise versteht Gershom Scholem mystische Frömmigkeit als „Wiederaufnahme mythischer Erfahrungen“ in einer Situation, in der alte Religionen erstarren und neue Religionen nicht vorhanden sind. Mystische Frömmigkeit versucht, Gott „aus einem Objekt des Wissens und der Dogmatik zu einer neuen und lebendigen Erfahrung zu machen“ (Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp TB 330, Frankfurt 1980, 8. 11). Die pln. Mystik besteht aber nicht primär in einer Erneuerung traditioneller Religion, und schon gar nicht in ihrer Individualisierung, sondern vertritt einen neuen religiösen Grundansatz und ist primär gemeindebezogen. 22 Evelyn Underhill, Mystik. Eine Studie über die Natur und die Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen, München 1928, XIV. 23 Gegen Dunn, Theology (o. Anm. 13), 262. 21

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möglich, die „Bekehrung zum Herrn“ (V 16) anders zu deuten als als Umkehr zum Herrn Christus, zu dem sich Israel ja hinwenden sollte. Ὁ κύριος τὸ πνεῦμα ist dann eine weiterführende und zu V 6 zurücklenkende exegetische Bemerkung, welche die Identität des Herrn und des Geistes voraussetzt. Allerdings ist diese Identität nicht eine substanzhaft gedachte statische Identität, was bereits durch πνεῦμα κυρίου (V 17 b) ausgeschlossen wird, sondern eine Wirkungsidentität – darin bin ich mit J. D. G. Dunn einig.24 Auch 1 Kor 6,17 ist nur verstehbar, wenn das „dem Herrn anhängen“ als Einheit des Geistes verstanden wird. Nur von dieser Wirkungsidentität des Herrn und des Geistes her werden m. E. die „Einwohnungsaussagen“ von Röm 8,9–11 verständlich, wo nacheinander vom Wohnen des „Geistes Gottes“, „Christi“ und „des Geistes dessen, der Christus von den Toten auferweckt hat“ gesprochen wird. Wieder liegt das Gewicht nicht auf der Bestimmung der Identität, sondern auf der Wirkung: Dadurch entsteht Leben in den toten bzw. sterblichen σώματα.25 Christus ist der, der „in euch“ ist. Andererseits wird so auch die ekklesiologische Dimension der paulinischen „mystischen“ Aussagen verständlich: Christus ist ein Geist; und darum werden „wir“ bei der Eingliederung in den Leib Christi in der Taufe εἰς ἓν πνεῦμα ἐποτίσθημεν (1 Kor 12,13). Die Hörer / ​innen des 1 Kor werden sich bei dieser Stelle an das πνευματικὸν … πόμα erinnert haben, das dem „Felsen“ Christus entströmt (1 Kor 10,4). Auch hier ist der Geist die direkte Wirkungsweise Christi, welche die Gläubigen nicht nur mit Christus real verbindet, indem sie in seinen Leib hineingetauft werden, sondern auch untereinander verbindet: πάντες εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν.26 J. D. G. Dunn hat in seiner Paulusdarstellung drei „Aspekte“ dargestellt, wie Paulus den Anfang der Erlösung interpretieren kann: den juridischen der „Rechtfertigung“, den „mystischen“ der Partizipation und als dritten „die Gabe des Geistes“.27 Er hat unter dem Stichwort „Partizipation“ im wesentlichen nur die formelhaften Wendungen „in Christus“, „mit Christus“ etc. besprochen. Dadurch ist seine Sicht der paulinischen Mystik blass, gleichsam erfahrungslos geworden. Ich frage mich, ob man den Aspekt der „Mystik“ von der „Gabe des Geistes“ unterscheiden darf. Im Gegenteil: Gerade die „Gabe des Geistes“ scheint die Erfahrungsbasis der paulinischen Christusmystik zu sein.

2. So zentral die Geisterfahrungen für die paulinische Christusmystik sind, so wenig erschliessen „besondere“ charismatische Erfahrungen, welche der Zungenredner, Prophet, Ekstatiker und Wundertäter Paulus vermutlich überreichlich hatte, das Zentrum dessen, was man bei Paulus als „Mystik“ bezeichnen könnte. Dass Paulus ein sehr bedeutender Charismatiker und Wundertäter gewesen ist, zeigt sich am deutlichsten in seinem Verhältnis zur Zungenrede. Es mag überraschen oder sogar befremden, wenn Paulus in seiner charakteristischen bescheidenen Unbescheidenheit ausgerechnet den Korinthern gegenüber sagt: „Ich danke Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle“ (1 Kor 14,18). Für die Korinther war die Zungenrede die Äusserung des 24 Cf.

ibid. 264: „Christ is not conceived of as working separately from the Spirit“. 1 Kor 15,45: Der zweite Adam wurde εἰς πνεῦμα ζωοποιοῦν. 26 Dunn möge mir verzeihen, wenn ich mit seiner Bezeichnung des Leibes Christi als „theological image“ (ibid. 548) nicht glücklich bin. Natürlich kann man endlos darüber diskutieren, welchen Anteil an der „Sache“ ein „Bild“ gibt. Durch die reale „Tränkung“ mit dem Geist, welcher die Wirkungsweise Christi ist, ist m. E. die Eingliederung in den Leib Christi mehr als ein auf bloss „theologisch-bildhaft“ zu umschreibender Akt. 27 Dunn, Theology (o. Anm. 13), §§ 14–16. 25 Vgl.

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Geistes schlechthin (vgl. 1 Kor 14,37). Sie verstehen sie wohl als Engelssprache (1 Kor 13,1; vgl. Test Hi 48,3; 49,2; 50,2). Zungenrede mag etwas ähnliches gewesen sein, wie z. B. für Philo die Erfahrung von göttlicher Einwohnung, bei der der νοῦς durch den göttlichen Geist ersetzt wird.28 Paulus wertet sie bekanntlich ab gegenüber der Prophetie, welche den νοῦς nicht ἄκαρπος bleiben lässt (1 Kor 14,14). Vor allem aber siedelt er sie nicht in „engelhafter“ Höhe, sondern in irdischer Tiefe an: In Röm 8,26 f deutet er die Zungenrede als tiefsten Ausdruck menschlicher Schwäche, als unartikuliertes Seufzen des unerlösten Menschen. Und eben diesem Seufzen, das noch nicht einmal zur Artikulation in verstehbarer Sprache gelangt ist, kommt der Geist zu Hilfe und tritt vor Gott für uns ein.29 Es ist also gerade nicht so, dass sich menschliches Reden bis zur Sprache des göttlichen Geistes oder der Engel aufschwingt, sondern so, dass sich der göttliche Geist bis in die letzte Tiefe menschlicher Kreatürlichkeit herablässt und das Rufen der Unerlösten zu seiner eigenen Sprache macht. Eine ähnliche Ambivalenz gegenüber ekstatischen Phänomenen zeigt der Bericht über die Himmelsreise von 2 Kor 12,2–4. Obwohl sie Paulus viel bedeutet haben muss, distanziert er sich in gewisser Weise von ihr: Er spricht von einem „jemand“ und benutzt dabei geschickt eine Sprachform, die vielleicht die Distanzierung des Ekstatikers von seinem Selbst andeuten will,30 zur Vermeidung von Selbstruhm: Für diesen Menschen will sich Paulus rühmen – er selbst aber lebt in seinen Schwachheiten, über die es nichts zu rühmen gibt (V 5). Noch viel stärker distanziert sich Paulus von seiner Himmelsreise dadurch, dass gleich nachher eine weitere Gotteserfahrung berichtet, diesmal in der Ichform: „Und für die Fülle der Offenbarungen, damit ich mich nicht überhebe, wurde mit ein Stachel im Fleisch gegeben, ein Satansengel, um mich mit Fäusten zu traktieren, damit ich mich nicht überhebe“ (2 Kor 12,7). Dreimal hat Paulus deswegen den Herrn angerufen; aber er wurde nicht von ihm befreit; Gottes Antwort war: „Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (V 9). Hier geht es um eine eigentliche Gegenerfahrung zur Himmelsreise: Sie findet nicht im Himmel statt, sondern auf der Erde, nicht ausserhalb des Leibes, sondern im Leib. Sie endet nicht in unausssprechlichen Worten, sondern in sehr deutlicher Sprache. Durch die Unterscheidung von paulinischer Schwachheit und der Kraft des Christus wird ein unendlicher qualitativer Unterschied zwischen Paulus und Christus sichtbar. Solche besonderen ekstatischen Erfahrungen, welche Paulus überreich hatte, machen offenbar gerade nicht das Zentrum seiner „mystischen“ Erfahrungen aus:31 Er wertet sie um, zieht sie in die Tiefe, betont die Distanz, die zwischen dem himmlischen Christus und dem irdischen Pneumatiker besteht, und dadurch zugleich die Gnade, die dem in irdischer Tiefe lebenden Menschen zuteil wird.32 28 Der

Grundtext ist Plato, Ion 533 f, wo von der Inspiration des Dichters die Rede ist. Belege für die Inspiration bei Philo bei Vollenweider, Geist Gottes (o. Anm. 11), 170 Anm. 24 f. 29 Ich folge hier der Interpretation von Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8 a, Tübingen 1973, 229–231. James D. G.  Dunn, Romans 1–8, WBC 38A, Dallas 1988, 492 f, sieht die Stossrichtung des Pls. ähnlich, verneint aber einen speziellen Bezug auf die Zungenrede. 30 Vgl. Victor P. Furnish, II Corinthians, AncB 32A, Garden City 1984, 543. 31 Meier, Mystik (o. Anm. 12) stellt Vision, Audition, Raptus, Glossolalie und Prophetie in den Vordergrund und behandelt die Dimension der „Immanenz“ nur als eine unter anderen. 32 Deissmann, Paulus (o. Anm. 5), 119 bezeichnete die pln. Mystik als „katabatische“ Mystik: „Es gibt agierende Mystik und reagierende Mystik, anabatische und katabatische Mystik. Der Mensch kommt zu Gott oder Gott kommt zum Menschen. Mystik der Leistung

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3. Dem entspricht, dass auch nicht die einmalige und besondere Christusbegegnung vor Damaskus, die Paulus gemacht hat, das Zentrum der paulinischen Christusmystik ist. Vielmehr ist sie dies nur insoweit, als sie etwas ausdrückt, was sich im Leben aller Christinnen und Christen nachvollzieht. Für alle gilt, dass sie „durch das Gesetz dem Gesetz gestorben“ sind, sodass jetzt nicht mehr sie, sondern Christus in ihnen lebt (Gal 2,19 f). Paulus interpretiert seine Damaskuserfahrung nicht als innerliche Erfahrung,33 sondern als prophetische Bevollmächtigung und Beauftragung. In Gal 2,19 f spielt er wiederum auf seine Damaskuserfahrung an und interpretiert sie im Sinn eines „Ichwechsels“: Er ist durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, mit Christus dauernd gekreuzigt, sodass jetzt nach dem Tod seines Ichs Christus derjenige ist, der als sein neues Personzentrum in ihm lebt. V 19 f ist immer wieder mystisch interpretiert worden.34 Enger als durch den „Ichwechsel“ könnte die Verbindung mit Christus gar nicht ausgedrückt werden.35 Zugleich aber scheint mir eindeutig, dass das „Ich“ hier ein typisches und kein bloss Individuelles ist.36 Genau dasselbe gilt für Röm 7–8: Hier spricht Paulus zunächst davon, dass das „Ich“ durch das Gesetz dem Gesetz gestorben ist (Röm 7,14–24) und dann davon, dass durch die Erlösungstat Christi (Röm 8,3 f) die Gläubigen ein neues Personzentrum, nämlich den Geist Gottes bzw. Christus bekommen haben (Röm 8,9–11). Das „Ich“ ist das kollektive „Ich“ Adams (vgl. bes. Röm 7,9 f).37 Röm 7,14–8,11 ist nichts anderes als eine ausführliche Paraphrase von Gal 2,19 f. In Gal 2,19 f hebt also Paulus mit seinen „mystischen“ Formulierungen das heraus, was an seinem eigenen Weg zu Christus für alle Christinnen und Christen gültig ist. Gerade als für alle Christen typische Erfahrung ist die paulinische Damaskuserfahrung eine mystische Grunderfahrung.

4. Paulinische Mystik ist auf die Gemeinde und die Gemeinschaft bezogene Mystik. Sie ist nicht „elitär“, sondern „demokratisch“.38 Die Erfahrung des Geistes ist bei Paulus eng an die Zugehörigkeit zur Gemeinde geknüpft, die „Leib Christi“ ist, „in den“ die Gläubigen hineingetauft wurden (1 Kor 12,13), also oder Mystik der Gnade!“ Paulus ist damit richtig charakterisiert – aber ob es irgendwo in der Welt der Religionen eine rein „agierende“ „Mystik der Leistung“ gibt, bleibe dahingestellt. 33 Vgl. James D. G.  Dunn, The Epistle to the Galatians, BNTC 9, Peabody 1993, 64: Ἐν ἐμοί drückt die „personal transformation“ im Sinn einer „transformation of purpose and commitment“ aus. 34   Vgl. z. B. Schweitzer, Mystik (o. Anm. 3), 125 f; Dibelius, Paulus (o. Anm. 5), 151; Vollenweider, Grosser Tod (o. Anm. 11), 367–369. 35 Die Formulierung ist nicht „of course exaggerated“ (J. D. G.  Dunn, Galatians [Anm. 33] 145), sondern drückt ein echtes mystisches Paradox aus. 36 Pace J. D. G.  Dunn, Galatians (o. Anm. 33), 143.147. Im vorangehenden V 18 kann das „Ich“ nicht Pls. meinen, denn er hat das dort Beschriebene ja gerade nicht getan. Auch die soteriologische Aussage in V 20 b muss sich auf alle Christen beziehen. 37 Nur beiläufig sei darauf hingewiesen, dass sich Röm 8,3–11 von Gal 2,20 dadurch unterscheidet, dass an die Stelle des „Ich“ ein „Wir“ tritt. Das ist – ob von Pls. beabsichtigt oder nicht – sachgemäss: Christus lebt nicht nur „in mir“, sondern „in euch“ (Röm 8,9 f), d. h. er ist nicht nur individuelles, sondern auch kollektives „Personzentrum“ der ganzen Gemeinde, die sein Leib ist. 38 Marguerat, Mystique (o. Anm. 10), 327 spricht von „démocratisation de la mystique“ bei Pls.

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als sie Christus „anzogen“ und dadurch „einer“ (Gal 3,27 f) wurden. Bei Paulus kommen „mystische“ Aussagen gerade dort vor, wo er die Erfahrungen interpretiert, die alle Christ / ​innen zu Christ / ​innen machen, und nicht dort, wo er die besonderen Erfahrungen Einzelner interpretiert, die diese vor anderen auszeichnen. Die paulinischen Aussagen, die man vor allem in der religionsgeschichtlichen Schule als „mystisch“ bezeichnet hat, sind durchweg Aussagen über alle Christinnen und Christen. Das gilt für die nuancenreiche Wendung „in Christus“ ebenso wie für die Umkehrung „Christus in euch“ (Gal 4,19; 2 Kor 13,3.5; Röm 8,10), für die Aussagen über den Geist, der in den Gläubigen wohnt (Röm 8,9.11; 1 Kor 3,16; 6,19) und in besonderer Weise für die Aussagen von der Gemeinde als Leib Christi. Solche Aussagen bezeichnen die Realität des Heils, die jeder in der Gegenwart erfahren hat. Alle Christinnen und Christen sind Mystiker. Der wichtigste Erfahrungshintergrund für solche Aussagen sind nicht besondere Erlebnisse des Ekstatikers Paulus, sondern der Geistempfang, der für alle Gemeindeglieder mit der Taufe verbunden ist (1 Kor 6,11; 1 Kor 12,13; 2 Kor 1,22). In der Taufe wird Christus „angezogen“ (Gal 3,27, vgl. Röm 13,14). Paulus kann im Zusammenhang mit Taufaussagen das neue Personzentrum, das Christus ist, nicht nur, wie Gal 2,20, individuell, sondern kollektiv akzentuieren: „Ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28)39. Von hier aus gesehen darf man, wenn man bei Paulus von Mystik sprechen will, diese nicht als ein besonderes Kennzeichen der Frömmigkeit von Einzelnen verstehen. Gerade die allen gemeinsame Anfangserfahrung der Taufe, nicht irgend ekstatische oder charismatische Erfahrungen von Vollendeten ist die Grunderfahrung, die hinter vielen mystisch klingenden Aussagen des Paulus steht.

5. Die paulinische Christusmystik zielt auf das Gleichgestaltigwerden der Gläubigen mit dem Herrn Jesus in seinem Leiden und in seiner Auferstehungsherrlichkeit. Charakteristisch für sie ist einerseits ein geradezu penetrantes Festhalten am Leib und an der Gemeinschaft mit Christus im Leiden. Insbesondere das Leiden der Christinnen und Christen wird zur Epiphanie des Kreuzes Christi in der Gegenwart. Nicht nur einmal in der Taufe vollziehen die Christen das Sterben Christi nach, sondern gleichsam täglich: „deinetwegen sterben wir den ganzen Tag“ (Röm 8,36).40 Wenn überhaupt irgendwo bei Paulus die Bestimmung der Mystik als einer Vertiefung und Verinnerlichung einer bestehenden Religion41 ein Wahrheitsmoment enthält, dann ist es hier, bei der paulinischen Leidensmystik. Andererseits kennt Paulus aber auch ein Gleichgestaltetwerden mit Christi Auferstehungsherrlichkeit bereits hier und jetzt. Paulus scheut sich nicht, in Aussagen, die er auf alle Christ / ​innen ausweitet, von Erfahrungen zu 39 Εἷς in Gal 3,28 ist schwierig. Dunn, Galatians (o. Anm. 33), 20 f erinnert an das σῶμα Χριστοῦ. Aber warum dann das mask. εἷς? M. E. ist εἷς eine aus dem Kontext zu verstehende konzentrierte Formulierung, die einerseits Opposition zur Dualität Jude – Grieche etc., andererseits Opposition zu πάντες … ὑμεῖς ist. Die erste Opposition erinnert an den Gedanken der Neuschöpfung, die zweite an den Gedanken des einen Leibes Christi. 40 Vgl. das Perfekt συνεσταύρωμαι Gal 2,19. 41 Cf. E. Troeltsch (o. Anm. 21).

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sprechen, die bereits jetzt die Gläubigen an Gottes Herrlichkeit partizipieren lassen. Die panische Furcht vor jedem „Enthusiasmus“ und jeder „theologia gloriae“, die manche protestantische Theologen auszeichnet, kennt Paulus nicht, denn es geht ihm nicht um die eigene, sondern um die Herrlichkeit Christi. Der Leib ist Glied Christi, Tempel des Geistes (1 Kor 6,15.19). Der Leib ist der Ort, wo sich gerade in menschlicher Schwäche Christi Kraft als überragend erweist (2 Kor 12,9). Der Leib ist das „irdene Gefäss“, in dem der Schatz der Kraft Gottes ruht (2 Kor 4,7ff). Im Unterschied zur hellenistischen Mystik Philos oder der Hermetik42, welche aus den Niederungen irdischen Daseins auszieht, wirkt bei Paulus die Kraft und das Leben Gottes in der Tiefe der leiblichen Existenz. In Phil 3,10 f spricht er davon, dass er Christus erkennen möchte „und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden, gleichgestaltet mit seinem Tode“. Nach 2 Kor 4,10, tragen wir „allezeit das Sterben Jesu am Leibe herum“. In 2 Kor 13,4 spricht Paulus vom Schwachsein mit Christus, in 2 Kor 1,5 vom Übermass der Christusleiden an ihm, in Gal 6,17 von den στίγματα Jesu an seinem Leibe. Hier erkennen wir eine Mystik, die nicht am Ende eines langen Weges der Frömmigkeit zu einer Erfahrung der Vereinigung mit Christus führt, sondern eine, die das ganze mühsame und schwierige Leben des Paulus christusgestaltig werden lässt. Dass in seinem Leben der leidende Christus sein eigenes Sein überlagert und gestaltet, löscht die persönliche Existenz des Paulus gerade nicht aus, sondern formt und fordert sie aufs höchste. Es ist sicher nicht zufällig, dass es in der Frühzeit des Christentums, ja, ich denke, fast in der ganzen Religionsgeschichte der Spätantike kaum einen Menschen gibt, der für uns so sehr als unverwechselbares Individuum sichtbar wird, wie Paulus, obwohl er, bzw. besser: gerade weil er nicht mehr selbst lebt, sondern der leidende Christus in ihm. Paulus scheut sich andererseits nicht, in Aussagen, die er auf alle Christ / ​innen ausweitet, von Erfahrungen zu sprechen, die bereits jetzt die Gläubigen an Gottes Herrlichkeit partizipieren lassen, z. B. von gegenwärtiger „Verwandlung“ von Herrlichkeit zu Herrlichkeit (2 Kor 3,18), von „Erleuchtung“, ja vom „Aufleuchten Gottes“ in den menschlichen Herzen (2 Kor 4,6; vgl. 2 Kor 5,17), von der Erneuerung des Menschen vom Auferstehungsleben her (2 Kor 4,11 f.18), vom „Gestaltwerden Christi in uns“ (Gal 4,19). Zu erinnern ist auch an die schon im Aorist formulierte Verherrlichungsaussage von Röm 8,30. Es geht hier nicht einfach um eine bloss verbal-radikal angesagte Heilsgewissheit,43 sondern um mystische Geisterfahrungen, welche die Gläubigen bereits jetzt machen. Auch Paulus ist Pneumatiker; auch Paulus ist „Enthusiast“. Nur darf dieser Enthusiasmus die durch Leib, Leiden und Liebe gesetzten Erfahrungsbedingungen nicht überschreiten.

6. In allem ist paulinische „Mystik“ zur Ethik hin offen: Die „Verwandlung“ hat einen ethischen Aspekt (vgl. Röm 12,2). Das „Anziehen“ Christi ist zugleich ein Anziehen der „Waffen des Lichts“ (Röm 13,11–14). Das Leben „im Geist“ bedeutet eine Absage an die Knechtschaft „im Fleisch“ (Röm 8.6–8.12–14). Der 42 Philo, Op mund 69; Rer div her 69; Corpus Hermeticum 13,3 (ἐμαυτὸν ἐξελήλυθα εἰς ἀθάνατον σῶμα). 10 (τὴν σωματικὴν αἴσθησιν καταλιπών). 43 Man hat die bereits geschehene Verherrlichung entweder als „antizipatorisch“ gedeutet (so z. B. Wilhelm Thüsing, Per Christum in Deum, NTA NF I/1, Münster 31986, 278) oder sie als von Paulus bloss übernommene „enthusiastische Tauftradition“ (so z. B. Käsemann, An die Römer (o. Anm. 29), 234 abgetan. Paulus wusste wohl, was er übernimmt! Seine Eschatologie ist m. E. von der „präsentischen“ des Kolosserbriefs nicht grundsätzlich verschieden.

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„Leib Christi“ ist der Raum der Liebe (1 Kor 12,12–31), welche die höchste aller Geistesgaben ist (1 Kor 13,13). Die paulinische Christusmystik hat eine horizontale Dimension, die der Liebe. Gemeint ist damit nicht „Christusminne“, sondern die κοιωνία der Gemeinde. Gal 2,20 spricht, unmittelbar nach der Feststellung, dass „Christus in mir“ lebt, vom Leben „im Fleisch“, das nun vom Glauben an Christus bestimmt ist. Nach Röm 8 kann der Mensch, in dem Christus bzw. der Geist wohnt, nicht mehr als Schuldner des Fleisches nach dem Fleisch leben (Röm 8,12 f). Deutlich wird die ethische Dimension der Gemeinschaft mit dem κύριος in der Auseinandersetzung über den Geschlechtsverkehr mit Prostituierten in 1 Kor 6,12 ff. Der Leib gehört dem Herrn und der Herr dem Leib (V 13). Das bedeutet eine eheähnliche Bindung, sodass Paulus analog zum Ein-Fleisch-werden in der Ehe formulieren kann: „Wer am Herrn hängt, ist mit ihm ein Geist“ (V 17). Die praktischen Konsequenzen dieses mystisch klingenden Satzes sind evident: Geschlechtsverkehr mit Dirnen ist ausgeschlossen. Der Leib des Menschen ist der Ort der Einwohnung des Christus; in der leiblichen Existenz nimmt Christus Gestalt an. In ähnlicher Weise ist in 1 Kor 12 und 13 die Erfahrung, die dem Eingegliedert werden des Menschen in den Leib Christi und seinem Getränkt werden mit Geist entspricht, eine ganz irdische: die des guten Zusammenlebens, der Liebe in der Gemeinde. Gerade an ihr wird die Realität Christi erfahrbar. Die Verbindung mit Christus, das Eingetauchtwerden in seine Wirklichkeit, findet also bei Paulus nicht irgendwo statt, sondern im Leib; sie bedeutet keine Entrückung aus der Welt, sondern eine neue Praxis in der Gemeinde.

III. Rückblick Der Rückblick kann kurz sein. Er soll zwei Fragen beantworten. 1. Ist Paulus ein Mystiker? Die Frage ist ein Anachronismus und kann nicht beantwortet werden. Wohl aber muss sie transformiert werden. Richtig gestellt lautet die Frage: Ist die anachronistische Frage nach der Mystik des Paulus produktiv? Die Antwort muss lauten: Ja, denn sie erlaubt es, in der protestantischen Paulusinterpretation verdrängte Seiten des grossen Apostels neu ins Licht zu rücken. Es ist wichtig, Paulus gegen die Engführungen in der eigenen kirchlichen Tradition zu schützen und ihn so gegen den (eigenen!) Strich zu bürsten. Dazu gehört die Neuentdeckung von Dimensionen wie religiöse Erfahrung, Partizipation, Christus als lebendiger Geist, Christus „in“ uns. Dazu gehört auch die Entdeckung, dass die Religion des Paulus viel mehr gewesen ist als eine Religion des „blossen Worts“. Nur dann, wenn wir in den uns scheinbar längst vertrauten biblischen Texten Neues, Fremdes und Anderes entdecken, und nur dann, wenn wir uns von Angehörigen anderer Konfessionen und Religionen fremde Augen schenken lassen, um Neues und uns selbst Überraschendes in der Bibel zu entdecken, hat unsere Bibellektüre Zukunft. 2. Was kann das Studium der paulinischen Frömmigkeit und Theologie zum Verständnis von Mystik beitragen? Die Frage basiert natürlich auf einem Zirkel, denn nur, wenn die erste Frage, ob Paulus als Mystiker bezeichnet werden könne,

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positiv beantwortet wird, können von Paulus her Fragen an heutige Mystikdefinitionen gestellt werden. Gehen wir einmal von einer positiven Antwort aus, so lässt sich folgendes sagen: Die paulinische „Mystik“ ist eine ganz besondere Mystik, gleichsam eine „Mystik sui generis“. Sie ist keine geeignete Basis, um „Mystik“ als ein allgemein-menschliches, gleichsam interreligiöses Phänomen zu definieren. Vielmehr bestätigt sie die These, dass es „Mystik“ nur als „Mystik von …“ gebe, d. h. als christliche Mystik, islamische Mystik, jüdische Mystik, buddhistische Mystik.44 Mystik gibt es nur in Bezug auf bestimmte, geschichtlich gegebene und unverwechselbare Traditionen. Im Gegenzug zur neuzeitlichen Verselbständigung von „Mystik“ gegenüber der „Theologie“ gilt für Paulus, dass seine „Mystik“ immer auf Christus und damit seine eigene Theologie bezogen bleibt und von dort her ihr besonderes Profil bekommt. Paulinische „Mystik“ ist Ausdruck seiner Christuserfahrung, insbesondere seiner Partizipation an Christus. Sie ist Ausdruck der lebendigen Kraft Christi, die in Paulus und allen Christ / ​innen Gestalt gewinnt. Sie ist nicht Ausdruck eines allen Religionen Gemeinsamen, gleichsam einer anthropologischen oder theologischen Grundkonstante in allen Religionen. Es gibt keine interreligiöse oder „überreligiöse“ „mystische Ökumene“ – eine solche wäre nicht mehr als ein menschliches Konstrukt und würde dann in der Tat unter das „Mystikverdikt“ der dialektischen Theologie fallen. Vielmehr gibt es nur die Möglichkeit, Angehörige anderer Religionen nach ihren Erfahrungen mit Gott zu fragen, sie sich erzählen zu lassen, und dadurch für das aufmerksam und dankbar zu werden, was Gott uns selbst geschenkt hat, und zugleich auch dankbar für das, was anderen Menschen durch andere Religionen geschenkt worden ist.

44 So am entschiedendsten Scholem, Die jüdische Mystik (o. Anm. 21), 6: „Es gibt nicht Mystik an sich, sondern Mystik von etwas, Mystik einer bestimmten religiösen Form: Mystik des Christentums, Mystik des Islams, Mystik des Judentums“.

30. Paulus als Charismatiker und Mystiker

Traugott Holtz zum 65. Geburtstag*

Eine persönliche Einleitung Paulus als Pneumatiker und Mystiker – die Wahl dieses Themas für einen Festvortrag zum 65. Geburtstag von Traugott Holtz mag überraschen. Zwar ist Paulus ein ausgesprochener, wenn nicht sogar der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Werks von Traugott Holtz – aber doch nicht Paulus als Pneumatiker und Mystiker! Dies erinnert an Themen der Religionsgeschichtlichen Schule und damit mehr an den Hallenser Vorgänger Hans Windisch als an Traugott Holtz. Und doch hat unser heutiges Thema sehr viel mit Traugott Holtz zu tun, aber ich muss das erklären. Seit ich Traugott Holtz kenne, und dies ist seit den sechziger Jahren, d. h. seit seiner Greifswalder Zeit, habe ich ihn nicht nur als treuen und aufrichtigen Freund, sondern auch als einen Hochschullehrer erlebt, für den seine Studentinnen und Studenten die Mitte seines Lebens und seines Einsatzes waren. Für sie hat er gelebt, für sie hat er sich unentwegt eingesetzt. Unterrichten zu dürfen, ist ihm etwas Grosses. Und so war ich nicht einmal besonders überrascht, als ich von ihm in diesem Frühling ein Briefchen erhielt, des Inhalts: Die Studenten im Konvikt machen eine Übung über den Geist bei Paulus – kannst Du nicht, wenn Du nach Halle kommst, etwas dazu sagen? Nicht ein Holtz-Thema also, sondern ein Thema für die Studentinnen und Studenten, und gerade auf diese Weise ein Holtz-Thema! Ich weiss nicht, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, was hinter Ihrem Interesse am Thema „Geist“ bei Paulus stand. Ich kann nur versuchen, mein eigenes Interesse zu formulieren, das ich an diesem Thema habe, und hoffen, es treffe sich irgendwie mit Ihrem. Es ist das Interesse an religiöser Erfahrung. * Festvortrag zum 65. Geburtstag von Traugott Holtz, gehalten am 27. Juni 1996 in Halle. Der Bitte von Karl Wilhelm Niebuhr, meinen „Geburtstagsvortrag“ in zweiten Aufsatzband von Traugott Holtz zu publizieren, kam ich angesichts seines Themas (siehe die persönliche Einleitung) nur mit grossen Hemmungen nach. Aber es ist eine Gelegenheit, Traugott Holtz ein letztes Mal öffentlich zu danken – und das tue ich sehr gerne. – Den Vortragsstil des folgenden Textes habe ich belassen.

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Wir erleben zur Zeit in der Schweiz einen Boom von religiösen Erfahrungen, gerade unter jungen Menschen. In Bern treffen sich zur Zeit in einer christlichen Jugendkirche Hunderte von jungen Menschen zu charismatischen Gottesdiensten, deren Erlebniszentrum der sog. „Torontosegen“ ist. In unseren Zeitungen machen immer wieder Berichte über okkulte Gottesdienste in der freien Natur die Runde, deren Spuren dann von überraschten Waldspaziergängern gefunden werden. Das Interesse an neuen Formen der Spiritualität, an Meditation, an nonverbaler Kommunikation ist ungebrochen. Auf dem religiösen Markt bieten Ritualberater / ​innen ihre Dienste an, z. B. Ersatzriten anstelle von Taufe und kirchlicher Trauung, die erlebnisintensiver sind als jene. Im Kirchenjahr laufen Waldgottesdienste und Erntedankfeste den traditionellen Festgottesdiensten zu Ostern und Pfingsten den Rang ab. Die wenigsten jungen Menschen kommen bei uns überhaupt noch auf die Idee, dass sie ihre Bedürfnisse nach religiösen Erfahrungen in den Kirchen des Wortes befriedigen könnten. Ich stelle das Thema „Geist“ in diesen Kontext und frage nach den religiösen Erfahrungen des Paulus und ihrer Interpretation.

I. Paulus als Charismatiker1: 1. Die Erfahrungen Ich beginne mit der Zungenrede. Es ist für uns wohl etwas überraschend, vielleicht sogar befremdend, wenn Paulus in seiner charakteristischen bescheidenen Unbescheidenheit ausgerechnet den Korinthern gegenüber sagt: „Ich danke Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle“ (1 Kor 14,18). Für die Korinther war offenbar die Zungenrede die Äusserung des Geistes schlechthin (vgl. 1 Kor 14,37).2 Zungenrede ist für sie Engelssprache (1 Kor 13,1). Und nun stellt Paulus sich den Korinthern als noch begabterer Zungenredner dar, ohne dass die Formulierung – immerhin ein Dankgebet! – ironisch wäre. Wir Protestanten sind geprägt durch eine theologische Vorliebe für Paulus und durch eine grundlegende Abneigung gegenüber allem, was irgendwie nach Schwärmerei und Enthusiasmus aussieht. Deshalb stellen wir uns Paulus lieber als Denker und Theologen vor, und die Abwertung der Zungenrede im 1 Korintherbrief ist wahrscheinlich vielen von uns nicht ganz unwillkommen. Für Paulus ist aber die Zungenrede 1 Ich verstehe hier „Charismatiker“ nicht im Sinn des paulinischen Verständnisses von χάρισμα, sondern im idealtypischen Sinn Max Webers als einen Menschen, der mit „übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch ausseralltäglichen, nicht jedermann zugänglichen Kräften“ begabt ist, deshalb „als gottgesandt“ akzeptiert und in seiner Autorität anerkannt wird (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51980, 140), d. h. im Sinn der Korinther als πνευματικός. 2 Traugott Holtz, Die Kennzeichen des Geistes, in ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 237 mit Anm. 10: Pls. scheint 1 Kor 14,37 im Anschluss an den Sprachgebrauch der Korinther die πνευματικοί mit den Zungenrednern zu identifizieren und von den Propheten zu unterscheiden.

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eine grundlegende Erfahrung des Geistes. Er versteht sie offenbar ähnlich wie Philo die Erfahrung der μανία und der Gottbesessenheit: Sie ist ἔκστασις. Die Ankunft des göttlichen Geistes bedeutet, dass der menschliche νοῦς aus dem Menschen auszieht, da er nicht mit Göttlichem zusammenwohnen darf (Her 264 f).3 Paulus formuliert im Blick auf die Korinther, dass der νοῦς des Zungenredners ἄκαρπος sei (1 Kor 14,14). Darum gilt im Blick auf die Gemeinde: Aber in der Gemeindeversammlung will ich (lieber) fünf Worte mit meinem Verstand reden, um andere zu unterrichten, als zehntausend Worte in Zungenrede (1 Kor 14,19, vgl. 1–5).

Wir entnehmen dieser Stelle zwei Informationen: 1. Die Gabe der Prophetie, die hier mit den „mit Verstand“ gesprochenen Worten gemeint ist, hatte Paulus offenbar auch. 2. Die Abwertung der Zungenrede und anderer Gnadengaben hat bei Paulus nichts mit derjenigen Skepsis gegenüber besonderen Charismen zu tun, die oft bei Menschen anzutreffen ist, die sie selbst nicht besitzen. Paulus ist auch Wundertäter. Damit stossen wir auf einen weiteren Zug, der im üblichen protestantischen Paulusbild ganz untypisch ist.4 2 Kor 12,12 weist Paulus die Korinther in seiner „Narrenrede“ darauf hin, dass er unter ihnen alle „Zeichen des Apostels“ getan habe, „in aller Ausdauer, mit Zeichen und Wundern und Krafttaten“. Offensichtlich gehörten Wunder in der Tradition der Aussendungsrede (Lk 10,9) auch für Paulus zu dem, was einen Apostel als Apostel erkennbar macht. Was sonst noch zu den „Zeichen des Apostels“ gehörte, lässt sich aus dem Text nicht direkt erschliessen; man wird in erster Linie an Krankenheilungen, aber wohl auch an Exorzismen und andere δυνάμεις denken, die nach 1 Kor 12,9 f zu den Manifestationen des Geistes gehören. Jedenfalls zeigt sich, dass die zahlreichen Berichte über Wunder des Paulus, die uns in der Apostelgeschichte überliefert sind (Apg 13,6–12; 14,8–10; 20,7–12; 28,3–9; vgl. 14,3; 16,25–29; 19,11–13), keineswegs grundsätzlich unhistorisch sein müssen. An seine Wunder wird Paulus wohl auch in 1 Kor 2,4 denken, wenn er von der ἀπόδειξις πνεύματος καὶ δυνάμεως bei der Evangeliumsverkündigung in Korinth spricht. Eine eigene Interpretation dieser apostolischen „Zeichen und Wunder“ gibt er in Röm 15,18 f: Es sind Werke, die Christus selbst durch Paulus getan hat „in der Kraft des Geistes Gottes“. Dass Paulus selber als Wundertäter wirkte, ist umso wichtiger, als er selbst in seiner Auseinandersetzung mit den Korinthern auch dieses Charisma, das er selbst besass, gegenüber der Königin aller Gnadengaben, der Liebe, zurückstellte (1 Kor 13,2 b). 3 Vgl.

Samuel Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, ZThK 93 (1996), 170 f; weitere Belege dort Anm. 24–26. Belege für μανία in den Dionysos‑ und Demeter-Mysterien bei Walter Burkert, Antike Mysterien, München 31994, 95. 4 Heinz Dietrich Wendland, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1962, 226: „Wir erkennen hier den Mangel der normalen, protestantischen Paulusauffassung: weder der Ekstatiker noch der Wundertäter Paulus hat in diesem Bilde Platz gehabt“.

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Paulus ist drittens Prophet und Ekstatiker gewesen, der alle himmlischen Geheimnisse sah (vgl. 1 Kor 13,2 a). Das zeigt sein Bericht über seine eigene Entrückung in den dritten Himmel deutlich, den er uns 2 Kor 12,2–4 gibt. Hier berichtet Paulus stilgemäss über eine Entrückung in den dritten Himmel, wo das Paradies sich befindet, die ihm zu einem Zeitpunkt in seinem Leben, den er noch datieren kann, widerfahren ist. Er ironisiert weder diese Erfahrung, noch stellt er ihre Wirklichkeit in Frage.5 Er berichtet von seiner Himmelsreise, die ja nach zeitgenössischen Zeugnissen auch nicht ungefährlich ist,6 nur ganz knapp, weil es „nicht erlaubt“ ist darüber zu reden: So wissen wir nicht, was für „Gesichte“ Paulus im dritten Himmel gesehen und was für „unaussprechbare Worte“ er gehört hat. Die Formulierung ὑπὲρ τοῦ τοιοῦτου καυχήσομαι in V 5 könnte ebenso wie der Plural „Gesichte und Offenbarungen“ V 1 und der Ausdruck „ὑπερβολή der Offenbarungen“ in V 7 andeuten, dass diese Begebenheit nur die spektakulärste, nicht aber die einzige ekstatische Erfahrung gewesen ist, die Paulus widerfahren ist. Auch die im folgenden geschilderte Gebetserfahrung hat einen ganz besonderen Charakter. Paulus spricht vom „Stachel im Fleisch, dem Engel Satans“, einer schmerzhaften Krankheit, die ihn mit Fäusten schlägt, und fährt dann fort: „Dreimal habe ich dafür den Herrn angerufen, dass er von mir ablasse“ (2 Kor 12,8). Da ein dreimaliges Gebet um Heilung bei einer schmerzhaften, lebenslangen Krankheit gar nicht besonders viel ist, wird Paulus hier an ganz besondere Gebetsanstrengungen, vielleicht Versuche eines Exorzismus oder Handauflegungen, denken. Er bekommt von Gott eine negative Antwort, die er im feierlichen Stil eines Orakels in direkter Rede Christi formuliert: „Meine Gnade ist genug für Dich; denn die Kraft vollendet sich in Schwachheit“ (V 9). Diese Antwort Christi ist für Paulus bleibend gültig; er hat offenbar kein viertes Mal mehr gebetet. Auch hier wird man mit irgend einer Form von Offenbarung rechnen müssen.7 Paulus war jedenfalls ein Mensch mit ekstatischen Erfahrungen und einem besonderen, gemessen am Massstab heutiger Durchschnittsfrömmigkeit nicht alltäglichen Gebetsleben. Schliesslich muss man natürlich an die für seine ganze Sendung grundlegende Begegnung mit Christus vor Damaskus erinnern, in der Gott „in mir“ (Gal 1,16) seinen Sohn Jesus Christus offenbarte. Auch hier geht es um eine visionäre Er5 Gegen Hans Dieter Betz, Paulus und die sokratische Tradition, BhTh 45, Tübingen 1972, 84. 89; dazu Daniel Marguerat, Paul et l’expérience de Dieu (2 Corinthiens 10–13), in: ders., L’aube du christianisme, Genève / ​Paris 2008, 192 f. 6 Vgl. in bHag 14 b–15 b die Himmelsreise der vier Rabbinen: „Ben Azaj schaute und starb … Ben Zoma schaute und kam zu Schaden … R. Aqiba stieg in Frieden hinauf und kam in Frieden herunter“ (der vierte der hier aufgezählten Rabbinen ist Aher). 7 Nach Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994, 103 f geht es in 2 Kor 12,8 f ebenfalls um eine ekstatische Erfahrung. Für Margaret Thrall, II Corinthians II (VIII–XIII), ICC, Edinburgh 2000, 820 legt die direkte Rede der Antwort Christi nahe, dass sie „was communicated in some revelatory experience characterised by audition“.

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fahrung (vgl. 1 Kor 9,1; 15,7), verbunden mit einer Audition. Ich werde noch auf sie zurückkommen, weil sie für Paulus einen ganz besonderen Charakter hatte. Ich fasse zusammen: Paulus war nicht nur ein begabter Zungenredner und Wundertäter, sondern auch ein Mensch mit ausserordentlichen ekstatischen Erfahrungen. Blickt man zurück auf die Liste der Charismen in 1 Kor 12,8–10, wo es heisst, dass „einem“ diese, „einem anderen“ jene Gabe geschenkt sei, so ist man versucht zu sagen: Der Apostel Paulus hatte offenbar alle Gnadengaben, denn die noch nicht besprochenen, wie etwa Weisheitsrede oder Unterscheidung der Geister, wird ihm gewiss niemand absprechen wollen.

II. Die Frage nach der Mystik8 Manche dieser Erfahrungen, vor allem natürlich die Entrückung des Paulus in den dritten Himmel, haben ihre Parallelen in mystischen Texten. Darf man deshalb Paulus als Mystiker verstehen? Wenn man, mit Jacques Waardenburg, „unter Mystik im weitesten und allgemeinsten Sinn des Wortes die Deutung und Pflege bestimmter Erfahrungen eines Absoluten … versteht“,9 so ist Paulus sicher Mystiker. Die Religionsgeschichtliche Schule, die Paulus immer wieder als Mystiker interpretierte, hat dies aber meist nicht deswegen getan, weil er besondere „Erfahrungen eines Absoluten“ gemacht hat, sondern darum, weil seine Frömmigkeit überhaupt von der Erfahrung des Geistes geprägt ist. Sie hat damit Paulus selbst ernstgenommen, der alle besonderen Charismen auf die Grunderfahrung des selben Geistes zurückführt (1 Kor 12,4). In diesem Sinn sprach die Religionsgeschichtliche Schule von der Christusmystik des Paulus. Für Wilhelm Bousset ist die Christusfrömmigkeit des Paulus bestimmt durch „das intensive Gefühl der persönlichen Zugehörigkeit und der geistigen Verbundenheit mit dem erhöhten Herrn“. Der Christus des Paulus ist „die überweltliche Kraft, welche sein ganzes Leben trägt und mit seiner Gegenwart erfüllt“,10 also eben der Herr, der Geist ist (2 Kor 3,17). Grundsätzlich ähnlich verstand Albert Schweitzer den Geist als „Erscheinungsform von Auferstehungskräften“ und das Sein im  8 Das Thema der paulinischen Mystik hat mich immer beschäftigt; veröffentlicht habe ich nur Ulrich Luz, Paul as Mystic, in: Graham N. Stanton / ​Bruce W. Longenecker / ​ Stephen C. Barton (Hg.), The Holy Spirit and Christian Origins (FS J. D. G. Dunn), Grand Rapids 2004, 131–143 (in diesem Band Aufsatz Nr. 29). Der Hallenser Vortrag war eine der bisher unveröffentlichten Vorstudien zu diesem Thema. Wichtig war mir dabei immer das Gespräch mit Daniel Marguerat, auf dessen Studie La mystique de l’apôtre Paul, in: Association Catholique Française pour l’étude de la Bible (Hg.), Paul de Tarse, LeDiv 165, Paris 1996, 307–329 ich dankbar verweise.  9 Jacques Waardenburg, Religionen und Religion, SG 2228, Berlin 1986, 221. 10 Wilhelm Bousset, Kyrios Christos, FRLANT 21, Göttingen 21921, 104; vgl. Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 166: „Das Sein im Geist ist … eine Erscheinungsform des Seins in Christo.“

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Geist „als Erscheinungsform des Seins in Christo“.11 Ist der Charismatiker und Ekstatiker Paulus als Mystiker zu verstehen? Mit dieser Frage betreten wir ein schwieriges, vor allem in der protestantischen Paulusdeutung gerne verdrängtes Problemfeld. Paulus als Mystiker – dieses grosse Thema der Religionsgeschichtlichen Schule12 ist mindestens in der protestantischen Paulusdeutung trotz eines sehr grossen Interesses an Mystik in unserer Gesellschaft bis heute nicht sehr populär.13 Die Gründe sind bekannt und reichen weit in die Geschichte des Protestantismus zurück: Bereits in der Zeit der Reformation war die Abneigung gegen jede Form von Spiritualismus und Schwärmerei stark: Man wehrte sich gegen jeden Versuch, den Geist und den Glauben gegenüber seinen von Gott gesetzten äusseren Vorgaben, dem Wort und dem Sakrament, zu verselbständigen. In 20. Jahrhundert hatte das Nein der dialektischen Theologie gegen die Mystik weitreichende Folgen.14 Dass die Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, allen voran Albert Schweitzer, von der Mystik des Paulus her seine Rechtfertigungstheologie zu relativieren versuchten,15 hat die protestantische Abneigung gegen sie noch verstärkt. 11 Schweitzer,

Mystik (a. a. O.), 165 f.  Vgl. ausser Bousset und Schweitzer bes. Adolf Deissmann, Paulus: Eine kultur‑ und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 21925. Nachzügler der Religionsgeschichtlichen Schule sind: Johannes Schneider, Die Passionsmystik des Paulus: Ihr Wesen, ihr Hintergrund und ihre Nachwirkungen, UNT 15, Leipzig 1929; Martin Dibelius, Glaube und Mystik bei Paulus (1931), in: ders., Botschaft und Geschichte II, Tübingen 1956, 94–116; ders., Paulus und die Mystik (1941), ebd., 134–159; Alfred Wikenhauser, Die Christusmystik des Apostels Paulus, Freiburg 21956. 13 Neuere, nicht nur protestantische Literatur zum Thema: Eduard Schweizer, Die ,Mystik‘ des Sterbens und Auferstehens mit Christus bei Paulus, in ders.: Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 183–203; Alan Segal, Paul the Convert, New Haven / ​ London 1990, bes. 34–71; Romano Penna, Problemi e natura della mistica paolina, in ders., L’apostolo Paolo. Studi di esegesi e teologia, Milano 1991, 630–673; Samuel Vollenweider, Grosser Tod und Grosses Leben: Ein Beitrag zum buddhistisch-christlichen Gespräch im Blick auf die Mystik des Paulus (1991), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 215–235; ders., Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden (1996), ebd., 163–192; Peter Lampe, Identification with Christ. A Psychological View of Pauline Theology, in: Tord Fornberg / ​David Hellholm (Hg.), Texts and Contexts (FS Lars Hartman), Oslo etc 1995, 931–944; Marguerat, Mystique (o. Anm. 8); Hans-Christoph Meier, Mystik bei Paulus, TANZ 26, Tübingen 1998; John Ashton, The Religion of Paul the Apostle, New Haven / ​London 2000, bes. 113–151. 14 Sie galt den dialektischen Theologen als Inbegriff und sublimste Form menschlicher Religion. Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, 4 interpretierte sie als „Erleben“ und „Intensität des Gefühls“. Friedrich Gogarten, Die religiöse Entscheidung, Jena 1921, 66.64 sprach von der „Unendlichkeit der mystisch-sittlichen Aufgabe (!) der Selbstentwerdung“ und von Mystik als „Versuch, mit menschlichem Tun zu Gott zu gelangen“. Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, 115 interpretierte mystische Ekstase als „Selbstzweck und Genuss“. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 41948 stellt Mystik dem Atheismus an die Seite und betrachtet beide als menschliche Versuche der Verneinung Gottes: „Mystik ist esoterischer Atheismus“ (352). 15 Schweitzer, Mystik (o. Anm. 10), 220 f. 12

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Ich versuche also, gegenüber der Grundtendenz protestantischer Paulusinterpretation des 20. Jahrhunderts sein Verständnis des Geistes, der in den religiösen Erfahrungen wirksam ist, in den Vordergrund zu stellen und es unter der Leitfrage nach der „Mystik“ zu interpretieren. Dabei geht es mir nicht darum, ob Paulus die Etikette eines Mystikers bekommen soll oder nicht. Bekanntlich ist es sehr schwierig, das, was „Mystik“ sein könnte, sachgemäss zu definieren, weil es bei mystischen Erfahrungen um die Erfahrung von Unverfügbarem geht, das sich für aussenstehende Betrachter gar nicht zureichend erfassen lässt, während Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, sie gerade nicht durch Definitionen verfügbar machen wollen. Wenn ich im folgenden drei grundlegende Merkmale von Mystik nennen werde, möchte ich klar sagen, dass sie möglicherweise ganz unzureichend sind. Es ist mir dabei nicht wichtig, ob sie „Mystik“ wirklich zureichend erfassen, auch nicht, ob es „Mystik“ wirklich gibt oder ob „Mystik“ ein religionsphänomenologischer Abstraktbegriff ist für religiöse Phänomene, die in verschiedenen Religionen sehr verschieden und in ganz unterschiedlichen Einbettungen vorkommen. „Mystik“ ist also möglicherweise vor allem eine „Brille“ für die Wahrnehmung recht unterschiedlicher religiöser Phänomene, eine „Brille“, die im christlich geprägten Westen gewachsen ist. Es geht mir also nicht um die Frage, ob Paulus wirklich „Mystiker“ gewesen ist, sondern nur darum, die Eigenart und die Selbstinterpretation von religiösen Erfahrungen bei Paulus zu beschreiben. Dafür eignen sich die im folgenden aus der theologischen und religionswissenschaftlichen Literatur zusammengestellten „Merkmale“ von Mystik.16 Sie können dazu beitragen, das besondere Profil der Frömmigkeit des Paulus zu erfassen. Ein Verständnis von Mystik fungiert dazu nur als Hilfskategorie.17 a) Allgemein wird unter Mystik im Anschluss an Thomas von Aquino eine Erkenntnis der göttlichen Güte verstanden, die „affectiva seu experimentalis“18 16 Ashton, Religion (o. Anm. 13), 113–142 (= Kapitel 4) nennt keine „Merkmale“ von Mystik, offensichtlich, weil er die „Religion“ des Paulus nicht unter ein theologische Begriffsystem subsumieren will (diesen Vorwurf macht er ebd. 143–151 Albert Schweitzer, m. E. nicht ganz zu Unrecht). Es ist mir darum nicht recht klar, warum er gerade die in diesem Kapitel ausgewählten Texte unter dem Titel „Paul the Mystic“ behandelt. 17 Ich verfahre also methodisch ähnlich wie Meier, Mystik (o. Anm. 13), 18–26, der folgende Merkmale von Mystik angibt: „a) Mystik ist eine Form von Religiosität … b) Im Zentrum der Mystik steht unmittelbare Erfahrung … c) Mystische Erfahrung übersteigt das alltägliche Bewusstsein und die verstandesmässige Erkenntnis … d) Mystische Erfahrung ist Erfahrung einer engen Verbundenheit … mit der himmlischen Welt … e) Die konkreten Erfahrungsformen der … Mystik sind in den geschichtlichen und kulturellen Rahmen einer Religion eingebunden“. 18 Thomas v. Aquino, STh 2/II qu. 97 art. 2; vgl. Bonaventura, De perfectione Evangelica I, conclusio = Opera omnia V, Ad Claras Aquas 1891, 120; ders., III Sent. dist. 35, art. 1 qu. 1 conclusio = Opera Omnia III, Ad Claras Aquas 1889, 774. Cf. Hans Urs von Balthasar, Pneuma und Institution, in: ders., Skizzen zur Theologie IV, Einsiedeln 1974, 302; Alois Haas, Die Problematik von Sprache und Erfahrung in der deutschen Mystik, in: Werner Beierwaltes u. a., Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 22002, 77 f.

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ist, oder im Anschluss an Bonaventura ein „motus cognitionis … saporativae et experimentalis“, eine Gotteserkenntnis also, die nicht intellektuell oder spekulativ ist, sondern auf Erfahrung beruht. Im Anschluss an ihn definiert Rufus Jones Mystik, ob es als einen Typ von Religion „which puts the emphasis on immediate awareness of relation with God, on direct and intimate consciousness of the Divine Presence“.19 Mystik ist also unmittelbare und direkte Erfahrung der Nähe Gottes. b) Diese unmittelbare Erfahrung des Göttlichen bedeutet – und das ist das zweite wichtige Merkmal mystischer Frömmigkeit – eine Überwindung der Distanz zum Göttlichen bzw. eine Verbindung mit dem Göttlichen.20 Ich habe mit Absicht nicht einfach von der „unio mystica“ gesprochen, denn ich denke, dass die Erfahrung der Distanzüberwindung sowohl die Gestalt der Verschmelzung mit dem Göttlichen,21 als auch die Gestalt der Gemeinschaft mit ihm, als auch die Gestalt der Anschauung, der Kontemplation des Göttlichen22 haben kann. Ich bin auch überzeugt, dass Friedrich Heilers grundsätzliche Entgegensetzung eines prophetischen und eines mystischen Religionstyps23 gerade für die Untersuchung frühchristlicher Mystik völlig ungeeignet ist und möchte durch eine offenere Formulierung ermöglichen, die Nähe frühjüdischer Frömmigkeit, z. B. der Sapientia Salomonis, Philos oder der urchristlichen Prophetie zu einem mystischen Frömmigkeitstyp zu erfassen.24 c) Mystische Frömmigkeit ist persönliche Frömmigkeit von Einzelnen. Ernst Troeltsch deutete das mystische „Drängen auf Unmittelbarkeit, Innerlichkeit und Gegenwärtigkeit des religiösen Erlebens“ entweder als „Reaktion“ gegen 19 Rufus Jones, Studies in Mystical Religion, London 1909, XV; zitiert bei Gershom G. Scholem, Major Trends in Jewish Mysticism, Jerusalem 1941 = New York 1961, 4. 20 Für ein weites Mystikverständnis, das nicht die unio mystica zum Definitionsmerkmal von Mystik macht, plädiert auch Deissmann, Paulus (o. Anm. 12), 118 f: Mystik ist für ihn „jede Frömmigkeit, die den Weg zur Gottheit durch innere Erfahrung ohne rationale Vermittlung direkt gefunden hat … Die Unmittelbarkeit der Verbindung mit der Gottheit ist … konstitutiv“. 21 Die Verschmelzung steht bei Friedrich Heiler im Vordergrund: „Mystik ist jene Form des Gottesumgangs, bei der die Welt und das Ich radikal verneint werden, bei der die menschliche Persönlichkeit sich auflöst, untergeht, versinkt in dem unendlichen Einen der Gottheit“ (Das Gebet, München 21920, 249). 22 Vgl. Marguerat, Mystique (o. Anm. 8), 315 (zur Merkabah-Mystik). 23 Heiler, Gebet (o. Anm. 21), 248–283; vgl. Gustav Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft, Heidelberg 1949, 155–157. 24 Vgl. z. B. Sap 7,27 f: Die göttliche Weisheit, „von Geschlecht zu Geschlecht in heilige Seelen übergehend, begabt … Freunde Gottes und Propheten (mit Geist)“; diese wohnen mit der Weisheit zusammen. Philo versteht gerade die prophetische Ekstase als Einwohnung des göttlichen Lichts im Menschen, d. h. wohl als mystische Erfahrung (Her 264 f; weiteres bei Vollenweider, Geist Gottes (o. Anm. 3), 170 Anm. 25. Urchristliche Propheten unterscheiden nicht immer zwischen ihrem eigenen Sprechen und dem „Wort des Herrn“, sondern nehmen manchmal das ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν des erhöhten Herrn für ihr eigenes Wort in Anspruch; vgl. Ulrich Luz, Stages of Early Christian Prophetism, in: Sacra Scripta 5, Cluj-Napoca 2007, 45–62, dort 49–52. Zu vergleichen sind auch die von Celsus (Orig Cels 7,9) beschriebenen christlichen Propheten, die sagen: „Ich bin Gott oder Sohn Gottes oder der heilige Geist.“

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das Erstarren von traditionellen Religionen in Institutionalisierung und Objektivierung von Religionen, oder als „Ergänzung der herkömmlichen Kulte durch die persönliche und lebendige Erregung“. In diesem Sinn ist für ihn mystische Frömmigkeit „immer etwas Sekundäres“ und steht in einem gewissen Gegensatz zur durchschnittlichen Frömmigkeit der Massen.25 In ähnlicher Weise verstand auch Gerschom Scholem mystische Frömmigkeit als „revival of mythical thought“ in einer Situation, in der alte Religionen erstarren und neue Religionen nicht vorhanden sind. Mystische Frömmigkeit versucht, „to transform … God … from an object of dogmatic knowledge into a novel and living experience and intuition“26. Mystik ist also persönliche, vertiefte Frömmigkeit Einzelner, die in ihren Religionen einen besonderen Weg gehen. Wir kehren zurück zu den besonderen religiösen Erfahrungen des Charismatikers Paulus und fragen: Inwiefern sind sie mystische Erfahrungen? Inwiefern interpretiert sie Paulus im Sinne der Mystik?

III. Paulus als Charismatiker: 2. Die Interpretation Ich beginne wieder mit der Zungenrede. Sie wurde wahrscheinlich in Korinth als Sprache der Engel verstanden (1 Kor 13,1), in deren Gemeinschaft sich die Korinther in ihren Gottesdiensten vielleicht glaubten (vgl. 1 Kor 11,10). Für die Korinther war mit der Zungenrede die Erfahrung einer Erhebung in himmlische Sphären verbunden; sie redeten „begeistert in engelhafter Sprache“ wie die Töchter Hiobs, deren Herz verwandelt worden war (Test Hi 48,3; 49,2; 50,2). Es gibt durchaus eine gewisse Nähe zwischen dieser charismatischen Erfahrung und der mystischen annihilatio und Erhebung der Seele zu Gott. Nicht so dagegen in der paulinischen Interpretation der Zungenrede: In Röm 8,26 f deutet Paulus die Zungenrede als tiefsten Ausdruck menschlicher Schwäche: Der Mensch, der nicht weiss, wie er beten soll, seufzt zusammen mit der unerlösten Schöpfung und schreit „mit unaussprechlichen Seufzern“ nach der Erlösung. Und eben diesem Seufzen, das noch nicht einmal zur Artikulation in verstehbarer Sprache gelangt ist, kommt der Geist zu Hilfe und tritt damit vor Gott für uns ein.27 Es ist also gerade nicht so, dass sich menschliches Reden bis zur Sprache des göttlichen Geistes oder der Engel aufschwingt, sondern so, dass sich der 25 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften I, Tübingen 31923, 850. 26 Scholem, Major Trends (o. Anm. 19), 8. 10. Eine sehr wichtige Folgerung, die sich für Scholem aus seinem Ansatz ergibt, lautet: „There is no mysticism as such, there is only the mysticism of a particular religious system“ (ebd. 6). 27 Ich folge damit der ansprechenden Interpretation von Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8 a, Tübingen 1973, 230 f, die allerdings nicht allgemein akzeptiert worden ist. Der Bezug von Röm 8,26 f auf die Zungenrede passt aber am besten zur Tatsache, dass das πνεῦμα Subjekt des Betens ist, und dazu, dass sich dieses Gebet sprachlich in „unaussprechlichen Seufzern“

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göttliche Geist bis in die letzte Tiefe menschlicher Kreatürlichkeit herablässt und das Rufen der Unerlösten zu seiner eigenen Sprache macht.28 Anders, und doch ähnlich, ist es bei der paulinischen Himmelsreise von 2 Kor 12,2–4.29 Paulus schildert sie im Stil einer apokalyptisch-mystischen Himmelsreise.30 Zugleich distanziert er sich von ihr. Obwohl sie ihm viel bedeutet haben muss, gehört der Bericht darüber zum „Rühmen nach dem Fleisch“, das nicht nützlich ist. Paulus spricht von einem „Menschen“ und benutzt dabei geschickt eine Sprachform, die vielleicht die Selbsttranszendierung des Ek-Statikers andeuten will,31 zur Distanzierung von sich selbst: Für „einen solchen Menschen“ will sich Paulus rühmen – er selbst aber lebt in seinen Schwachheiten, über die es nichts zu rühmen gibt (V 5). Noch viel stärker distanziert sich aber Paulus von seiner Himmelsreise dadurch, dass gleich nachher eine weitere Gotteserfahrung berichtet, diesmal in der Ich-form: „Und für die Fülle der Offenbarungen, damit ich mich nicht überhebe, wurde mit ein Stachel im Fleisch gegeben, ein Satensengel, um mich mit Fäusten zu traktieren, damit ich mich nicht überhebe“ (V 7). Dreimal hat Paulus deswegen den Herrn angerufen; aber er wurde nicht von ihm befreit; Gottes Antwort war: „Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (V 9). In der Schwachheit des Paulus nimmt die Kraft des Christus ihre Wohnung (V 10). Hier geht es um eine eigentliche Gegenerfahrung zur Himmelsreise: Sie findet nicht im Himmel statt, sondern auf der Erde, nicht ausserhalb des Leibes, sondern penetrant im Leib. Sie endet nicht in unausssprechlichen Worten, sondern in sehr deutlicher Sprache. Durch die Unterscheidung von paulinischer Schwachheit und der Kraft des Christus wird ein unendlicher qualitativer Unterschied zwischen Paulus und Christus sichtbar. Zwar geht es hier scheinbar, wie in hellenistischer Mystik, um eine Erfüllung des Menschen mit göttlicher Kraft. Aber sie geschieht nicht, wie bei Philo, indem

äussert. Zu fragen ist angesichts von Röm 8,15 höchstens, ob sich Röm 8,26 f nur auf die Zungenrede bezieht. 28 Vgl. auch Röm 8,15 f, wo der (irdisch-gottesdienstliche) Abbaruf auf den „Geist der Sohnschaft“ zurückgeführt wird. Dibelius, Paulus und die Mystik (o. Anm. 12), 148 f spricht von „oratio infusa“, d. h. inspiriertem Gebet, im Gegensatz zu einem „Gebet nach dem Willen des Beters“. 29 2 Kor. 12,1–7 a ist der Ausgangspunkt der Überlegungen von Segal, Paul the Convert (o. Anm. 13), 34–71. Er identifiziert die Himmelfahrt des Paulus (zu Unrecht!) mit seiner Berufungsvision (ebd. 35). 30 Vgl. z. B. Test Lev 2,5ff, äth Hen 14,8ff; sl Hen 3ff; weitere Belege Alan F. Segal, Heavenly Ascent in Hellenistic Judaism, Early Christianity and their Environment, ANRW II 23/2, Berlin 1980, 1352–1388; Martha Himmelfarb, Ascent to Heaven in Jewish and Christian Apocalypses, New York 1993, passim. 31 Vgl. Victor P. Furnish, II Corinthians AncB, New York 1984, 543; Bernard Heininger, Paulus als Visionär, HBSt 9, Freiburg 1996, 46–51. 100–131. 246–253. Parallelen gibt es allerdings wenige, sodass man vielleicht besser mit u. a. Hans Windisch, Der zweite Korintherbrief, KEK VI, Göttingen 1925, 370 von „Bescheidenheitsstil“ spricht.

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die Schwachheit der menschlichen Vernunft verschwindet,32 und nicht, wie im hermetischen Traktat Poimandres, nach der Himmelsreise, indem der Mensch vergottet wird.33 Sie geschieht nicht durch Auszug des Menschen aus sich selbst, sondern so, dass er auf penetrante Weise in seinem Leibe bleiben muss, nicht so, dass der Mensch sich in die Höhe erhebt, sondern so, dass die Kraft Gottes in die Tiefe kommt. Man mag auch das als Mystik bezeichnen34 – aber es sind gerade nicht die ausserordentlichen charismatischen Erfahrungen des Paulus, die den Zugang zu dieser Mystik eröffnen, sondern – wenn schon – die gegenteiligen, oder die durch eine neue Interpretation von unten her gegen den Strich gebürsteten, wie im Fall der Zungenrede. Werfen wir nun endlich einen Blick auf die wichtigste aller religiösen Erfahrungen des Paulus, auf seine Begegnung mit Christus vor Damaskus. Nach älteren Autoren ist sie für das Verständnis der paulinischen Mystik entscheidend.35 Im Unterschied zu seiner Entrückung in den dritten Himmel erwähnt Paulus diese Erfahrung öfters. Er deutet sie aber in Gal 1,15 f nicht mystisch, sondern nach Analogie einer prophetischen Berufung als Beauftragung und Legitimation, vielleicht vor allem, wie Traugott Holtz vermutet, von Deuterojesaia her.36 Dazu passt, dass sie unvermittelt und überraschend geschah, ohne irgend eine Vorbereitung, als Kehre und nicht als Vertiefung seines bisherigen Weges im Judentum. Dazu passt auch, dass das Entscheidende offenbar nicht das Sehen des Herrn, sondern eine Hörerfahrung gewesen ist, die im Auftrag zur Heidenmission gipfelte. Im zweiten Kapitel des Galaterbriefes aber scheint aber Paulus auf das, was ihm vor Damaskus geschah, zurückzukommen und diese Christuserfahrung mystisch zu deuten: „Ich bin nämlich durch das Gesetz für das Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt; nicht mehr ich lebe aber, sondern es lebt Christus in mir“ (Gal 2,19 f). Paulus scheint hier die grundlegende Wende zu deuten, die vor Damaskus in seinem Leben eingetreten ist: Er ist „durch das Gesetz“ gestorben; gemeint ist wohl, dass sein Eifer für die Torah ihn, den Christenverfolger, auf einen falschen Weg geführt hat. Er ist „dem Ge32  Philo, Somn 1,119: Wenn der νοῦς und die αἴσθησις ihre Schwachheit eingestehen und untergehen und verschwinden (καταδύσει χρησάμενον ἀποκρυφθῇ), dann kommt der Logos in die Seele, die sich selbst aufgegeben hat. 33 Poimandres CH 1,24–27, in: Jens Holtzhausen (Hg.), Das Corpus Hermeticum Deutsch I, Clavis Pansophiae 7,1, Stuttgart – Bad Canstatt 1997, 19 f. 34 Deissmann, Paulus (o. Anm. 12), 119 bezeichnete dies sehr feinsinnig als „katabatische“ Mystik: „Es gibt agierende Mystik und reagierende Mystik, anabatische und katabatische Mystik. Der Mensch kommt zu Gott oder Gott kommt zum Menschen. Mystik der Leistung also oder Mystik der Gnade!“ Gegen dieses Verständnis der paulinischen Mystik ist der Protest der dialektischen Theologie überflüssig. 35 Deissmann, Paulus 115 f. 146. Taufe und Herrenmahl hält Deissmann für sachlich sekundäre Besiegelungen der paulinischen Christusmystik. 36 Traugott Holtz, Zum Selbstverständnis des Apostels Paulus, in ders., Geschichte (o. Anm. 2), 136 f.

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setz“ gestorben: vor Damaskus hat die Torah für ihn ihre Bedeutung als grundlegender Orientierungsrahmen für das Leben verloren. Der Aorist ἀπέθανον qualifiziert diesen Tod als einmaliges Ereignis; das ihn aufnehmende Perfekt συνεσταύρωμαι als einen Tod, der bleibende Folgen hat. In V 20 a folgt dann der berühmte Satz vom Ich-Wechsel: Christus ist neues Subjekt des Paulus; er lebt in und durch ihn. Paulus ist nun Christus‑ bzw. Geistträger. Gal 2,19 f ist immer wieder – und mit Recht – mystisch interpretiert worden.37 Der Wechsel des Subjekts, von dem hier die Rede ist, ist eine in der Mystik wohlbekannte Erfahrung. In seiner Rede vom metaphorischen Tod weist er eine Nähe zum „Grossen Tod“ im Mahayana-Buddhismus auf.38 Traditionsgeschichtlich vorausgesetzt ist die Identifikation des erhöhten Christus mit dem Geist (2 Kor 3,17; 1 Kor 6,17; 15,45). Nicht direkt klingt dagegen die in Röm 6 aufgenommene Vorstellung vom Mitbegraben werden mit Christus in der Taufe an. Paulus interpretiert aber in Gal 2,19 f seine Damaskuserfahrung nicht als einmalige religiöse Erfahrung, die nur ihm widerfuhr. Das betonte ἐγώ kann hier nicht nur Paulus meinen; im vorangehenden V 18 und im folgenden V 21 hat die 1. Person Singular typische Bedeutung. V 15–17 sprechen von der Rechtfertigung jedes Menschen durch Glauben; in V 20 b und 21 wird die Rechtfertigungsterminologie wieder aufgenommen. Auch diese Rahmung der „mystischen“ Aussagen von Gal 2,19 f durch Rechtfertigungsaussagen weist darauf hin, dass es hier nicht um die Interpretation einer besonderen, elitären Erfahrung eines einzelnen Menschen geht. Das wird durch Röm 7 f bestätigt, einen Abschnitt, den man als ausführliche Erläuterung von Gal 2,19 f verstehen kann. Röm 7,7–8,17 beschreibt dieselbe Grunderfahrung des „Grossen“, metaphorischen Todes des Menschen und des Personwechsels, die mit der Erlösung durch Christus verbunden ist. Für Röm 7,7–12 ist das ἐγώ typisch. Sein Tod durch das Gesetz ist die Erfahrung, die schon Adam, „der Mensch“, im Paradies gemacht hat. Röm 8 spricht dann vom neuen Leben der Geretteten, die nun nicht mehr von der Sünde, sondern von Christus resp. – was dasselbe ist – vom Geist Gottes „bewohnt“ werden. Röm 8,9–11 ist die Entsprechung zu Gal 2,20 a. Nach dem Tod des Ich in Röm 7 spricht Paulus in Röm 8 von „unserem“ neuen Leben im Geist bzw. in Christus nicht mehr im Singular, sondern in der ersten resp. zweiten Person Plural. In Gal 2,19 f hebt also Paulus mit seinen mystischen Formulierungen das heraus, was an seinem eigenen Weg zu Christus für alle Christinnen und Christen gültig ist. 37 Schweitzer, Mystik (o. Anm. 10). 125 f; Dibelius, Paulus und die Mystik (o. Anm. 12), 151 („Mystische Frömmigkeit … und prophetische Frömmigkeit … unmittelbar nebeneinander“); Franz Mußner, Der Galaterbrief, HThK 9, Freiburg 1974, 182 („Christusmystik, die aber nicht bloss als individuelle, je meinige’ Christusgemeinschaft verstanden werden darf“); Vollenweider, Grosser Tod (o. Anm. 13), 218–220. 38 Dazu vgl. vor allem Vollenweider, Grosser Tod (o. Anm. 13); Ulrich Luz  / ​Axel Michaels, Jesus oder Buddha, München 2002, 75 f.

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Gerade als für alle Christen typische Erfahrung ist die paulinische Damaskuserfahrung eine mystische Grunderfahrung. Wir fassen zusammen: Nicht die besonderen religiösen Erfahrungen, die der Geistträger und Charismatiker Paulus gemacht hat, also nicht seine Höhenflüge als Ekstatiker und Zungenredner bilden die Grunderfahrungen der Mystik des Paulus. Wenn Paulus von solchen Erfahrungen redet, versucht er, sie herunterzuspielen oder als irdische, menschliche Erfahrungen „von unten“ zu interpretieren. Anders ist es mit seiner Damaskuserfahrung: Sie deutet er nicht nur prophetisch als seine Berufung zum Heidenapostel, sondern auch mystisch als Personwechsel. Im Unterschied zu ihrer prophetischen Interpretation ist ihre mystische Dimension Ausdruck einer für alle Christ / ​innen typischen Grunderfahrung.

IV. Ausweitung: Grundlinien paulinischer „Mystik“ Wir haben bis jetzt von besonderen religiösen Erfahrungen des Paulus gesprochen und überlegt, inwiefern Paulus sie mystisch interpretiert. Am Schluss unserer bisherigen Überlegungen sind wir darauf gestossen, dass Paulus nicht so sehr in Bezug auf sich als Einzelnen, sondern in Bezug auf alle Christinnen und Christen mystische Aussagen machen kann. Ich wende mich nun einigen weiteren paulinischen Aussagen zu, die in der Forschung oft als „mystisch“ interpretiert wurden, und frage, welche Erfahrungen hinter ihnen stehen. Dazu einige knappe und thetische Überlegungen: 4.1 Die paulinischen Aussagen, die man vor allem in der Religionsgeschichtlichen Schule als „mystisch“ bezeichnet hat, sind durchwegs Aussagen über alle Christinnen und Christen. Das gilt für die nuancenreiche Wendung „in Christus“ ebenso wie für die Umkehrung „Christus in euch“ (Gal 4,19; 2 Kor 13,3.5; Röm 8,10). Das gilt auch für die Aussagen über den Geist, der in den Gläubigen wohnt (Röm 8,9.11; 1 Kor 3,16; 6,19) und in besonderer Weise für die Aussagen von der Gemeinde als Leib Christi. Solche Aussagen bezeichnen die Realität des Heils, die alle in der Gegenwart erfahren haben. Alle Christinnen und Christen sind Mystiker. Eine Bestimmung von Mystik, welche diese im Anschluss an Ernst Troeltsch und Gerschom Scholem39 als sekundäre Verinnerlichung und Vertiefung einer vorgegebenen institutionellen Religion durch Einzelne versteht, liegt merkwürdig quer zu den paulinischen Aussagen. Paulinische Mystik ist demokratisch und kommunitär, nicht individualistisch und elitär. 4.2. Viele „mystische“ Aussagen bei Paulus, die ähnlich wie Gal 2,20 Christus mit den Gläubigen verbinden, haben ihren realen Erfahrungshintergrund in der 39 Vgl.

o. Anm. 25. 26.

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Taufe.40 Schon Albert Schweitzer verwies mit Recht auf die Bedeutung der Taufe für die paulinische Mystik: „Das Eigentümliche an der paulinischen Mystik besteht gerade darin, dass das Sein in Christo nicht ein vom Einzelnen durch eine besondere Anstrengung des Glaubens herbeigeführtes subjektives Erlebnis ist, sondern etwas, das sich an ihm, wie an andern, bei der Taufe ereignet“.41 In der Taufe geschieht die Übereignung des Geistes (1 Kor 6,11; 1 Kor 12,13; 2 Kor 1,22). In ihr wird Christus „angezogen“ (Gal 3,27, vgl. Röm 13,14). Die Taufe bedeutet eine neue Identität, ein neues Personsein des Menschen. Paulus hat das Christwerden auch als Neuschöpfung des Menschen interpretiert (vgl. 2 Kor 5,17; Gal. 6,15). Er kann im Zusammenhang mit Taufaussagen das neue Personzentrum, das Christus ist, nicht nur, wie Gal 2,20, individuell, sondern auch kollektiv akzentuieren: „Ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28)42. Von Gal 3,27 f her ist der Weg nicht weit zum Gedanken vom einen Leib Christi, in den „alle durch einen Geist … hineingetauft wurden, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie, und alle wurden mit einem Geist getränkt“ (1 Kor 12,13). Der Leib, der Christus ist, ist den Gläubigen vorgegeben; sie kommen durch die Taufe in ihn hinein und werden dadurch gleichsam zum Teil Christi; der Geist ist dann das Leben, das ihn durchpulst. Ohne die Identifikation von Christus mit der himmlischen, kosmischen Weisheit und dem Geist wären solche Aussagen nicht möglich.43 Von hier aus gesehen darf man, wenn man bei Paulus von Mystik sprechen will, diese nicht als ein besonderes Kennzeichen der Frömmigkeit von Einzelnen verstehen. Gerade die allen gemeinsame Anfangserfahrung der Taufe, nicht irgend eine ekstatische oder charismatische Erfahrung von Vollendeten ist die Grunderfahrung, die hinter vielen mystisch klingenden Aussagen des Paulus steht. 40 Ganz anders sah es Bousset, Kyrios (o. Anm. 10), 113: Hinter der paulinischen Christus‑ und Geistmystik steht nach ihm „der im Kult der Gemeinde mit seinen Wunderkräften und seiner Lebensfülle wirksame Kyrios“ und „die lebendige Wirklichkeit der pneumatischen Erfahrungen“ im Gottesdienst. 41 Schweitzer, Mystik (o. Anm. 10), 118. 42  Das maskuline εἷς in Gal 3,28 ist schwierig. Die meisten Kommentare schweigen sich über das Problem aus. Hans Dieter Betz, Der Galaterbrief, München 1988, 350 vermutet, dass hinter Gal 3,28 „der Christus-Anthropos-Mythos“ stehe. Abgesehen davon, dass ich nicht recht weiss, was das ist, ist diese These nur schon deshalb schwierig, weil die Formulierung εἷς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ eine Differenzierung zwischen dem „einen“, der die Christen und Christinnen durch die Taufe geworden sind, und Christus, „in“ dem sie „einer“ geworden sind, erfordert. Darum spricht Mußner, Galaterbrief (o. Anm. 37), 264 f vom „eschatologische(n) ,Einheitsmensch‘, …, der aus der Taufe hervorgeht“. Aber auch das verstehe ich nicht recht. James D. G.  Dunn, The Epistle to the Galatians, BNTC 9, Peabody 1993, 207 denkt an den Leib Christi. Aber warum sagt Paulus nicht ἓν σῶμα ἐστέ? M. E. ist εἷς eine aus dem Kontext zu verstehende konzentrierte Formulierung, die einerseits Opposition zur Dualität Jude – Grieche etc., andererseits Opposition zu πάντες … ὑμεῖς ist. Die erste Opposition erinnert an den Gedanken der Neuschöpfung, die zweite an den Gedanken des einen Leibes Christi. 43 Vgl. Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart, GThA 24, 1983, 108 f.

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4.3. Die paulinische Mystik ist Christusmystik, nicht Gottesmystik.44 Der in den Himmel erhöhte Christus wurde schon sehr früh als himmlische Weisheit, und d. h. zugleich als Heilsgestalt und als Heilsgut interpretiert. Von solchem Hintergrund her wird verständlich, dass Christus, die göttliche Weisheit, und der göttliche Geist, d. h. Gottes die Welt durchwaltende und in den geretteten Menschen wohnende Kraft, sich ganz nahe kommen, ja, miteinander identifiziert werden können (2 Kor 3,17; 1 Kor 15,45, vgl. 1 Kor 6,17). Diese Identifikation von Christus und dem Geist steht nicht nur implizit hinter Gal 2,19 f, sondern auch explizit hinter Röm 8,9–11. Dort sagt Paulus zunächst, dass „der Geist Gottes in euch wohnt“, um dann weiter zu fahren: „wenn aber Christus in euch ist“. Der Sinn beider Aussagen ist derselbe: Christus, der Herr, der Geist ist, wohnt real in den Gläubigen. Neben die einmalige Erfahrung der Taufe tritt also bei Paulus die ständige Erfahrung des Geistempfangs und des Geistbesitzes, die, wie 1 Kor 12 deutlich zeigt, wiederum eine Erfahrung ist, die alle Christen machen. 4.4 Alle genannten Stellen zeigen noch etwas Weiteres: Die Erfahrung des Geistempfangs ist bei Paulus untrennbar mit der Erfahrung einer neuen Lebenspraxis, also der Ethik verbunden. Gal 2,20 spricht, unmittelbar nach der Feststellung, dass „Christus in mir“ lebt, vom Leben „im Fleisch“, das nun vom Glauben an Christus bestimmt ist. Nach Röm 8 kann der Mensch, in dem Christus bzw. der Geist wohnt, nicht mehr als Schuldner des Fleisches nach dem Fleisch leben (Röm 8,12 f). Deutlich wird die ethische Dimension der Gemeinschaft mit dem κύριος in der Auseinandersetzung über den Geschlechtsverkehr mit Prostituierten in 1 Kor 6,12 ff. Der Leib gehört dem Herrn und der Herr dem Leib (V 13). Das bedeutet eine eheähnliche Bindung, sodass Paulus analog zum Ein-Fleisch-werden in der Ehe formulieren kann: „Wer am Herrn hängt, ist mit ihm ein Geist“ (V 17). Die praktischen Konsequenzen dieses mystisch klingenden Satzes sind evident: Geschlechtsverkehr mit Dirnen ist ausgeschlossen. Der Leib des Menschen ist der Ort der Einwohnung des Christus; in der leiblichen Existenz nimmt Christus Gestalt an. In ähnlicher Weise ist in 1 Kor 12 und 13 die Erfahrung, die dem Eingegliedert-werden des Menschen in den Leib Christi und seinem Getränkt-werden mit Geist entspricht, eine ganz irdische: die des guten Zusammenlebens, der Liebe in der Gemeinde. Gerade an ihr wird die Realität Christi erfahrbar. Die Verbindung mit Christus, das Eingetauchtwerden in seine Wirklichkeit, findet also bei Paulus nicht irgendwo statt, sondern im Leib; sie bedeutet keine Entrückung aus der Welt, sondern eine neue Praxis in der Gemeinde. 4.5. Ich komme zu einem fünften Grundzug paulinischer Christusmystik, nämlich der Gemeinschaft mit Christus im Leiden. Hier liegt eine urpaulinische 44 Nur bei der Gotteserkenntnis der „Vollkommenen“ in 1 Kor 2,6–16 könnte man sich fragen, ob Paulus eine (über die Christusmystik hinausführende?) Gottesmystik kennt. Vgl. dazu Marguerat, Mystique (o. Anm. 8), 327–329.

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Vertiefung der in der Tauferfahrung grundgelegten Christus“mystik“ vor. Wenn überhaupt irgendwo bei Paulus jene allgemeine Bestimmung der Mystik als einer Vertiefung und Verinnerlichung einer bestehenden Religion45 ein Wahrheitsmoment enthält, dann ist es hier, bei der paulinischen Leidensmystik. Hier wird deutlich, dass das Kreuz Christi der Christusgemeinschaft des Paulus seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Texte sind bekannt: Phil 3,10 f spricht Paulus davon, dass er Christus erkennen möchte, „und die Macht seiner Auferstehung und die Anteilhabe an seinen Leiden, gleichgestaltet mit seinem Tode, ob ich irgendwie die Auferstehung von den Toten erlange“. In 2 Kor 4,10, im Abschnitt vom Schatz in den irdenen Gefässen, sagt Paulus: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu am Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an eurem Leibe offenbar werde“. 2 Kor 13,4 spricht er vom Schwachsein mit Christus, 2 Kor 1,5 vom Übermass der Christusleiden an ihm, Gal 6,17 von den στίγματα Jesu an seinem Leibe. Kurz, das Leiden der Christinnen und Christen wird zur Epiphanie des Kreuzes Christi in der Gegenwart. Nicht nur einmal in der Taufe vollziehen die Christen das Sterben Christi nach, sondern gleichsam täglich: „deinetwegen sterben wir den ganzen Tag“ (Röm 8,36).46 Hier begegnen wir einer ganz grossartigen Vertiefung der Christusmystik der Tauffrömmigkeit vom Kreuz her. Hier erleben wir Paulus, dessen „fremdes“ Subjekt Christus ist, zugleich ganz persönlich. Hier erkennen wir eine Mystik, die nicht am Ende eines langen Weges der Frömmigkeit zu einer Erfahrung der Vereinigung mit Christus führt, sondern eine, die das ganze mühsame und schwierige Leben des Paulus christusgestaltig werden lässt. Dass in seinem Leben der leidende Christus sein eigenes Sein überlagert und gestaltet, löscht seine persönliche Existenz gerade nicht aus, sondern formt und fordert sie aufs höchste. Es ist sicher nicht zufällig, dass es in der Frühzeit des Christentums, ja, ich denke, fast in der ganzen Religionsgeschichte der Spätantike kaum einen Menschen gibt, der uns so sehr als unverwechselbares Individuum erfahrbar wird, wie dieser Paulus, der nicht mehr selbst lebt, sondern der leidende Christus in ihm. 4.6 Schliesslich ist noch ein letzter Aspekt paulinischer Christusmystik zu erwähnen, in dem im Unterschied zur Leidensmystik die individuellen Aussagen des Paulus über sich selbst gegenüber denjenigen über alle Christinnen und Christen wiederum zurücktreten. Es gibt bei Paulus auch Aussagen über eine schon in der Gegenwart stattfindende Transformation des christlichen Lebens von der Wirklichkeit der Taufe, der Geisterfahrung und der Auferstehung Jesu her.47 2 Kor 3,18 spricht von der gegenwärtigen Verwandlung „von Herrlichkeit 45 Vgl.

Ernst Troeltsch und Gerschom Scholem o. Anm. 19.25. das Perfekt συνεσταύρωμαι in Gal 2,19. 47 Von einer kreuzestheologischen und antienthusiastischen Paulusinterpretation werden solche Aussagen leicht verdrängt. 46 Vgl.

30. Paulus als Charismatiker und Mystiker

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zu Herrlichkeit“; die Christen widerspiegeln gleichsam die Herrlichkeit des Herrn, der Geist ist. 2 Kor 4,11 f spricht vom Wirksamwerden des Lebens Christi in den Gläubigen, Gal 4,19 vom „Gestaltwerden“ Christi und Röm 8,30 in einer traditionellen Aussage von der bereits geschehenen Verherrlichung. Phil 3,10 f und 2 Kor 4,6 formulieren Erkenntnisaussagen: In Phil 3,10 geht es um das „Erkennen … der Kraft seiner Auferstehung und der Anteilhabe an seinen Leiden“; in 2 Kor 4,6 geht es um die gottgewirkte Erleuchtung der Gläubigen48 zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi. Um welche Erfahrungen der göttlichen Herrlichkeit und der Auferstehung Christi geht es hier? Die Texte geben keine direkte Auskunft. Es fällt aber auf, dass in mehreren dieser Aussagen die Herrlichkeitserfahrungen der Gläubigen an Leidenserfahrungen des Paulus gebunden sind (Phil 3,10; 2 Kor 4,11 f; Gal 4,19). Das Leiden des Paulus geschieht zugunsten der Gläubigen, in denen Christus Gestalt gewinnt. Das weist wiederum auf die Liebe. Zu einem Ausstieg aus der Wirklichkeit des Körpers und des Leidens führen diese enthusiastisch klingenden mystischen Aussagen des Paulus gerade nicht. Paulinische Christusmystik bedeutet also, dass Christus nicht nur in den Spitzen der geistlichen Erkenntnis, sondern noch viel mehr in den Tiefen der körperlichen Existenz epiphan und erfahrbar wird. Diese vom Kreuz her geformte paulinische Christusmystik wird in der Liebe wirksam, nicht in dem Sinn, dass eine Praxis der Liebe eine der religiösen Erfahrung erst nachfolgende Praxis wäre, sondern in dem Sinn, dass die Liebe die Praxis der Christuserfahrung selbst ist. In diesem Sinn ist die paulinische Christusmystik die Innenseite des „weit besseren“ Weges von 1 Kor 13, der Liebe.

V. Schluss Wir blicken zurück. Es ging uns darum, am Leitfaden der Frage nach paulinischer Mystik die Frage nach der religiösen Erfahrung zu stellen. Paulus begegnete uns als ein charismatisch begabter Mensch, der eine Menge von ausserordentlichen religiösen Erfahrungen machte und sie auch hoch schätzte. Aber gerade nicht sie hat er als Zentrum seiner Christusfahrung angesehen und gerade nicht sie hat er im Sinne dessen, was man „Christusmystik“ nennen könnte, interpretiert. 48 So die meisten Kommentatoren, z. B. Christian Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 87 f. Margaret Thrall, II Corinthians I [I–VII], ICC, Edinburgh 1994, 316–318) deutet 4,6 auf die Bekehrung des Paulus (vgl. Apg 9,3). Mir scheint diese Deutung wegen des Parallelismus zwischen V 4 und 5 und wegen der Pluralformulierung ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν fast ausgeschlossen. Der Gedanke der Erleuchtung in Verbindung mit dem Aorist ἔλαμψεν lässt eher an die Taufe denken; vgl. 1 Thess 5,5; Eph 5,8. Dazu passt auch die Remiszenz an den ersten Schöpfungstag Gen 1,3; vgl. 2 Kor 5,17.

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Seine Texte zeigen denen, die auf der Suche nach solchen Erfahrungen sind, „noch einen weit besseren Weg“ (1 Kor 12,31). Es ist nicht der Weg der Erfahrung des Göttlichen in Ekstase und im dritten Himmel, sondern der Weg der Erfahrung Christi im Leib, auf der Erde. Es ist nicht der mystische Weg weniger religiöser Virtuosen, die sich in den Himmel entrücken lassen können, sondern der mystische Weg der vielen in der Gemeinde, die getauft werden und in der Taufe den Geist und damit Christus als ihre neue Person empfangen. Es ist nicht die Erfahrung des religiösen Aufschwungs, der sich über die Niederungen der leiblichen Welt in jenseitige Gefilde der „unaussprechlichen Himmelsworte“ erhebt, sondern es ist die Erfahrung der Gnade des göttlichen Geistes, der sich soweit herablässt, dass er sogar menschliche sprachunfähige Seufzer für Gott verstehbar machen kann. Es ist nicht die Erfahrung der himmlischen Höhen, sondern die Erfahrung der „Gemeinschaft mit seinen Leiden“ und des Hoffens auf die Auferstehung (Phil 3,10). Eben diese Gemeinschaft mit den Leiden Christi ist für Paulus „cognitio Divinae bonitatis … affectiva seu experimentalis“.49 Es ist der Weg der Liebe. Diese ist nicht einfach aus dem banalen Grunde die höchste Gnadengabe, weil die nützlichsten Gnadengaben immer die wertvollsten sind, sondern aus dem tief religiösen Grunde, weil sie die Wirklichkeit Christi, und das bedeutet: die Wirklichkeit der Liebe Gottes, erfahrbar werden lässt. Wenn ich also meinen Vortrag gut paulinisch mit der Feststellung schliesse, dass die Liebe der beste Weg sei, dann meine ich dies nicht in dem banalen Sinn, dass in einer säkular gewordenen Welt, in der Erfahrungen Gottes mehr und mehr ausbleiben, die Praxis der Liebe das einzige sei, was vielen neuzeitlichen Menschen und Kirchen noch übrig bleibt. Sondern ich meine, dass in ihr Christus Gestalt gewinnt und Gott erfahrbar wird.

49 Thomas

von Aquino STh 2/II qu. 97, art. 2.

31. Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development* A Sketch I. Introduction I did chose “justification” as my theme because I am speaking as a Protestant in the Roman Catholic City of Tarragona. “Justification” was the fundamental issue that led to the schisma between Protestants and the Catholic Church in the sixteenth century. In 1999 the “Joint declaration on the doctrine of Justification by the Lutheran World Federation and the Catholic Church” was promoted and accepted by both Churches.1 This has led me to reexamine the Pauline doctrine of justification for the opening session of our congress. It is natural that with this a dialogue with the “New Perspective” was on my agenda, a perspective, whose representatives, while going on different paths in many questions, all agree upon this that the Pauline theology of justification was not an answer to the question posed in the time of the Reformation. They all would say that both the Lutheran and the Catholic interpretation of justification in the sixteenth century with their different accents have in common that they cannot draw directly on Paul. They even might say that in their view the differences between the Catholic and the Protestant confessional perspectives are smaller than the differences between them and Paul. In my dialogue with the representatives of the New Perspective, mainly with James D. G. Dunn, the assumption of a development of Pauline theological thinking is important for me. It is popular now in Germany, through Hans Hübners subtle books and through the books of Udo Schnelle, student of Georg Strecker.2 My main hypothesis will be that the roots of Pauline justification* Opening lecture of the first Tarragona-Conference “Paul and the history of early Christianity in Tarragona and Spain” (19.–21. June 2008). The style of an oral lecture with direct adresses to the audience is maintained. 1 http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_c​h​r​s​t​u​ n​i​_​d​o​c​_​3​1​1​0​1​9​9​9​_​c​a​t​h-luth-joint-declaration_en.html. 2 Hans Hübner, Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie, FRLANT 119, Göttingen 1978; Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, esp. 326 ff. For justification and doctrine of the law cf. also Georg Strecker, Befreiung und

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theology were in Prepauline baptismal theology of the church: Baptism was interpreted in the Church as justification, as acquittal through Christ already now, as seal for the believer in the last judgment. In Galatians Paul has accentuated his own soteriological categories of justification as a “Kampfeslehre” (polemical doctrine). Here he has moved far away from what are the stable foundations of Jewish theological thinking. I think that Ed P. Sander’s view of Palestinian Judaism and Paulinism as two different types of religions3 has much to commend itself when we look at Galatians. However in Romans Paul comes much closer to what James D. G. Dunn calls the “stable foundations” of Paul’s theology in Jewish covenantal nomism.4 I interpret Romans as a partial return of the Jew Paul to these stable foundations of Jewish life and religion, in a dialogue with his Jewish Christian dialogue partners and adversaries and with the Bible. The way of the theologian Paul is thus for me not a way on these stable foundations just with a new fulcrum point, Christ, but rather a partial return to them. The epistle to the Philippians finally demonstrates that not only a salvation-historical, but also an individual application of this theology has Pauline roots. Philippians forms one of the bridges between Paul and the Reformation. In the following brief sketch of the Pauline theological deployments of justification-theology I will proceed chronologically.

II. The Pre-Christian Paul The pre-Christian Paul, was, I think, not a very “common” Jew. He says proudly in Gal 1:13 f that he “progressed in Jewish life-style more than many of my fellow-contemporaries in my people” and that he was “exceedingly zealous for my ancestral traditions”. This exceeding zeal is not only confirmed by the fact that he persecuted the communities of Jewish believers in Jesus,5 but also by the fact that he, a Jew from the Diaspora, had come to Jerusalem and became a Pharisee. Since we know almost nothing about the existence of a Pharisaic movement in the diaspora, this might have happened in Jerusalem.6 It seems to Rechtfertigung. Zur Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, in: idem, Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 229–259; Ulrich Wilckens, Zur Entwicklung des Paulinischen Gesetzesverstädnisses, NTS 28 (1982), 154–190; Heikki Räisänen, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987, XVI–XIX; Mark A. Seifrid, Justification by Faith. The Origin and Development of a Central Pauline Theme, NT.S 68, Leiden 1992, esp. 255 f. 3 Ed P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977, 548 f. 4 James D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 716–722. 5 We do not know exactly for what reasons. Because they venerated a crucified Messiah? On account of their interpretation or partial abrogation of the Torah? Or on account of their liberal attitude towards the Gentiles? 6 However according to Acts 23:6 Paul is υἱὸς Φαρισαίων. According to Charles Kingsley Barrett, The Acts of the Apostles II, ICC, London 1998, 1063 this does not necessarily refer

31. Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development

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me appropriate to postulate a “first conversion” of Paul to a very rigorous form of Pharisaism,7 and to call him “an extreme case”, as Bruce Chilton does in his novel-like biography of Paul.8 Ἰουδαϊσμός (Gal 1:13) suggests as oppositional term ἑλληνισμός; and the πατρικαὶ παραδόσεις recall not so much the Torah itself but the special halakhot of the Pharisees (cf. Mark 7:5; Jos ant 13:297).9 The self-characterisations of the Lukan Paul in Acts 22:3 and Gal 1:14 are quite on the same line in this respect. The Pauline self-characterisation of his past is, as I think, quite favorable for the hypothesis proposed by James Dunn and others, that the Jewish identity-markers could have been a key in Paul’s convictions that were turned upside down through his vision of Christ. However it presents some difficulties for Dunn’s attempt to base Pauls theology upon the basic convictions of common Judaism as it was constructed by E. P. Sanders. Whatever “common Judaism” might be exactly, Paul’s Judaism was not very common in some respects. Naturally we are in the danger to speculate when we ask in what other respects Paul’s Judaism might have been uncommon. It is tempting to think of Paul’s extreme apocalyptic anthropological pessismism that leads him into close vicinity of 4th Esra, another example of a very uncommon type of Judaism. Paul expresses this pessimism in different ways particularily in Galatians10 and Romans11, the most “Jewish” of his letters. In general it seems likely to me that Paul had a leaning towards apocalyptic convictions, a tendency that is not surprising among Pharisees who believed in the resurrection of the dead and for whom not only the Pentateuch, but also the Prophets and the ketubim were part of the normative tradition. If the Jew Paul had apocalyptical leanings not only the future resurrection but also the ultimate judgment must have been an important part of his pre-Christian fundamental convictions. “to a line of ancestors all belonging to the Pharisaic party”, but could also mean “the quintessential Pharisee”.  7  If Roland Deines characterisation of the Pharisees as “not … the holy, but … the sanctifying remnant” and, as a “movement within the nation for the nation” (Roland Deines, The Pharisees between ‘Judaisms’ and ‘Common Judaism’, in: Donald A. Carson / ​Peter T. O’Brien / ​ Mark A. Seifrid (eds.), Justification and Variegated Nomism I: The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II 140, Tübingen 2001, 502.501) is correct, then Paul was not a typical Pharisee, because he did not adopt the basic Pharisaic principle to educate those not living up to their standards, but he excluded and persecuted such people.  8 Bruce Chilton, Rabbi Paul. An intellectual biography, New York etc., 2004, 39. 65. Different from him Karl Wilhelm Niebuhr, Heidenapostel aus Israel, WUNT 62, Tübingen 1992, 66 emphasizes: “Paulus gehört nicht an den Rand des Judentums seiner Zeit, sondern in dessen Zentrum”. Indeed: to be ζηλωτής for the ancestral traditions is characteristic for all Pharisees and with them probably for the mainstream of Judaism. But to be “exceedingly” zealous up to the point to persecute actively dissenting Jewish groups is not.  9 For ἰουδαϊσμός cf. Niebuhr, op. cit. 21–24. 10 Cf. Gal 3:22; 5:16 f. 11 Cf. below p. 522 f.

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Paul’s vision of the exalted Christ and his call to become Christ’s apostle to the nations implied for him a complete turn-around of all the convictions that were connected with his zeal for his ἰουδαϊσμός and the ancestral traditions. His convictions about the exclusive relation of God to the elected people Israel were totally changed. He took over the liberal position towards the Gentiles from the “Hellenists” he had persecuted.12 His interpretation of the Torah was certainly affected, insofar now the boundary marking commandments of the Torah were no more the focus of the whole Torah. Concerning his earlier life in Judaism Paul uses the negative term ἔκτρωμα in 1 Cor 15:8. The “abortive fetus” became Christ’s apostle. This was certainly an experience of overwhelming grace through Christ. But it might be significant that Paul does not use the term ἁμαρτωλός when he speaks about his call in his authentic letters.13 The late text Phil 3:8–10 is the only text where Paul uses categories of justification (among others) in order to interpret his Damascus-experience in his retroperspective.14 Only Philippians 3 contains an individual application of Paul’s doctrine of justification. It seems to me also important that in Galatians Paul introduces categories of justification only in his polemical afterthoughts about the conflict in Antioch in Gal 2,15 ff. Conclusion: It seems to me rather unlikely that “justification” was a category which Paul used in his earliest period in order to interpret his own biographical experiences.15 On the whole I would like join Udo Schnelle’s two-sided statement: “The content of what happened in Damascus … cannot simply be equalized with his doctrine of justification written down decades later in the letters to the Galatians and Romans”. And: “It is clear that ‘Damascus’ necessarily had consequences for the Pauline understanding of Torah and justice”.16 12 Certainly Paul’s call to be apostle of the Gentiles near Damascus was the starting point of a new evaluation of the Torah by the former Pharisee. It is likely that Paul took over convictions of the Hellenists persecuted by him. Therefore the question of Paul’s new view of the Torah after Damascus is closely connected with the question what was the position of the Hellenists in this respect. This we do not know. The question if Paul’s “conversion” and call to be apostle of the Gentiles included already a (partial?) abrogation of the Torah (for the Gentiles only?) is difficult. 13  This is different in 1 Tim 1:12–15. 14 Paul’s earlier selfcharacterisation of his pre-Christian life in Gal 1:13 f differs from the later in Phil 3:6: In Phil 3:6 Paul generalizes his zeal in categories of his justification-theology: κατὰ τὴν ἐν νόμῳ δικαιοσύνην γενόμενος ἄμεμπτος. The special boundary-marking prescriptions and Pharisaic halakot stand here for justice through works of the law generally. The line of thought from the concrete descriptions in Gal 1:13 f and the concrete case of the conflict in Antiochia in Gal 2:11ff to the general principle of Gal 2:16 is the same. – Cf. also Heikki Räisänen, Paul’s Call Experience and his later view of the Law, in: idem, The Torah and Christ, SESJ 45, Helsinki 1986, 67. 15 For a different view cf. Christian Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie, WMANT 58, Neukirchen 1985, 114–116; Seyoon Kim, The Origin of Paul’s Gospel, WUNT II 4, Tübingen 21984, 269–311; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1992, 245–250. 16 Schnelle, Paulus (note 2), 90. Cf. also Seifrid, Justification (note 2), 179 f.

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III. The Earliest Texts In Paul’s earlier letters17 only few traces of a doctrine of justification are recognizeable. In the short first letter to the Thessalonians we find none.18 In 1 Corinthians there are three texts to be considered. In 6:11 Paul reminds the Corinthians of their baptism using baptismal traditions.19 The three parallel aorists ἀπελούσασθε, ἡγιάσθητε and ἐδικαιώθητε are traditional interpretations of what happend with the Corinthians through their baptism “in the name of the Lord Jesus Christ” and “through the spirit of our God”. Because the formulations are traditional, ἐδικαιώθητε should not be interpreted in the horizon of the Pauline doctrine of justification.20 Interpreted in its own context we learn that the early Christians interpreted the act of baptism both as sanctification, which refers primarily to their present life, and as justification, which refers to the significance of baptism for the last judgment.21 A similar concept of baptism stays behind the sealing (σφραγισάμενος) in 2 Cor 1:21: Baptism functions as a “seal” in the last judgment. In connection with baptism and the gift of the spirit “justification” rather connotes a real justification and not a mere forensic declaration – if this anachronistic alternative is valid at all.22 In any case 1 Cor 6:11 and 2 Cor 1:21 give us important insights into the Prepauline background of his theology of justification in early Christian baptismal theology. It is a soteriological category, an interpretation of God’s saving grace. It is one interpretative category of baptismal grace besides others, accentuating particularily the eschatological relevance of baptism..23 1 Cor 1:30 is closely related with 6:11 because two of its four predicatives of Christ recall this baptismal tradition. “Christ became for us wisdom from God, justice, sanctification and redemption”. Σοφία is an abstract formulation instead of a concrete one and takes up the immediate context: For those being in Christ it is Christ who is wisdom, given by God. The next three words amplify this,  1 Thess; 1 Cor; 2 Cor I think that the letter to the Galatians was written after the Corinthian correspondence is the most likely hypothesis. 18  Since the letter is comparatively short this is no proof that “justification” as a soteriological interpretation of baptism was unknown to Paul at the time when he wrote the letter. 19 Rom 3:24 might be another possible example of the use of justification-terminology in a Prepauline interpretation of baptism – but the connection of this tradition with baptism is less evident. 20 Against Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 1,1–6,11), EKK VII 1, Neukirchen / ​Zürich 1991, 433. 21 Cf. Karl Kertelge, ‘Rechtfertigung’ bei Paulus, NTA NF 3, Münster 21966, 112–160. 22 Cf. Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart, GThA 24, Göttingen 1983, 40.52 f. 23 In view of the traditional root of δικαιοῦσθαι in traditional Christian baptismal terminology Ed P. Sanders is (partly) right when he interprets the Pauline use of δικαιοῦσθαι / ​ δικαιοσύνη as transfer-terminology (Paul and Palestinian Judaism (note 3), 544). In the majority of Jewish texts the stem ‫ צדק‬is used differently. 17

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probably in the light of the traditional interpretation of baptism: Christ is also justice, sanctification and redemption for those in Christ, from God. “Justice” combined with “from God” is understood as a gift of God, and this gift is Christ. Compared with 6:11 our text is a generalisation of the baptismal tradition: What happened once in baptism is true for the whole life of Christians. This is not too different in 2 Cor 5:21: God “made him to be sin who knew no sin so that in / ​through him we might become justice of God in / ​through him”. I take “justice of God” here in the same sense as “justice … from God” in 1 Cor 1:30: the “justice” that God has given to men by making Christ to be sin. Like in 1 Cor 1:30 Paul formulates in abstract nouns: “Justice of God” corresponds to “sin”. 2 Cor 5:21 comes very close to 1 Cor 1:30, but there is no allusion to baptism here. Conclusion: The Corinthian correspondence shows how the Christian interpretation of baptism became the point of departure for a soteriological use of δικαιοῦσθαι / ​δικαιοσύνη. These terms emphasize the eschatological dimension of God’s effectful and graceful saving activity through Christ. This terminology is not dominant in the Corinthian correspondance, but used rather bypassingly. It shows that the doctrine of justification in the letters to the Galatians and to the Romans is by no means a newly and ad hoc created “antijüdische Kampfeslehre”,24 but has its roots in soteriological terminology used by the churches and by Paul already earlier. Its polemical expansion and application to the salvation-historical question of the salvation of Jews and Gentiles in Galatians is a contextual application. Let me add some remarks about Paul’s understanding of the Torah in the Corinthian correspondence before turning to Galatians: According to 1 Cor 9:19–23 the Torah is ultimately an adiaphoron. Paul, the missionary of Gentiles and Jews, is free; his obedience to the Torah depends on his missionary strategies. In a similar way in 1 Cor 7:19–20 circumcision or non-circumcision are different forms of κλήσεις, elements of the different religio-cultural situation of Jews and non-Jews. Through baptism, the spirit and the integration into the body of Christ Jews and non-Jews are on the same level (1 Cor 12:13). This attitude naturally implies a devaluation of the Torah and of the election of Israel. It presupposes the equality of Jews and Gentiles in front of God that is so important in Galatians and in Romans. It makes it also understandable why Paul in the conflict in Antioch did not ask for eating kosher food in table-fellowships of mixed communities. For him – unlike for other Jews – remaining in the κλῆσις of the Torah is an adiaphoron.25 24 William

Wrede, Paulus, RV I 5–6, Tübingen 21907, 72 f. do not think that the “Fundamentalkritik der Bedeutung der Tora für die Judenchristen” is the result of an “Erkenntniszuwachs” of Paul in the Galatian crisis (against Schnelle, Paulus (note 2), 327). Even Räisänen for whom the the polemical situation in Antioch and in Galatia is very important for the origins of Paul’s concept of the law (cf. Räisänen, Paul [note 2], 25 I

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1 Cor 15:56 is an aphoristic and therefore enigmatic remark. Regardless whether we take Rom 7:7ff or Rom 5:20 f as key for its interpretation: it is clear that an apocalyptic view of the old age dominated by sin and death is presupposed here. The Torah plays no positive role in this text. The same is true for 2 Cor 3:4–18 with its opposition of the old and the new covenant. The old covenant is on the negative side here and loses its δόξα when it comes into the light of the new covenant (2 Cor 3:10). It is a διακονία τῆς κατακρίσεως – this could refer to the Torah and presuppose convictions like those expressed later in Gal 3:10. Looking at these texts it is difficult to say that Israel and the Torah belong to “the stable foundations of Paul’s theology”.26 In all these texts Paul rarily differentiates between different functions or parts of the Torah. Even in 2 Cor 3 the Torah is seen almost entirely in its function as γράμμα; there is no neutral γραφή mentioned besides γράμμα, not to speak about ἐπαγγελία.27 The only exception is 1 Cor 7:17, where Paul distinguishes between περιτομή and τήρησις ἐντολῶν. Conclusion: The Corinthian correspondence contains several traces of fundamental reflections about the Torah, its function and its significance. Naturally theses traces do not allow us to outline a complete doctrine about the Torah that Paul might have had at that time. However it is irritating that almost all these traces point to the negative side.

IV. Galatians In the crisis in Galatia Paul has chosen the traditional soteriological concept of justification as his main line of argument. He accentuates it polemically against his Jewish Christian adversaries in order to show that justification does not depend on “works of the law”.28 This basic thesis is formulated twice in 2:16 as 256–263) says: “Paul thus assumes a priori that faith and law exclude each other” (163). The fundamental devaluation of the significance of the Torah and of Israel must have very early roots in Pauline thinking (in “Damascus”?) – only the arguments for it are developed later (in the Galatian conflict?). 26 Cf. Dunn, Theology (note 4), 716. 27 Contra James D. G.  Dunn, Paul and the Torah, in: idem, The New Perspective on Paul, WUNT 185, 2005, 450: “The contrast between Spirit and letter is very close to that between promise and law”. No! The Spirit is not a part of the Old Covenant, but a new principle. Ἐπαγγελία is a category of salvation history, namely the gospel as it pre-existed in Israels history. The concepts of 2 Cor 3 and Gal 3 are very different. Is Paul’s concept about the specific ἐπαγγελία of God given to Abraham (Gal 3:6–9) a new theological idea of Paul in his letter to the Galatians? If yes, Paul’s “Erkenntniszuwachs” (cf. note 25) concerning Torah and Bible in Galatians would also be positive. 28 Paul’s “doctrine” of justification as it is formulated in Gal or Rom is thus neither simply the center of Pauline theology or the “first and chief article” theology at all (Joint Declaration 1) nor a mere “Fragment” or “Nebenkrater” of the Pauline doctrine of salvation (Albert

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a fundamental principle:29 “No human being is justified by works of the law”, only through faith in Jesus Christ. James D. G. Dunn has interpreted the general expression “works of the law” in Gal 2:16 as denoting those “boundary marking” laws that separated Jews from Gentiles and were the key-issues in the controversy in Antioch and later in Galatia: dietary laws and circumcision.30 Regarding the co-text of 2:11–15 this is certainly correct.31 However the significance of the fundamental principle of 2:16 goes beyond the special case of the boundarymarking ritual laws: Paul speaks generally about ὁ νόμος in the following text 2:19–5:18. He never makes clear that he means only specific boundary-marking laws. This indicates that what he says in the general principle v 16 has a surplus of meaning beyond its immediate co-text. At first glance Gal 2:16 fits well into the pattern of Jewish covenantal nomism as it has been constructed by Sanders and adopted by Dunn: God’s grace and election – the basis of the covenant – is preceeding human activities. Therefore the Torah cannot “justify”, because it is given as help for the people to “stay in” in the covenant. However the subsequent discussion of Sanders masterful construction of Judaism has shown that it is not so easy: Judaism is more variegated than Sanders suggests.32 My own main problems with Sanders are twofold: 1. Sander’s distinction between “getting in” and “staying in” as basic moments of the structure of a religion33 is not neutral. Rather it presupposes the (Christian!) distinction between God’s grace and human activities. In many Jewish texts it is not appropriate to say that the Torah “follows upon the prior act of divine initiative”34, but rather that the Torah is God’s grace given to Israel. What is new in Gal 2:16 is exactly the clear separation between God’s graceful activity through Christ which precedes human deeds and is the basis of justification through faith, and “works of the law” which are no basis for justification. In many Jewish texts the gift of the Torah is both the basis for “getting in” and for “staying in”. For many people the gift of the Torah is even the basis for “getting in”, e. g. for Jews joining the jachad of Qumran or for pagans becoming proselytes. 2. The Pauline use of the verb δικαιόω associates a forensic and eschatological context, primarily the last judgment. The chance to “get in” offered by Paul through Christ is interpreted as antecipation of the acquittal in the last judgment. There are Jewish texts Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 216.220), but a specific contextualisation of Paul’s basic belief into the empowering grace of God, that was interpreted as “justification” already in the Church before him. 29 Cf. the fixed and general formulations: οὐ δικαιωθήσεται … ἐὰν μή, ἄνθρωπος, πᾶσα σάρξ. 30 James D. G.  Dunn, The Epistle to the Galatians (BNTC), Peabody 1993, 136 f; idem, Theology (note 4), 359 f. 31 Cf. 4QMMT, where ‫ =( םעשי התורה‬deeds of the Torah = halakot that have to be practised) is a general expression, but the author of the letter speaks only about some of them, namely those special halakot that separate the group of the teacher from main-stream temple Judaism. 32 Cf. esp. Carson / ​O’Brien / ​ Seifrid (eds.), Justification and Variegated Nomism I (note 7). 33 Sanders, Paul and Palestinian (note 3), 17. 34 James D. G.  Dunn, The New Perspective on Paul: Paul and the Law, in: idem, The New Perspective (note 27), 135 (with reference to Ex 20:2 [“I am the Lord, your God …”] which preceeds the Dcalogue Ex 20:3–17).

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where the last judgment is the place where the gift of life is not simply confirmed but rather decided upon. This is particularily the case in apocalyptical texts where the ultimate judgment becomes decisive for eternal life and death and in texts where the judgment is thought of primarily in individual categories.35 Jewish texts where the last judgment plays a a decisive role are most important for the comparison with Paul.36

In Gal 2:19 f Paul formulates his own experience how he “got in”. It was an experience of dying and getting a new person-center through Christ: “Through the law I died to the law; it is now longer I that lives but Christ lives in me”. This would be “of course exaggerated”,37 if Paul wanted to say only that through his encounter with Christ he was taught a new, namely universalistic interpretation of Gods covenant with Israel and the Torah. To become Christian means for Paul much more: a rebirth, to become a new creation. This is a category surpassing the frame of covenantal nomism. For Dunn the basic issue in the Pauline understanding of the covenant-faith in Galatians is the universal dimension of the “covenant” that included the Gentiles from Abraham on (Gal 3:6ff).38 However Paul does not normally interpret the promise to Abraham in covenant-categories.39 Gal 3:17 might be the only exception.40 Elsewhere in Galatians he speaks about two different, oppositonal covenants, that have little in common (4:24; cf. also 2 Cor 3). To extend the term “covenantal nomism” to the model of theology as Paul presents in Galatians seems to me very difficult.41 Rather one could say: If anybody, then Paul’s opponents in Galatia propagate something like a covenantal nomism.42 35 The last judgment is underemphasized by Sanders. This has been noted several times, e. g. by Simon J. Gathercole, Where is boasting?, Grand Rapids 2002, 264; Richard Bauckham, Apocalypses, in: Carson et. al. (eds.), Justification and Variegated Nomism I (note 7), 135–187; Donald A. Carson, Summaries and Conclusions, ibid. 545 f; Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, in: Oda Wischmeyer (ed.), Paulus: Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen 2006, 39 f: “Dass es dabei (sc. bei den “Werken des Gesetzes”) nicht um das ‘getting in’, sondern um das ‘staying in’ geht, ist zweitrangig, wenn es um die endgerichtliche Entscheidung geht” (39). 36 This is valid also for 4QMMT: The “reckon(ing) … as justice” happens “at the end of time” (4Q MMT 28–32 = Martinez / ​Tigchelaar II 804 f). Through his selection of “some works of the Torah” the author of the letter offers to the highpriest and his people a chance to repent and to be justified in the last judgment. 37 Dunn, Galatians (note 30), 145. 38 Dunn, Galatians (note 30), 163: “Paul seeks to shift the focus of Jewish covenant identity away from its preoccupation with the law and back to its original focus in the grace of God”. 39 Only possibly in 3:17 – after the comparison of God’s promise to Abraham with a human “will”. 40 But in Gal 3:15–17 Paul compares the διαθήκη προκεκυρωμένη ὑπὸ τοῦ θεοῦ with a human “will” (ἀνθρώπου κεκυρωμένη διαθήκη). 41 Even James D. G.  Dunn is rather hesitant to speak about “covenantal nomism” in Galatians. In his: The Theology of Galatians, in: idem, New Perspective (note 27), 186 he opposes the narrow covenantal nomism of his opponents to Paul’s own universalist concept. “It is this implication for covenantal nomism he works out, probably for the first time in such a detail, in his letter to his converts in Galatia”. 42 Charles Kingsley Barrett, Freedom and obligation, London 1985, 10.

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The role of the Torah in Galatians is, as I see it, entirely negative: It was the instrument leading Paul to death which has lost its power over Paul now (2:19). The Torah is not source of the spirit (3:2). The Torah puts people under a curse, because nobody can fulfill its requirements completely (3:10). In 3:10 Paul takes up the general principle of 2:16 (ἐξ ἔργων νόμου) and formulates once more a general principle (ὅσοι …): He seems to speak about the impossibility to do all what the Torah requires. Gal 3:10–12 is a difficult text for Dunn. According to him his opponents are under a curse: They have not done everything the Torah requires because they neglected its universal promise to the Gentiles.43 It is difficult for me to subsume this negligence under τοῦ ποιῆσαι αὐτά. I rather think Paul formulates here again a general principle on the basis of the premises of his Christian faith: It is evident (δῆλον) that the principle of justification through doing the works of the law is no more valid because (ὅτι) the just-on-the-basis-offaith will have life (3:11). Paul will expand this short remark later in Rom 1–3. Saying this he neglects completely that the Torah offers to Israel possibilities of expiation and atonement so that there is no need for Israel “to abide by all what has been written” in the Torah. But because there is salvation (only) through Christ, there cannot be salvation through the Law. The Law isn’t but an episode beginning 430 years after God’s promise to Abraham and has no possibility to make the promise to Abraham invalid (3:17 f). But what is the Law? 3:19 seems to suggest that Paul wants to give a positive answer. But does he really?44 The Law is inferior to the promise of God, because it is given by angels through the mediation of Moses.45 Paul says: It is not against the promises (3:21) – however it is not fully clear, why not. Its function is to keep Israel in custody till the coming of Christ. This custody is not primarily a protective custody and the function of this “pedagogue” is not seen by Paul in a positive light: This is evidenced by the parallel v. 22: συνέκλεισεν ἡ γραφὴ τὰ πάντα ὑπὸ ἁμαρτίαν.46 Paul takes this up in v. 23 by repeating the verb συνκλείω. It is also evidenced by the fact that through the coming of Christ the Jews were freed from the law. In 4:3 Paul parallels the Torah with the στοιχεῖα τοῦ κόσμου and evaluates the former existence of the Galatians in paganism under their 43 Dunn speaks abouts those who abuse the Torah “through putting too much weight … in the boundary markers” (Galatians [note 30], 172; cf. idem, Works of Law and the Curse of the Law, in: idem, New Perspective [note 27], 122–125). The key-word ποιεῖν (v. 10.12) points to another direction. The problem is not a narrow or exclusivist interpretation of law or covenant, but a lack of deeds. 44 To load the (very common!) preposition χάριν with a connotation of “grace” (James D. G.  Dunn, Was Paul against the Law, in: idem, New Perspective [note 27], 263 f) is a very bold hypothesis. The same is true for the connection of “the angels” (plural!) with the guardian angel of Israel, and even more for the attempt to call the law a “guardian angel” of Israel (Dunn, Galatians [note 30] 92; idem, Was Paul [op. cit.], 265) 45 The angels are not negative figures and by no means demonic powers. For Paul it is sufficient to emphasize their plurality and thus a difference from the one God. 46 Contra Dunn, Galatians (note 30), 196–200; idem, Theology (note 4), 140–142.

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rulership as “slavery”. In 4:8–10 he equals the impending adoption of the Torah by the Galatians with their former δουλεία to idols and elements of the world. Nothing of all the positive potentialities of the Torah in covenantal nomism is visible here. To this corresponds that ethically ἐλευθερία from any δουλεία of the law is the leading principle in Gal 5 (5:1.18) and that the complete law is fulfilled in one word, the commandment of love (5:14).47 Why is the role of the Torah so negative? For the moment I neglect a possible explanation by means of the the polemical situation that Paul had to face in the conflict in Antioch or later in Galatia48 and look for an explanation on a systematical level: The role of the Torah had to be so negative because the role of Christ was so positive. “That by the law nobody is justified is obvious because ‘the just by faith shall live’” (3:11). “For if the law had been given which could make alive, then justice certainly would be from the law” (3:21) – and this is impossible because justice and life is from Christ. The law puts men inevitably under a curse, but Christ, who has become a curse for our sake, delivers us from that curse (Gal 3:13 f). It seems to me that Christ and Torah are seen as two oppositional axiomatic principles of salvation, as two different centers of two different religions in the way Sanders has seen it, so that one could modify Sanders’ famous dictum and say: “This is what Paul finds wrong” in the Torah: “it is not” Christ.49 But if we look at what Dunn names as the “stable foundation(s) of Paul’s theology” in Jewish basic beliefs certainly neither the election of Israel50, nor the Torah, nor the temple belongs to them in Galatians – it is just God and Scripture what remains.

V. Romans The epistle to the Romans is a comprehensive presentation of the Pauline gospel to the churches in Rome, using justification as basic category. The horizon of justification-theology in Romans is largely the same as in Galatians: Not individual salvation, but salvation history. The main concern of Paul is the universal horizon of God’s salvific activities for all mankind, through justification of Jews and Gentiles, by faith alone (Rom 3:21–30). In Galatians justification by faith had an entirely polemical focus. In Romans this is no more the case. But Paul’s 47 I think that Hübner, Gesetz bei Paulus (note 2) is right when he emphasies the idea of reduction in Gal 5:14: Ὁ γὰρ πᾶς νόμος (a surprising formulation with the meaning “the law in its totality”, maybe recalling 3:10: “to remain in all what is written in the law) is opposed to “one word” (not: commandment). This is more than a Jewish reductio in unum, or a kelal. 48 This is Räisänen’s explanation (cf. above note 25). It is not wrong, but for me not the main point. 49 Sanders, Paul and Palestinian (note 3), 552. 50 The interpretation of Ἰσραὴλ τοῦ θεοῦ as a reference to the church is to be prefered; cf. Hans Dieter Betz, Galatians, Hermeneia, Philadelphia 1979, 321–323.

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deployment of his gospel of justification remains part of a concrete dialogical situation, in spite of the fact that it is rather apologetical than polemical. With Jacob Jervell and others I think that its “inner situation” is Paul’s dialogue with the church in Jerusalem.51 With regard to this dialogue with Jewish Christians justification is a fitting theological category-system for the dialogue. Justification is not the gospel of Paul, but the category system for one explanation of his gospel, fitting to a particular context.52 However Romans is not entirely defensive. Some sections have a different concern: Paraenesis (Rom 6:1–7:6;53 8:12–17); the situation of the individual without and with Christ (Rom 7:6–8:11); church-building (Rom 12).54 In most of these sections “justification” is not Paul’s leading category-system. Compared with Galatians I observe in the letter to the Romans three types of changes. I would like to call them “expansions”, “fundamentalisations” and “revisions”. They demonstrate that Paul is a theologian in dialogue who is capable to develop and revise its own positions. Among the expansions are firstly Paul’s deployments of the total power of sin dominating humanity before the coming of Christ in the spirit of apocalyptical pessimism. Paul expands this in three different ways. In Romans 1:18–3:20 he explicates the principle he had formulated in Gal 2:16 and restates it in Rom 3:20 as summary: ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σάρξ. Paul demonstrates it empirically and not without contradictions. He takes up arguments from the justification theology of Sap Sal 11–13, partly reversing them. In 2:17–27 it seems to me evident that the sin of the Jews is not their exclusivist overevaluation of boundary-marking prescriptions, but the fact that they – in spite of their boasting over gentiles55 – are transgressors of the law (2:21–27).56 Another explication of the universality of sin – and of grace – is given in the excursus of 5:12–21 about the aeon of Adam – in close proximity to 4 Esra 3 – and of Christ. Rom 7:7–25 gives a third explication where Paul adopts popular psychology in order  It is exaggerated, but not totally unfounded to speak with Jervell about Romans as a letter to Jerusalem (Jacob Jervell, Der Brief nach Jerusalem, StTh 25 [1971] 61–73). 52  What is then the center of Paul’s Gospel? I say it with words of J. D. G. Dunn: “It was a profound conception of the relation between God and humankind – a relation of utter dependence, of unconditional trust” (Dunn, Theology [note 4], 379). His fundamental convictions were: Solus Deus, solus Christus, sola gratia. 53 Rom 6 has an apologetical starting point (v. 1. 15!), but its main concern is paraenetical, cf. the direct adresses to the Roman Christians in the 2. person plur. in vv. 11–14.16–22. 54 It is important for Seifrid, Justification (note 2), that a “reading of Romans as a defensive letter … fails to be convincing” (209). For him, the letter “is a proclamation of the Gospel in advance” of Paul’s arrival in Rome (207). I agree with him insofar as I think too that not all parts of Romans are defensive. 55 Gathercole, Boasting (note 35), 215 rightly summarizes that the Jewish boasting in 2:17–24 is not simply based on “national pride in the law” (James D. G.  Dunn, Romans 1–8, WBC 38A, Dallas 1988, 117), but it includes “confidence on the basis of obedience”. 56 Παράβασις / ​παραβάτης is a key-word (2:23.15.27). 51

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to illustrate the hopeless situation of the individual ruled by sin. In all cases the role of the law is neutral or negative: It qualifies sins as transgressions (4:15), it augments sins (5:20), it provokes them (7:7–11). In no case Paul indicates that it is only a part of the Torah – the boundary-marking laws – that has such a negative effect.57 It is difficult to say to what extent this pessimism of Paul goes back to his pre-Christian apocalypticism and to what extent it is produced or at least reinforced by his faith in the universal dimension of the justification through Christ on the basis of grace alone.58 In all these texts “sin” is in the same time an enslaving power59 and a misdeed. As a misdeed it does not consist in keeping the commandments of the Torah – this is a common denominator between Luther’s interpretation of ἰδία δικαιοσύνη as morality of the religious person and Dunn’s interpretation of it as Israels exclusivity, based upon keeping faithfully the boundary-marking laws60 – but in not keeping the law, in its transgressions that become visible through the law (Rom 3:19 f; 4:15). The only Pauline verse that does not fit into this understanding is Rom 14:23: “Whatever is not out of faith is sin”. This verse is a – I think one of the very few – bridge between Pauline and Reformatorian understanding of sin. I have no explanation for this singular statement. Among the “expansions” I would count secondly that Paul expands in Romans the eschatological dimension of justification that is implicit in the traditional baptismal soteriology of justification. The letter to the Romans is the only letter where the eschatological horizon of justification through faith alone is opened up. It is announced programmatically in Rom 5:9: Δικαιωθέντες νῦν ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ σωθησόμεθα δι᾽ αὐτοῦ ἀπὸ τῆς ὀργῆς. After a brief explanation in 5:9–11 it is taken up again in 8,1: οὐδὲν γὰρ νῦν κατάκριμα τοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. What this means becomes evident in Rom 8,28–39: God will carry through his salvific activity till the final glorification (Rom 8,28–30). God does not condemn, but acquit. Christ is not judge, but intercessor for those believing in him (Rom 8,33.34). I cannot discuss the complexity of Paul’s theology of the last judgment here, but I would like to say, that Rom 5:9–11 and Romans 8 – not  Cf. Jean Noel Aletti, Israel et la loi dans la lettre aux Romains, LeDiv 173, Paris 1998,

57

293.

58 Ed P. Sanders, Paul, Oxford 1991, 34–39 mentions both possibilities and thinks, that the second explanation is decisive. Paul “is inclined to read history backwards”. Since Christ “had not died in vain”, sin is universal and “the law had never been intended to bring righteousness”. Paul has “a fixed conclusion”. “That description (sc. Rom 1–2) did not rest on empirical observation” (all quotations 99). Till here I agree with Sanders. He continues: “This is a theological, in fact dogmatic view …”. I do not agree with Sanders’ narrow, dogmatic view of theology in this text. – Timo Laato, Paulus und das Judentum, Anthropologische Erwägungen, Abo 1991 points to the different anthropological concepts of Judaism and Paul: optimism and emphasis on free will here, pessimism there. But he gives no explanation for the reasons of these differences. 59 In Rom 1:18–3:20 the character of sin as enslaving power is visible in the threefold παρέδωκεν ὁ θεός in 1:24.26.28. 60 Cf. James D. G. Dunn, Romans 9–16, WBC 38B, Dallas 1988, 595.

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Rom 2 or texts like 2 Cor 5:10 – form the center of Pauls theology of the last judgment: Only these texts are directly connected with his theology of justification and only in these texts the role of God and Christ in the last judgment is directly connected with creedal formulations (Rom 8:32.34).61 If this is correct, then Paul’s message of freedom from condemnation for those justified by faith in Christ has a remarkably different accent in comparison with several early Jewish and Christian texts about the last judgment. The most important fundamentalisation consists in the theocentric horizon of Paul’s theology of justification in Romans. In Romans – not in Galatians – Paul speaks about δικαιοσύνη θεοῦ (1:17; 3:5; 3:21 f.25 f; 10:3). He uses this expression in a way different from 2 Cor 5:21, where it meant the gift given to humans through Christ, and also different from Phil 3:9 where his expression for the gift of God is δικαιοσύνη ἐκ θεοῦ. In Romans justice of God is Gods own justice encompassing both what God is and what he does (εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ, 3:26).62 Rom 3:24–26 comes close to something like a “definition” of God: That God has put forward Christ as sacrifice of atonement, effective through faith, in order to reveal his justice, is a “landmark” of the one biblical God, who is God of Jews and Gentiles. Paul’s doctrine of justification is of fundamental theological importance.63 There are three points where Paul reaccentuates what he has said in his letter to the Galatians in a way, that one should speak about revisions of his earlier position.64 The first point concerns the Torah. Sure, the negative impacts of the Torah remain in Romans. But Paul’s efforts not to abolish, but to “uphold” the law (Rom 3:31) and to make a clear difference between the law and the sin (Rom 7:7–12) are much stronger than in the earlier letter. The law – as part of the Scripture – gives testimony for the justice of God revealed independently of the law (3:21). The requirement of the law is fulfilled by the Christians who walk according to the Spirit (8:4). Like in Gal 5:14 love is the fulfillment of the law (Rom 13:8 f), but the love-commandment is not a reduction of the totality of the law into one single word. Rather the basic ethical commandments of the Torah are “summed

61 Cf.

Ulrich Luz, Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsaussagen der Paulustradition, in in this volume Nr. 28, esp. p. 475 f. 62 I take the genetive in δικαιοσύνη θεοῦ as a subjective genetive, following the exegetical tradition of Ernst Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: idem, Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 181–193. 63 The only other Pauline text where a similar “definition” of God is made, is 1 Cor 1:25, in connection with the λόγος τοῦ σταυροῦ. 64 Frequently one takes the short temporal interval between Galatians and Romans of maybe less than a year (cf. above note 17) as an argument against the hypothesis of a major theological development of Paul between the two. Why? A person in an intensive dialogue is able to revise his position within a short time!

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up” (ἀνακεφαλαιοῦται) in the commandment of love (13:9).65 Paul emphasizes the positive significance of the ethical commandments of the Torah as guidelines and help for all Christians to “stay in” the new life with Christ. Finally in Rom 9:4 the Torah is mentioned for the first time as one of the priviledges of Israel and as a constitutive moment of its election. The second revision concerns the new life under the rule of justice. The shift from Galatians 5 with its emphasis on freedom from the law to Romans 6 with its emphasis on the new life of obedience under the rule of justice and sanctification is remarkable. Evidently a new dialogical situation – Paul has to defend his theology of grace against a Jewish Christian reproach that he opens the door for “persisting in sin” (6,1; cf. 3:8; 6:15) – has moved Paul to change the accents. Δικαιοσύνη is a key word in Rom 6 and means the ethical demands of God and in the same time a power governing the new life. I do not think that the co-text of Romans 1–8 allows to separate “justice of God”, “justification” and “ethical justice demanded by God”.66 In Romans the vocabulary of the stem “justice” covers both, the “getting in” and the “staying in” the new reality of Christ. To separate justification from the new life of sanctification would mean to “tear Christ into pieces”, as Calvin pointedly says.67 However it is remarkable that in Rom 6 not justification-, but participation-language is dominating, because for Paul it is important that through Christ God has created a new reality for Christians which makes it impossible to return under the rule of sin.68 Or to say it again with Calvin: “This renewal happened in Jesus Christ, not only through him”.69 The third revision concerns Israel. Only in Romans Paul reflects the special election of Israel which is not abolished through the universal justification by faith: “to the Jew first and also to the Greek” (1:16; cf. 3:1). Rom 9–11 is the only section of the letter that is completely new and that is not based on earlier reflections of Paul in earlier letters. The final thesis of this section is that “all Israel will be saved” (Rom 11,26) through Gods grace, because his word does not fall down and his gift and calling is irrevocable. It will be saved through Christ, the Deliverer from Zion, but not through the mission of the church. This is a reversal of 1 Thess 2:16, where God’s wrath had finally overtaken Israel. It is a great step beyond Gal 6:16 where almost surely “Israel of God” is the church. That “all Israel will be saved” (with some or many exceptions; cf. Sanh 65 Ἀνακεφαλαίωσις means according to Quintilianus, Inst Or 6:1,1 “rerum repetitio et congregatio”, not reductio. 66 Cf. Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8 a, Tübingen 1973, 170; Dunn, Romans 1–8 (note 35), 353. 67 Johannes Calvinus, Commentarius in Epistolam Pauli ad Romanos, in: Opera Exegetica XIII, ed. T. H. L.  Parker / ​D. C.  Parker, Genève 1999, 117 (ad Rom 6:1). 68 Samuel Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989, 333 f has rightly observed that “indicative-language” and not admonitions are dominating also in the second part of ch. 6. 69 Calvinus, Commentarius 124 (ad Rom 6:11).

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10:1–4) is a common Jewish conviction fitting into the main-stream of Jewish covenantal nomism. But the case of Rom 9–11 is different. Paul does not come to this conclusion at the end of his argumentation in Rom 9–11 because his “faith remained in large measure the faith and religion of his fathers”,70 but because Christ and the universal and unconditioned grace of God incorporated in him was “the fulcrum point” in his theology. This fulcrum-point moved Paul, the almost-apostate from his ancestral religion, to return to this basic convictions of Judaism, in a process of constant and self-critical dialogue with his Jewish Christian brethren or opponents and with his Bible. The “revision” of Pauls attitude to Israel in Rom 9–11 ist the most spectacular case to illustrate this.71 But also the two other revisions – the search for a positive role of the Torah in the life of Christians and the stronger emphasis on a praxis of new life in Rom 6 and even the theocentric “fundamentalisation” of his justification-soteriology can and should be interpreted as a return to fundamental convictions of Judaism. In the epistle to the Romans Pauls ways of theologizing are closer to the basic beliefs of Jewish “covenantal nomism” than those in Galatians. Or with other words: The epistle to the Romans makes clear that the new axiomatic principle of Paul’s religion, or, with the words of J. Dunn, the new fulcrum point of Pauls theology rests embedded in his Jewish heretage and in his faith in the one God of Israel.

VI. Philippians The epistle to the Philippians72 can be treated briefely. It takes up justificationterminology only incidentally in 3:4–9. However it is important for two reasons. First it shows a biographical, individual application of the gospel of justification on Paul himself. In Philippians 3 the basic question is no more salvation-historical, but individual. This is the reason why Paul speaks in 3:9 about δικαιοσύνη ἐκ θεοῦ and not about δικαιοσύνη θεοῦ. He contrasts it with “my justice” and not with Israels justice.73 This individual application of justification is not entirely 70 Dunn,

Theology (note 4), 716. Paul (note 38), 123 speaks about “an ingenious revision of the plan of salva-

71 Sanders,

tion”. 72 The date and the literary unity of Phil are disputed questions in NT scholarship. I follow Udo Schnelle who presupposes the literary unity of the letter and and assumes that Phil is the latest Pauline letter, written around 60 p.C. from Rome (Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 8 2013, 159–163). 73 Dunn, Theology (note 4), 370 f rejects a “Reformatorian” interpretation of “my justice”. However I have difficulties to understand the difference between “justice achieved by me” and “justice belonging to me” (= Dunn). For him, the author of Eph 2:8 f is the first to (mis)understand Paul in the Reformatorian sense. For me, this is no wonder. The main problem which had led to the salvation-historical application of the traditional soteriological concept of justification by grace, the relation between the universal salvation and the particular election of Israel, had

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new, but it is prepared by Galatians and Romans: In the letter to the Galatians the “mystical” and “individual” turn of Paul’s argument in 2:19 f is its most important testimony. In the epistle to the Romans Rom 7:14–25 and 8:1–11 open the door for an individual – or rather communal!74 – application.75 The individual application of justification-theology has even older roots: The traditional baptismal theology of grace expressed by justification‑ and other terminologies has both an individual and a communal dimension. Phil 3 in its individual horizon forms an important bridge between Paul and the individualistic reception of his justification-theology in the Reformation. In the eyes of Paul, this is basically a legitimate possibility of reception. The other important point is that Phil 3:4–9 combines terminology of justification with other terminologies, particularily terminology of participation. They are complementary and deepen and interpret each another mutually. This is not new too – already in Rom 6 Paul introduced participation-terminology in order to express the reality of the new life of those justified by faith. In this respect too Philippians forms an important bridge to the confessional debates since the sixteenth century where the Roman Catholics tended to emphasize participative, the Protestants forensic categories. Both are inclusive, not exclusive.

VII. Afterthoughts I hope it has become sufficiently clear that I am deeply endebted to the basic insights of the “New Perspective”. I am endebted especially to James D. G. Dunn in particular for his insight into the dialogical character of Paul’s theological thinking,76 even if I take it up in my own way: The salvation-historical question was the basic theological question for Paul, the Jewish apostle to the nations, when he wrote Galatians and Romans. But this application of justificationtheology in itself is neither the center of Christian doctrine of justification as a whole nor the center of Paul’s own theology. This center is the experience of God’s unexpected, unlimited and universal grace through Christ that transforms everything, including the function of the Torah and the special election of Israel. been settled at the times of Ephesians. What remains is the traditional interpretation of baptism as justification; cf. above section III and Ulrich Luz, Rechtfertigung bei den Paulusschülern, in: Johannes Friedrich u. a. (Hg.), Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen / ​Göttingen 1976, 365–383, esp. 369–371. 74 Different from Gal 2:20 the “I” is replaced by a plural in Rom 8,4 ff. 75 According to Seifrid, Justification (note 2), 249 “Rom 7:14–25 indicates that (Paul) perceived a continuing relevance of ‘justification by faith’ for the existence of the believer”. It is true that Rom 7:14ff opens a door for an individual perspective of Paul’s gospel. But different from Phil 3 justification-terminology plays no role in Rom 7:7 ff. 76 Dunn, Theology (note 4), 713–716.

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V. Studien zum Corpus Paulinum

Pauline justification-theology in Galatians and Romans is a specific way of interpretation and application of this center. Reformation-theology is another application in another situation. I tried to show that there is a bridge from Pauls early soteriology of baptismal grace, interpreted as justification, on one side, and from Paul’s individual application of justification in Philippians on the other, to the Reformatorian application on the individual. The bridge between Paul and the Reformators would be larger if other dimensions of Paul’s theology would be given more attention, for example what one calls Paul’s mysticism. On the whole, Paul is an extremely important forerunner on Europe’s way to individualisation and individual piety of grace. On this way he is the father of all of us, in different constellations of proximity to Paul. I made some allusions to Calvin in my section about Rom 6, because I believe that what I would call the “mystical realism” of Calvins theology of sanctification comes surprisingly close to Rom 6, much closer than for example Luther.77 And I would like to remind us that participative categories played always an important role in the Roman Catholic reception of Paul. Paul is the father of all of us. If we read him, we discover not only him, but through our different receptions also ourselves.

77 Luthers interpretation of Roman 6 has its center in the “simul iustus et peccator”: “Quia qui sine fide Christi est, etiamsi bene operetur, semper tamen in peccatis est” (Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 I, Weimar 1960, 380 (ad Rom 6:14).

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese I. Einführung Zur Zeit liegen für den Epheserbrief eine Reihe hervorragender Kommentare vor.1 Das große Opus des Jubilars ist zwar nicht der letzte, aber vermutlich der abgewogenste unter den großen dieser Kommentare. Die Perspektive, in dieser Reihe dermaleinst ein weiteres Opusculum beisteuern zu sollen, ist fast entmutigend.2 Trotzdem will ich versuchen, einige vorläufige Überlegungen zum Epheserbrief zu formulieren, mit denen ich den Jubilar grüßen und ihm für seine Arbeiten auch zum Epheserbrief danken möchte.3 Sie sind vorläufig, d. h. noch nicht wirklich abgesichert und deshalb sehr empfänglich für kritische Bemerkungen. Sie beschäftigen sich vor allem mit dem paränetischen Teil Kap. 4–6. Auf diesem Teil liegt umfangmäßig das Schwergewicht des Briefes.4 Gegenüber den echten Paulusbriefen, gerade gegenüber den gleich wie der Epheserbrief aufgebauten Briefen an die Römer und an die Galater ist das auffällig, auch gegenüber dem Kolosserbrief, der dem Verfasser als Quelle diente. Umfangmäßig hat sich das Schwergewicht im Epheserbrief auf die Paränese verlagert. Das entspricht nicht nur dem allgemeinen Trend der nachapostolischen Zeit, wie ein 1 Vgl. Markus Barth, Ephesians, 2 Bde, AncB 34 + 34A, Garden City 1974; Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser, RNT, Regensburg 1974; Joachim Gnilka, Der Epheserbrief, HThK 10/2, Freiburg etc. 21977; Andreas Lindemann, Der Epheserbrief, ZBK 8, Zürich 1985; Franz Mußner, Der Brief an die Epheser, ÖTBK 10, Gütersloh / ​Würzburg 1982; Rudolf Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK X, Zürich / ​Neukirchen 1982. Noch immer sind unersetzlich: Hans Conzelmann, Der Brief an die Epheser, in: Jürgen Becker u. a., Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher und Philemon, NTD 8, Göttingen 141976, 86–124; Heinrich Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf 71971. 2 Und vielleicht auch ein Anlaß, sich einige Gedanken über die Wissenschaftsorganisation der deutschsprachigen neutestamentlichen Forschung zu machen. Bricht die vielsträngige Pflege traditioneller Genera, z. B. des Kommentars, die Kraft zum Innovativen? – Nachtrag: Mit „Opusculum“ war die mir übertragene Neubearbeitung der Kommentare zum Kolosserbrief und zum Epheserbrief gemeint, die als NTD 8/1 im Jahr 1998 erschienen ist. 3 Vgl. vor allem: Rudolf Schnackenburg, Christus, Geist und Gemeinde (Eph 4,1–16), in: Barnabas Lindars / ​Stephen S. Smalley, Christ and Spirit in the New Testament (FS C. F. D.  Moule), Cambridge 1973, 279–296; ders., Zur Exegese von Eph 2,11–22: Im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Israel, in: William C. Weinrich (Hg.), The New Testament Age II (FS B. Reicke), Macon 1984, 467–491. 4 Kap. 4–6 verhalten sich umfangmäßig zu Kap. 1–3 etwa 6:5.

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Vergleich etwa mit dem Jakobusbrief, dem 1. Petrusbrief, den Pastoralbriefen, dem 1. Clemensbrief, dem Hirten des Hermas, der Didache und auch den Ignatianen leicht zeigen kann, sondern auch der besonderen Absicht des Verfassers. Blickt man auf den Kolosserbrief, so stellt man unschwer fest, daß die Paränese dem Verfasser des Epheserbriefs das eigentlich Wichtige war: Mit Ausnahme des Präskripts (1,1 f) und des Abschnittes 1,25–29 hat der Verfasser den dogmatischen Teil des Kolosserbriefs nur gelegentlich und eher assoziierend benutzt. Insbesondere das situationsbezogene Kapitel Kol 2 wird im Epheserbrief kaum rezipiert. Anders ist es in der Paränese: Mit Ausnahme der Grundlegung Kol 3,1–4 wird die Paränese Kol 3,5–4,6 so gut wie vollständig rezipiert. Die Reihenfolge der Verse bleibt im wesentlichen gleich. Auf der Seite des Epheserbriefs gilt: Die Grundlegung der Paränese Eph 4,1–16 ist – unter gelegentlicher Anlehnung an den Kolosserbrief – selbständig formuliert. Dasselbe gilt für 6,10–17, den vorletzten Abschnitt der Paränese. Der Rest der Paränese des Epheserbriefs kann, mit Ausnahme von 5,8–14 und einigen kleineren Stücken, als eine Neufassung der Paränese des Kolosserbriefs gelten. Das Interesse des Verfassers liegt also bei der Paränese des Kolosserbriefs. Recht anders ist es bei seinen heutigen Exegeten.5 Ihr Interesse ist in der Regel ein dogmatisches, meist an der Kirche, dem „im Epheserbrief behandelte(n) theologische(n) Thema“.6 Die Paränese wird nur selten als Proprium des Briefes ernst genommen:7 Sie „klingt inhaltlich konventionell“,8 weil der Verfasser oft 5 Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 321 stellt in der Einführung zu seinen wirkungsgeschichtlichen Ausführungen fest, daß der Einfluß des Briefes auf Liturgie und Gebetsfrömmigkeit, auf Gottesdienst und Stundengebet überaus groß gewesen sei. Er wendet sich dann aber gerade der theologischen Rezeption des Briefes zu. Eigentlich ist das schade! Μ. E. liegt genau in den genannten Bereichen, wozu noch das christusgemäße neue Leben in der Kirche treten müßte, das eigentliche Anliegen des Briefverfassers. Demgegenüber ist seine Theologie z. T. unselbständig – bewußt traditionell und bewußt paulinisierend –, und dort, wo sie selbständig ist, sehr schwebend und unscharf, weil eben begrifflich-theologische Explikation gerade nicht das Anliegen des Verfassers war. 6  Lindemann, Epheserbrief (o. Anm. 1), 11. Ich halte sowohl die Bestimmung des Themas „Kirche“ als auch die Bezeichnung „Traktat“ für falsch, vgl. u. Anm. 15. Wo wird eigentlich das Thema „Kirche“ behandelt? Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 86 f hat richtig gezeigt, daß in 2,1ff nicht die Behandlung des „Themas“ im Briefcorpus einsetzt, sondern die Christusherrschaft (1,20–23) für die Leser aktualisiert wird. Vom Lobpreis kommt der Verfasser direkt zur Aktualisierung. 7 Ausnahmen sind z. B. Petr Pokorný, Epheserbrief und gnostische Mysterien, ZNW 53 (1962), 160–191 (er bestimmt den Eph als Taufhomilie, die sich von einer gnostisierenden Taufweihe gerade durch die Betonung der sozialen Dimension und der Agape abhebe); Helmut Merklein, Eph 4,1–5,20 als Rezeption von Kol 3,1–17 (zugleich ein Beitrag zur Problematik des Epheserbriefs), in: Paul-Gerhard Müller / ​Werner Stenger (Hg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg etc 1981, 194ff (der Verfasser des Eph will einen Rückfall ins heidnische Leben verhindern); Karl Martin Fischer, Tendenz und Absicht des Epheserbriefs, FRLANT 111, Göttingen 1973, 147 (Paränese als konkrete Anwendung der grundsätzlichen Darlegung der Einheit der Kirche von 4,1–16). 8 Mußner, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 133.

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese

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„mehr tradiert als produziert“.9 Wenn man in der Einheit der Kirche das „Hauptthema des Briefes“ sieht, kommt man konsequenterweise zum Schluß, es stehe „nach 4,16 nicht mehr deutlich im Vordergrund“.10 Vielmehr breitet sich dann nur ein buntes Allerlei vermischter Mahnungen aus. Versteht man den Brief als eine „Mysterienrede“, die nur um das Geschehen des „Mysteriums Christi, das zuletzt die Kirche aus Juden und Heiden ist“, kreist, so wirkt demgegenüber die Paränese nüchtern und unmysteriös und scheint den „τέλειοι, den Vollkommenen im Sinne der ,Eingeweihten“,11 keineswegs gerecht zu werden.12 Versteht man den Epheserbrief endlich als einen Traktat über die Kirche, der festhält, daß die Kirche in ihrer Katholizität und in ihrem göttlichen Ursprung „nicht bloß lokal zeitbedingt, … sondern universal und unbegrenzt ist“,13 so machen demgegenüber die paränetischen Abschnitte des Briefes gerade nicht den Eindruck, als ob sich der Verfasser primär für die „metaphysischen Qualitäten“ und den „himmlischen Glanz“14 der Kirche interessiere – zu irdisch und zu hausbacken und zu konkret ist das, worum es in dieser Paränese geht. Weder die Charakterisierung des Epheserbriefes als „Mysterienrede“ noch diejenige als „Traktat“15 nimmt m. E. ernst genug, daß es dem Verfasser jedenfalls nicht nur um die Weisheit des Geheimnisses der Kirche, sondern mindestens ebenso sehr um den Wandel in der Kirche geht. Ich möchte mein Verständnis des Briefes in ein Bild kleiden: Vergleicht man den Epheserbrief mit dem Kolosserbrief, so gleicht er einem renovierten Haus. Das Erdgeschoß dieses Hauses ist total umgestaltet worden. Das erste Stockwerk wurde zwar etwas erweitert, im Prinzip blieb es aber bestehen. Gerade weil das erste Stockwerk des alten Hauses für den Architekten das eigentlich erhaltenswerte war, konnte es bestehenbleiben. Den Epheserbrief darf man nicht so betrachten, als ob er nur aus dem neugebauten Erdgeschoß bestünde. Vielmehr muß man nach der Konzeption des alt-neuen Ganzen fragen: Welches ist die  9 Martin Dibelius / ​Heinrich Greeven, An die Kolosser, Epheser, An Philemon, HNT 12, Tübingen 31953, 87. 10  Fischer, Tendenz (o. Anm. 7), 16. 11 Schlier, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 21 f. 12  Auch Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1) kritisiert mit Recht, daß in Schliers Konzeption der paränetische Teil keinen Platz finde. 13 Henry Chadwick, Die Absicht des Epheserbriefs, ZNW 51 (1960) 149, vgl. 147 f. 14 Ernst, Briefe an die Philipper (o. Anm. 1), 252. 15 Die Charakterisierung des Epheserbriefs als Traktat ist verbreitet, z. B. Ernst Käsemann, Art. Epheserbrief, RGG II (31958), 517; neuerdings pointiert Andreas Lindemann, Bemerkungen zu den Adressaten und zum Anlaß des Epheserbriefes, ZNW 67 (1976), 240. Es kommt natürlich darauf an, was man unter „Traktat“ versteht. Ist damit eine „theoretische theologische Abhandlung“ gemeint (so Conzelmann, Brief an die Epheser [o. Anm. 1] 86), die nur in Briefform gekleidet ist, so wird der Eph m. E. gründlich mißverstanden: Für ihn (er ist vermutlich ein Zirkularschreiben an paulinische Gemeinden in Kleinasien) sind die Anrede an die paulinischen, heidenchristlichen Gemeinden, das Gebet und die Rückbesinnung auf das gemeinsame paulinische Erbe entscheidendes Anliegen, gerade nicht die theologische Darlegung eines Themas, wie unten gezeigt werden wird.

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V. Studien zum Corpus Paulinum

Funktion der „alten“ und erweiterten Paränese gegenüber der neuen dogmatischen Basis? Welche neuen Lichter fallen von der neuen dogmatischen Grundlegung her auf die traditionelle Paränese? Im Bild: Welche Treppenaufgänge führen im alt-neuen Haus vom neuen Erdgeschoß in das alte erste Stockwerk? Es soll im folgenden darum gehen, anhand einiger „Treppenaufgänge“ wichtige Aspekte des ganzen Briefes zu interpretieren. Dem paränetischen Teil soll dabei das gebührende Gewicht zukommen.

II. Das Gebet im Epheserbrief Suchen wir nach solchen „Treppenhäusern“, so ist als erstes das Gebet zu nennen. 2.1 Fast die Hälfte des ersten Hauptteils besteht aus Gebeten (1,3–23; 3,1.14– 21). Schon deswegen verbietet sich eigentlich die Bezeichnung „Traktat“. Frühere Forschung am Epheserbrief näherte sich der Gebetsstruktur des Briefes auf traditionsgeschichtlicher, respektive literarkritischer Ebene, indem sie nach vorgegebenen und übernommenen Gebetsmustern16 oder Gebetstexten17 fragte. Vor allem der literarkritische Zugriff hat sich aber als ein Holzweg erwiesen: Es ist kaum möglich, in Eph 1–3 vorgegebene Hymnen oder Gebete zu rekonstruieren.18 Wir haben die Gebete als vom Verfasser gewählte Sprachform zu interpretieren und können erst von dort aus nach Beziehungen zum Gemeindegottesdienst fragen. 2.1.1 In Eph 1 verbindet der Verfasser zwei Proömiumsformen, die sich auch in den paulinischen Briefen  – aber nie miteinander kombiniert  – finden: die Eulogie (1,3–14) und die Eucharistie (1,15–23). Für die Eucharistie hat sich der Verfasser eng an Kol 1,4.9 angelehnt und sie zusätzlich mit gemeinpaulinischen Wendungen aus den Eucharistien verschiedener Briefe angereichert (Röm 1,8–

16 Gnilka, Epheserbrief (o. Anm. 1), 26 f rekonstruiert eine Struktur frühjüdischer und frühchristlicher Gebete, die dem Aufbau von Eph 1–3 entspreche. Genau gesehen reduziert sich Gnilkas Struktur allerdings auf die verbreitete, aber wenig spezifische Abfolge Anrufung – Klage und Bitte – Doxologie. Sie vermag m. E. vor allem Eph 2 nicht zu erklären. Ähnlich, aber viel detaillierter, versteht John C. Kirby, Ephesians. Baptism and Pentecost, London 1968, Eph 1–3 als bestimmt durch eine in Ephesus gefeierte, jüdisch geprägte Berakah-Liturgie. 17 Einflußreich war hier die Arbeit von Gottfried Schille, Frühchristliche Hymnen, Berlin 1965, die Ergebnisse seiner ungedruckten Dissertation aufnimmt: Liturgisches Gut im Epheserbrief (Diss. masch. Göttingen 1952). Er rechnet mit Zitaten des Vf. aus liturgischen Texten und einer kritischen theologischen Bearbeitung. Seine Ergebnisse wurden übernommen u. a. von Ferdinand Hahn, Der urchristliche Gottesdienst, SBS 41, Stuttgart 1970, 68 f; Jack T. Sanders, Hymnic Elements in Ephesians 1–3, ZNW 56 (1965) 214–232 (in reduziertem Umfang). Verbreitet ist bis heute die Rekonstruktion eines Christusliedes in Eph 2,14–18. 18 Vgl. die durchwegs überzeugenden Begründungen bei Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 43 f.70 f.88.106 f (nur das Einst-Jetzt-Schema ist traditionell).

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese

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10; 1 Thess 1,2 f; Phm 4 f).19 Er wollte also ein Briefgebet nach dem Muster der paulinischen Briefe schreiben. Für die voranstehende Eulogie gilt wohl dasselbe: Die Anlehnung von V 3 f an 2 Kor 1,3–5 bezieht sich nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf Teile der Satzstruktur.20 Am Schluß der Eulogie tauchen in V 13 f in dichter Folge Stichworte aus 2 Kor 1,20–22 auf. Ob der Verfasser mit dem 2. Korintherbrief direkt bekannt war, will ich hier nicht entscheiden; ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht.21 Der Verfasser wollte also m. E. nicht einen gottesdienstlichen Text schreiben, sondern einen Paulusbrief. Paulusbriefe aber wurden im Gottesdienst vorgelesen. Im Blick auf die gottesdienstliche Lesung ist es wichtig, daß der Verfasser aus den paulinischen Briefen beide Gebetsmöglichkeiten des Briefproömiums benutzt und miteinander verbunden hat. Dazu kommen weitere Beobachtungen: Die Eulogie führt den Verfasser sogleich in den Wir-Stil.22 Er schließt sich mit den Briefadressaten zu gemeinsamem Lobpreis zusammen. Erst ganz am Schluß der Eulogie redet der Verfasser die Briefadressaten mit „ihr“ an, um dann sogleich, wenn es um den gemeinsam empfangenen heiligen Geist geht, zum verbindenden „wir“ zurückzukehren (1,13 f). Der Stil hat zum Teil biblische Farbe; noch stärker erinnert er an die Sprache der Psalmen von Qumran.23 Außerordentlich zahlreich sind die der Gemeinde bekannten „gemeinchristlichen“ Vokabeln:24 der Verfasser führt die Gemeinde im Proömium gerade nicht in sein eigenes, „persönliches“ theologisches Denken ein. In 1,20–22 greift er schließlich auf das Glaubensgut des Auferstehungs‑ und Erhöhungskerygmas zurück (Röm 8,34; 1 Petr 3,21 f; vgl. 1 Kor 15,25 f), das er mit Hilfe von Kol 1,16.18.19 „paulinisch“ anreichert und zuspitzt.25 Alle diese Indizien helfen zur Bestimmung des „Sitzes im Leben“ dieses Briefs: Es ist m. E. vergeblich, direkt ein Gebet für eine bestimmte Situation, z. B. einen Tauferinnerungsgottesdienst26 zu suchen. Wohl aber kann man sagen: Wenn die Gemeinde diesen Briefeingang hört, der mit einem ihr liturgisch 19 Helmut Merklein, Paulinische Theologie in der Rezeption des Kolosser‑ und Epheserbriefes, in: Karl Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften, QD 89, Freiburg u. a. 1981, 37ff bezeichnet m. E. glücklich das Verfahren des Eph als „Paulinisierung“ urchristlicher Traditionen. Eph 1,15ff ist dafür ein weiteres Beispiel. 20  ὁ + Part. + ἡμᾶς (Eph 1,3 = 2 Kor 1,4); καθώς (Eph 1,4 = 2 Kor 1,5). 21 Die deutlichste Berührung ist Eph 6,19 f mit 2 Kor 5,19 f (λόγος, ὑπέρ, πρεσβεύω). 22 Vgl. Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 33: „ekklesiales ,Wir“‘. 23 Vgl. die Analyse bei Reinhard Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit, StUNT 5, Göttingen 1967, 72–75. 24 Unter der Voraussetzung, daß nicht nur der Verfasser den Kol kennt, sondern daß er dies auch für seine Leser voraussetzt (vgl. unten Anm. 57), kann gesagt werden: Im ganzen ersten Kapitel des Eph ist nur die Aussage von 1,10; ἀνακεφαλαιώσασθαι τὰ πάντα ἐν Χριστῷ den Lesern nicht ohne weiteres vertraut. Und auch diese Aussage ist vermutlich nur eine Umschreibung von Kol 1,18–20, wobei κεφαλή „verbalisiert“ wird. 25 Ähnlich wie in Eph 2,11–22, vgl. Merklein, Theologie (o. Anm. 19), bes. 52 f.58–62. Das Verfahren setzt natürlich voraus, daß der Vf. den Kol für paulinisch hielt, vgl. unten Anm. 57. 26 Schille, Hymnen (o. Anm. 17), 65–72 rechnet mit einem Initiationslied, wobei die Erläuterung in V 13 f auf die Taufe weise.

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V. Studien zum Corpus Paulinum

vertrauten27 Lobpreis beginnt, der im Wir-Stil formuliert ist und der ihre eigene gottesdienstliche und religiöse Sprache spricht, dann wird sie ihn unweigerlich betend mithören. Der Text führt die mithörende Gemeinde ins Gebet; sie wird „stillschweigend … in das Gebet einbezogen“.28 Für das Verständnis des ganzen Briefes ist das wichtig: Betend mithörende Rezipienten werden nicht in erster Linie auf neue Mitteilungen und Informationen achten. Sie werden auch nicht in erster Linie theologisch differenzieren und reflektieren, sondern sie werden sich mit dem Gehörten identifizieren. 2.1.2 Eph 3,14–21 kehrt „Paulus“ zur Gebetsform zurück. Eigentlich ist das Gebet verspätet; schon 3,1 wollte der Verfasser zum Gebet ansetzen.29 3,14ff nimmt zahlreiche Assoziationen aus der Danksagung, vor allem aus 1,16–19 auf: Der Verfasser formulierte dort aus einer tiefen Gewißheit heraus: Weil die Glaubenden bereits durch die „Kraft seiner machtvollen Stärke“ bestimmt sind, die Gott durch die Auferstehung Christi als bleibend wirksam (ἐνήργηκεν) erwiesen hat (1,19 f), bleibt als Gegenstand der Bitte eigentlich nur noch der „Geist der Weisheit und Offenbarung“ (1,17), um das auch noch zu erkennen, was schon längstens wirksam ist. Ganz ähnlich formuliert der Verfasser in 3,14–19: er bittet – nicht nur, aber auch – um die Erkenntnis dessen, was der Vater schon längst durch die Liebe Christi bewirkt hat (3,18 f). Der Abschluß der Fürbitte in 3,19 entspricht dabei derjenigen in 1,23. Nur kehrt die Bewegung, die in Eph 1 von oben nach unten ging, gleichsam zu Gott zurück. Als Leib Christi ist die Kirche der Ort, wo Christus sein eigenes πλήρωμα wirksam sein läßt (1,23), indem er das Haupt seines Leibes ist. In 3,19 formuliert der Verfasser von den Menschen her, die die überwältigende Liebe Christi aufgrund der Kraft der Fürbitte erkennen: Eben dadurch werden sie im Leib Christi von seinem Pleroma erfüllt, das nichts anderes ist als das Pleroma Gottes selbst (vgl. Kol 1,19; 2,9). So ist der Boden vorbereitet, daß die Fürbitte des Apostels in das gemeinsame Gebet der von der Kraft der Herrlichkeit Gottes Erfaßten übergehen kann. In der Doxologie 3,20 f wird die hörende Gemeinde durch das gemeinsame „wir“ mit ins Beten einbezogen. Sie spricht das „Amen“ mit.30 Nicht ohne Grund kann der Verfasser von der δόξα Gottes ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ sprechen. Ἐκκλησία meint zwar im Epheserbrief nicht die Gemeinde, die die δοξολογία mitbetet, sondern die Gesamtkirche, deren Teil die Einzelgemeinden sind, die das Zirkularschreiben des Epheserbriefs bekommen.31 Die Kirche, der Leib Christi, ist der von der 27 Die Eulogie ist eine biblisch (bes. Psalmen [am Anfang eines Psalms allerdings nur 144,1]; ferner bes. 1–3 Βασ, 1/2 Makk, Tob) und jüdisch (Berakah, vgl. Hermann W. Beyer, Art. εὐλογέω, ThWNT II [1935] 757,45 – 758,36) und urchristlich (exklusiver Bezug von εὐλόγητος auf Gott im NT!) gebräuchliche Gebetsform. 28 Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 158. 29 Ebd. 129. 30 Vgl. Gerhard Delling, Der Gottesdienst im Neuen Testament, Göttingen 1952, 75. 31 Im Unterschied zu Kol 4,15 f, wo der bei Paulus überwiegende Sprachgebrauch erhalten ist. Im Präskript ist, ähnlich wie Kol 1,12, ἐκκλησία vermieden.

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese

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Kraft Gottes durchwaltete Raum, in dem dann der Lobpreis nach oben, zurück zu Gott fließt. Der ἔπαινος δόξης, der in 1,6–14 dreimal als Daseinszweck der Glaubenden angegeben ist, wird in 3,20 f vollzogen. Fazit: Etwa die Hälfte des ersten Hauptteils des Epheserbriefes ist als Gebet formuliert. Lobpreis und Fürbitte von Kapitel 1 werden in umgekehrter Reihenfolge in Kapitel 3 wiederholt. Das ist wichtig für den ganzen Brief: Die Rezipienten beginnen – vermutlich im Gottesdienst – das Hören des Briefes im Gebet, erfahren sich als durch Dank und Fürbitte getragen und kehren am Schluß über die Fürbitte wieder zum Lobpreis zurück. Sie sind von Anfang an bis zum Schluß „in“ diesem Brief. Für die Deutung der „Erinnerung“ in Kapitel 2 wird das wichtig sein.32 Vorerst wollen wir die Linien in den paränetischen Teil hinein verfolgen. 2.2 Zunächst ist eine Vorbemerkung zur Gliederung von Eph 4–6 nötig: Zwar ist die Abgrenzung von 4,1–16 als in sich geschlossener Grundlegung deutlich. Wie im Folgenden einzuteilen ist, ist aber umstritten, da die locker aneinandergereihte Paränese, die mehr einer assoziativen als einer gedanklichen Logik folgt, weder in ähnlichen jüdischen noch in christlichen Texten eine klare Gliederung zuläßt. Gegenüber den verbreiteten Versuchen, nach 4,3233 oder 5,1434 einen Einschnitt zu machen, würde ich eher vorschlagen, die lange Reihe der Einzelermahnungen von 4,17–5,20 als eine durch 4,17–24 eingeleitete Einheit zu fassen: 5,1 f ist m. E. als grundsätzliche und orientierende Zwischenbemerkung und nicht als Einführung eines neuen Abschnittes zu bestimmen. Auch in 5,15–18 bestimmt wie in 4,17–5,14 das Gegenüber zum Heidentum den Duktus des Textes. Dann besteht die Paränese aus den beiden Hauptabschnitten 4,17–5,20 und 5,21–6,21. Sie sind vor allem formal unterschieden: Haben wir dort eine Reihe knapper Einzelermahnungen, so geht es hier um zwei größere zusammenhängende Texteinheiten. Beide Abschnitte sind überdies fast genau gleich lang. Ist das richtig, so ergibt sich die zentrale Bedeutung des Gebets für die Paränese des Epheserbriefs von selbst: Beide Hauptabschnitte enden mit einer Ermahnung zum Beten (5,18–20; 6,18–20). 2.2.1 Doch zunächst ist von der Grundlegung 4,1–16 zu sprechen. Der Verfasser beginnt seine Paränese mit einer Ermahnung zu Friedfertigkeit, Langmut, Liebe, kurz: zur gelebten Einheit der Kirche. Kaum hat er mit seiner Paränese eingesetzt, so fällt er gleichsam von der Mahnung in die Heilszusage zurück. Er formuliert im Stil der gottesdienstlichen Akklamation, die er erweitert: „ein 32 Vgl.

unten Abschnitt III 3.1. die Kommentare von Abbott (u. Anm. 48), Conzelmann (o. Anm. 1), Barth (o. Anm. 1), Ernst (o. Anm. 1), Mußner (o. Anm. 1), Gnilka (o. Anm. 1). 34 So die Kommentare von Schlier (o. Anm. 1), Lindemann (o. Anm. 1); pointiert auch Schnackenburg (o. Anm. 1) 196: „Nach dieser (sc. 4,17–5,14) negativen Abgrenzung gegen die Umwelt zeichnet sich … eine … Wende in 5,15 ab, wo sich der Blick … wieder auf das Sein … in der Kirche verlagert“. 33 So

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Leib, ein Geist, … (eine Hoffnung), ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater von allem“.35 Die Reihe führt gleichsam von unten nach oben: sie beginnt bei der Kirche, die Leib, d. h. konkret erfahrene Gegenwart Christi ist, und führt über den Herrn und den Glauben zu Gott, der über allem ist (4,4–6). Natürlich spiegelt diese kunstvolle Reihung nicht als solche die Liturgie; sie führt vielmehr eine traditionelle Taufinterpretation weiter,36 erweitert die gottesdienstliche Akklamation (vgl. 1 Kor 8,6; 1 Tim 2,5 f) rhetorisch37 und endet bei Gott, dem Vater. So führt der Verfasser in diesem Eingang zum paränetischen Teil seines Briefs die Gemeinde über die Erfahrungsdimensionen der Einheit zum Lobpreis zurück, der an ihren Gottesdienst erinnert. Die Mahnung zur Einheit der Kirche verwandelt sich in die Erkenntnis, daß die Christen von der gestifteten, vorgegebenen Einheit bereits herkommen; und dies wiederum ist anders als in der Sprache der Akklamation gar nicht aussagbar. Wieder dürfen wir annehmen, daß die Hörer des Briefs an dieser Stelle stillschweigend mitbeteten. Hängt es damit zusammen, daß der Verfasser in V 7 selbstverständlich und unbetont wieder in der 1. Person Plural formuliert? Wiederum begegnet uns hier das ekklesiale Wir.38 Es bezieht sich keineswegs nur auf Paulus und seine Begleiter oder nur auf die Amtsträger,39 sondern es schließt, von der gemeinsamen Akklamation herkommend und in der Tradition von Röm 12,3ff stehend, den Verfasser mit den Adressaten zusammen. 2.2.2 Der erste Block der Paränese (4,17–5,20) endet in 5,18 b mit der im Epheserbrief zentralen Aufforderung, sich mit dem Geist erfüllen zu lassen. Die Formulierung erinnert an 3,19, vgl. 3,16 f. Als guter Pauliner interpretiert der Verfasser aber diese Aufforderung nicht als Aufforderung zu ekstatischen Erfahrungen, obwohl dies im Gegenüber zum Rausch (5,18) nahegelegen hätte, sondern durch Kol 3,16 f: Mit dem Geist sich erfüllen lassen heißt: gottesdienstliches Loben und Beten.40 Die Christen sollen „einander“ Psalmen und Hymnen und geistliche Gesänge singen. So partizipieren sie an der den Leib erfüllenden Kraft Christi. Aus Kol 3,16 f fehlt die Aufforderung zur Verkündigung und Er35 Darauf hat vor allem Klaus Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 1972, 141ff hingewiesen. 36 Zu ἓv σῶμα, ἓv πνεῦμα vgl. 1 Kor 12,13. In diesen Zusammenhang gehört offenbar die indikativisch formulierte Gleichheitsaussage Kol 3,11 = 1 Kor 12,13; Gal 3,28 fest hinein. Warum Eph sie wegläßt, können wir nur rätseln: Wollte er die Vorgabe der Einheit nicht irdisch, sondern theologisch formulieren? 37 Wengst, Formeln (o. Anm. 35), 141 stellt richtig fest, daß der Aufstieg von der Kirche über den Kyrios zu Gott der Intention des Verfassers und nicht einer liturgischen Formel entspricht. Er rechnet deshalb nur in V 5 mit einer vorgegebenen Akklamation. Aber auch sie ist hochrhetorisch (εἶς – μία – ἕν!). 38 Vgl. Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 33. 39 Für die Auslegung von 4,7 ist dies besonders wichtig, vgl. unten Anm. 62. 40 Schnackenburg, Christus, Geist und Gemeinde (o. Anm. 3), 280 betont den gottesdienstlichen Sitz der Geistaussage von 5,18 f. Das gilt wenigstens mittelbar auch für 1,13.17; 4,3 f (Gebet, Taufe).

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mahnung (Kol 3,16 a); vielleicht ist dies zur Zeit unseres Briefes bereits vorwiegend Aufgabe besonderer Gnadenzuteilungen (vgl. 4,7.11) und nicht mehr jedes Gemeindegliedes.41 Gegenüber der Kolosserparallele wird das Gebet wichtiger: Es steht nicht mehr als bloßes Beispiel für alles andere Sprechen und Handeln im Namen Jesu (vgl. Kol 3,17 a), sondern rückt ins Zentrum: Gottesdienstliches Beten ist die Art und Weise, wie der Geist die Kirche „erfüllt“. Die Aufforderung schließt mit der Nennung von „Gott und Vater“, ähnlich wie auch der Beginn und Schluß des ersten Hauptteils (1,2 f; 3,14, vgl. 20 f), der Paränesenanfang (4,6) und der Schluß des ganzen Briefs (6,23) den Vater nennen. Auch darin zeigt sich wohl, daß hier ein Hauptabschnitt zu Ende geht. 2.2.3 Die andere Aufforderung zum Gebet formuliert der Verfasser im Anschluß an Kol 4,2–4 am Schluß des zweiten Teils der Paränese in 6,18–20. Kol 4,5 f hatte er schon im Voraus aufgenommen; die Mahnung zum Wandel in der Weisheit und zum Auskaufen der Zeit (= Kol 4,5) stand bereits Eph 4,15.16 a. Die Mahnung zur wohlwollenden Rede (4,6) hatte ihren Platz in stark veränderter und ekklesiologisch vergrundsätzlichter Gestalt schon in 4,29 gefunden. So bleibt aus dem Kolosserbrief noch 4,2–4, die Mahnung zum Gebet und die Bitte um Fürbitte, die nun ganz ans Ende der Paränese des Epheserbriefs rückt. Sie schließt locker an die vorangehenden Mahnungen an. Die Konstruktion der vorangehenden Partizipien, resp. Imperative zum Anziehen der Waffenrüstung Gottes wird abgebrochen. Die mit διά eingeleitete Aufforderung zum Beten ist wohl eine Umstandsbestimmung, die sich auf alle Stücke der Waffenrüstung Gottes bezieht.42 Das wiederholte πᾶς deutet den grundsätzlichen und umfassenden Charakter der Gebetsmahnung an. Die Situationsbestimmtheit von Kol 4,3 – der gefangene Paulus bittet um Gelegenheit für Verkündigung auch im Gefängnis oder durch Befreiung daraus – fällt weg: es geht grundsätzlich um die παρρησία der Verkündigung. Unsicher muß bleiben, ob ἀγρυπνοῦντες in Verbindung mit προσκαρτέρησις auf einen Brauch von Gebetswachen anspielt, den es auch in Qumran gegeben hat (vgl. 1 QS 6,7);43 es gibt leider aus neutestamentlicher Zeit nur indirekte Zeugnisse dafür. Wäre dem so, so würde unser Text wieder auf eine Erfahrung des gemeinsamen Gebets der Gemeinde anspielen. Die Reichweite der Fürbitte ist umfassend: „für alle Heiligen und für mich“. Fürbitte soll keine Eph in der Paränese den Kol literarisch benutzt, darf und muß man auch nach dem Sinn der Auslassungen fragen, was aber in der Literatur kaum geschieht. Nur Gnilka, Epheserbrief (o. Anm. 1), 270 stellt gegenüber Paulus mit Recht fest, der Verf. beschränke sich „auf die liturgische Sprache“. Die Situation entspricht exakt 4,11, wo Verf. ebenfalls die Gaben der Verkündigung (und der Leitung) als besondere Gaben Gottes für die Gemeinde personal bestimmt, wenn auch noch nicht als „Ämter“, vgl. unten Anm. 62. 42 Nestle26 setzt im Unterschied zu den früheren Auflagen hinter ῥῆμα θεοῦ einen Punkt und faßt V 18 a als Satzbeginn und προσευχόμενοι als Imperativ. Zu vergleichen sind etwa 4,2 f; 5,18 f, aber 21! Die Frage ist grammatikalisch kaum entscheidbar. 43 Vgl. Schlier, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 301 f; Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 289. 41 Wenn

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Grenze kennen; sie ist die Lebensweise des Geistes in der Kirche, die die eine und umfassende Kirche Christi ist. Auffällig ist schließlich, wie dicht in diesem Abschluß des paränetischen Teils die Erinnerungen an den Abschluß des ersten Teils sind, d. h. an die Gestalt des gefangenen Paulus, dem das Mysterium der Heidenmission anvertraut ist und der durch seine Fürbitte die Gemeinden trägt.44 Der Fürbitte des Paulus für seine Gemeinden (3,14–19) entspricht die Fürbitte der Gemeinden für ihren Apostel (6,19 f). Auch diese Entsprechung weist wiederum auf die Bedeutung des Gebets für das Ganze des Briefs. Wir fassen zusammen: Das Gebet ist eine wichtige Klammer, die den dogmatischen und den paränetischen Teil des Epheserbriefs zusammenfaßt. Das Gebet ist die Weise der Annahme des Heils durch den Menschen. Es ist aber zugleich die Weise, in der der sein Pleroma füllende Christus die Menschen erfaßt. So begleitet das Gebet die Mahnungen des Briefs gleichsam als ihre Innenseite. Das Gebet ist Ausgangspunkt und Zielpunkt des christlichen Lebens, der notwendige Aufblick zum Vater, der die eine Kirche zusammenhält. Der Epheserbrief ist ein Gebetsbrief.45

III. Der Epheserbrief als Rückerinnerung an Paulus Bisher sind in unserem Versuch, „Treppenhäuser“ zwischen dem „dogmatischen“ Erdgeschoß und dem „ethischen“ oberen Stockwerk des „Hauses“ Epheserbrief aufzuzeigen, das zweite und der Anfang des dritten Kapitels nicht vorgekommen. Das wird sich nun ändern, wenn wir uns der Bedeutung des paulinischen Erbes für den Brief zuwenden. Wir tun dies unter dem Titel „Rückerinnerung“ und nehmen damit das Wort μνημονεύω aus 2,11 auf. Gerade angesichts des Versuchs, den Epheserbrief als „Traktat“ zu verstehen, der in Briefform nur eingekleidet sei, und gerade weil für das sogenannte „Thema“ des Epheserbriefes Kapitel 2 eine besondere Rolle spielt, ist es wichtig, den Kommunikationsprozeß festzuhalten, der sich in diesem Kapitel abspielt: Der Verfasser „erinnert“ seine Adressaten an ihre eigenen Erfahrungen. 3.1 Für eine dogmatisch-ekklesiologische wie für eine dogmatisch-heilsgeschichtliche Interpretation des Epheserbriefs spielt der Abschnitt 2,11–22 eine große Rolle. Um dieses Bild zu korrigieren, möchte ich mit 3,1–13 einsetzen. Dieser Abschnitt über den paulinischen Apostolat ist mit dem vorangehenden eng verbunden. τούτου χάριν (3,1) läßt sich leider nicht mehr sicher beziehen, da der Satz ein Anakoluth ist. Die Wiederaufnahme in V 15 macht aber wahrscheinlich, daß der Verfasser an 2,11–22 denkt, denn er spricht jetzt von der 44 Vgl.

3,1.3.6.12. gut Koshi Usami, Somatic Comprehension of Unity: The Church in Ephesus, AnBib 101, Roma 1983, 150: „Prayer, the indispensable ,modus’ of transmitting the mystery of God“. 45 Sehr

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Heimat für die, die vorher Fremde und Gäste waren (vgl. 2,12–19). Τούτου χάριν ist dann nicht einfach „floskelhaft“46, sondern markiert den Zusammenhang der beiden Abschnitte 2,11–22 und 3,1–13. Daß er ausgesprochen eng ist, zeigen die vielen Stichworte aus 2,11–22, die in 3,1–13 wieder erscheinen.47 Vor allem aber zeigt sich das darin, daß der Verfasser den Inhalt des Mysterions, das früher verborgen und jetzt offenbar geworden ist, nicht, wie das traditionelle Revelationsschema und der Kolosserbrief, christologisch faßt, sondern auf das Hinzukommen der Heiden durch die Verkündigung des Evangeliums bezieht (3,6). Damit wird zusammengefaßt, worum es in 2,11–22 ging. Es ist von da her zu fragen, ob das merkwürdige καθὼς προέγραψα ἐν ὀλίγῳ, πρὸς ὃ δύνασθε ἀναγινώσκοντες νοῆσαι τὴν σύνεσίν μου (3,3 b.4 a) nicht auf den unmittelbar zurückliegenden kurzen Abschnitt 2,11–22 zu beziehen ist, den die Empfänger gelesen haben und den sie jederzeit wieder lesen können.48 Dafür würde auch der Anfang von V 3 sprechen: Das μυστήριον, das Paulus κατ’ ἀποκάλυψιν zuteil geworden ist, läßt die Leser an die Damaskuserfahrung des Paulus bzw. an Gal 1,15 f denken. Dort aber bestand die Offenbarung an Paulus darin, daß er unter den Heiden das Evangelium verkünden solle, also darin, was auch unser Verfasser in V 6 sagen und V 8 wiederholen wird. Dort spielt er wieder auf eigene Aussagen des Paulus an, diesmal auf seinen zweiten Berufungstext 1 Kor 15,9 f. In V 7 und V 8 betont er also: Die Heidenmission ist der apostolische Dienst und die apostolische Gnade, die Paulus widerfahren ist. Meist liegt in den Auslegungen von Eph 3,1–13 das Hauptgewicht auf 3, 10, der kosmischen Predigt des Evangeliums an die himmlischen Mächte durch die Kirche. Schon eine einfache syntaktische Analyse des Kapitels ergibt, daß das nicht der Fall ist: Das Schwergewicht liegt auf der zweimal erwähnten Evangeliumsverkündigung an die Heiden. Die Mächte tauchen in V 10 so überraschend auf und verschwinden wieder, wie an anderen Stellen des Briefs.49 Eine kohärente weltanschauliche Sicht der Mächte ergibt sich überdies aus dem Epheserbrief nicht.50 Die nächste Parallele zu V 10 ist die Verbindung von ἐκηρύχθη 46 Ernst,

Briefe, (o. Anm. 1), 327.  Ἔθνη, ἀπόστολοι καὶ προφῆται, πνεῦμα, ἐπαγγελία, εὐαγγελίζεσθαι, ἔχομεν  … τὴν προσαγωγήν. 48 Ἐν ὀλίγῳ meint hier „auf kurzem Raum“, und nicht „in (= vor) kurzer Zeit“, vgl. Thomas K. Abbott, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Ephesians and to the Colossians ICC, Edinburgh 1897, 80. Dennoch bezieht sich das Sätzchen auf 2,11–22 zurück, denn der Inhalt des zu Lesenden ist das μυστήριον, das Paulus in V 6 als „Einleibung der Heiden“ inhaltlich expliziert. 49 Vgl. 1,21; 2,2; nur in 6,12 haben die Mächte eine tragende Bedeutung. 50 Weltanschaulich ist unklar, a) ob die Mächte Christus bereits unterworfen sind (1,21; 3,10?) oder nicht (6,12; 2,2?), b) ob sie sich in allen himmlischen Regionen (l,20 f; 3,10; 6,12) oder nur in der unteren Luft (2,2?) aufhalten. Die Formulierungen übernimmt der Vf. aus Kol; nur dort, wo er von der bleibenden Bedrohung der Mächte spricht, tauchen selbständige Formulierungen auf, die etwas deutlicher werden lassen, woran er denkt (6,12: κοσμοκράτορες τοῦ σκότους = Planeten). In 6,11–17 formuliert er selbständig in apokalyptischer Denkweise 47

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ἐν ἔθνεσιν und ὤφθη ἀγγέλοις im Bekenntnis 1 Tim 3,16. Jedenfalls geht es in V 10 nicht um eine grundsätzliche Aussage über die kosmische Dimension der Kirche, sondern der Verfasser deutet lediglich die kosmische Dimension der paulinischen Evangeliumsverkündigung an die Heiden in einem Zwischengedanken an. Mit V 12 ist er wieder bei der Hauptsache angelangt und knüpft nochmals an 2,11–22 an.51 Was heißt das für das Verständnis von 2,11–22? Beim Hinzukommen der Heiden zum einen Leib des Friedensfürsten Christus, an das der Verfasser seine Leser erinnert, denkt er an nichts anderes als an die apostolische Wirksamkeit des Paulus. Durch die Paulus widerfahrene Gnade ist die Mauer der Feindschaft zwischen den Juden und den Heiden, die im Gesetz der Vorschriften bestand, niedergerissen worden. Das Lebenswerk des Paulus ist in der Sicht des Verfassers die Einheit, der Friede zwischen Juden und Heiden. Eph 2,11–22 ist gleichsam eine kirchengeschichtliche und theologische Bilanz der οἰκονομία, die Paulus von Gott geschenkt worden ist: Seine Verkündigung hat den Frieden zwischen Juden und Heiden in der Kirche ermöglicht. Wenn man etwa daran denkt, wie Paulus um die Kollekte gerungen hat, wie er, der nie vom ganzen Judenchristentum Akzeptierte, um die Einheit von Juden‑ und Heidenchristen gerungen hat, und wenn man daran denkt, daß er eben um der Einheit der Kirche aus Juden‑ und Heidenchristen willen nach Jerusalem und nicht direkt nach Rom gefahren ist, deswegen Gefangener wurde und letztlich deswegen auch hingerichtet wurde, so wird man dieser Rückschau ein tiefes Recht zubilligen. Sogar der Hinweis auf die Gefangenschaft des Paulus (3,1) mag dann mehr sein als ein bloßer Topos. Sich „des Werkes des Paulus … zu erinnern, heißt“ dann wirklich, „sich der Einheit der ökumenischen Kirche verpflichtet zu fühlen“52 und umgekehrt. So wird auch verständlich, warum in der Sicht des Epheserbriefs Paulus zu einem besonderen und unvertretbaren Instrument von Gottes Gnade wurde.53 Eph 2,11–22 formuliert christologisch, was Christus durch Paulus an den Heiden gewirkt hat. und aufgrund eines traditionellen paränetischen Topos. In 1,20 f und 3,10 dagegen schließt er sich an vorgegebene kerygmatische Traditionen (Phil 2,9–11, vgl. 1 Kor 15,26–28, resp. 1 Tim 3,16) an. 51 Durch Christus ἔχομεν τὴν προσαγωγήν 3,12 = 2,18. 52 Joachim Gnilka, Das Paulusbild im Kolosser‑ und Epheserbrief, in: Müller / ​Stenger (Hg.), Kontinuität und Einheit (o. Anm. 7), 193. 53 Andreas Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, BHTh 58, Tübingen 1979, 41 f sieht im Eph einen Vertreter des durchschnittlichen positiven Paulusbildes der nachapostolischen Zeit. Demgegenüber sieht Fischer, Tendenz (o. Anm. 7), 108 richtig in der Verbindung von Berufung des Paulus und Offenbarung des Mysteriums der Kirche einen originären Zug. Μ. E. übersieht Lindemann die Bedeutung der Tatsache, daß der Vf. den paulinischen Gemeinden Kleinasiens einen Paulusbrief schreibt, weil er den Eph für einen nur akzidentell in Gestalt eines Paulusbriefes eingekleideten theologischen Traktat hält. Helmut Merklein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, StANT 33, München 1973 ordnet das Paulusbild dem Traditionsverständnis unter: Paulus ist „authentischer Ausgangspunkt und Garant der

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So wird der Zusammenhang von Kap 2,11–22 und Kap 3,1–13 deutlich, den der Verfasser durch so viele Stichworte herausgestellt hat. Für die damaligen Leser und Hörer des Briefes war er wohl von vornherein deutlich. Denn sie waren ja „paulinische“ Heidenchristen. Wenn der Verfasser sie an ihre eigene Vergangenheit „erinnerte“, erinnerte er sie selbstverständlich an Paulus. Nur am Rande sei bemerkt, daß gerade Eph 2,(1–10)11–3,12 in einer Weise voller paulinischer Theologoumena und Ausdrücke sind, daß die Hörer und Leser sich auf Schritt und Tritt an Paulus erinnert fühlen mußten. Während in Kap 1 im Gebet eher allgemeinchristliche Sprache dominiert, sind es in Kap 2 und 3 eher die spezifisch paulinischen Reminiszenzen. Zum Teil sind sie nur als Anspielungen an besondere Briefstellen verständlich, die der Verfasser – und vielleicht auch die Leser – in Erinnerung gehabt haben muß. Ich gebe eine knappe Liste: sola gratia (2,5) keine Werke und kein Ruhm (2,9) διά πίστεως (2,8) Christen als neue Schöpfung (2,10.15) Bundesschlüsse der Verheißung für Israel (2,12, vgl. Röm 9,454) Gesetz als Scheidewand zwischen Juden und Heiden (2,14, vgl. Gal 2,11–1455 der eine neue Mensch (2,15, vgl. Gal 3,28) die Einheit des Leibes Christi (2,16, vgl. 1 Kor 12,13) Versöhnung in Verbindung mit προσαγωγή (2,16–18, vgl. Röm 5,2.10) die Kirche als Bau und Tempel (2,20–22; vgl. 1 Kor 3,9–12.16)56 die mir gegebene Gnade Gottes (3,2.7 f, vgl. 1 Kor 3,10 u. ö.) die ἀποκάλυψις vor Damaskus (3,3.6, vgl. Gal 1,16 f) Paulus als ἐλάχιστος πάντων (3,8, vgl. 1 Kor 15,9) Paulus als διάκονος (3,7, vgl. Röm 5,8 u. ö.)

Tradition“ (342). Mir scheint dieser Gesichtspunkt in den Brief eingetragen: Pls ist eher entscheidendes Werkzeug Christi bei der Berufung der Heiden. Natürlich ist seine Theologie für den Vf. Ausgangspunkt und Autorität seines eigenen Schreibens. Aber sie ist nicht Tradition, die man überliefern, bewahren und garantieren muß, sondern lebendiger Ausgangspunkt des eigenen Nachdenkens des Vf. Eine Tradition neben Paulus, deren „Garant“ Paulus wäre, gibt es für den Eph nicht. 54 Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 109 rechnet mit einem Anklang an Röm 9,4. 55 Vgl. Mußner, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 77. 56 Es gibt sehr viele wörtliche Anklänge: θεμέλιος, οἰκοδομή, ἐποικοδομέω, χάρις τοῦ θεοῦ ἡ δοθεῖσά μοι (Eph 3,2!), ναός, πνεῦμα, οἰκέω / ​κατοικητήριον. Die Verwendung der Begriffe ist inhaltlich z. T. anders als im 1 Kor, aber das entspricht im Ganzen dem Verfahren des Eph mit dem Kol, der ihm als Quelle literarisch vorlag. Neben dem Römerbrief (Kap. 12!) gehört m. E. auch der 1. Korintherbrief zu denjenigen Paulustexten, die der Vf. einmal gelesen haben könnte, vgl. neben 15,9 = Eph 3,8 auch 4,12 = Eph 4,28.

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Dazu kommen die von den Lesern auch als paulinisch gehörten Anspielungen auf den Kolosserbrief.57 Deutlich ist also, daß Eph 2 f für die Leser nicht nur eine Erinnerung an die οἰκονομία des Paulus ist, der sie ihr eigenes Christsein verdanken, sondern daß diese Erinnerung auch inhaltlich von Anstößen aus paulinischem Denken durchtränkt ist.58 Μ. E. ist der Epheserbrief nicht nur in 2,1–3,13, sondern auch im Ganzen eine bewußte Rückerinnerung an Paulus. Das wird gerade in der Paränese deutlich. Fazit: Wir verstanden Eph 2,11–3,13 als eine Rückerinnerung der Leser an das apostolische Werk des Paulus, dem sie ihren Glauben verdanken. Der Brief entpuppt sich einmal mehr nicht als theoretische Abhandlung. Vielmehr bewegt er sich vom Lobpreis und der Fürbitte über die dankbare Erinnerung zurück zur Fürbitte und zum Lobpreis. Die Leser sind immer „in“ diesem Brief. Sie sind beteiligt: als Betende und Dankende. Die Nähe zum Kolosserbrief und die Reminiszenzen an andere Paulinen verstärken diesen Eindruck der Rückerinnerung. 3.2 Wir wenden uns nun wieder der Paränese zu und betrachten wieder die Grundlegung 4,1–16: Hier fallen zunächst die Berührungen zu 2,11–22 auf: Der Verfasser leitet unter Rückgriff auf Kol 3,12–14 seine Paränese in 4,1 f ein. Dann nimmt er in 4,2 f sofort wichtige Anliegen von 2,11–22 auf: „Die Einheit des Geistes zu bewahren“, heißt im Lichte von Kap. 2: den Zugang zum Vater „in einem Geist“ zu bewahren, den Christus geschaffen hat (2,18). „Ein Leib“ und „Frieden“ sind in beiden Abschnitten entscheidende Stichworte (2,14–17; 4,3 f). Auch ἐλπίς und πατήρ sind aus 2,12.18 bekannt. Ähnlich ist auch das Ziel beider Abschnitte formuliert, nur daß in 2,19–22 vom Werk Gottes und in 4,11–16 vom menschlichen Sich-Einfügen in dieses Werk die Rede ist: Es geht darum, in der Kirche, der Gott „Apostel und Propheten“ (2,20; 4,11) gegeben hat, zu „wachsen“ (2,21; 4,15 f), als „Leib“ und „Bau“ „zusammengefügt“ (2,21; 4,16). Die letzten beiden Stichworte trägt der Verfasser über Kol 2,19 hinaus aus Eph 2,21 in 4,16 ein. Der Eindruck ist deutlich: Wenn es in 2,11–22 um die Einheit der Kirche geht, die Christus durch den Apostolat des Paulus zwischen Juden und Heiden gestiftet hat, so geht es in der Paränese darum, diese gestiftete Einheit im alltäglichen Zusammenleben in der Kirche zu bewahren und ihr ent57 Μ. E. hat der Verfasser den Kol für einen echten Paulusbrief gehalten. Jedenfalls setzt er voraus, daß seine Leser dies tun, sofern sie den Kol kannten. Damit muß man aber zur Zeit der Abfassung des Eph rechnen: Schon Kol ordnet den Austausch des Briefes an (4,13); gegen Ende des ersten Jahrhunderts sind Kleincorpora paulinischer Briefe in verschiedenen Gemeinden vermutbar. Wenn der Vf. aber damit rechnen mußte, daß seine Leser den Kol kennen könnten, so mußte er davon ausgehen, daß sie ihn selbstverständlich als Pls.brief akzeptierten. Oder sollte man annehmen, daß nur er selbst den Kol als pseudopaulinisch durchschaute? Eine realistische Gegenposition wäre m. E. nur die Annahme, daß Kol ein Pseudepigraph ist, das etwa gleichzeitig mit dem Eph (im selben Strang der Pls.schule?) entstand und darum den Lesern noch gar nicht bekannt sein konnte. Aber warum dann die literarische Abhängigkeit? 58 Rezeptionsästhetisch gilt dabei, daß der Vf. auch bei seinen Lesern das Vertrautsein mit paulinischem Denken und evtl. paulinischen Briefen voraussetzt, weil sie sonst sein bewußtes „Paulinisieren“ gar nicht hätten erkennen können.

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sprechend Kirche zu sein.59 So soll die Gemeinde den einheitstiftenden Auftrag des Apostels Paulus weiterführen. Die Beziehung zu Paulus wird in der Grundlegung der Paränese des Epheserbriefs noch in anderer Weise deutlich: In der ganzen Paränese des Briefes, insbesondere aber in 4,1–16, fallen die Berührungen zu Röm 12 auf. Sie sind einzeln nicht als literarisch zu erweisen, geben aber durch ihre Fülle ein eindrückliches Bild. Mit keinem anderen Paulustext gibt es im Epheserbrief auf so knappem Raum eine solche Fülle von Berührungen wie mit Röm 1260: Eph 4,1 / ​Röm 12,1 (παρακαλῶ οὖν ὑμᾶς) Eph 4,4 /Röm 12,4 f (ἓν σῶμα) Eph 4,7 / ​Röm 12,3 (χάρις, δίδωμι, ἕκαστος) Eph 4,11 f / ​Röm 12,6 f (Propheten, Lehrer, Diakonie) Eph 4,12 f.16 / ​Röm 12,3 f (μέτρον, σῶμα) Eph 4,23 / ​Röm 12,2 (ἀνανεοῦσθαι τοῦ νοός) Eph 4,28 / ​Röm 12,8.14 (μεταδιδόναι, χρεία) Eph 5,17 / ​Röm 12,2 (τί τὸ θέλημα τοῦ …) Eph 4,25 / ​Röm 12,5 (ἀλλήλων μέλη) Eph 5,11 / ​Röm 12,2 (δοκιμάζειν τί εὐάρεστον) Dazu kommt die sachliche Nähe von Eph 4,22; 5.7–12.16 zu Röm 13,11–14. Ich komme nicht um die Annahme herum, daß der Verfasser des Epheserbriefs sich an Röm 12 genau erinnert hat, wenn er nicht sogar den Text vor sich liegen hatte.61 Die Übereinstimmungen sind nicht peripher und betreffen nicht nur einzelne Worte.62 Vielmehr kann man sagen, daß die Grundkonzeption der Paränese des Epheserbriefs aus dem Römerbrief stammt. Wie Paulus im Römerbrief, so ordnet auch der Verfasser des Epheserbriefs seine Paränese grundsätzlich dem Leib Christi zu. Wie für Paulus im Römerbrief, so ist auch für den Verfasser des Epheserbriefs die Liebe die Leitlinie des Handelns im Leib Christi: Paulus drückt 59 Das heisst also: 4,1–16 ist die paränetische Aktualisierung von 2,11–22. Man darf m. E. aus der „Erinnerung“ 2,11–22 nicht direkt aktualisierend auf die Situation der Gemeinde schließen, wie dies etwa Fischer, Tendenz (o. Anm. 7), 86–94 tut (der Eph will das im dominierenden Heidenchristentum gefährdete Recht der Judenchristen auf eine eigene κλῆσις bewahren helfen); vgl. die zu Recht zurückhaltenden Bemerkungen von Schnackenburg, Christus, Geist und Gemeinde (o. Anm. 3), 487–490. 60 Die Berührungen zu Röm 12 sind viel enger als die oft hervorgehobenen zu 1 Kor 12. 61 Vgl. auch 4,17–19 mit Röm 1,18ff, bes. 21; zum 1 Kor oben Anm. 56. 62 Die Folgen für die Deutung von Eph 4,7.11 können hier nur angedeutet werden: Die Orientierung am Röm gibt ein zusätzliches Argument dafür, daß V 11 von V 7 her gedeutet werden muß und nicht umgekehrt. Es geht um die χάρις, die jedem Gemeindeglied gegeben ist, nicht um die χάρις der Amtsträger. Auch in V 11 geht es m. E. nicht primär um Amtsträger, sondern um die dem Vf. besonders wichtigen Verkündigungs‑ und Leitungsfunktionen der Kirche. Das ergibt sich m. E. klar daraus, daß „Evangelisten“ und „Hirten“ Funktions‑ und nicht Amtsbezeichnungen sind.

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das aus, indem er seine Einzelermahnungen durch die Liebe rahmt (Röm 12,9; 13,8–10). Der Verfasser des Epheserbriefs tut das noch deutlicher durch die Wendung ἐν ἀγάπῃ am Anfang und gegen den Schluß seiner ethischen Grundlegung (4,2.15 f, vgl. 5,2). Ich denke also, daß der Verfasser wesentliche Gedanken seiner eigenen Grundlegung der Ethik dem Römerbrief verdankte, auch wenn er diesen Ansatz von der Gebetsakklamation her vertiefte, besonders in 4,12–14 selbständig akzentuierte und vor allem auf die gesamte Kirche bezog. Also: Mithilfe eines paulinischen ethischen Ansatzes will der Verfasser seinen Lesern helfen, dem Werk Christi durch Paulus, der Einheit der Kirche, zu entsprechen. Aus Raumgründen beschränkten wir uns auf den ersten, grundlegenden Abschnitt der Paränese unseres Briefs. Daß auch im Fortgang der Paränese die Rückerinnerung an Paulus grundlegend wichtig bleibt, zeigt sich m. E. vor allem an der sorgfältigen, m. E. eindeutig literarischen Rezeption der Paränese des Kolosserbriefs. Die Ethik des Epheserbriefs ist Rückerinnerung und Neuinterpretation der Ethik des Kolosserbriefs, der der Verfasser in gleicher Reihenfolge folgt und die er ausweitet. Warum der Verfasser ausgerechnet Kol 3,4–4,6 als ethischen Grundtext des Paulus seiner eigenen Interpretation des christlichen Lebens zugrunde legt, können wir nur noch vermuten: Mir scheint, daß nicht so sehr mögliche äußere Gründe, z. B. die oft vermutete geographische Nähe des Verfassers zum Kolosserbrief, eine Rolle spielten. Viel wichtiger scheint mir, daß kaum ein paränetischer Teil eines anderen Paulusbriefes sich so leicht verallgemeinern ließ wie die Paränese des Kolosserbriefs63 und daß zugleich diese Paränese so leicht wie kein anderer paulinischer Text dem Verfasser erlaubte, sein eigenes Anliegen, nämlich die Abgrenzung gegenüber dem heidnischen Lebenswandel,64 zu akzentuieren, denn auch die Mahnungen des Kolosserbriefs sind an der Taufparänese orientiert. Wir versuchen ein Fazit: Auch die Paränese des Epheserbriefs steht unter dem Vorzeichen der Rückerinnerung an Paulus. Seine Ethik entspricht in ihrer kirchlichen Grundausrichtung und in der Zentralität der Liebe dem paulinischen Apostolat für die Einheit der Kirche. So ist die Rückerinnerung an Paulus eine zweite Linie, die sich durch den ganzen Brief durchzieht.

IV. Ausblicke Weitere Treppenhäuser durch beide „Stockwerke“ des Epheserbriefs, die die Paränese ins Briefganze integrieren, können hier aus Raummangel nur noch angedeutet werden. Wichtig sind mir vor allem noch zwei: 63 Der Verfasser brauchte eine allgemeine Paränese für sein Rundschreiben; aus demselben Grund unterdrückte er die situationsbezogenen Teile vor allem aus Kol 2. 64 Vgl. dazu Merklein, Eph 4,1 – 5,20 (o. Anm. 7).

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese

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4.1 H. Merklein hat in einem sehr hilfreichen Aufsatz65 den Transformationsgrundsatz der Rezeption von Kol 3,1–17 in Eph 4,17–5,20 beschrieben: Es ist die Antithese „heidnisch – christlich“, die an die Stelle der Antithese „oben – unten“ von Kol 3,1–4 tritt. Zu Recht weist er im Zusammenhang damit auf Kapitel 2, wo dieser Transformationsgrundsatz im „dogmatischen“ Briefteil vorbereitet werde, und spricht von einer „einheitlichen Pragmatik“ des ganzen Briefs.66 Ich kann seine Ergebnisse hier nur unterstreichen: Formal erinnert der Verfasser zu Beginn in 4,18 an 2,12. Inhaltlich nimmt er vor allem in 4,17–24 Momente der traditionellen Heidenpolemik des Judentums, vielleicht interpretiert von Röm 1,18ff her,67 auf. Noch wichtiger als 2,11–22 ist aber 2,1–10: Hier hatte der Verfasser die ethische Wende angedeutet, die für die Adressaten in der Taufe grundgelegt worden ist: die Wende vom „Wandel“ in „Begierden“ unter der Herrschaft des verfinsterten „Sinns“ (2,3, vgl. 4,18.22) zum Leben als neue Schöpfung (2,10, vgl. 4,24) in guten Werken. Die Taufsituation, die sowohl in 2,5 f als auch in 4,24.30; 5,8–10.14 hinter den Texten durchschimmert, schafft eine zusätzliche Verklammerung. 5,6 „transformiert“ die Abwehr der kolossischen Irrlehre, mit der es der Verfasser in seinen Gemeinden offensichtlich nicht mehr zu tun hat, in eine Abwehr der „leeren Worte“ der Heiden, der Söhne der ἀπείθεια. Mit ihnen sollen die Christen jede Gemeinschaft vermeiden. Dem würde entsprechen, daß auch in Eph 4,13 f nicht eine konkrete christliche Irrlehre sichtbar wird, die der Verfasser abwehrt. Seine Antwort auf die Anfechtung durch „jeden Wind der Lehre im Würfelspiel der Menschen“ ist ebenfalls eine praktische: „wahrhaftig sein in der Liebe“ (4,13 f). Als Hintergrund dieser Transformation würde ich die allgemeine Situation christlicher Gemeinden in heidnischer Umgebung gegen das Ende des ersten Jahrhunderts sehen.68 Es geht um das Grundproblem christlicher Gemeinden der zweiten Generation, die im Laufe ihrer Geschichte sich ihrer Isoliertheit in der Gesellschaft bewußt werden und auf die zunehmenden Anfeindungen ihrerseits mit Schwarzmalerei der Welt, verstärkten In-group-Beziehungen und verstärkter 65 Ebd.

(o. Anm. 7).  Ebd. 210. 67 Vgl. Fischer, Tendenz (o. Anm. 7), 14. 68 Merklein, Eph 4,1–5,20 (o. Anm. 7). 208–210 hat versucht, eine Verbindung zwischendem schwindenden Bewusstsein für die heilsgeschichtliche Verankerung der heidenchristlichen Gemeinde in Israel und der Gefahr des Rückfalls in den heidnischen Lebenswandel zu sehen. Der Verfasser warne vor einer späten Konsequenz des paulinischen gesetzesfreien Evangeliums. Ich neige zur Vorsicht: In Eph 4,1–16 wird gerade nicht paränetisch auf die Einheit von Juden und Heiden abgehoben. Vielmehr wird die ethische Konsequenz aus der von Paulus gestifteten Einheit der Kirche in 4,1–16 gleichsam verallgemeinert. In 4,18 wird die „Entfremdung“ der Heiden (2,12) ebenfalls verallgemeinert; es ist eine solche vom „Leben Gottes“. Der „neue Mensch“ von 2,15 wird in 4,24 individualisiert. So neige ich dazu, die Mahnung zur Abkehr vom heidnischen Leben unabhängig von der Gemeinschaft mit Israel zu interpretieren. Die „heilsgeschichtliche“ Dimension ist m. E. nur in der Erinnerung an das Werk des Paulus 2,11–3,13 konstitutiv, nicht aber im ganzen Brief. 66

546

V. Studien zum Corpus Paulinum

Abschließung, aber auch mit Apologie durch Taten und Worte reagieren. Als Beispiel für die Wendung nach innen und die Stärkung des innerkirchlichen Bewußtseins und Zusammenhangs in dieser Situation kann der Epheserbrief gelten, während etwa der erste Petrusbrief in ähnlicher Situation stärker mit der Apologie nach außen durch Taten reagiert69. In diesem Zusammenhang ist das Fehlen fast aller Richtlinien über das Verhältnis zum Staat oder zur Gesellschaft wichtig – eine negative Kehrseite der innerkirchlichen Orientierung der Paränese des Briefs.70 4.2 Zu den „Treppenhäusern“, die den ganzen Brief Zusammenhalten, gehören schließlich auch die zahlreichen Verankerungen der Paränese im Handeln des erhöhten Christus. Sie sind über den ganzen Brief verstreut. Auf die Rückkehr der Einheitsparänese von 4,1–6 in die „geschenkte“ Einheit Christi und Gottes haben wir schon aufmerksam gemacht. Dieselbe Rückkehr findet am Schluß der Grundlegung der Ethik in 4,16 statt: Liebe und Wahrheit in der Kirche sind nichts anderes als die Aktivität und die ἐνέργεια des Hauptes, Christus, der selber das Wachstum seines Leibes und seine eigene Auferbauung bewirkt (4,16). In der folgenden Paränese entsprechen den Rückverweisen auf die Taufe auf der Erfahrungsebene des Menschen die christologischen Rückbezüge auf der Ebene des Handelns Gottes (5,2.23.25 f.29). Fast immer sind solche Rückbezüge zugleich literarische Rückbezüge auf den ersten Briefteil. Eine Schlüsselstellung hat in diesem Zusammenhang der titelartige Eingangssatz im letzten Abschnitt der Paränese 6,10: „Fortan71 laßt euch kräftig machen im Herrn und in seiner gewaltigen Macht.“ Die Paränese führt also zum Gedanken der die Kirche erfüllenden Macht Christi und Gottes zurück (Kol 1,11; vgl. Eph 1,19; 3,16 und den Gedanken des „Erfüllens“ 1,23). Nach τῷ κράτει τῆς ἰσχύος αὐτοῦ ist dann die πανοπλία θεοῦ m. Ε. eindeutig als Genetivus auctoris zu verstehen, übrigens in Übereinstimmung mit dem biblischen Text Jes 59,17, auf den der Verfasser hier doch wohl bewußt zurückgreift.72 Dann liegt die Pointe unseres Textes gerade darin, daß die Gläubigen der eigenen Waffenrüstung Gottes ihre Kraft verdanken, „damit ihr in der bösen Zeit widerstehen könnt und, nachdem ihr alles bewirkt habt, bestehen“ (6,13). Der Abschnitt 6,10–17 nimmt denn auch mit ἀλήθεια und δικαιοσύνη deutlich die Zentralworte der Briefparänese auf (4,24!) und bindet so die Paränese an Gottes eigene Macht und an Gottes eigenes Handeln zurück. 69 Vgl. Peter Lampe / ​Ulrich Luz, Nachpaulinisches Christentum und pagane Gesellschaft, in: Jürgen Becker (Hg.), Die Anfänge des Christentums, Stuttgart 1987, bes. 196–203. 70 Vgl. Schnackenburg, Brief an die Epheser (o. Anm. 1), 197. 71 Im Unterschied zu λοιπόν (= übrigens) ist τοῦ λοιποῦ (sc. χρόνου) betont und leitet eine wichtige Aussage ein (gegen Schnackenburg, Brief an die Epheser [s. Anm. 1] 274). 72 Von allen Waffenrüstungstexten im Corpus Paulinum zeigt unser Text quantitativ die Berührung mit der größten Zahl alttestamentlicher Texte und qualitativ die deutlichsten Reminiszenzen an Jes 59,17. Auch im Vergleich zu Sap 5,17–21 und zu 1 QM ist unser Text ausgesprochen „bibelorientiert“.

Nachweis der Erstveröffentlichungen   2. Jesus from a Western Perspective. State of Research. Methodology. In: Christos Karakolis / ​Karl-Wilhelm Niebuhr / ​Sviatoslav Rogalsky (ed.), Gospel Images of Jesus Christ in Church Tradition and Biblical Scholarship, WUNT 288, Tübingen 2012, 41–64.

  3. Die Interpretationstendenzen des Matthäus und der historische Jesus. Unveröffentlicht. Vorformen dieses Aufsatzes: Ulrich Luz, Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium. Das Problem der narrativen Fiktionen, EvTh 69 (2009), 194–208; Ders., Matthew’s Interpretative ‘Tendencies’ and the ‘Historical’ Jesus, in: James H. Charlesworth / ​Petr Pokorný (ed.), Jesus Research. New Methodologies and Perceptions, Minneapolis / ​Cambridge 2014, 577–599.

  4. Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte. In: Petra von Gemünden / ​David Horell / ​Max Küchler (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS G. Theißen), NTOA 93, Göttingen 2013, 162–184.

  5. The Use of Jesus-Traditions in the Pauline and Post-Pauline Letters. Unveröffentlicht. Vortrag in Prag April 2009.

  6. Jesus im Vergleich mit japanischen Religionsstiftern. Deutschsprachige Erstveröffentlichung. In englischer Sprache erschienen unter dem Titel “Founding Religions: Comparing Jesus and Japanese ‘New Religions’” in: James H. Charlesworth / ​Petr Pokorný (ed.), Jesus Research: An International Perspective, Grand Rapids / ​Cambridge 2009, 230–254.

  7. Warum zog Jesus nach Jerusalem? In: Jens Schröter / ​Ralph Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002, 409–427.

  8. Der unbequeme Jesus. Nochmals: Warum zog Jesus nach Jerusalem? Unveröffentlicht. Vortrag in Hamburg November 2013.

10. Ein Q-Text. Unveröffentlicht.

11. Matthäus und Q. In: Rudolf Hoppe / ​Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus (FS Paul Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 201–215.

548

Nachweis der Erstveröffentlichungen

12. Ein Rückblick auf die Logienquelle von Matthäus her. Deutschsprachige Erstveröffentlichung. In französischer Sprache erschienen unter dem Titel “Le regard de Matthieu sur la source Q” in: Andreas Dettwiler / ​Daniel Marguerat (éd.), La source des paroles de Jésus, MoBi 62, Genève 2008, 255–272; englischsprachige Veröffentlichung unter dem Titel “Looking at Q through the Eyes of Matthew”, in: Paul Foster u. a. (ed.), New Studies in the Synoptic Problem (FS C. Tuckett), BEThL 239, Leuven 2011, 571–590.

14. Die Wundergeschichten von Mt 8–9. In: Gerald F. Hawthorne / ​Otto Betz (ed.), Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E. E. Ellis), Grand Rapid / ​Tübingen 1987, 149–165; englische Fassung unter dem Titel: “The Miracle Stories of Matthew 8–9”, in: Ulrich Luz, Studies in Matthew, transl. by Rosemary Selle, Grand Rapids 2005, 221–240.

15. Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie, oder: Exegetische Prolegomena zu einer dynamischen Ekklesiologie. In: Karl Kertelge / ​Traugott Holtz / ​Claus-Peter März (Hg.), Christus bezeugen (FS W. Trilling), Leipzig 1989, 84–101; englische Fassung unter dem Titel: “Discipleship: A Matthean Manifesto for a Dynamic Ecclesiology”, in: Luz, Studies in Matthew, 143–164.

16. Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie. In: Cilliers Breytenbach / ​Henning Paulsen (Hg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 221–235; englische Fassung unter dem Titel: “Matthean Christology Outlined in Theses”, in: Luz, Studies in Matthew, 83–96.

17. Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. In: EvTh 53 (1993), 310–328. Italienische Fassung unter dem Titel “L’antigiudaismo nel vangelo di Matteo come problema storica e teologico”, Gregorianum 74 (1993) 425–445; französische Fassung unter dem Titel “Le problème historique et théologi­ que de l’antijudaisme dans l’évangile de Matthieu”, in: Daniel ­Marguerat (Hg.), Le déchirement. Juifs et chrétiens au premier siècle, MoBi 32, Genève 1996, 127–150; englische Fassung unter dem Titel: “Anti-Judaism in the Gospel of Matthew as a Historical and Theological Problem: An Outline”, in: Luz, Studies in Matthew, 243–261.

18. Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium. In: Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur, ZNW 84 (1993), 153–177; englische Fassung unter dem Titel: “Fictionality and Loyality to Tradition in Matthew’s Gospel in the Light of Greek Literature”, in: Luz, Studies in Matthew, 54–79.

19. Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesus­ geschichte? In: Stephen Chapman / ​Christine Helmer / ​Christoph Landmesser (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, BThSt 44, Neukirchen 2001, 53–76; englische Fassung unter dem Titel: “The Gospel of Matthew: A New Story of Jesus or a Rewritten One?”, in: Luz, Studies in Matthew, 18–36.

Nachweis der Erstveröffentlichungen

549

20. Intertexts in the Gospel of Matthew. In: HThR 97 (2004) 119–137.

21. Die Bedeutung der matthäischen Passionsgeschichte in Westeuropa.

Deutschsprachige Erstveröffentlichung. Vorstufen dieses Aufsatzes in japanischer Sprache in: Ulrich Luz, Matai no Iesu, hg. von der Theologischen Fakultät der Kwansai Gakuin Universität, Kirisutokyodan Syuppankyoku 93, Tokyo 2005, dort 49–69; in ungarischer Sprache in: Református Szemle Nr. 1 (2005), 3–12.

22. Matthäus und das Judentum seiner Zeit.

Unveröffentlicht. Vortrag in Rom Januar 2015. Ein elektronischer Graudruck der Vortragsfassung in italienischer Sprache erschien in der Übersetzung von F. Iodice in: Pontifical Biblical Institute (ed.), Vangeli Sinottici: Matteo e Marco, Roma 2015, 179–192.

23. Die neue Jesus-Christus-Geschichte des Matthäus. Matthäus und Markus.

Unveröffentlicht. Vortrag in Rom Januar 2015. Elektronischer Graudruck der Vortragsfassung in italienischer Sprache in: Pontifical Biblical Institute a. a. O., 194–206.

25. Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition.

In: Georg Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie (FS. H. Conzelmann), Tübingen 1975, 347–374.

26. Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17). Ein Gespräch mit Jean Zumstein.

Unter etwas anderem Titel in: Andreas Dettwiler / ​Uta Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / ​Etudes sur Matthieu et Jean (FS Jean Zumstein), AThANT 97, Zürich 2009, 233–250.

28. Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunkeln Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsaussagen der Paulustradition. In: Magdalene L. Frettlöh / ​Hans P. Lichtenberger (Hg.), Gott wahr nehmen (FS C. Link), Neukirchen 2003, 257–276.

29. Paulus als Mystiker.

Deutschsprachige Erstveröffentlichung. In englischer Sprache erschienen unter dem Titel “Paul as Mystic”, in: Graham N. Stanton / ​Bruce W. Longenecker / ​ Stephen C. Barton (ed.), The Holy Spirit and Christian Origins (FS J. D. G. Dunn), Grand Rapids 2004, 131–143.

30. Paulus als Charismatiker und Mystiker.

In: Traugott Holtz, Exegetische und theologische Studien, Gesammelte Aufsätze II (hg. von Karl Wilhelm Niebuhr), Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 34, Leipzig 2010, 75–93.

31. Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development.

In: Josep M. Gavaldà Ribot / ​Andreu Munoz Melgar / ​Armand Puig i Tàrrech (ed.), Pau, Fructuos i el Cristianisme primitiu a Tarragona (Segles I–VIII).

550

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Actes del congrés de Tarragona 2008, Biblioteca Tàrraco d’Arquelogia, Tarragona 2010, 27–43.

32. Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese. In: Helmut Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik (FS R. Schnacken­burg), Freiburg u. a. 1989, 376–396.

Stellenregister (Auswahl)* 1. Altes Testament Genesis 2,4 325 5,1 325 17,3.17 376 18 63 46,1–4 357

42,1–4 401 59,17 546 Ezechiel 37,12 f

340

Hosea 6,6 384 11,1 340

Exodus 358 4,19 f 12 358 12,30 f 357 23,20 397

Micha 5,1 71

Numeri 24,17 340

Sacharja 14,4 f

Deuteronomium

Psalmen 22 279, 376 41,6.12 LXX 376 376 42,5 LXX 110 271

325 f

Richter 13 63 1 Samuel 1 f

340

2 Samuel 5,2 71

Daniel 7,13 f 7,14 LXX 10,5 f

Jesaja 40,3 397

2 Chronik 26,23 358

63

273, 340, 358 307 334

* Die Register sind in deutscher Sprache abgefasst; in englischen Aufsätzen nach angelsächsischem Brauch zitierte Stellen werden stillschweigend „eingedeutscht“.

552

Stellenregister (Auswahl)

2. Apokryphen und Pseudepigraphen Ascensio Jesaiae 11,2–15 56

slav Henoch 71 60

Ass Mos 7 f

Sap Sal 2 378 2,5 277 2,18 279 7,27 f 500 11–13 522

296

4 Esra 513 3 522 Joseph und Aseneth 319 Jubiläen

Testamenta XII

384

Test Levi 4,1 286

326, 353

Ps Sal. 8 296

Vit Ad 1–17 319

3. Qumrantexte CDC 1,12–21 296

1QH 4,5–22 296

1QApGen (Genesis Apokryphon) 353

4QMMT 518 28–32 519

4. Rabbinische Literatur bHag 14 b–15 a

496

bSota 11 a–13 a

66

5. Jüdisch-hellenistische Literatur Josephus 66 Antiquitates 1,1–3 43 18,85–87 120 20,34–48 385 20,169–173 120

Bellum Judaicum 118 2,301 f 6,300–306 126 118 6,302 f

Stellenregister (Auswahl)

Philo Rer Div Her 264 f

553

320 Vita Mos I 8–31 66 1,96–146 322

384 495, 500

PsPhilo Antiquitates 353 9,1–8 66

Somn 1,119 503

6. Neues Testament Matthäusevangelium 1,1–4,16 239, 277, 282, 398 f 1,1 44, 69, 325, 328, 354, 392, 399 1,2–4,16 33, 329 1,2–17 44 37, 55 1,18–2,23 1,18–2,21 61 1,18–25 58, 61, 69, 270 1,18–22 62 1,18.20 59 1,18 62 1,23 375 1,23 a 70 2 340 57 2,1 ff 2,1–21 61 2,3–6 71 2,3 400 2,13–23 357 f 2,13–21 62 2,22 f 58, 71, 304 3,15–4,11 277 3,15 277 4,1–11 378 4,17–16,20 400 4,17–11,30 282 4,17 398 4,23–25 238 4,23 34, 337, 405 5–7 189 5,1 f 355 5,1 330 5,14–16 260 52 5,17 f 5,17 383

5,18 383 f 5,20 379 5.21 f.27 f. (33–37) 189 5,38 f 52 5,48 264, 379 6,2–18 189 6,8 376 6,9–14 379 6,25–33 255 298 7,26 f 7,28 f 355 8–9 216, 225–243, 307, 328 8,1–9,34 38 8,1 330 8,5–13 241 8,18–27 234 8,18 233 8,19 f 274 8,23–27 240 8,27 236 8,29 238 9,2–8 241, 352 9,6.8 240 9,18–34 229, 231 9,27–31 34, 225 9,27 271 9,30 f 231 9,32–34 34, 225, 329 231 9,33 f 9,35 34, 231, 405 9,36 232, 236 10 187, 245–261, 331 10,1.8 240 10,1.5 a 246 10,5 f 51, 246, 249 f

554

Stellenregister (Auswahl)

10,8 228, 247, 252 10,8 b–10 255 10,9 f 248, 257 10,11–14 248 10,17–22 247 f 10,17–21 258 10,18 247 10,23 217 f, 249 f, 258, 404 10,24 f 247, 260, 402 10,28 f 258 10,38 f 247, 258 10,40–42 253 f 11 189, 308 11,1 248 11,2–27 191 11,5 f 228 11,5 34 11,7–30 399 11,7–19 (30) 33 11,7–24 309 11,25–30 278, 309 11,27 278 11,28–30 278 234, 282 12,1–16,20 12 309 12,11 f 384, 386 12,14 274 12,18–21 279, 401 12,22–37 (50) 33 12,22–45 188, 191 12,22–24 34, 225 12,23 f 231 12,25–50 399 12,38–45 309 12,38–40 286 12,50 264 13 187, 234, 331 13,12 284 13,14 f 389 13,25 222, 391 13,55 59 14,28–31 304 279, 336 14,33 16,13–17,22 272 16,13–28 279 16,13 272 16,16 f 279

16,18 392 16,21–20,34 282 16,21 398 17,5 279 17.19 f 240 17,24–27 51 18 188 19,16–30 256 19,21 255 19,23 ff 255 f 20,29–34 34, 225 21–28 235 21–25 282 21–23 284 f 21,5 70 21,9.15 401 21,14–16 304 21,28–22,14 33, 399 21,43 284, 393 22,2–8 389 22,8–10 405 22,7 284 22,34–40 384 22,41–46 218, 271 188, 192, 218 f, 284, 23 295, 331, 402 23,1–39 33 23,3 f 385 23,5 a 386 23,23 384 23,27 386 23,34–36 285, 402 23,37–39 285, 402 23,39 296, 402 188, 332 24 f 24,9.14 218 24,12 406 24,14 405 24,20 384 24,27–26,64 272 25,32 218 25,46 464 26–28 283 26,14–16 54 26,29 375 26,36–46 266, 376 26,39.42 377 26,41 377

Stellenregister (Auswahl)

26,57–75 378 26,59–66 279 26,64 275 27,3–10 305 27,5–10 54 27,19 285, 305 35, 285, 305, 403 27,24 f 27,25 296, 337 27,40 378 27,43–54 277 27,43 378 27,45–50 366 27,45 373 27,46 366, 371, 373, 376 27,51 ff 373 286, 340 27,51–53 27,54 379 27,62–28,20 220 27,62–66 286, 305 27,63 f 274 28,2–4 334 28,4 306 28,9 f 306 28,14 f 54 286, 306, 380 28,11–15 28,15 281, 389 28,16–20 277, 286, 307, 334, 358 f, 390, 404, 464 28/18 340 28,19 f 385 28,19 218, 385, 404 28,20 50, 336, 380, 464 28,20 a 50, 201 Markusevangelium 335, 339, 343, 351 f, 397, 412, 418 1,1 201, 405 1,2–8 418 424 1,(2 f)4–8 1,14 f 421 1,14 405 1,23–26 36 1,24 427 1,27 429 1,40–45 232 2,1–12 427, 431 2,15 432

2,18–22 432 2,28 432 3,1–6 431 3,8 401 3,22.24–29(30) 419, 425 4 422 4,22 420 4,26–29 36 4,30–32 420 4,35–41 430 4,40 428 4,41 425, 429 5,7 427 5,36 428 6,1 58 6,3 59 6,(7)8–11(12 f) 418 6,15 428 6,30 248 6,34–44 35, 421, 428, 430 426, 430 6,45–52 7,15.18 f 413 7,31–37 421 7,37 429 8,1–10 35, 428, 430 8,11–13 424 8,11 f 419 8,27–33 115 8,28 428 8,31 423 8,34 123 8,35 425 8,38 420 9,14–29 428 9,22 f 428 9,31 140, 423 9,42 419, 425 9,50 420 10,32–34 35, 423 127, 145, 419 10,38 10,42–45 422 10,45 146 10,46–52 270, 333 10,47 f 427 11,1–11 124 11,1 b–6 423 11,10 a 423 11,15–17 124, 143

555

556

Stellenregister (Auswahl)

11,17 423 12,1–9 121, 141 12,28–34 412 12,34 b 432 12,38–40 412, 419 12,41–44 36, 333 413, 422, 424 13 13,2 126, 144 f 13,33–37 422 14,22–24 146 14,24 131 14,25 146 14,27 441 14,26–31 439, 441 14,32–42 444 14,49 361 14,58 125, 144 16,16 465 Lukasevangelium 1–2 62–64, 69 44 1,1 f 1,1–4 64 1,2 f 72 1,4 72 1,5–2,40 55 1,5 57 1,5 a 64 1,15–17.76 f 73 1,32 f.35.69–75 73 1,32 f.35 58 1,35 59 1,68–75 64 2,1 f 64 2,32.34 f 73 2,41–52 55 7,11–8,3 153 10,17–20 248 12,8 f 298 118, 126–129, 12,49 f 144–146 12,50 127–129, 145 13,31–33 140 f 13,32 140, 146 14,1–18,14 153 14,15–24 182 14,16–21 138 15,3–7 182

19,11–27 182 22.28–30 182 22,43 f 367 22,46 371 Logienquelle Q QMt QLk Q 3 Q 4,3 Q 6,20–49 Q 6,20–26 Q 6,47–49 Q 7,18–22 Q 7,25 Q 7,31–35 Q 7,33 f Q 9,57–60 Q 9,58 Q 10,4 b Q 10,10 f Q 10,13–15 Q 11 Q 11,2–13 Q 11,20 Q 11.39–52 Q 11,23 Q 11,31 f Q 11,42 Q 12,2 Q 12,4–7 Q 12,4 f Q 12,6 f Q 12,8 f Q 12,22–24 Q 12,49 f Q 12,54–56 Q 13,28 f Q 13,34 f Q 14,16–24 Q 14,26 f Q 14,27 Q 15,4–7 Q 16,13–18 Q 16,13.16–18 Q 16,13

157–177, 353, 396, 399, 412, 416, 418 152–154, 183–185, 201–204 152–154, 201–204 210 210 180, 200 210 137 139 210 139 210 432 210 182 137 121, 136, 210 137 200 420 180, 200 138 121 413 420 123 122 122 123, 137, 298 333 182 182 121, 136 121, 136, 142 f, 210 199 199 122 f, 131, 210 199 181 199 180

Stellenregister (Auswahl)

Q 16,17 Q 17,1 f.(3(.4 Q 17,26–30 Q 17,28–31 Q 17,33 Q 17,37 Q 19,11–27 Q 22,28–30

413 199 138 182 122 f, 199 182 199 199

Johannesevangelium 37, 221, 335 58 1,45 f 7,33 f 447 7,39 444 7,41 f 58 8,41 59 8,42 447 9 271 9,41 442 11,4 445 12,16.23 444 12,23.34 445 12,28 445 12,28 a 446 12,31 442 13–17 413, 435–453 13,1–20 448 13,1 447, 450 13,31–14,31 443 13,31–38 452 13,31–35 443 445, 447, 450 13,31 f 13,32 a 445 13,34 f 448, 450 14–16 439 14 438 14,1–31 452 14,12–26 448 14,13 f 446 14,15.21.23 448 14,16 f 441 14,16 336 14,20 f 452 14,21 449 14,23 450 14,26 38, 405, 441 14,30 442 14,31 c 437 f

15,1–16,33 436 451 f 15,1–16,4 a 15,1–17 437, 450, 452 15,1–16 452 15,1–8 450 15,8 446 15,9–17 450 15,18–16,4 a 452 15,22–24 442 15,26 442 16 438 16,4 b–33 452 16,5 440 16,8–11 442 16,12–15 442 16,13–15 442 16,14 f 446 16,25 440 16,27 f 450 16,29–32 444 16,32 440 16,29 440 17 444 17,1–26 452 17,1–5 446, 450 17,1 438, 444 17,10 446 17.22–24 447 17,22 446 17,23 450 17,24–26 450 20,14–18 306 21,19 447 Apostelgeschichte 26,26 46 20,29 f 323 Römerbrief 1–8 476 1–3 520 1,17 524 1,18 474 1,18–3,20 474, 522 f 1,18–32 468 2 474 2,5–16 474 2,17–27 522

557

558

Stellenregister (Auswahl)

3,5 524 3,19 f 523 3,20 522 3,21–30 521 3,21 f 524 3,21 524 524 3,25 f 3,31 524 4,15 523 5,9 458, 475, 523 5,9–11 523 5,12–21 522 6 525 6,1–7,6 522 7,7–8,17 504 7,7–8,11 522 7,7–25 522 7,14–8,11 488 7,14–25 527 7,14–24 488 8 523 8,1–11 527 8,1 486, 488, 504, 507 8,3–11 488 8,6–8.12–14 490 8,9–11 486, 488, 504, 507 8,9.11 489 8,10 489 8,12–17 522 8,12 f 491, 507 8,26 f 487, 501 8,30 490 8,31–34 476 8,28–39 458, 476, 523 8,28–30 476 489, 508 8,36 9–11 525 f 9,4 525 10,3 524 10,4 486 11,26 525 12 543 12,2 490 12,9–21 84 13,8 f 524 13,11–14 490 14,14 83 14,23 528

15,1–3 84 15,3 85 15/18 f 495 1 Korintherbrief 1,18 475 1,30 515 2,4 495 3,16 489 489, 515 6,11 6,12 ff 491, 507 6,17 485, 504 6,19 489 7,10 f 82 7,19 f 516 9,14 82 9,19-–23 516 10,4 486 11,23–25 82, 85 f, 129 12 507 12,8–10 497 12,12–31 491 12,13 486, 488, 506, 516 12,31 f 509 12,31 510 13 507, 509 13,1 487, 494, 501 13,13 491 14,18 486, 494 14,19 495 82, 494 14,37 15,1–58 475 15,3–8 85 15,8 514 15,45 485, 504 15,56 517 2 Korintherbrief 1,3–5 533 1,5 490, 508 1,20–22 533 1,21 515 1,22 489 3,4–18 517 482, 485, 504 3,17 3,18 490, 508 4,6 490, 508 4,7 ff 490

Stellenregister (Auswahl)

4,10 490, 508 4,11 f.18 490 4,11 f 508 5,21 516, 524 8,9 85 10,1 85 487, 495, 502 12,2–4 12,7 487, 502 12,9 490, 502 12,12 495 13,3.5 489 13,4 490, 508 Galaterbrief 512 1,13 f 1,15 f 503 1,16 496 2,9 144 2,11–15 518 2,15 ff 514 2,16 517 f 2,19–5,18 518 2,19 f 482, 503 f, 519 2,20 485, 491, 507 3,2 520 3,6 ff 519 3,10–12 520 3,10 520 3,11 521 3,13 f 521 3,17 f 520 3,17 519 3,19 520 3,21 521 3,22 520 3,23 520 3,27 f 489 3,28 506 3,31 524 4,3 520 4,8–10 521 4,19 489 f 5 525 5,1.18 521 5,14 521 6,2 84 6,16 525 6,17 490, 508

Epheserbrief 469–471 1,3–14 532 1,3–23 532 1,15–23 532 1,20–22 533 1,19 471 1,23 471 2,1–10 545 2,(1–10).11–3,12 541 f 2,11–3,13 542 2,11–22 538–541 2,11 538 3,1–13 538 f 3,1.14–21 532 3,6 539 3,10 539 3,14–21 534 3,14–19 534 3,20 f 534 4–6 529, 535 530, 535, 542 f 4,1–16 4,1–6 546 4,4–6 536 4,7.11 543 4,16 546 4,17–5,20 535 f 4,30 470 5,5 470 5,6 545 5,8–14 530 536 5,18 b 5,21–6.21 535 6,10–17 530, 546 6,10 546 6,11–17 469 6,18–20 537 Philipperbrief 2,5–8 85 3,4–9 526 f 3,8–10 514 3,9 524 3,10 f 490, 508 Kolosserbrief 466–469 1,22 f 466 1,22 468 1,28 467

559

560

Stellenregister (Auswahl)

3,1–4 545 3,4–4,6 544 3,4 467 3,6 468 3,16 f 536 3,24 f 469 4,2–4 537 1 Thessalonicherbrief 1,9 f 476 2,16 525 4,13–18 475 4,16 f 82 5,2 84 5,9 476 1 Timotheusbrief 79 2,5 f 5,18 80 6,13 80 2 Timotheusbrief 2,11–13 80

Hebräerbrief

80

Jakobusbrief 5,12 80 1 Petrusbrief 78 2,12 78 3,14 78 2 Petrusbrief 1.14 80 80 1,17 f 3,2 80 3,10 80 1 Johannesbrief 81 1,1–4 81 2,1 441 5,13 81 Johannesapokalypse 221, 464 20,4–6 475

7. Apostolische Väter Brief an Diognet 81 1 Clemensbrief 79 13,2 70 2 Clemensbrief

81

Didache 255 6,2 f 8,2 406 11–13 254 Ignatius v. Antiochien Eph 15,1 78 17,1 78 20.2 276

Magn 78 9,1 391 Philad 3,1 78 6,1 391 Smyrn 1,1 78 3,2 78 Polykarp v. Smyrna Phil 2,3 79 7,2 79 12,3 79

561

Stellenregister (Auswahl)

8. Neutestamentliche Apokryphen Act Thom 108–113 319

Ev Inf Thom 19 55

Chronik von Zuqnin 55

Ev Petr

305

9. Gnostische Texte Thomasevangelium log 10 144

10. Patristische Texte Augustin Cons. Ev.

257

Epiphanius Haer XXX 14,3

55

Irenäus haer I 26,2 III 11,7 III 21,1 V 1,3

Hilarius In Ev. Mt

257

Johannes Chrysostomus 253

55 55 55 55

11. Mittelalterliche Texte Bonaventura de perfectione Evangelica I, conclusio 484, 499

Thomas v. Aquino Summa Theologica 484, 499 2/II 97 art. 2

12. Pagane antike Texte Appian 42 Apuleius Met 4,28–6,25 319

Aristoteles Poetica 6 (1449 b) 9 (1451 b)

312

Chariton

315

316 64, 316

562

Stellenregister (Auswahl)

Cicero De Inv 1,27 316 Diodorus Siculus 65 Duris v. Samos

41

Gorgias

314

Heliodor

319

Herodot Historiae VIII 60.109

42 42

Hesiod Theogonia 27 48 Ktesias v. Knidos 41 Longus

319

Lukian Demonax

320

Philops 10 315 Quomodo historia … 312 7 65 8 f 313 40 313 Nikolaus von Damaskus 320 Philostrat

315, 320 f, 426

Plato Resp 10=597 e 10=598 e 10=605ab

312 314 314 314

Plutarch Mor 2,15F 314 2,16F 314 2,17A 314 Polybius Historiae II 56,11 X 21 XII 11,12 XII 12,7 XII 25 a–b XII 28 a

42, 312 65 320 36 65, 313 37 315

Quintilian Inst Or 6,1,1 525 Thukydides Historiae 1 2–20 I 20 f I 20,1 I 22 I 22,2 I 22,4 XII 12(7),3

42, 312

Xenophanes

314

Xenophon

42

43 45 43 37 44 40, 312 40

Autorenregister (Auswahl) Allison, Dale C. ​23 f, 44, 68 f, 146, 197, 355 f, 359, 388 Assmann, Aleida ​39, 301 Ashton, John ​499 Aus, Roger D. ​68 Backhaus, Knut ​40, 72 Balthasar, Hans Urs v. ​367 f Barth, Karl ​481, 498 Barthes, Roland ​346 f Baur, Ferdinand Christian ​75 Becker, Jürgen ​54, 117, 124 Bergemann, Thomas ​183 Betz, Hans Dieter ​183 Blum, Erhard ​45, 48 Borg, Marcus ​23 Bornkamm, Günther ​16, 117 Bousset, Wilhelm ​482, 497 Bovon, François ​141 Brandenburger, Egon ​473 Braun, Herbert ​17, 473 Brown, Raymond E. ​435 Brunner, Emil ​498 Bultmann, Rudolf ​15, 76, 227, 430, 498 Burger, Christoph ​215, 228, 235

Dibelius, Martin ​62, 431 Dietrich, Walter ​463, 465 Dietzfelbinger, Christian ​413, 452 f Dihle, Albrecht ​41, 320 f Donfried, Karl P. ​472 Dunn, James D. G. ​25, 77, 83, 87, 483, 486, 511–527 Ebeling, Gerhard ​11, 16 Ebner, Martin ​139 Egger, Peter ​118 Eliade, Mircea ​45 Fitzmyer, Joseph ​64 Fleddermann, Harry T. ​210 Flusser, David ​23 Foster, Paul ​381 Frankemülle, Hubert ​358 Frey, Jörg ​24, 436 Freyne, Sean ​22 Fries, Willy ​369 Furnish, Victor Paul ​83

Calvin, Jean ​247, 261 f, 525, 528 Charlesworth, James H. ​22 Chilton, Bruce ​60, 513 Chorin, Schalom ben ​23 Conzelmann, Hans ​411, 415 f Coser, Lewis ​289 Crossan, John D. ​22 f

Geiger, Abraham ​21, 23 Genette, Gérard ​220, 348 f, 413 Gnilka, Joachim ​532 Gogarten, Friedrich ​498 Gollinger, Hildegard ​380 Goodacre, Mark ​196 Goulder, Michael ​69 Greshake, Gisbert ​474 Güttgemanns, Erhardt ​415 Gundry, Robert H. ​69

Davies, William D. ​44, 69, 328, 388 Deines, Roland ​513 Deissmann, Adolf ​484, 498, 500, 503 Delling, Gerhard ​127, 129 Dettwiler, Andreas ​436, 440, 449

Haas, Alois M. ​483 Hagner, Don ​388 Hahn, Ferdinand ​215, 267 Hare, Douglas ​291 Harnack, Adolf v. ​13, 62

564

Autorenregister (Auswahl)

Hartin, Patrick J. ​80 Hays, Richard ​77, 87, 356 Heiler, Friedrich ​484, 500 Heinemann, Isaak ​66, 68 Held, Heinz Joachim ​216, 226 f Hengel, Martin ​20, 196, 201 Hoffmann, Paul ​179, 192 f, 286 Holtz, Traugott ​493, 503 Holtzmann, Heinrich J. ​13, 115 Horsley, Richard ​23, 25 Hübner, Hans ​511, 521 Jauss, Hans R.  ​38 Jeremias, Joachim ​20, 472 Jüngel, Eberhard ​463, 478 Jung, Chang Wong ​63 Kähler, Martin ​15 Käsemann, Ernst ​16, 18, 501 Kant, Immanuel ​10 Keener, Craig ​24 Kerényi, Karl ​317 Kierkegaard, Søren ​258 Kingsbury, Jack D. ​272 Klausner, Joseph ​21, 23, 75 Klinghardt, Matthias ​472 Kloppenborg, John ​196 f Klopstock, Friedrich G. ​366 Koester, Helmut ​22 Kolakowski, Leszek ​465 Kollwitz, Käthe ​367 Konradt, Matthias ​223, 388 f, 402–404, 473, 475, 477 Kretzschmar, Georg ​253 Kristeva, Julia ​345 Landau, Brent C.  ​55 Lessing, Gotthold E.  ​10 Lindars, Barnabas ​436 Lindemann, Andreas ​470, 530 f, 540 Link, Christian ​463, 465 Lührmann, Dieter ​196 Luther, Martin ​227, 257, 262, 528 Luz, Ulrich ​4, 24, 33, 53, 215, 218, 390, 398, 461, 469 März, Claus Peter ​145 Marguerat, Daniel ​483 f, 488, 497

Martinez-Bonati, Felix ​243 Mattern, Lieselotte ​472–474 Mayordomo-Marin, Moisés ​44, 328 Meier, Hans-Christoph ​483 f, 498 f Meier, John P. ​21, 23 f, 28, 49, 381, 390 f Men, Aleksandr ​9 Mensching, Gustav ​93 Merkelbach, Reinhold ​317, 319 Merklein, Helmut ​540, 545 Merz, Annette ​57–59 Milikowsky, Chaim ​68 Moltmann, Jürgen ​263 Momigliano, Arnaldo ​41, 322 Müller, Carl Werner ​317 Mullins, Mark R. ​94, 96 Munch, Edvard ​368 Mveng, Engelbert ​371 f Neuenschwander, Bernhard ​483 Niebuhr, Karl Wilhelm ​513 Overman, J. Andrew ​50, 292, 388 Paulus, Heinrich E. G. ​12 Penna, Romano ​482 f Pesch, Rudolf ​424 Petersen, Silke ​133, 142 f, 147 Pfister, Manfred ​220, 346, 349 Rad, Gerhard v.  ​48 Räisänen, Heikki ​512, 516 Ratzinger, Joseph (= Papst Benedict XIV) ​28 Rau, Eckhard ​116, 133–147, 397 Reimarus, Hermann S. ​11 Reinmuth, Eckart ​32 Reiser, Marius ​116, 465 Resch, Alfred ​75 Riesner, Rainer ​77 Rilke, Rainer Maria ​366 f Riniker, Christian ​122, 142, 465 Robinson, James M. ​191 Roetzel, Calvin J. ​472 Rocha, Guido ​368 Rösler, Wolfgang ​310 Roloff, Jürgen ​117, 412 Rothschild, Claire ​73 Rüsen, Jörn ​38 f, 50

Autorenregister (Auswahl)

Saldarini, Antonio ​288, 388 Sanders, Ed P. ​24, 512, 518, 521, 523 Sato, Migaku ​196 f, 207 Schaberg, Jane ​60 Schille, Gottfried ​532 Schmidt, Siegfried ​243 Schmithals, Walter ​76 Schnackenburg, Rudolf ​413, 441, 530, 535 f Schnelle, Udo ​413, 511, 515 Schoeps, Hans Joachim ​76, 83 Scholem, Gershom ​485, 492, 501 Schröter, Jens ​30, 87, 195 Schürmann, Heinz ​20, 129 f, 146 Schweitzer, Albert ​11, 13, 26, 28, 115, 117 f, 122, 129 f, 146 f, 482, 497 f, 506, 517 f Schweizer, Eduard ​17, 56, 190, 253, 281 Segal, Alan F. ​483 Seifried, Mark A. ​512, 522 Shimazono, Susumu ​96 f Sim, David C. ​388, 391 Smith, Morton ​59 Sölle, Dorothee ​367 Stanton, Graham ​388 Stendahl, Krister ​320 Strecker, Georg ​381 Strauss, David Friedrich ​12 Sundermeier, Theo ​93 Synofzik, Ernst ​473

565

Theißen, Gerd ​23, 25, 57–59, 253, 288, 391 Thompson, William G. ​229 Trilling, Wolfgang ​286, 381, 392 Troeltsch, Ernst ​14, 30, 485, 501 Underhill, Evelyn ​485 Verheyden, Joseph ​63 Vermes, Geza ​23, 26, 28, 338 Vollenweider, Samuel ​483, 498 Waardenburg, Jaques ​481, 497 Weber, Max ​289 Weiss, Johannes ​13, 28 White, Hayden ​38 Wilckens, Ulrich ​444, 512 Wilson, Stephen G. ​83 Winter, Dagmar ​25 Wolff, Hanna ​28 Wolter, Michael ​57, 62 Wong, Kung-Chun (Eric) ​288, 391 Wrede, William ​15, 75, 83 Wrege, Hans-Theo ​180 Wright, Addison G. ​338 Yinger, Kent L.  ​472 Zumstein, Jean ​413, 435–453 Zwingli, Huldrych ​257