Lex Irnitana: Gesammelte Aufsatze 9783428139309, 9783428539307, 9783428839308, 3428139305

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Lex Irnitana: Gesammelte Aufsatze
 9783428139309, 9783428539307, 9783428839308, 3428139305

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Iurisdictio Irnitana
I. Einführung
II. Die Streitwertgrenze
III. Die ausgenommenen Klagen
IV. Die Prorogationsklausel
V. Exkurs: Die Streitwertgrenze der Lex Rubria
VI. Die de ceteris-Klausel
VII. Die Kompetenz de vadimonio promittend
VIII. Die Gerichtsbarkeit der Ädile
IX. Inkongruenzen
Intertium – und kein Ende?
I. Vorbemerkung
II. Die Texte
III. „In tertium“ oder „intertium“: der epigraphische Befund
IV. Zur Wortgeschichte
V. Die Erteilung des intertium
VI. Die Anzeige des intertium
VII. Intertium im Sprachgebrauch der Irnitana
VIII. Die INTERTIUM-Urkunden aus Murecine
IX. Intertium und comperendinatio
X. Zusammenfassung
Diem diffindere. Die Vertagung im Urteilstermin nach der Lex Irnitana
I. Einführung
II. Das Kap. 91 der Lex Irnitana
III. Die Vertagung durch den Urteilsrichter
IV. Die Vertagung ipsa lege
Iudex iuratus
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Zur Romanisierung Spaniens. Der Beitrag der Stadtrechte am Beispiel der Lex Irnitana
I.
II.
III.
Die Lex Irnitana und die Tafeln von Veleia und Ateste
I. Die Lex Irnitana
II. Die Lex Rubria de Gallia Cisalpina
III. Das Fragmentum Atestinum
Schlußbemerkungen
Rechtspflege in Urso
I. Das flavische Stadtrecht Spaniens
II. Das Stadtrecht von Urso
III. Die Jurisdiktions- und Prozeßvorschriften der Lex Ursonensis
IV. Schlußbemerkung
Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens
§ 1. Zur Einführung
I.
II.
III.
§ 2. Aufbau und Ordnung der beiden Stadtrechte
I.
II.
§ 3. Wörtliche imitatio
I
II.
III.
IV.
§ 4. Strukturelle imitatio
I.
II.
III.
§ 5. Rückblick
Irni vor der Irnitana
I. Zur Einführung
II. Die Zeugnisse
III. Der historische Kontext
Bußen, Einkommen und Preise
I. Die Bußverordnungen
II. Die Bußen
III. Einkommen, Löhne und Preise
IV. Die Adressaten der Bußverordnungen
Die Eide der Lex Irnitana
I.
II.
III.
IV.
Gerichtsbarkeit in Irni
I. Zur Einführung
II. Die Gerichtsverfassung und der Zivilprozeß
III. Besondere Verfahren
IV. Rückblick
Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica
I.
II.
III.
Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 66

Lex Irnitana Gesammelte Aufsätze Von Joseph Georg Wolf

Duncker & Humblot · Berlin

JOSEPH GEORG WOLF

Lex Irnitana

Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.

Neue Folge · Band 66

Lex Irnitana Gesammelte Aufsätze

Von Joseph Georg Wolf

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme undDruck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6704 ISBN 978-3-428-13930-9 (Print) ISBN 978-3-428-53930-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83930-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Vor vierzig Jahren wussten wir noch nicht, daß es in der städtereichen römischen Provinz Baetica im Süden Spaniens eine Stadt mit dem Namen Irni gab. Der Siedlungsplatz war längst bekannt, von der Archäologie aber vernachlässigt, bis 1981 Clandestini mit einem Metalldetektor sechs der zehn Bronzetafeln aufgespürt und ausgegraben haben, in die das Stadtrecht von Irni eingeschlagen ist. Sie wurden in zwei Partien verkauft, bald aber ausfindig gemacht und befinden sich heute, vorzüglich präpariert, im Archäologischen Museum von Sevilla. Große Fragmente der Stadtrechte von Salpensa (südöstlich von Hispalis, dem heutigen Sevilla, gelegen) und Malaca (dem heutigen Malaga), die schon 1861 gefunden wurden, decken sich vollständig oder zu einem großen Teil, soweit die Irnitana erhalten, Wort für Wort mit dem Text des Stadtrechts von Irni. Für die Stadtrechte dieser drei Städte kann darum mit Gewissheit angenommen werden, daß sie nach ein und derselben Vorlage abgefaßt und ergangen sind. Die Städte führten in ihren Titeln das Beiwort Flavium zur Erinnerung an das Edikt, mit dem Kaiser Vespasian im Jahre 73 oder 74 n. Chr., offenbar in Anerkennung ihres Beistands im Bürgerkrieg, ‚ganz Spanien‘ das ius Latii, das latinische Bürgerrecht, verliehen hat. Was für die drei Städte gilt, gilt auch, wie kleinere Fragmente uns zeigen, von Stadtrechten anderer Städte, wie Italica, Villo oder Ostippo. Darum darf ohne weiteres vermutet werden, daß alle Städte, die in ihrem Namen das Beiwort Flavium führten, unter ein und demselben Stadtrecht lebten; und daß ihnen das Flavische Stadtrecht erteilt worden ist, um das Edikt Vespasians zu vollziehen. Und es kann auch nicht zweifelhaft sein, daß dieses Stadtrecht die Romanisierung der städtischen Bevölkerung Spaniens nachhaltig gefördert hat. Mit der Lex Irnitana und dem sie um einige Kapitel ergänzenden Fragment der Lex Salpensana besitzen wir mithin nicht nur das Stadtrecht von Salpensa, Malaca und Irni, sondern das Flavische Stadtrecht, mit dessen Gewährung den Einwohnern der peregrinen, noch nicht promovierten Städte Spaniens die Latinität erteilt wurde. Da die Stadtrechtsverleihung sukzessive und vermutlich durch eine Kommission erfolgte, zog sie sich lange hin. So hat Irni das Flavische Stadtrecht erst in der ersten Hälfte der neunziger Jahre erhalten. Freiburg i. B., im August 2012

Joseph Georg Wolf

Inhalt Iurisdictio Irnitana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Intertium – und kein Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diem diffindere. Die Vertagung im Urteilstermin nach der Lex Irnitana . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Iudex iuratus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Romanisierung Spaniens. Der Beitrag der Stadtrechte am Beispiel der Lex Irnitana 117 Die Lex Irnitana und die Tafeln von Veleia und Ateste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Rechtspflege in Urso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Irni vor der Irnitana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Bußen, Einkommen und Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Die Eide der Lex Irnitana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Gerichtsbarkeit in Irni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Iurisdictio Irnitana I. Einführung Von den zehn Bronzetafeln, auf denen die Lex Irnitana eingeschlagen war, hat der Fund von 1981 bekanntlich sechs an den Tag gebracht1, unter ihnen auch die beiden letzten Tafeln mit den Rubriken über Verfassung und Rechtsgang der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit in Irni; in der Zählung der Herausgeber2 sind es die Kapitel 84 bis 93. Schon in ihrem Abschnitt über die Magistrate des municipium3 verfügte die Irnitana die Gerichtsbarkeit der Duumvirn und Ädile, die der Duumvirn vermutlich in Kap. 184, die der Ädile, wie wir sehen, in Kap. 195, und wie hier, so sicher auch dort mit der Maßgabe ut hac lege licebit. Entsprechend diesem Vorbehalt wird in Kap. 84 die iurisdictio der Duumvirn und Ädile definiert: das Gesetz wiederholt mit genauer Umschreibung von Umfang und Reichweite der Gerichtsgewalt in Kap. 84 ihre Gewährung. Das Kapitel lautet6: R(ubrica). Quarum rerum et ad quantam pecuniam in eo municipio i(uris) d(ictio) sit. Qui eius municipi municipes incolae[v]e7 erunt, q(ua) d(e) r(e) ii inter se suo alte1 González 147 f. und Plate XXIII Fig. 1. Eine genaue Beschreibung der Tafeln, vorzügliche Abbildungen und eine zuverlässige Transskription der Inschrift gibt Fernández 29 ff., 71 ff. 2 Die Kapitel der Lex Irnitana sind nicht nummeriert; ihre Zählung folgt der Nummerierung der Lex Salpensana und der Lex Malacitana, dazu González 148 (der die Kap. 39 – 50, weil ihr Zählung nicht gesichert ist, mit A – L bezeichnet); d’Ors 15. Die übliche Zeilenzählung ist indessen nicht die der Kapitel, sondern der Kolumnen, von denen je drei (A, B, C) eine Tafel (III, V, VII –X) füllen. Die Rubrik von Kap. 84 etwa ist die letzte Zeile der ersten Kolumne auf der neunten Tafel und wird zitiert: Kap. 84 IX A 52. 3 Unsere Kenntnis des Gesetzes beginnt (mit Tafel III) offenbar in der Mitte dieses Abschnitts, der bis Kap. 27 reicht; vgl. etwa González 148, 200. Zum „Schema“ der Stadtrechte von Salpensa und Malaca Mommsen 291 f. 4 González 201 zu ll. 13 – 16. 5 III A 13 – 16: siehe unten VI. 2. und 3. 6 Die folgende Wiedergabe des Textes beruht auf der Transskription von Fernández und der Autopsie der Bronze, die mir Sr. Fernández Gomez, Direktor des Museo Arqueológico von Sevilla, mit großer Liebenswürdigkeit gewährt hat. Sie geht weithin mit Lamberti 348 / 50 überein, deren Edition hier wie überall auch die Konjekturen der älteren, durch sie und die Transskription von Fernández überholten Ausgaben verzeichnet. – Kap. 84 ist, wie fast die ganze Irnitana, durchgehend interpungiert, die – offenbar nach der Gravur des Textes erfolgte – Punktierung allerdings hier und dort auch vergessen oder der Punkt falsch (vgl. u. A. 23, 180) gesetzt worden. – ‚Langes I‘ wird regelmäßig verwendet, etwa in EIUS, MAIOR, IUS, IUDICIUM.

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Iurisdictio Irnitana riusve nomine8 qui municeps incolave9 sit priuatim intra fines eius municipi agere petere persequi volent, quae res HS (sestertium) ∞ (mille) minorisve10 erit, neque11 ea res dividua quo fraus huic legi fieret facta sit fiatve aut de capite libero deve maiore pecunia quam HS (sestertiis) ∞ (mille) praeiudicium futurum erit sponsiove12 facta futurave erit, neque ea res agetur qua in re vi13 factum sit quod eius14 non ex interdicto decretove iussuve eius qui iure dicundo praerit factum sit, neque de libertate, neque pro socio aut fiduciae aut mandati quod d(olo) m(alo) factum esse dicatur, aut depositi, aut tutelae cum quo qui15 suo nomine quid earum rerum fecisse dicatur, aut lege Laetoria, aut de sponsione quae in probrum facta esse dicatur16, aut d(e) d(olo) m(alo) et fraude, aut furto cum homine libero liberave, aut cum servo17 [dum i]d ad dominum dominamve pertinebit, aut iniuri[aru]m cum homine libero liberave18 agetur, eave de re [in qua]19 praeiudicium futurum sit de capite libero, de is re[bus etia]m, si uterque inter quos ambigetur20 volet, de ceteris quo[que o]mnibus de quibus priuatim agetur neque in iis pra[eiudici]um de capite libero futurum erit, et omnium rerum n[omin]e21 de vadimonio promittendo in eum locum in quo is erit qui ei provinciae praerit futurusve esse vi-

7 INCOLAE[V]AE, aes. Wo die Ergänzungen in […] stehen, ist die Bronze beschädigt oder ausgebrochen. 8 NOMEN, aes. 9 MUNICIPES INCOLAEVE, aes. Derselbe Fehler in Kap. 69 VIII A 11, s. unten A. 179. 10 MINORESVE, aes. 11 NEVE statt NEQVE, aes. Neque lesen González 175, d’Ors 81 und d’Ors / d’Ors 67, neve dagegen Lamberti 348. Neve setzt einen Absichtssatz mit ne oder ut fort (ein gutes Beispiel ist der Text von Kap. 92) und wäre darum grammatisch unrichtig, vgl. Menge / Thierfelder 228 Nr. 342 A. 4, 222 Nr. 337 A. 2; Hofmann / Szantyr 535, 337. Neque entspricht außerdem der strengen grammatischen Organisation des Textes, vgl. unten II. 2. 12 SPONSIOVE [S]PONSIONEVE, aes. 13 VIS, aes. 14 So eindeutig die Bronze. Bei d’Ors 81 und González 175 fehlt eius, während Lamberti 348 quod non eius hat, aber eius als „lettere scritte per errore dall’incisore“ streichen will. Vgl. jedoch Menge / Thierfelder, 60 Nr. 78 A. 6; Hofmann / Szantyr 655. 15 QUIS, aes. 16 DICETUR, aes. 17 SERVVO, aes. 18 LIBERAMVE, aes. 19 Die Bronze ist an dieser Stelle zerstört. Fernández 99; d’Ors 82; d’Ors / d’Ors 67; González 176 ergänzen aliquid; Lamberti 150 nullum; vorzugswürdig aber Rodger 147 qua in re; möglich auch in qua. 20 AMBIGERETUR, aes. 21 D’Ors 82 und González 176 lesen t statt e und ergänzen: González zu dumtaxat, d’Ors zu q(uae) s(upra) s(cripta) sunt. Wie Fernández 99 liest auch Lamberti 350 e und ergänzt zu quoque.

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debitur eo die in quem ut vadimonium promittatur postulabitur, IIviri22, qui ibi i(ure) d(icundo) praerit, iuris dictio, iudicis arbitri recuperatorum, ex is qui ibi propositi erunt, iudici datio addictio, item eadem condicione, de eo quod HS (sestertium) ∞ (mille) minorisve erit, aedilis qui ibi erit iuris dictio iudicis arbitri reciperatorum ex eodem genere iudicique23 datio addictioque24 esto.

Das Gesetz verleiht dem Duumvir Gerichtsbarkeit auf dem Territorium der Stadt, über Bürger und Einwohner, in privaten Rechtssachen (IX B 1 – 3). Das heißt: nur auf dem Territorium der Stadt, nur über Bürger und Einwohner und nur in privaten Rechtssachen25. Diese Grenzen der munizipalen Jurisdiktion sind klar und eindeutig. Sie sind absolute Grenzen: sie unterliegen nicht der einverständlichen Verfügung der Streitparteien, können also nicht von ihnen überwunden werden. Dieses Textverständnis wird nirgends in Frage gestellt26. Nicht so leicht zu überschauen ist die gegenständliche Eingrenzung der dem Duumvir eingeräumten Jurisdiktion. Sie wird zunächst generell beschränkt auf Streitsachen, deren Wert ‚1000 Sesterzen oder weniger‘ beträgt (IX B 3). Von dieser auf Streitsachen bis zu 1000 Sesterzen begrenzten Jurisdiktion werden sodann eine Reihe von Klagen ausgenommen, die durch unterschiedliche Kriterien definiert sind (4 – 15). Dem Katalog dieser Klagen folgt schließlich eine Prorogationsklausel, die den Streitparteien das Recht gibt, Einschränkungen der duumviralen Gerichtsbarkeit durch ihr Einverständnis zu überspielen (17). Die Reichweite dieser Prorogationsklausel ist der Anlaß dieser Untersuchung. Nach allen Darstellungen der lokalen Jurisdiktion Irnis unterlag die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen der Disposition der Parteien. Die Literatur ist einmütig der Auffassung, daß Kap. 84 den Duumvirn Jurisdiktion auch in Streitsachen einräumt, deren Wert 1000 Sesterzen übersteigt, wenn beide Parteien es wollen27. Ich glaube, daß diese Interpretation verfehlt ist, und möchte zeigen, daß die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen strikt war: die Duumvirn konnten über Streitsachen von höherem Wert auch dann nicht Gericht halten, wenn beide Parteien einverstanden waren.

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IIVIR, aes.

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IUDICI.QUE, aes.

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ADDICTIOQ, aes.

Vgl. Mommsen 297, 296. Die Kommentare von D’Ors 171 f. und Gonzáles 227 f. gehen auf diese Begrenzung der lokalen Gerichtsbarkeit gar nicht ein. Allgemein wird sie erörtert etwa von Domingo 26 ff. 27 D’Ors 171, 72 und schon SDHI 49 (1983) 29 f.; González 229 zu ll. 17 / 18; H. Galsterer, RH 65 (1987) 200; D. Johnston, JRS 77 (1987) 64; P. Birks, Cambridge Law Journal 47 (1988) 60; Laffi 148 ff.; F. La Rosa, Iura 40 (1989 / 92) 64; Rodger 149 f. (insoweit zustimmend G. P. Burton, Classical Quarterly 46 [1996] 217); W. Simshäuser, RH 67 (1989) 622, 644 sowie SZ 107 (1990) 545 und 109 (1992) 165; W. D. Lebek, ZPE 97 (1993) 165, 172; Lamberti 67,148; K. Hackl, SZ 114 (1997) 151 und leider auch in Kaser / Hackl 183. 25 26

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II. Die Streitwertgrenze 1. Wir erleichtern uns das Verständnis von Kap. 84, wenn wir uns durch eine Dekomposition des Textes dessen komplexe grammatische Struktur vor Augen führen. Das kann etwa in folgender Weise geschehen: Qui eius municipi municipes incolaeve erunt qua de re ii inter se suo alteriusve nomine, qui municeps incolave sit, privatim intra fines eius municipi agere petere persequi volent, quae res HS ∞ minorisve erit neque ea res dividua, quo fraus huic legi fieret, facta sit fiatve aut de capite libero deve maiore pecunia quam HS ∞ praeiudicium futurum erit sponsiove facta futurave erit, neque ea res agetur qua in re vi factum sit, quod eius non ex interdicto decretove iussuve eius, qui iure dicundo praeerit, factum sit, neque de libertate, neque pro socio aut fiduciae aut mandati quod dolo malo factum esse dicatur, aut depositi, aut tutelae cum quo qui suo nomine quid earum rerum fecisse dicatur, aut lege Laetoria, aut de sponsione quae in probrum facta esse dicatur, aut de dolo malo et fraude, aut furto cum homine libero liberave, aut cum servo dum id ad dominum dominamve pertinebit, aut iniuriarum cum homine libero liberave agetur, {eave de re [in qua] praeiudicium futurum sit de capite libero}28 de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet, de ceteris quoque omnibus, de quibus privatim agetur, neque in iis praeiudicium de capite libero futurum erit, et omnium rerum nomine de vadimonio promittendo in eum locum in quo is erit, qui ei provinciae praerit, futurusve esse videbitur eo die in quem, ut vadimonium promittatur, postulabitur, 28 Die Klausel gehört offenbar einer anderen Textschicht an als der übrige Gesetzestext; sie könnte etwa bei der Herstellung des Gesetzes (dazu unten IX. 3. b)) dem Text der Vorlage hinzugefügt worden sein: ihrem Gegenstande nach fällt sie aus der Ordnung des Katalogs heraus (s. unten III. 4.); Klagen, die de capite libero präjudizieren, werden schon im ersten nequeSatz ausgeschlossen; außerdem entspricht der Gebrauch von -ve an dieser Stelle nicht der Verwendung der Partikel im Katalog der ausgenommenen Klagen (dazu alsbald im Text nach A. 30); s. auch u. VI. 3.

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IIviri, qui ibi iure dicundo praerit, iuris dictio, iudicis arbitri recuperatorum, ex is qui ibi propositi erunt, iudicii datio addictio item eadem condicione, de eo, quod HS ∞ minorisve erit, aedilis, qui ibi erit, iuris dictio iudicis arbitri reciperatorum ex eodem genere iudiciique datio addictioque esto.

2. Die Grundregel ist: qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit … IIviri … iuris dictio … esto. Sie spricht dem Duumvir die Jurisdiktion zu für Prozesse mit einem Streitwert bis 1000 Sesterzen29. Aber nicht für alle Prozesse mit einem Streitwert von ‚1000 Sesterzen oder weniger‘ soll diese Grundbestimmung gelten. Vielmehr werden im Folgenden aus dem so definierten Jurisdiktionsbereich eine Reihe von Klagen herausgenommen. Für diese Klagen ist mithin der Duumvir auch dann nicht zuständig, wenn ihr Streitwert 1000 Sesterzen nicht übersteigt30. Der Katalog der Ausnahmen ist grammatisch streng organisiert. Die ausgenommenen Klagen sind in vier Gruppen aufgeteilt, die jeweils mit neque eingeleitet werden. Innerhalb dieser Gruppen wird die nächste Untergliederung mit aut getroffen und erst in diesen Untergruppen für weitere Disjunktionen das – in der Gesetzessprache seit alters heimische und auch noch in der Irnitana durchaus bevorzugte – enklitische -ve31 verwendet32. An den positiven Satz qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit wird mit neque ea res dividua, quo fraus huic legi fieret, facta sit fiatve eine negative Beschränkung angeknüpft33. Da sich die Verneinung nicht auf ein einzelnes Wort, sondern auf den ganzen Satz bezieht, war der Anschluß mit neque geboten. Durch die Grammatik war dagegen nicht geboten, die weiteren Glieder des Katalogs eben in der Weise anzuschließen, wie es geschehen ist. Der Anschluß der weiteren Ausnahmen mit aut und -ve war möglich, aber nicht erforderlich. Aut und -ve setzen die Negation des vorausgehenden neque-Satzes fort34. Statt aut de capite libero deve maiore pecunia quam HS ∞ praeiudicium futurum erit wäre darum nach der Grammatik ebenso gut neque de capite libero aut de maiore pecunia quam HS ∞ praeiudicium futurum 29 Das Gesetz (qua de re … quae res etc. ) benutzt den repräsentativen oder generischen Singular. – Über die Art und Weise, den Wert einer Streitsache zu bestimmen und die Begrenzung im Einzelfall durchzusetzen G. Pugliese, Il processo civile romano II, Il processo formulare, 1 (1963) 147 ff. 30 Rodger 148. 31 Vgl. bei Lamberti 558 ff. und 405 die Lessico-Artikel -ve (370 mal) und aut (66 mal). 32 Gleichviel ob es sich um stereotype oder formelhafte Bildungen handelt (wie facta futurave erit; ex interdicto decretove iussuve; cum homine libero liberave) oder um die weitere Untergliederung ausgeschlossener Klagen (wie in der ersten neque-Gruppe). 33 Vgl. Menge / Thierfelder 341 Nr. 512 A. 1. 34 Vgl. R. Kühner / C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lat. Sprache, Satzlehre II (4. Aufl. 1962) 103 Ziff. 6 und 105 Ziff. 10; Hofmann / Szantyr 499 f.; Menge / Thierfelder 337 Nr. 503.8.

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erit möglich gewesen35. Und die noch folgenden drei neque-Sätze hätten ohne Regelverstoß auch mit aut angeschlossen werden können. Freilich wäre dann das Darstellungsschema des Ausnahmenkatalogs, wie es die Dekomposition zur Anschauung bringt, verwischt worden. Was wir also beobachten, ist eine bewußte und differenzierte Verwendung von neque und den disjunktiven Partikeln aut und -ve, die dem Katalog eine bestimmte äußere, syntaktische Struktur gibt36. Dieser Struktur entspricht eine nach sachlichen Kriterien bestimmte Aufgliederung der Klagen37, die von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen sind. Bevor wir auf sie zu sprechen kommen, ist die Prorogationsklausel zu erörtern. 3. Der Liste der ausgenommenen Klagen folgt die Klausel: de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet (sci. IIviri iuris dictio esto). Fast alle Interpreten38 entnehmen dieser Klausel, daß die Parteien über die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen einverständlich verfügen können, daß also der Duumvir Jurisdiktion auch für Klagen von höherem Streitwert hat, wenn beide Parteien es wollen. Sie zögern nicht, die Klausel sowohl auf die ausgenommenen Klagen zu beziehen wie auch auf die allgemeine Begrenzung quae res HS ∞ minorisve erit39. Crawfords englische Übersetzung etwa lautet40: „… provided that the matter is worth l,000 sesterces or less and has not been or is not divided in order to evade this statute, and provided that there will not be a praeiudicium concerning a free person or a larger sum than 1,000 sesterces, and provided that there has not been and will not be a sponsio, and provided that the matter at issue is not one in which there has been vis other than under the interdict, judgment or order of the person who is in charge of the administration of justice, and provided the case is not over freedom or over partnership or fiducia or mandete …; the duumvir … is to have jurisdiction; and even about these matters if each of the two parties is willing.“ Die Übersetzung ist insofern irreführend, als sie den positiven Satz quae res HS ∞ minorisve erit in derselben Weise wiedergibt wie die folgenden negativen Ausnahmen, so daß die Prorogationsklausel beides gleichermaßen deckt: die Ausnahmen und die dem Duumvir eingeräumte Jurisdiktion, von eben der sie gemacht werden.

Vgl. Kühner / Stegmann 103 Ziff. 6 Anm. 1, 110 f. Die korrespondierenden Partikel neque und aut heben zugleich hervor, daß jedes der Glieder in gleicher Geltung mit den anderen steht: alle Klagen sind von der Jurisdiktion des Duumvir gleichermaßen ausgenommen – wenn auch unter dem Vorbehalt weiterer Bestimmung; vgl. Menge / Thierfelder 342. 37 Dasselbe gilt für die zweifache Untergliederung des vierten neque-Satzes, s. unten III. 4. b). 38 Nachweise o. A. 27. Soeben wieder Galsterer, SZ 114 (1997) 399. 39 Anders nur Rodger 148 f., der die Prorogationsklausel, wie es die Sprachlogik fordert, nur bezieht auf die „cases of 1000 sesterces or less which fall into one of the excepted categories“. Unter Berufung auf Paul D 50.1.28 (dazu unten IX 2) nimmt er allerdings an, daß die folgende Klausel de ceteris quoque omnibus, de quibus privatim agetur (sci. IIviri iuris dictio esto) den Parteien die Möglichkeit eröffnet, die Jurisdiktion des Duumvir einverständlich auch für Streitsachen über 1000 Sesterzen zu begründen (zu dieser Klausel unten VI.). 40 Bei González 195. 35 36

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In Wirklichkeit aber erstreckt sich die Klausel de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet nicht auf den Satz quae res HS ∞ minorisve erit. Die Logik des sprachlichen Ausdrucks erlaubt nicht zu sagen: ‚Der Duumvir soll Jurisdiktion haben über eine Rechtssache, die 1000 Sesterzen wert ist oder weniger, … über diese Rechtssache auch, wenn beide Parteien es wollen.‘ Nur von einer vorausgehenden negativen Aussage kann ich sagen: de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet ; der Satz qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit enthält aber eine positive Aussage. Negativ sind die Ausnahmen. Unser erstes Zwischenergebnis lautet demnach: Die Prorogationsklausel de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet erstreckt sich nicht auf quae res HS ∞ minorisve erit; sie kann sich nur auf die ausgenommenen Klagen beziehen. Die allgemeine Jurisdiktionsgrenze stand mithin nicht zur Disposition der Parteien; sie war eine absolute Grenze. 4. Die absolute Begrenzung der lokalen Jurisdiktion Irnis auf Streitsachen bis zu 1000 Sesterzen wird in Kap. 89 (X A 16 – 25) auch ohne weiteres vorausgesetzt41. Das Kapitel lautet42: 15

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R(ubrica). De qu[ibus rebu]s singuli iudices arbitrive et de quibus re[ciper]atores dentur et quod dentur. IIuiri43, qui in eo [munici]pio erunt, de ea re quae HS (sestertium) ∞ (mille) minorisve erit ita ut44 [neque] sponsio de maiore re quam HS (sestertiis) ∞ (mille) facta sit [fi]atve, nequ[e p]raeiudicium maiorisve re[i] quam HS (sestertiis) ∞ (mille) futurum sit, nequ[e di]uidua45, quo huic legi46 fraus fieret, fiat47, fac tave sit, neque ea de qua, si Romae ageretur, quantacumque48 esset, reciperatores dari oporteret, iudicem arbitrumve dato49. de ea re de qua, si Romae ageretur, quantacumque esset, re-

41 Die herrschende Interpretation der Prorogationsklausel in Kap. 84 ist mit Kap. 89 nicht vereinbar. Dieser Schwierigkeit stellt sich nur Rodger (1991) 87 ff. Zurückhaltend Lamberti 179 f.; unglücklich d’Ors, SDHI 49 (1983) 36. 42 Die Wiedergabe des Textes folgt Lamberti 360, ist aber mit der Transskription von Fernández 103 verglichen und an dessen Photographie kontrolliert worden. Die Autopsie der Bronze war nicht möglich, da die Tafel derzeit (Okt.1998) ausgeliehen ist. Vgl. auch González 178; d’Ors / d’Ors 75. 43 Den Wechsel zwischen Singular (Kap. 84) und Plural zählt Mommsen 348 zu den „Schwankungen und Nachlässigkeiten, die auch im römischen Curialstil nicht selten sind“. 44 Fernández liest ET AUT. Die Bronze ist in diesem Bereich korrodiert. González 178 vermutet de qua re. 45 Lamberti liest hier [DI]VIDERETUR und verbessert in dividua. Die Photographie erlaubt keine Entscheidung. 46 LEGE, aes. 47 FIET, aes. 48 QUANTA.CUM, aes. 49 So die Bronze. In danto ändern González 178 und Lamberti 360; siehe indessen Mommsen 348.

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ciperatores dari oporteret, tot reciperatores dato49 quod dari oporteret {tot reciperatores dato quod dari oporteret} si de ea re Romae ageretur.

Eine Dekomposition des Textes empfiehlt sich auch hier: IIuiri qui in eo municipio erunt, de ea re quae HS ∞ minorisve erit ita ut neque sponsio de maiore re quam HS ∞ facta sit fiatve, neque praeiudicium maiorisve rei quam HS ∞ futurum sit, neque diuidua, quo huic legi fraus fieret, fiat, factave sit, neque ea res erit de qua, si Romae ageretur, quantacumque esset, reciperatores dari oporteret, iudicem arbitrumve dato de ea re de qua, si Romae ageretur, quantacumque esset, reciperatores dari oporteret, tot reciperatores dato quod dari oporteret si de ea re Romae ageretur.

Das Gesetz weist hier die Duumvirn an, de ea re quae HS ∞ minorisve erit: in Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen oder weniger beträgt, Einzelrichter oder Rekuperatoren nach der Regel zu bestellen, die in Rom gilt50. Der Streitwertgrenze wird selbst in der Fiktion Rechnung getragen51: Die Duumvirn sollen so verfahren, wie, wenn in Rom geklagt würde, dort verfahren werden müßte52 quantacumque esset: wie groß oder wie unbedeutend auch immer der Streitwert wäre, also ungeachtet des (geringen) Werts der Streitsache53. Und in der Besorgnis, daß die Streitwertgrenze umgangen werden könnte, werden die legalen Möglichkeiten auch hier, wie schon in Kap. 8454, von der Jurisdiktion des Duumvir eigens ausgeschlossen. Die Anweisung gilt nur für Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen beträgt oder weniger55; und sie ist auch abschließend56: zu Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen übersteigt, sagt die Irnitana nichts über die Richter, die zu bestellen wären; solche Streitsachen kamen in Irni nicht vor57.

Vgl. Johnston, JRS 77 (1987) 67; Rodger (1991) 88. Vgl. P. Birks, The Cambridge Law Journal 47 (1988) 60. 52 Mit anderen Worten: wenn dieselbe Klage nicht in Irni, sondern in Rom erhoben würde, dort der Prätor verfahren müßte. 53 Crawford bei González 197: „irrespective how much it was for“; Rodger (1991) 88: „however small“. Rückschlüsse auf die stadtrömische Regelung überlegt P. Birks (A. 31) 36 ff., 45 ff.; dazu Rodger (1991) 88. 54 Dazu alsbald unter III. 1. 55 Ebenso Rodger (1991) 88. 56 Darum lautet die Rubrik (X A 15) ohne Einchränkung: De quibus rebus singuli iudices arbitrive et de quibus reciperatores dentur et quod dentur. 57 Anders Rodger (1991) 88. 50 51

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III. Die ausgenommenen Klagen Die Prorogationsklausel in Kap. 84 kann sich sprachlich auf alle in den nequeSätzen aufgeführten Klagen beziehen. Sie muß sich aber nicht auf alle erstrecken; es ist auch möglich, daß sie nur für die des letzten neque-Satzes galt. Daß sie nur für die des letzten und vorletzten galt oder nur nicht für die des ersten, ist bei der klaren Organisation des Textes so gut wie ausgeschlossen. Bevor wir diese Frage verfolgen58, ist aber zu untersuchen, weshalb diese Klagen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen und nach welchen Gesichtspunkten sie in den neque-Sätzen zusammengefaßt sind. 1. Im ersten neque-Satz (IX B 4 – 6) werden einmal die Klagen ausgenommen, die geeignet waren, die allgemeine Jurisdiktionsgrenze von 1000 Sesterzen zu unterlaufen: qua de re quae res HS ∞ minorisve erit neque ea res dividua, quo fraus huic legi fieret, facta sit iatve aut de capite libero deve maiore pecunia quam HS ∞ praeiudicium futurum erit sponsiove facta futurave erit59, ……… IIviri … iuris dictio … esto.

Dieselbe Vorkehrung trifft das Gesetz in Kap. 89 (X A 16 – 25), wo es die Duumvirn anweist, Einzelrichter und Rekuperatoren nach den stadtrömischen Regeln einzusetzen60. a) Der Teilung einer Klage stand an sich nichts im Wege. Der Darlehensgläubiger, der weniger einklagte, als ihm geschuldet wurde, etwa, in Irni, 1000 Sesterzen von geschuldeten 2000, drang mit seiner Klage durch. Das Edikt des Prätors sah allerdings vor, daß die Klage auf den Rest an der exceptio litis dividuae scheiterte, wenn sie innerhalb derselben Prätur erhoben wurde61. Und da das Edikt des Statthalters darin sicher nicht abwich und sein Album für den Duumvir in Irni verbindlich war (Kap. 85), ist anzunehmen, daß dies auch hier die Rechtslage war. Der Duumvir hatte mithin grundsätzlich auch für eine Teilklage Gerichtsbarkeit, sofern sie nicht 1000 Sesterzen überstieg62. Das Gesetz versagte ihm die Zuständigkeit für eine sol58 Unten IV. – Keine Erklärung wird sich allerdings für die verbreitete Annahme finden, die Prorogationsklausel erstrecke sich auf alle in den neque-Sätzen ausgenommenen Klagen (und nicht nur auf sie: oben II. 2.) mit Ausnahme der praeiudicia oder der praeiudicia und Sponsionsklagen de capite libro; ich sehe nicht, wie sie aus dem Text begründet werden könnte. 59 Sponsiove facta futurave erit ist eine der vielen Unregelmäßigkeiten der Irnitana (die für das ganze Gesetz auf Art und Herkunft vor allem weiteren untersucht werden müßten); zutreffend Kap. 89: sponsio … facta sit fiatve. Die coniugatio periphrastica in praeiudicium futurum erit ist dagegen berechtigt, vgl. Rodger 157 bei A. 25. 60 s. soeben unter II. 4. 61 Gai 4. 56, 122. Lenel, EP 502; Kaser, RZ 248.

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che Klage jedoch, wenn sie in fraudem legis auf den Teilbetrag beschränkt, also der Teilbetrag eingeklagt wurde, um die allgemeine Jurisdiktionsgrenze von 1000 Sesterzen zu unterlaufen63: wenn ea res dividua, quo huic legi fraus fieret, facta sit fiatve64. b) Für Streitsachen de maiore pecunia65 quam HS ∞ war der Statthalter der Provinz zuständig. Klagen vor dem Duumvir, die nach ihrem Streitwert in seine Zuständigkeit fielen, waren seiner Jurisdiktion gleichwohl entzogen, wenn sie einen solchen Prozeß präjudizierten: wenn das Urteil eine Entscheidung einschloß, deren Gegenstand die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen überstieg. Dasselbe galt für Sponsionen de maiore pecunia66 quam HS ∞. Gemeint sind Klagen aus bedingten Geldversprechen nach dem Muster67: ‚Si homo, quo de agitur, ex iure Quiritium meus est, sestertios XXV nummos dare spondes?‘ Nach ihrem Streitwert fiel die Stipulationsklage in die Jurisdiktion des Duumvir; das Urteil schloß aber die Feststellung über den Bestand des Rechts ein, den die Parteien zum Kriterium der Verpflichtung gemacht hatten. Darum entzog das Gesetz dem Duumvir die Zuständigkeit für die Klage aus der sponsio praeiudicialis68, wenn der Streitwert der als Vorfrage zu entscheidenden res die allgemeine Begrenzung seiner Zuständigkeit überstieg69. Die danach von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommenen Stipulationsklagen auf den Kreis der bekannten Feststellungsverfahren per sponsionem70 zu fixieren, wäre mit dem Text nicht vereinbar, wie es auch unzulässig wäre, das praeiudicium de maiore pecunia quam HS ∞ auf ein „Feststellungsverfahren im technischen Sinn“ festzulegen71. Anwendungsfeld und Wirkungsweise der ausge62 Nicht hierher gehört D 2.1.11 pr. Gai 1 ed prov; dort geht es um mehrere, aus verschiedenen Rechtsverhältnissen begründete und darum von einander unabhängige Klagen, die gleichzeitig anhängig sind. 63 Wie der Magistrat diese Absicht im konkreten Fall ausschloß, ist eine allgemeine Frage der causae cognitio. 64 D’Ors 171; Simshäuser 644; Lamberti 153. 65 So Kap. 84; treffender Kap. 89: de maiore re. 66 Treffender auch hier Kap. 89: de maiore re. 67 Gai 4. 93. 68 Gai 4. 94. 69 Zutreffend erwogen von de Bernardi 119, 123. – Nur Bürger und Einwohner von Irni unterstanden der Jurisdiktion des Duumvir. Als Latinus konnte der Bürger kein Eigentum ex iure Quiritium haben; er hätte vermutlich Si homo ex iure Latino meus est stipulieren müssen. Der Einwohner dagegen konnte römischer Bürger sein und darum auch Eigentum ex iure Quiritium haben. Dasselbe muß für den Municeps gegolten haben, der durch Bekleidung eines ordentlichen Munizipalamts das römische Bürgerrecht erwarb – obwohl er Municeps blieb (Mommsen 300). Aber hätte der Duumvir, wenn auch nur inzidenter, über den Bestand des Eigentums ex iure Quiritium entscheiden können, wenn die res die Streitwertgrenze nicht überstieg? Siehe auch u. A. 94. 70 Kaser, RZ 266, auch 76 f., 254. 71 So aber für das praeiudicium de capite libero Hackl, SZ 114 (1997) 152. Zu den ‚selbständigen Feststellungsklagen‘ Kaser 266 f.; Hackl 347 ff.

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nommenen praeiudicia und Sponsionsklagen brauchen indessen hier nicht weiter verfolgt zu werden72. Der Grund ihres Ausschlusses liegt zu Tage: ihr Ausschluß sollte die allgemeine Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen gegen jede Umgehung sichern73. c) Im ersten neque-Satz werden außerdem praeiudicia und Sponsionen de capite libero74 von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen. Wie die sponsio de maiore pecunia quam HS ∞ war die de capite libero ein präjudizielles Versprechen75 und konnte etwa lauten: ‚Si homo, quo de agitur, ex iure Latino76 liber est, sestertios XXV nummos dare spondes?‘ Die Klage aus diesem Versprechen ging auf Zahlung von 25 Sesterzen; das Urteil schloß aber die Entscheidung über die Freiheit der in der Bedingung genannten Person ein77. Kein Zweifel, daß aus diesem Grunde Sponsionsklagen de capite libero, soweit sie nicht schon an der Streitwertgrenze scheiter72 Für eine Beschränkung ihres Anwendungsfeldes gab es, wenn ich recht sehe, keinen Anlaß. Andererseits ist wohl auszuschließen, daß inzidenter getroffene Entscheidungen die bindende Wirkung echter Präjudizien gehabt haben könnten. 73 Vgl. Lamberti 151. 74 Sponsiove facta futurave erit wird von d’Ors, SDHI 49 (1983) 29 gegen den Text nur auf de maiore pecunia quam HS ∞ bezogen. Das praeiudicium de capite libero hält er ebenda für den kriminalen Kapitalprozeß (juicio capital): „se excluyen igualmente los juicios capitales“; 30: „Pero también en estos juicios, con exceptión del juicio capital, hay jurisdicción de los dunviros cuando ambos litigantes estánde acuerdo“. 1986 wird dieses kapitale Mißverständnis noch einmal wiederholt (d’Ors 171 f.), und später von Galsterer, RH 65 (1987) 201 und Simshäuser, RH 67 (1989) 645 übernommen. Dagegen schon De Bernardi 119 f. und wohl auch Lamberti 149 A. 34. – Für andere ist das praeiudicium de capite libero der Irnitana die ‚selbständige Feststellungsklage‘ (Kaser) an liber sit, deren Existenz für das klassische Recht vor allem von Lenel, EP 380 f. bezweifelt wurde: Lamberti 149 f.; Hackl 348 und SZ 114 (1997) 152. Ich glaube nicht, daß die Irnitana (Hackls Hinweis 348 A. 35 auch auf Kap. 89 geht fehl) den Beweis einer praeiudicialis formula (Gai 4. 44) für das 1. Jh. n. Chr. erbringt. Einmal scheint mir schon die Formulierung des Gesetzes praeiudicium futurum erit (vgl. Rodger 157 bei A. 25) mit dieser Annahme kaum vereinbar zu sein. Sodann wäre ein selbständiges Freiheitspräjudizium, i. e. eine eigene Präjudizialform des Freiheitsprozesses eine von mehreren Klagformen des agere de libertate gewesen (Lenel, EP 380) und unter eben diese Kategorie gefallen und hätte nicht eigens, wie die praeiudicia de maiore quam HS ∞, von der Jurisdiktion des Duumvir ausgeschlossen werden müssen. Ferner wird man de capite libero kaum anderes annehmen können als de maiore pecunia quam HS ∞. Das praeiudicium de capite libero als selbständige Präjudizialklage aufzufassen, ist aber vollends unvereinbar mit der Klausel de ceteris quoque omnibus, de quibus privatim agetur, neque in iis praeiudicium de capite libero futurum erit (Kap. 84 IX B 18 / 19) – auch wenn diese Klausel einer anderen Textschicht des Gesetzes angehören sollte, s. u. VI. 3. 75 De Bernardi 123; Lamberti 151. 76 Vgl. oben A. 69. Der in Irni vor dem Duumvir freigelassene Sklave war Latinus iure optumo und municeps der Gemeinde seines Patrons: Kap. 28 III C 11 f. und Kap. 72 VIII B 16 ff. 77 Vgl. Gai 4. 93 / 94. Das Sponsionsverfahren de capite libero war im 1. Jh. n. Chr. offenbar (noch?) nicht in derselben Weise als Alternative zum Freiheitsprozeß etabliert wie nach Gaius 4. 91 ff. neben dem agere per formulam petitoriam das per sponsionem. Gaius spricht bei der Eigentumsklage bekanntlich von einer actio duplex, während die Irnitana das Sponsionsverfahren de capite libero (noch?) nicht dem de libertate agere unterstellt.

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ten, von der Gerichtsgewalt des Duumvir ausgenommen waren. Für den Ausschluß von praeiudicia de capite libero kann es keinen anderen Grund gegeben haben. Der Ausschluß der praeiudicia und Sponsionen de maiore pecunia quam HS ∞ verhinderte, daß die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen durch praeiudicia und sponsiones praeiudiciales unterlaufen wurde. Der Ausschluß der praeiudicia und Sponsionen de capite libero wird demnach die entsprechende Funktion gehabt haben: nämlich zu verhindern, daß die Unzuständigkeit des Duumvir für Freiheitsprozesse durch praeiudicia und präjudizielle Sponsionen unterlaufen wurde78. Die Verfügung dieser Unzuständigkeit brauchen wir nicht zu suchen: es ist der dritte neque-Satz, durch den die Freiheitsprozesse von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen werden: qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit … neque de libertate … agetur … IIviri … iuris dictio … esto. Da der Ausschluß der Freiheitsprozesse von der Jurisdiktion des Duumvir dieselben Zusatzbestimmungen erforderte wie die Verfügung der allgemeinen Streitwertgrenze, wurden diese Zusatzbestimmungen für beide Begrenzungen der duumviralen Gerichtsgewalt in einem Zuge (im ersten neque-Satz) geregelt79. Da in Kap. 89 der Ausschluß der Freiheitsprozesse nicht wiederholt wird, fehlt dort auch eine Klausel über praeiudicia und Sponsionen de capite libero80. 2. Durch den zweiten neque-Satz (IX B 6 – 8) werden pauschal alle Streitsachen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgeschlossen, deren Tatbestand Gewaltanwendung voraussetzte81. Zu ihnen gehörten ersichtlich die Gewaltdelikte82, der Raub, der mit der actio vi bonorum raptorum verfolgt wurde, und die Schädigung fremden Vermögens vi hominibus armatis coactisve, vielleicht auch die Klagen, die der Prätor in den Edikten de turba und de incendio ruina naufragio verhieß83. Von den Interdikten fielen gewiß die beiden restitutorischen de vi und de vi armata unter die Ausnahme, sie setzten gewalttätige Vertreibung aus Grundbesitz voraus84; vielleicht aber auch die zahlreichen prohibitorischen Interdikte, die auf vim fieri veto oder ne vis fiat lauteten85; sie verboten Gewaltanwendung zwar für die Zukunft, zeitigten aber ein Streitverfahren, wenn sich der Adressat dem Gewaltverbot des Magistrats nicht fügte86. Ähnlich schon De Bernardi 123. Diese Zusammenhänge werden durchweg nicht hinreichend beachtet. Anders nur Lamberti 152 f., die allerdings annimmt, daß für die Verfahren de libertate anderes galt als für die praeiudicia de capite libero; s. unten A. 119. 80 Siehe oben II. 4. 81 Die Vorschrift wird von der Irnitana-Literatur durchweg vernachlässigt. 82 Lenel, EP § 187. 83 Lenel, EP §§ 188, 189. 84 Lenel, EP § 245. 85 Wie die bekannten Besitzschutzinterdikte uti possidetis und utrubi (Lenel, EP §§ 247 u. 264), aber etwa auch die Interdikte Lenel, EP §§ 236, 238 ff., 244, 246 (ne vis fiat), 250 ff. Sämtliche Interdikte behandelt A. Berger, RE 9 (1916) 1630 – 1685. 78 79

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Die Klausel neque ea res agetur qua in re vi factum sit galt indessen nicht ohne Gegenausnahme; sie galt nicht, wenn die Gewaltanwendung ‚wegen eines Interdikts‘ geschehen war: quod eius non ex interdicto decretove iussuve87 eius, qui iure dicundo praeerit, factum sit. Wann das der Fall war, liegt nicht auf der Hand. Die Gegenausnahme scheint mir aber vorzuliegen, wenn das Interdiktsverfahren uti possidetis oder auch das utrubi zu dem Zweck angestrengt wurde, ein Prozeßurteil über die Besitzlage herbeizuführen, wie es häufig zur Vorbereitung des Eigentumsprozesses geschah88; der Verstoß gegen das magistratische Gewaltverbot, den das Streitverfahren per sponsionem voraussetzte, wurde dann von den Parteien verabredet und durch einen symbolischen Gewaltakt vollzogen89. Gaius zählt diese ‚vis ex conventu‘ zu den cetera ex interdicto, die von den Parteien vorgenommen werden mußten, um das Verfahren in Gang zu bringen, und die der Magistrat notfalls erzwang90. Die Dinge bedürfen der näheren Untersuchung. Vorerst sehe ich für die Gegenausnahme keine weitere Anwendung. Ihre Beschränkung auf ‚vis ex conventu‘ wäre auch plausibel. Denn daß die Irnitana pauschal Gerichtsverfahren über Gewaltanwendung von der lokalen Jurisdiktion ausnahm und der Gerichtsbarkeit des Statthalters vorbehielt, war, zumal in der Provinz, ein Gebot der Machtsicherung und des Friedensschutzes. Es entspräche nur diesem besonderen öffentlichen Interesse, wenn das Gesetz die Gegenausnahme auf den Fall symbolischer oder formaler Gewaltanwendung beschränkt hätte. 86 Ex prohibitoriis interdictis gestritten wurde stets per sponsionem (Gai 4.141), die zu leisten der Kläger den Beklagten aufforderte (Gai 4. 165; bei den interdicta duplicia: alter alterum sponsione provocat: Gai 4. 166); sie lautete etwa: Si adversus edictum praetoris vim fecisti, tot nummos mihi dare spondes? Spondeo. Zum Verfahren siehe Berger 1693 ff.; Lenel, EP 449 f.; Hackl 417. 87 Zu dieser Häufung von Synonymen des Interdiktenrechts vgl. den Sprachgebrauch in Gai 4. 138 ff. und allgemein zur Häufung von parallelen und synonymen Begriffen J. G. Wolf, in: D. Nörr / S. Nishimura (Hrsg.), Mandatum und Verwandtes (1993) 80 f. Auch in der Irnitana begegnet sie allenthalben, etwa: in unserem Kap. 84 agere petere persequi (IX B 3) und iudici datio addictio (24 / 25 und 27); außerdem de pecunia … distribuenda dividenda discribenda (Kap. 79 VIII C 40 / 41); proposita proscripta (Kap. 85 IX B 37); oder iudices … dati subditi addictive (Kap. 91 X A 45 / 46). 88 Gai 4. 148; vgl. etwa Berger 1683 f.; Kaser, RP I 397; L. Labruna, Vim fieri veto (1971) 174 f. 89 Zum Sponsionsverfahren dieser interdicta duplicia siehe etwa M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß, 2. Bd. (1865) 372 ff.; Berger 1695 ff.; Lenel, EP 471 f.; Kaser, RZ 327 f. 90 Gai 4. 170: Sed quia nonnulli interdicto reddito cetera ex interdicto facere nolebant atque ob id non poterat res expediri, praetor in eam rem prospexit et comparavit interdicta, quae secundaria appellamus, quod secundo loco redduntur. quorum vis et potestas haec est, ut qui cetera ex interdicto non faciat, velut qui vim non faciat. … Siehe auch Ulp D 48.19.32. Von vim facere ex interdicto sprechen darum u. a. E. Jobbé-Duval, Études sur l’histoire de la procédure civile chez les Romains I (1896) 442; Lenel, EP 473. Über den formalen Gewaltakt vgl. außerdem etwa Bethmann-H. 377 A. 156; Berger 1696; Kaser, RZ 327; Labruna 158 ff.; Hackl 418; G. Falcone, Ricerche sull’origine dell’interdetto Uti possidetis, in: APal 44 (1996) 266 ff., alle m. weit. Lit.

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3. An dritter Stelle werden die Freiheitsprozesse von der Jurisdiktion des Duumvir ausgeschlossen: neque de libertate agetur (IX B 8 / 9). Während praeiudicia und Sponsionsverfahren de capite libero schon im ersten neque-Satz ausgenommen werden91, wird hier der Ausschluß der eigentlichen Freiheitsprozesse92, der Vindikationen in libertatem und in servitutem verfügt93: über jede Art von Freiheit, über die libertas ex iure Quiritium wie über die Latina libertas, konnte nur vor dem Statthalter prozessiert werden94. Maßgebend für diesen Vorbehalt war auch hier das öffentliche Interesse, das sich daraus ergab, daß mit der Latina libertas der Status der Latinität verbunden und der Freigelassene municeps der Gemeinde seines Patrons war95. 4. a) Die Verurteilung aus den Klagen, die das Gesetz im vierten neque-Satz (IX B 9 – 16) von der Jurisdiktion des Duumvir ausnimmt, bewirkte eine Bescholtenheit des Verurteilten, an die, mit einer Ausnahme96, die Rechtsordnung in ganz verschiedenen Bereichen bedeutende Nachteile knüpfte97. Das prätorische Edikt, in seiner hadrianischen Fassung, beschränkte die Postulationfähigkeit des Verurteilten pro alio98 und schloß ihn weithin von der Stellvertretung aus99: der Infame konnte weder einen cognitor oder procurator bestellen100 noch selbst, soweit er postulationsunfähig war, zum cognitor oder procurator bestellt werden101. Die Tabula Heracleensis überliefert spätrepublikanische, vermutlich julische Gesetzesvorschriften102, die für die Gemeinden Italiens mit der Verurteilung aus den infamierenden Siehe oben II. 1. c). Kaser, PR 288. 93 Lamberti 152; vernachlässigt von Hackl, SZ 114 (1997) 152. 94 Es versteht sich, daß die rei vindicatio eines Bürgers von Irni nicht auf ex iure Quiritium Ai Ai esse lauten konnte oder die adsertio in libertatem eines in Irni freigelassenen Sklaven auf liberum esse ex iure Quiritium. Die Formeln mußten abgeändert werden, und da die Abänderung auf Gesetz beruhte, mochte sie einfach ex iure Latino oder ähnlich lauten; vgl. o. A. 69. 95 Vgl. Kap. 28 III C 10 – 13; Mommsen 293 ff. 96 Nämlich mit Ausnahme der Klage aus einer sponsio quae in probrum facta esse dicatur, siehe u. nach A. 111. 97 Vgl. Kaser, RP 274, RZ 151 und, eingehend, SZ 73 (1956) 220 ff. Die Listen der infamierenden Klagen weichen im einzelnen sowohl voneinander wie von der unseres Kap. 84 ab (alle bei Gonzáles 228), was indessen hier außer Betracht bleiben kann. Die actio vi bonorum raptorum, für die Liste der iudicia famosa des stadtrömischen Edikts sowohl durch D 3.2.1 wie Gai 4.182 und Inst. 4.16.2 belegt, ist in der Liste der Irnitana (wie in der der Tabula Heracleensis, dazu Kaser, SZ 73 [1956] 240 A. 95) nicht vertreten; sie wird indessen schon im zweiten neque-Satz von der Jurisdiktion des Duumvir, und zwar definitiv (siehe u. IV 1), ausgeschlossen. 98 Lenel, EP § 16; Gai 4. 182. Kaser, SZ 73 (1956) 245 f. 99 Gai 4. 182. 100 Lenel, EP §§ 25, 30. Kaser, SZ 73 (1956) 247, 248. 101 Lenel, §§ 26, 30. Kaser, SZ 73 (1956) 248. 102 Vgl. M. H. Crawford u. C. Nicolet, in: Roman Statutes I (1996) 358 ff. 91 92

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Klagen den Ausschluß vom Dekurionat und den Munizipalämtern verbinden103. Es ist gut möglich und sogar wahrscheinlich, daß auch die Lex Irnitana, wo sie die Qualifikationen für den ordo decurionum und die Ämter regelte104, diesen Ausschluß vorsah105. Und wie in Rom, so haben sicher auch in der Baetica die prätorischen Postulations- und Stellvertretungsverbote gegolten; das Edikt des Statthalters wird auch darin dem stadtrömischen gefolgt sein106. Denn unter dieser Annahme ist der Ausschluß der infamierenden Klagen von der lokalen Gerichtsbarkeit ohne weiteres verständlich. Ihn allerdings diktierte kein unmittelbares öffentliches Interesse, wie den Ausschluß der Freiheitsprozesse und der Klagen wegen Gewalttätigkeiten. Maßgebend war hier vielmehr der Schutz des Beklagten. Die Folgen der Verurteilung aus einer infamierenden Klage waren für ihn über den Prozeßverlust hinaus so schwerwiegend, daß der Prozeß dem Statthalter vorbehalten wurde107: seine Zuständigkeit nahm das belastende Verfahren aus dem Geflecht der örtlichen sozialen Beziehungen heraus und bot zugleich die höhere Gewähr für die richtige Entscheidung. b) Der Katalog der infamierenden Klagen ist zweifach untergliedert. Aus den ersten fünf Klagen – pro socio, fiduciae, mandati, depositi und tutelae – haftete auch der Erbe des Schuldners, den die Rechtsordnung aber nicht mit Infamie belegen konnte. Sie werden darum von der Jurisdiktion des Duumvir mit der Maßgabe ausgeschlossen, daß der Beklagte suo nomine quid earum rerum fecisse dicatur108: der Erbe des Fiduziars oder Mandatars oder auch des Vormunds konnte mithin im Rahmen der allgemeinen Streitwertgrenze in Irni verklagt werden109. Für die zweite Gruppe des Katalogs bedurfte es dieser Einschränkung nicht; die Klagen ex lege Laetoria, de dolo malo, furti und iniuriarum waren, wie alle Strafklagen, passiv unvererblich110. Tab. Heracl. 108 – 112 (Bruns 108; FIRA I 148 / 9; Roman Statutes I 367). Auf der nicht erhaltenen Tafel IV: González 208. 105 Lamberti 38 f. 106 Vgl. oben III. 1. a). 107 Lamberti 157. Nach Mommsen 310 verweist Kap. 54 der Lex Malacitana (I 64 – II 3; González 163; Lamberti 306 f.) auf „die römische Gemeindeordnung oder die Lex Iulia municipalis“ (Tab. Heracl. 108 ff.), s. soeben bei A. 103. 108 Vgl. D 3.2.1: Praetoris verba dicunt: … qui pro socio, tutelae, mandati, depositi suo nomine non contrario iudicio damnatus erit; Fragmentum Atestinum 1 – 3: mandati aut tutelae suo nomine quodve ipse earum rerum quid gessisse dicetur. 109 Von der Vererblichkeit der Klage ist, wie sich versteht, der Fortbestand des Rechtsverhältnisses zu unterscheiden, vgl. Ulp D 3.2.6.6. 110 Anders als die Irnitana und das Fragmentum Atestinum stellte das Edikt des Prätors auch die Verurteilung aus den Strafklagen unter den Vorbehalt suo nomine: D 3.2.1 und 3.2.4.5 – vielleicht weil sie auf den Erben übergingen, wenn sie anhängig waren; instruktiv Paul D 3.2.14. Nach Ulp D 3.2.6.2 wurden auch Prokurator, defensor, Vormund und Kurator alieno nomine verurteilt und darum nicht infam. Ich gehe auf den mir zweifelhaften Text nicht ein, weil dieser Gesichtspunkt für die Untergliederung des Klagenkatalogs der Irnitana ersichtlich keine Rolle spielte. 103 104

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Diese zweite Gruppe von Klagen ist indessen nicht völlig homogen: die Klage aus einer sponsio in probrum facta fällt aus der Reihe111. Sie war weder eine Strafklage noch teilte sie mit den infamierenden Klagen auch nur eine von deren prätorischen oder gesetzlichen Wirkungen: in keinem Verzeichnis von iudicia famosa wird sie aufgeführt112. Wenn die Irnitana sie gleichwohl zusammen mit den infamierenden Strafklagen von der lokalen Jurisdiktion ausschloß und der Gerichtsbarkeit des Statthalters vorbehielt, dann muß die Klage aus einer sponsio in probrum facta für den Sponsor von vergleichbarer Belastung gewesen sein. Soweit ich sehe, ging es tatsächlich um seine Reputation. Durch Beschuldigung und Nachrede herausgefordert113, mußte er sich mit allem Risiko auf sponsio und Prozeß einlassen, um sein soziales Ansehen zu verteidigen. Wie eine sponsio praeiudicialis lautete das Versprechen auf Zahlung einer unbedeutenden Summe Geldes für den Fall, daß er die ihm nachgesagte ehrenrührige Tat wirklich begangen hatte, so daß eine Verurteilung aus diesem Versprechen die Feststellung der Tat einschloß und ihm zur Schande gereichen mußte. Der Anspruch war offenbar nach Inhalt und Funktion unvererblich und darum die sponsio in die zweite Gruppe des Katalogs eingeordnet114. Die erste Gruppe von Klagen ist ihrerseits wieder untergliedert. Während Depositar und Tutor nur für dolus malus hafteten, mußten socius, Fiduziar und Mandatar, jedenfalls fallweise, auch für culpa einstehen. Da aber nur bei vorsätzlicher Pflichtverletzung die Verurteilung Infamie bewirkte, wurden die ersten drei Klagen mit dem Vorbehalt versehen quod dolo malo factum esse dicatur115. 5. Als zweites Zwischenergebnis können wir zusammenfassen: Den vier nequeSätzen entsprechen vier Kategorien von Klagen, die das Gesetz von der Jurisdiktion des Duumvir auch für den Fall ausschließt, daß der Wert ihres Gegenstandes die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen nicht übersteigt. Im ersten neque-Satz sind die Klagen zusammengefaßt, die geeignet waren, die allgemeine Streitwertgrenze und 111 Lamberti 160 spricht von einer „misteriosa figura“ und die Erklärungen liegen in der Tat weit auseinander. Verfehlt A. d’Ors, ‚Sodalitas‘. St. Guarino 6 (1984) 2585 f.; förderlich R. Domingo, SDHI 55 (1989) 419 ff.; im ganzen zutreffend de Bernardi 124 ff.; kritisch jedoch Lamberti 161 f. Eine erneute Untersuchung ist wünschenswert. Die Quellenlage ist spärlich, der Schlüsseltext Liv. 40.46.14; Beispiele bei Liv. 39.43.5 (und Cic. Cato 12.42), Cic. Verr. 2.5.54.141 und vielleicht Val. Max. 6.1.10; benachbarte Anwendungen der sponsio bei Cic. Quinct. 14.46, Verr. 2.3.57.132 und 58 / 59.135, off. 3.19.77; Macr. Sat. 3.17.15; Petron. 70.13. 112 Vgl. die Synopse bei Gonzáles 228. 113 Ein provocare sponsione (dazu grundlegend J. A. Crook, JRS 66 [1976] 132 ff.) war jedenfalls typischerweise der Anlaß; anders in Val. Max. 6.1.10 – wenn denn die angebotene sponsio auch hier eine in probrum facta gewesen sein sollte. 114 Auf eine infamierende Wirkung der Sponsionsklage, wie sie den übrigen Klagen eigen war, kann daraus (vgl. aber Lamberti 162) nicht geschlossen werden – auch wenn probrum bekanntlich die technische Bezeichnung des sittenwidrigen Verhaltens war, das der Censor mit der Folge der ignominia rügte: Mommsen, StR II 1, 375 ff., 382 A. 8; Kaser, SZ 73 (1956) 224 ff., zu ignominia und infamia 227 ff. 115 Lamberti 155 f.

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die Unzuständigkeit des Duumvir für Freiheitsprozesse zu unterlaufen; ihr Ausschluß ist sozusagen eine Folge- oder Zusatzbestimmung: sie sichert die Wirksamkeit dieser beiden primären Zuständigkeitsvorschriften. Mit dem Ausschluß der Klagen wegen Gewalttätigkeiten im zweiten und der Freiheitsprozesse im dritten neque-Satz folgte die Irnitana öffentlichem Interesse: bei Gewaltanwendung forderte das Friedensgebot die Zuständigkeit des Statthalters, in Statusfragen die Ordnung des Gemeinwesens. Mit dem vierten neque-Satz schließlich werden d i e Klagen der Gerichtsbarkeit des Statthalters vorbehalten, die bei Prozeßverlust Bescholtenheit des Verurteilten bewirkten; diese Beschränkung der lokalen Jurisdiktion war im Interesse des Beklagten.

IV. Die Prorogationsklausel 1. Dem Verzeichnis der Klagen, die das Gesetz von der Jurisdiktion des Duumvir ausnimmt und der Gerichtsbarkeit des Statthalters vorbehält, folgt die Klausel: de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet (sci. IIviri iuris dictio esto). Wie wir sahen116, erstreckt sich diese Klausel nicht auf quae res HS ∞ minorisve erit; nach der Logik des sprachlichen Ausdrucks kann sie sich nur auf das anschließende Verzeichnis der Ausnahmen beziehen: nach dessen syntaktischer Organisation entweder auf das gesamte Verzeichnis, nämlich auf alle vier neque-Sätze, oder nur auf den letzten neque-Satz117. Der Ausschluß der im ersten neque-Satz zusammengefaßten Klagen sichert die allgemeine Streitwertgrenze sowie den Ausschluß der Freiheitsprozesse gegen Umgehung. Da die Streitwertgrenze nicht zur Disposition der Parteien stand, muß die Irnitana die lokale Zuständigkeit auch für die Klagen, die geeignet waren, die Streitwertgrenze zu umgehen, definitiv ausgeschlossen haben. Und da sie zugleich praeiudicia und präjudizielle Sponsionen de capite libero ausschließt, kann für deren Ausschluß nichts anderes gelten: auch er muß definitiv sein118. Und wie daraus wiederum zu folgern ist: auch der der Freiheitsprozesse selbst119. Halten wir Oben II. 3. Vgl. oben bei A. 58. 118 Auch nach Rodger 149 f. sind „cases where an issue of free status arises“ von der Jurisdiktion des Duumvir ohne Prorogationsmöglichkeit ausgeschlossen. Für Klagen von über 1000 Sesterzen Streitwert (s. unten A. 143) entnimmt Rodger diese „qualification“ den Worten neque in iis praeiudicium de capite libero futurum erit der de ceteris-Klausel (zu ihr s. unten VI) und vermutet „that it is also aimed at those under 1000 sesterces“. Offenbar sieht er darin keinen Widerspruch zu seiner Annahme, daß die Prorogationsklausel de is rebus etc. für alle ausgenommenen Klagen gilt, also auch für die praeiudicia und Sponsionen de capite libero (s. oben III. 1. c)). Was für die Klagen de libertate galt, bleibt offen. Zustimmend G. P. Burton, Classical Quarterly 46 (1996) 217. 119 Nach Gonzales 229 zu ll. 17 / 18 sind zwar praeiudicia de capite libero von der Prorogation „implicitly“ ausgeschlossen, nicht aber die Klagen de libertate. Ebenso inkonsequent und unvereinbar mit dem Text sieht Hackl 183 A. 82a i.f. „dem lokalen Gericht gänzlich ent116 117

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aber zunächst fest, daß sich die Prorogationsklausel nicht auf die Klagen des ersten neque-Satzes bezieht, dann ist die nächste Folgerung, daß sie sich nur auf die des letzten neque-Satzes beziehen kann. Auch nach dieser Folgerung waren die Freiheitsprozesse von der lokalen Jurisdiktion absolut ausgeschlossen120, und außer den Freiheitsprozessen auch die Klagen wegen Gewalttätigkeiten. Danach ergibt sich folgendes Bild: Die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen war absolut; Streitsachen, deren Wert diese Begrenzung überstieg, waren der Gerichtsbarkeit des Statthalters ausnahmslos vorbehalten; das Gesetz gestattete den Parteien nicht, durch ihr Einverständnis die Zuständigkeit des Duumvir zu begründen. Dasselbe galt für die Klagen wegen Gewalttätigkeiten und für die Freiheitsprozesse; auch sie waren der Gerichtsbarkeit des Statthalters definitiv vorbehalten. Anders nur die Klagen, die bei Verurteilung Bescholtenheit bewirkten; ihr Ausschluß von der lokalen Jurisdiktion unterlag der Disposition der Parteien; durch ihr Einverständnis konnten sie für diese Klagen die Zuständigkeit des Duumvir begründen. 2. Die Systematik dieser Zuständigkeitsverteilung entspricht einem durchdachten Konzept. Das Gesetz gewährt dem Duumvir dem Streitwert nach begrenzte, der Materie nach aber umfassende Jurisdiktion und nimmt von dieser ratione materiae unbegrenzten Zuständigkeit lediglich die in den neque-Sätzen aufgelisteten Klagen aus, teils definitiv, teils mit der Möglichkeit der Prorogation. An der Streitwertgrenze scheiterte in Irni jede Klage, deren Wert 1000 Sesterzen überstieg; für sie war, ungeachtet ihrer Spezies, der Statthalter zuständig. Fiel aber die Klage nach ihrem Streitwert in die Zuständigkeit des Duumvir, kam es darauf an, ob sie zu einer in den neque-Sätzen ausgeschlossenen Spezies gehörte; und gehörte sie zu einer dieser Spezies, zu welcher Kategorie diese zählte. Für eine Mandatsklage mit einem Streitwert von 1200 Sesterzen wäre demnach der Duumvir nicht zuständig gewesen, weil die Klage die allgemeine Streitwertgrenze seiner Zuständigkeit überstieg; für eine Mandatsklage auf 800 Sesterzen dagegen, weil er für Mandatsklagen nicht zuständig war. Für die Mandatsklage auf 800 Seterzen hätten die Streitparteien seine Zuständigkeit aber begründen können, für die auf 1200 Sesterzen hingegen nicht. 3. Für eine actio vi bonorum raptorum auf 800 Sesterzen hätten indessen auch die Streitparteien die Zuständigkeit des Duumvir nicht begründen können. Die Untersuchung der in den neque-Sätzen enumerierten Klagen hat auch die Gründe ihres defizogen … nach Kap. 84 Z. 5 f.; 16 f.; 19 f. lex Irn. die praeiudicia de capite libero“ und, wie er SZ 114 (1997) 152 mit A. 52 hinzufügt, die „Klagen mittels Präjudizialsponsionen“, offenbar nicht dagegen die Klagen de libertate (Kap. 84 IX B 8 / 9). Ähnlich W. Simshäuser, RH 67 (1989) 645; F. La Rosa, Iura 40 (1989 / 92) 64. Auch nach Lamberti 149 ff. sind praeiudicia und vielleicht auch Sponsionsklagen de capite libero (152) von der lokalen Jurisdiktion definitiv ausgeschlossen; sie sieht aber die Inkonsequenz, unter dieser Voraussetzung für Klagen de libertate die Prorogation zuzulassen, und will darum deren Anwendung auf bestimmte Fälle reduzieren (152). 120 Dasselbe vermutet ohne weiteres Laffi 147.

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nitiven oder bedingten Ausschlusses erkennen lassen121. Die im vierten neque-Satz aufgelisteten Klagen sind im privaten Interesse des Beklagten122 von der lokalen Jurisdiktion ausgeschlossen, die im zweiten und dritten neque-Satz zusammengefaßten Streitsachen dagegen im öffentlichen Interesse123. Das öffentliche Interesse an ihrem Ausschluß von der lokalen Jurisdiktion und der Zuständigkeit des Statthalters ließ eine Disposition der Parteien nicht zu. Die im privaten Interesse getroffene Regelung konnte das Gesetz dagegen in die Verfügung der Parteien stellen: der mit Bescholtenheit bedrohte Beklagte kann auf den ihm zugedachten Schutz des Gesetzes verzichten und gemeinsam mit dem Kläger die Zuständigkeit des Duumvir begründen. Die Entscheidung für eine absolute Streitwertgrenze ist dagegen von hohem politischem Rang. Für die Romanisierung der Provinz ist die Verteilung der Zuständigkeit durch eine Streitwertgrenze auf die zentrale Gerichtsbarkeit des Statthalters und die örtliche der Gemeinden ein wirksames Instrument, Durchsetzung und Akzeptanz des (neuen) Rechts zu steuern: Die zentrale Gerichtsbarkeit sichert neben dem Machtanspruch Roms Einheitlichkeit und Qualität der Rechtsanwendung; die örtliche die Anwendung des Rechts auch in den kleinen Streitsachen des Alltags und damit seine stete Präsenz und dauernde Einübung. Die Verfügung einer absoluten Streitwertgrenze liegt darum auch in einem kleineren Gemeinwesen näher als in Handels- und Verkehrszentren, wo fähiges und geschultes Personal eher zur Verfügung steht. Den konkreten lokalen Umständen und Bedürfnissen konnte zudem immer auch noch mit der Bemessung des zulässigen Streitwerts Rechnung getragen werden. 4. Die Zuständigkeitsverteilung der Irnitana war nicht ohne Vorbild und Erprobung. Das Fragmentum Atestinum124 bezeugt sie uns schon für eine spätrepublikanische125 Gerichtsordnung Italiens. Die ersten neun Zeilen des Fragments lauten126: mandati aut tutelae, suo nomine quodve ipse earum rerum quid gessisse dicetur, addicetur127 aut quod furti, quod ad hominem liberum liberamve pertinere deicatur, aut iniuriarum agetur, sei is, a quo petetur quomve quo agetur, de ea re in eo municipio colonia praefectura iudicio certare volet128 et si ea res sestertium decem milium minorisue erit, quo minus ibei de ea re iudex arbiterve addicatur detur quove minus ibei de ea re iudicium ita feiat, utei de ieis rebus, quibus ex hac lege iudicia data erunt, iudicium fierei exerceri oportebit, ex hac lege nihilum rogatur. Siehe o. III. 5. Siehe o. III. 4. a). 123 Siehe o. III. 2. und 3. 124 Roman Statutes I 311 – 324 mit Bibliographie, Einführung, engl. Übersetzung und Kommentar. 125 Zur umstrittenen Datierung zuletzt U. Laffi, Athenaeum 78 (1990) 167 ff.; M. H. Crawford, in: Roman Statutes I 315 ff. 126 Bruns 101 / 2; FIRA I 176 / 7; Roman Statutes I 319. 127 So die Bronze. Mommsen 177: adducetur; Crawford 321: agetur. 128 Volet ist ergänzt; vgl. insb. Mommsen 177, zuletzt Crawford 322. 121 122

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Die Anlehnung der Irnitana an dieses Gestz ist evident. Es geht in diesem Textstück um die Zuständigkeit für infamierende Klagen. Wird aus Auftrag oder Vormundschaft, wegen furtum oder iniuria geklagt, so kann der Rechtsstreit vor dem lokalen Gericht geführt werden, wenn der Beklagte es will und der Streitwert 10.000 Sesterzen oder weniger beträgt129. Daraus folgt, daß diese Gerichtsordnung eine allgemeine Streitwertgrenze der örtlichen Gerichtsbarkeit von 10.000 Sesterzen vorsah; daß sie die benannten Klagen von der ratione materiae unbegrenzten lokalen Jurisdiktion ausnahm; daß sie den Parteien einräumte, für diese Streitsachen die örtliche Zuständigkeit zu begründen130; daß sie aber die Streitwertgrenze nicht zur Disposition der Parteien stellte131. Die Regelung der Irnitana ist deutlich konziser, ihr Konzept jedoch dasselbe132.

V. Exkurs: Die Streitwertgrenze der Lex Rubria Das Fragmentum Atestinum ist von Mommsen als „ein zweites Bruchstück des rubrischen Gesetzes“ publiziert worden133. Trotz vielfachen Widerspruchs134 hat diese Zuschreibung bis heute ihre Anhänger135. Was auf der Bronze aus Veleia von der Lex Rubria136 erhalten ist, erinnert nur mit unspezifischen Details an das Konzept von Irnitana und Fragmentum Atestinum. Zwei der drei Kapitel bestimmen umständlich die Sanktionen gegen den confessus, der nicht zahlt, und gegen den Beklagten, der sich nicht einläßt: Kap. 21 bei der Klage auf pecunia certa credita, Kap. 22 bei allen anderen Leistungsklagen; hier wie dort aber nur bei solchen Klagen, deren Streitgegenstand den Wert von 15.000 Sesterzen nicht übersteigt. Diese Passagen lauten137: 129 Das umständliche und formelhafte quominus … ex hac lege nihilum rogatur ist Kurialstil; Nachweise bei F. J. Bruna, Lex Rubria (1972) 182 f. 130 Währed die Irnitana (IX B 19) ausdrücklich verlangt, daß beide Streitparteien vor dem Duumvir streiten wollen (si uterque volet), bestimmt dieses Gesetz: si eis, a quo petetur … de ea re in eo municipio … iudicio certare volet. Ein sachlicher Unterschied besteht aber nicht (vgl. Pugliese [A. 29] 146 A. 56), da der Kläger, der vor das örtliche Gericht geht, offenbar mit dessen Zuständigkeit einverstanden ist, vgl. Ulpian D 5.1.2 pr., D 2.1.15 und dazu J. G. Wolf, Error im röm. Vertragsrecht (1961) 19 ff. Ähnlich Laffi 149 und Athenaeum 74 (1986) 24; gegen ihn zugespitzt González 230 und Crawford (A. 125) 322. 131 Vgl. Mommsen 188 f.; Laffi 150 bei A. 38; offenbar verkannt von Gonzáles 230; fast wörtlich übereinstimmend Crawford (A. 125) 322, aber mit dem Zusatz: „subject to the limit of 10.000 HS“. 132 Vgl. jetzt F. Camacho, La Infamia en el Derecho Romano (1997) 134 / 5; anders Laffi 150. 133 Mommsen 175 ff. 134 Vgl. nur die Anm. des Hg.s bei Mommsen 175 und jetzt Crawford, in: Roman Statutes I 314 ff. 135 Zuletzt U. Laffi, Athenaeum 74 (1986) 18 ff. und 78 (1990) 167 ff. 136 Roman Statutes I 461 – 477 mit Bibliographie, Einführung, engl. Übersetzung und Kommentar. 137 Bruns 99 f.; FIRA I 173 f.; Roman Statutes I 465 f.

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Cap. 21

A quoquomque pecunia certa credita … petetur, quae res non pluris HS XV erit, sei is eam pecuniam in iure … dare oportere debereve se confessus erit .…

Cap. 22

A quo quid praeter pecuniam certam creditam … petetur, … quae res non pluris HS XV erit, et sei ea res erit, de qua re omnei pecunia ibei ius deicei iudiciave darei ex hac lege oportet oportebit, sei is eam rem … in iure … dare facere praestare restituerve oportere aut se debere … confessus erit …

Die Lex Rubria verfügte für die lokale Gerichtsbarkeit in Gallia Cisalpina offenbar eine allgemeine Streitwertgrenze von 15.000 Sesterzen, die unverrückbar war. In Kap. 22 verordnete sie aber noch eine weitere Einschränkung: et sei ea res erit, de qua re omnei pecunia ibei ius deicei … oportet oportebit. Mommsen sah in diesem Satz freilich eine Erweiterung der munizipalen Kompetenz auf ‚gewisse Ausnahmefälle‘ von unbegrenztem Streitwert138. Für diese Bedeutung von omnei pecunia gibt es aber keine Parallele, und auch ea res kann eigentlich nur die Streitsache sein, quae res non pluris HS XV erit: deren Wertsumme 15.000 Sesterzen nicht übersteigt. Bei den Juristen ist omnis pecunia durchweg die ‚ganze Summe‘ eines feststehenden Betrages, in der Regel einer Forderung139. Vielleicht liegt darum näher, daß die Vorschrift mit omnei pecunia gerade die Streitwertbegrenzung als die unveränderliche Einschränkung der lokalen Jurisdiktion wiederholt140. Die Übersetzung könnte dann lauten: ‚und wenn es sich um eine solche Streitsache handelt, über die, ihrer ganzen Summe nach (nämlich 15.000 Sesterzen), eben dort Recht gesprochen und ein iudicium erteilt werden muß‘. Bei diesem Textverständnis stellt sich allerdings sofort die Frage, in welchen Streitsachen das lokale Gericht in Gallia Cisalpina kein iudicium erteilen durfte. Die Antwort Rudorffs in einer Note zu Puchtas Darstellung der Munizipalverfassung Italiens141 ist heute, nach dem Fund der Irnitana, wahrscheinlicher denn je. Rudorff vermutete, daß causae liberales und famosae von der munizipalen Jurisdiktion ausMommsen 188. Ablehnend zuletzt Bruna (A. 129) 211 f.; Crawford (A. 134) 476. Vgl. etwa Labeo D 18.1.78.2: si unus omnem pecuniam solverit; Iav D 19.2.21: donec pecunia omnis persolveretur; Iul D 18.4.18: si … unus … pecuniam … omnem solverit; Cels D 36.1.33: eam pecuniam omnem ad coloniam … perventuram; Scaev D 18.3.8: se pecuniam omnem reliquam paratum fuisse exsolvere; D 18.5.10.1: si pecunia omnis soluta non esset; D 26.7.58.4: omnis pecuniae … parem causam esse; D 34.3.31 pr.: paene omnem pecuniam sortis et usurarum recepisse; D 40.7.40.8: si omnem pecuniam ab omnibus exegerint; Pap D 36.1.60.3: pecunia omnis retineri potest; Paul. D 5.4.9: ne omnis pecunia solveretur; D 10.2.25.13: sive omnis ea pecunia penes eum … resideret; Ulp D 13.7.9.3: omnis pecunia exsoluta esse debet; Marci D 20.1.5 pr.: solvendae omnis pecuniae causa. Nachweise aus der nichtjuristischen Literatur bei Crawford (A. 134) 476. 140 Der Ablativ omnei pecunia wäre dann der „Abl. der Rücksicht oder näheren Bestimmung oder Beschränkung“: Menge / Thierfelder 76 f. 141 G. F. Puchta, Cursus der Institutionen, 9. Aufl. (1881) besorgt von P. Krüger, 228 Note i. (den 3. Bd. der 2. Aufl. und die folgenden Aufl. bis zur 7. hat Rudorff besorgt). Außerdem vgl. Zeitschrift für Rechtsgeschichte 3 (1863) 75 – 83. 138 139

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geschlossen waren, und berief sich dafür auf Digestenfragmente aus Paulus’ und Ulpians libri ad edictum142. Seine Vermutung war aber von vornherein wahrscheinlich, weil sie zugleich erklärte, warum das Gesetz diese Einschränkung (et sei ea res erit etc.) nur in Kap. 22 macht und nicht auch in Kap. 21 bei der Klage auf pecunia certa credita. Eine unmittelbare Bekräftigung dieser Interpretation ist D 44.7.36 aus Ulpians Kommentierung der (erschlossenen) Ediktsklausel De vadimonio Romam faciendo: Cessat ignominia in condictionibus, quamvis ex famosis causis pendeant. Die Lex Rubria verlieh den Munizipalgerichten in Gallia Cisalpina Gerichtsbarkeit für Klagen bis zu 15.000 Sesterzen. Diese Streitwertgrenze war absolut; sie konnte nicht durch Prorogation überwunden werden. Darin entsprechen sich Rubria, Atestinum und Irnitana. Alles weitere ist unsicher. Wahrscheinlich aber waren Freiheitsprozesse und infamierende Klagen von der lokalen Jurisdiktion auch dann ausgeschlossen, wenn der Streitwert 15.000 Sesterzen nicht überstieg. Ob die Streitparteien innnerhalb dieser Grenze die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für infamierende Klagen begründen konnten, steht dahin.

VI. Die de ceteris-Klausel 1. Die letzte Klausel (IX B 18 – 20) der Zuständigkeitsverteilung ändert nichts an dem gewonnenen Bild: sie ist, wie man längst gesehen hat, redundant143. Im Zusammenhang des verzweigten Satzgefüges lautet sie: qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit neque ea res dividua … facta sit fiatve … neque ea res agetur qua in re vi factum sit … neque de libertate neque pro socio … agetur {……} de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet de ceteris quoque omnibus, de quibus privatim agetur, neque in iis praeiudicium de capite libero futurum erit et omnium rerum nomine de vadimonio promittendo … IIviri … iuris dictio … esto.

Die Irnitana gewährt dem Duumvir Gerichtsbarkeit für Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen oder weniger beträgt. Aus diesem positiv definierten Jurisdiktionsbereich schließt sie in den folgenden vier neque-Sätzen bestimmte Klagen aus – mit der Besonderheit, daß für die des vierten neque-Satzes die Zuständigkeit des Duum142 D 50.17.106 Paul 2 ed; D 44.7.36 Ulp 2 ed. Das Fragmentum Atestinum ist erst 1880 gefunden und veröffentlicht worden. 143 González 229. Nach Rodger 149 f. dagegen ist die Klausel „absolutely essential“; sie begründe die Zuständigkeit des Duumvir für alle Klagen von über 1000 Sesterzen Streitwert – allerdings unter der Voraussetzung, die sich aus Paul D 50.1.28 (dazu unten IX. 2.) ergebe, daß beide Parteien einverstanden waren.

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vir von den Sreitparteien begründet werden kann. Wie er für diese Klagen des vierten neque-Satzes unter der Voraussetzung, daß die Streitparteien es wollen, zuständig sein soll, so soll er ohne weiteres de ceteris q u o q u e omnibus: ‚a u c h für alle übrigen Streitsachen‘ zuständig sein. ‚Alle übrigen Streitsachen‘ können allenfalls jene sein, für die der Duumvir nicht oder nicht ohne weiteres zuständig ist. Nicht oder nicht ohne weiteres zuständig ist er für die Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen übersteigt, und außerdem für die in den neque-Sätzen enumerierten Klagen. Jene Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen übersteigt, werden aber nicht – wie die in den neque-Sätzen enumerierten Klagen – von der Zuständigkeit des Duumvir ausdrücklich ausgenommen; seine Unzuständigkeit für diese Streitsachen ergibt sich vielmehr nur aus der positiven Definition seiner Zuständigkeit. Schon sprachlich kann sich darum die de ceterisKlausel nicht auf sie beziehen144. Es wäre aber auch unsinnig, wenn die Irnitana bestimmte, daß der Duumvir Jurisdiktion habe für Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen oder weniger beträgt, und für alle übrigen! Ebenso unsinnig wäre es, wenn sie die Prorogation zunächst für is rebus zuließe und dann für alle übrigen145. Die de ceteris-Klausel gehört demnach zum Komplex der neque-Sätze. Zu ihnen verhält sie sich komplementär: ‚Alle übrigen Streitsachen‘ sind die ungezählten Klagen, die nicht in den neque-Sätzen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen werden und nach ihrem Streitwert in seine Zuständigkeit fallen. 2. Mit der Klausel de ceteris quoque omnibus, de quibus privatim agetur (sci. IIviri iuris dictio esto) wiederholt sich das Gesetz allerdings. Gewährt es mit den vorausgehenden Klauseln (qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit … neque … neque … neque … neque … agetur) dem Duumvir Gerichtsbarkeit für jede Streitsache, deren Wert 1000 Sesterzen oder weniger beträgt, ausgenommen die in den neque-Sätzen enumerierten, so gewährt es ihm mit der de ceteris-Klausel Gerichtsbarkeit für alle in den neque-Sätzen nicht enumerierten Streitsachen, deren Wert 1000 Sesterzen oder weniger beträgt. So redundant wie die wiederholte Gewährung der Gerichtsbarkeit de ceteris quoque omnibus (rebus) ist die Beschränkung auf private Streitsachen, die nämlich schon eingangs (IX B 2) für das ganze Kapitel 84 getroffen wird146. Die Ausnahme neque in iis praeiudicium de capite libero futurum erit ist dagegen nicht nur redundant; sie ist auch unlogisch und geht sozusagen ins Leere. Denn die praeiudicia de capite libero gehören zu den in den neque-Sätzen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommenen Streitsachen und fallen darum gar nicht unter die ceterae res, von denen sie in der de ceteris-Klausel ausgenommen werden. 144 So verstehe ich auch Gonzáles 229: „Since the cases covered here have not been excluded, the clause is strictly speaking redundant.“ 145 Die Bedingung der Prorogationsklausel si uterque volet kann freilich schon wegen der Satzstellung nicht auch auf de ceteris quoque omnibus bezogen werden. 146 Diese allgemeine Begrenzung wiederholt die Irnitana allerdings häufig, vgl. Lamberti 515 s. v. privatus und privatim.

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3. Die de ceteris-Klausel hebt sich von der durchdachten Systematik und präzisen Darstellung der Zuständigkeitsverteilung ungünstig ab. Wie der Satz eave de re [in qua] praeiudicium futurum sit de capite libero147 könnte sie einer anderen Textschicht angehören, etwa bei der Herstellung des Gesetzes148 dem Text der Vorlage hinzugefügt worden sein. Zuverlässig wird man darüber aber erst urteilen können, wenn der Sprach- und Darstellungsstil der Irnitana, ihre sprachlichen Mittel und Ausdrucksformen untersucht worden sind.

VII. Die Kompetenz de vadimonio promittendo Der in ius vocatio mußte der Geladene jedenfalls folgen, gleichviel ob der Magistrat für den beabsichtigten Rechtsstreit zuständig war oder nicht149. War er unzuständig und konnten oder wollten die Parteien seine Zuständigkeit auch nicht begründen, verfügte er auf Antrag des Klägers, daß der Geladene ihm, dem Kläger, versprach, sich an einem bestimmten Tag am Gerichtsort des zuständigen Magistrats zu stellen150. Wie in Italien war darum auch in der Provinz die Ladung vor den Munizipalmagistrat das gegebene Mittel, dem Klaggegner, wenn die Streitsache vor den Prätor oder den Statthalter gehörte, ein Vadimonium nach Rom oder dem Gerichtsort des Statthalters abzunötigen151. Die Irnitana bestimmt ausdrücklich, daß die Jurisdiktion, die sie dem Duumvir einräumt, die Kompetenz einschließt, dieses Vadimonium anzuordnen (IX B 20 – 23): et omnium rerum nomine de vadimonio promittendo in eum locum in quo is erit, qui ei provinciae praeerit, futurusve esse videbitur, eo die in quem, ut vadimonium promittatur, postulabitur, IIviri … iuris dictio … esto.

Das Vadimonium war immer, allerdings auch nur dann aktuell, wenn der Duumvir für den angestrebten Prozeß nicht zuständig war; wann immer er zuständig war, kam es nicht in Betracht. Seine Kompetenz, das Vadimonium anzuordnen, galt jeSiehe oben A. 28. Dazu unten IX. 3. b). 149 Paul D 2.5.2 pr.; Ulp D 5.1.5. Zum Folgenden J. G. Wolf, Satura Feenstra (1985) 60 ff., insb. A. 9, mit Lit. 150 Näheres Satura Feenstra (1985) 63 f., 66 f. 151 Dem Vadimonium Romam in Italien entspricht in der Provinz das Vadimonium in eum locum in quo is erit, qui ei provinciae praeerit (IX B 20 / 21). Daß der Statthalter ein vadimonium Romam verfügte, kam grundsätzlich nicht in Betracht: er hatte in seiner Provinz dieselbe uneingeschränkte Jurisdiktion wie in Italien der Prätor. Anders D. Johnston, JRS 77 (1987) 65, dem Rodger 150 u. ö. folgte; ablehnend G. P. Burton, Classical Quarterly 46 (1946) 217 ff.; danach wieder Rodger SZ 114 (1997) 160 A. 1 und 190 ff.; seine Erwägung eines eigenen Edikts „on vadimonium to other places“ neben dem de vadimonio Romam faciendo (Lenel, EP § 6) läßt außer acht, daß sich die Jurisdiktion des Prätors und also auch seine Edikte nur auf Italien erstreckten. 147 148

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doch ‚für alle Streitsachen‘152. Eher als eine unschädliche Großzügigkeit des Gesetzes möchte ich annehmen, daß omnes res alle Arten von Streitigkeiten meint; denn für keine Klage war der Duumvir uneingeschränkt zuständig; bei jeder Klage kam das Vadimonium in Betracht, wenn der Streitwert 1000 Sesterzen überstieg.

VIII. Die Gerichtsbarkeit der Ädile Von einer Jurisdiktion der Ädile in den flavischen Munizipien der Baetica haben wir erst durch die Irnitana Kenntnis erhalten153. Mommsen hat sie zwar vermutet, aber seine „unsichere Vermuthung“ war Spekulation; sie ging für die Lex Malacitana dahin, „dass die Ädilen in Bagatellsachen bis zu 1000 Sesterzen ausschließlich competent gewesen sein möchten“154. Wie uns jetzt die Irnitana zeigt, lagen die Dinge, jedenfalls in Irni, anders. 1. In der Schlußklausel des Kapitels (IX B 23 – 28) schreibt das Gesetz zunächst dem Duumvir die vorweg definierte Gerichtsbarkeit zu und verleiht sodann, anhangsweise155, im gleichen Umfang Gerichtsbarkeit auch dem Ädil: II viri, qui ibi iure dicundo praerit, iuris dictio, iudicis arbitri recuperatorum, ex is qui ibi propositi erunt, iudicii datio addictio item eadem condicione, de eo, quod HS ∞ minorisve erit, aedilis, qui ibi erit, iuris dictio iudicis arbitri reciperatorum ex eodem genere iudiciique datio addictioque esto.

‚Gleichfalls soll die Gerichtsbarkeit zustehen‘ (item … iuris dictio … esto) dem Ädil, und zwar ‚mit derselben Maßgabe‘ (eadem condicione) ‚über das, was 1000 Sesterzen oder weniger wert ist‘ (de eo quod HS ∞ minorisve erit). Duumvir und Ädil wird zwar im gleichen Umfang, aber nicht einfach dieselbe Gerichtsbarkeit zugeschrieben156; vielmehr wird dem Ädil gleichfalls Jurisdiktion verliehen. Sie wird auf dieselbe (positive) Art und Weise und mit derselben absoluten Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen, aber unabhängig von der des Duumvir definiert. Für die weitläufigen Ausnahmen und Gegenausnahmen innerhalb dieses Jurisdiktionsbereichs bis zu 1000 Sesterzen wird allerdings mit eadem condicione auf die Regelung der duoviralen Zuständigkeit verwiesen.

Anders D. Johnston, JRS 77 (1987) 65; Lamberti 149. Vgl. González 201 / 2 zu ll. 13 – 16. 154 Sie beruhte auf den ersten drei Zeilen von Kap. 69 (V 66 – 68), mit denen das Fragment abbricht: Mommsen 342, 335, 296 / 7. Zur Ädilität in den Stadtrechten 322 / 3. 155 Vgl. unten A. 163 i.f. 156 Etwa in der Weise: IIviri, qui ibi iure dicundo praeerit, aedilisque, qui ibi erit, iuris dictio … esto. 152 153

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Diese Technik, auf die Alan Rodger hingewiesen hat157, erlaubte ohne weiteres, den Jurisdiktionsbereich der Ädile gegenüber dem der Duumvirn zu variieren: nämlich ihre Kompetenz, bei gleicher (prinzipiell unbegrenzter) Zuständigkeit ratione materiae158, abzustufen, etwa auf Bagatellsachen bis zu 200 Sesterzen zu begrenzen. In Kap. 84 geschieht das nicht; hier wird für die Gerichtsbarkeit des Ädil dieselbe absolute Streitwertgrenze verfügt, wie für den Duumvir – sodaß wir nach Kap. 84 annehmen müssen, daß sich die Gerichtsgewalt des Ädil von der des Duumvir nicht unterschied. Anders aber nach Kap. 19. 2. In Kap. 19 bestimmt die Irnitana Kompetenzen und Amtsgewalt der Ädile. Ihre Jurisdiktion definiert sie hier mit dem Satz (III A 13 – 16)159: Eisque aedilibus, quique postea hac lege creati erunt, de is rebus et inter eos, de quibus et inter quos duumvirorum iurisdictio erit at HS CC iurisdictio iudicis reciperatorumque datio addictio, ita ut hac lege licebit, esto.

Die Ädile sollen in denselben Streitsachen und für denselben Personenkreis wie die Duumvirn bis zu einem Streitwert von 200 Sesterzen Gerichtsbarkeit haben. Der Umfang ihrer Jurisdiktion wird durch zwei von einander unabhängige Kriterien definiert: durch die Jurisdiktion der Duumvirn und durch eine Streitwertgrenze von 200 Sesterzen. Das Gesetz verfährt hier also ähnlich wie in Kap. 84: es gewährt dem Ädil für dieselben Materien Gerichtsbarkeit wie dem Duumvir, begrenzt sie aber dem Streitwert nach unabhängig von der Reichweite seiner Zuständigkeit ratione materiae. Anders als in Kap. 84 setzt es die Streitwertgrenze der Ädilengerichtsbarkeit hier jedoch nicht mit 1000, sondern mit 200 Sesterzen fest. 3. Eine dieser beiden Zahlen muß falsch sein. González und Galsterer, Rodger und Lamberti ändern in Kap. 19 die Summenangabe ohne weiteres in ‚1000 Sesterzen‘; zur Begründung wird allenfalls auf Kap. 84 verwiesen160. Da eine Bagatellgerichtsbarkeit der Ädile bis zu 200 Sesterzen neben der Gerichtsbarkeit der Duumvirn mit einer Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen durchaus plausibel ist161 und bei Kap. 84 ein Irrtum bei der Gravur oder schon in der Vorlage wahrscheinlicher ist als bei Kap. 19162, liegt es näher, in der Schlußklausel von Kap. 84 die Summenangabe von ‚1000 Sesterzen‘ in ‚200 Sesterzen‘ zu ändern163. Rodger 151. Sie war notwendig für die Ausnahmen, wenn innerhalb des Jurisdiktionsbereichs die Zuständigkeit ratione materiae des Ädils nicht über die des Duumvir hinausgehen sollte. 159 Gonzáles 153; d’Ors / d’Ors 13; Lamberti 272. 160 González 153, 201; Galsterer, JRS 78 (1988) 83; Rodger 151; Lamberti 66 / 7, 167, 272. 161 Vgl. Mommsen 335; González 201: „The most striking piece of new information in this chapter is that the aediles possessed powers of jurisdiction identical to those of duumviri.“ Ebenso Lamberti 66 bei A. 174. 162 Weil im Text von Kap. 84 vorher schon zweimal (IX B 3 und 5) von 1000 Sesterzen die Rede ist. 157 158

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So kommen wir zu dem Ergebnis: daß in Irni neben den Duumvirn auch die Ädile Gerichtsbarkeit hatten; daß ihre Gerichtsbarkeit gegenüber der duoviralen aber abgestuft war164; daß sie zwar dasselbe Spektrum von Klagen umfaßte wie die Gerichtsbarkeit der Duumvirn, daß ihre Streitwertgrenze aber schon bei 200 Sesterzen lag und im übrigen der Disposition der Parteien ebensowenig überlassen war, wie die duovirale Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen.

IX. Inkongruenzen 1. Wie die Untersuchung ergeben hat, war die Kompetenz der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Irni außerordentlich begrenzt165. Alle Prozesse, deren Streitwert über 1000 Sesterzen betrug, waren der Gerichtsbarkeit der Duumvirn entzogen und dem Gericht des Statthalters vorbehalten; die Gerichtsbarkeit der Ädile reichte nur 163 Kap. 89 und 90 wenden sich nur an die Duumvirn. González 233 / 4 nimmmt an, daß in beiden Kapiteln die Ädile (anders als etwa in den Kap. 86 und 95) vergessen worden sind. Bei Kap. 89 könnte ein Zusammenhang mit der niedrigen Streitwertgrenze der Ädilengerichtsbarkeit erwogen werden. Näher liegt aber wirklich, daß Kap. 89 nicht angeglichen worden ist: In Kap. 84 wird die Jurisdiktion der Ädile anhangsweise verfügt (vgl. oben VIII 1); in Kap. 89 hätte die Anordnung des Gesetzes auch nur anhangsweise auf die Ädile erstreckt werden können. Darum ist auch zu erwägen, ob die Jurisdiktion als eine Standardaufgabe der Ädile in der Modellvorlage der flavischen Stadtrechte vorgesehen war oder ihnen nur von Fall zu Fall zugeschrieben wurde. Ungewöhnlich ist außerdem IIviri qui in eo municipio erunt statt qui in eo municipio iure dicundo praerunt (vgl. Kap. 85 – 88, 90,92, 95); der Formel entspricht nur aedilis qui ibi erit in Kap. 84. Eine Untersuchung der Ausdrucksformen könnte auch hier weiterführen. 164 Eine abgestufte Gerichtsbarkeit nehmen, freilich in jeweils anderer Weise, auch an d’Ors / d’Ors 12 A. 1, 66 A. 78; Rodger 151; Lamberti 67. 165 Gemessen an den ebenfalls absoluten, aber nicht abgestuften Streitwertgrenzen der republikanischen Gemeindeordnungen: von 10.000 Sesterzen des Fragmentum Atestinum (s. oben IV 4) und 15.000 der Lex Rubria (s. oben V). Die kaiserliche Politik der Romanisierung der Baetica ging offenbar andere Wege als das republikanische Rom in Italien und der eingegliederten Gallia Cisalpina; dabei können die äußeren Verhältnisse so verschieden nicht gewesen sein. Die Begrenzung der lokalen Jurisdiktion auf Streitwerte bis zu 1000 Sesterzen war keine Ausnahme: sie galt, wie wir annehmen müssen, auch in Villo (s. unten A. 186, 191, 193), von dem wir im übrigen noch weniger wissen als von Irni (Fernández 13 ff.; zu Villo: ZPE 86 [1991] 121 / 2). Nach G. Alföldi, Römisches Städtewesen auf der neukastilischen Hochebene, Abh. Heidelb. Ak., Phil.-hist. Kl., Jg. 1987, 3. Abh. (1987) 109 war Irni „gewiß eine drittklassige Stadt“. Indessen ging die Gerichtsbarkeit in der wohlhabenden Handelsstadt Malaca (Strabo 3.4.2) aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht über 2000 Sesterzen hinaus (s. u. bei A. 193). Im Gemeinderat von Irni saßen nicht weniger als 63 Dekurionen (Irn Kap. 31 III C 41 f.). Bei dieser Zahl kann die Stadt leicht 5.000 Einwohner gehabt haben (vgl. R. Duncan-Jones, The Economy of the Roman Empire [1974] 283 ff.). Und nichts in der Irnitana (oder der Tab. Heracl. 83 ff.) läßt den Schluß zu, daß sie mit der Möglichkeit rechnete, zu wenige Bürger könnten die Kosten des Dekurionats aufbringen, um die Vollzahl zu erreichen. Schließlich ist es bei einer absoluten Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen kein Zeichen allgemeiner Rückständigkeit, wenn als iudex schon der Bürger in Betracht kommt, der ein Vermögen von „nicht mehr als 5000 Sesterzen“ hat. Nicht zu diesem Bild passen die hohen Bußgelder. Eine Auswertung all dieser Daten liegt, soweit ich sehe, noch nicht vor.

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bis 200 Sesterzen. Darüber hinaus waren eine Reihe von Klagen von der lokalen Gerichtsbarkeit auch dann ausgeschlossen, wenn der Streitwert 1000 Sesterzen nicht überstieg. Insbesondere ergab sich, daß die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen (und die der Ädilengerichtsbarkeit von 200 Sesterzen) strikt war. Durch Prorogationsvereinbarung konnten die Streitparteien die Zuständigkeit der Duumvirn nur für die Klagen begründen, die das Gesetz dem Gericht des Statthalters darum zuwies, weil die Verurteilung des Beklagten auch infamierende Wirkung hatte. Bei allen anderen der lokalen Gerichtsbarkeit entzogenen Klagen, bei den Freiheitsprozessen insbesondere und den Klagen wegen Gewalttätigkeiten, hatten sie diese Möglichkeit nicht. Vor allem aber waren sie an die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen gebunden; sie war eine absolute Maximalgrenze. Wie wir sahen, läßt der Text von Kap. 84 kein anderes Verständnis zu166. Die strikte Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen wird aber auch in Kap. 89 vorausgesetzt167. Und daß sie nicht ohne Beispiel war, bezeugen das Fragmentum Atestinum und die Lex Rubria168. Schließlich wäre es auch erstaunlich gewesen, wenn die Zuständigkeit der Duumvirn, die das Gesetz auf 1000 Sesterzen begrenzt, von den Parteien für beliebige Streitsummen hätte begründet werden können. 2. Gegen diese Interpretation kann das bekannte Fragment aus Paulus’ Ediktskommentar D 50.1.28 Inter convenientes et de re maiori apud magistratus municipales agetur.

nicht angeführt werden169. Das Kommentarwerk ist sehr viel jünger als unser Gesetz und der Satz zu allgemein, um gegen die konkrete Zuständigkeitsverteilung der Irnitana Bedenken auszulösen. Entscheidend ist jedoch ein dritter Gesichtspunkt: Der Satz stammt aus dem 1. Buch des Kommentars, wo als erstes die Edikte zur Gerichtsbarkeit der Munizipien abzuhandeln waren170. Diese Munizipien waren aber die römischen Bürgergemeinden Italiens; nur sie unterstanden der Gerichtsgewalt des Prätors, nur für sie galten seine Edikte. Darum ist davon auszugehen, daß auch der Satz aus Paulus’ Kommentar zu diesen Edikten auf die Bürgergemeinden Italiens gemünzt ist171. Und was die Gerichtsordnung Italiens zu Beginn des 3. Jahrhunderts vorsah, muß nicht auch das Recht der latinischen Gemeinde Irni in der Baetica am Ende des 1. Jahrhunderts gewesen sein. Oben II 3. Oben II 4. 168 Oben IV 5 und 6. 169 Zum Folgenden vgl. Mommsen 296 / 7 mit A. 32 u. 33. 170 Zur Palingenesie von D 50.1.28 soeben überzeugend A. Rodger, SZ 114 (1997) 180 / 1. 171 Davon ist auszugehen, auch wenn nahe liegt, daß die Kommentare auch auf die provinzialen Verhältnisse eingingen, vgl. A. Rodger, SZ 114 (1997) 190 / 1. Die lokale Begrenzung der prätorischen Jurisdiktion wird gelegentlich vernachlässigt, vgl. González 229; D. Johnston, JRS 77 (1987) 65 bei A. 10; Rodger 149. 166 167

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3. Offenbar aber war es das Recht anderer verfaßter Städte der Baetica. Die Vermutung nämlich, daß die Vorlage der flavischen Städteordnungen unterschiedliche Zuständigkeiten der lokalen Gerichte vorsah, könnte die Prorogationsmöglichkeit erklären, die in Kap. 69 der Irnitana vorausgesetzt wird – im Widerspruch zur strikten Begrenzung der Zuständigkeit, die das Gesetz in Kap. 84 verfügt. a) In Kap. 69 begründet die Irnitana für Ansprüche der Bürgerschaft gegen Bürger und Einwohner de pecunia communi172 eine sekundäre Gerichtsbarkeit des Gemeinderats173. Sie war nur gegeben, wenn der Beklagte es ablehnte, vor dem ordentlichen Gericht zu verhandeln174; darum konnte die Gerichtsbarkeit des Gemeinderats auch nicht über die allgemeine Zuständigkeit des ordentlichen Gerichts hinausgehen175. Sie war außerdem unterteilt; für Ansprüche bis zu 500 Sesterzen war nicht das Plenum zuständig, sondern ein Ausschuß von fünf Dekurionen176. Die Zuständigkeit des Gemeinderats selbst definiert das Gesetz in den ersten sechs Zeilen des Kapitels (VIII A 10 – 15). Mit der Rubrik lauten sie177: R(ubrica). De iudicio pecuniae communis. 10

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Quod municipum178 municipi Flavi Irnitani nomine petetur ab eo, qui eius municipi municeps incolave179 erit, quodve cum eo agetur, quod pluris HS (sestertium) D (quingentorum) sit neque tanti sit ut de eo, si privatim ageretur, ibi invito alterutro180 actio non esset, et si is181, quocum agetur, ibi agi nolet, de eo decurionum conscriptorumve cognitio iudicatio litisque aestumatio esto, ita ut …

Die Zuständigkeit des Gemeinderats war durch ein Minimum und ein Maximum begrenzt. Die Klagsumme mußte über 500 Sesterzen, durfte aber nicht so viel betragen, wie privatim, mithin vor dem ordentlichen Gericht, also dem Duumvir, nicht Zum Gebrauch von communis statt publicus Mommsen 349. Das Gesetz spricht technisch zutreffend nicht von iurisdictio, die dem Magistrat vorbehalten ist, sondern von cognitio, iudicatio, litis aestumatio. 174 VIII A 13: et si is quocum agetur, ibi agi nolet. Die Klausel wird durchweg anders verstanden, merkwürdigerweise nämlich übersehen, daß i b i agi nolet wie das vorausgehende i b i invito alterutro actio non esset durch si privatim ageretur definiert ist: Gonzáles 221; Lamberti 125 ff., 148, 329 A. 103. Laffi 156 A. 49 hat gar nolet in volet ändern wollen, „per dare un senso logico alla frase“; ausführlicher Atti Acc. Lincei, Cl. sc. mor. stor. e filol., 44 (1991) 83 ff. 175 So erklärt sich die unbestimmt (tanti) gefaßte Formel, mit der das Gesetz die Gerichtsbarkeit des Gemeinderats auf die ordentliche der Duumvirn abstimmt, s. alsbald im Text. 176 VIII A 24 – 32. Vgl. Lamberti 124. 177 Die Wiedergabe des Textes folgt Lamberti 326 / 28, ist aber mit der Transskription von Fernández 91 verglichen und an dessen Photographie kontrolliert worden. Vgl. auch González 170; d’Ors / d’Ors 51. 178 MUNICIPIUM, aes. 179 MUNICIPES INCOLAEVE, aes. Derselbe Fehler in Kap. 84 IX B 2, s. oben A. 9. 180 ALTER.UTRO, aes. 181 ET IIS, aes. 172 173

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gegen den Willen einer Streitpartei eingeklagt werden konnte. Diese Regelung setzt eine allgemeine Streitwertgrenze der lokalen Gerichtsbarkeit voraus, die von den Parteien einverständlich überschritten werden kann, und offenbar auch unbegrenzt. Danach hätten in Irni Kläger und Beklagter die Zuständigkeit des Duumvir für Klagen über 1000 Sesterzen durch Prorogationsvereinbarung begründen können. Das war aber nicht der Fall; die Eingrenzung der Zuständigkeit des Gemeinderats nimmt auf eine Kompetenzregelung Bezug, die das Stadtrecht von Irni nicht kennt; am Sitz der Materie, in Kap. 84 der Lex Irnitana, wird eine Prorogation der Streitsachen von über 1000 Sesterzen, die in die Gerichtsbarkeit des Statthalters fallen, gerade nicht zugelassen. b) Die Streitwertregelung der cognitio des Gemeinderats nimmt Bezug auf die der iurisdictio der Duumvirn, ist aber nicht auf sie abgestimmt. Die Unstimmigkeit kann nicht durch einen der üblichen Lapsus bei der Gravur oder einer ihr vorausgehenden Abschrift des Gesetzes verursacht worden sein. Die Inkongruenz muß vielmehr bei der Herstellung des Gesetzes, genauer: bei der Erstellung des schließlich verabschiedeten Entwurfs entstanden sein. Wir kennen das Gesetzgebungsverfahren nicht und können nur einige Stationen der Prozedur erschließen. In Kap. 95 (X C 7 – 10) wird der Duumvir angewiesen, das Gesetz unverzüglich in Erz schlagen zu lassen und Sorge zu tragen, daß die Tafeln am belebtesten Platz der Stadt angebracht werden. Die letzten Zeilen der Inschrift (X C 42 / 3) bekunden, daß der Duumvir Caecilius Optatus und der Legat Caecilius Montanus die Gravur veranlaßt haben. Um sie ausführen zu können, mußte der Text des Gesetzes vorliegen: die Gemeinde mußte im Besitz einer Ausfertigung des Stadtrechts sein, der Duumvir über das Gesetz in corpore verfügen. In Kap. 50 spricht das Gesetz von dieser ‚Verfassungsurkunde‘: Für Wahlen und Abstimmungen soll die Bevölkerung in Kurien, Stimmbezirke, eingeteilt werden ‚innerhalb von neunzig Tagen, nachdem dieses Gesetz dieser Stadt überbracht worden ist‘: diebus LXXXX proximis, quibus haec lex182 in it municipium perlata erit (V C 48 / 9). Wenn die Gesetzesurkunde überbracht wurde183, ist sie andernorts errichtet worden. Sie wird dort errichtet worden sein, wo das Gesetz konzipiert und der Entwurf hergestellt wurde184. Die Lex Irnitana war mit den Stadtrechten von Malaca185 und Salpensa186 im wesentlichen wortgleich. Für diese drei Stadtrechte steht darum außer Zweifel, daß sie 182

HAC LEGE, aes.

Vielleicht war es der Legat Caecilius Montanus, vermutlich ein Verwandter des Duumvir, der die Urkunde überbracht hat. De legatis mittendis handelt Kap. 45. 184 Alföldi (A. 165) 109 vermutet, daß die Verleihung des Stadtrechts „bei der zentralen Provinzverwaltung beantragt werden“ mußte; H. Galsterer, Untersuchugen zum röm. Städtewesen auf der iberischen Halbinsel (1971) 44 ff., daß kaiserliche Kommissare oder Kommissionen von Stadt zu Stadt zogen, um an Ort und Stelle unter Verwendung der örtlchen Archive die Stadtgesetze abzufassen und auch zu erlassen. 185 Bruns 147 ff.; FIRA I 208 ff. 186 Bruns 142 ff.; FIRA I 202 ff. 183

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eine gemeinsame Vorlage hatten187. Danach wiederum liegt nahe, daß die Stadtrechte aller latinischen Munizipien der Baetica188, vielleicht aber auch ganz Spaniens189 nach dieser Vorlage konzipiert waren. Die Vorlage folgte nicht nur mit Magistratur, Gemeinderat und Bürgerversammlung dem überkommenen Grundmuster der römischen Stadtverfassung; auch im einzelnen war sie weithin eine Kompilation aus erprobtem Überlieferungsgut190. Soweit wir sehen191, ließ sie für lokale Modifikationen nur geringen Spielraum. Manifest ist nur eine unterschiedliche Regelung192: für Prozesse de pecunia communi vor dem Gemeinderat war das Minimum der Klagsumme 500 Sesterzen in Irni193, in Malaca hingegen 1000194. Diese unterschiedliche Begrenzung der Zuständigkeit des Gemeinderats durch verschiedene Minimalsummen läßt allerdings vermuten, daß auch die Streitwertgrenze der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterschiedlich geregelt war, die Vorlage mithin auch in diesem Punkte verschiedene Lösungen anbot: weil sie in Irni bei 1000 Sesterzen lag, ist für Malaca eine Streitwertgrenze von 2000 zu vermuten195. Kapitel 69 möchte ich außerdem entnehmen, daß die Vorlage, um den 187 Drei kleine Bronzefragmente in Sevilla (Inv.Nr. 1984 / 1 und 1984 / 489) sind der Überrest einer offenbar größeren Tafel, als deren Inschrift F. Fernández Gómez, ZPE 86 (1991) 126 / 7 (mit Abb. auf Tafel V) einen Text erweisen konnte, der den Kap. 67 – 71 der Irnitana entsprach – aber in der Kap. 69 entsprechenden Textpartie die Geldsummenbeträge (Irn VIII A 12 und 24) offenläßt. Die Fragmente sind in der Provinz Sevilla zu Tage gekommen, Näheres weiß man nicht. Der Text war nicht wie bei den bekannten flavischen Stadtrechten in Kolumnen angeordnet, sondern bildete einen Block, dessen Zeilen etwa dreimal so lang waren, wie die der Irnitana. Fernández hält die Tafel, von der die Fragmente stammen, für „un modelo para uso de los copistas“ (125). Es sieht freilich nicht so aus, daß sie gerade für diesen Zweck geeignet war: wo in Kap. 69 Malacitana und Irnitana neque tanti sit haben, hat sie neque Latini sit.Was sie wirklich war, ist indessen kaum zu bestimmen. Wir können nur ausschließen, daß die Inschrift ein Gesetz war; und es ist auch unwahrscheinlich, daß sie im Hinblick auf eine Stadtrechtsverleihung angefertigt und soweit wie möglich, nämlich bis auf die Variablen der Stadtrechtsvorlage (dazu alsbald im Text) ausgeführt worden ist; in diesem Fall wären die Lücken ausgefüllt worden. 188 Die Splitterfragmente der Stadtrechte von Italica (oder Cortecata), Villo und Ostippo bestärken diese Vermutung. Texte und Literatur bei Lamberti 377 ff. Für das Stadtrecht von Villo belegen die Fragmente zweifelsfrei den Text der Kap. 64 – 70 der Irnitana: F. Fernández Gómez, ZPE 86 (1991) 122 – 125; s. auch A. 165. 189 Vgl. etwa Galsterer (A. 184) 46 ff.; Alföldi (A. 165) 109 f. 190 Vgl. Mommsen 293; Lamberti 227 ff. 191 Was von der Lex Salpensana erhalten ist, entspricht Irn Kap. 21 – 29 II A 41 – III C 31, der von der Lex Malacitana erhaltene Teil Irn Kap. 59 – 69 VII A 1–VIII A 12; vgl. das Schema bei González Plate 23 Fig. 1. 192 Dazu s. auch o. A. 165. 193 Kap. 69 VIII A 10 ff., s. oben nach A. 177. Dasselbe Minimum galt in Villo: Lex municipii Villonensis Kap. 69 Zeile 5 : mit verschiedener Zeilenzählung F. Fernández Gomez, ZEP 86 (1991) 124 und Lamberti 381. 194 Lex Malacitana Kap. 69 col. 5, l. 66 ff. 195 Vgl etwa González 221; Lamberti 7 A. 25, 125 A. 138. Entsprechend für Villo dieselbe wie in Irni., also 1000 Sesterzen.

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örtlichen Verhältnissen soweit wie möglich Rechnung zu tragen, wahlweise eine absolute Streitwertgrenze, wie sie die Irnitana in Kap. 84 normiert hat, und eine relative Streitwertgrenze vorsah, die der einverständlichen Disposition der Parteien überlassen war. Unter dieser Voraussetzung kann bei der Herstellung der Irnitana leicht vergessen worden sein, die Streitwertregelung der cognitio des Gemeinderats in Kap. 69 auf die der iurisdictio der Duumvirn in Kap. 84 abzustimmen. Dazu hätte es genügt, in Kap. 69 aus der Klausel neque tanti sit ut de eo, si privatim ageretur, ibi invito alterutro actio non esset die Worte invito alterutro herauszunehmen. Nachlässigkeit bei der Abfassung des Gesetzes ist uns auch sonst begegnet.*Die Hauptthese dieses Aufsatzes habe ich am 8. April 1998 auf einem Seminar im St. John’s College, Cambridge, vorgetragen. Den Gastgebern John Crook und David Johnston sowie den weiteren Teilnehmern P. Birks, D. Cloud, T. Honoré, A. Lewis, A. Lintott, E. Metzger, A. Rodger und P. Stein möchte ich auch hier für Widerspruch und Ermunterung noch einmal danken.

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Intertium – und kein Ende?* I. Vorbemerkung Die Tabulae Irnitanae sind ein Jahrhundertfund und ihre größte Attraktion ist das intertium1. Gerade hatten wir in den Urkunden von Murecine das Wort zum ersten Mal gelesen2, als uns die Bronzen von Irni3 mit den Vorschriften de intertium dando auch * Die üblichen Abkürzungen folgen den Kaserschen Handbüchern. – J. A. Crook / D. E. L. Johnston / P. G. Stein, Intertiumjagd and the Lex Irnitana: a Colloquium, in: ZPE, LXX, 1987, 173 – 184, werden zitiert: Intertiumjagd. – Mit dem Namen des Verfassers: F. Fernández, in: F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico, Sevilla, 1990 – mit Abbildungen; J. González, The Lex Irnitana: A New Copy of the Flavian Municipal Law (mit einer englischen Übersetzung von M. Crawford), in: JRS, LXXVI, 1986, 147 – 243; M. Kaser / K. Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, München, 1996; K. Hackl, in: M. Kaser / K. Hackl, op. cit.: J. B. Hofmann / A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik, München, 1965, verbess. Nachd. 1972; D. Johnston, Three Thoughts on Roman Private Law and the Lex Irnitana, in: JRS, LXXVII, 1987, 62 – 77; R. Kühner / C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Satzlehre, Darmstadt, 4. Aufl., 1962; F. Lamberti, Tabulae Irnitanae, Napoli, 1993; H. Menge / A. Thierfelder, Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik, Darmstadt, 17. Aufl., 1979, 2. Hälfte; E. Metzger, A New Outline of the Roman Civil Trial, Oxford, 1997; A. d’Ors, Nuevos datos de la ley Irnitana sobre jurisdicción municipal, in: SDHI, IL, 1983, 18 – 50; La ley Flavia municipal, Romae, 1986; A. d’Ors / J. d’Ors, Lex Irnitana – Texto bilingüe. Cuadernos Compostelanos de Derecho Romano 1, Santiago de Compostela, 1988; A. Rodger, The Lex Irnitana and Procedure in the Civil Courts, in: JRS, LXXXI, 1991, 74 – 90; Postponed Business at Irni, in: JRS, LXXXVI, 1996, 61 – 73; W. Simshäuser, La juridiction municipale à la lumière de la lex Irnitana, in: RHD, LXVII, 1989, 619 – 650; Rez. von J. González, op. cit., A. d’Ors (1986), op. cit., und A. d’Ors / J. d’Ors, op. cit., in: ZSS, CVII, 1990, 543 – 561; Stadtrömisches Verfahrensrecht im Spiegel der lex Irnitana, in: ZSS, CIX, 1992, 163 – 208; G. Zanon, ‚De intertium dando‘, in: SDHI, LVIII, 1992, 309 – 325. 1 Zu Schreibweise und Wortbildung s. unten III. und IV. 2 Der Urkundenfund von Murecine ist bekanntlich von 1959. Eine cura secunda der beiden INTERTIUM-Urkunden unten nach A. 61. Sie sind zuerst publiziert worden: TP 9 von C. Giordano, in: RAAN, XLI, 1966, publ. 1967, 118 f., und TP 24 von F. Sbordone, in: RAAN, XLVI, 1971, publ. 1972, 175 f. Giordano las intertiueo, Sbordone in tertium. Es war J. A. Crook, der in: ZPE, 29, 1978, 231 f. vorschlug, in beiden Urkunden (und auch in TH 80) intertium zu lesen und „that we foist a new word upon classical Latin, either intertius or INTERTIUM“. Beide Urkunden jetzt als TPSulp. 32 und 33 in G. Camodeca, Tabulae Pompeianae, Sulpiciorum, I, II (Fotografie ed Apografi), Roma, 1999, 100 ff. – Auf der 1904 publizierten Bronze (FIRA I 219 Nr. 25), deren col. A dem Kap. 90 der Irnitana entspricht und heute als Fragment des flavischen Stadtrechts von Italica oder Cortecata gilt, hatte man in tertium d(iem) statt d(ari) d(ebebit) gelesen (Lamberti 377 f., Metzger 19, beide mit Lit.). – Zu dem 1950 als P. Antinoopolis 22 (4. Jh.) von C. H. Roberts edierten Fragment einer Juristenschrift s. jetzt T. Giménez-Candela, Una revi-

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den Begriff erschlossen. Die ersten Kommentare ließen nicht auf sich warten4, und sobald brauchbare Editionen vorlagen5, setzte eine lebhafte Interpretationsarbeit ein. In der Debatte der folgenden Jahre gewann das unbekannte Institut schnell feste Umrisse. Eines vor allem schien bald ausgemacht: daß das intertium die magistratische Anordnung des Verhandlungstermins apud iudicem war. Gegen diese Interpretation ist vor kurzem Ernest Metzger angetreten. In seinem Buch A New Outline of the Roman Civil Trial verficht er die These6, das intertium gehöre zum Verfahren in iure; es sei erteilt worden, um die Fortsetzung der Verhandlung zu sichern, wenn sie unterbrochen werden mußte; mit ihren Vorschriften über das intertium habe die Lex Irnitana für einen zeitigen und geordneten Abschluß des Verfahrens vor dem Magistrat sorgen wollen7. Ich glaube nicht, daß dieser Neue Entwurf mit den Texten der Irnitana vereinbar ist; mir scheint vielmehr, daß sie Metzgers Interpretation klar ausschließen. Sein Vorschlag könnte darum auf sich beruhen, wenn er nicht auch ein Manko der bisher üblichen Auslegung anzeigte: offenbar überzeugt sie nicht ohne weiteres. John Crooks Rezension des Metzgerschen Buches8 deutet in dieselbe Richtung. Crook lehnt Metzgers intertium-Interpretation zwar ab9, ist aber der Meinung, „nobody has yet got intertium right“, und erklärt lakonisch: „debate is still hot“. Diese Einschätzung kann ich nicht teilen. Ihrer Verbreitung möchte ich daher entgegenwirken und durch eine Revision der einschlägigen Kapitel der Irnitana versuchen, das Erreichte zu sichern und das Interesse auf die Fragen zu lenken, die wirklich noch ungelöst sind. II. Die Texte Die folgende Wiedergabe der Kapitel 90, 91 und 92 der Lex Irnitana beruht auf der Transskription von Fernando Fernández Gómez, kontrolliert an den ihr beigegebenen Abbildungen der Tafeln; sie geht weithin mit der Edition von Francesca Lamberti überein.

sion de Pap. Ant. 22, in: Estudios d’Ors I, 1987, 557 ff. mit neuer Lesung; auch Metzger 19 f. Auf diese beiden Zeugnisse lenkte erst die Irnitana wieder die Aufmerksamkeit. 3 Sie wurden 1981 gefunden. Die Umstände schildern Fernández / del Amo 14 f. 4 A. d’Ors, in: SDHI, XLVIII, 1982, 374 ff., insb. A. 28; XLVIIII, 1983, 40 ff.; L, 1984, 188. 5 González (1986); d’Ors (1986); d’Ors / d’Ors (1988). 6 Oxford, 1997, 7 – 88. 7 So ausdrücklich 39 f. Meztger vertritt seine Thesen allerdings mit einer gewissen Unentschlossenheit und Unschärfe. Hier etwa erklärt er zugleich, es sei nicht seine Absicht „to disprove the association between intertium and trial, but to refine it“ (39). 8 Cambridge Law Journal, LVII, 1998, 413 ff. 9 Ebenso jetzt, in eingehender Auseinandersetzung, K. Hackl, ZSS, CXVI, 1999, 381 ff., und offenbar auch A. Lintott, JRS, LXXXIX, 1999, 26.

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Kap. 90 X A 26 R(ubrica). De INTERTIUM dando. 27 Quicumque in eo municipio IIuir i(ure) d(icundo) p(raerit), per quos dies ex h(ac) l(ege) ibi 28 iudicia fieri10 licebit oportebit, in eos dies omnes interti29 um dato. Idque11 proscriptum in eo loco, in quo ius dicet, maio30 re parte cuiusque diei per omnes dies, per quos INTERTIUM 31 dari debebit12, habeto ita ut d(e) p(lano) r(ecte) l(egi) p(ossint). Item si inter eos, inter 32 quos ambigetur, et iudicem, qui inter eos iudicare debe33 bit in aliquem diem uti INTERTIUM inter eos [iudicare de 34 bebit in aliquem diem uti INTERTIUM inter eos]13 detur conueniet, neque is di35 es propter venerationem domus Augustae festus erit feriarumve nu36 mero propter eandem causam haberi debebit, in eum diem INTERTIUM inter 37 eos dato. Qui debuerit dare INTERTIUM neque dederit, quive it14 proscriptum 38 ex hac lege non habuerit sciens d(olo) m(alo), is in singulos dies, quibus debuerit 39 proscriptumve non habuerit, municipibus municipii Flauii Irni40 tani HS ∞ d(are) d(amnas) e(sto), eiusque pecuniae deque ea pecunia municipi[i] eius mu41 nicipii qui15 volet, cuique per h(anc) l(egem) licebit, actio petitio persecutio esto. Kap. 91 X A 42 43 44 45 46 47 48 49 50

R(ubrica). Quo iure INTERTIUM denuntietur, dies diffindatur diffi‚s‘susve sit, res iudicetur, lis iudici[i] damni sit, res in iudicio esse desinat. Quacumque de re priuata iudices arbitri in eo municipio dati subditi addictiue h(ac) l(ege) erunt, is16 iudicibus arbitris et is16 quos inter ii iudices arbitrive dati subditi addictive h(ac) l(ege) erunt, de ea re INTERTIUM aduersario iudici arbitrove in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos17 iurandi, antequam iudicent, iudicandi litem ae-

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FIERE, aes.

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IIQUE, aes.

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DEBEBIE, aes.

Dittographie ex homoeoteleuto. Die Wiederholung ist verursacht durch den in kurzem Abstand wiederholten Gebrauch der Worte inter eos. Sie ist mit aller Wahrscheinlichkeit erst dem Graveur und nicht dem Schreiber der Vorlage unterlaufen; sie deutet auf (ohnehin wahrscheinliche) Gravur nach Vorlage (nicht Diktat), ist aber kein Hinweis auf deren Zeilenlänge. Ein Homöoteleuton ist auch die Ursache der Dittographien in Kap. 78 VIII C 31 / 2 und (komplizierter) in Kap. 79 VIII C 42 / 43. Eine systematische Untersuchung aller ‚mechanischen Textänderungen‘ steht noch aus; sie könnte auch näheren Aufschluß über die Vorlage erbringen. 14 Hier wie stets für id, vgl. Kap. 91 X A 53, X B 1, Kap. 92 X B 51. González 178 und Lamberti 362 lesen et. 15 CUI, aes. 16 Hier wie oft für iis, vgl. Kap. 92 X B 27. 17 DIFFISI, aes. 13

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XB

51 52 53 54 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

stumandi, per quos dies et ubi ex h(ac) l(ege) licebit oportebit, et si neque dies diffi‚s‘sus neque iudicatum fuerit, uti lis iudici arbitrove damni sit, et si intra it18 tempus, quod legis Iuli ae, quae de iudici‚i‘s privatis proxime lata est, kapite XII senatusve consultis [[…d et kaput]]19 ad it20 kaput legis pertinentibus conpr‚e‘hensum est, iudicatum non sit, uti res in iudi cio non sit, siremps lex [r itque]21 esto atque22 uti esset si eam rem in urbe Roma praetor p(opuli) R(omani) inter cives Romanos iudicari iussisset et de e(a) r(e), ex ‚quacumque‘23 lege rogatione[m] quocumque plebis scito iudicia privata in urbe Roma fient, agi, fieri, denuntiari, diem diffin[[den]]-24 di, diem diffi‚s‘sum esse, iudicari, litem iudici damni esse, rem in iudicio non esse oporteret, praeter quam quod per alios dies et alio loco h(ac) l(ege) denuntiari, rem iudicari, diem diffindi oportebit. Itaque iis omnibus, de ea re et in eos dies in quos ex h(ac) l(ege) licebit, denuntiandi intra it municipium et mille passus ab eo municipio, aut ubi pacti erunt, diem diffi‚n‘dendi, iudicandi in foro eius municipi aut ubi pacti erunt, dum intra fines eius municipi, utique ex [h]isdem causis dies diffinda[n]tur, diffi‚s‘sus sit, utique, si neque diffissum25 e lege neque iudicatum sit per quos dies quoque loco ex h(ac) l(ege) iudicari licebit oportebit, iudici arbitro lis damni sit, utique, si intra it tempus quod supra conpr‚e‘hensum est iudicatum non sit, res in iudicio non sit26, ‚siremps‘ ius esto ‚atque‘ uti ‚esset‘ si ‚eam rem in urbe Roma praetor p(opuli) R(omani) inter‘ cives Ro manos ‚iudicari‘ iussisse‚t‘ ibique d(e) e(a) r(e) iudicium fieri oporteret ex [lege rogatione plebisve scitis] quacumque lege rogatione quocumque plebis scito iudicia ‚privata‘27 in urbe Roma fieri oportebit, praeter quam quod per alios dies et alio loco ex hac lege denuntiari, remque iudicari, diemque diffindi oportebit. Quaeque ita acta erunt ea iusta rataque sunto.

Für id, vgl. o. A. 14. Radiert; e in et unsicher, i jedoch ausgeschlossen. 20 Für id, vgl. o. A. 14. 21 LEX.R.ITQUE.ESTO, aes; i in itque vermutlich über einem radierten Buchstaben. Vgl. Z.18: ius esto; Lex Rubria cap. XXI tab. II 10 f. und 40 f.: siremps lex res ius caussaque … esto. Lamberti 364 liest statt ITQUE etque und verbessert in lex resque esto. 22 ADQUEM, aes. 23 Siehe Z.19 / 20: ex … quacumque lege. 24 Radiert. 25 Ursprünglich DIFFINSUM, vom Graveur verbessert in DIFFISSUM: die 1. Haste des N radiert, die 2. verändert in S. 26 Das Folgende ergänzt nach Z. 3 f. González 159 und Lamberti 364 ergänzen jeweils anders, aber sinnentsprechend. 27 Siehe Z. 5 / 6: iudicia privata. 18 19

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Kap. 92 XB

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

25 R(ubrica). Quibus diebus res ne iudicentur et in quos INTERTIUM 26 ne detur. 27 Ne quis ‚qui‘ in eo municipio i(ure) d(icundo) p(raerit) is28 diebus iudicem arbitrum recipera28 tores rem priuatam iudicare sinito, neue in eos dies interti29 um dato, quos dies propter venerationem domus Augustae festos 30 feriarumve29 numero esse haberique oportet30 oportebit, quibusque di31 ebus ex decurionum conscriptorumve decreto spectacula in eo31 32 municipio edentur, epulum aud vesceratio32 municipibus aut ce 33 na decurionibus conscriptisve municipum inpensa dabitur, qui34 busque diebus comitia in eo municipio erunt ‚qu‘ique dies h(ac) l(ege) con35 stituti erunt per quos messis et vindemiae causa res33 prolatae34 36 sint, nisi si iudex arbiterve aut reciperatores et quorum res 37 agetur omnes dum35 d(e) e(a) r(e) agi volent, neque is dies erit quem prop38 ter venerationem domus Augustae festum feriarumve nume39 ro esse haberive oportebit. Neve quis iudex neve arbiter neve 40 reciperator per eos dies, quibus s(upra) s(criptum) est, rem privatam iudicato 41 neve litem aestumato neve per eos dies36 operam iudicandi cau42 sa dato neve sententiam iudicandi causa dicito, nisi si iudex 43 arbiterve aut reciperatores et quorum res agetur omnes tum 44 d(e) e(a) r(e) agi37 volent, neque is dies erit quem propter venerationem 45 domus Augustae festum feriarumve numero esse haberique 46 oportebit. Neve quis in eos dies adversario INTERTIUM iudici ar47 bitro in biduo proximo iudicandi causa denuntiato, nisi38 si iu48 dex arbiterve et quorum res agetur omnes tum de e(a) r(e) agi 49 volent, neve is dies erit quem propter venerationem domus 50 Aug(ustae) festum feriarumve numero esse haberive oportebit. 51 Quod adversus39 ea factum erit it40 ratum ne esto.

Für iis, vgl. o. A. 16. FERTARUMVE, aes. OBORTET, aes; B wahrscheinlich aus E verbessert. COM, aes. Für visceratio. RER, aes. PROTATAE, aes. Für tum, vgl. u. Z. 43 und 48. DEES, aes. AGE, aes. NISE, aes. ATVERSUS, aes. Für id, vgl. o. A. 14.

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III. „In tertium“ oder „intertium“: der epigraphische Befund 1. Die Textdarstellung der Bronzen aus Irni. – Die Herausgeber der Irnitana sind sich nicht einig, ob wir es bei unserem Begriff mit einem oder mit zwei Worten zu tun haben. Während d’Ors, Vater und Sohn, sowie Lamberti intertium edieren, hat González in tertium. Durchgesetzt hat sich offenbar die Auffassung, daß wir es mit einem Wort zu tun haben41. Metzger sieht dagegen keine Möglichkeit zu entscheiden, welche Wortform die richtige ist42. Der epigraphische Befund läßt tatsächlich eine Entscheidung nicht zu. Die Textdarstellung der Irnitana trennt die Worte durch einen Punkt auf halber Höhe der Buchstaben43, häufig und meistens zugleich auch durch einen größeren Abstand44. Unser Wort kommt nur auf Tafel X vor, in den Kolumnen A und B, elfmal insgesamt und immer ohne Trennungspunkt und ohne größeren Abstand zwischen in und tertium. Der Befund ist folgender45: Kap. 90 X A 26 28 / 29 30 / 31 33 / 34 34 36 / 37 37 Kap. 91 X A 42 48 / 49

R·DEINTERTIUM·DANDO ·INEOS·DIES·OMNES·INTERTI / UM·DATO· ·PER·OMNES·DIES·PER·QUOS·INTERTIUM / DARI·DEBEBIT· ·INALIQUEM·DIEM·UTI·INTERTIUM·INTER·EOS· … ·DETUR ·INALIQUEMDIEM·UTI·INTERTIUM·INTER·EOS·DETUR· ·IN·EUM·DIEM·INTERTIUM·INTER / EOSDATO QUIDEBUERIT·DARE·INTERTIUM·NEQUE·DEDERIT R QUOIUREINTERTIUMDENUNTIETUR DEEARE INTERTIUM ADVERSARIO IUDICI ARBITRO /… DENUNTIANDI

Kap. 92 X B 25 / 26 ·ETINQUOS·INTERTIUM / NEDETUR 46 / 47 ·ADVERSARIO·INTERTIUM·IUDICI·AR / BITRO· … ·DENUN TIATO·

41 Wie J. A. Crook schon für die Urkunden aus Murecine vorgeschlagen hatte, s. oben A. 2. Für die Irnitana etwa D’ORS (1983) 40; T. Giménez-Candela, La Lex Irnitana, in: RIDA, XXX, 1983, 135; Johnston 70; Simshäuser (1989) 629 und (1992) 168; Zanon 309; Lamberti 185 f.; Hackl 355. Rodger (1991) 74 ff. und (1996) 61 ff. folgt dagegen González. 42 Op. cit. 21 ff. 43 Diese Leseerleichterung ist typisch für juristische, insbesondere Gesetzesinschriften, und seit alters üblich: M. Leumann, Lateinische Laut- und Formenlehre, München, 1977, Neuausgabe der 5. Aufl. 1926 – 28, 23. Für die Lex Salpensana und die Lex Malacitana siehe die Faksimiles CIL 2, 1963, p. 254, und 1964, bei p. 256; für ältere Inschriften die Abb. in Bruns, Fontes iuris Romani antiqui, Additamentum, ed. O. Gradenwitz, II. Simulacra, Tübingen, 1912. Zu leserfreundlicher Textgestaltung jetzt besonders W. Raible, Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen, Heidelberg, 1991, 19 ff. (SB Heid. Ak., Phil.-hist. Kl., 1991, Bericht 1). 44 Der Text wurde vermutlich zunächst ohne die Trennungspunkte eingraviert, die dann erst in einem Nachgang hinzugefügt wurden. In Kolumne A der Tafel X ist in einer ganzen Textpartie (X A 41 – 54) der Punkt nicht gesetzt, sind aber die Worte überwiegend durch Spatia isoliert, vgl. etwa, alsbald im Text, die Zeilen 42 und 48. 45 Die Lesung ist in allen Fällen unzweifelhaft.

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Die zehnte und letzte Tafel der Inschrift ist nachlässig gearbeitet46. Auch die Interpunktion ist nicht regelmäßig und in den letzten 14 (von insgesamt 54) Zeilen der ersten Kolumne überhaupt unterblieben47. Allerdings ist auf allen Tafeln die Praxis der Graveure nicht zu übersehen, den Trennungspunkt vornehmlich nach einer Präposition auszulassen48: gleichviel, ob ihr das Substantiv unmittelbar folgt (INPOTESTATE; INNUMERUM·DECURIONUM; INTABULIS; DEIUDICIBUS; DEREPRIVATA; INIUDICIO; INURBE·ROMA; INFORO; EXLEGE; INBIDUO; DEIURE; 49 DEREBUS ), oder, wie ganz überwiegend, der Präposition zunächst, vor dem Substantiv, ein Demonstrativ- oder ein unbestimmtes Pronomen oder ein Adjektiv (INEAREGIONE; OBEAM·REM; INEONUMERO; INEO·MUNICIPIO; EXEA·DECURIA; EXIMPARIBUS; EXPARIBUS; EXPROPOSITIS·IUDICIBUS; DEHIS·REBUS; DEEARE; INEOS·DIES; INEO·LOCO; INALIQUEM·DIEM; INSINGULOS·DIES; AB50 EO·MUNICIPIO; PERQUOS·DIES; INEOS DIES ). Die häufigste Präposition ist in, und nach in lassen die Graveure den Trennungspunkt fast durchweg aus. Auf Tafel X kommt in, wenn ich richtig zähle, in Kolumne A51 neunmal und in Kolumne B vierzehnmal vor, aber nur einmal, in Kolumne A, durch den Trennungspunkt gegen das folgende Wort abgesetzt (IN·EUM·DIEM52). Dieser Befund kann mit Nachlässigkeit des Graveurs oder auch des Schreibers, der die Vorlage angefertigt hat, nicht mehr erklärt werden53. Was wir beobachten: daß generell interpungiert, der Trennungspunkt aber nach Präpositionen vernachlässigt und nach in, der bei weitem häufigsten Präposition, regelmäßig nicht gesetzt wird, ist vielmehr eine seit alters verbreitete, bewußte oder halbbewußte Übung. Sie beruht auf dem engen syntaktischen Anschluß der Präposition an das ihr im Satz folgende und von ihr regierte Nomen oder Pronomen, durch den sie ihren eigenen Ton verliert (Proklise)54. Diese Übung, die Präposition und das ihr folgende Wort Fernández / del Amo 65 ff. Dieselbe Unregelmäßigkeit der Interpunktion sehen wir auch auf den Bronzen der Salpensana und Malacitana (A. 43). 48 Metzger 22. 49 Kap. 86 IX C 1; 15; 21; Kap. 87 IX C 29; 30; Kap. 91 X B 2 (anders Fernández); 4, 6; 12; 19; 47; 52; 53. 50 Kap. 86 IX C 9; 12; 16; 19; Kap. 87 IX C 35; 38; 40 (anders Fernández); 42; Kap. 88 X A 11; Kap. 89 X A 16, Kap. 90 X A 28; 29; 33; 38; Kap. 91 X B 11; 15; Kap. 92 X B 46. 51 Bis Zeile 40, soweit der Text überhaupt interpungiert ist. 52 Kap. 90 X A 36. – In Kap. 91 X B 2 sehe ich, anders als Fernández, auf der Bronze INIUDICIO nicht getrennt. – Zum Vergleich: In Kolumne X A hat der Graveur nach der Präposition de in drei von zehn Fällen und in Kolumne X B in einem von vier den Punkt gesetzt; nach der Präposition per aber in vier von fünf und nach der Präposition intra in drei von drei Fällen. In der ganzen Irnitana kommt in eo municipio etwa 35 mal vor: soweit klar erkennbar in den Formen INEOMUNICIPIO 13 mal, INEO·MUNICIPIO 13 mal und IN·EO·MUNICIPIO 4 mal; in den meisten Fällen ist der gesamte Ausdruck aber gegen seine Umgebung durch Punkte abgesetzt. Für diese Erhebung war das ‚Lessico‘ von Lamberti 389 ff. besonders hilfreich. 53 Anders Metzger 22. 46 47

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zusammenzuschreiben, verbietet uns, wegen der Schreibweise INTERTIUM55 anzunehmen, daß für die Verfasser der Irnitana diese Buchstabenfolge ein Wort darstellte56; ob für sie der Ausdruck ein Wort war oder aus zwei Worten bestand, ist nach der Schreibübung der Irnitana nicht zu entscheiden. 2. Die INTERTIUM-Urkunden aus Murecine. – Die Auskunft der beiden INTERTIUM-Urkunden aus Murecine ist ebenfalls nicht eindeutig. Soweit ein Urteil bei einer individuellen Handschrift möglich ist, haben nach dem Schriftbild beider Urkunden ihre Schreiber unsern Begriff zwar in einem Wort geschrieben57. Wie in der Inschrift von Irni kann diese Schreibweise aber auch in ihrer Handschrift58 die Folge der engen syntaktischen Anlehnung der Präposition in an das Zahlwort tertium sein. Beide Urkunden waren Diptycha; von beiden erhalten ist offenbar aber nur die erste Tafel. Von TP 24 [TPSulp. 33] sind beide Seiten der ersten Tafel in den Photoserien der ‚Soprintendenza alle Antichità delle Province di Napoli e Caserta‘ auch dokumentiert59. Von TP 9 [TPSulp. 32] liegt mir dagegen nur ein Photo der Seite 2 aus dem Besitz von Carlo Giordano vor; seine Edition beider Seiten erfolgte vermutlich anhand der Tafel selbst60. Beide Diptycha sind Protokolle und folgen demselben Formular. Soweit ihr Text erhalten ist, lauten sie nach erneuter Lesung61:

54 R. Kühner / F. Holzweissig, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Erster Teil, Elementar-, Formen- und Wortlehre, Darmstadt, 1966, Nachdruck der 2. Aufl., Hannover, 1912, 242; Leumann (A. 43) 240 f., 23. 55 Wir verwenden auch im Folgenden diese Schreibweise der Bronze (INTERTIUM), wo beide Wortformen in Betracht kommen, „in tertium“ und „intertium“. 56 So aber ohne weiteres d’Ors 177; d’Ors / d’Ors 76 A. 89; Lamberti 185 A. 146; Zanon 313 A. 21; zutreffend dagegen Metzger 22. 57 Dieselbe Beobachtung berichtet Lamberti 186 A. 146 von G. Camodeca. So auch jetzt Camodeca (A. 2) I 102 selbst. 58 Kühner / Holzweissig (A. 54) 242; Camodeca (A. 2) I 39. 59 Seite 1: Photo 14696, 14697; Seite 2: 13537. Seite 2 ist zuerst und nahezu fehlerfrei ediert worden von F. Sbordone (A. 2). Zu korrigieren ist, jetzt auch gegen Camodeca (A. 2) I 102, lediglich Zeile 6: vor DIE ist nicht ex zu lesen (so schon U. Manthe, „Gnomon“, 53, 1981, 153); was für x gelesen wird, sind die zweite, lang gezogene Haste des E und das sie kreuzende auslaufende erste S von ESSE in Zeile 5; ex wäre auch nicht sachgerecht: es gab nur einen dies, jede Vertagung war eine diffissio und in der Kompetenz des Urteilsrichters (vgl. nur Kap. 91 X A 49 ff.). Ich lese vielmehr RE, zweifelsfrei E, R mit großer Wahrscheinlichkeit. Zwischen DICERETUR und RE ist das Wachs fast völlig abgetragen. Sbordone wollte die Lücke mit atque füllen; M. Crawford, ZPE, 70, 1987, 182, schlägt vor: eum d(e) e (is) r(ebus). 60 Op. cit. (A. 2). 61 Ich weiche nur geringfügig ab von U. Manthe, „Gnomon“, 53, 1981, 160 und 161 A. 49, und Camodeca (A. 2) I 101 f.

Intertium – und kein Ende? TP 24. 2. 1 2 3 4 5 6 7

C SULPICIUS CINNAMUS INTER TIUM SUMPSIT CUM Q LABERIO PHILIPPO QUIBUS DE REBUS INTER SE ET EUM Q LAB CERDO MAIOR IUDEX ESSE DICERETUR …… RE DIE PERENDINO IUDICARE

TP 9. 2. 1 2 3 4 5 6 7

49 C SULPICIUS CINNAMUS INTERTIUM SUMPSIT CUM C VARIO CARTO QUIBUS DE REBUS INTER se ET EUm L COCCEIUS ANTHus IUDEX ESSE DICERETUR

TP 9 stammt aus dem Jahre 4862, TP 24 wahrscheinlich aus dem Jahre 45 n. Chr.63. Sie belegen demnach jedenfalls die Möglichkeit, daß schon gegen die Mitte des 1. Jhs. n. Chr. in Italien in der juristischen Fachsprache INTERTIUM als ein Wort aufgefaßt und als Substantiv in der Form des acc. sing. verwendet wurde64.

IV. Zur Wortgeschichte 1. „Intertium“: geeintes „in tertium“. – Wenn das INTERTIUM unserer Quellen ein Wort ist, dann ist es aus in tertium durch Zusammenrückung65 von in und tertium entstanden: „in tertium“ mithin eine Vorstufe in der Wortgeschichte von „intertium“; begünstigt durch die Proklise der Präposition66 wären in und tertium zu dem neuen Substantiv „intertium“ geeint worden. Diese Einung setzte die Vorstellung voraus, daß INTERTIUM ein Wort ist. Diese Vorstellung konnte sich dadurch bilden, daß die ihrerseits durch Ersparungen gewonnene Wendung „in tertium“ selbst wieder usuell und infolgedessen nicht mehr als elliptisch empfunden wurde67.

62 Giordano (A. 2), dessen Lesung (dank einer Infrarotaufnahme der nicht dokumentierten Seite 1 von TP 9) G. Camodeca, Nuovi documenti dell’archivio puteolano dei Sulpicii, in: SDHI, LXI, 1995, 704, und jetzt op. cit. (A. 2) 101 auf den 31. Mai 48 präzisieren konnte. – C. Varius Cartus ist uns aus dem am 10. November 41 (43? 45?) ausgestellten Diptychon TP 31 (TPSulp. 1 bis) als Stipulationsschuldner bekannt. Von dieser Urkunde ist, soweit ich sehe, nur die zweite Tafel erhalten und nur Seite 3 photographisch dokumentiert (Photo 13514). Camodeca hat aber die Tafel selbst ausfindig gemacht und die Urkunde nach den Resten der Außenschrift auf Seite 4 als Vadimonium Puteolos factum identifizieren können: SDHI, LXI, 1995, 701 ff. und op. cit. (A. 2) 55. Zwei Urkunden zeigen uns mithin C. Varius Cartus in Rechtshändeln: TP 9 mitten in einem Prozeß, nach dem Verfahren in iure, vor der Verhandlung apud iudicem, verklagt von C. Sulpicius Cinnamus; TP 31 aus einem Vadimonium verpflichtet, vermutlich demselben Sulpizier, sich auf dem Forum von Puteoli zum Gang vor den Gerichtsmagistrat einzufinden. 63 Das Datum von TP 24 (TPSulp. 33) in Tintenschrift auf Seite 1 ist schlecht erhalten; ich glaube, bisher lesen zu können: (1) aCTUM PUTEOLIS XI [… (2) … M POMPEIO SIlva[no. 64 P. Antinoopolis 22 (A. 2) ist ohne Worttrennung in Unzialen geschrieben: E. A. LOWE, Codices Latini Antiquiores, Supplement, Oxford, 1971, Nr. 1707. 65 Zu diesem Begriff siehe etwa Leumann (A. 43) 383. 66 Leumann (A. 43) 240. 67 Vgl. E. Löfstedt, Syntactica, Lund, 1933, II 237 f.

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2. „In tertium dare“: zweifach verkürztes „diem in tertium diem dare“. – INTERTIUM wird vornehmlich in der Stellung des Akkusativobjekts in Verbindung mit dare, denuntiare und sumere verwendet. Diese Verwendung und ihr Kontext erlauben die weitere Rekonstruktion der Wortgeschichte. War INTERTIUM ein Wort und lautete folglich die Anweisung an den Duumvir in Kap. 90 ‚intertium dato‘ (X A 28 / 29), die an den Kläger in Kap. 92 ‚intertium denuntiato‘ (X B 46 / 47) und der Text in den Urkunden TP 9 und 24 ‚intertium sumpsit‘, dann war die sprachliche Vorstufe dieser Klauseln ‚in tertium dato‘, ‚in tertium denuntiato‘, ‚in tertium sumpsit‘. Der Ausdruck ‚in tertium‘ muß seinerseits durch eine doppelte Ellipse entstanden sein; denn er ist in doppelter Weise unvollständig: in allen drei Verbindungen ist er verkürzt sowohl um das Objekt (zu dato, denuntiato, sumpsit) wie um das durch tertium näher bestimmte Substantiv. (a) Die Ellipse eines Substantivs, das durch ein Attributiv näher bestimmt wird, ist häufig68; sie ist vielfach technisch und für Sondersprachen typisch69. Das Substantiv, das durch das Ordinalzahlwort tertium näher bestimmt wurde, war diem70. Das ergibt sich klar aus TP 24 und den folgenden Texten: Probus 4. 9 I. D. T. S. P. in diem tertium sive perendinum.

Gai. inst. 4. 15 postea tamen quam iudex datus esset, comperendinum diem, ut ad iudicem venirent, denuntiabant. Paul. Fest. p. 355, 1 L. Res conperendinata significat iudicium in diem tertium constitutum71. Cicero, pro Murena 12. 27 Iam illud mihi quidem mirum videri solet, tot homines, tam ingenioses, post tot annos etiam nunc statuere non potuisse utrum ‚diem tertium‘ an ‚perendinum‘, ‚iudicem‘ an ‚arbitrum‘, ‚rem‘ an ‚litem‘ dici oporteret.

Die litterae singulares, die Probus auflöst, wurden ‚in legis actionibus‘ benutzt; vermutlich gehörten sie zu einer Spruchformel72. Vom Legisaktionenverfahren han68 Löfstedt (A. 67) 231 ff., insb. 238, 255; Kühner / Stegmann II 550; Hofmann / Szantyr 823; Menge / Thierfelder 382; W. Kalb, Das Juristenlatein, Aalen, 1961, Neudr. der 2. Aufl. von 1888, 48 ff. 69 J. B. Hofmann, Lateinische Umgangssprache, Heidelberg, 2. Aufl., 1936, 169 mit Beispielen aus anderen Sondersprachen. 70 Giménez-Candela (A. 41) 135; González 234; Intertiumjagd 174; Rodger 79; Metzger 27; undeutlich Lamberti 185. 71 Müller p. 283, 1 hat in tertium diem. Zur Bedeutung der Wortfolge E. Norden, Aus altrömischen Priesterbüchern, Lund, 1939, 92; U. Manthe, Stilistische Gemeinsamkeiten in den Fachsprachen der Juristen und Auguren der römischen Republik, in: K. Zimmermann (Hrsg.), Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften, Rostock, 1993, 71. 72 Die synonyme Doppelform hatte bedeutungssichernde Funktion, nichts weiter. Die Erscheinung ist aus den Gesetzen sattsam bekannt, war aber nicht nur eine Eigentümlichkeit der Kurialsprache. Die ältere Wendung ist in diem perendinum, vgl. etwa Plaut. Trin. 1188 / 9

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delt auch Gaius, und sowohl Festus’ Definition wie Ciceros boshafter Spott sind offenbar auch auf den alten Prozeß gemünzt. Die Urkunde TP 24 stammt dagegen aus einem Formularverfahren. Im Verein mit den vorstehenden Texten belegt sie für die elliptische Ausdrucksform „in tertium“ die Verkürzung um den Akkusativ diem73: in diem tertium, ‚auf den dritten Tag‘, wurde im Spruchformelverfahren und nach dem Zeugnis der Urkunde auch im Schriftformelverfahren die Verhandlung apud iudicem angesetzt74. (b) Das Objekt des Satzes wird seltener ausgelassen, und wo seine Ellipse beobachtet wird, ist das eingesparte Wort meist leicht zu ergänzen75. Nicht so hier. Die Rubrik von Kap. 90 lautet ‚De INTERTIUM dando‘. So viel wir bisher sehen, steht INTERTIUM dare für in diem tertium dare, handelt demnach Kap. 90, wenn INTERTIUM diese Bedeutung nicht verloren hat, ‚Von der Erteilung auf den dritten Tag‘. Wir wissen, daß es der Magistrat war, der ‚erteilte‘; und wir wissen auch, daß an dem Tag, auf den er erteilte, das iudicium, die Verhandlung apud iudicem, stattfand. Was also erteilte der Magistrat ‚auf den dritten Tag‘? Was mußte der Kläger dem Beklagten anzeigen ‚auf den dritten Tag‘? Was hat Cinnamus ‚auf den dritten Tag‘ angenommen? González kann das eingesparte Akkusativobjekt selbst nicht nennen; wie Crawford kennt er aber seine englische Übersetzung: ‚Concerning the granting of notice for the third day‘ lautet ihre englische Version der Rubrik von Kap. 9076. Alan Rodger77 glaubt, das ersparte Objekt sei iudicium gewesen. Iudicium paßt in allen drei Verbindungen, zu dare, denuntiare und sumere. Keine Frage, daß der Magistrat das iudicium erteilte. Aber erteilte er es ‚auf den dritten Tag‘, erteilte er es überhaupt zur Verhandlung an einem bestimmten Tag? Von iudicium dare ist an zahllosen Stellen unserer Überlieferung die Rede: daß das Urteilsgericht ‚auf den dritten Tag‘ erteilt wurde, wird nirgends auch nur angedeutet. Rodgers Schlüsselargument ist die Materienfolge, die er in Kap. 84 in der Verfügung IIviri … iuris dictio iudicis arbitri recuperatorum … iudici datio addictio … esto (IX B 23 ff.) vorgezeichnet sieht. Der iudicis arbitri recuperatorum … datio addictio seien die Kap. 85 bis 89 gewidmet, die iudici datio müsse mithin in Kap. 90 behandelt sein. Ich glaube nicht, daß Rodgers Beobachtung diese scharfe Argumentation trägt. Die (A.73); Gell. 10.24.9: Sacerdotes quoque populi Romani, cum condicunt in diem tertium, die perendini dicunt; U. Manthe (A. 71) 70 bei A. 44. 73 Schon Plautus verkürzt in perendinum diem, Trin. 1188 / 9: numquid caussa est quin uxorem cras domum ducam? – optumumst. tu in perendinum paratus sis ut ducas. Eine Parallele bei Tac. ann. 4.73.4: in posterum (diem). Die übrigen im OLD s.v. posterus 2 a angeführten Belege sind keine echten Ellipsen. 74 Aus Gell. 14.2.1 wissen wir, daß die Lex Iulia iudiciorum privatorum von 17 v.Chr. die conperendinatio für den Formularprozeß – vermutlich neu – regelte: Kaser, RZ 274 bei A. 22; U. Manthe, „Gnomon“, 53, 1981, 161. 75 Kühner / Stegmann II 551 und I 94. 76 González 197, 234. 77 (1991) 79.

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iudicis arbitri recuperatorum iudici datio addictio sind Elemente der iuris dictio, aufgeführt zu ihrer Explikation, aber kein strenges Programm. Die Kap. 85 bis 89 handeln keineswegs nur von Auswahl und Bestellung der Urteilsrichter. Kap. 85 etwa verfügt, daß der Magistrat nach dem Album des Statthalters judizieren soll: daß ad ea interdicta edicta easque formulas sponsiones stipulationes satis acceptiones exceptiones praescriptiones ius dicatur i u d i c i a q u e d e n t u r (IX B 37 – 40); und Kap. 87, daß der Duumvir den Bürger, auf den sich die Streitparteien verständigt haben, als Urteilsrichter einsetzt und ihn anweist, die Sache zu entscheiden: eum inter eos … iudicem arbitrumve dato addicito i u d i c a re i u b e t o (IX C 48 / 49). Diesen Judikationsbefehl aber gab der Magistrat mit den Imperativen condemnato und absolvito der Formel78. Wie der Ausdruck iudicium dare die Bestellung des iudex einschließt, so der Ausdruck iudicem dare immer auch seine Instruktion79. Und schließlich: iudicium dare ist ein fester, auch in den Gesetzen seit alters80 viel gebrauchter Begriff, ohne daß je iudicium ausgelassen würde81. Mit Rodgers Beobachtung steht jedoch vollends außer Frage, daß die datio iudicii, die Erteilung des Urteilsgerichts, der ‚Erteilung auf den dritten Tag‘ vorausging. Da an diesem ‚dritten Tag‘ die Verhandlung apud iudicem stattfand, liegt nahe, daß der Magistrat mit dem ‚INTERTIUM dare‘ eben diesen Termin für das Verfahren vor dem Urteilsrichter ‚erteilte‘. Dies ist bekanntlich nicht nur ‚der Tag‘, sondern auch ‚der Termin‘. Darum möchte ich annehmen, daß auch das Akkusativobjekt zu dare, das zweite eingesparte Wort, diem war, die Anweisung an den Duumvir in Kap. 90 demnach unverkürzt ‚diem in diem tertium dato‘ gelautet hätte: ‚er soll den Termin auf den dritten Tag erteilen‘. Die doppelte Ellipse war offenbar möglich, weil die Erteilung des Termins für das Verfahren apud iudicem immer und immer schon eine Erteilung ‚auf den dritten Tag‘ war und weil im zivilen Rechtsgang ‚auf den dritten Tag‘ nur der Termin apud iudicem erteilt wurde. Da diese institutionellen Voraussetzungen dem Juristen völlig vertraut waren, konnte sich in seiner Fachsprache die elliptische Ausdrucksform in tertium dare (denuntiare, sumere) entwickeln und etablieren. Ihre Bedeutung war demnach: ‚den Termin auf den dritten Tag erteilen (anzeigen, annehmen)‘ – in dem Sinne, daß dieser Termin ausschließlich ‚auf den dritten Tag‘ erteilt wurde, die Erteilung ‚auf den dritten Tag‘ dieser datio diei also eigentümlich war und sie definierte. J. G. Wolf, SDHI, XLV, 1979, 154 f. J. G. Wolf, SDHI, XLV, 1979, 157 f. 80 Lex agraria (111 v. Chr.) 30, 34; Lex Mamilia Roscia (59 v. Chr.) K.L. V 15; Lex Rubria I 3, 17, 19 u. ö.; Fr. Atestinum 9; Lex Iulia municipalis (45 v. Chr.) 44 / 5. 81 Die Ellipse von actionem in D 47.10.17.2 Ulp 57 ed, auf die sich Rodger (1991) 79 beruft, fällt in eine andere Kategorie: hier wird das durch den attributiven Genitiv iniuriarum näher bestimmte Substantiv erspart; diese Auslassung entspricht dem bei A. 68 angeführten besonders häufigen Fall der Nominalellipse; vgl. Löfstedt (A. 67) 248 f.; Kühner / Stegmann II 551; W. Kalb, Wegweiser in die römische Rechtssprache, Aalen, 1961, Neudr. der Ausgabe 1912, 12; ebd. 14 auch Beispiele der Auslassung von iudicium bei den Juristen. – Gegen Rodgers Argumentation und Folgerungen, in ausführlicher Auseinandersetzung, auch Metzger 27 ff.; zustimmend K. Hackl, ZSS, CXVI, 1999, 382. 78 79

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3. „Intertium“: vermutlich ein indeklinables Substantiv. – (a) Wie wir sahen, verbürgt die Schreibweise INTERTIUM nicht, daß für die Verfasser der Irnitana oder die Aussteller der Urkunden von Murecine der Ausdruck auch ein Wort war. Wir wissen darum nicht, ob mit den beiden Ellipsen die Entwicklung abgeschlossen war oder in der Folge aus „in tertium“ das Substantiv „intertium“ entstanden ist82. Die Einung zu einem neuen Wort setzte, wie gesagt83, voraus, daß „in tertium“ nicht mehr als elliptischer Ausdruck empfunden wurde. Ich glaube allerdings, daß wir für eben diese Entwicklung Anhaltspunkte haben. Ich sehe sie in den vier oder fünf Textstellen, welche vorsehen, daß ‚der Termin auf den dritten Tag‘ auf bestimmte Tage oder auf einen bestimmten Tag erteilt wird: IN EOS DIES OMNES INTERTIUM DATO oder IN EUM DIEM INTERTIUM INTER 84 EOS DATO . Hätte man INTERTIUM noch als elliptischen Ausdruck empfunden, nämlich in dem Bewußtsein verwendet, die Rede nur abzukürzen, das Akkusativobjekt diem nur auszulassen, also in tertium dato statt diem in tertium dato zu sagen85, so wäre eine Verbindung mit in eos dies omnes oder in eum diem wohl kaum erträglich gewesen. Diese Sätze begründen darum die Vermutung, daß „in tertium“ usuell geworden war und schließlich als Substantiv aufgefaßt wurde. Das vermutlich sächliche Substantiv „intertium“86 konnte dann ohne weiteres auch als Subjekt fungieren – wie in der Rubrik von Kap. 91 QUO IURE INTERTIUM DENUNTIETUR oder der Klausel IN ALIQUEM DIEM UTI INTERTIUM INTER EOS DETUR87. Da wir nicht wissen, ob diem wirklich das ersparte Akkusativobjekt war, diese Überlegungen aber davon ausgehen, können sie nur eine Hypothese sein. Mit dieser Maßgabe wird in dieser Untersuchung INTERTIUM als Substantiv aufgefaßt88. Seine Bedeutung: ‚Termin auf den dritten Tag‘89. (b) Intertium kommt nur in dieser Form vor90: in der Stellung des Akkusativobjekts bei dato und denuntiato, bei dederit, dare debuerit und dem Gerundium denuntiandi 91 sowie als Akkusativ mit dem Infinitiv dari bei debebit; sodann in Ähnlich Zanon 311 A. 14. Oben nach A. 64. 84 Nachweise oben nach A. 45. 85 Ich unterstelle hier, daß sich die beiden Ellipsen nicht gleichzeitig durchgesetzt haben, daß vielmehr zunächst das durch tertium näher bestimmte diem ausgelassen wurde und erst in der Folge auch das Akkusativobjekt diem. 86 Nach Kühner / Holzweissig (A. 54) 260 f. waren alle Indeklinabilia Neutra. In der Verbindung in (diem) tertium war tertium maskulin. Mit der Substantivierung hätte also auch eine Änderung des Genus stattgefunden. 87 Nachweise oben nach A. 45. 88 Ähnlich Metzger 23. 89 Nicht also iudicium in diem tertium constitutum (Lamberti 185), vielmehr wird das zuvor erteilte iudicium erst mit der Erteilung des intertium zum iudicium in diem tertium constitutum. 90 Nachweise zum Folgenden oben nach A. 45. 91 Zu dieser Verwendungsweise des Gerundiums Kühner / Stegmann I 735; Hofmann / Szantyr 373. – Als Akkusativobjekt auch in TP 9 und 24 bei sumpsit. 82 83

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Subjektsstellung bei detur und denuntietur; schließlich in dem Satz ‚De intertium dando‘, der Rubrik von Kap. 90. Wäre dando Ablativ des Gerundiums und intertium sein Objekt im Akkusativ, gäben diese Belege keinen Anlaß, das neue Substantiv für indeklinabel zu halten. Der Ablativ des Gerundiums mit einem Akkusativobjekt und in Abhängigkeit von einer Präposition ist aber äußerst selten92, und hier eine Ausnahme anzunehmen, gibt es keinen Grund. Die regelmäßige Konstruktion zeigen zahlreiche andere Rubriken93, etwa die von Kap. 87 ‚De iudicibus reiciendis dandis‘ oder Kap. 86 ‚De iudicibus legendis proponendis‘ oder Kap. 72 ‚De servis publicis manumittendis‘. Es ist die geläufige ‚Konstruktion des persönlichen Gerundivs‘: das Objekt (intertium) wird in den Kasus des Gerundiums (Ablativ) gesetzt und das Gerundiv ihm als Adjektiv angepaßt (dando)94. Da wir annehmen müssen, daß ‚De intertium dando‘ der allgemeinen Regel folgt und auch unter den Rubriken der Irnitana keine Ausnahme ist, bleibt nur der Schluß, daß die Form intertium für alle Kasus galt95. Intertium entspricht damit auch der Erfahrung, daß indeklinable Substantive aus ursprünglich attributivem Gebrauch dieser Wörter entstanden sind96. 4. Wortgeschichte und Bedeutung. – Nach seiner Wortgeschichte bedeutet der Begriff intertium ‚Termin auf den dritten Tag‘. Die Wortgeschichte verbürgt indessen nicht die Konstanz dieser Bedeutung. Es ist von vornherein nicht ausgeschlossen, daß schon in der Irnitana die Bedeutung des Begriffs verschoben ist. Intertium wird ausschließlich für den Termin der Verhandlung apud iudicem gebraucht; intertium war also immer nicht einfach ‚Termin auf den dritten Tag‘, sondern ‚Gerichtstermin‘, ‚Termin apud iudicem auf den dritten Tag‘. Es wird sich zeigen, daß die Irnitana den Begriff nicht in seiner angestammten, sondern in der allgemeineren Bedeutung ‚Termin für das Urteilsgericht‘ verwendet.

V. Die Erteilung des intertium 1. Ordentliche und vereinbarte Gerichtstage. – Kap. 90 handelt ‚De intertio dando‘, von der Erteilung des intertium. Zwei Sektionen lassen sich unterscheiden. In der ersten Sektion (X A 27 – 37) trifft das Gesetz drei Anordnungen über die datio intertii, deren Adressat der Duumvir ist; in der zweiten (37 – 41) sichert es deren Durchsetzung. Hier verfügt es Geldbußen gegen den Duumvir, der die Anordnungen nicht befolgt, und ermächtigt jeden Municipalbürger, sie einzuklagen. Kühner / Stegmann I 736; Hofmann / Szantyr 373 f. Außer den im Folgenden zitierten etwa noch die der Kapitel 95, 88, 80, 79, 76, 70, 68, 63, 61. 94 Menge / Thierfelder 302. 95 So etwa Gonzáles 234; Johnston 70 A. 44; Simshäuser (1989) 629 und (1992) 168; Hackl 355 A. 4. 96 Hofmann / Szantyr 23. 92 93

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(a) Von den Anordnungen der ersten Sektion verpflichtet die erste (X A 27 – 29) den Duumvir, das intertium auf alle Tage (in eos dies omnes) zu erteilen, die in Irni für iudicia vorgesehen sind (per quos dies ex hac lege ibi iudicia fieri licebit oportebit). Diese Verpflichtung muß er, gemäß der zweiten Anordnung (29 – 31), an dem Ort, an dem er seine Jurisdiktion ausübt, durch Anschlag öffentlich bekannt machen97; und zwar an allen Tagen98, an denen er das intertium erteilen muß99. Der Duumvir muß das intertium auf alle für iudicia vorgesehenen Tage erteilen. Verständigen sich Streitparteien und Urteilsrichter auf einen bestimmten Tag (in aliquem diem), so ist er nach der dritten Anordnung (31 – 37) verpflichtet, das intertium auf diesen Tag (in eum diem) zu erteilen – sofern dieser Tag nicht der Verehrung des kaiserlichen Hauses gewidmet ist. Wir haben danach zu unterscheiden einmal die Tage, an denen der Duumvir das intertium erteilen muß, von den Tagen, auf die er es erteilen muß. Bei diesen Tagen sodann zwei Kategorien: die für iudicia vorgesehenen Tage von solchen, die von Parteien und Urteilsrichter einverständlich gewollt und nicht dem Kaiserkult vorbehalten sind. Wie sich diese beiden Kategorien zueinander verhalten, ob ihre Bereiche sich decken, überschneiden oder ergänzen, ist nicht ohne weiteres ersichtlich100. (b) Für iudicia vorgesehen sind in Irni alle Tage des Jahres, für die das Gesetz Urteilsgerichte nicht untersagt (wir nennen sie die ‚ordentlichen Gerichtstage‘). Die Tage, die es mit und ohne Vorbehalt für Urteilsgerichte ausschließt, bestimmt es in Kap. 92 unter der Rubrik ‚Quibus diebus res ne iudicentur et in quos intertium ne detur‘. 97 Diese Verpflichtung und nicht etwa eine Liste der für iudicia vorgesehenen Tage oder gar das in einem konkreten Fall erteilte intertium, so zutreffend schon Johnston 71; ebenso klar A. Burdese, SDHI, LVII, 1991, 450. Anders Simshäuser (1990) 550, 551, (1992) 196, gefolgt von Hackl 356, der außerdem und noch einmal anders das it proscriptum ex hac lege non habuerit der Strafdrohung (37 / 38) auf eine „Publikationspflicht der (einzelnen) Verhandlungstage“ (A. 11) beziehen möchte; ebenso jetzt wieder ZSS, CXVI, 1999, 385. Eigentümlich Rodger 83 f., dem Metzger 53 f. folgt. Zanon 319 f. erinnert zu Recht an den Text, möchte aber auch annehmen, daß id proscriptum habeto ein Kalendarium einschließt „relativo a tutti i giorni per i quali il magistrato avrebbe potuto e dovuto concedere l’intertium“. Das wäre eine Liste der für iudicia vorgesehenen Tage gewesen. Viel wahrscheinlicher ist die Publikation der für iudicia nicht vorgesehenen Tage; von den Festtagen des Kaiserkults abgesehen, wurden sie ad hoc oder, wie jedenfalls die ‚Ernteferien‘, von Jahr zu Jahr neu beschlossen, und von den ‚Ernteferien‘ wissen wir, daß der Beschluß so schnell wie möglich ediziert werden mußte (Kap. 49 V C 32 – 34). Wie Zanon auch Lamberti 187. 98 Genauer noch bestimmt das Gesetz: maiore parte cuiusque diei (29 / 30). Mit derselben Klausel verpflichtet die Irnitana den Magistrat, das Album in suo magistratu (Kap. 85 IX B 36 / 37) und die Richterliste aput tribunal suum (Kap. 86 IX C 22 / 23) öffentlich anzuschlagen. Sie findet sich schon in der Lex Acilia repetundarum (a. 123 / 2 v. Chr.) 65 und der Tabula Heracleensis (a. 45 v. Chr.)16; außerdem s. Lex Ursonensis (a. 44 v. Chr.) 70, 71. 99 Dazu u. bei und nach A. 133. 100 Dazu unten bei A. 107.

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Es sind dies101: die der Verehrung des kaiserlichen Hauses gewidmeten Festtage (Kap. 92 X B 29 – 30); die örtlichen Feiertage, deren Anlässe vom Gemeinderat beschlossen wurden (30 – 33)102 ; die Komitialtage der Gemeinde (33 – 34); sowie, schließlich, die Tage der von Jahr zu Jahr vom Gemeinderat festzusetzenden Erntezeiten (34 – 36)103. Das Gesetz schließt diese Tage für iudicia aus, indem es dem Duumvir untersagt, an diesen Tagen ein Urteilsgericht zuzulassen und auf diese Tage ein intertium zu erteilen (27 – 29). Die Irnitana trifft dieses Verbot vorbehaltlos aber nur für die Festtage des Kaiserkults, für die übrigen dies feriati 104 dagegen mit dem Vorbehalt, daß sie nicht von Streitparteien und Urteilsrichter einverständlich gewollt werden (36 – 39). Mit demselben Vorbehalt verbietet sie in Kap. 92 an zweiter Stelle (39 – 46) dem Urteilsrichter an den Ferialtagen jede richterliche Betätigung, deren Elemente sie einzeln aufführt, und schließlich an dritter Stelle (46 – 50) auch noch der Streitpartei, dem Gegner auf einen Ferialtag das intertium anzuzeigen105. Diese eigentümliche Häufung von Verboten ist durchaus kennzeichnend für die römische Gesetzgebung. Um die Feiertage gerichtsfrei zu halten, sollte es genügt haben, dem Duumvir zu untersagen, an diesen Tagen iudicem arbitrum reciperatores rem privatam iudicare zuzulassen. Schon das Verbot, auf diese Tage das intertium zu erteilen, erscheint daneben abundant. Wenn aber bereits dem Duumvir untersagt ist, Urteilsgerichte zuzulassen und intertia zu erteilen, scheint es vollends überzogen, auch noch dem Urteilsrichter jede richterliche Betätigung und selbst noch der Streitpartei die Anzeige des intertium zu verbieten. Der römische Gesetzgeber hielt offenbar für erforderlich, jede Tätigkeit einzeln zu untersagen, die dem Normzweck zuwider lief, und jeden einzelnen Beteiligten mit dem Verbot zu belegen. Diese Häufung ist keine Erscheinung der „pedantischen Genauigkeit des Ausdrucks“ und wohl auch nicht der „Subalternität der Redaktoren“ des Ge-

101 Ausführlich Rodger (1996) 63 ff. – Anders als in Kap. 90 und 91 werden in Kap. 92 neben iudex und arbiter auch die recuperatores genannt. Wir gehen darauf nicht ein und vernachlässigen insbesondere die Frage, ob das intertium-Verfahren auch für den Rekuperatorenprozeß galt; vgl. dazu Johnston 70; Simshäuser (1992) 201 ff. 102 Das konnten spectacula, konnte ein epulum oder eine visceratio für die Bürger oder eine cena für die Dekurionen sein. Für die öffentliche Bedeutung der ‚Schauspiele‘ ist die Regelung der Sitzordnung in Kap. 81 bezeichnend. Das epulum war ein öffentliches Festmahl, die visceratio auch eher der gemeinsame Verzehr als die Ausgabe der viscera, des Fleischs der Opfertiere (Serv. ad Aen. 6. 253; K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München, 1960, 391 mit A. 2). 103 Maximal zweimal 30 Tage. Diese Begrenzung, das Beschluß- und Publikationsverfahren sowie die Einschränkung der Gerichtstätigkeit der Magistrate und der Geschworenen an den beschlossenen dies feriati regelt Kap. 49. Dazu eingehend Rodger (1996) 65 ff. 104 Die Tage, die propter venerationem domus Augustae festi feriarumve numero (sunt), sind Staatsfeste; für sie gilt per definitionem Arbeitsruhe, vor allem Ruhe der Rechtspflege (G. Wissowa, RE VI, 1909, 2211 ff. s. v. Feriae, und 2224 s. v. Festi dies). Für unsere Zwecke unterscheiden wir vorerst von diesen dies festi nur ‚die übrigen dies ferati‘ oder ‚lokalen Ferialtage‘ und vernachlässigen, daß unter ihnen die Tage, per quos messis et vindemiae causa res prolatae (sunt), eine eigene Kategorie bilden, die durch die Vorschriften des Kap. 49 (V C 24 ff.) definiert wird. Dazu auch Simshäuser (1992) 199 f. und Rodger (1996) 66. 105 Dazu unten nach A. 141.

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setzes106. Sie muß vielmehr einer Gesetzesvorstellung entsprochen haben, die dem Verbot nur eine beschränkte, punktuelle und personale Wirkung beilegte.

(c) Die Gebote in Kap. 90 und die Verbote in Kap. 92 greifen präzise ineinander. Die komplexe Regelung folgt ersichtlich einem klaren Konzept: Der Duumvir muß das intertium ohne jeden Vorbehalt auf alle Tage des Jahres erteilen mit Ausnahme der Ferialtage; er muß es auch auf Ferialtage erteilen, wenn Streitparteien und Urteilsrichter sich auf einen Ferialtag verständigt haben; in diesem Fall darf er das intertium nur dann nicht erteilen, wenn dieser Ferialtag ein Festtag zu Ehren des kaiserlichen Hauses ist107. Offen bleibt zum einen, an welchen Tagen der Duumvir das intertium erteilen muß108, und zum anderen, ob die Verpflichtung des Duumvir, das intertium auf den von Streitparteien und iudex einverständlich gewünschten Tag zu erteilen, nur bei lokalen Ferialtagen oder auch bei ordentlichen Gerichtstagen von Bedeutung war109.

2. Intertium und iudicium. – Wird das intertium nur auf die Tage erteilt, an denen iudicia rechtsgültig stattfinden können, dann muß vorher der erste Prozeßabschnitt, das Verfahren vor dem Magistrat, abgeschlossen, muß der Urteilsrichter ernannt und instruiert, muß, mit einem Wort, das Urteilsgericht eingesetzt sein. Nur unter dieser Voraussetzung versteht sich auch, daß außer den Streitparteien auch der iudex einverstanden sein muß, wenn das intertium auf einen lokalen Ferialtag erteilt werden soll. Ebenso liegt auf der Hand, daß intertium und iudicium zwar aufeinander bezogen, aber nicht identisch sind. Wie sie aufeinander bezogen sind, macht das doppelte Verbot deutlich, an den Ferialtagen iudicia zuzulassen und auf diese Tage intertia zu erteilen: Dem Verbot, iudicia zu gestatten110, konnte der Duumvir nur dadurch gehorchen, daß er keine intertia erteilte. Mit der datio iudicii zum Abschluß der Verhandlung in iure verabschiedete sich mithin der Magistrat noch nicht vom weiteren Prozeßgeschehen. Das von ihm eingesetzte Urteilsgericht konnte ohne seine weitere Mitwirkung nicht tagen: Er mußte, sollte der Prozeß seinen Fortgang nehmen, mit dem intertium den Verhandlungstermin apud iudicem erteilen. Allerdings konnte er den Prozeß nun auch nicht mehr F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Erster Abschnitt, München, 1988, 425 f. Einfacher noch stellt sich das Konzept dar, wenn man nicht von der Verpflichtung des Duumvir, sondern der Eignung der Tage ausgeht: Urteilsgerichte können rechtens stattfinden an allen Tagen des Jahres mit Ausnahme der Festtage des Kaiserkults, an einem der übrigen Ferialtagen allerdings nur, wenn Streitparteien und Urteilsrichter es wollen. 108 Wie sich versteht: an allen Tagen, an denen er zu Gericht sitzt (s. unten bei A. 133). Seine Jurisdiktion ruht vollkommen an den Festtagen des Kaiserkults (s. oben A. 104) und mit Ausnahmen in den für Ernte und Weinlese verfügten Ferien, Kap. 49 V C 34 – 37: perque eos dies duumviri … ius ne dicunto nisi si de is rebus, de quibus Romae messis vindemiaeve causa rebus prolatis ius dici solet (s. unten nach A. 135). 109 Dazu alsbald unter 3. (b). 110 Für die ‚Ernteferien‘ trifft dieses Verbot schon Kap. 49, s. unten nach A. 135. 106 107

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aufhalten; er hatte nichts mehr zu entscheiden111. Vielmehr mußte er das intertium erteilen, soweit das Gesetz selbst nicht entgegenstand112. 3. Antrag und Dekret: die Bindung des Magistrats und das Einverständnis der Beteiligten. – (a) Wie das iudicium erteilte der Magistrat auch das intertium durch Dekret; dare ist dafür der technische Ausdruck. Dem iudicium dare-Dekret folgte das intertium dare-Dekret aber nicht automatisch. Wie das iudicium mußte auch das intertium beantragt werden113. Das versteht sich wieder, entspricht aber nicht nur der das gesamte Verfahren dominierenden Herrschaft der Parteien über das Prozeßgeschehen, sondern wird auch in den Geboten und Verboten der Kap. 90 und 92 greifbar vorausgesetzt: etwa in dem Verbot, an Ferialtagen Urteilsgerichte zu gestatten (ne sinito: X B 27 / 28); oder in dem Gebot, das intertium auf den Tag zu erteilen, auf den Streitparteien und Urteilsrichter sich verständigt haben (X A 31 – 37); oder auch in der Anordnung, auf der Gerichtsstätte an allen Tagen, an denen das intertium erteilt werden muß, öffentlich anzuschlagen, daß es auf alle für iudicia vorgesehenen Tage erteilt wird (X A 29 – 31). Diese Vorschriften gehen indessen nicht nur davon aus, daß der Duumvir das intertium auf Antrag erteilt; sie setzen auch voraus, daß das intertium für einen bestimmten Tag beantragt wird. Nur wenn beantragt wird, das intertium auf einen bestimmten Tag zu erteilen, kann der Duumvir das intertium dare verweigern, weil der benannte Tag dem Kaiserkult vorbehalten ist oder ein lokaler Ferialtag ist und das Einverständnis des iudex fehlt. Und auch die strafbewehrte Vorschrift, seine Kardinalverpflichtung öffentlich anzuschlagen: das intertium vorbehaltslos auf alle ordentlichen Gerichtstage zu erteilen – auch diese Vorschrift versteht sich wirklich erst unter der Voraussetzung, daß das intertium für einen bestimmten Tag beantragt wird. (b) Verständigen sich Streitparteien und Urteilsrichter auf einen bestimmten Tag, so muß der Duumvir das intertium auf diesen Tag erteilen. Dieses Gebot in Kap. 90 (X A 31 – 37) gilt nach seinem Wortlaut für alle Tage des Jahres mit Ausnahme der Festtage des Kaiserkults, mithin unterschiedslos sowohl für die ordentlichen Gerichtstage wie für die lokalen Ferialtage. Danach hätte auch dem Antrag, das intertium auf einen bestimmten ordentlichen Gerichtstag zu erteilen, der Duumvir nur entsprechen müssen, wenn Streitparteien und Urteilsrichter diesen Tag einverständlich für das Urteilsgericht wollten114. Diese Folgerung ist aber kaum mit dem voranSimshäuser (1990) 551. Intertiumjagd 174, 177 mit Einwänden von M. Crawford und J. Crook. 113 Intertiumjagd 174; Simshäuser (1990) 551, (1992) 197; Hackl 355. 114 Davon geht offenbar Simshäuser (1990) 551 f. aus. Für ihn ist die Alternative, daß „etwa der Kläger die Anberaumung eines möglichst frühen Verhandlungstermins begehrte“. Nach seiner Ansicht mußte dann der Duumvir den nächstmöglichen Termin bestimmen. Anders als Hackl 356 A. 12 kann ich diesen Überlegungen nicht folgen. Deutlicher als beide Zanon 319 mit der Ansicht, „che tale accordo fosse necessario soltanto per stabilire che 111

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stehenden, den Regelfall bestimmenden und darum auch publikationspflichtigen Gebot vereinbar, das intertium vorbehaltlos auf alle ordentlichen Gerichtstage oder, wie das Gesetz sagt, auf alle Tage zu erteilen, die für iudicia vorgesehen sind. Näher liegt darum, daß die Verpflichtung des Duumvir, das intertium auf den Tag zu erteilen, den Streitparteien und Urteilsrichter übereinstimmend für die Verhandlung wollen – daß diese Verpflichtung auf die lokalen Ferialtage gemünzt ist. Das Einverständnis aller am Verfahren beteiligten Personen bewirkt nicht die Bindung des Duumvir an den Antrag. An den Antrag ist er immer gebunden: so wie er gestellt ist, muß er ihm entsprechen oder muß er ihn ablehnen. Das Einverständnis aller Prozeßbeteiligten dispensiert ihn vielmehr von dem Verbot, an Ferialtagen iudicia zu gestatten und auf diese Tage intertia zu erteilen115. Diese Regelung ist auch insofern plausibel, als Parteien und Urteilsrichter unbenommen blieb, sich auf einen ordentlichen Gerichtstag zu verständigen. 4. Wir erreichen damit folgendes Zwischenergebnis: Mit dem iudicium dareDekret war der Urteilsrichter eingesetzt und instruiert, der Weg für die Verhandlung apud iudicem aber noch nicht frei. Vielmehr mußte der Magistrat mit dem intertium dare-Dekret noch den Verhandlungstermin erteilen. Das Dekret erging auf Antrag. Beantragt wurde, das intertium auf einen bestimmten Tag zu erteilen. Der Duumvir mußte dem Antrag ohne weiteres entsprechen, wenn dieser Tag ein ordentlicher Gerichtstag, nämlich für iudicia vorgesehen war. Er mußte ihm auch entsprechen, wenn der beantragte Termin ein Ferialtag war, von Streitparteien und Urteilsrichter aber übereinstimmend gewünscht wurde. Er mußte ihn jedoch unter allen Umständen ablehnen, wenn der genannte Tag dem Kaiserkult vorbehalten war. 5. Der Adressat des Dekrets. – Aus den Vorschriften über das intertium ist dagegen nicht ersichtlich, wer den Antrag stellen konnte und wem das intertium erteilt wurde. (a) Verständigen sich Streitparteien und Urteilsrichter, die Streitsache an einem lokalen Ferialtag zu verhandeln, so muß, wie wir sahen, der Duumvir das intertium auf diesen Tag erteilen. Diese Anordnung hat folgenden Wortlaut (Kap. 90 X A 31 – 37): Item si inter eos, inter quos ambigetur, et iudicem, qui inter eos iudicare debebit, in aliquem diem uti intertium inter eos detur conueniet, neque is dies propter venerationem domus Augustae festus erit feriarumve numero propter eandem causam haberi debebit, in eum diem intertium inter eos dato. Sowohl in der Bedingung si inter eos … et iudicem … conveniet wie in der näheren Bestimmung inter quos ambigetur bringt inter die Wechselseitigkeit der Handl’udienza avesse luogo in un giorno determinato, anche feriale …; negli altri casi il magistrato avrebbe fissato come intertium proprio il dopodomani“. Ebenso Lamberti 188. 115 Wie auch den Urteilsrichter von dem Verbot urteilsrichterlicher Betätigung und die Streitpartei von dem Verbot, auf den Ferialtag das intertium anzuzeigen (dazu o. bei A. 105). – Die Bindung des Magistrats an den Antrag und die Dispensierung vom Verbot, das intertium auf einen lokalen Ferialtag zu erteilen, werden gewöhnlich nicht auseinandergehalten.

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lung, des convenire wie des ambigere, zum Ausdruck116. In beiden Verbindungen verwendet die Irnitana die Präposition wiederholt117. In der Verbindung inter eos iudicare bezeichnet inter eos dagegen die Streitparteien, zwischen denen zu entscheiden ist118. Dieses lokale inter wird zur Angabe der mannigfaltigsten Beziehungen und Umstände gebraucht119. In Kap. 87 kombiniert die Irnitana inter eos iudicare mit inter eos iudicem dare (IX C 43 ff.): si de aliquo municipe … inter eos conveniet, ut eum iudicem … habeant, … eum inter eos … iudicem … dato … iudicare iubeto; der Duumvir, so könnte man übersetzen, ’soll ihn (den municeps, auf den die Streitparteien sich verständigt haben) zwischen ihnen (den Streitparteien) als Urteilsrichter einsetzen und ihn heißen, zwischen ihnen zu urteilen‘120. In der Verbindung i n t e r t i u m inter eos dare hat inter eos entsprechende Bedeutung. Crawford121 übersetzt „for them“, Rodger122 „between them“ und wörtlich auch Lamberti123 „fra loro“ und „tra quei soggetti“; um der Bedeutung näher zu kommen, müßte man mit einer Paraphrase übertragen, etwa: ‚das intertium für das zwischen ihnen eingesetzte Urteilsgericht erteilen‘. So wenig wie iudicem inter eos dare ist intertium inter eos dare ein dogmatisch präziser Ausdruck124; inter eos bezeichnet die Personen, die das intertium dare betrifft, mehr nicht125; insbesondere läßt die Ausdrucksweise offen, wem das intertium erteilt wird, ob nur dem Kläger oder nur dem Beklagten, ob wahlweise dem einen oder dem anderen oder beiden gemeinsam. Kühner / Stegmann 614 ff.; Hofmann / Szantyr 176 f.; Menge / Thierfelder 163. Kap. 49 V C 38 / 39: nisi inter omnes … et iudicem … conveniet; Kap. 87 IX C 30 / 31: si inter duos … non conveniet; 43 / 45: si … inter eos conveniet; Kap. 88 X A 7: sive inter eos conveniet. – Kap. 84 IX B 17: si uterque, inter quos ambigetur, volet; Kap. 86 IX C 28: invito … aliquo eorum, inter quos quid ambigetur. – Außerdem wird das Reciprocum verwendet in der Verbindung inter se agere: Kap. 84 IX B 1 und Kap. 93 X B 54 ff., und inter se reicere: Kap. 87 IX C 36. 118 Vgl. etwa K. E. Georges, Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover, 11. Aufl., 1962, s. v. inter B) BB) 4), oder Oxford Latin Dictionary, Oxford, 1968, s. v. inter 13 b. Aus den Juristen ist res inter alios iudicata geläufig. 119 Kühner / Stegmann I 550 mit Beispielen. 120 Auch inter eos iudicem dare verwendet die Irnitana wiederholt: Kap. 91 X A 47: quos inter ii iudices … dati … erunt, und, kombiniert mit inter eos lis esse, Kap. 87 IX C 30 / 31: si inter duos, quos inter … lis … erit et … iudicem … dari … oportebit. Schließlich noch Kap. 49 V C: nisi inter omnes, quos inter it iudicium erit, et iudicem … conveniet. 121 Bei González 197. 122 Op. cit. 75. 123 Op. cit. 363. 124 Iudicem inter eos dare ist vermutlich Kanzleisprache. Die Juristen vermeiden die Ausdrucksweise – sooft sie auch iudicem und iudicium dare verwenden. Bei Iulian D 43.33.1.1: utilis actio et adversus extraneos et inter ipsos dari debebit besagt inter ipsos, daß den Pfandgläubigern die Klage auch gegeneinander zu gewähren ist, hat inter also reziproke Bedeutung – in der es die Juristen ständig verwenden. Zu PS 1.18.4 siehe A. 125. 125 Zu genau diesem Zweck wird inter ausnahmsweise verwendet PS 1.18.4: Iudex familiae erciscundae nec inter paucos coheredes, sed inter omnes dandus est. 116 117

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(b) Eine Einschränkung dieser Möglichkeiten ergibt sich jedoch aus Kap. 92, wo, an dritter Stelle (X B 46 – 50), das Gesetz untersagt, dem ‚Gegner‘ und dem Urteilsrichter auf einen Ferialtag (mit dem bekannten Vorbehalt) das intertium anzuzeigen: Neve quis in eos dies adversario intertium iudici arbitrove in biduo proximo iudicandi causa denuntiato, nisi etc. Aus dieser Anordnung ergibt sich nämlich ohne weiteres, daß der Duumvir das intertium nicht beiden, sondern einer Streitpartei erteilt, die alsdann den Termin für das Urteilsgericht dem ‚Gegner‘ und dem Urteilsrichter anzeigen mußte126. Während in den ersten beiden Vorschriften des Kapitels die Adressaten des Verbots benannt werden (ne quis qui in eo municipio iure dicundo praerit und neve quis iudex neve arbiter neve reciperator), bleibt er hier unbestimmt: ‚keiner soll auf diese Tage das intertium anzeigen‘. Adversarius ist, wo von Kläger und Beklagtem die Rede ist, gewöhnlich der Beklagte, im übrigen aber ‚der Prozeßgegner‘, so daß hier neben dem Urteilsrichter sowohl Kläger wie Beklagter als Adressat der denuntiatio in Betracht kommen. Das intertium hätten danach Kläger und Beklagter beantragen und dem einen wie dem anderen hätte es erteilt werden können. (c) Diese Möglichkeit wird denn auch allgemein angenommen, stets allerdings mit der einschränkenden Vermutung, daß in der Regel, als der interessierten Partei, der Kläger das intertium beantragt habe127. Die unbestimmte Fassung des denuntiatio-Verbots schließt indessen nicht aus, daß es nur den Kläger anging – weil sich verstand, daß er das intertium beantragen mußte, ihm das intertium erteilt wurde und folglich auch nur er das intertium dem Prozeßgegner anzeigen konnte. Für diese Möglichkeit sprechen allgemeine Gründe. Der Prozeß war sein Prozeß. Wie er ihn betrieb, so konnte er ihn auch liegen lassen. Er beantragte das iudicium und es blieb seine Entscheidung, von ihm Gebrauch zu machen oder Abstand zu nehmen; die Erteilung von iudex und iudicium durch den Magistrat gab ihm die Möglichkeit, verpflichtete ihn aber nicht, den Prozeß apud iudicem fortzuführen. Ein Recht des Beklagten, das intertium zu beantragen und so das Urteilsgericht zu erzwingen, ist damit nicht vereinbar. Ein Interesse des Beklagten an seiner Durchführung ist auch nicht ersichtlich. Ob die Klage abgewiesen wurde und er obsiegte oder der Kläger auf das iudicium verzichtete und den Prozeß aufgab: im einen wie im anderen Fall brauchte der Beklagte ein neues Verfahren nicht zu fürchten128. Der Fall, daß der Kläger den Prozeß apud iudicem nicht fortführte, kann nicht 126 Meine Überlegung von 1987 (Intertiumjagd 177; s. auch Johnston 73), daß mit der denuntiatio dem Prozeßgegner die Absicht angezeigt worden sei, das intertium zu beantragen, mithin die denuntiatio der Erteilung des intertium vorangegangen sei, ist überholt. Daß es umgekehrt war, ergibt sich schon aus der Sytematik des Gesetzes: Simshäuser (1989) 634, (1992) 169; Zanon 319. 127 So etwa A. Burdese, SDHI, LVII, 1991, 451; Simshäuser (1990) 551 und (1992) 197; auch Hackl 355 f. mit A. 9; schwankend Zanon 319, 320, 322. 128 Die Ausschlußwirkung schon der litis contestatio (Kaser, RZ 229 ff.) wird neuerdings erheblich eingeschränkt: Hackl 301 ff. Wir brauchen uns auf diese Diskussion hier nicht einzulassen.

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ganz selten gewesen sein; den Quellen ist er auch geläufig129. Aber er war völlig banal130; denn binnen eines Jahres und sechs Monaten, von seiner Erteilung an gerechnet, erlosch das iudicium förmlich, erstarb, auch in Irni131, der Prozeß132. Ist nach diesen Überlegungen zu vermuten, daß die Rollen fest verteilt waren und der Kläger das intertium beantragen mußte, so konnte das Gesetz auf eine Spezifikation verzichten und einfach anordnen: neve quis in eos dies adversario intertium … denuntiato. 6. Intertium dare: ein Akt der iurisdictio. – (a) Seine Verpflichtung, das intertium auf alle Tage zu erteilen, die in Irni für iudicia vorgesehen sind, muß der Duumvir dort, wo er seine Jurisdiktion ausübt, öffentlich bekannt machen, und zwar an allen Tagen, an denen er das intertium erteilen muß133. An welchen Tagen er das intertium erteilen muß, sagt das Gesetz dagegen nicht. Es brauchte diese Tage aber auch nicht eigens zu benennen. Denn das intertium dare war ersichtlich keine selbständige Kompetenz, sondern ein Akt der iurisdictio134. (b) Der Duumvir mußte intertia erteilen, wann immer er zu Gericht saß. Seine Jurisdiktion ruhte vollkommen an den Festtagen des Kaiserkults135. Sie ruhte auch in den für Ernte und Weinlese vom Gemeinderat beschlossenen und den Duumviri edizierten Ferien136, in diesen Perioden allerdings mit erheblichen Einschränkungen, 129 Liti renuntiare und (ante sententiam oder a lite) desistere sind die technischen Ausdrücke: Ulp D 5.1.10, D 4.4.20.1, 21 und 30; auch Ulp D 4.3.33, Pap D 4.4.30, Ulp D 5.2.8.14, C 2.3.4 (a. 206) und P. Amherst II Nr.27: si quidem contra eum qui post litem institutam destitit; außerdem Paul D 46.8.15: iudicium coeptum non fuerit. – Daß der Kläger auch lite contestata den Prozeß liegen lassen konnte, erwähnen an gehörigem Orte F. L. v. Keller, Der röm. Civilprozess und die Actionen, Leipzig, 6. Ausgabe bearb. v. A. Wach, 1883, 359; M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der röm. Civilprozeß, 2. Band, Bonn, 1865, 492 f.; Kaser / Hackl, sehe ich richtig, nur § 40 bei A. 14; allgemein erhellend Lenel, EP 106 ff. 130 Dem kalumniosen Kläger, der vor dem Urteil den Prozeß aufgab, drohte das iudicium calumniae decimae partis: Lenel, EP 106 ff., bes. zu Ulp D 5.1.10 und 4.3.33. 131 In Kap. 91 X A 58 ff. verweist die Irnitana auf das für iudicia legitima geltende stadtrömische Recht auch für den Fall, daß binnen eines Jahres und sechs Monaten der Prozeß nicht durch Urteil entschieden worden ist. Sie selbst spricht allerdings nur von der Frist, die von der Lex Iulia de iudiciis privatis eingeführt wurde. 132 Gai 4.104; Kaser, RZ 270 f. – Hackl 352 f. folgt einer neueren Lehre, die insbesondere aus uti res in iudicio non sit, wie die Rechtsfolge in der Irnitana Kap. 91 X B 2 / 3 lautet, schließen möchte, daß mit dem Ablauf der Frist zwar das iudicium, nicht aber das in iudicium deduzierte materielle Recht erlosch, so daß der Kläger erneut klagen konnte; dazu auch Lamberti 198 f. m. weit. Lit. Ich sehe nicht, wie diese Interpretation mit Gai 4.103 ff. oder Paul D 46.7.2 oder Ulp D 42.8.3.1 vereinbar sein könnte. 133 s. oben bei A. 97. 134 Die iurisdictio erschöpfte sich bekanntlich nicht in der Befugnis, Urteilsgerichte einzusetzen, sondern schloß mannigfache Maßnahmen ein, die den Fortgang des Streitverfahrens sicherstellten, s. nur Kaser / Hackl 184 f. 135 s. oben A. 104. 136 Kap. 49 V C 25 – 34. Nach D 2.12.4 Paul 1 ed (Lenel, EP 52 A. 5) setzten die praesides provinciarum diese Ferienzeiten fest.

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denselben, die in Rom galten137. Den res prolatae messis vindemiae causa widmet die Irnitana ein eigenes Kapitel. Dort, Kap. 49, verfügt sie: perque eos dies duumviri … i u s n e d i c u n t o nisi si de is rebus, de quibus Romae messis vindemiaeve causa rebus prolatis ius dici solet (V C 34 – 37). In dieser gerichtsfreien Zeit durfte der Duumvir mithin auch nur in ‚Feriensachen‘138 ein intertium erteilen. Und auf einen Ferialtag auch nur dann, wenn Beklagter und Urteilsrichter mit dem Antrag des Klägers einverstanden waren. Was Kap. 92 dem Duumvir für alle lokalen Ferialtage verbietet139, wird ihm für die ‚Ernteferien‘ schon hier untersagt: duumviri …. res iudicari per eos dies, nisi inter omnes, quos inter it iudicium erit, et iudicem reciperatoresve eorum conveniet, ne sinunto (V C 37 – 40). Wir erinnern, daß er diesem Verbot nur dadurch nachkommen konnte, daß er das intertium verweigerte140. Das Regime der Komitialtage und der für örtliche Veranstaltungen und Begehungen vorgesehenen Tage kennen wir nicht. Da sie nicht zahlreich und über das Jahr verteilt waren, ist zu vermuten, daß die iurisdictio der Duumviri an diesen Ferialtagen ohne Einschränkung ruhte141. VI. Die Anzeige des intertium Nur der Kläger, wie wir vermuten, konnte das intertium beantragen; ihm und nur ihm wurde es erteilt. Nachdem es ihm erteilt worden war, mußte er es dem Beklagten und dem Urteilsrichter anzeigen. Das ergibt sich nicht nur aus dem soeben behandelten Verbot in Kap. 92, das intertium auf Ferialtage (mit den geläufigen Ausnahmen) anzuzeigen: schon in Kap. 91 unterstellt die Irnitana (auch) das intertium denuntiare dem stadtrömischen Prozeßrecht für iudicia legitima – ohne daß wir weiteres erführen (X A 48 / 49). Die Anzeige, die also zum gewöhnlichen Ablauf des Verfahrens gehörte, erfolgte iudicandi causa, ‚wegen der Durchführung des Urteilsgerichts‘, und sie erfolgte in biduo proximo. 1. Iudicandi causa denuntiare. – Mit der datio intertii erteilte der Magistrat den Termin für das Urteilsgericht. An diesem Termin mußte das Verfahren apud iudicem durchgeführt werden; reichte der Tag nicht aus, wurde er ‚gespalten‘142. Die Partei, 137 Über die Funktion der ‚Ernteferien‘ berichtet Ulpian D 2.11.1 pr. aus der oratio Marc Aurels, die den actus rerum neu regelte: ne quis … adversarium cogat ad iudicium venire, … quia rem rusticam in forum conpellendi non sunt. 138 Kaser / Hackl 203. 139 s. oben nach A. 100. 140 s. oben bei A. 110. 141 Mit dem Zweck, wie er entsprechend für die ‚Ernteferien‘ gilt (s. oben A. 137): die Teilnahme der Bürger und Einwohner jedenfalls nicht durch die Tätigkeit der staatlichen Organe, namentlich der Rechtspflege zu behindern. Vgl. Rodger (1996) 64. 142 Zur Vertagung durch diffissio Kaser / Hackl 356 f.; die Quellen etwa bei T. GiménezCandela, Los Llamados Cuasidelitos, Madrid, 1990, 29 ff. Konnte an dem erteilten Termin

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die in iudicio nicht erschien, riskierte ein Versäumnisurteil143, der Urteilsrichter, der ausblieb, henkte sich selbst den Prozeß an144: litem suam faciebat145; ihm wurde, wie die Irnitana es ausdrückt, der Prozeß zum Schaden: lis damni sit (Kap. 91 X A 52 / 53, B 16 / 17). Voraussetzung dieser Versäumnisfolgen war, wie sich versteht, Kenntnis der Terminierung. Da die Terminierung auf Antrag des Klägers durch den Magistrat erfolgte, sah das Prozeßrecht eigens vor, daß der Kläger Prozeßgegner und Urteilsrichter von der Terminierung Kenntnis gab: ihnen das erteilte intertium ‚wegen der Durchführung des Urteilsgerichts‘ anzeigte. Unterließ der Kläger die Anzeige und fand das Urteilsgericht nicht statt, so war, wie wir vermuten müssen, das intertium verbraucht. Ob er ohne weiteres ein zweites erwirken konnte oder nur unter bestimmten Voraussetzungen oder die Unterlassung der Anzeige schlechtweg als Verzicht auf die weitere Rechtsverfolgung gewertet wurde: die Lex Iulia de iudiciis privatis hat diese Frage vielleicht geregelt; für uns bleibt sie vorerst unbeantwortet146. 2. In biduo proximo denuntiare. – Der Kläger muß das intertium dem Beklagten und dem Urteilsrichter in biduo proximo anzeigen. Biduum ist ‚der Zeitraum von zwei Tagen‘. Das intertium ist also ‚binnen zwei Tagen‘ oder ‚im Verlauf von zwei Tagen‘ anzuzeigen; die Anzeige muß in diesem Zeitabschnitt erfolgen. Von den beiden Tagen wird gesagt, daß sie ‚die nächsten‘ sind. Das intertium muß mithin ‚innerhalb der zwei nächsten Tage‘ angezeigt werden. Proximum ist eine relative, bezogene Zeitbestimmung. Der Bezugspunkt wird aber nicht genannt; es wird nicht gesagt, wozu die beiden Tage die nächsten sind, und auch nicht, ob sie die dem Bezugspunkt vorausgehenden oder folgenden nächsten zwei Tage sind. Diese Unbekannten haben ein heftiges Spekulationsfieber ausgelöst147. Die Lösung sehe ich heute in folgenden Überlegungen. Als Bezugspunkte kommen die Erteilung des intertium durch den Magistrat und der von ihm erteilte Termin in Betracht148. Das biduum proximum können dort nur die auf den Tag der Erteilung folgenden beiden Tage sein149, hier nur die dem erteilten Verhandlungstag der Streit nicht durch Urteil beendet werden, mußte der iudex vertagen (diffindere), und eigentümlicherweise, bevor er die Verhandlung wieder aufnahm, beschwören, daß der Termin ‚gespalten‘, das Urteilsgericht also vertagt worden war. Nur wenn diffissio erfolgt war, konnte der Prozeß rechtens fortgesetzt, konnte rechtens ein Urteil ergehen – traf den iudex keine Haftung. All das richtete sich auch in Irni nach stadtrömischem Prozeßrecht: Kap. 91 X A 42 ff. 143 Keller 353 f.; Bethmann-Hollweg II 603 f. (beide A. 129); Kaser / Hackl 374. 144 Keller (A. 129) 354; Kaser / Hackl 196. 145 Macr. Sat. 3.16.15: Ubi horae decem sunt, iubent puerum vocari ut comitium eat percontatum quid in foro gestum sit … inde ad comitium vadunt ne litem suam faciant. 146 Anders sieht die Dinge Zanon 321 f. 147 Siehe nur Intertiumjagd 179 f. Unvereinbar mit dem Text auch Hackl 356: der Verhandlungstag sei „spätestens am 3. Tag vor dem Prozeßbeginn … anzuzeigen“. 148 Anders Intertiumjagd 179.

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vorausgehenden. Wären es die dem erteilten Verhandlungstag vorausgehenden gewesen150, wäre die Anzeige, die ‚im Verlauf der beiden Tage‘ erfolgen mußte, stets noch am Vorabend des Verhandlungstags rechtzeitig gewesen. Das ist nicht plausibel, und plausibel ist auch nicht, daß der Kläger das intertium nicht schon vorher hätte wirksam anzeigen können151. Der Funktion der Anzeige entspricht es dagegen durchaus, daß sie binnen zwei Tagen nach Erteilung des intertium erfolgen mußte152. In dieser Bedeutung verwendet schon die Lex agraria von 111 v. Chr. die Klausel in biduo proximo153. Der Duumvir mußte das intertium auf jeden ordentlichen Gerichtstag und, hatte der Kläger das Einverständnis des Beklagten und des Urteilsrichters, auch auf Ferialtage erteilen, sofern sie keine Festtage des Kaiserkults waren. Nimmt man das Gesetz bei seinem Wort, so mußte der Duumvir dem Antrag des Klägers auch dann entsprechen, wenn er auf den nächsten oder übernächsten oder dritten Tag lautete. In diesem Fall war das Erfordernis der denuntiatio in biduo proximo ohne praktischen Wert: Beantragte und erhielt der Kläger das intertium etwa auf den ‚übermorgigen‘ Tag, dann fielen der zweite der beiden für die denuntiatio eingeräumten Tage und der Verhandlungstag zusammen; und wurde ihm das intertium auf den nächsten Tag erteilt, fiel das biduum ganz aus. Diese Konsequenzen können unser Verständnis der denuntiatio indessen nicht desavouieren; denn wie man die Zweitagefrist auch ansetzt: in diesen Konstellationen ist das Erfordernis der denuntiatio in biduo proximo nicht praktikabel. Bleibt es dabei, daß binnen zwei Tagen nach seiner Erteilung das intertium den anderen Prozeßbeteiligten angezeigt werden mußte, so sind diese Grenzen einer verständigen Praktikabilität der Vorschrift eher ein Hinweis darauf, daß zumindest in der Regel das intertium nicht auf einen der nächsten Tage beantragt und erteilt wurde. 149 Anders etwa Johnston 72, 77, der allerdings annimmt, daß der Magistrat mit dem intertium dare-Dekret auf Antrag einer Partei eine Vertagung der schon aufgenommenen Verhandlung apud iudicem verfügt. 150 Wie etwa González 235; A. Burdese, SDHI, LVII, 1991, 451; Zanon 321 und Lamberti 190 annehmen. 151 Rodger (1991) 86. 152 So von vornherein und konsequent Simshäuser (1989) 635, (1990) 553; T. GiménezCandela (A. 142) 27 f.; auch Rodger (1991) 86, der allerdings eine selbständige datio intertii ablehnt und annimmt, das iudicium werde in tertium, „for the third day“, erteilt; dazu schon oben nach A. 77. 153 (Bruns 73 ff. Nr. 11; FIRA I 102 ff. Nr. 8; Roman Statutes I 113 ff. Nr. 2) Z. 52: IIvir, quei ex h. l. factus creatusque erit] in biduo proxsumo, quo factus creatusve erit, edici[to. Die Lex collegii aquae (Bruns 394 ff. Nr. 178; FIRA III 91 ff. Nr. 32) Z. 15 hat in biduo continuo (dazu Mommsen bei Bruns 396). Das biduum war auch sonst gebräuchlich: Iav D 50.16.217.1. Dieselbe Klausel mit drei und fünf Tagen: Cato agr. 148.1: in triduo proximo … degustato; Lex Latina tabulae Bantinae (Bruns 53 ff. Nr. 9; FIRA I 82 ff. Nr. 6; Roman Statutes I 200 f. Nr. 7) Z. 16: eis in diebus v proxsumeis quibus quisque eorum magistratum imperiumve inierit ioranto; mit 30 Tagen in der Irnitana selbst, Kap. 67 (VII C 24 / 25): in diebus XXX proximis, quibus ea pecunia ad eum pervenerit, und (29 / 30): in diebus XXX proximis, quibus ea negotia … gerere tractare desierit.

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VII. Intertium im Sprachgebrauch der Irnitana Die Wortbedeutung des Begriffs INTERTIUM ist nach seiner Geschichte vermutlich ‚Termin auf den dritten Tag‘154. Nach dieser Bedeutung hätte der Magistrat den Termin für das Urteilsgericht stets auf den dritten, d. h. den übernächsten Tag erteilt – sofern dieser dritte Tag ein ordentlicher Gerichtstag war oder doch an diesem Tag mit dem Einverständnis des Beklagten und des Urteilsrichters das iudicium rechtens stattfinden konnte. Den Antrag des Klägers, das intertium auf einen späteren als den übernächsten Tag, etwa auf einen Tag in der übernächsten Woche oder im übernächsten Monat zu erteilen, hätte der Magistrat zurückgewiesen, allenfalls mit der Belehrung, zwei Tage vor dem gewünschten Termin den Antrag erneut zustellen. Das ist nicht plausibel. Für den Beklagten und den Urteilsrichter hätte diese Reglementierung eine verläßliche Planung nie zugelassen; stets hätten sie von Tag zu Tag, vielleicht über Monate hin, gewärtigen müssen, daß am übernächsten Tag der Prozeß fortgesetzt wird. Die Anweisungen der Irnitana, in eos dies omnes, ‚auf alle Tage‘ das intertium zu erteilen, die für iudicia vorgesehen sind, und in aliquem diem, ‚auf einen beliebigen Tag‘, wenn Streitparteien und Urteilsrichter sich auf diesen Tag verständigt haben: diese Anweisungen schließen nach ihrem Wortlaut nicht aus, daß auf diese als Termin für das Urteilsgericht immer nur der übernächste Tag erteilt, aus der Sicht des Klägers: das intertium zwar auf all diese Tage, aber immer nur zwei Tage im voraus erwirkt werden kann. Daß diese Implikation allein mit dem Begriff intertium zum Ausdruck gebracht werden konnte, erscheint nahezu ausgeschlossen. Und schließlich: das Erfordernis der denuntiatio in biduo proximo wäre in den Wind geschrieben, ja geradezu unsinnig, wenn in unserem Gesetz der Begriff INTERTIUM wirklich noch seine angestammte Wortbedeutung hätte. Auf dem Intertium-Kolloquium im März 1987 in St. John’s College, Cambridge, war denn auch eine der „Fundamental questions“ die Frage „Is the three in intertium to be taken strictly?“155. Die Literatur hat ihr diesen Rang nicht eingeräumt, sie aber vielfältig beantwortet156. So sehr jedoch das Verständnis variiert157: die meisten ges. oben bei A. 89. Intertiumjagd 175 f. 156 Bei unterschiedlichem Grundverständnis halten an der Bedeutung ‚auf den dritten Tag‘ fest González (mit Crawford) 234: ‚to grant notice for the third day‘; Rodger (1991) 76 ff.: ‚to grant a iudicium for the third day‘. 157 Nach Johnston 74 f. diente das intertium der Vertagung der Verhandlung apud iudicem (oben A. 149) ursprünglich auf den dritten Tag; „the same word later came to be used to describe longer adjournments too“. Nach Lamberti 185 ff. wird das intertium auf den dritten oder einen späteren Tag erteilt; nach Zanon 319 auf den Tag, auf den Streitparteien und Urteilsrichter sich verständigt haben, andernfalls immer auf den dritten. Für Simshäuser (1990) 552 ist intertium „der früheste erste Verhandlungstermin vor dem iudex“, was, „wenn der ermittelte Richter zur Verfügung stand“, der dritte Tag habe sein können. Ähnlich Hackl 355 f.: Der erteilte Termin habe „schon der übernächste Tag“ sein können, wenn Streitparteien und Urteilsrichter sich auf den dritten Tag verständigt hatten; andernfalls habe „der Magistrat aus seinem Protokoll (und den proskribierten Verhandlungsterminen) den nächstmöglichen Termin entsprechend der Einteilung des bestellten Richters“ bestimmt. 154 155

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hen fast ohne Bedenken davon aus, daß sich der Begriff INTERTIUM von seiner Wortbedeutung abgelöst oder jedenfalls entfernt habe. Wir kommen zu demselben Ergebnis. Wenn wir recht sehen, verwendet die Irnitana den Begriff INTERTIUM in der allgemeinen Bedeutung ‚Termin für das Urteilsgericht‘158; nur bei dieser Bedeutung fügen sich die Vorschriften der Irnitana über das INTERTIUM zu einem verständigen Regelwerk.

VIII. Die INTERTIUM-Urkunden aus Murecine Die beiden INTERTIUM-Urkunden TP 24 und TP 9 folgen, wie wir schon sahen, demselben Formular159. TP 24, dessen Text mit ein paar Worten mehr erhalten ist, drucken wir zur Bequemlichkeit des Lesers noch einmal ab: TP 24. 2.

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C SULPICIUS CINNAMUS INTER TIUM SUMPSIT CUM Q LABERIO PHILIPPO QUIBUS DE REBUS INTER SE ET EUM Q LABeRiuS CERDO MAIOR IUDEX ESSE DICERETUR …… RE DIE PERENDINO IUDICARE

C. Sulpicius Cinnamus und Q. Laberius Philippus sind die Streitparteien. Das Verfahren vor dem Magistrat ist abgeschlossen, das iudicium erteilt, der Streit also anhängig, der iudex nämlich schon bestellt160: Q. Laberius Cerdo Maior. Von seiner Bestellung wissen die Zeugen freilich nur von Hörensagen; bezeugen können sie darum nur, daß sie berichtet sind, daß Cerdo Maior als iudex zwischen Cinnamus und Philippus161 eingesetzt worden ist: iudex esse diceretur162. Mit angesehen haben sie dagegen, daß Cinnamus das intertium angenommen hat; darüber ist die Urkunde errichtet worden und dafür macht sie Beweis163. Im Bereich des Zivilprozeßrechts verwenden die Juristen sumere vornehmlich bei den Teilungsklagen; in den Verbindungen arbitrum, iudicem, iudicium sumere164 s. oben nach A. 96. s. oben nach A. 61. 160 G. Jahr, Litis contestatio, Köln / Graz, 1960, 84 ff.; J. G. Wolf, Die litis contestatio im römischen Zivilprozeß, Karlsruhe, 1968, 28 f. u. ö.; SDHI XLV, 1979, 154 ff. – Ganz anders sieht die Dinge Rodger (1991) 80 ff., dem jetzt K. Hackl, ZSS, CXVI, 1999, 384 f. weithin folgt. Seiner Vorstellung eines „Urkundenentwurfs“ liegt offenbar ein Mißverständnis zugrunde. 161 Zu der ‚lokalen‘ Bedeutung von inter s. oben nach A. 117. 162 Dieser Interpretation (Intertiumjagd 182) folgen jetzt auch Lamberti 190 („presumere“ trifft die Sache freilich nicht) und Camodeca (A. 2) 100. Anders leider Rodger (1991) 81 und jetzt auch K. Hackl, ZSS, CXVI, 1999, 384. 163 Vgl. etwa J. G. Wolf / J. A. Crook, Rechtsurkunden in Vulgärlatein, Heidelberg, 1989, 11 f. 164 Iav D 33.3.4: de ea re a r b i t e r communi dividundo sumendus est; Iul D 10.2.52.2: a r b i t e r familiae erciscundae inter me et te sumptus; Pomp D 10.2.47 pr.: in iudicio familiae 158 159

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konkurriert es mit accipere165. Wie iudicium accipere auf iudicium dare166, so ist intertium sumere auf intertium dare bezogen167. Cinnamus also hat das vom Magistrat ihm erteilte intertium angenommen. Wir können hinzufügen: das ihm auf seinen Antrag168 erteilte intertium; und erschließen: daß er der Kläger169, Philippus der Beklagte ist. Cinnamus hat das intertium aber cum Q. Laberio Philippo angenommen. Das heißt nicht: ‚zusammen, gemeinsam mit Philippus‘; das intertium ist Cinnamus erteilt worden und er hat es angenommen. Intertium sumere cum aliquo ist vielmehr eine spezielle Analogie zu agere cum aliquo. In dieser Verbindung bezeichnet cum den Beklagten als die Person, die notwendigerweise an der „auf Wechselseitigkeit beruhenden Handlung“, dem agere (in der Bedeutung ‚klagen‘), beteiligt ist170. Wie in arbitrum, iudicem, iudicium und recuperatorem sumere so ist auch in der Verbindung intertium sumere die Prozeßführung angedeutet und gegenwärtig, die analoge Verwendung der Präposition cum zur Bezeichnung des am Prozeß beteiligten Beklagten darum naheliegend171. Das intertium sumere cum aliquo des Klägers korrespondiert mit dem intertium inter eos dare des Magistrats: er erteilte Cinnamus den Termin und Cinnamus hat ihn angenommen für das zwischen ihm und Philippus eingesetzte Urteilsgericht172. Mit die perendino iudicare, ‚am übermorgenden Tag Recht zu sprechen‘, bricht der Urkundentext ab173. Kein Zweifel, daß iudicare vom Urteilsrichter Cerdo Maior gesagt wird, und auch kein Zweifel, daß dies perendinus der Tag ist, auf den der Magistrat das intertium erteilt hat. Wie aber die Klausel an den vorausgehenden erciscundae … placet omnes eos, inter quos a r b i t e r sumptus sit; D 11.2.1: si inter plures familiae erciscundae agetur … eundem i u d i c e m sumendum; Paul D 10.2.25.3: de pluribus hereditatibus … unum familiae erciscundae iu d i c i u m sumi potest. Außerdem Iul D 5.1.17: alius i u d e x … sumendus est; Alf D 5.1.76: (i u d i c e s) in eorum locum alios esse sumptos. 165 s. nur Paul D 10.2.36 und mit weit. Nachweisen J. G. Wolf, litis contestatio (A. 160) 23. 166 Vgl. etwa J. G. Wolf, litis contestatio (A. 160) 11 f., 21 f. 167 Zutreffend Metzger 34. Zu intertium dare s. oben nach A. 112. 168 s. oben nach A. 112. 169 s. oben bei und nach A. 127. 170 Kühner / Stegmann I 508. Für ausgeschlossen halte ich Rodgers Übersetzung von sumpsit cum, (1991) 81, mit ‚agreed with‘ oder ‚undertook to‘, dem auch hier wieder K. Hackl, ZSS, CXVI, 1999, 384, folgt. 171 Eine Parallele bei Livius 43.2.6: Cum M. Titinio … recuperatores sumpserunt. Der Satz hat die Herausgeber oft irritiert: W. Heraeus, Ein eigentümlicher Gebrauch der Präposition cum, in: Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik, 13. Band, 1904, 288 – 290. Heraeus zitiert Créviers Erläuterung: „recuperatores sibi dari postulaverunt, qui inter se et M. Titinium disceptarent“, und H. J. Müllers Übersetzung: „sie nahmen die ihnen angebotenen Richter, um mit T. den Prozeß zu führen“ und verweist selbst auf Valerius Maximus 8.2.1. 172 Zu inter eos dare s. oben nach A. 118. 173 Dieselbe Ausdrucksweise in Ulp D 2.1.13.1.: magistratus … iudicare iubere eo die, quo privati futuri essent, non possunt; und Alf D 42.1.62: iudex … an posset eodem die iterum iudicare.

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Text anschloß, wissen wir nicht174, und wir wissen auch nicht, ob dies perendinus noch seine angestammte Bedeutung hat, also der ‚übermorgige‘, der dritte Tag ist, oder inzwischen, wie intertium in der Irnitana, die allgemeinere Bedeutung angenommen hat ‚Termin für das Urteilsgericht‘. Nach dieser Interpretation geben die INTERTIUM-Urkunden aus Murecine kaum weiteren Aufschluß über das Institut. Sie dokumentieren aber seine Geltung und Verwendung zwar nicht für Rom, aber für die Colonia Iulia Augusta Puteoli und damit wohl für die Munizipalgerichtsbarkeit Italiens im 1. Jh. n. Chr.175.

IX. Intertium und comperendinatio 1. Der Bericht des Gaius. – Die Teilung des Verfahrens in zwei nach Zeit und Ort getrennte Abschnitte, den prozeßeinleitenden in iure, vor dem Magistrat, und den apud iudicem, vor dem Urteilsrichter, ist nicht erst ein Kennzeichen des Formularverfahrens. Sie ist nicht ursprünglich, aber frühzeitig vollzogen worden, zuerst wohl bei der legis actio per iudicis arbitrive postulationem, die schon das Zwölftafelgesetz kennt176. Mit der Teilung des Rechtsgangs mußte auch die Überleitung vom einen zum anderen Prozeßabschnitt geregelt werden. Die Einrichtung, die diesem Zweck diente, nennen wir mit einem sehr viel jüngeren Wort comperendinatio177. Von ihr haben wir freilich nur ein unvollkommenes Bild. Die Hauptquelle ist ein Satz in Gaius 4.15. Nach dreiundzwanzig nicht mehr lesbaren Zeilen178, die offenbar der Darstellung der legis actio sacramento in personam gewidmet waren, setzt der Text wieder ein: … ad iudicem accipiendum venirent. Postea vero reversis dabatur. ut autem die XXX iudex detur, per legem Pinariam factum est; ante eam autem legem statim dabatur iudex. illud ex superioribus intellegimus, si de re minoris quam M aeris agebatur, quinquagenario sacramento, non quingenario eos contendere solitos fuisse. postea tamen quam iudex datus esset, comperendinum diem, ut ad iudicem venirent, denuntiabant; deinde cum ad iudicem venerant, antequam apud eum causam perorarent, solebant breviter ei et quasi per indicem rem exponere; quae dicebatur causae collectio, quasi causae suae in breve coactio.

Wie das intertium nach der datio iudicii beantragt, erteilt und angezeigt wurde, so erfolgte auch die comperendinatio, nachdem das Verfahren vor dem Magistrat abgeschlossen und das Urteilsgericht eingesetzt worden war. Anders als das intertium s. oben A. 59. Zu ihr W. Simshäuser, Iuridici und Munizipalgerichtsbarkeit in Italien, München, 1973, 195 ff., zur Lex Iulia municipalis 137 ff.; W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, München, 9. Aufl., 1995, 135, 186, 217; Kaser / Hackl 175 ff. mit weit. Lit. 176 Dazu etwa J. G. Wolf, litis contestatio (A. 160) 39 ff. 177 Zuerst Sen. epist. 97.5: intra comperendinationem fides promessi mei stabit. Seit Plautus dagegen perendie sowie, mit Ellipse von diem: in perendinum. 178 Praktisch das ganze folium 78r, Seite 192 in Studemunds Apographum. 174 175

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bestand sie aber allein darin, daß beide Streitparteien den ‚übermorgenden Tag‘ als Termin für das Urteilsgericht anzeigten: offenbar der eine dem anderen, also invicem sibi, wie der Cicero-Kommentator Pseudo-Asconius denn auch genauer berichtet179. Wenn beide Streitparteien den dies perendinus als Termin für das Urteilsgericht ansagten180, dann konnten sie dies nur am selben Tag tun; ohne weitere Vorkehrungen konnte das aber nur der Tag der Richterbestellung sein181, bei der die Präsenz beider Parteien erforderlich war. Wie der Richter von seiner Bestellung und dem Verhandlungstermin Kenntnis erhielt, ob er etwa bei seiner Bestellung anwesend war, wissen wir nicht. 2. Die gegenseitige Ansage: eine Eigentümlichkeit der Sakramentsprozesse. – Gaius’ Beschreibung der comperendinatio gehörte zu seiner Darstellung der legis actio sacramento in personam182. Pseudo-Asconius bezeugt sie auch für die legis actio sacramento in rem183. Gaius kommt dagegen nicht mehr auf sie zu sprechen; bei allen anderen legis actiones beschränkt er sich strikt auf das Verfahren vor dem Magistrat184. Der Schluß liegt nahe, daß die Überleitung zum Verfahren vor dem 179 In Cic. Verr. II 1, 26 (Orelli V 2, 164): Comperendinatio est ab utrisque litigatoribus invicem sibi denunciatio in perendinum diem. Namque cum in rem aliquam agerent litigatores et poena se sacramenti peterent, poscebant iudicem, qui dabatur post trigesimun diem: quo dato deinde inter se comperendinum diem, ut ad iudicium venirent, denunciabant. Quo cum esset ventum, ante quam causa ageretur, quasi per indicem rem exponebant: quod ipsum dicebatur causae coniectio, quasi causae suae in breve coactio. – Die Abhängigkeit von Gaius ist nicht zu übersehen; umso deutlicher fallen die Abweichungen auf. Reziproke Bedeutung hat auch se peterent: Hofmann / Szantyr 176, sowie inter se denunciabant. 180 Was bedeutete, daß sie sich gegenseitig aufforderten, am ‚übermorgenden Tag‘ vor dem Richter zu erscheinen. Nach Kaser, RZ 83 (unverändert Kaser / Hackl 115) „verkünden sich die Parteien, daß sie … erscheinen w o l l e n“; nach L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozeßrechts, München, 1925, 122 „v e r e i n b a r t e n die Parteien … das Erscheinen zum Verfahren vor dem Judex“, 183: „durch gegenseitige Denuntiation“; beides ist mit Gai 4.15 unvereinbar. 181 Keller 58 f.; Bethmann-Hollweg, 1. Band, 1864, 178 (beide A. 129); O. E. Hartmann, Über die römische Gerichtsverfassung, erg. u. hg. von A. Ubbelohde, Göttingen, 1886, 457; Kipp, RE IV, 1900, 788 s. v. Comperendinatio. 182 s. oben bei A. 178, außerdem Kipp (A. 181). Die Möglichkeit, die Pugliese (bei Zanon 310 A. 5) zu bedenken gibt, daß der Plural denuntiabant „un significato puramente ‚narrativo‘ e non tecnico giuridico“ habe, halte ich für ausgeschlossen. 183 Ebenso Kipp (A. 181). Der Text in A. 179. Die Prozedur, die der Kommentator zur Begründung (namque) seiner Definition berichtet, ist offenbar der Sakramentsklage in rem nachgezeichnet. Dafür spricht nicht nur cum in rem aliquam agerent. Poena ist Ablativ; poena se sacramenti peterent vermutlich eine Analogie zu sacramento provocare (vgl. J. G. Wolf, Zur legis actio sacramento in rem, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition, hg. v. O. Behrends, M. Diesselhorst, W. E. Voss, Ebelsbach, 1985, 24 ff.). Poscere ist bei den Juristen nicht beliebt. Immerhin haben wir in Ulp D 10.2.43 arbitrum poscere und bei Pomp in Paul D 10.3.29.1 iudicem poscere – hier und dort bei einer Teilungsklage, bei der, wie im dinglichen Sakramentsprozeß, die Prozeßbeteiligten in beiden Rollen waren, der des Klägers und der des Beklagten. 184 Der Hinweis in 4.16, bei der Sakramentsklage in rem, daß deinde, nach den Spruchformeln, eadem sequebantur, quae cum in personam ageretur, meint das weitere Verfahren in

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Urteilsrichter stets so erfolgte, wie sie bei der Sakramentsklage in personam geschildert wird185. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß die gegenseitige Ansage des dies perendinus eine Eigentümlichkeit der Sakramentsprozesse war186. Bei der legis actio sacramento in rem ist diese Möglichkeit auch ohne weiteres plausibel. Der alte Eigentumsprozeß war ein Prätendentenstreit: beide Prozeßparteien hatten die Rolle des Klägers und des Beklagten187. Und als Kläger hätte jeder dem anderen als Beklagten den ‚übermorgenden Tag‘ als Termin für das Urteilsgericht angesagt. Eine andere Eigentümlichkeit ist beiden Sakramentsprozesssen gemeinsam. Für den persönlichen Sakramentsprozeß erschließen wir mit Gewißheit, für den dinglichen mit Wahrscheinlichkeit, daß zum Abschluß der Prozeßeinleitung ursprünglich beide Streitparteien ihre Behauptungen beeideten188. Wenn Eid gegen Eid stand, war eine Entscheidung unausweichlich. Das Urteil erging über beide Eide; der Richter stellte fest, wessen sacramentum iustum, wessen iniustum war189. Unter diesem Gesichtspunkt waren beide Streitparteien in derselben Rolle, beide gleichermaßen an einer Entscheidung und darum an der Bestellung des Urteilsrichters interessiert. Und beiden wurde er auch erteilt (reversis dabatur). Danach aber wäre nur konsequent gewesen, wenn sich beide Streitparteien auch den Termin für das Urteilsgericht angesagt hätten. Die beiden jüngeren legis actiones, die Verfahren per iudicis arbitrive postulationem und per condictionem, sind von ganz anderem Zuschnitt. Sie haben die Sakramentsleistungen abgestoßen190 und die gesamte Prozeßinitiative dem Kläger zugewiesen. Er allein ist es nun, der den Prozeß in Gang hält: der, zuerst im Verfahren per iudicis arbitrive postulationem, den Magistrat ersucht, einen Urteilsrichter einzusetzen, und der, zuerst im Verfahren per condictionem, den Beklagten auffordert, nach 30 Tagen iudicis capiendi causa sich wieder einzufinden. Darum wäre es hier konsequent gewesen, wenn auch nur der Kläger dem Beklagten den Termin für das Urteilsgericht angesagt hätte. Diese Überlegungen scheinen mir auszureichen, um die Hypothese zu begründen, daß die von Gaius geschilderte Überleitung zum Verfahren vor dem Urteilsiure, allenfalls einschließlich der iudicis datio; denn postea folgte noch die Regelung der vindiciae. Anders offenbar Kipp (A. 181). 185 Die übrigen Belege (s. oben nach A. 70) sind für diesen Schluß ohne Belang, weil sie über das Verfahren der comperendinatio nichts sagen; etwas anders G. Pugliese, Il processo civile romano I, Le legis actiones, Roma, 1961 / 62, 400. 186 Kipp (A. 181): „Ob in gleicher Weise auch bei den anderen legis actiones verfahren wurde, ist nicht sicher.“ Ebenso G. Pugliese (A. 185) 400. 187 J. G. Wolf, legis actio (A. 183) 21 ff., bes. 26 f., 30 ff. 188 J. G. Wolf, legis actio (A. 183) 24, 32 ff. Nach Zanon 309 f. erinnert die gegenseitige Ansage an die provocatio sacramento; sie ist indessen keine ‚wechselseitige Herausforderung‘; zu ihrer Funktion s. alsbald bei A. 191. 189 Vgl. etwa Keller (A. 129) 61 m. Nachw. in A. 201. 190 Vgl. J. G. Wolf, litis contestatio (A. 160) 39 ff.

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richter nur bei den Sakramentsklagen galt, während in den beiden jüngeren Spruchformelverfahren die denuntiatio ‚einseitig‘ war und nur der Kläger dem Beklagten den dies comperendinus ansagte. 3. Die Funktion der Ansage und die Folgen ihrer Unterlassung. – Die Funktion der Ansage des Verhandlungstermins kann kaum eine prinzipiell andere gewesen sein als die der denuntiatio intertii des Formularverfahrens191. Die Streitpartei, die nicht apud iudicem erschien, riskierte, verurteilt zu werden, wenn ihr der Termin angesagt worden war. (a) Für die Sakramentsprozesse ergibt sich daraus mehreres: Ein wirksames Verfahren vor dem Urteilsrichter setzte nicht voraus, daß beide Streitparteien den dies perendinus angesagt hatten. Der Beklagte etwa, dem der Kläger den Verhandlungstermin denunziert hatte, konnte das Verfahren nicht dadurch blockieren, daß er seinerseits die Anzeige unterließ; vielmehr verspielte er nur die Möglichkeit eines Versäumnisurteils gegen den ausgebliebenen Kläger: Die Verweigerung der Anzeige brachte ihm keinen Vorteil, wohl aber diesen Nachteil. Andererseits hatte er die Möglichkeit, gegen den Kläger, der seine Absicht geändert haben mochte, das Urteilsgericht zu erzwingen, indem er ihm den dies perendinus ansagte. Dieses System war indessen nur praktikabel, wenn wirklich, wie Gaius berichtet, die denuntiatio noch am Tage der Einsetzung des Urteilsgerichts erfolgen mußte und wenn sie nur auf den ‚übermorgenden Tag‘ erfolgen konnte192. Die Ansage auf einen späteren Tag brauchte den Gegner nicht zu kümmern. (b) Die ‚einseitige‘ denuntiatio, die wir für die jüngeren Verfahren per iudicis arbitrive postulationem und per condictionem vermuten, hätte dagegen nicht alsbald nach der Richterbestellung und auch nicht auf den ‚übermorgenden Tag‘ erfolgen müssen; tatsächliche Hindernisse, an einem späteren Tag und auf einen späteren als den dritten Tag den Termin für das Urteilsgericht dem Beklagten (und dem Urteilsrichter) anzusagen, gab es nicht. Daß die comperendinatio diese Entwicklung genommen und auch insoweit das intertium-Verfahren vorgezeichnet hat, ist nicht auszuschließen; Anhaltspunkte gibt es dafür aber nicht. Auch für die ‚einseitige‘ denuntiatio der jüngeren Spruchformelverfahren halten wir also daran fest,

Oben nach A. 141. Für die Frühzeit bestätigt den Bericht Ulp D 2.11.2.3: … et ideo etiam lex duodecim tabularum, si iudex vel alteruter ex litigatoribus morbo sontico impediatur, iubet diem iudicii esse diffisum. Nach Zwölftafelrecht muß der Richter spätestens bei Sonnenuntergang das Urteil sprechen (XII T. 1.9). Vertagung tritt ohne weiteres ein, wenn aus bestimmten Gründen am dies iudicii das Urteilsgericht nicht stattfinden kann (XII T. 2.2). Die Vorschrift setzt voraus, daß ein dies iudicii bestimmt worden ist. Wenn der Termin der dritte Tag nach der Richterbestellung war, ist anzunehmen, daß die Vertagungsgründe (morbus sonticus; Gerichtstermin mit einem Ausländer) bei der comperendinatio schon vorlagen Danach hätte die Ansage des Urteilsgerichts nur am Tag der Richterbestellung und nur auf den übernächsten Tag erfolgen und auf anerkannte Verhinderung nicht mit Ansage auf einen späteren Tag, sondern nur mit diei diffissio reagiert werden können. 191 192

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daß sie, wie die gegenseitige Ansage, in zeitlichem Anschluß an die iudicis datio und auf den dritten Tag erfolgte. (c) Unter beiden Systemen, mithin für die Sakramentsprozesse wie für die jüngeren legis actiones, ist dagegen gut denkbar, daß sich die Streitparteien – mit Zustimmung des bestellten Richters – auf einen späteren Tag verständigten; in den Sakramentsprozessen hätte die Verständigung ihren Ausdruck in der gegenseitigen Ansage finden können. Diese Möglichkeit, den Verhandlungstermin einverständlich hinauszuschieben, ist nicht bezeugt; wahrscheinlich war sie auch nicht von vornherein gestattet; wegen ihrer praktischen Vorteile wird sie sich im Laufe der Zeit aber durchgesetzt haben193. Unter dieser Voraussetzung könnte dies perendinus als terminus technicus die allgemeinere Bedeutung ‚Termin für das Urteilsgericht‘ angenommen haben. 4. Ein Vergleich. – In den Legisaktionenprozessen stehen die beiden Prozeßabschnitte in einem festen zeitlichen Verhältnis zueinander: die denuntiatio der Verhandlung apud iudicem muß in zeitlichem Anschluß an die iudicis datio erfolgen und sie muß auf den ‚übermorgenden Tag‘ erfolgen. Im Formularprozeß ist dieses feste zeitliche Verhältnis aufgegeben und dem Kläger auf eigentümliche Weise die freie Wahl des Verhandlungstermins apud iudicem eingeräumt – die freie Wahl unter der förmlichen Kontrolle des Magistrats. Zu diesem Zweck wurde ein eigenes Terminierungsdekret geschaffen, die intertii datio. Die zeitliche Bindung an die Einsetzung des Urteilsgerichts wurde gelöst, die institutionelle Bindung an den Magistrat dagegen beibehalten. Wie im alten Prozeß mit der iudicis datio, so liegen im Formularprozeß mit der intertii datio die weiteren Termine fest. Dort muß die denuntiatio in zeitlichem Anschluß an die iudicis datio, hier in biduo proximo nach der intertii datio erfolgen; dort wird der dies perendinus angesagt, hier das vom Magistrat eigens erteilte intertium. Der Kläger hat die freie Wahl des Termins apud iudicem, weil er jederzeit auf das intertium antragen kann und der Magistrat ihm das intertium auf den Tag erteilen muß, den er beantragt. Es ist kaum eine Frage, daß das intertium-Verfahren in diesen Grundzügen der comperendinatio nachgebildet ist. Das intertium-Verfahren, wie es die Irnitana überliefert und nach ihrem Zeugnis (Kap. 91 X B 3 ff.) auch für die stadtrömische Gerichtsbarkeit galt194, muß durch ein Gesetz eingeführt worden sein. Wann das geschehen ist, wissen wir nicht. Gellius195 belehrte sich in dierum quidem diffissionibus conperendinationibusque aus einer Lex Iulia, wir nehmen an: aus der Lex Iulia de iudiciis privatis, wie die Irnitana (Kap. 91 X A 53 / 54) sie nennt. Wenn sie die comperendinatio für den For193 Für die älteren Schriftsteller war es keine Frage, daß die gegenseitige Aufforderung auf einen „bestimmten“ Tag ging, allenfalls „regelmäßig“ auf den dritten: Keller 59; BethmannHollweg, 1. Band, 1864, 179 (beide A. 129); P. F. Girard, Histoire de l’organisation judiciaire des Romains, Paris, 1901, 87. 194 Vgl. etwa Johnston 62 ff.; Simshäuser 175 f. 195 Noctes Atticae 14.2.1.

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mularprozeß regelte, muß das nicht heißen, daß auch erst sie das intertium-Verfahren eingeführt hat. Der Formularprozeß ist seit dem 3. Jh. v. Chr. in Übung, und daß die comperendinatio, wie sie für den Legisaktionenprozeß galt, bis in die augusteische Zeit auch für ihn galt, ist eher unwahrscheinlich. Auch die Wortgeschichte von „intertium“196 spricht für höheres Alter. X. Zusammenfassung Die Schreibweise INTERTIUM auf der Bronze von Irni und in den Urkunden von Murecine läßt nicht den Schluß zu, daß für die Verfasser der Irnitana (III.1) und die Schreiber der Urkunden (III.2) diese Buchstabenfolge ein Wort darstellte. Die Art und Weise, wie die Irnitana das Wort verwendet, läßt jedoch vermuten, daß INTERTIUM ein indeklinables Substantiv ist (IV.3). Seine angestammte Bedeutung ist wahrscheinlich ‚Termin auf den dritten Tag‘ (IV.2.b); seine Bedeutung in der Lex Irnitana dagegen ‚Termin für das Urteilsgericht‘ (IV.4; VII). Den ‚Termin für das Urteilsgericht‘ erteilte der Magistrat in einem besonderen Dekret (V.3.a). Dieses intertium dare-Dekret diente der Überleitung vom ersten zum zweiten Prozeßabschnitt, vom Verfahren in iure zum Verfahren apud iudicem; es setzte den Abschluß des Verfahrens in iure mit dem iudicium dare-Dekret voraus (V.2). Diese zeitliche Abfolge und die Funktion der intertii datio stehen außer Frage. Das intertium dare-Dekret erging auf Antrag (V.3.a). Es ist nicht ausgemacht, aber doch wahrscheinlich, daß nur der Kläger das intertium beantragen konnte und stets ihm das intertium erteilt wurde (V.5). Das intertium konnte jederzeit, wann immer der Duumvir zu Gericht saß, beantragt werden (V.6.a). Der Duumvir hatte keinerlei Ermessen; er mußte dem Antrag entsprechen, wenn die vom Gesetz aufgestellten Voraussetzungen gegeben waren (V.2; 3). Der Antrag lautete, das intertium auf einen bestimmten Tag zu erteilen (V.3.a). Der Duumvir mußte das intertium auf den gewünschten Tag ohne weiteres erteilen, wenn dieser Tag für iudicia vorgesehen war. Für iudicia nicht vorgesehen waren die Ferialtage (V.1). Aber auch auf einen Ferialtag mußte er den Termin geben, wenn der Kläger das Einverständnis des Beklagten und des Urteilsrichters hatte (V.3.b). Ausgenommen waren nur die Festtage des Kaiserkults; an diesen Tagen war jede Art gerichtlicher Tätigkeit untersagt (V.1.b). Während der für Ernte und Weinlese anberaumten Ferien durfte das intertium vermutlich nur in ‚Feriensachen‘ erteilt werden (V.6.b). Der Kläger mußte den ihm erteilten ‚Termin für das Urteilsgericht‘ dem Beklagten und dem Urteilsrichter anzeigen (VI); er mußte ihn in biduo proximo anzeigen, was aus praktischen Gründen nur heißen kann: ‚binnen zweier Tage‘ nach Erteilung des intertium (VI.2). Der Beklagte, der zu dem angesagten Termin nicht erschien, riskierte ein Versäumnisurteil; der Urteilsrichter, der ausblieb, henkte sich selbst den 196

Oben IV. nach A. 64.

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Prozeß an: haftete für lis sua facta. Für den Fall, daß der Kläger die Anzeige unterließ oder versäumte, ist anzunehmen, daß der ‚Termin für das Urteilsgericht‘ verfiel (VI.1). Die comperendinatio, die Gaius beschreibt (IX.1), gehörte zu seiner Darstellung der legis actio sacramento in personam. Die gegenseitige Ansage des dies perendinus als Termin für das Urteilsgericht, die sie vorsieht, war möglicherweise eine Eigentümlichkeit der beiden Sakramentsprozesse (IX.2). Ein Strukturvergleich legt die Vermutung nahe, daß in den beiden jüngeren Spruchformelverfahren per iudicis arbitrive postulationem und per condictionem die denuntiatio ‚einseitig‘ war und nur der Kläger dem Beklagten den dies perendinus ansagte. Dieser ‚einseitigen‘ comperendinatio wäre das intertium-Verfahren nachgebildet worden. Wann es eingeführt worden ist, wissen wir nicht (IX.4).

Diem diffindere Die Vertagung im Urteilstermin nach der Lex Irnitana*

I. Einführung 1. Zur diei diffissio. – Konnte der Urteilsrichter den Prozeß nicht vor Ablauf des Gerichtstages mit einem Urteilsspruch beenden, mußte er ihn vertagen. Das Mittel war die diei diffissio, die ‚Spaltung‘ oder ‚Zerteilung des Tages‘1. Die diei diffissio war schon den XII Tafeln bekannt, die nach gut beglaubigter Überlieferung verfügten, daß der Tag, der für das Urteilsgericht vorgesehen war, ohne weiteres ‚zerteilt‘ sein sollte, wenn ‚schwere Erkrankung‘ oder ein ‚Gerichtstermin mit einem Fremden‘ den iudex oder eine Streitpartei hinderte, zur Verhandlung zu erscheinen2; vermutlich aber war sie sehr viel älter. Denn die ‚Spaltung des Tages‘ als Mittel der Vertagung ist ein typisches Produkt der Pontifikaljurisprudenz3: eine gezielte Neue* Mit abgekürztem Titel oder nur mit dem Namen des Autors werden zitiert:

M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß I (1864) II (1865); F. Fernández, in: F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico (Sevilla 1990) mit Abbildungen; T. Giménez Candela, Los Llamados Cuasidelitos (Madrid 1990); J. González, The Lex Irnitana: A New Copy of the Flavian Municipal Law (mit einer englischen Übersetzung von M. Crawford), JRS 76 (1986) 147 – 243; M. Kaser / K. Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht (München 1996); F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (Napoli 1993); E. Metzger, A New Outline of the Roman Civil Trial (Oxford 1997); A. D’Ors, Nuevos datos de la ley Irnitana sobre jurisdicción municipal, SDHI 49 (1983) 18 – 50; A. Rodger, The Lex Irnitana and Procedure in the Civil Courts, JRS 81 (1991) 74 – 90; W. Simshäuser, Stadtrömisches Verfahrensrecht im Spiegel der lex Irnitana, SZ 109 (1992) 163 – 208; J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, SDHI 66 (2000) 29 – 61; ders., Intertium – und kein Ende?, BIDR 100 (2001) im Druck. 1 Diffissio erst bei Gell. 14. 2. 1, offenbar aus einem der augusteischen Prozessgesetze von 17 v. Chr. sowie aus ‚Erläuterungen‘ des Masurius Sabinus. Diffindere dagegen seit den XII Tafeln (s. A. 2); das Simplex findere seit Plautus. Diffindere ‚ dis-findere: zer-spalten, zer-teilen. 2 XII T. 2. 2: Bruns 20; FIRA I 31; Roman Statutes II 623 – alle mit (den) Quellen, u. a. Ulp D 2.11.2.3; Iul D 42.1.60. Vgl. außerdem Kaser / Hackl 116. 3 Oder denn der auguralen Disziplin, vgl. U. Manthe, Stilistische Gemeinsamkeiten in den Fachsprachen der Juristen und Auguren der römischen Republik, in: K. Zimmermann (Hrsg), Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften (Rostock 1993) 69 ff. Ein augurium oblativum, ein unerbetenes Zeichen der Gottheit, konnte den Tag ‚spalten‘; der ‚abgespaltene‘ Teil des Tages war dann nefas und damit der Magistrat gezwungen, den schon begonnenen staatlichen Akt abzubrechen und am nächsten Tag vorzunehmen: Liv. 9. 38. 15 / 39. 1: Papirius C. Iunium Bubulcum magistrum equitum dixit; atque ei legem curiatam de imperio ferenti triste omen

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rung, die den überkommenen Rechtszustand scheinbar bewahrt, in Wahrheit aber überwindet. Wie die alte mancipatio an der Unveräußerlichkeit der Hauskinder, Sklaven und Arbeitstiere der bäuerlichen Wirtschaft festhält und sie zugleich aufgibt, sozusagen die Veräußerung des Unveräußerlichen bewirkt4, so bewirkt die diei diffissio die Teilung des Unteilbaren, indem sie die Bindung des Urteilsgerichts an den vorbestimmten Gerichtstag dem Begriffe nach bewahrt, in der Wirklichkeit aber aufgibt. Nach Zwölftafelrecht war sie vermutlich aber auch schon dem iudex zur Verfügung, der den Prozeß nicht am gleichen Tage mit einem Urteil abschließen konnte5. Direkte Zeugnisse haben wir freilich erst für den klassischen Formularprozeß. Gellius berichtet, daß er sich ex ipsa lege Iulia6 sowie aus Masurius Sabinus und den Kommentaren anderer Juristen über dierum diffissiones belehrt7 und daß er, als Urteilsrichter, auch selbst einmal den Tag ‚zerteilt‘ habe, weil er Bedenken hatte, nach der Beweislage zu entscheiden8. Und aus dem Pomponius-Zitat einer Juristenschrift, von der wenig mehr als dieses Textstück auf einem Papyrus9 überliefert ist, wissen wir, daß der iudex, der die Vertagung versäumte, das Urteil nicht nachholen konnte und dem Kläger haftete. Bis vor kurzem waren das die Nachrichten, über die wir verfügten. Durch den Fund der Bronzetafeln von Irni, deren größte Attraktion freilich das intertium ist10, wurden unerwartet aber auch sie aufgestockt. Gellius belehrte sich über dierum diffissiones. Mit dem Plural kann er auf die verschiedenen Gründe anspielen, die dem iudex die Vertagung gestatteten11. Die diffissiones können aber auch die beiden Modi der ‚Spaltung des Gerichtstages‘ sein, die wir unterscheiden müssen: die Vertagung ipsa lege und die Vertagung durch den Urteilsrichter. Beide sind für das 1. und 2. Jh. und damit auch für die Epoche der flavischen Stadtrechte Spaniens sicher belegt12. 2. Zur Lex Irnitana. – Von den 97 Kapiteln, die das Stadtrecht von Irni zählte, handeln 9 Kapitel von der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit in Irni, von ihrer Verfasdiem diffidit. … Dictator postero die auspiciis repetitis pertulit legem. Vgl. G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) 531. 4 J. G. Wolf, Funktion und Struktur der Mancipatio, Mél. André Magdelain (Paris 1998) 509 f., 515 f. 5 Bethmann-Hollweg II 591. 6 Vermutlich aus der Lex Iulia iudiciorum privatorum, jedenfalls aber aus einem der beiden augusteischen Prozeßgesetze (Gai 4. 30) von 17 v. Chr., die nach neuerer Meinung beide iudicia privata betrafen: Kaser / Hackl 161 mit A. 71. 7 N. A. 14. 2. 1. 8 N. A. 14. 2. 11. 9 P. Ant. I 22, recto, col. II 5 – 10 (ed. C. H. Roberts, London 1950). 10 J. G. Wolf, Intertium m. Lit. 11 s. unten nach A. 61. 12 Die ipsa lege insb. durch Ulp D 2. 11 2. 3 und Iul 42. 2. 60; die durch den Urteilsrichter eben durch Gellius und den Papyrus.

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sung und dem Rechtsgang. Es sind die Kapitel 84 bis 92, die auf den Tafeln IX und X mit 217 Zeilen 4 Kolumnen füllen13. Das Konzept dieser Kapitelfolge ist plausibel, Notwendigkeit und Abfolge der Regeln sind einsichtig14. Zuweisung und Definition der Gerichtsbarkeit eröffnen die Sektion (Kap. 84)15. Die Verpflichtung des Magistrats, das Jurisdiktionsedikt des Statthalters, soweit es für ihn in Betracht kommt, öffentlich anzuschlagen und nach dessen Maßgabe zu judizieren, schließt sich folgerecht an (Kap. 85). In einem zweiten Block folgen die Regeln über Erstellung und öffentlichen Anschlag der Richterliste sowie deren Verbindlichkeit für den Magistrat (Kap. 86); über die Auswahl eines Richters aus dieser Liste, über seine Ernennung oder die eines listenfremden Richters sowie die Verpflichtung des ernannten Richters, seines Amtes zu walten und ein Urteil zu sprechen (Kap. 87); ferner über die Auswahl und Einsetzung von Rekuperatoren und ihre Urteilspflicht (Kap. 88); sowie schließlich über die Zuständigkeit des Einzelrichters und des Rekuperatorengerichts, die sich nach der stadtrömischen Praxis richten soll (Kap. 89)16. Die Rechtssätze der noch folgenden drei Kapitel gehen über das Verfahren nach Einsetzung des Urteilsgerichts. Während Kap. 90 ausschließlich de intertium dando handelt, also von der Anberaumung eines Termins für das Urteilsgericht durch den Magistrat17, wird in Kap. 91 für eine Reihe von Prozeßhandlungen und die Folgen ihrer Versäumnis auf das stadtrömische Prozeßrecht verwiesen – auch für die diei diffissio. Zuletzt, in Kap. 92, werden die Tage bestimmt, an denen das Urteilsgericht nicht oder nur mit Einverständnis aller Beteiligten verhandeln darf 18. Die Rechtssätze dieser Kapitel sind ihrer sprachlichen Form nach ganz überwiegend Gebote oder Verbote; sie richten sich an die Duumvirn, die Urteilsrichter oder 13 Vgl. Fernández / Del Amo 60, 66, 97 – 105.; auch Gonzáles 147 ff. Die Lex Irnitana war bekanntlich auf 10 annähernd gleich großen, etwa 90 cm breiten und 57 cm hohen Bronzetafeln eingeschlagen. Die Tafeln waren in 3 Kolumnen von durchschnittlich 53 Zeilen untergliedert. Von den 10 Tafeln hat der Fund von 1981 bekanntlich 6 an den Tag gebracht, die 3., 5. und die vier letzten Tafeln 7 bis 10. 14 Zur Kapitelfolge: Simshäuser 170, auch schon SZ 107 (1990) 555 f.; Rodger 76 ff. Zur Notwendigkeit der Vorschriften: Der Gegenstand der Vorschriften, die nicht selbst (wie die der Kap. 89 und 91) auf den stadtrömischen Prozeß verweisen, konnte nicht durch Verweisung geregelt werden. Das liegt für die Vorschriften der Kap. 84, 85, 86 auf der Hand, gilt aber, wenn ich recht sehe, auch für die der Kap. 87, 88 und 92. Die Regelung der datio intertii in Kap. 90 ist umso auffallender, als für die denuntiatio intertii in Kap. 91 auf die Prozeßpraxis in Rom verwiesen wird. Die in ius vocatio etwa oder das vadimonium sind offenbar darum völlig ausgespart, weil sie im Edikt geregelt waren. All das bedarf noch der näheren Untersuchung. 15 J. G. Wolf, Iurisdictio 29 – 61 m. Lit. 16 J. G. Wolf, Iurisdictio 35 ff. m. Lit.; G. Zanon, SDHI 58 (1992) 323 A. 60. 17 J. G. Wolf, Intertium bei II. und V. 18 Durchweg wird auch noch Kap. 93 dem Abschnitt über die Zivilgerichtsbarkeit zugerechnet. Ich bin dessen nicht mehr so sicher wie in Iurisdictio 29. Entscheidend wäre, daß inter se iure civili agere nicht auch rechtsgeschäftliches Handeln einschließt, sondern hier nur prozessuales meint – was der Zusammenhang nahe legen könnte; vgl. etwa Gonzáles 237 und Lamberti 369.

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auch die Streitparteien und gebieten oder verbieten ihnen ein bestimmtes Verhalten19. Ausnahmen sind die Vorschriften der Kap. 84 und 91. Der Satz, aus dem Kap. 84 besteht, fordert von keiner Person ein bestimmtes Verhalten, sondern gewährt dem Duumvir (und anhangsweise auch dem Ädil) eine beschränkte Gerichtsbarkeit in Zivilsachen. Sie wird ihm für Klagen gewährt, die auf dem Territorium der Stadt Bürger und Einwohner gegeneinander anstrengen und deren Streitwert 9allenfalls 1000 Sesterzen beträgt, ausgenommen eine Reihe teils durch allgemeine Merkmale, teils individuell bestimmter Klagen, von denen der Duumvir einige wiederum gewähren kann, wenn beide Streitparteien es wollen20. Kap. 91 enthält dagegen eine Verweisungsnorm – eigentümlicherweise in zwei Versionen. Ihr wenden wir uns jetzt zu. II. Das Kap. 91 der Lex Irnitana 1. Der Text. – Der Text ist durch manche Nachlässigkeit des Graveurs, gelegentlich bis zur Unverständlichkeit, entstellt21. In der folgenden Wiedergabe sind diese Mängel angezeigt und versuchsweise behoben22. Die Markierung einiger Satzteile sollen der leichteren Orientierung dienen. X A 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

R(ubrica).Quo iure intertium denuntietur, dies diffindatur diffi‚s‘susve sit, res iudicetur, lis iudici[i] damni sit, res in iudicio esse desinat. Quacumque de re priuata iudices arbitri in eo municipio dati subditi addictiue h(ac) l(ege) erunt, is23 iudicibus arbitris et is quos inter ii iudices arbitrive dati subditi addictive h(ac) l(ege) erunt, de ea re intertium aduersario iudici arbitrove in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos24 iurandi, antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi, per quos dies et ubi ex h(ac) l(ege) licebit oportebit, et si

19 In Kap. 86 etwa wird dem Duumvir geboten, die iudices für die Richterliste auszuwählen, sie auf drei Kurien zu verteilen, die Liste ihrer Namen bei seinem Tribunal anzuschlagen und nur einen Listenrichter einzusetzen, es sei denn, daß die Parteien sich auf einen listenfremden Richter verständigt haben. Die Gebotsnormen sind oft zugleich Organisationsnormen, wie etwa die Anweisung, eine Richterliste zu erstellen. Eine Untersuchung der Normtechnik der Munizipalgesetze steht noch aus; sie wäre von allgemeinem Interesse. 20 All das wird in einem einzigen Satz zum Ausdruck gebracht, der zwar grammatisch streng komponiert, mit seinen zahlreichen Ausnahmen und Gegenausnahmen aber so überladen ist, daß wohl auch der Bürger von Irni seine Mühe hatte, ihn zu verstehen. Sollte Zweck des Publikationsgebots in Kap. 95 auch Belehrung der Bürgerschaft gewesen sein, so scheiterte diese Absicht vermutlich an der weithin schwer durchschaubaren sprachlichen Form des Gesetzes. 21 Fernández / Del Amo 65 ff. 22 Die Wiedergabe beruht auf der Transskription von Fernández (103, 105), kontrolliert an den ihr beigegebenen Abbildungen der Tafel X (102, 104), und folgt durchweg J. G. Wolf, Intertium bei A. 16. Sie geht weithin mit Lamberti 362 ff. überein, deren Edition auch die Konjekturen der älteren Ausgaben verzeichnet. 23 Hier wie oft (auch am Ende der Zeile) für iis, vgl. Kap. 92 X B 27.

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XB

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neque dies diffi‚s‘sus neque iudicatum fuerit, uti lis iudici arbitrove damni sit, et si intra it25 tempus, quod legis Iuliae, quae de iudici‚i‘s privatis proxime lata est, kapite XII

1 2 3 4 5

senatusve consultis [[…d et kaput]]26 ad it27 kaput legis pertinentibus conpr‚e‘hensum est, iudicatum non sit, uti res in iudicio non sit, siremps lex [r itque]28 esto atque29 uti esset si eam rem in urbe Roma praetor p(opuli) R(omani) inter cives Romanos iudicari iussisset et de e(a) r(e), ex ‚quacumque‘30 lege rogatione[m] quocumque plebis scito iudicia privata in urbe Roma fient, agi, fieri, denuntiari, diem diffin[[den]]-31 di, diem diffi‚s‘sum esse, iudicari, litem iudici damni esse, rem in iudicio non esse oporteret, praeter quam quod per alios dies et alio loco h(ac) l(ege) denuntiari, rem iudicari, diem diffindi oportebit. Itaque iis omnibus, de ea re et in eos dies in quos ex h(ac) l(ege) licebit, denuntiandi intra it municipium et mille passus ab eo municipio, aut ubi pacti erunt, diem diffi‚n‘dendi, iudicandi in foro eius municipi aut ubi pacti erunt, dum intra fines eius municipi, utique ex [h]isdem causis dies diffinda[n]tur, diffi‚s‘sus sit, utique, si neque diffissum32 e lege neque iudicatum sit per quos dies quoque loco ex h(ac) l(ege) iudicari licebit oportebit, iudici arbitro lis damni sit, utique, si intra it tempus quod supra conpr‚e‘hensum est iudicatum non sit, res in iudicio non sit33, ‚siremps‘ ius esto ‚atque‘ uti ‚esset‘ si ‚eam rem in urbe Roma praetor p(opuli) R(omani) inter‘ cives Ro manos ‚iudicari‘ iussisse‚t‘ ibique d(e) e(a) r(e) iudicium fieri oporteret ex [lege roga tione plebisve scitis] quacumque lege rogatione quocumque plebis scito iudicia ‚privata‘34 in urbe Roma fieri oportebit, praeter quam quod per alios dies et alio loco ex hac lege denuntiari, remque iudicari, diemque diffindi oportebit. Quaeque ita acta erunt ea iusta rataque sunto.

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

DIFFISI, aes. Für id. 26 Radiert; e in et unsicher, i jedoch ausgeschlossen. 27 Für id, und noch einmal in Zeile X B 17. 28 LEX.R.ITQUE.ESTO, aes; i in itque vermutlich über einem radierten Buchstaben. Vgl. Z.18: ius esto; Lex Rubria cap. XXI tab. II 10 f. und 40 f.: siremps lex res ius caussaque … esto. Lamberti 364 liest statt ITQUE etque und verbessert in lex resque esto. 29 ADQUEM, aes. 30 Siehe Z.19 / 20: ex … quacumque lege. 31 Radiert. 32 Ursprünglich DIFFINSUM, vom Graveur verbessert in DIFFISSUM: die 1. Haste des N radiert, die 2. verändert in S. 33 Das Folgende, wie Rodger 84 vorschlägt, ergänzt nach Z. 3 f. González 179 ergänzt: ‚siremps lex‘ ius ‚causaque‘ esto ‚atque‘ uti si ‚praetor populi Romani inter‘ cives Romanos ‚iudicari‘ iussisse‚t‘; Lamberti 364: ius ‚resque‘ esto uti ‚esset‘ si ‚praetor populi Romani‘ cives Romanos iussisse‚t‘. 34 Siehe Z. 5 / 6: iudicia privata. 24 25

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2. Aufbau und Struktur des Textes – Der Text besteht aus zwei Sätzen, die beide demselben Schema folgen und nur im Einzelnen voneinander abweichen. Ihr Gegenstand ist ein und dieselbe Verweisung auf das stadtrömische Prozeßrecht. Die Differenzen erschweren indessen ihr Verständnis und sind die Ursache kontroverser Erklärungen. Es empfiehlt sich darum eine aufgliedernde Darstellung des Textes, die seine Struktur anschaulich macht35. Rubrica. Quo iure

intertium denuntietur, dies diffindatur diffissusve sit, res iudicetur, lis iudici damni sit, res in iudicio esse desinat. Quacumque de re priuata iudices arbitri in eo municipio dati subditi addictiue hac lege erunt, iis iudicibus arbitrisue et iis, quos inter ii iudices arbitriue dati subditi addictiue hac lege erunt, de ea re intertium aduersario iudici arbitroue in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos iurandi, antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi, per quos dies et ubi ex hac lege licebit oportebit, et si neque dies diffissus neque iudicatum fuerit, uti lis iudici arbitroue damni sit, esi intra it tempus, quod legis Iuliae, quae de iudiciis priuatis proxime lata est, kapite XII senatusue consultis ad id kaput legis pertinentibus conprehensum est, iudicatum non sit, uti res in iudicio non sit, siremps lex estoatque uti esset si eam rem in urbe Roma praetor populi Romani inter ciues Romanos iudicari iussisset et de ea re, ex quacumque lege rogatione quocumque plebis scito iudicia priuata inurbe Roma fient, agi, fieri, denuntiari, diem diffindi, diem diffissum esse, iudicari, litem iudici damni esse, rem in iudicio non esse oporteret, praeter quam quod per alios dies et alio loco hac lege denuntiari, rem iudicari, diem diffindi oportebit. Itaque

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Vgl. Rodger 84: „its structure is somewhat daunting“.

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iis omnibus, de ea re et in eos dies in quos ex hac lege licebit, denuntiandi intra id municipium et mille passus ab eo municipio, aut ubi pacti erunt, diem diffindendi, iudicandi in foro eius municipi aut ubi pacti erunt, dum intra fines eius municipi, utique ex isdem causis dies diffindatur, diffissus sit, si neque diffissum e lege neque iudicatum sit per quos dies quoque loco ex hac lege iudicari licebit oportebit, iudici arbitroue lis damni sit, utique, si intra id tempus quod supra conprehensum est, iudicatum non sit, res in iudicio non sit, utique,

siremps ius esto atque uti esset si eam rem in urbe Roma praetor populi Romani inter ciues Romanos iudicari iussisset ibique de ea re iudicium fieri oporteret ex quacumque lege rogatione quocumque plebis scito iudicia priuatain urbe Roma fieri oportebit, praeter quam quod per alios dies et alio loco ex hac lege denuntiari, remque iudicari, diemque diffindi oportebit. Quaeque ita acta erunt ea iusta rataque sunto.

3. Die beiden Versionen. – (a) Für den iudex und die Streitparteien einer in Irni anhängigen Rechtssache soll im Verfahren apud iudicem gelten, was gelten würde, wenn diese Rechtssache in Rom inter cives Romanos anhängig wäre36. Das Gesetz erklärt nicht offen, daß auch in Irni gelten soll, was in Rom gilt, sondern kleidet die Verweisung in die Form einer Fiktion. Den beiden Sätzen, aus denen der Text besteht, entsprechen zwei Teile, in die das Kapitel zerfällt. Mit itaque (X B 10) stellt sich der zweite Teil als Nutzanwendung des ersten Teils dar. Von einer Nutzanwendung oder Folgerung kann indessen kaum die Rede sein37. Für dieselben prozessualen Tatbestände verweist wie der erste auch der zweite Teil auf das stadtrömische Prozeßrecht. Für das benannte Prozeßhandeln vom intertium denuntiare des Klägers bis zum iudicare des Richters sowie für die Folgen seiner Säumnis wird die Geltung des stadtrömischen Prozeßrechts mithin zweimal angeordnet, wird in zwei Versionen seine Geltung auch in Irni vorgeschrieben.

Vgl. Rodger 84 f.; Simshäuser 175. Itaque hat seine ursprüngliche Bedeutung ‚und so, so auch‘ nie völlig verloren. Crawford bei González 198 übersetzt denn auch „and so“. Ich glaube nicht, daß es hier diese Bedeutung hat; vgl. Lamberti 365: „pertanto“. Vgl. im übrigen R. Kühner / C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Satzlehre (4. Aufl. 1962) II 131. 36 37

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(b) Die Abweichungen im Einzelnen sind allerdings vielfältig. Zweimal werden umständliche Definitionen des ersten Teils durch zusammenfassende Begriffe raumsparend ersetzt: durch ‚iis omnibus‘ (X B 10) die einleitende Definition der Betroffenen ‚quacumque de re priuata iudices arbitri in eo municipio dati subditi addictiue hac lege erunt, iis iudicibus arbitris et iis quos inter ii iudices arbitrive dati subditi addictive hac lege erunt‘ (X A 45 – 48); und durch ‚iudicium fieri‘ (X B 19) kurz und bündig die spezifizierende Liste ‚agi, fieri, denuntiari, diem diffindi, diem diffissum esse, iudicari, litem iudici damni esse, rem in iudicio non esse‘ (X B 6 – 8). Die Klausel ‚id tempus quod supra conprehensum est‘ im dritten utique-Satz der zweiten Version (X B 17 / 18) nimmt auf die erste Version ausdrücklich Bezug, obwohl dort die Frist auch nicht genannt, sondern wiederum auf die lex Iulia de iudiciis privatis verwiesen wird (X A 53 – X B 2). Diese Abweichungen sind indessen ohne sachlichen Belang. Sie beweisen aber, daß der zweite Teil dem ersten nachgeschrieben worden ist, und schließen gleichzeitig aus, daß er ihn ersetzen sollte. Sonst übrigens hätte auch bei denuntiandi (X B 11) nicht intertium ausgespart werden können, dessen Ergänzung nur aus dem ersten Teil möglich ist. Bemerkenswert bleibt, daß mit ‚iudicium fieri‘ (X B 19) gegen das traditionelle Prinzip der Deutlichkeit von den einzelnen erforderlichen oder möglichen Prozeßhandlungen im Verfahren apud iudicem abstrahiert wird – vermutlich aber auch nur darum, weil sie in der ersten Version einzeln aufgelistet sind. Ohne sachliche Bedeutung sind auch die Umstellungen in den bedingten Konsekutivsätzen. Statt et si neque dies diffissus neque iudicatum fuerit, uti lis iudici arbitrove damni sit (X A 51 – 53) bevorzugt der zweite Teil utique si neque si neque diffissum … neque iudicatum sit … iudici arbitrove lis damni sit (X B 15 – 17). Diese invertierte Wortstellung rückt mit utique die Rechtsfolge an die ausgezeichnetste Stelle des Konsekutivsatzes und die Bedingung an die mittlere unbedeutendere. (c) Anders die Zusätze zum intertium denuntiare des Klägers und zum iudicare des Richters. Während die erste Version intertium adversario iudici arbitrove in biduo proximo denuntiandi hat (X A 48 / 49), heißt es in der zweiten denuntiandi intra id municipium et mille passus ab eo municipio aut ubi pacti erunt (X B 1 / 12); und während dort iudicandi litem aestumandi per quos dies et ubi ex hac lege licebit oportebit steht (X A 50 / 51), hat die zweite Version iudicandi in foro eius municipi aut ubi pacti erunt dum intra fines municipi (X B 12 – 14). Kap. 90 handelt de intertium dando, von der Erteilung eines Termins für das Urteilsgericht durch den Magistrat. Hier, in Kap. 91, lesen wir in der ersten Version, daß der Kläger das ihm erteilte intertium Urteilsrichter und Prozeßgegner in biduo proximo anzeigen muß. Für diesen Tatbestand sollen dieselben Regeln gelten, die in Rom für die denuntiatio intertii gelten. Die Mitteilung der näheren Umstände war überflüssig, wenn auch im stadtrömischen Prozeß der Gerichtstag dem Urteilsrichter und dem Prozeßgegner in biduo proximo angezeigt werden mußte. Gleichwohl wird man nicht ohne weiteres den Gegenschluß ziehen – auch wenn die zweite Version ihn nahe legt. Hier nämlich ist nicht von Urteilsrichter und Prozeßgegner und Befristung die Rede, hier vielmehr lesen wir, wo die denuntiatio erfolgen muß: am

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vereinbarten Orte, in Irni selbst oder im Umkreis der Stadt, innerhalb der ersten Meile. Auch wenn in Rom Entsprechendes galt38, konnte diese Beschränkung nicht durch Verweisung geregelt werden39. Mit der Ortsbestimmung, die das Munizipalgesetz nur hier trifft, ist demnach in die Verweisungsnorm eine Gebotsvorschrift eingefügt. Sie ist keineswegs die einzige. Dasselbe nämlich haben wir beim iudicare des Urteilsrichters. Hier wird in der zweiten Version bestimmt, wo er urteilen und erkennen muß: auf dem Forum von Irni oder an vereinbartem Ort, allerdings auf Gemeindegebiet. Auch diese Beschränkung konnte nicht durch Verweisung auf die stadtrömische Praxis geregelt werden, und auch sie trifft das Munizipalgesetz nur hier. Mit dieser Ortsbestimmung wird die erste Version insofern korrigiert, als die Klausel ‚… et ubi ex hac lege licebit oportebit (sc. iudicare litem aestumare)‘ ins Leere ging. Auf die erste Hälfte dieses Zusatzes, ‚per quos dies … ex hac lege licebit oportebit‘ (X A 51), antwortet dagegen Kap. 92. Dieser Verweis findet sich denn auch in der zweiten Version wieder: dem Katalog der Prozeßhandlungen vorangestellt (X B 10 / 11: de ea re et in eos dies in quos ex hac lege licebit), gilt er hier nicht mehr nur für das iudicare40, sondern auch für das intertium denuntiare41 und diem diffindere42. Diese Änderungen gegenüber dem ersten Teil folgen unverkennbar einem einheitlichen Konzept. Offenbar ging es vor allem um die Ortsbestimmung für die denuntiatio intertii und das Urteilsgericht. Konnten wir schon feststellen, daß die zweite Version der ersten nachgeschrieben ist, und ausschließen, daß sie die erste ersetzen sollte, so sehen wir jetzt auch ihren Anlaß: die Einfügung dieser Ortsbestimmungen und vielleicht auch der Kalendervorschrift (X B 10 / 11)43. Damit stellt sich die zweite Version als Ergänzung der ersten dar44. Statt die Verweisungsnorm mit den Ortsbestimmungen und der Kalendervorschrift aufzufüllen, zog man es vor, die Verweisungsnorm zu verdoppeln und die neuen Vorschriften in die zweite Version 38 Entsprechendes galt bekanntlich für die Begrenzung der Amtsführung domi. Vgl. auch Gai 4. 104. 39 Darum werden von den für anwendbar erklärten stadtrömischen Rechtsregeln auch die über Zeit und Ort in beiden Versionen ausgenommen: praeter quam quod etc. (X B 8 – 10 und 21 – 23). 40 Für iudicia vorgesehen sind in Irni alle Tage, für die das Gesetz Urteilsgerichte nicht untersagt. Die Tage, die es mit und ohne Vorbehalt für Urteilsgerichte ausschließt, bestimmt es in Kap. 92; dazu J. G. Wolf, Intertium nach A. 100. 41 In Kap. 92 X B 46 – 50 verbietet die Irnitana, dem Prozeßgegner und dem Urteilsrichter das intertium auf einen Ferialtag (mit der üblichen Ausnahme) anzuzeigen; dazu J. G. Wolf, Intertium bei A. 126 und nach A. 141. Rodger 85 bezieht die Klausel in eos dies in quos ex hac lege licebit nur auf denuntiandi. Indessen lautet der Text de ea re et in eos dies etc. 42 Es versteht sich, daß auch die Fortsetzung des Gerichtstages nur für einen Kalendertag angesetzt werden konnte, der für iudicia vorgesehen war, vgl. A. 40 und 41. 43 Die Fiktionsklauseln siremps lex / ius esto atque uti esset (X B 3 und 18) sind beide schlecht erhalten und liefern darum kein Kriterium, vgl. oben A. 27 und 32. 44 Zutreffend schon Rodger 85: „both parts of the chapter must be read cumulatively“.

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einzurücken. Die Verdoppelung selbst war unschädlich, und offenbar wurde sie auch nicht als irritierend empfunden. Sie bot zugleich Gelegenheit, die beiden utique-Sätze leicht und rhetorisch wirkungsvoll abzuändern und einen dritten Konsekutivsatz (X B 14) hinzuzufügen. Andererseits konnte das Simile als lediglich der Ergänzung dienendes Doppel durch Zusammenfassung umfangreicher Definitionen und Listen, leicht zu ergänzender oder unschädlicher Auslassungen sowie direkter Verweise auf die erste Version spürbar verkürzt werden. Schließlich ist zu vermuten, daß die zweite Version nicht gleichzeitig mit der ersten entstanden, sondern später hinzugefügt worden ist. Wenn diese Beobachtungen zutreffen, wäre in der Lex Irnitana auch eine zweite Textschicht identifiziert45. 4. Die syntaktische Stellung der Konsekutivsätze. – Inhalt der Konsekutivsätze (eingeleitet mit et … uti im ersten, mit utique im zweiten Teil) sind Folgerungen aus der Verweisung siremps lex / ius esto atque uti esset etc. Konsekutive Nebensätze werden dem Hauptsatz, aus dem sich die Folgerung ergibt, regelmäßig nachgestellt. In unseren Verweisungsvorschriften stehen sie vor dem Hauptsatz. Vermutlich soll ihre Bedeutsamkeit hervorgehoben werden, der die logische Stellung der Konsekutivsätze nach der Fiktion und der Ausnahme (praeter quam quod … oportebit) allerdings nicht gerecht würde. 5. Als ein Zwischenergebnis können wir zusammenfassen: Kap. 91 verweist für das Verfahren apud iudicem auf das stadtrömische Prozeßrecht. Die Verweisung in der Form der Fiktion geschieht in zwei strukturell gleichen und weithin auch gleichlautenden Versionen, die zwar nur im Einzelnen, aber vielfach von einander abweichen. Die beiden Versionen widersprechen sich nicht; die zweite, zweckmäßig verkürzte Version ist vielmehr als ergänzendes Doppel nachträglich der ersten hinzugefügt worden. Anlaß dieser eigentümlichen Überarbeitung der Verweisungsnorm war die Einfügung neuer Detailvorschriften. In beiden Versionen sind die konsekutiven Nebensätze mit den Folgerungen aus der Verweisung der Verweisung selbst vorangestellt sind.

III. Die Vertagung durch den Urteilsrichter 1. Vorbemerkung. – Nach den Angaben der Rubrik verfügt Kap. 91: ‚nach welchen Rechtsvorschriften das intertium angezeigt werden soll, der Gerichtstag zerteilt werden soll oder zerteilt worden sein soll, die Streitsache entschieden werden soll, der Prozeß dem Richter zum Schaden und die Streitsache nicht mehr Gegenstand des Prozesses sein soll‘ (X A 42 – 44). Die Vorschriften, auf die verwiesen wird, gel45 Die Rede ist nicht von einer zweiten Textschicht d e r Irnitana, weil vorerst nicht auszuschließen ist, daß die Bearbeitung auf die Verweisungsnorm beschränkt und auch vor der Herstellung der Irnitana erfolgt ist. Zu einem vermutlich jüngeren Zusatz in der ersten Version s. unten bei A. 60, und zur Vermutung einer zweiten Textschicht in Kap. 84 J. G. Wolf, Iurisdictio 32 A. 28 und 52 f. unter VI. 3.

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ten nur für den iudex46 und die Streitparteien: is iudicibus arbitris et is quos inter ii iudices arbitrive dati erunt … lex esto (X A 46 – 48 / X B 3) sowie iis omnibus … ius esto (X B 10 / 18). Das intertium denuntiare obliegt dem Kläger47, das iudicare dem iudex; und wie Gellius berichtet und der Papyrus bekräftigt48, ist auch die allfällige Vertagung des Verfahrens seine Sache49. Das schließt nicht aus, daß die Verweisung auch für die Vertagung ipsa lege gilt; denn die Klausel diem diffindendi deckt auch diesen Modus der diei diffissio50. Da jedenfalls für die Vertagung durch den iudex auf das stadtrömische Prozeßrecht verwiesen wird51, versuchen wir zunächst, die Verweisungsnorm unter dieser Voraussetzung unserem Verständnis zu erschließen. 2. Diffindi und diffissus esse. – Im Programm der Rubrik sind dies diffindatur und diffissus sit durch enklitisches -ve disjunktiv miteinander verbunden52. Darum ist anzunehmen, daß auch die asyndetisch nebeneinander gestellten Satzteile diem diffindi diem diffissum esse (in der ersten Version, im Katalog des Bedingungssatzes der Fiktion: X B 6 / 7), und dies diffindatur diffissus sit (in der zweiten Version, im ersten utique-Satz: X B 14), im selben Verhältnis miteinander verbunden und demnach Paare sind53. Wir entnehmen also der Rubrik, daß Kap. 91 bestimmt, nach welchen Rechtsvorschriften vertagt werden soll oder vertagt worden sein soll; der ersten Version unserer Norm, daß in Irni die Gesetzeslage ebenso sein soll, wie sie wäre, wenn der Prozeß in Rom stattfände und in diesem Prozeß 46 Und das heißt auch: nur für den Einzelrichter; für Verfahren vor Rekuperatoren gilt die Verweisungsnorm nicht; vgl. Rodger 84; auch Simshäuser 198 ff. – Der Einfachheit halber vernachlässigen wir den arbiter und sprechen immer nur vom iudex. 47 J. G. Wolf, Intertium nach A. 141. 48 Siehe oben A. 8 und 9. 49 Darüber besteht nahezu Einigkeit. Nach Giménez Candela wurde die diffissio vom iudex ‚betrieben‘ (39), mußte aber vom Magistrat ‚bestätigt‘ (35) werden. Zutreffend in seiner Rez. schon Burdese, SDHI 57 (1991) 451. Unklar Kaser / Hackl 356 f., 358. Nicht eindeutig auch Gonzáles 235 zu Zeile 50 / 51: „diem diffindere no doubt refers to postponement by agreement, dies diffissos iurare to the invocation of one of the reasons which actually entitled a party to a postponement“; vermutlich aber geht er von der Zuständigkeit des Richters aus, vgl. Rodger 86. 50 Die „distinzione tra diffissio, operante ope legis, e diffissio che richiedeva un intervento del iudice“, klar getroffen von G. Zanon, SDHI 58 (1992) 317 A. 38, und A. Burdese, SDHI 57 (1991) 451 f., wird weithin vernachlässigt, vgl. nur Kaser / Hackl 116, 356 ff. 51 A. Burdese, SDHI 57 (1991) 452. 52 Daß die Partikel -ve nur kopulative Bedeutung hat, ist nach dem Zusammenhang auszuschließen, ebenso daß -ve für -que steht; vgl. Crawford bei González 197; Lamberti 363 vernachlässigt diffissus sit. Zum willkürlichen Austausch von -ve und -que vgl. M. W. Frederiksen, The Republican Municipal Laws: Errors and Drafts, JRS 55 (1965)188 mit Hinweis auf Paul D 50.60.63 pr. und weit. Lit. in A. 32. 53 Disjunktive Konjunktionen werden eher selten weggelassen, doch fehlt es nicht an Beispielen, auch nicht in unserem Text: iudices arbitri / arbitrive: X A 45 – 49, 52 / 53, X B 16. Vgl. Kühner-Stegmann (o. A. 37) II 152, auch W. Kalb, Das Juristenlatein (2. Aufl. 1888, Neudr. 1961) 37 A. 1 i. f. (38), dessen Erklärung auf unseren Fall allerdings nicht zutrifft.

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vertagt werden müßte oder vertagt worden sein müßte; und dem ersten Konsekutivsatz der zweiten Version, daß infolgedessen in Irni aus denselben Gründen wie in Rom vertagt wird oder vertagt worden ist. Wenn der Urteilsrichter den dies iudicii ‚zerteilt‘, ist der Gerichtstag im Rückblick, im Zeitpunkt seiner Fortsetzung ‚zerteilt worden‘. Das stadtrömische Prozeßrecht sah für beide Phasen, für die Vertagung selbst wie für die Fortsetzung der Verhandlung Regeln vor54. Auf diese Regeln wird in beiden Versionen gleichlautend diem diffindendi verwiesen: ‚im Hinblick auf die Zerteilung des Gerichtstages‘, oder mit einem bürokratischen Ausdruck: ‚betreffs Vertagung‘ (X A 49 und X B 12). Die Beschreibung der Prozeßhandlung, für die auf das stadtrömische Recht verwiesen wird, differenziert mithin nicht wie die Regelung, a u f die verwiesen wird, zwischen der diei diffissio und der Fortsetzung des dies iudicii in einem neuen Termin, sondern begreift mit diem diffindere den gesamten Regelungskomplex. 3. Der Eid und die stadtrömischen Vorschriften. – Die stadtrömischen Vorschriften sind anzuwenden, wenn der Gerichtstag ‚zerteilt wird‘, und sie sind anzuwenden, wenn der Gerichtstag ‚zerteilt worden ist‘. Daß die Vertagung durch den iudex geregelt werden mußte, versteht sich. Was aber blieb noch zu regeln, wenn der iudex das Urteilsgericht vertagt hatte? Unsere Verweisungsnorm hält selbst die Antwort bereit: Hatte der Urteilsrichter den Gerichtstag ‚zerteilt‘, dann mußte er nach der Unterbrechung, wenn der ‚zerteilte‘ Gerichtstag am folgenden oder an einem späteren Kalendertag fortgesetzt wurde, beeiden, daß der Gerichtstag ‚zerteilt‘ worden war. Das ist im Folgenden auszuführen. (a) Während in der zweiten Version unserer Verweisungsnorm für die drei Tatbestände intertium denuntiare, diem diffindere, iudicare (X B 11 – 14) auf die stadtrömischen Vorschriften verwiesen wird, sind es in der ersten Version vier: intertium denuntiare, diem diffindere, dies diffissos iurare, iudicare (X A 48 – 51). Von dem Eid, ‚daß der Tag zerteilt worden ist‘, hören wir hier zum ersten Mal. We r ihn leistet, sagt das Gesetz nicht – so wie es auch nicht sagt, wer das intertium anzeigt oder den Tag ‚zerteilt‘. Indessen wird der Eid geschworen, ‚bevor sie urteilen‘: dies diffissos iurandi, antequam iudicent (A X 49 / 50). Danach können auch nur sie, die Urteilsrichter, es sein, die den Eid leisten55. Auch der Zeitpunkt des Eides läßt sich 54 A. Burdese, SDHI 57 (1991) 452, vermutet dagegen, daß dies diffindatur auf die Vertagung durch den iudex und dies diffissus sit auf die Vertagung ipso iure gemünzt sei. Indessen mußte der Urteilsrichter dies diffissos iurare und nach Burdese selbst diesen Schwur nur dann leisten, wenn er selbst vertagt hatte. Ähnlich erklärt Metzger 144 ff. diem diffindere als „prospective adjournment“, dies diffissos iurare als „retrospective adjournment“: der Eid sei nur erforderlich gewesen bei unvorhergesehener, und das heißt ja wohl ipsa lege eintretender diei diffissio. 55 Auch darüber besteht Einigkeit: D’Ors 45; Rodger 86 f.; Lamberti 194 und schon Labeo 36 (1990) 254; Metzger 144 A. 4.

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erschließen: Schwört der iudex den Eid, bevor er urteilt, und nimmt er auf seinen Eid, daß der Gerichtstag geteilt worden ist, dann leistete er ihn offenbar nach der Unterbrechung, in der wieder aufgenommenen Verhandlung56. (b) Den vier Tatbeständen ‚intertium denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos iurandi, iudicandi litem aestumandi‘ (X A 48 – 51) antworten im Katalog der Fiktion ‚denuntiari, diem diffindi, diem diffissum esse, iudicari‘ (X B 6 / 7). Während dort auf ‚diem diffindendi‘ : ‚dies diffissos iurandi‘ folgt, folgt hier auf ‚diem diffindi‘: ‚diem diffissum esse‘. Bei denuntiari ist intertium ausgespart57, weil dessen Ergänzung nicht zweifelhaft sein konnte. Sowenig aber denuntiari statt intertium hätte ausgespart werden können, sowenig kann iurari bei ‚diem diffissum esse‘ ausgespart worden sein58. Bleibt es danach bei ‚diem diffissum esse‘, so dürfen wir vermuten, daß die stadtrömischen Vorschriften, die Anwendung fanden, wenn der Gerichtstag ‚zerteilt worden war‘, den Eid regelten, mit dem der iudex beschwor, ‚daß der Gerichtstag zerteilt worden ist‘. 4. Die dies diffissos iurandi-Klausel: ein späterer Zusatz. – Vergleichen wir jetzt die beiden Tatbestandslisten, für die auf das stadtrömische Recht verwiesen wird, so ist nicht mehr zu übersehen, daß in der ersten Version die Klausel ‚dies diffissos iurandi, antequem iudicent‘ (X A 49 / 50) durch zweierlei aus dem Rahmen fällt: durch den Plural und das subjektlose ‚antequam iudicent‘. ‚Dies diffissos iurandi‘ ist ein schwerer Stilbruch, besonders hart nach ‚diem diffindendi‘, durch nichts gerechtfertigt und im ganzen Kapitel ohne Parallele59. Das Subjekt iudices ist zwar ohne weiteres zu ergänzen, seine Auslassung gleichwohl ebenso irritierend wie das aktivische Prädikat. Nach ihrer sprachlichen Form ist die Klausel ein Fremdkörper im Text der Verweisungsnorm; neben diem diffindendi ist sie auch nicht erforderlich. Vermutlich ist sie ein späterer, für uns allerdings höchst aufschlußreicher Zusatz60. Durch ihn ist uns der Eid bekannt und die Verweisungsnorm verständlicher geworden. 5. Eidesthema und Vertagungsgründe. – Nach der Unterbrechung der Verhandlung, in der Fortsetzung des Gerichtstages, bevor er das Urteil fällte, beschwor der 56 Rodger 86 f.; Metzger 145. Anders d’Ors 44 f.: die diffissio sei in zwei Schritten erfolgt; zunächst habe der iudex die Verhandlung vertagt und dann, in einem zweiten Akt, aber noch vor der Unterbrechung, den Grund der Vertagung beschworen, die erst damit wirksam geworden sei. Wieder anders F. Lamberti, Labeo 36 (1990) 254: der Schwur sei ein promissorischer Eid gewesen, mit dem der iudex bei der Vertagung versprochen habe, zu dem von ihm festgesetzten Zeitpunkt wieder zu erscheinen. 57 Wie auch X B 11 bei denuntiandi und X B 22 bei denuntiari. 58 Anders allerdings Metzger 143 ff.; er glaubt darum, daß die Klauselpaare durchgehend die Alternative „dividing or swearing“ beschrieben. 59 Ich sehe auch keine andere Nachlässigkeit dieser Art. Darum ist es unwahrscheinlich, daß diese „inelegant mingling of singular and plural“ bei der Abfassung des Kapitels unterlaufen ist; zur ‚Vermischung‘ von Singular und Plural in den republikanischen Munizipalgesetzen vgl. Frederiksen (o. A. 52) 192 bei A. 51. 60 Er ist vermutlich jünger als die zweite Version unserer Verweisungsnorm, die dann nicht erst bei der Herstellung der Irnitana angefertigt worden sein kann; vgl. o. A. 45.

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iudex, daß der Gerichtstag ‚zerteilt‘ worden ist. ‚Zerteilt‘, das heißt: ‚wirksam zerteilt‘. Die diffissio war wirksam und der Gerichtstag ‚zerteilt‘, wenn die Vertagung aus anerkanntem Grunde erfolgt war. Der iudex nahm mithin auf seinen Eid, daß er die diffissio verfügt hatte, daß er sie aus gutem Grunde verfügt hatte und daß dieser Grund wirklich gegeben war61. Den beiden ersten utique-Sätzen der zweiten Version entnehmen wir, daß es mehrere Gründe gab (X B 14) und diese Gründe in einem Gesetz aufgeführt waren (X B 15)62. Das Gesetz war mit aller Wahrscheinlichkeit die Lex Iulia iudiciorum privatorum63; die Vertagungsgründe, die sie anerkannte, sind uns dagegen nicht überliefert. Morbus sonticus sowie status dies cum hoste sind von ihnen zu unterscheiden64; hinderten sie den Urteilsrichter oder eine Streitpartei, im angezeigten Termin zu erscheinen, war der Gerichtstag ipso iure ‚zerteilt‘65. Die XII Tafeln räumten dem Urteilsgericht nur einen Tag ein; konnte bis Sonnenuntergang das Urteil nicht gesprochen werden, mußte der Gerichtstag ‚zerteilt‘ werden, wenn es überhaupt noch sollte gesprochen werden können66. In der späten Republik war es zur Gewohnheit geworden, die Verhandlung auf einen zweiten und dritten Termin auszudehnen67. Als Cicero pro Caecina plädierte, hatten die Rekuperatoren ‚wegen der unklaren und zweifelhaften Rechtslage‘ schon zweimal zu urteilen gezögert68; und zweihundert Jahre später vertagt Gellius gegen den Rat von Freunden und Experten das Urteilsgericht, weil er Bedenken hat, nach der Beweislage zu entscheiden69. Ein Grund, das Urteilsgericht zu vertagen, und sicher auch der am häufigsten bemühte Grund, muß danach die Überzeugung des Urteilsrichters gewesen sein, daß der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif war70 – weil etwa geschwätzige Einlassungen der Parteien und überlange Plädoyers den Tag erschöpften71. 61 Rodger 86 f.; A. Burdese, SDHI 57 (1991) 451, 452; G. Zanon, SDHI 58 (1992) 317 A. 38. Anders F. Lamberti, Labeo 36 (1990) 254, vgl. oben A. 56. 62 ‚E lege‘ ist gegenüber der ersten Version ein Zusatz. 63 Aus der sich Gellius (N. A. 14. 2. 1) über dierum diffissiones belehrte (s. oben bei A.ᾥ7) und die in unserer Überweisungsnorm für die Befristung des Urteilsgerichts angeführt wird (X A 53 / 54); vgl. unten bei A. 75 und vor allem D. Johnston, Three Thoughts on Roman Private Law and the Lex Irnitana, JRS 72 (1987) 62 / 63; außerdem Metzger 98; Kaser / Hackl 357. 64 Was häufig nicht geschieht, vgl. nur Metzger 94 ff. oder Kaser / Hackl 356 f. 65 s. oben A. 2 und unten bei A. 99. 66 Vgl. unten nach A. 75. 67 Worüber Cic. Caec. 4 – 7, vermutlich aus taktischen Gründen, beredte Klage führt. Vgl. Bethmann-Hollweg II 591. 68 Cicero, Caec. 6, stellt es freilich so dar, als wäre gerade nicht die ‚unklare und zweifelhafte Rechtslage‘ Anlaß der Vertagungen gewesen. 69 N. A. 14. 2. 11. 70 Donat. ad Terent. Eun. 331 (= 2. 3. 39) ‚liquet‘: Et est verbum iuris quo utebantur iudices, cum amplius pronuntiabant. Sen. epist. 65. 15: Aut fer sententiam aut, quod facilius in eiusmodi rebus est, nega tibi liquere et nos reverti iube (wenn reverti nicht ‚umkehren, weggehen‘ bedeutet).

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6. Si neque diffissum neque iudicatum sit. – (a) Der Richter, der weder vertagte noch urteilte, hängte sich den Prozeß selbst an: er haftete dem Kläger auf Schadensersatz72. Wir kennen diese Vorschrift schon aus dem Pomponius-Zitat des Papyrus Antinoopolis 1. 22; es lautet (recto, col. ii)73. 5

…… Item Pomp(onius) scr(ibit), si fal-

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so t(utore) a(uctore) m(inus)74 fuerit diffisus

7

dies, ed(ictum) q(ui)d(em) cessare, et iudi-

8

cem, q(ui)a neq(ue) diffidit neq(ue)

8

s(ententi)am dixit, litem suam fe-

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[cisse videri].

Die Ähnlichkeit mit Formulierungen der Irnitana (dies diffissus fuerit; neque … neque: X A 52 und X B 15) läßt vermuten, daß beide Texte dieselbe Quelle zitieren, was dann wieder nur die Lex Iulia iudiciorum privatorum gewesen sein kann75. (b) Die Haftungsvorschrift setzt für Urteil und Vertagung einen gemeinsamen Endtermin voraus76: War bis zu diesem Zeitpunkt weder das Urteil gesprochen noch der Gerichtstag ‚zerteilt‘ worden, konnte das Urteil nicht mehr gesprochen werden. Der Zeitpunkt war notorisch. Er war so selbstverständlich, daß er nicht mehr eigens erwähnt wurde. Weder nennt ihn die Irnitana, noch nennt Pomponius ihn. Seit den XII Tafeln war dieser ‚äußerste Zeitpunkt‘ der Sonnenuntergang. Cicero bezeugt uns die Fortgeltung dieser Regel in der ausgehenden Republik77, und wenn sie für den klassischen Formularprozeß in Zweifel gezogen wurde78, so liefern inzwischen Pomponius-Zitat und Irnitana mit der Sanktionsnorm ein fast zwingendes 71 Anschaulich Cic. Quinct. 34: (Hortensius) a me postulat ne dicendo tempus absumam, queritur priore patrono causam defendente numquam perorari potuisse; Tull. 6: Unum hoc abs te … pervelim impetrare … ut ita tibi multum temporis ad dicendum sumas ut his aliquid ad iudicandum relinquas. Namque antea non defensionis tuae modus, sed nox tibi finem dicendi fecit. 72 Weil das Urteil nicht mehr gesprochen werden konnte und damit die allfällige Verurteilung des Beklagten ausgeschlossen war; vgl. insb. A. Burdese, SDHI 57 (1991) 453; Giménez Candela 41 ff.; Kaser / Hackl 196 m. weit. Lit. 73 In der Transskription des Herausgebers C. H. Roberts, The Antinoopolis Papyri I (1950) 50, der T. Giménez Candela, Una Revision de Pap. Ant. 22, FS D’Ors (1987) I 562, fast uneingeschränkt zustimmt. Zur Entscheidung des Pomponius s. F. de Zulueta bei Roberts 48 f.; Giménez Candela, FS D’Ors (1987) I 565 ff., insb. 569 f. m. weit. Lit.; Lamberti 194 f. und Labeo 36 (1990) 228 ff.; Metzger 129 ff. 74 Giménez Candela; anders Roberts: m(ale). 75 Auch wenn sie die Rechtsfolge unterschiedlich beschreiben: mit ‚uti lis iudici … damni sit‘ die Irnitana, mit ‚iudicem … litem suam fecisse videri‘ der Papyrus; vgl. A. Burdese, SDHI 57 (1991) 453; Simshäuser 177. 76 Gewunden Kaser / Hackl 357 f. 77 s. oben A. 68. 78 F. L. v. Keller, Der römische Civilprozess und die Actionen (6. Ausg. 1883) 337 f.

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Indiz. Die neuen Quellen waren allerdings auch Anlaß, die Regel überhaupt zu leugnen und ein anderes Verständnis des Zwölftafelsatzes vorzuschlagen. Mitsamt seinem Kontext lautet er: XII Tafeln 1.6 – 979 (6) Rem ubi pacunt ora‚n‘to. Ni pacunt, in comitio aut in foro. (7) Ante meridiem caussam coiciunto. Com peroranto ambo praesentes. (8) Post meridiem praesenti litem addicito. (9) Si ambo praesentes, sol occasus suprema tempestas esto.

Während der Tag des Urteilsgerichts durch die comperendinatio, später durch die datio intertii festgelegt wurde80, regelten diese Sätze Ort und zeitlichen Ablauf der Verhandlung81. Die Vorschriften können etwa übersetzt werden: ‚Sie (die Streitparteien) sollen die Streitsache an dem Ort verhandeln, den sie vereinbaren. Treffen sie keine Vereinbarung, auf dem Komitium oder dem Forum. (7) Vor der Mittagsstunde sollen sie den Streitfall vortragen. Sie sollen miteinander streitig verhandeln bei Anwesenheit beider. (8) Nach der Mittagsstunde soll er (der Urteilsrichter) dem Anwesenden den Rechtsstreit zusprechen. (9) Wenn beide anwesend sind, soll der Sonnenuntergang der äußerste Zeitpunkt sein‘82. Wie tempus ist auch tempestas sowohl ‚Zeitpunkt‘ wie ‚Zeitabschnitt‘. Im Zwölftafelsatz 1.9 ist suprema tempestas immer und zu Recht als Zeitpunkt verstanden worden: als der Zeitpunkt, bis zu dem das Urteil gesprochen sein mußte. (c) Gegen diese Interpretation hat jüngst Ernest Metzger den Nachweis versucht83, daß die suprema tempestas kein Zeitpunkt, sondern vielmehr ein Zeitabschnitt, eine Tageszeit sei. Sie sei nicht der ‚äußerste Zeitpunkt‘ für das Urteil, sondern vielmehr die ‚letzte Tageszeit‘, zu der noch verhandelt werden könne. Der Satz verbiete, die Verhandlung in die Nacht hinein fortzusetzen. Aus diesem Grunde habe die Verhandlung bei Sonnenuntergang vertagt werden müssen84. Vielleicht sei die Vertagung bei Sonnenuntergang sogar ohne weiteres eingetreten und habe vom iudex nur verfügt werden müssen, wenn er vor Sonnenuntergang vertagen wollte. 79 Der konventionellen Ordnung dieser Sätze (Bruns7 19; Roman Statutes II 594) ist der Vorschlag G. Nicosias, Il processo privato romano, II. La regolamentazione decemvirale (1986) vorzuziehen.; vgl. J. G. Wolf, Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß. Ein Rekonstruktionsversuch, in: O. Behrends / M. Diesselhorst (Hrsg.), Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart (1991) 88 / 89 A. 118; dort auch zu ora‚n‘to in 1. 6; zu sol occasus G. Radke, Archaisches Latein (1981) 131, 133. 80 Zu intertium und comperendinatio vgl. J. G. Wolf, Intertium nach A. 175. 81 Die heute vielleicht noch überwiegende Meinung bezieht wegen litem addicito in 1. 8 die Sätze auf das noch ungeteilte Verfahren vor dem Magistrat, vgl. J. G. Wolf (o. A. 79) 88 / 89 A. 118. 82 Für litem addicere, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt. Unrichtig Metzger 109: „… sunset shall be the latest time for proceeding“. 83 Metzger 91 ff. 84 Metzger 113: „If ‚latest time of day‘ is the correct meaning of suprema tempestas, then table 1.9 is not limiting trials to one day’s duration, but imposing the less rigorous rule that trials should not take place at night, that they must adjourn at sunset.“

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Dabei sei er, jedenfalls im späteren Formularprozeß, und obwohl auch das klassische Recht Vertagungsgründe vorsah, nicht an sie gebunden gewesen. Wie die suprema tempestas nicht der ‚äußerste Zeitpunkt‘ für das Urteil, so sei die diei diffissio auch nicht die fiktive Zerteilung des Gerichtstages, sondern einfach die Unterbrechung der Verhandlung zur Fortsetzung am nächsten oder einem späteren Kalendertag. Eine dem dies diffissus ähnliche Erscheinung, die auch seine Bezeichnung erklären könne, sei der dies intercisus des Festkalenders, dessen erste und letzte Stunde der profanen Verwendung entzogen waren. Schließlich: die diffissio sei nicht nur diffissio, mit ihr vielmehr stets die Verfügung eines neuen Termins verbunden gewesen. Erst sie erkläre die Haftung des Urteilsrichters, si neque dies diffissus neque iudicatum fuerit. Habe er nämlich versäumt, einen neuen Termin zu bestimmen, so sei nicht vertagt, und weil er auch nur in einem neuen Termin hätte urteilen können, also auch nicht geurteilt worden85. Mit dieser Hypothese verschafft sich Metzger den Endtermin, den die Haftungsvorschrift voraussetzt, kompensiert er mithin seine Interpretation der suprema tempestas als ‚letzte Tageszeit‘86. Gegen den Beifall der Kritik87 halte ich Metzgers Abhandlung jedenfalls in diesem Punkte für verfehlt. Er argumentiert88, daß in drei der fünf Texte89, die den Zwölftafelsatz zitieren, nach dem Verständnis des Autors suprema tempestas die ‚letzte Tageszeit‘ sei90. Das ist richtig und besonders deutlich bei Censorinus, dem Grammatiker des 3. Jhs. n. Chr. Nach seiner Darstellung war ‚suprema‘ der letzte Tagesabschnitt vor Sonnenuntergang, glaubten aber auch viele, ‚suprema‘ sei die Tageszeit nach Sonnenuntergang, quia est in XII tabulis scriptum sic: ‚solis occasus suprema tempestas esto‘. Das elliptische ‚suprema‘ ist ersichtlich die suprema tempestas des Zwölftafelsatzes, seine Verwendung als Bezeichnung der Tageszeit vor oder nach Sonnenuntergang aber nicht durch ihn gedeckt. Denn wie meridies ist sol occasus ein Zeitpunkt91, der auch nicht dadurch zu einem Zeitabschnitt wird, daß 85 Metzger 138: „Thus if ‚divide the day‘ means not simply ‚adjourn‘ but ‚postpone‘, or more specifically, ‚adjourn and reconvene at an appointed time‘, the two conditions for liability in the papyrus fragment an in the lex Irnitana are perfectly appropriate: a judge’s failure to give judgment would not be assessed until the time for reconvening has passed.“ 86 Vgl. o. nach A. 75. 87 J. Crook, Cambridge Law Journal 57 (1998) 414; K. Hackl, SZ 116 (1999) 387; A. Lintott, JRS 89 (1999) 27. 88 Metzger 112 ff. 89 Varro l. l. 6. 5 und 7. 51; Censorinus, De die natali liber (ed. Jahn 1845) 23 – 24, und Macrob. Sat. 1. 3. 14. Der Haupttext ist Gell. 17. 2. 10; hinzu kommen Fest. 305 M. und Plin. n. h. 7. 60. 212. 90 Was, wie sich verstehen sollte, keinen Beweis für die Bedeutung von suprema tempestas in den XII Tafeln macht. 91 Zu meridies vgl. Varro l. l. 6. 4; Censor. 23 und 24; Plin. n. h. 7. 60. 212: XII tabulis ortus tantum et occasus nominantur, post aliquot annos adiectus est et m e r i d i e s, accenso consulum id pronuntiante, cum a curia inter Rostra et Graecostasin prospexisset solem; a columna Maenia ad carcerem inclinato sidere s u p re m a m pronunciavit, sed hoc serenis tantum diebus, usque ad primum Punicum bellum. Wie meridies ist suprema hier noch Zeit-

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ihn die XII Tafeln zum ‚äußersten Zeitpunkt‘ für den Urteilsspruch bestimmen. Wie es dazu kommen konnte, daß die Späteren unter suprema die ‚letzte Tageszeit‘ vor oder nach Sonnenuntergang verstanden, liegt aber gleichfalls auf der Hand. Nimmt man wie Censorinus und die anderen von Metzger angeführten Gewährsleute, Varro und Macrobius, den Zwölftafelsatz aus seinem Zusammenhang heraus, so ist nicht mehr ersichtlich, daß er den Sonnenuntergang als ‚äußersten Zeitpunkt‘ für den Urteilsspruch bestimmte; isoliert scheint er vielmehr den Sonnenuntergang zum ‚äußersten Zeitpunkt‘ des Tages zu erklären. Um Zweifel an dieser Bedeutung auszuschließen, hat Varro auch keine Bedenken, den überlieferten Wortlaut zu verfälschen92. War aber die suprema tempestas der ‚äußerste Zeitpunkt‘ des Tages, so lag es allerdings nahe, die angrenzende ‚Tageszeit‘ als die ‚äußerste‘ oder ‚letzte‘ zu bezeichnen. Die unterschiedlichen Vorstellungen über ihr Verhältnis zum Sonnenuntergang belegen zum Überfluß, daß suprema nicht die angestammte, sondern eine abgeleitete oder geliehene Bezeichnung des einen oder des anderen Zeitabschnitts ist. 7. Die Funktion des Eides. – War der Gerichtstag ordnungsgemäß vom Magistrat erteilt und vom Kläger sowohl dem Urteilsrichter wie dem Prozeßgegner angezeigt worden, mußte das Urteil bis Sonnenuntergang gesprochen werden. War es bis Sonnenuntergang nicht gesprochen, konnte es auch nicht mehr gesprochen werden, es sei denn, daß der iudex die Verhandlung vertagt, den Gerichtstag ‚zerteilt‘ hatte. War nicht oder nicht wirksam vertagt worden, war der Prozeß gescheitert, war das Urteil, das gleichwohl noch gefällt wurde, ohne jeden Belang. Der Eid, daß die diffissio erfolgt sei, den der iudex, bevor er urteilte, leisten mußte, sicherte mithin den Bestand des Urteils. Er war, seiner Natur nach, kein absolut wirkender Bestandsschutz; er konnte natürlich falsch sein. Aber die Gewähr, die er bot, war hoch. Einmal war die Behauptung, daß der Gerichtstag ‚zerteilt‘ worden ist, in praxi kaum, nämlich nur durch den Nachweis eines die Vertagung ausschließenden positiven Tatbestands zu widerlegen. Zum andern gab die Sanktion des Meineids der beschworenen Behauptung Dignität und Glaubwürdigkeit. Da nach den Eidesformeln auch der Lex Irnitana93 nicht nur bei Iupiter und den Penaten und den verstorbenen und vergötterten Kaisern, sondern auch beim Genius des regierenden Kaisers gepunkt. Rostra und Graecostasis werden in das 5. Jh. v. Chr. datiert, die columna Maenia wurde 338 v. Chr. errichtet; vgl. F. Coarelli, Il foro romano, I Periodo arcaico (1983) 138 ff.; auch J. Marquardt, Das Privatleben der Römer (2. Aufl. 1886, Nachdr. 1964) I 254 ff. 92 Varro l. l. 7. 51: Naevius: ‚patrem suum supremum optumum appellat.‘ supremum ab superrumo dictum: itaque duodecim tabulis dicunt: ‚solis occasu diei suprema tempestas esto.‘ libri augurum pro tempestate tempestutem dicunt supremum augurii tempus. Der Ablativ solis occasu (= nach Sonnenuntergang!) und das hinzugefügte diei markieren die Umdeutung. Der Schlußsatz (‚Die libri augurum nennen anstelle von tempestas den letzten Zeitpunkt für ein Augurium tempestus.‘) entspricht XII T. 1. 9, kann aber auch ‚varronisch‘ gelesen werden. – Außerdem Varro l. l. 6. 5: suprema summum diei, id ab superrimo. hoc tempus XII tabulae dicunt occasum esse solis. 93 Vgl. Kap. 25 III B 21 – 24; Kap. 26. III B 41 – 43; Kap. 59 VII A 3 – 5; Kap. 73 VIII B 37 – 39; Kap. 79 VIII C 54 – 57.

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schworen wurde, drohte bei Meineid die Anklage wegen crimen maiestatis. Wir halten fest: Der Eid des iudex schloß praktisch aus, das Urteil mit der Behauptung anzugreifen, daß die Verhandlung nicht ordnungsgemäß vertagt worden sei. Der Eid, daß die Verhandlung vertagt worden ist, sicherte mit dem Bestand des Urteils zugleich Identität und Kontinuität des Urteilsgerichts; denn er schloß auch den Einwand aus, die Verhandlung, in der das Urteil erging, sei nicht die Fortsetzung des ‚zerteilten‘ Gerichtstags gewesen; das Verfahren folglich nicht mit dem identisch, für das der Magistrat den Gerichtstag erteilt hat. Für den iudex selbst schließlich bewirkte der Eid in praxi den Ausschluß drohender Haftung94: zwar hatte er nicht, wie das Gesetz vorsah, an dem Tag, den der Magistrat mit der datio intertii als Gerichtstag erteilt hatte, vor Sonnenuntergang geurteilt; aber wie sein Eid fast unangreifbar bekräftigte, hatte er den Gerichtstag vor Sonnenuntergang ‚zerteilt‘. Bei wiederholter Vertagung muß Entsprechendes gegolten haben. 8. Der Termin zur Fortsetzung des Gerichtstages. – Diei diffissio ist der Wortbedeutung nach nur die ‚Spaltung‘ oder ‚Zerteilung des Gerichtstages‘. ‚Zerteilt‘ aber wurde er, um am nächsten oder einem späteren Kalendertag fortgesetzt zu werden. Wann er fortgesetzt werden sollte, mußte bestimmt werden. Der Gerichtstag wurde vom Magistrat durch Dekret erteilt, auf Antrag und auf den beantragten Kalendertag95. Es ist nicht ausgeschlossen, aber ganz unwahrscheinlich, daß er auch den Termin zur Fortsetzung des Gerichtstages gewähren mußte96; denn es ging ja nicht um einen neuen dies iudicii, sondern um Vertagung im erteilten Urteilstermin. Wenn der iudex den Gerichtstag ‚zerteilen‘ konnte und im Fortsetzungstermin die diffissio beschwören mußte, dann war es mit aller Wahrscheinlichkeit auch seine Sache, den neuen Termin zu bestimmen97. Der Magistrat mußte das intertium auf den vom Kläger benannten Tag erteilen; für den iudex ist dagegen anzunehmen, daß er über den Fortsetzungstermin unabhängig von der Zustimmung der Streitparteien entscheiden konnte. Eingeengt war er nur durch den Bestand des Urteilsgerichts, das in Irni 18 Monate nach seiner Einsetzung erlosch; bei Ablauf dieser Frist mußte das Urteil gesprochen sein; nach ihrem Ablauf war die Streitsache nicht mehr, wie die Irnitana es ausdrückt, in iudicio98. 9. Zusammenfassung. – Wir fassen zusammen, was wir der Verweisungsvorschrift des Kap. 91 über die Vertagung des Urteilsgerichts durch den Urteilsrichter entnommen haben. Die Vertagung war ein komplexer rechtlicher Vorgang, in dem 94 Lamberti 193 ff. und Labeo 36 (1990) 253 ff. stellt diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund. 95 J. G. Wolf, Intertium nach. A. 112. 96 So allerdings Kaser / Hackl 357 f. für den Fall, daß „die Verhandlung zum vorgesehenen Termin aus anerkanntem Grund nicht stattfinden“ kann, offenbar aber auch für die „Vertagung, wenn die Parteivorträge die Zeit erschöpft haben“ (358); auch G. Zanon, SDHI 58 (1992) 318 bei A. 40: daß nur der Magistrat den iudex ersetzen konnte, ist kein Argument. 97 A. Burdese, SDHI 57 (1991) 451; Lamberti 194 f. und Labeo 36 (1990) 254. 98 Vgl. nur Kaser / Hackl 352 f., auch 358 A. 34.

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das Gesetz sozusagen zwei Phasen unterscheidet: die diei diffissio selbst, ihre Verfügung durch den iudex, also ihre Vornahme, und die Beeidung der diei diffissio, auch durch den iudex, nach der Unterbrechung, in der Fortsetzung des Gerichtstages. Für beide Phasen wird auf das stadtrömische Recht verwiesen, das mithin beide Rechtsakte regelte, die eigentliche Vertagung und ihre Beeidung. Die Vertagung war an Gründe gebunden, die ein Gesetz vorsah, vermutlich die Lex Iulia iudiciorum privatorum. Die Gründe kennen wir nicht, erschließen aber, daß offenbar häufig vertagt wurde, weil der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif war. Nach wie vor galt der Zwölftafelsatz, daß am Gerichtstag, den inzwischen der Magistrat mit der datio intertii erteilte, das Urteil bis Sonnenuntergang gesprochen sein mußte; wurde die suprema tempestas verfehlt, konnte es nicht mehr gesprochen werden, es sei denn, daß der iudex den Gerichtstag ‚zerteilt‘ hatte. Hatte er auch die Vertagung versäumt, haftete er dem Kläger auf Schadensersatz. Alles spricht dafür, daß der Urteilsrichter mit der diffissio zugleich den Termin für die Fortsetzung des Gerichtstages verfügte. In diesem Termin mußte er, bevor er urteilte, beeiden, daß der dies iudicii wirksam ‚zerteilt‘ worden ist. Der Eid sicherte neben Identität und Kontinuität des Urteilsgerichts den Bestand des Urteils und bewirkte in praxi für den iudex den Ausschluß drohender Haftung.

IV. Die Vertagung ipsa lege 1. Der Sachverhalt. – Die XII Tafeln verfügten, daß der dies iudicii ohne weiteres ‚gespalten‘ sein sollte, wenn ‚schwere Erkrankung‘ oder ein ‚Gerichtstermin mit einem Fremden‘ den Urteilsrichter oder eine Prozeßpartei hinderte, im Termin zu erscheinen99. Für den morbus sonticus bezeugen Julian und Ulpian die Fortgeltung dieses Satzes im klassischen Formularprozeß100. Wir haben uns also für die Zeit der flavischen Stadtrechte Spaniens vorzustellen, daß der Gerichtstag, den der Magistrat mit der datio intertii erteilt und den der Kläger iudex und Beklagtem ‚denunziert‘ hatte, ipso iure ‚zerteilt‘ war, wenn einer von ihnen wegen ‚schwerer Erkrankung‘ am Gerichtstag nicht zur Verhandlung erschien101. Die Geltung unserer Verweisungsnorm auch für diese Sachverhalte wird durchweg nicht in Frage gestellt102. Nach ihrer Ausdrucksweise beschränkt sie sich nicht auf die Vertagung durch den Urteilsrichter. Die Passiva dies diffindatur diffissusve sit oder diem diffindi diem diffissum esse oder das Gerundium diem diffindendi können gleichermaßen von der Vertagung ope legis gebraucht sein. Kriterien können darum nur die Tatbestände s. oben A. 2. Iul D 42.1.60, Ulp D 2.11.2.3. 101 Unvereinbar mit der Überlieferung Kaser / Hackl 357: auch in diesem Fall habe der Magistrat die Vertagung verfügen müssen. Davon zu trennen ist die Frage, wer nach der ipso iure eintretenden diei diffissio den Termin für die Fortsetzung des Gerichtstages bestimmte; s. unten bei A. 106. 102 Kaser / Hackl 356 ff.; G. Zanon, SDHI 58 (1992) 317 A. 38. 99

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sein, für die auf das stadtrömische Recht verwiesen wird, oder der Gegenstand der Regeln, auf die verwiesen wird – soweit diese Tatbestände und Regeln denn greifbar sind. Die lex, die wie in Rom, so auch in Irni gelten soll (X B 3), ‚wenn vertagt werden muß oder vertagt worden sein muß‘ (X B 6 / 7), kann eben das Gesetz sein, das die diei diffissio verfügt: das Zwölftafelgesetz oder die Lex Iulia iudiciorum privatorum, die vermutlich dessen Verfügung erneuert hat und weitere Vertagungsgründe hinzugefügt haben könnte103. ‚Aus denselben Gründen‘ wie in Rom kann dann auch in Irni ipsa lege ‚vertagt werden oder vertagt worden sein‘ (X B 14). Nicht so glatt liegen die Dinge beim Eid. Giorgia Zanon vermutet, das Gesetz habe den Eid des iudex nur für den Fall vorgesehen, daß er selbst die Vertagung verfügt hatte, nicht also auch für den Fall der Vertagung ipsa lege104. Für diesen Vorschlag ließe sich anführen, daß die Vertagung durch das Gesetz nicht in der Verantwortung des iudex lag; gegen ihn aber auch einwenden, daß der iudex, wenn er selbst die diei diffissio verursacht hatte, durch eben den Eid außer Zweifel stellen konnte, daß ihn keine Verantwortung traf: daß die diffissio von Gesetzes wegen eingetreten und nicht, weil er ohne zureichenden Grund die Verhandlung nicht wahrgenommen hätte, von ihm die Vertagung versäumt worden war105. Hat der iudex selbst die diei diffissio verursacht, so ist also gut denkbar, daß er nach der Unterbrechung, in der Fortsetzung des ipso iure ‚zerteilten‘ Gerichtstages (in der nunmehr die Verhandlung beginnen konnte) den Vertagungsgrund beschwören mußte, etwa die ‚schwere Erkrankung‘, die ihn gehindert hatte, am angezeigten dies iudicii zur Verhandlung zu erscheinen. Nicht anders als im Fall der von ihm verfügten diffissio konnte er hier auf seinen Eid nehmen, daß der Vertagungsgrund, nämlich der Tatbestand, an den das Gesetz die diffissio knüpfte, wirklich gegeben war; und nicht anders als dort sicherte alsdann der Eid den Bestand des Urteils und schloß zugleich für den iudex die drohende Haftung aus; war er nämlich ohne zureichenden Grund ausgeblieben, ‚war weder vertagt noch geurteilt worden‘. Der Eid wäre allerdings überflüssig gewesen, wenn, wie vielfach angenommen wird106, den Termin zur Fortsetzung des ‚zerteilten‘ Gerichtstages nicht der iudex selbst, sondern der Magistrat bestimmt hätte; seine Aufgabe wäre es dann gewesen, die Vertagung zu prüfen. Gegen seine Zuständigkeit spricht indessen, daß der dies iudicii, den er erteilt hat, keineswegs aufgehoben war und erneut erteilt werden mußte, sondern eben nur 103 Kaser / Hackl 116, 357. Zur Anschauung vgl. den Katalog der Gründe, die nach der Lex Ursonensis, Kap. 95, col. 2, Z. 19 ff. und 28 ff. den Magistrat und ebenso (was leicht übersehen wird, vgl. nur Kaser / Hackl 116 A. 13) den Privatmann entschuldigen, der vor Rekuperatoren für den populus eine Mult einklagen will und im angesetzten Termin nicht erscheint, vgl. Crawford, in: Roman Statutes I 442. Wie erinnerlich gilt die Verweisungsnorm des Kap. 91 nur für Verfahren vor dem Einzelrichter, vgl. o. A. 46. 104 SDHI 58 (1992) 317 A. 38; s. auch schon A. Burdese, SDHI 57 (1991) 452. 105 Cicero verwendet in den Atticus-Briefen zweimal morbum iurare (1.10 [1].1; 12.12 [13].2) in der Bedeutung: die erwartete Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung (einmal an der Bewerbung um das Konsulat, das andere Mal an einem Bankett des Augurnkollegiums) mit Entschuldigung absagen; vgl. Metzger 144 A. 5. 106 Kaser / Hackl 357 mit Gewährsleuten in A. 22.

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‚zerteilt‘ war; und daß die diei diffissio, wo nicht das Gesetz sie verfügte, in der Kompetenz des iudex lag. Ist dagegen eine Prozeßpartei am angezeigten dies iudicii nicht zur Verhandlung erschienen, wird in aller Regel gegen sie ein Versäumnisurteil ergangen sein107. Dieses Urteil war aber nichtig, wenn die Prozeßpartei wegen ‚schwerer Erkrankung‘ ausgeblieben war; dann nämlich war der Gerichtstag ‚zerteilt‘ und damit die Verhandlung ausgesetzt. Machte die ausgebliebene Partei mit dem Vertagungsgrund die Nichtigkeit des Urteils geltend, indem sie die Fortsetzung des ‚zerteilten‘ Gerichtstags verlangte, mußte sie den Vertagungsgrund beweisen, also ihre ‚schwere Erkrankung‘ zur Überzeugung des Richters bringen. Denn sein officium erlaubte dem iudex, einen Termin zur Fortsetzung des dies iudicii nur dann zu bestimmen, und verpflichtete ihn dann freilich auch, wenn er sich überzeugt hatte, daß ein Vertagungsgrund gegeben und darum der Gerichtstag ‚gespalten‘ und das Versäumnisurteil nichtig war. Er konnte in diesem Fall zwar nur beschwören, daß nach seiner Überzeugung der gesetzliche Vertagungstatbestand vorgelegen habe. Das aber mochte auch genügen. Nehmen wir die Irnitana beim Wort, so war Eidesthema, ‚daß der Gerichtstag zerteilt worden ist‘ (X A 49 / 50). Und diesen Eid konnte er auch leisten, wenn er von der ‚schweren Erkrankung‘ der ausgebliebenen Prozeßpartei lediglich berichtet und überzeugt war. Auch hier sicherte der Eid den Bestand des nach nunmehr streitiger Verhandlung ergangenen Urteils. Denn nur bei eingetretener Vertagung war das Versäumnisurteil nichtig und der Weg für ein streitiges Urteil frei. Haftung, weil ‚weder vertagt noch geurteilt worden war‘, drohte in dieser Konstellation dem iudex freilich nicht. Ziehen wir die Summe, so spricht viel dafür, daß die Verweisungsnorm des Kap. 91 nicht nur für die diffissio durch den Urteilsrichter, sondern auch für die von Gesetzes wegen eintretende Vertagung galt. Es wäre auch nicht einzusehen, wenn die Irnitana diem diffendendi, ‚wegen der Spaltung des Gerichtstages‘, auf das stadtrömische Prozeßrecht verweist und die gesetzliche diei diffissio nicht einschlösse.

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Kaser / Hackl 374.

Iudex iuratus* I. Die Lex Irnitana verweist in Kap. 91 für eine Reihe von Einrichtungen des Verfahrens apud iudicem auf das stadtrömische Prozeßrecht. Zu den Instituten, für die auch in Irni gelten soll, was in Rom für sie gilt, gehört ein Eid, den der Iudex schwört, bevor er urteilt. Auf ihn richtet sich das Interesse dieser Untersuchung. Als Beitrag zur Festschrift für Juan Miquel ist sie ein Zeichen unserer freundschaftlicher Verbundenheit seit mehr als vierzig Jahren. Die Verweisung in der Form der Fiktion geschieht merkwürdigerweise zweifach: für dieselben prozessualen Institute wird zweimal, in zwei strukturell gleichen und weithin auch gleichlautenden Versionen1 die Geltung des stadtrömischen Prozeßrechts angeordnet. In der Edition von Francesca Lamberti lauten Rubrik (X A 42 – 44) und erste Version (X A 45 – X B 9)2: X A 42 43 44 45 46 47

R(ubrica).Quo iure intertium denuntietur, dies diffindatur diffi‚s‘susve sit, res iudicetur, lis iudici3 damni sit, res in iudicio esse desinat. Quacumque de re priuata iudices arbitri in eo municipio dati subditi addictiue h(ac) l(ege) erunt, is iudicibus arbitris‚ve‘ et is, quos inter ii iudices arbitrive dati subditi addictive

* Mit abgekürztem Titel oder nur mit dem Namen des Autors werden zitiert:

F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico (Sevilla 1990); J. González, The Lex Irnitana: A New Copy of the Flavian Municipal Law (mit einer englischen Übersetzung von M. Crawford), JRS 76 (1986) 147 – 243; M. Kaser, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., neu bearbeitet von K. Hackl (München 1996); F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (Napoli 1993); W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche (1900, Nachdr. 1967); D. Mantovani, La ‚diei diffissio‘ nella ‚Lex Irnitana‘, in: Iuris Vincula, Studi in onore di Mario Talamanca (Napoli 2002) V 213 – 272; Mommsen, Die Stadtrechte der latinischen Gemeinden Salpensa und Malaca in der Provinz Baetica (1885), Ges. Schr. I (1904, 2. unv. Aufl. 1965) 265 – 382; J. Paricio, Sobre la administación de la justicia en Roma, Los juramentos de los jueces privados (Madrid 1987); J. G. Wolf, Diem diffindere: Die Vertagung im Urteilstermin nach der Lex Irnitana, in: P. McKechnie (Hgb.), Thinking like a lawyer, Essays on Legal History and General History for John Crook on His Eightieth Birthday (Leiden 2002) 15 – 41. 1 Eine aufgliedernde Darstellung des Textes Diem diffindere 21 f. 2 Lamberti 362 / 4 verzeichnet auch die Konjekturen der älteren Ausgaben. Weithin übereinstimmend J. G. Wolf, Intertium, und kein Ende?, BIDR 100 (2003) bei A. 16; Diem diffindere 19 f. 3 IUDICII, aes.

Iudex iuratus

XB

99

48 49 50 51 52 53 54

h(ac) l(ege) erunt, de ea re intertium aduersario iudici arbitrove in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos4 iurandi, antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi, per quos dies et ubi ex h(ac) l(ege) licebit oportebit, et si neque dies diffi‚s‘sus neque iudicatum fuerit, uti lis iudici arbitrove damni sit, et si intra it tempus, quod legis Iuliae, quae de iudici‚i‘s privatis proxime lata est, kapite XII

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

senatusve consultis [[…d et kaput]]5 ad it kaput legis pertine ntibus conpr‚e‘hensum est, iudicatum non sit, uti res in iudicio non sit, siremps lex resque6 esto adque7 uti esset si eam rem in urbe Roma praetor p(opuli) R(omani) inter cives Romanos iudicari iussisset et de e(a) r(e), ex ‚quacumque‘8 lege rogatione9 quocumque plebis scito iudicia privata in urbe Roma fient, agi, fieri, denuntiari, diem diffindi10, diem diffi‚s‘sum esse, iudicari, litem iudici damni esse, rem in iudicio non esse oporteret, praeter quam quod per alios dies et alio loco h(ac) l(ege) denuntiari, rem iudicari, diem diffindi oportebit.11

Die zehnte Tafel der Irnitana ist nachlässig gearbeitet12, unser Textstück von sinnentstellenden Fehlern aber nahezu frei; die Ausnahme DIES DIFFISI (X A 49 / 50)13: DIFFISI, aes. Radiert. 6 LEX·R·ITQUE·ESTO, aes; lamberti liest indessen statt ITQUE etque; i in ITQUE vermutlich über einem radierten Buchstaben. Vgl. Z.18: ius esto; Lex Rubria cap. XXI tab. II 10 f. und 40 f.: siremps lex res ius caussaque … esto. 7 ADQUEM, aes. 8 So Z.19 / 20: ex … quacumque lege. 9 ROGATIONEM, aes. 10 DIFFINDENDI, aes. 11 Die hier anschließende zweite Version (X B 10 – 24) wiederholt die erste nicht im Wortlaut; vielmehr ist sie gegenüber der ersten einerseits zweckmäßig von Einzelheiten entlastet und verkürzt, andererseits aber auch um wesentliche Umstände, zwei Ortsbestimmungen und eine Kalendervorschrift, erweitert. Um, vermutlich, mit diesen Details den ohnehin unübersichtlichen ersten Satz nicht vollends zu überladen, wiederholte man lieber die Vorschrift und fügte dem Doppel die – offenbar nachträglichen – Ergänzungen hinzu; dazu ausführlich Diem diffindere 22 – 26. 12 Fernández / del Amo 65 ff. 13 Die Korrektur (González 179; Lamberti 362 / 4) der passiven Perfektformen diffisus (X A 42 / 3), diffisi (50); diffisus fuerit (52), diffisum esse (X B 7) und diffisus sit (14) in diffissus und diffissum ist nicht angebracht. Die Lexika (Forcellini; Georges; Oxford Latin Dictionaray) haben zwar durchweg diffissus, diffissum. In der Rechtssprache ist indessen mehrfach diffisus, diffisum belegt: Ulpian D 2.11.2.3; P. Antinopolis 1. 22, recto col. I 6; Ps.-Arco in Hor. Serm. 2. 1. 79; s. auch Mommsen in Bruns, Fontes7 20 zu XII T. II 2. Dazu R. Kühner / F. Holzweissig, Ausführliche Grammatik der lat. Sprache, Elementa-, Formen- und Wortlehre (2. Aufl. 1912, Nachdr. 1966) 181 unter f., 210; M. Leumann, Lat. Laut- und Formenlehre (5. Aufl. 1926 – 28, Neuausgabe 1977) 615 unter I A 1 c. Diese Überlieferung berücksichtigt bisher nur Mantovani passim. 4 5

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der Nominativ dies diffisi steht mit dem Kontext ersichtlich nicht in Einklang. Julián Gonzáles14 vermutete, daß DIFFISI für diffissos verschrieben sei, der Iudex also, wenn die Verhandlung vertagt worden war, die diei diffissio beschwören mußte, bevor er urteilte.15 Mit dieser Konjektur fügt sich die Klausel in die Reihe der Prozeßhandlungen, f ü r die auf das stadtrömische Recht verwiesen wird, unauffällig ein: intertium aduersario iudici arbitroue in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, dies diffissos iurandi antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi, per quos dies et ubi ex hac lege licebit oportebit

Die Konjektur ist denn auch von Lamberti ohne weiteres übernommen, in späteren Untersuchungen16 unbesehen vorausgesetzt und selbst da nicht in Frage gestellt worden, wo sich ergab, daß sie eine bündige Erklärung des Eides nicht zuläßt, wenn die Vertagung nicht vom Iudex verfügt wird, sondern ipsa lege eintritt.17 Diese Crux vermeidet der Vorschlag Mantovanis, den Eid nicht auf die diei diffissio zu beziehen, sondern auf das Urteil, dem er vorausgehen mußte. Mantovani vermutet, daß nicht DIFFISI verschrieben ist18, sondern DIES für diei. Mit dieser Konjektur lautet der Katalog: intertium aduersario iudici arbitroue in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, diei diffisi, iurandi antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi, per quos dies et ubi ex hac lege licebit oportebit.

Der Vorschlag Mantovanis ist der bisherigen Lösung schon darum überlegen, weil mit diem diffindendi, diei diffisi der Katalog sowohl den Angaben der Rubrik (X A 42 / 43) Quo iure intertium denuntietur, dies diffindatur diffisusve sit, res iudicetur

entspricht, wie vor allem auch der Liste der Prozeßhandlungen, auf deren stadtrömische Regelung verwiesen wird (X B 5 ff.): S. 179, 235. Dieselbe Überlegung bestimmt offenbar die großzügige Lesung (X A 49 / 50) diem diffindi, diem diffusum iurare ante quam iudicent von A. d’Ors, SDHI 48 (1982) 374; La ley Flavia municipal (Romae 1986) 88, 179; A. d’Ors / J. d’Ors, Lex Irnitana, Cuadernos compostelanos de derecho romano 1 (Santiago de Compostela 1988) 79. 16 T. Gimènez-Candela, Los Llamados Cuasidelitos (Madrid 1990) 38 ff.; A. Rodger, The Lex Irnitana and Procedure in the Civil Courts, JRS 81 (1991) 86 f.; A. Burdese, Rez. Giménez-Candela: Los Llamados Cuasidelitos, SDHI 57 (1991) 451 f., sowie: In margine alla responsabilità del iudice in diritto romano, Fraterna munera in on. Di Luigi Almirante (1998) 61; G. Zanon, De intertium dando, SDHI 58 (1992) 317 A. 38; K. Hackl, Rez. Metzger: A New Outline of Roman Civil Trial, SZ 116 (1999) 388; Diem diffindere 19. 17 J. G. Wolf, Diem diffindere 39 ff. 18 Auch nicht für dffissi, vgl. o. A. 13. 14 15

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de ea re agi, fieri, denuntiari, diem diffindi, diffisum esse iudicari.

Im übrigen bekräftigt die Klausel diem diffindendi, diei diffisi die fortdauernde Geltung und Praxis der ‚Spaltung des Gerichtstages‘, und zwar der beiden Modi der diei diffissio, die wir unterscheiden müssen: die Vertagung durch den Urteilsrichter und die Vertagung, die ipsa lege eintritt; beide sind für das 1. und 2. Jahrhundert sicher belegt.19 Der Eid dagegen gibt uns Fragen auf. Daß er nur in der ersten Version der Verweisung und hier (X A 50) nur im Katalog der Institute aufgeführt wird, f ü r die das Statut auf den stadtrömischen Prozeß verweist, ist kein Sachproblem, sondern mit anderen Diskrepanzen aus der unstrengen Organisation der Norm zu erklären.20 Von allgemeiner Bedeutung sind jedoch Gegenstand und Zeitpunkt des Schwurs. Der Iudex soll den Eid leisten, bevor er urteilt, was zugleich nahe legt, daß sein Urteilsspruch auch der Gegenstand des Eides ist. Diese Nachricht ist mit der Vorstellung unvereinbar, derentwegen wir vom iudex als dem ‚Geschworenen‘ sprechen und von der Ordnung der ordentlichen Gerichtsbarkeit als einer ‚Geschworenenverfassung‘. II. Seit den ersten modernen Darstellungen des römischen Gerichtsverfahrens gilt als ausgemacht und fast durchweg auch der weiteren Rede nicht wert, daß der Iudex vereidigt wurde und den Eid „vor Beginn seines Geschäfts“ (Bethmann-Hollweg21), „vor dem Antritt seiner Verrichtungen“ (Keller22), „vor der Sachverhandlung“ (O. Behrends23) leisten mußte; nach Kaser24, „gemäß der Wahrheit und den Gesetzen zu verfahren“.25 Nachweise Diem diffindere 15 f., 39. Mein Erklärungsversuch Diem diffindere 30 ist, wie sich versteht, nach Mantovanis überzeugender Konjektur gegenstandslos. 21 M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß I (1864) 67: „Ein Geschworener ist der Judex im eigentlichen Sinne vermöge des Eides, den er vor Beginn seines Geschäfts leistet: den Gesetzen und der Wahrheit gemäß verfahren und urtheilen zu wollen“; II (1865) 586 f.; 627 f. zur Form der Urteilssprüche: „Eine ausdrückliche Beziehung auf den zu Anfang geleisteten Eid scheint nicht statt gefunden zu haben“; s. auch II 107 bei A. 60. 22 F. L. v. Keller, Der römische Civilprozeß und die Actionen, 6. Aufl. bearbeitet von A. Wach (1983) 46 / 47. 23 O. Behrends, Die römische Geschworenenverfassung (1970) 15 f.; ablehnend in seiner Rezension W. Kunkel, SZ 92 (1975) 371 mit A. 8. 24 Kaser / Hackl (1996) 358 – unverändert gegenüber der 1. Aufl. (1966) 273; Verweisungen führen von § 6 III a. E. (S. 51) nach § 17 A. 8 (S.114) und von dort nach § 52 III 2 (S. 358). 25 Die Reihe läßt sich fortsetzen: A. Guarino, Diritto privato romano (11. Auf. 1997) 258; Cardilli, Designazione e scelta del iudex unus alla luce della lex Irnitana, Atti Lincei (1992) 19 20

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So sicher ist man der Sache, daß Mommsens abweichende Meinung kaum zur Kenntnis genommen wird.26 Mommsen äußert sie in seinem ‚Strafrecht‘ in einer Anmerkung zur ‚Constituierung des Geschworenengerichts‘27. Schon früh sei wohl üblich geworden, „dass der Private, welcher in einem Rechtshandel urtheilte oder stimmte, seine gewissenhafte Ueberzeugung eidlich bekräftigte“. Seine Überzeugung eidlich bekräftigen konnte er aber nicht „vor Beginn seines Geschäfts“, sondern erst nach der Sachverhandlung, wenn er sich anschickte, das Urteil zu sprechen. Zur ausdrücklichen Kritik der Gegenmeinung fügt Mommsen für den „Privatgeschworenen“ denn auch eigens hinzu, daß dieser Eid „durchaus … nicht vor dem Eintritt in die Verhandlung geleistet (wurde), sondern bei Abgabe des Spruchs“.28

52; A. d’Ors, Derecho privado romano (7. Aufl. 1989) 146; C. A. Cannata, Profilo istituzionale del processo privato romano, II. Il processo formulare (1982) 181 f. Ausführlich behandelt nur Paricio 61 ff. „el iusiurandum que en el momento de su nombramiento como encargados de dirimir la controversia debían prestar los jueces privados“. L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozeßrechts (1925), spricht zwar unentwegt vom ‚Geschworenen‘ und dem ‚Geschworeneninstitut‘, auch von der ‚Geschworenenliste‘ und dem ‚Geschworenendienst‘ und der ‚Verhandlung und Urteilsfällung vor dem Geschworenen‘ (49), über den Schwur selbst aber gibt er keine Auskunft. A. Steinwenter, RE IX 2 (1916) 2464, definiert eingangs den Iudex als den ‚Geschworenen des römischen Privatprozeßrechtes‘, läßt uns aber auch unbelehrt über den Schwur. Andere Darstellungen des Prozeßrechts vernachlässigen den Eid überhaupt. A. H. J. Greenidge, The Legal Procedure of Cicero’s Time (1901, Neudruck 1971) 270: „His first act was, perhaps, to take the oath“; A. Pernice, Parerga, SZ 20 (1899) 146. 26 Zustimmend allerdings W. Kunkel, SZ 92 (1975) 371 A. 8 gegen O. Behrends (o. A. 23). 27 Römisches Strafrecht (1899, Nachdr. 1955) 395 m. A. 2. 28 Für die Richter der Geschworenengerichte hätten später die einzelnen Akkusationsordnungen allerdings bestimmt, daß sie den gleichen Eid auch vor Beginn der Verhandlung ablegten. Mommsen (Strafrecht 219, 395) beruft sich dafür in erster Linie auf Lex repetundarum 36. Dort bestimmte das Gesetz, daß diejenigen, die in einem Prozeß Richter sein würden, vor der ersten der beiden vorgeschriebenen Verhandlungen (quei in ea]m rem ioudices erunt, ante primum caussa d[icetur) etwas zu tun haben; Mommsen ergänzt: [Praetor … apud se iourent facit]o. Die Konjektur stützt sich vermutlich auf Z. 37 und 38, wo vorgesehen war, daß die Richter pro rostreis in forum [vorsus] etwas tun sollten; Mommsen ergänzt: iuranto. Und weiterhin, daß sie die Zeugen anhören (utei testium … verba audiat) und auch vermeiden sollten, was sie hindern könnte zu urteilen. In Z. 44 ist indessen gut leserlich erhalten, daß (vermutlich) der Praetor (vermutlich) die Richter vereidigen soll, bevor sie gehen werden: an]te quam ibunt, facito iurent; Mommsen ergänzt: in consilium, ‚zur Beratung und Abstimmung‘. Mommsen verweist außerdem auf Cic. inv. 1.30.48: Religiosum est quod iurati legibus iudicarunt (hinzuzufügen wäre 1.39.70: qui ex lege iurati iudicatis); pro Sex. Rosc. 3.8: per quorum sententias iusque iurandum id adsequatur; und 52.152: in vestro iure iurando; Verr. act. I 10.32: malim et iurato suam quam iniurato aliorum tabellas committere; und 13.40: signis iuratorum hominum sententiae notarentur; act. II 1.4.9: qui iustum … iurati sententia sua liberarint; und 5.8.19: iuratorum iudicum sententiis damnare oportere. Die Texte bedürfen natürlich näherer Untersuchung; zu Cic. Verr. act. I 10.32 indessen schon F. Milazzo, In legem non iurare, FS J. G. Wolf (2000) 192 f. A. 43. Soweit ich sehe, erfordert keiner dieser Belege die Annahme eines zweiten Eides vor Beginn der Verhandlung. Auch die Ausdrucksweise (iurati iudicant) spricht für diese Vermutung, vgl. unten V. 1.

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Beide Seiten nehmen für ihre Auffassung weithin dieselben Quellen in Anspruch. Auf sie gehen wir darum zunächst ein. Mit Mantovanis Konjektur könnte schließlich die Lex Irnitana die Kontroverse endgültig zugunsten Mommsens entscheiden.

III. 1. Kein Text wird so beständig und gewißlich als Beleg angeführt, wie das Prooemium der Konstitution Justinians C 3. 1. 14 pr. (a. 530) Rem non novam neque insolitam adgredimur, sed antiquisquidem legislatoribus placitam, cum vero contempta sit,non leve detrimentum causis inferentem. cui enim non estcognitum antiquos iudices non aliter iudicialem calculumaccipere, nisi prius sacramentum praestitissent omnimodosese cum veritate et legum observatione iudicium essedisposituros?

Justinians Reminiszenz wird nicht bezweifelt und mit der gleichen Bestimmtheit unterstellt, daß zu seinen antiqui iudices nicht nur die Richter der iudicia publica, der öffentlichen Strafgerichte, gehören, sondern auch der Iudex des Formularverfahrens. Die Ausdrucksformen des Prooemiums sind indessen ungewöhnlich: iudicialem calculum accipere ist so ungebräuchlich wie iudicium disponere.29 In den Konstitutionen ist seit Diokletian calculus in den Verbindungen deteriorem calculum reportare30, calculum ponere31 und aliquem a deteriore calculo eripere32 das ‚Urteil‘.33 Dieser Bedeutung liegt die griechische (für Rom redensartlich belegte) Tradition zugrunde, in Volksversammlungen und Gerichten (für den Areopag anschaulich Aischyl. Eum. 566 ff., insb. 674 / 5, 680, 709, 734 / 5, 748 ff.) mit Steinen abzustimmen: Mos erat antiquus niveis atrisque lapillis, his damnare reos, illis absolvere culpa (Ov. met. 15. 41 / 2). Iudicialem calculum accipere wird darum bedeuten: ‚die Befugnis zum richterlichen Urteil erhalten‘. Accipere entspricht gewöhnlich einem dare oder tradere. Die Befugnis zu urteilen erhielte der Iudex mithin ‚erteilt‘. In § 1 der Konstitution bestimmt Justinian (sancimus) aber in der gleichen Ausdrucksform: generaliter omnes omnino iudices … non aliter litium primordium accipere, nisi prius ante iudicialem sedem sacrosanctae deponantur scripturae: et hoc permaneat non solum in principio litis, sed etiam … usque ad ipsum terminum. Hier möchte man eher übersetzen: ‚daß die Richter nur dann den Prozeß eröffnen dürfen, wenn zuvor die heiligen Bücher vor dem Richterstuhl niedergelegt werden‘. Sacrosanctae deponantur scripturae ist offenbar die metonymische Umschreibung der Eidesleistung.34 Denn alsbald, in § 3, heißt es: et hoc quidem iusiurandum iudiciale sit omnibus notum. Der Ausdruck iudicialem calculum accipere 29 Esse könnte auch zu iudicium gehören und von disposituros abhängen; näher liegt jedoch, daß esse zu disposituros gehört; die invertierte Stellung ist nicht ungewöhnlich. 30 C 7. 62. 10 Diocl. et Maxim. (a. 294); C 12. 29. 3. 5 Zeno. 31 C 2. 55 5 pr. Iust. (a. 530). 32 C 5. 59. 4 Iust. (a. 531). 33 So wie yÁfoj ‚Steinchen‘ auch ‚Stimmstein‘ und ‚Urteil‘ ist; vgl. Forcellini (Patavii 1771) s.v. calculus i.f.; Oxford Classical Dictionery s.v. calculus 5a. 34 Paricio 69; C 2. 58. 2 pr. (a. 531): Cum et iudices non aliter causas dirimere concessimus nisi sacrosanctis evangeliis propositis.

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kann darum auch einfach bedeuten: ‚urteilen dürfen‘. Nach allem ist also die Bedeutung der Klausel nicht eindeutig festzulegen. Iudicium kann das ‚Verfahren‘, kann aber auch das ‚Urteil‘ sein. Disponere wird in den Konstitutionen vornehmlich von der Gesetzgebung des Kaisers35, häufig von der letztwilligen Verfügung des Testators36, gelegentlich von einer Entscheidung Papinians37 oder Ulpians38 gebraucht. Doch weder das ‚Verfahren‘ noch das ‚Urteil‘ wurde vom iudex des Formularverfahrens ‚angeordnet‘ oder ‚verfügt‘ oder ‚entschieden‘. Vom Iudex gesagt, wird man iudicium disponere sowohl übersetzen können ‚das Verfahren durchführen‘ wie auch ‚das Urteil fällen‘. Im Kontext ist die eine wie die andere Bedeutung plausibel.

Der Schwur, der nach Justinian dem Iudex abverlangt wurde, lautete danach: entweder ‚wahrhaft und gemäß den Gesetzen das Verfahren durchzuführen‘ oder ‚wahrhaft und gemäß den Gesetzen das Urteil zu fällen‘; und mithin Justinians Nachricht: daß ‚der Iudex die Befugnis zu urteilen nur erhielt‘ oder daß er ‚nur urteilen durfte‘, wenn er zuvor diesen Schwur leistete. Im Formularprozeß, wie er bis in das 3. Jh. n. Ch. in Geltung und Übung war, schloß die Verhandlung in iure mit der Einsetzung des Urteilsgerichts. Sie erfolgte durch das iudicium dare-Dekret des Magistrats. In diesem Dekret ernannte der Magistrat den Urteilsrichter (‚Titius iudex esto‘) und wies ihn an, nach Maßgabe des in der formula vorgegebenen Streitprogramms zu urteilen: den Beklagten entweder zu verurteilen (‚Si parret … condemnato‘) oder loszusprechen (‚Si non parret absolvito‘).39 Wer die allgemeinen Voraussetzungen erfüllte40, konnte, ohne daß er zugegen war41, selbst ohne sein Wissen42, zum Urteilsrichter bestellt werden. Auf den Iudex des Formularverfahrens, der mit seiner Ernennung die Befugnis zu urteilen erhielt, trifft mithin Justinians Rückerinnerung allenfalls zu, wenn wir sie dahin verstehen, daß er ‚nur urteilen durfte‘, wenn er vorher, also bevor er urteilte, den Eid leistete. Und daß er ihn „vor dem Antritt seiner Verrichtungen“ (Keller) leisten mußte, würde die Konstitution nur dann belegen, wenn gewiß wäre, daß er auf das Versprechen schwor, ‚wahrhaft und gemäß den Gesetzen das Verfahren durchzufühVgl. nur C 2. 58. 2 pr. (a. 531) oder C 8. 36. 5. 1 (a. 532) oder C 7. 63. 5. 4 (a. 529). Vgl. nur C 7, 4, 16, 2 (a. 530). 37 C 7, 45, 14 (a. 529). 38 C 6. 51. 1. 9 (a. 530). 39 Vgl. die Kondiktionen des C. Sulpicius Cinnamus: TPSulp. 31; zu ‚Judikationsbefehl‘ und Richterbestellung J. G. Wolf, SDHI 45 (1979)154 ff. 40 Wie Mindestalter, geistige Gesundheit u. a. Mit der Aufnahme in die Richterliste war die Tauglichkeit zum Richteramt ein für alle Mal festgestellt; sie war bekanntlich an andere Voraussetzungen gebunden als die Bestellung eines ‚listenfremden‘ Richters; vgl. etwa Kaser / Hackl 193 ff.; G. Pugliese, Il processo civile romano II / 1 (Milano 1963) 221 ff., 228 ff. 41 Kaser / Hackl 286 f. 42 Bethmann-Hollweg (o. A. 21) 460; Keller (o. A. 22) 46 f.; anders offenbar Kaser / Hackl 286 f., 293 f. Den Vorschlag eines listenfremden Richters werden die Parteien zweckmäßig und in aller Regel mit ihrem Kandidaten abgesprochen haben. Vermutlich mußten sie auch seine Tauglichkeit darlegen oder nachweisen. Von der Tauglichkeit ist die excusatio zu unterscheiden; sie hatte ihre eigenen Voraussetzungen. 35 36

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ren‘43; denn ‚wahrhaft und gemäß den Gesetzen das Urteil zu fällen‘, konnte er auch noch „bei Abgabe des Spruchs“ (Mommsen) beschwören. Wenn wir der Literatur folgen und zuversichtlich unterstellen, daß Justinians Erinnerung den Formularprozeß einschloß, dann bezeugt zwar die Konstitution, daß der Iudex einen Eid leistete; läßt aber offen, wann er diesen Eid leistete: „vor dem Eintritt in die Verhandlung“, wie die meisten annehmen, oder erst, wenn er sich anschickte, das Urteil zu sprechen.44 Da das Prooemium nicht historischem Interesse verpflichtet ist, sondern der ideologischen Legitimation der eigenen Gesetzgebung dient, ist diese ‚offene‘ Ausdrucksweise der Konstitution nicht verwunderlich. Sie könnte allerdings auch beabsichtigt sein. Denn die Richter der öffentlichen Strafgerichte wurden allerdings (auch) vor Eintritt in die Verhandlung vereidigt, und Justinian ordnet in C 3. 1. 14. 1 diese Eidesleistung generell, für alle Richter an.

2. Neben Justinians Konstitution wird als zweiter Beleg fast durchweg angeführt Cic. de off. 3. 43 – 44 At neque contra rem publicam neque contra ius iurandum ac fidem amici causa vir bonus faciet, ne si iudex quidem erit de ipso amico; ponit enim persona amici, cum induit iudicis. Tantum dabit amicitiae, ut veram amici causam esse malit, ut orandae litis tempus, quoad per leges liceat, accomodet. (44) Cum vero iurato sententia dicendast, meminerit deum se adhibere testem, id est, ut ego arbitror, mentem suam, qua nihil homini dedit deus ipse divinius.

Ciceros Thema sind die officia in amicitiis. Der bonus vir wird aus Freundschaft nicht gegen das Gemeinwesen und auch nicht gegen Eid und Gelöbnis handeln.45 Wird er gar zum Richter über seinen Freund bestimmt, wechselt er aus der Rolle des Freundes in die des Iudex. Dem Richter obliegt es zu urteilen: iurato sententia dicendast. Cicero benennt ihn nicht mit seiner eigentlichen Bezeichnung, nicht mit iudex, sondern nach einer Eigenschaft, die ihm also eigentümlich sein muß, als iuratus, als ‚einen, der geschworen hat‘.46 Wann der Iudex den Schwur leistet, ist dem Text nicht mit Bestimmtheit zu entnehmen. Auch wenn er den Eid vor dem Eintritt in die Verhandlung leistete, spricht er das Urteil als iuratus. Allerdings wird sententiam dicere sozusagen in einem Atemzuge mit dem Schwur genannt, werden in der Klausel iurato sententia dicendast Eid und Urteilsspruch sprachlich so miteinander verbunden, als gehörten sie zusammen.47 Dieser Zusammenhang ist auch 43 Entsprechend übersetzt Paricio 68: „… jueces no deban sentencia sino habiendo prestado juramento de que iban a proceder enteramente en el juicio …“. 44 Mommsen, Strafrecht (o. A. 27) 395 A. 2; W. Kunkel, SZ 92 (1975) 371 A. 8; SZ 85 (1968) 317 A. 148 scheint Kunkel anzunehmen, daß sich C 3.1.14 pr. nicht auch auf den klassischen Formularprozeß bezieht; Mantovani 265. 45 Unter anderem Gesichtspunkt geht auf diesen Text näher ein Paricio 80 ff. 46 Das Part. Perf. Pass. iuratus hat aktivische Bedeutung: H. Menge, Repertorium der lateinischen Syntax und Stilistik, bearbeitet von A. Thierfelder (17. Aufl. 1979) Zweite Hälfte 193 Nr. 300; zur Substantivierung des Adjektivs ebd. 132 Nr. 180. 47 Das Gerundiv mit dem Dat. Auctoris betont, daß der Iudex gerade als iuratus urteilen muß, daß er bei seinem Urteilsspruch unter der besonderen Anforderung seines Eides steht: Kühner / Holzweissig (o. A. 13) 700; R. Kühner / C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lat.

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das Motiv, das der Kontext ausführt. Denn es ist ja der Schwur, durch den der Richter Gott und mit ihm sein eigenes ‚Gewissen‘ zum Zeugen seines Urteilens macht: meminerit deum se adhibere testem, id est, ut ego arbitro, mentem suam. Auch diese Folgerung Ciceros legt nahe, daß sich die Eidesleistung spezifisch auf den Urteilsspruch bezog und ihm unmittelbar vorausging.48 Diese Interpretation stützt die Inschrift von Histonium.49 Dem privaten Schiedsspruch geht folgende Einleitung voraus: C. Helvidius Priscus, arbiter ex conpromisso inter Q. Tillium Eryllum procurato rem Tilli Sassi et M. Paquium Aulaium actorem municipi Histoniensium, utrisq(ue) praesentibus iuratus sententiam dixit in ea verba, q(uae) inf(ra) s(cripta) s(unt):

Der arbiter ex compromisso Helvidius Priscus hat das Urteil gesprochen in Anwesenheit der beiden Streitparteien als iuratus, als ‚einer, der geschworen hat‘. Die Stellung von iuratus nicht beim Subjekt des Satzes, sondern erst unmittelbar vor dem Prädikat ist hier besonders auffallend; sie bringt offenbar eine Eigenschaft des arbiter zum Ausdruck, die in engster Verbindung zum Prädikat steht.50 Wenn, wie wahrscheinlich, Ciceros iurato sententia dicendast auf den formularen Gebrauch der Wortverbindung zurückgeht, dann dürfen wir davon ausgehen, daß Praxis und Funktion des Richtereides im privaten Schiedsgericht keine andere war, als im ordentlichen Zivilprozeß.51 3. Im zweiten Buch der Academica priora verteidigt Cicero gegen das Vermögen unbedingter, sicherer Erkenntnis der Wahrheit die Skepsis der Neuen Akademie, Sprache, Satzlehre (4. Aufl. 1962) I 324, 729 f.; J. B. Hofmann / A. Szantyr, Lat. Syntax und Stilistik (1965, verb. Nachd. 1972) 96 f., 370. 48 Ausdrücklich anders PARICIO 82. C. Venturini, Studi sul crimen repetundarum nell’età repubblicana (1979) 200 A. 170 bezieht Cic. de off. 3. 43 – 44 nur auf die quaestiones. Ein tempus orandae litis ist tatsächlich nur für Strafsachen belegt, vgl. Kaser / Hackl 358 A. 32. 49 FIRA III 509 Nr. 164; Bruns, Fontes7 404 Nr. 185; Mommsen, Ges. Schr. I 374 ff. 50 Und auch den substantivischen Gebrauch des Partizips begünstigte, wie wir ihn in de off. 3. 44 sehen. 51 In der testatio TH 85 von 47 n. Chr. über den Urteilsspruch in einem ordentlichen Verfahren (inzwischen in neuer, verbesserter und vollständiger Lesung ediert von G. Camodeca, Atti XI Congresso Internazionale di Epigrafia Greca e Latina, Roma 1997 [Roma 1999] 530 f.), lautet der den beiden letzten Zeilen entsprechende Passus: coram palam utrisque praesentibus iudicavit – was natürlich nicht den Schluß erlaubt, daß der Iudex nicht auch iuratus war (anders allerdings Behrends [o. A. 23] 16 A. 64). In TH 79.4.6 berichtet das Protokoll coram sententiam dixit, während der Schiedsvertrag in TH 76.1.6 vorsieht, daß der Arbiter palam coram utroque praesenti sententiam dicat. Nach L. Wenger, RE I A 1 (1914) 360, hat sich der Arbiter mit dem Schwur, der wahrscheinlich nicht immer von ihm verlangt worden sei, „zur Sicherung der Parteien eidlich“ verpflichtet, „seinen Spruch abzugeben und nach bestem Gewissen abzugeben“. Unergiebig K. H. Ziegler, Das private Schiedsgericht im antiken röm. Recht (1971) 80, 140.

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der er bekanntlich zeitlebens anhing. Für sie steht jede Erkenntnis unter dem Vorbehalt des immer möglichen Irrtums, ist ihre höchste Möglichkeit das probabile und mit letzter Bestimmtheit keine Behauptung möglich. In seiner Spätschrift lobt Cicero darum, wie die maiores die übliche Schwurklausel eingerichtet und die Zeugenaussage sowie den Urteilsspruch zu stilisieren vorgeschlagen haben: Cic. academicorum priorum 2. 47.146 Quam rationem maiorum etiam comprobat diligentia: qui primum iurare ‚ex sui animi sententia‘ quemque voluerunt, deinde ita teneri, ‚si sciens falleret‘, quod inscientia multa versaretur in vita; tum, qui testimonium diceret, ut ‚arbitrari‘ se diceret, etiam quod ipse vidisset; quaeque iurati iudices cognovissent, ut ea non esse facta, sed ut ‚videri‘ pronuntiarent

Die Richter sollen in ihrem Urteilsspruch nicht verkünden, daß das, was sie erkannt haben, geschehen ist, sondern vielmehr, daß ‚angenommen wird‘, daß es geschehen ist.52 Nicht einfach von den iudices berichtet Cicero, wie sie herkömmlich im Urteil ihre Erkenntnis formulieren sollen, sondern von den iurati iudices: als stünde eben der Urteilsspruch unter der Anforderung des Richtereides. 4. In pro Quinctio vertritt Cicero die Sache des Klägers. Der Prozeß ist indessen ein ‚Vorverfahren‘, in dem geklärt soll werden, ob im Hauptverfahren, in dem Quinctius der Beklagte ist, der Kläger zurecht von ihm verlangt, für den Fall seiner Verurteilung Sicherheit zu leisten. Die Vorgeschichte dieses Antrags ist kompliziert.53 Sie beginnt damit, daß Quinctius in einem Vadimoniumstermin nicht erschien und daraufhin sein Vermögen auf Antrag des Klägers Sex. Naevius beschlagnahmt wurde.54 Ein Hauptpunkt der Argumentation Ciceros ist der Bestand dieser missio in bona. Sie war hinfällig, wenn binnen 30 Tagen die Defension wirksam aufgenommen worden war. Cicero behauptet das. Er argumentiert nach dem Muster: wer anderer Meinung sei, habe nur die Wahl, entweder zu leugnen, daß überhaupt geschehen ist, was geschehen ist, oder zu entscheiden, daß die erfolgte Defension keine Defension ist. Der Kernsatz lautet: Cic. Quinct. 20. 64 Aut haec facta non sint necesse est aut C. Aquilius, talis vir, iuratus hoc ius civitate constituat: …

Unser Interesse gehört indessen auch hier der Verbindung von Eid und Urteilsspruch, die anzudeuten scheint, daß zum Urteilsspruch der Eid gehört. Wieder nämlich sagt Cicero, daß der Urteilsrichter seine Entscheidung als iuratus trifft. Und 52 W. Kunkel, SZ 92 (1975) 371 A. 8; zum Quästionenprozeß RE 24 (1963) 766 = Kleine Schriften (1974) 87. Vgl. etwa Ulp. D 40.12.27.1: et si cognoverint, pronuntiare debebunt servum illius non videri: neque haec res captionem ullam habet, cum non ingenuus pronuntietur, sed servus non videri; Kaser / Hackl 121. 53 Siehe etwa die ‚Einleitung‘ in M. Fuhrmann, Marcus Tullius Cicero, Sämtiche Reden I (1970) 53 ff. 54 Nach der Ediktsklausel Qui fraudationis causa latitabit: J. G. Wolf, Satura Feenstra 65 A. 30.

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wie später in de officiis55 benennt er auch in dieser frühen Rede den Richter nicht nach Status und Funktion, nicht mit iudex, sondern nach der Eigenschaft, die ihn offenbar vor anderen kennzeichnet, als iuratus. 5. Die Zeugnisse beschränken sich nicht auf Cicero. Aus dem 1. Jh. n. Chr. können wir Quintilian anführen. In der Institutio oratoria, im Kapitel über den Eid der Streitparteien, lautet ein Abschnitt: Quint. Inst. 5. 6. 4 At is, qui defert, agere modeste videtur, cum litis adversarium iudicem faciat et eum, cuius cognitio est, onere liberet, qui profecto alieno iure iurando stari quam suo mavult.

Der Gerichtsgang konnte bekanntlich durch Eidesleistung abgekürzt oder auch erledigt werden.56 Bei einigen Klagen gestattete das Edikt dem Kläger, seinem Gegner den Eid aufzuerlegen. Durch freiwillig übernommenen Eid konnten die Streitparteien dagegen in allen Streitsachen das Klagbegehren selbst oder die klagbegründende Tatsache oder auch einen für die Begründung der Klage maßgebenden Tatbestandsteil außer Streit setzen. Der Eid mußte freilich angetragen sein und so geschworen werden, wie er angetragen wurde. Jede Partei konnte ihn der anderen deferieren. Hier sind wir nun bei unserem Text. Nach Quintilian handelt tadelfrei und maßvoll, wer dem Gegner den Eid anträgt; denn damit mache er ihn zum Richter in ihrer Sache. Aber er entlaste auch den Richter57, ‚der sicherlich lieber unter einem fremden Eid stehen will, als unter dem eigenen‘. Der Eid etwa des Vindikationsklägers, daß die verfolgte Sache die seine sei58, entlastet den Iudex, weil er die Beweiserhebung erspart. Wann also soll er ‚unter dem fremden Eid stehen‘, wenn nicht bei Verkündung des Urteils? 6. An anderer Stelle der Institutio oratoria belehrt Quintilian, wie gegen praeiudicia, ‚Vorentscheidungen‘, argumentiert werden kann.59 Nach einem seiner Ratschläge soll der Sachwalter die Richter bitten, lieber ihr Augenmerk auf die Sache selbst zu richten als einem fremden Eid zuliebe auf den eigenen zu verzichten: Quint.Inst. 5. 2. 4 rogandi etiam iudices, ut rem potius intueantur ipsam, quam iuri iurando alieno suum donent.

Der Sachwalter soll also die Richter auffordern, sich selbst ein Urteil zu bilden und ihrer eigenen Überzeugung zu folgen anstatt der Vorentscheidung und damit De off. 3. 43 – 44, s. oben III. 2. Kaser / Hackl 266 ff. Das Folgende nach J. G. Wolf, SZ 118 (2001) 102. 57 Zu cognitio des iudex vgl. Kaser / Hackl 189, 370 A. 5. 58 Ulp D 12.2.9.7: Si petitor iuravit possessore deferente rem suam ess, actori dabitur actio … 59 Sein Begriff der ‚Vorentscheidung‘ (Inst. 5. 2. 1) deckt sich nicht mit dem der Juristen (vgl. Kaser / Hackl insb. 346 ff., 247 ff.), was den Text für unsere Zweck nicht unbrauchbar macht. 55 56

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der Überzeugung des Richters der Vorentscheidung. Verstehen wir so den Text richtig, dann kann das fremde wie das eigene ius iurandum nur ein spezifisch auf das Urteil gemünzter Eid sein. 7. Die Reihe der literarischen Zeugnisse beschließen wir mit Aulus Gellius. Im letzten Kapitel der Noctes Atticae disputieren der Jurist Sex. Caecilius und der Philosoph Favorinus über die Zwölftafeln (20. 1). Favorinus findet manche Vorschrift des Gesetzes zu hart (20. 1. 4). Caecilius läßt sich auf die Kritik ein (20. 1. 5 ff.) und fragt sich, auf welche Vorschriften sie wohl zutreffen könnte, so vielleicht auf die Todesstrafe für den Richter, der sich hat bestechen lassen; und bedrängt dann den Philosophen, sich zu erklären: Gell. 20. 1. 7 / 8 Dure autem scriptum esse in istis legibus quid existimari potest? Nisi duram esse legem putas, quae iudicem arbitrumve iure datum, qui ob rem dicendam pecuniam accepisse convictus est, capite poenitur … (8) Dic enim, quaeso, dic, vir sapientiae studiosissime, an … iudicis illius perfidiam contra omnia iura divina atque humana iusiurandum suum pecunia vendentis … non dignum esse capitis poenae existumes?

Der Judex, der überführt worden ist, für sein Urteil Geld angenommen zu haben60, hat seinen Eid um Geld verkauft. Daß die Autorität des Urteils so unmittelbar auf dem Eid des Richters beruht, könnte kaum eindeutiger ausgedrückt werden.

IV. 1. Wir erinnern: Gegenstand der Kontroverse ist der Zeitpunkt der Eidesleistung. Für die meisten versteht sich, daß der Iudex den Eid vor der Sachverhandlung leistet; für wenige erst vor dem Urteilsspruch. Beide Seiten nehmen weithin dieselben Quellen in Anspruch. Nach Durchsicht der wichtigsten61 kann als erstes festgehalten werden, daß kein Text strikten Beweis für die eine oder die andere These liefert. Als zweites ist festzuhalten, daß kein Text zu seinem Verständnis die Annahme erfordert, der Iudex habe den Eid „vor der Sachverhandlung“ (O. Behrends) geleistet; daß vielmehr alle Texte mehr oder weniger nachhaltig die Annahme nahe legen, daß der Eid in Verbindung mit dem Urteilsspruch geleistet wurde. Die Verbindung 60 Vgl. Cic. Verr. 2. 2. 78: est flagitiosum … ob rem iudicandam pecuniam accipere, … flagitiosius … eum a quo pecuniam ob absolvendum acceperis condemnare; 2. 2. 119: pecuniam ob ius dicendum dedisse (poposcerit). Kühner / Stegmann (o. A. 47) I 531 unter g und 751. 61 Auf Val. Max. 7. 2. 4 gehen wir nicht näher ein, weil iuraret möglicherweise für iudicaret verschrieben ist (Behrends [o. A. 23] 16 A. 64), wie Cic. de off. 3. 19. 77 nahe legt, dem Val. Max. gerade hier weithin wörtlich folgt. Durch geringe Abweichungen (ein Wort fügt er hinzu, andere läßt er oder wechselt er aus) und Umstellungen erleichtert er das Verständnis des Satzes. In dieser Absicht hat er offenbar auch Ciceros statuisse videretur ersetzt. Allerdings könnte er wegen des fast unmittelbar vorausgehenden iudicasset wirklich aut iuraret virum bonum esse geschrieben haben. In diesem Fall hätte er iurare für iudicare gebraucht und damit Eid und Urteilsspruch nachgerade identifiziert.

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von Eid und Urteilsspruch kommt, wie wir meinen, besonders deutlich zum Ausdruck in Wendungen wie iuratus sententiam dicit, iuratus ius constituit oder iuratus iudex pronuntiat. 2. Diese Vermutung gewinnt alle Wahrscheinlichkeit durch parallele Vorschriften und gleiche Ausdrucksformen in der Lex Irnitana. Während die städtischen Magistrate zweimal vereidigt wurden, nämlich unmittelbar nach der Wahl und noch vor der definitiven renuntiatio ihres Resultats62 sowie nach Amtsantritt, nämlich vor der ersten Gemeinderatssitzung, jedenfalls aber binnen fünf Tagen nach ihrer Wahl63 – während also die Magistrate zweimal vereidigt wurden, brauchten die Dekurionen, wenn sie ihr Mandat antraten, keinen Eid zu leisten.64 Das Munizipalgesetz sah jedoch vor, daß sie von Fall zu Fall, unmittelbar v o r bestimmten Entscheidungen einen Eid leisten mußten. a) In zwei Fällen ordnet die Lex Irnitana die Eidesleistung ausdrücklich an: wenn die Versammlung der Dekurionen als Gericht fungierte (Kap. 69)65 und wenn sie über öffentliche Ausgaben entschied (Kap. 79). Der Bürger oder Einwohner, der seiner Stadtgemeinde Herausgabe öffentlicher Gelder oder Rechnungslegung schuldete66 und von ihr verklagt wurde, brauchte sich nicht auf das ordentliche Verfahren einzulassen, sofern die lokale Jurisdiktion des Duumvir mit ihrer Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen67 überhaupt gegeben war. Für den Fall, daß der Beklagte den ordentlichen Rechtsgang mit seinem Verfahren vor dem Einzelrichter ablehnte68, wies die Irnitana in Kap. 69 den Dekurionen die cognitio iudicatio litisque aestumatio (VIII A 14 / 15) zu69: 62 Lex Malacitana Kap. 57, 59 = Irnitana Kap. 59 (VII A 1 – 7). Mommsen, Ges. Schr. I 319 f.; Liebenam 272; F. Milazzo, Iurare in leges e altri giuramenti magistratuali nel Panegirico pliniano, FS Mayer-Maly (2002) 520 A. 35. 63 Kap. 26 (III B 34 – 52), wo auch der zu leistende, schon aus der Lex Salpensana (col. I 40 – col. II 11) bekannte Eid im Wortlaut vorgegeben ist. Mommsen, Ges. Schr. I 320; Liebenam 272. 64 Zur Bestellung eines praefectus municipi gehörte auch dessen Vereidigung: Kap. 25 (III B 16 – 33) = Lex Salpensana Kap. 25 (25 – 39): Mommsen, Ges. Schr. I 339 ff.; Liebenam 260. 65 D. Johnston, Municipal Funds in the Light of Chapter 69 of the lex Iritana, ZPE 111 (1996) 199 – 207; s. auch J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, SDHI 66 (2000) 58 ff. 66 Kap. 67 (VII C 20 – 36): Johnston, ZPE 111 (1996) 204 ff.; zur Lex Malacitana Kap. 67 (col. V 14 – 35) Mommsen, Ges. Schr. I 343; Liebenam 304 f. 67 Kap. 84 (IX A 52 – B 28); J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 32 ff. 68 So versteht zutreffend die umstrittene Klausel et ‚s‘i is, quocum agetur, ibi agi nolet (VIII A 13) Johnston, ZPE 111 (1996) 200, 202; zustimmend Mantovani 268 A. 149; anders González 221; Lamberti 126 ff. – alle m. weit. Lit. 69 Mithin die Funktionen, die im ordentlichen Zivilprozeß dem Iudex oblagen. Die iurisdictio und damit die Einleitung des Verfahrens blieb offensichtlich Kompetenz und Aufgabe der Duumvirn. – Die Wiedergabe des folgenden Textes beruht auf der Transskription von Fernandez (91), kontrolliert an der ihr beigegebenen Abbildung der Kolumne VIII A (90), stimmt aber auch überein mit Lamberti 326, 328 und González 170.

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R(ubrica). De iudicio pecuniae communis. Quod municip[i]um municipi Flavi Irnitani nomine petetur ab eo, qui eius municipi municeps70 incola[e]ve erit, quodve cum eo agetur, quod pluris HS D sit neque tanti sit ut de eo, si privatim ageretur, ibi invito alterutro actio non esset, et ‚s‘i is, quocum agetur, ibi agi nolet, de eo decurionum conscriptorumve cognitio iudicatio litisque aestumatio esto, ita ut, cum d(e) e(a) r(e) agetur, non minus quam duae tertiae partes decurionum conscriptorumve adsint et per tabellam sententiae ab iis ferantur, iique qui sententia‚s l‘aturi erunt, prius quam sententias ferant, quisque eorum iuret per Iovem et divom Aug(ustum) et divom Claudium et divom Vesp(asianum) Aug(ustum) et divom Titum Augustum et genium imp(eratoris) Domitiani Aug(usti) deosque Penates se, quod aequum bonumque et maxime e re communi eius municipi esse censeat, iudicaturum. Vti eorum maior pars iudicaverit utique litem aestumauerit, ita ea iudicatio eaque litis aestumatio iusta rataque esto. .…

Das Gesetz weist den Dekurionen cognitio iudicatio litisque aestumatio zu mit drei Maßgaben. Einmal verlangt es ein Quorum: gerichtsfähig ist der Gemeinderat nur, wenn zwei Drittel seiner Mitglieder anwesend sind. Sodann verlangt es Abstimmung per tabellam. In der Regel wurde im Gemeinderat mündlich abgestimmt.71 Per tabellam bedeutet schriftlich; die Formel für die schriftliche Stimmabgabe ist per tabellam sententiam ferre. Als Drittes schließlich verlangt das Gesetz die Eidesleistung: jeder Dekurio, der zu urteilen bereit ist72, muß, bevor er sein Urteil abgibt, den vorgeschriebenen Eid leisten: iique qui sententia‚s l‘aturi erunt, prius quam sententiam ferant, quisque eorum iuret.73 In Kap. 79 untersagt die Irnitana den Duumvirn zunächst, über öffentliche Gelder freigebig zu verfügen oder auch nur den Stadtrat oder die Bürgerschaft mit freigebigen Leistungen zu befassen (VIII C 39 – 45), und unterwirft sodann die erlaubte Ausgabe öffentlicher Gelder der strikten Kontrolle des Gemeinderats (VIII C 45 – IX A 1)74: VIII C 45 46 47 70

…… item de pecunia, quae communis municipum erit, praeter quam ex his causis quae hoc capite exceptae[ae] sunt [h]aut alia parte huius legis nominatim conprehensae sunt, alienanda

MUNICIPES aes.

Nachweise etwa bei J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I (3. Aufl. 1957) 194. Wie der Judex konnte sich wohl auch der Dekurio-Richter von seiner Urteilspflicht durch den Eid sibi non liquere entbinden; er gehörte dann nicht zu denjenigen, qui sententias laturi erunt (VIII A 17), und brauchte folglich diesen Schwur nicht zu leisten. 73 Bei einem Streitwert bis 500 Sesterzen trat an die Stelle des Gemeinderats eine Richterbank von fünf Dekurionen: VIII A 24 – 32. 74 Auch die Wiedergabe des folgenden Textes beruht auf der Transskription von Fernandez (95, 97), kontrolliert an den ihr beigegebenen Abbildungen der Kolumnen VIII C und IX A (94, 96). Sie geht weithin mit Lamberti 340, 342 und auch González 174 überein. 71 72

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Iudex iuratus 48 49 50 51 52 53 54 55

IX A

56 57

diminuenda eroganda mutua[nda] danda municipum nomine deve remissione facienda ei, quem municipibus eius municipi quid dare facere praestare oportebit, ne referto ad decuriones conscriptosve, cum pauciores quam, qui tres quartas partis totius numeri decurionum conscriptorumve explere possint, aderunt et tum ita ut ne aliter decretum fiat quam ut ‚p‘er tabellam decuriones conscriptive sententiam ferant et ante quam ferant iurent per Iovem et divom Aug(ustum) ‚et divom Claudium‘75 et divom Vesp(asianum) Aug(ustum) et divom Titum Aug(ustum) et genium imp(eratoris) Caesaris Domitiani Aug(usti) deosque penates se eam sententiam laturos quam maxime e re communi municipum esse censeant. Quod aliter

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relatum decre‚t‘um erit, it neque iustum neque ratum esto. …

Wir sehen die gleichen Kautelen. Das Gesetz verlangt ein Quorum: der Gemeinderat darf mit Ausgaben nur befaßt werden, wenn drei Viertel seiner Mitglieder anwesend sind. Sie müssen ihr Votum schriftlich abgeben: per tabellam sententiam ferant. Und sie müssen, bevor sie ihre Stimme abgeben, den vorgeschriebenen Eid leisten: et ante quam ferant iurent. b) Ein Quorum, schriftliche Stimmabgabe und Eidesleistung verfügte das Gesetz noch in drei weiteren Fällen: für die Erteilung des Patronats (Kap. 61 VII A 25 – 36)76; die Wahl einer Dreierkommission ad publicam causam agendam, nämlich mit der Aufgabe, streitige oder zögerliche Rechnungslegung zu untersuchen und ihre Erledigung vorzubereiten (Kap. 68 VII C 45 – VIII A 8)77; sowie für die Beschlüsse des Gemeinderats über Kreditaufnahme der Stadtgemeinde (Kap. 80 IX A 14 – 21)78. Die einschlägigen Partien lauten: VII A

26 27 28 29 30

VII C 46 VIII A 1 2 3 4

Kap. 61 Ne quis patronum public[a]e municipibus municipi Flavi Irnitani cooptato patrociniumve c[i]ui adferto, nisi ex maioris partis decurionum decreto, quod decretum factum erit, cum duae partes non minus decurionum adfuerint et i u r a t i per tabellam sententiam tulerint. … Kap. 68 Cum ita rationes reddentur, du‚u‘mvir, qui decuriones conscriptosve habebit, ad decuriones conscriptosve referto, quos placeat publicam causam agere, iique79 decuriones conscriptive per tabellam i u r a t i d(e) e(a) r(e) decernunto, tum cum eorum partes non minus quam duae tertiae aderunt, …

Vgl. etwa Kap. 69 (VIII A 19) oben nach A. 69. Mal Kap. 61 (col. III 43 – 58); dazu Mommsen, Ges. Schr. I 345 f., 306. 77 Mal Kap. 68 (col. V 49 – 64); dazu Mommsen 343 f., 306; Liebenam 305. 78 Über öffentliche Anleihen Liebenam 332 ff., 340. 79 QUIQUE aes; Mal Kap. 68 (col. V 54) dagegen IIQUE, was von allen Herausgebern übernommen worden ist. 75 76

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IX A

15 16 17

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Kap. 80 Si quas pecunias mutuas in usus rei publicae municipi Flavi Irnitani sumendas esse decuriones conscriptive eius municipi, cum eorum non minus tres partes adfuerint, i u r a t i per tabellam decreverint, …

In den Kap. 69 und 79 wird der Eid jeweils in einem eigenen Satz angeordnet, mit iique qui sententias laturi erunt, priusquam sententias ferant, quisque eorum iuret in Kap. 69 (VIII A 17 / 18), mit ita ut ne aliter decretum fiat quam ut per tabellam decuriones conscriptive sententiam ferant et ante quam ferant iurent in Kap. 79 (VIII C 53 / 54), in den Kap. 61, 68 und 80 das Erfordernis der Eidesleistung dagegen prägnant durch das adjektivisch verwendete Participium Perf. Pass. iuratus – ‚einer, der geschworen hat‘ – zum Ausdruck gebracht.80 Der identische Kontext läßt indessen keinen Zweifel zu, daß die decuriones hier wie dort den Eid vor der Stimmabgabe schworen. Die umständlichere, verbale Stilisierung in den Kap. 69 und 79 hat allein den praktischen Grund, daß sie den syntaktischen Anschluß der Eidesformel erlaubt81, die in den Kap. 61, 68 und 80 nicht ausgeführt wird. Fast überflüssig hinzuzufügen, daß schon die formelgleiche Konstanz der syntaktischen Stellung von iurati ein anderes Verständnis kaum zuläßt.82

V. 1. Kehren wir zum Zivilprozeß zurück, so ist die Vermutung zur Gewißheit geworden, daß der Iudex schwor, unmittelbar b e v o r er das Urteil sprach, und auch nur diesen Eid leistete. Iuratus sententiam dicere oder ius constituere oder pronuntiare kann nicht anders verstanden werden als iuratus per tabellam decernere oder sententiam ferre. Dieses Ergebnis bekräftigt auch vollends Mantovanis Konjektur in Kap. 91 der Irnitana und wird zugleich durch den damit wiederhergestellten Text bestätigt, der also lautet83: 48 49 50 51

……………………. intertium aduersario iudici arbitrove in biduo proximo denuntiandi, diem diffindendi, diei diffisi, iurandi antequam iudicent, iudicandi litem aestumandi ………………………………………………

2. Der Eid, den der Iudex schwor, bevor er urteilte, ist nicht überliefert. Erst Justinian hat bekanntlich den Richtereid allgemein angeordnet und in seiner KonstituVgl. oben A. 46. Iuret / iurent per Iovem etc.: VIII A 18 und VIII C 54. Vgl. auch Kap. 25 (III B 21 ff.); Kap. 26 (III B 40 ff.); Kap. 59 (VII A 3 ff.). 82 Mommsen, Ges. Schr. I 306, verstand das adjektivische iurati in (Mal) Kap. 61 und 68 dahin, daß „der Abstimmung der Gefährdeeid beigefügt werden“ mußte. Vgl. auch die Übersetzungen von Crawford bei González 190, 191, 194 („on oath“, „under oath“) und Lamberti 317, 327, 345 („dietro giuramento“). 83 Mantovani 269 ff., der in A. 155 und 159 allerdings auch nicht ausschließt, daß dies (statt diei) ein Archaismus ist. Die bisher übliche Emendation oben bei A. 4. 80 81

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tion C 3. 1. 14 bestimmt, daß omnes omnino iudices Romani iuris disceptatores schwören müssen, ‚gemäß der Wahrheit und den Gesetzen zu verfahren‘ (oder ‚zu urteilen‘).84 Es versteht sich, daß dies nicht die Verpflichtung gewesen sein kann, auf die der Iudex des Formularverfahrens seinen Eid leistete.85 Dagegen ist gut möglich, daß uns mit der in Kap. 69 (VIII A 18 – 22) überlieferten Eidesformel auch die seines Schwurs überliefert ist. Wenn der Gemeinderat ausnahmsweise als Urteilsgericht fungierte, mußte vor der Stimmabgabe jeder Decurio schwören 18 19 20 21 22

……………………………………………………… per Iovem et divom Aug(ustum) et divom Claudium et divom Vesp(asianum) Aug(ustum) et divom Titum Augustum et genium imp(eratoris) Domitiani Aug(usti) deosque Penates se, quod aequum bonumque et maxime e re communi eius municipi esse censeat, iudicaturum. …

Der Vergleich mit der in Kap. 79 (VIII C 54 – 57) vorgesehenen Schwurformel 54 55 56 57

………………………………………………………… per Iovem et divom Aug(ustum) ‚et divom Claudium‘ et divom Vesp(asianum) Aug(ustum) et divom Titum Aug(ustum) et genium imp(eratoris) Caesaris Domitiani Aug(usti) deosque penates se eam sententiam laturos quam maxime e re communi municipum esse censeant. ……

macht augenfällig, was sich auch sofort versteht86, daß die Klausel et maxime e re communi eius municipi signifikant auf den Decurio-Richter gemünzt ist. Streichen wir diese Klausel heraus, so ist das, was bleibt, möglicherweise der Eid, den der Iudex des ordentlichen Verfahrens schwor87, bevor er urteilte: per Iovem …… se, quod aequum bonumque esse censeat, iudicaturum.

Trifft diese Vermutung zu, so eröffnet der Eid des Iudex einen weiten Durchblick auf die maßgebliche Leitidee richterlichen Handels.88 3. Indessen mußte der Iudex diesen Eid nicht unter allen Umständen schwören. Er mußte ihn nur dann schwören, wenn er, was seine Pflicht war89, den Rechtsstreit durch Urteil entschied.90 Von dieser Pflicht (und damit von seinem Richteramt) 84 Siehe oben III 1. Über den publizistischen Charakter und die unterschiedliche Natur des magistratischen iurare in leges siehe F. Milazzo (o. A. 62) 511 ff. u. A. 10. 85 Paricio 66 ff., 73 ff.; Mantovani 266 A. 144. Anders Bethmann-Hollweg (o. A. 21) I 67; Kaser / Hackl (1996) 358 – unverändert gegenüber der 1. Aufl. (1966) 273. 86 Wenngleich die Verpflichtung auch auf das Interesse der Bürgerschaft, in deren Namen geklagt wird, eigentümlich ist: Mantovani 269 A. 151. 87 Paricio 73 ff.; Mantovani 266; vgl. auch A. Burdese 1998 (o. A. 16) 61. 88 Siehe F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Erster Abschnitt (1988) 502 ff., insb. 507 f. 89 Iul D 5.1.74 pr. 90 Für den Decurio-Richter macht Kap. 69 (VIII A 17) diesen Vorbehalt ausdrücklich: o. A. 72.

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konnte er sich allerdings entbinden, wenn er zu keinem Urteil kam, etwa weil er, wie Gellius von sich berichtet, nicht nach der Beweislage, aber auch nicht nach dem Leumund der Prozeßgegner entscheiden wollte.91 Der Iudex befreite sich von seiner Urteilspflicht, indem er beschwor, rem sibi non liquere.92 Dieser Eid sibi non liquere ist sozusagen das Gegenstück zum Urteils- oder Richtereid se, quod aequum bonumque esse censeat, iudicaturum.

VI. Wir fassen die Ergebnisse der Untersuchung zusammen: Die Magistrate des Municipium Flavium Irnitanum wurden unmittelbar nach ihrer Wahl und ein zweites Mal alsbald nach Übernahme ihres Amts vereidigt. Die Dekurionen dagegen leisteten weder bei ihrer Wahl noch bei Antritt ihres Mandats einen Eid. Das Munizipalgesetz sah jedoch vor, daß sie bei einer Reihe von Entscheidungen des Stadtrats unmittelbar vor der Stimmabgabe einen Eid schwören mußten, so bei Beschlüssen über Erteilung des Patronats, Ausgabe öffentlicher Gelder, Kreditaufnahme der Stadtgemeinde, bei der Wahl einer Kommission zur Erledigung zögerlicher Rechnungslegung und in dem Ausnahmefall, daß der Gemeinderat als Urteilsgericht fungierte. Die Analyse literarischer Quellen verschiedener Schriftsteller führte zu der Vermutung, daß auch der Iudex des Formularverfahrens erst und nur vor dem Urteilspruch einen Eid schwor. Die Kongruenz des Sprachgebrauchs der Schriftsteller und der Lex Irnitana machte diese Vermutung zur Gewißheit und die Konjektur Mantovanis in Kap. 91 der Irnitana93 unumstößlich. Vermutung bleibt dagegen, was der von der Irnitana vorgeschriebene Eid der Dekurionen nahe zulegen scheint: daß der Iudex schwor per Iovem … se, quod aequum bonumque esse censeat, iudicaturum. Für sicher darf hinwiederum gelten, daß er den Richtereid nur schwor, wenn er auch ein Urteil sprach. Kam er zu keinem Urteil, trat an die Stelle des Richtereids der Eid rem sibi non liquere, mit dem sich der Iudex von seiner Urteilspflicht entband. Der Iudex des römischen Formular-, und wie wir ohne weiteres hinzufügen können, auch des Legisaktionenverfahrens war mithin kein ‚Geschworener‘, die Verfassung der römischen Zivilgerichtsbarkeit keine ‚Geschworenenverfassung‘. Die Bindung des Laienrichters an das officium iudicis mit seinen vielfältigen, auch elementaren Anforderungen begründete seine Bestellung zum Iudex; einer eidlichen Beteuerung bedurfte sie nach Erwartung und Anschauung der römischen Gesellschaft offenbar nicht. Erst nach der Sachverhandlung, wenn das Urteil möglich 91 Die Beweislage sprach für den Beklagten, einen notorischen Betrüger, der Leumund für den Kläger, einen tadelfreien Ehrenmann: N. A. 14. 2. insb. 4 ff. und 25; vgl. etwa T. MayerMaly, Iurare sibi non liquere und Rechtsverweigerungsverbot, FS Franz Matscher (1993) 351 f. 92 Gell. 14. 2. 25; Pomp bei Paul D 42.1.36; für den privaten Schiedsrichter Ulp D 4.8.13.4. Bethmann-Hollweg (o. A. 21) II 620; Keller (o. A. 22) 338; Kaser / Hackl 370. 93 Oben nach A. 17.

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wurde und der Urteilsspruch anstand, erinnerte ihn der Eid an die Grundmaxime seines richterlichen Handelns: in Bindung an die Instruktion des Magistrats nach bonum et aequum zu urteilen.

Zur Romanisierung Spaniens. Der Beitrag der Stadtrechte am Beispiel der Lex Irnitana I. 1. In seinem neuen Buch ‚Was wir sagen, wenn wir reden‘ bedenkt Hans-Martin Gauger auch das Latein mit einer Glosse. Er überschreibt das Kapitel ‚Nichts ist praktischer als Latein‘. Etwas Praktischeres, als Latein zu lernen, könne man kaum tun. Praktisch sei es schon darum, weil es einen Zugang zu anderen Sprachen biete, zunächst zu allen romanischen Sprachen: zum Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Französischen, die im Wortschatz fast ganz lateinisch geblieben seien. Diese Sprachgemeinschaft ist das Ergebnis der Romanisierung der westlichen Hälfte des römischen Reichs, ungeachtet aller Verschiedenheit ihrer Landschaften und Völker. Ist das Ergebnis, um mich konkreter zu fassen, der sprachlichen Romanisierung des Okzidents, wie sie Walther von Wartburg beschrieben hat, auch wenn die sprachliche Romanisierung zwar zu unterscheiden, aber kaum zu trennen ist von ihren anderen Komponenten, der kulturellen, der sozialen, der wirtschaftlichen und der des Rechtslebens. Romanisieren: das Wort gehört fast zur Alltagssprache, der Duden übersetzt es mit ‚römisch machen‘, auch ‚romanisch machen‘; aber es ist auch ein Fachwort der Wissenschaft, der Alten Geschichte zumal, wie sich versteht. Wir haben es aus dem Französischen übernommen. Dort lautet es romaniser, im Italienischen romanizzare, im Spanischen romanizar. Aus diesem Befund möchte man auf ein lateinisches romanisare schließen; der Schluß aber wäre verfehlt. Im Griechischen zwar gab es έλληνίζειν, was soviel bedeutete wie ‚griechisch sprechen‘, und ρωμαΐζει, ‚lateinisch sprechen‘; im Lateinischen aber nichts Entsprechendes. Die romanischen Formen sind spätere Bildungen, und damit mag es auch zusammenhängen, daß ihre Bedeutung und die unseres Wortes ‚romanisieren‘, auch in der wissenschaftlichen Verwendung, ohne scharfe Kontur ist. Die Unschärfe des Begriffs ist oft bedauert worden bis hin zu dem Vorschlag, auf ihn überhaupt zu verzichten. Ein Konsens ist noch nicht erreicht. Er müßte in einer Verständigung über entscheidende Merkmale der Romanisierung bestehen. Indessen wird allenthalben schon von möglichen Merkmalen der Romanisierung auf Romanisierung geschlossen. Der Import italischer Keramik kann, neben anderen, ein Merkmal der Romanisierung sein; wäre aber Keramikimport ein ausreichendes Kriterium, müßten auch die Germanen jenseits des Rheins zu den romanisierten Völkerschaften gezählt werden. Die Aufnahme in den römischen Bürgerverband durch

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Verleihung der civitas Romana ist oft ein Kennzeichen durchaus fortgeschrittener Romanisierung. Bestimmt man aber die Zivität zum entscheidenden Kriterium, kommt man schnell in Schwierigkeiten. Im Jahre 212 verlieh Caracalla allen Bewohnern des Reichs das römische Bürgerrecht, soweit sie es noch nicht besaßen. Von einer Romanisierung des hellenistischen Ostens kann aber kaum, allenfalls mit den größten Einschränkungen die Rede sein. 2. Sinnvoll kann nur von einer Romanisierung des lateinischen Westens gesprochen werden. Was den romanisierten Westen eint und gegen den hellenistischen Osten absetzt, ist zunächst die lateinische Sprache. Sie ist nicht nur die Kommandosprache des Heeres und die Amtssprache der Verwaltung, sie ist auch die Verkehrssprache der Händler und Kaufleute und in den Städten die Umgangssprache offenbar nicht nur der gehobenen Schichten, wie unzählige Inschriften dartun.1 Die lateinische Sprache ist den unterworfenen Völkern von Rom nirgends aufgezwungen, ihre Übernahme allerdings gefördert worden. Sie geschah, wie sich versteht, auch nicht in einem Akt, sondern war ein Prozeß, der hier schneller, dort langsamer vonstatten ging, abhängig von vielen Bedingungen, endogenen, wie ethnischen und kulturellen, exogenen, wie römischer Immigration oder Rekrutierung für das römische Heer; Bedingungen, unter denen das Latein naturgemäß auch regional mehr oder weniger stark gefärbte Eigenheiten annahm. Auch die unterschiedlichen Siedlungsformen spielten eine Rolle. Noch Ende des 2. Jhs. mußte der Bischof von Lyon, der Grieche Irenaios, wenn er von den Galliern verstanden werden wollte, in keltischer Sprache predigen: eine Nachricht, die uns wissen läßt, was ohnehin wahrscheinlich ist, daß sich die einheimischen Sprachen, jedenfalls abseits der Städte, noch lange neben der römischen behaupteten und wohl erst allmählich abstarben, als im 3. Jh. die Entwicklung der romanischen Sprachen begann. Schließlich ist noch zu erinnern, daß sich die Ausbreitung der lateinischen Sprache in den Westprovinzen des Reichs, wie die Romanisierung überhaupt, mit enormen Zeitdifferenzen vollzog. Als Dakien nicht einmal unterworfen war, hatte Spanien mit Columella und Seneca, Lucan, Quintilian und Martial schon Anteil an der römischen Literatur. Und unterworfen wurde Dakien von Trajan, dem ersten römischen Kaiser, der nicht ein Italiker war, sondern Spanier aus Italica nahe Hispalis, dem heutigen Sevilla. 3. Die Rezeption der lateinischen Sprache durch die unterworfenen Völker des Westens war ein Adaptionsprozeß, vermutlich ausgelöst durch die Aussichtslosigkeit der eigenen Lage, die der Selbstbehauptung nur den Ausweg offen ließ, dem Stärkeren und Überlegenen nachzuleben, sich ihm anzuverwandeln, sich mit ihm zu identifizieren. Die Übernahme seiner Sprache war der Kern dieses Prozesses, aber naturgemäß beschränkte sich die Adaption nicht auf die Sprache. Von Gallien schreibt schon in den sechziger oder siebziger Jahren der ältere Plinius in seiner Naturkunde (3.4.31), es gleiche eher Italien als einer Provinz. Und früher noch, im Jahre 48 n. Chr., kaum hundert Jahre nach der blutigen Unterwer1

Vgl. Wartburg 34.

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fung Galliens, forderte Claudius vor dem Senat das ius honorum, die Öffnung der Staatsämter, für die Provinz mit der Begründung, daß die Gallier den Römern moribus artibus, in Gesittung und Denkart, Tüchtigkeit und Wissenschaft in nichts nachstünden (Tac. ann. 11.24). Plinius mag übertrieben und Claudius von den lokalen Eliten auf ganz Gallien geschlossen haben. Aber sie sagen uns, was wir unter ‚Romanisierung‘ zu verstehen haben: nichts weniger als die Anverwandlung römischer Lebensführung. Sowenig wie seine Sprache hat Rom seine Lebensführung den unterworfenen Völkern aufgenötigt. Aber es hat ihre Angleichung gefördert und sie auch für seine Aufgabe, ja, mehr noch, für seine Berufung gehalten. Die berühmten Verse der Aeneis (6. 851 ff.), mit denen Vergil Roms Bestimmung programmatisch zusammenfaßt, lassen daran keinen Zweifel. Das Epos ist bekanntlich nach dem Tod des Dichters auf Augustus’ ausdrücklichen Befehl herausgegeben worden. Die Verse lauten: tu regere imperio populos, Romane, memento – hae tibi erunt artes – pacique inponere morem, parcere subiectis et debellare superbos. du, Römer, denke daran, die Völker mit Machtgebot zu lenken – dies wird dein Beruf sein – dem Frieden Gesittung hinzuzufügen, die sich unterworfen haben zu schonen, die Hoffärtigen zu bezwingen.

Was Vergil in diesen Versen von großem Pathos zum Ausdruck bringt, war nicht originell, sondern Anschauung und Überzeugung seiner Zeit. Der Dichter spricht zu seinem Volk: tu Romane memento: du, Römer, denke daran, ‚die Völker zu beherrschen‘, dazu bist Du berufen! Regere imperio populos ist Roms machtpolitisches Programm. Die Hoffärtigen, die sich nicht fügen, niederzukämpfen (debellare superbos), die sich aber fügen und unterwerfen, zu schonen, nämlich sie nicht zu töten oder zu versklaven (parcere subiectis): eine Maxime römischer Staatsmoral, die schon Cicero (de off. 1. 34 / 5) erörtert, die wir bei Livius (30. 42. 17) finden, auch bei Horaz (carm. Saec. 51) und nach der Caesar in Gallien gehandelt hat. Darüber hinaus sei es Roms Bestimmung, Frieden zu stiften und zu erhalten; Frieden sicher nicht nur zwischen Rom und den unterworfenen Völkern, auch und vielleicht vor allem unter den beherrschten Völkern und Stämmen, etwa den vielfach verfeindeten Völkerschaften Galliens und Spaniens. Aber nicht nur Frieden zu stiften und zu erhalten; vielmehr auch ‚dem Frieden Gesittung hinzuzufügen‘: paci inponere morem.2 2 Das Bedeutungsfeld von mos ist weit, die Übersetzungen gleichwohl durchweg konvergent. ‚Gesetz‘ sagen Forcellini und Georges, ‚Ordnung‘ übersetzt Götte; ‚Gesittung und Gesetze‘ Eduard Norden (101, 335 f.). Ich lasse es bei ‚Gesittung‘, die Gesetz und Ordnung einschließt, Lebensführung und Denkart aber nicht ausschließt. Auch die Juristen, vor allem Ulpians Handbuch für Provinzstatthalter De officio proconsulis, eine Art Regentenspiegel, geschrieben in der Regierungszeit Caracallas, bezeugen mit einer reichen Kasuistik, daß Rom seiner Bestimmung getreu auch verfahren ist.

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Wie Rom diesen Auftrag erfüllte, ‚dem Frieden Gesittung hinzuzufügen‘, paci inponere morem, schildert Tacitus in der Biographie seines Schwiegervaters Agricola (Agr. 21). Von Vespasian ernannt, war Agricola Statthalter von Britannien von 77 bis 84. Persönlich ermunterte er die Britannier, die verstreut in offenen Siedlungen lebten, Tempel, Foren und Häuser zu bauen, und unterstützte sie dabei mit öffentlichen Mitteln. Er richtete Schulen ein und die Söhne der Vornehmen ließ er in den artes liberales unterweisen. Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb nicht aus: Wer eben noch die lateinische Sprache ablehnte, wollte sie jetzt erlernen. Und was noch deutlicher spricht: zunehmend fand auch römische Kleidung Gefallen, immer häufiger sah man die Toga. Schließlich gab man auch den Verlockungen des Müßiggangs nach, verweilte in den Säulenhallen, vergnügte sich in Bädern und schätzte ein üppiges Gelage. Soweit Tacitus. 4. Der Prozeß der Romanisierung ist, wie angedeutet, aus den unterschiedlichsten Gründen sowohl auf Seiten der Unterworfenen wie auf Seiten der Eroberer in den verschiedenen Regionen des Reichs in verschiedener Weise vor sich gegangen. An eine Voraussetzung war sie indessen überall gebunden: an die städtische Lebensform. Die Stadt war die Lebenswelt der Antike, der Stadtstaat ihre politische Organisationsform. An Euphrat und Tigris seit Jahrtausenden Wohnstatt der Menschen, wurde sie zuerst durch die Phönizier, bald auch durch Griechen und Etrusker zumal in den Küstenregionen der westlichen Mittelmeerländer heimisch. Rom, von Etruskern gegründet, blieb an das Grundmuster seiner stadtstaatlichen Verfassung bis tief in die Kaiserzeit gebunden, nachdem es längst, schon 89 v. Chr., mit der Aufnahme aller Italiker in den Bürgerverband, zu einer Territorialmacht geworden war; nachdem Caesar die Republik eingerissen und Augustus die Monarchie errichtet hatte; und nachdem die Stadt am Tiber inzwischen die Welt regierte. Wie für Griechen, Etrusker, Phönizier war die Stadt auch für den Römer der Inbegriff seiner Lebenskultur. Es verstand sich, daß sie jeder anderen Lebensform überlegen war, daß jede andere Lebensform ihr weichen mußte. Ordnung und Friede, Handel und Wandel konnte er sich nur in einer städtischen Welt vorstellen, in der die politischen und sozialen Verhältnisse überschaubar waren. Im System der römischen Administration war darum die Stadt auch der eigentliche Leistungsträger, verfügte nur sie über die Einrichtungen, um den Belangen des Eroberers, wie vor allem Steuererhebung und Rekrutierung, zu genügen. Die Unterwerfung Italiens in den frühen Jahrhunderten bis zum ersten punischen Krieg wurde von der Gründung zahlreicher kleinerer und größerer Städte begleitet, wobei auch die Bergstädte der Etrusker und die Küstenstädte der griechischen Kolonisten Beispiel gaben. Als Rom über Italien hinausgriff, verfuhr es nicht anders, wo immer in den unterworfenen Ländern und Landstrichen die Stadt nicht die herkömmliche politische Organisationsform war. Im hellenistischen Osten war sie das, im Westen nicht. In den keltischen und iberischen Siedlungsgebieten Spaniens, Galliens, Britanniens, um uns auf sie zu beschränken, war die politische Organisations-

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form nicht der Stadtstaat, sondern der Stamm. Ihre oppida waren offene Siedlungen, planlose Ansammlungen von Hütten, gelegentlich durch einen Erdwall geschützt; und sie waren vor allem keine institutionellen Zentren, vielmehr ohne politische Funktion. Darum waren sie auch für die Übernahme von Verwaltungsaufgaben, wie sie das römische Regiment vorsah, jedenfalls nach dessen Maßstäben, nicht geeignet. Auf funktionsfähige städtische Einrichtungen aber war, wie bemerkt, das römische Verwaltungssystem angewiesen. 5. Zu den immer wieder erstaunlichen Eigenheiten des römischen Staatswesens gehörte es, daß seine Verwaltung, durch die Jahrhunderte, ohne großen bürokratischen Apparat auskam, sowohl in der Zentrale, wie in den Provinzen.3 Und das änderte sich auch in der Kaiserzeit erst allmählich. In den Provinzen genügte dem Statthalter ein kleiner Behördenstab, weil die Verwaltung weithin den Städten überantwortet war. Wie Italien war die Provinz in Stadtbezirke aufgeteilt, die sich unter der Aufsicht des Statthalters selbst verwalteten. Das römische Weltreich war unter dem Gesichtspunkt seiner Verwaltung eine Vereinigung von Stadtgemeinden4; die Stadt sonach auch das tragende Fundament der Reichsverwaltung. 6. Verstehen wir die Romanisierung als Anverwandlung römischer Lebensführung, so war die Urbanisierung der unterworfenen iberischen und keltischen Siedlungsgebiete Westeuropas ihre erste Voraussetzung, war, richtiger, die Urbanisierung selbst schon ein Stück Romanisierung. Die Urbanisierung geschah auf vielfältige Weise und in unterschiedlichen Rechtsformen. In Spanien, über dessen Städte wir durch Plinius ziemlich gut unterrichtet sind, und auf das wir uns fortan konzentrieren, sind zunächst zwei Hauptklassen zu unterscheiden: peregrine Städte, die unterschiedlichen Status haben konnten, aber ohne eine römische, ihnen von Rom verliehene Verfassung waren, und sogenannte privilegierte Städte, die nach römischem Recht verfaßt waren. Die bei weitem meisten peregrinen Städte waren stipendiariae, waren tributpflichtig; sie waren ‚Untertanenstädte‘ im eigentlichen oder engeren Sinne, jedem Eingriff der römischen Obrigkeit ausgesetzt.5 Wenige peregrine Städte waren foederatae6 oder liberae7, denen beschränkte Souveränität, etwa Verwaltung nach eigenen Gesetzen und eigene Gerichtsbarkeit, zugestanden war, den foederatae durch Bündnis, den liberae durch Gesetz und darum auch widerruflich. Die privilegierten Städte waren Kolonien und Munizipien: municipia in der Regel privilegierte einheimische Gemeinden; coloniae dagegen Niederlassungen römischer Kolonisten. Die einen wie die anderen konnten Bürgerstädte sein oder Städte latinischen Rechts: coloniae oder municipia civium Romanorum oder iuris Latini. Das ius Latinum war eine Art 3 4 5 6 7

Liebenam 312. Liebenam 452 m. weit. Lit. in A. 1. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung I 80 ff. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung I 73 ff. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung I 76 ff.

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kleinen oder minderen Bürgerrechts: es gewährte die privatrechtliche Gleichstellung mit dem römischen Bürger und den Magistraten der latinischen Städte am Ende ihrer Amtszeit die civitas Romana. Im Jahre 218 v. Chr., mit dem Beginn des 2. Punischen Krieges, beginnt die römische Epoche Spaniens, für dessen vollständige Eroberung Rom allerdings 200 Jahre brauchen sollte. Schon im Jahre 206 v. Chr. waren aber die Karthager aus Spanien vertrieben und die Ostküste unterworfen sowie im Nordosten das Ebrobecken und im Süden auch das Binnenland bis zum Guadalquivir, den die Römer Baetis nannten. Noch im selben Jahr 206 wurde Spanien in zwei Provinzen aufgeteilt, wurde das uralte phoenikische Gadir, das die Römer Gades nannten, civitas foederata und das schon erwähnte Italica, die Heimat Trajans und seines Nachfolgers Hadrian, von P. Cornelius Scipio, dem siegreichen Feldherr, für seine entlassenen Legionäre als colonia civium Romanorum gegründet. Und alsbald müssen die Statthalter der neuen Provinzen auch begonnen haben, die befriedeten Landstriche zu urbanisieren. Denn für die augusteische Zeit sind uns eindrucksvolle Zahlen berichtet. Augustus hat die iberische Halbinsel in drei Provinzen neu aufgeteilt. Die südlichste und kleinste war die Baetica, benannt nach dem Fluß Baetis8. Die Baetica, der heute etwa Andalusien entspricht, war die an Städten bei weitem reichste der drei neuen Provinzen. Die Gesamtzahl ihrer Städte betrug 175. Davon waren 129 peregrine Städte, und von diesen wiederum 120 tributpflichtig.9 Plinius nennt viele namentlich und fügt oft ihren lateinischen Beinamen hinzu, etwa Segida, quae Augurina cognominatur, oder Ulia, quae Fidentia, oder Urgago, quae Alba und so fort. Die Beinamen belegen, daß auch die peregrinen Städte nach römischen Kriterien wirklich civitates und in aller Regel aus einheimischen Ansiedlungen entstanden waren. Daß durch Umsiedlung eine Stadt geschaffen wurde, etwa aus strategischen Gründen, war die Ausnahme. Im einen wie im anderen Fall aber wurde, wie wir uns vorstellen müssen, die Stadtanlage von hoher Hand befohlen: das Land vermessen, der Stadtplan entworfen, Straßen gebaut, ein Forum angelegt, ein Tempel errichtet, vielleicht auch ein Mauerring gezogen, unter römischer sachverständiger Anleitung und Aufsicht natürlich, vielleicht auch aus der Kasse des Statthalters unterstützt, wie nach Tacitus in Britannien unter Agricola. Mit dem Ausbau zur Stadt war keinerlei Privilegierung verbunden. Die Einwohner blieben, was sie waren: Peregrine. Der Status der Stadt und mit ihr der ihrer Einwohner konnte sich aber ändern und änderte sich häufig, in Spanien, noch bevor das 1. Jh. n.Chr. zu Ende ging, ausnahmslos für alle nicht privilegierten Städte. Sie wurden durchweg municipia; sie erhielten eine Verfassung, ein ‚Stadtrecht‘, und wurden damit nun auch ‚Stadt‘ nach den Kriterien des römischen Staatsrechts. Plin. n. h. 3. 7, 9. Plin. n. h. 3. 7: außer den 120 civitates stipendiariae 6 liberae und 3 foederatae; von den 46 privilegierten Städten waren 9 coloniae und 10 municipia civium Romanorum sowie 27 municipia iuris Latini. 8 9

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In aller Regel erhielten sie die Latinität, wurden municipia iuris Latini. Mit der Latinität gewannen sie, wie wir nun alsbald sehen werden, weitgehende Selbständigkeit in Verwaltung und Jurisdiktion. Die Promotion nicht privilegierter Städte zu Munizipien (‚Munizipalisierung‘) wird in Spanien von Caesar eingeleitet10 und von Augustus energisch fortgeführt, von seinen nächsten Nachfolgern dagegen fast aufgegeben bis Vespasian, vermutlich 73 oder 74, ‚ganz Spanien‘ die Latinität, das ius Latinum, verlieh: universae Hispaniae, Vespasianus imperator Augustus iactatum procellis rei publicae Latium tribuit.11 Universae Hispaniae, ‚ganz Spanien‘, ist zu verstehen: allen noch nicht privilegierten, mithin allen noch peregrinen Gemeinden Spaniens12; und ganz Spanien ‚erteilt‘ wurde das latinische Bürgerrecht durch die Promotion der peregrinen Städte zu Munizipien.13 Über die Prozedur sind wir nicht weiter unterrichtet. Die Durchführung des kaiserlichen Edikts zog sich jedoch lange hin. Ich nenne nur einige und auch nur solche Städte, denen wir noch einmal begegnen werden: Sabora, Arunda benachbart, dem heutigen Ronda, ist vor 78 municipium geworden14; Salpensa, Hispalis, unserem Sevilla, zugewandt, Anfang der 80er Jahre; wenig später das blühende Malaca (heute Malaga); und erst in den frühen 90er Jahren Irni – unser Irni, wo wir nun endlich angekommen sind.

II. 1. Daß es eine Stadt dieses Namens gab, wissen wir seit nun gerade 24 Jahren. Das Stadtrecht von Irni, die Lex Irnitana, war auf 10 Bronzetafeln (90 cm breit und 57 cm hoch) eingraviert. Von diesen 10 Tafeln spürten im Frühjahr 1981 Clandes10 Die Zahl der bekannten republikanische Gründungen ist gering: Galsterer 7 ff. Bemerkenswerte Beisiele außer dem erwähnten Italica: Im Jahre 171 v. Chr. wurde auf Geheiß des Senats in Rom in der griechischen oder phönikischen Gemeinde Carteia unweit der Meerenge von Gibraltar für 4000 Söhne römischer Legionäre und hispanischer Frauen eine colonia iuris Latini eingerichtet. Da Legionäre nicht heiraten durften, folgten ihre Kinder dem Personenstand der Mutter, waren also Peregrine. Mit ihrer Ansiedlung wurden sie nicht in den römischen Bürgerverband aufgenommen, erhielten aber ein eingeschränktes römisches Bürgerrecht, das ius Latinum. Wir kommen darauf noch zu sprechen. Urso, heute Osuña, etwa 30 Kilometer östlich von Sevilla gelegen hatte im Jahre 45 v. Chr., von Pompeius befestigt, Caesar heftigsten Widerstand geleistet. Er vergalt es den Iberern, indem er in Urso eine Kolonie von libertini, Freigelassenen aus dem stadtrömischen Proletariat, gründete. 11 Plin. n. h. 3. 30. 12 Gai 1. 95: Gai 1. 95: … quod ius quibusdam peregrinis civitatibus datum est vel a populo Romano vel a senatu vel a Caesare. Cfr. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht4, Tübingen 1952, II 888 ff. 13 Vgl. zu diesen Fragen Galsterer 37 ff. 14 In seiner epistula vom 25. Juli 78 (Bruns 255 Nr. 81) erlaubt Vespasian den Saborenses, die ihre Stadt verlegen wollen, sub nomine meo … in planum exstruere. Die Saborenser sorgten sich offenbar um die Identität ihrer Stadt; sie wollten sicher gehen, daß auch die in der Ebene neu erbaute Stadt als municipium Flavium anerkannt wird. Anders Galsterer 41 f.

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tini mit einem Metalldetektor 6 Tafeln auf und verkauften sie sofort in zwei Partien. Die Geschichte wurde ruchbar und binnen kurzem konnte der Verbleib der Tafeln ausfindig gemacht werden. Sie befinden sich heute, hervorragend präpariert, im Archäologischen Museum von Sevilla. 2. Die 6 Tafeln des Fundes sind die numerierten Tafeln 3 und 5 sowie 7, 8, 9 und 10 der Lex Irnitana. Schon seit 1861 besitzen wir große Fragmente auch der Stadtrechte von Salpensa und Malaca. Der Text der Tafel 3 der Irnitana deckt Wort für Wort den Text des Fragments der Salpensana, und der Text der Tafel 7 sowie der ersten Zeilen der Tafel 8 deckt einen großen Teil des erhaltenen Textes der Malacitana. Für die Stadtrechte von Salpensa, Malaca und Irni steht darum außer Zweifel, daß sie einer gemeinsamen Vorlage folgen. Da die drei Städte zur Erinnerung an die Verleihung der Latinität durch Vespasian in ihren Titeln das Adjektiv Flavium führen – municipium Flavium Salpensanum, Flavium Malacitanum, Flavium Irnitanum –, und da wie sie viele andere spanische Munizipien in ihren Titeln den Beisatz Flavium haben, liegt nahe, daß die Stadtrechte all dieser Munizipien wortgetreu nach ein und derselben Vorlage abgefaßt waren. Bruchstücke der Stadtrechte von drei weiteren municipia Flavia bekräftigen diese Hypothese. Mit der Lex Irnitana lernen wir demnach nicht nur das Stadtrecht einer Gemeinde kennen. Sie macht uns vielmehr bekannt mit dem flavischen Stadtrecht Spaniens, der Gemeindeordnung aller flavischen Munizipien, aller Städte Spaniens, die in der Folge des LatinumDekrets Vespasians zu Munizipien promoviert worden sind. 3. Wir besitzen nicht die vollständige Lex Irnitana; aber zusammen mit d e m Teil der Malacitana, der auf den 6 Tafeln der Irnitana nicht erhalten ist, immerhin sensationelle Zweidrittel des flavischen Stadtrechts: das ist singulär, denn weit mehr als von allen anderen uns bekannten, durchweg älteren Stadtrechten des römischen Weltreichs. Die flavischen Stadtrechte folgten, wie gesagt, ein und derselben Vorlage Wort für Wort. Abweichungen kamen vor, beschränkten sich aber auf Quantitätsvorschriften, so etwa bei der Streitwertgrenze der städtischen Gerichtsbarkeit, die in Irni unter der von Malaca lag. Für diese Abweichung waren vermutlich Größe und Bedeutung der beiden Städte maßgebend. Für Geza Alföldy war das sonst ganz und gar unbekannte Irni denn auch „eine drittklassige Stadt“. Irni lag zwischen Sevilla und Malaga, allerdings nicht an dem Hauptverkehrsweg, der die alte Hafenstadt mit dem Innern des Landes verband. Diese Straße führte über Urso (heute Osuña), eine auf Geheiß Caesars angelegte Bürgerkolonie stadtrömischer Einwanderer. Etwa 20 km südlich von Urso war Irni gelegen, und keineswegs abseits jeden Verkehrs, vielmehr in strategisch günstiger Lage an der Straße, die von Urso nach Sabora und Arunda (heute Ronda) führte. Irni kann auch keine ganz kleine Stadt gewesen sein. In seinem Stadtparlament saßen immerhin 63 decuriones, Stadträte, eine Zahl, die auf mehrere tausend Einwohner schließen läßt.15

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4. Wie alle uns bekannten römischen Stadtrechte war auch das flavische Munizipalgesetz mit seinen drei charakteristischen Institutionen der alten stadtrömischen Verfassung nachgebildet: mit der Bürgerversammlung, dem Stadtrat und den Jahresbeamten. Die Bürgerversammlung entsprach den stadtrömischen Komitien und war auch nach ihnen benannt; der Stadtrat, die Versammlung der Stadträte, der decuriones, entsprach dem Senat; die Jahresbeamten, nämlich die duumviri, die aediles und quaestores, den römischen Magistraten. (a) Die Komitien waren Gegenstand der nicht erhaltenen ersten Kapitel des Gesetzes.16 Späteren Vorschriften entnehmen wir immerhin, daß die Bürgerschaft, wie in den ältesten römischen Komitien, den comitia curiata, in Kurien eingeteilt war und nach Kurien abstimmte.17 Für die Etablierung der Kurien hatten, in vorgegebener Frist, die obersten Magistrate, die duumviri, nach Vorgaben des Stadtrats zu sorgen; mehr als 11 durften es nicht sein.18 Nach welchen Gesichtspunkten die Stimmabteilungen gebildet wurden, wissen wir nicht.19 Zuständig waren die Komitien, soweit wir sehen, nur für Wahl und Nachwahl der Magistrate.20 Die Modalitäten dieser Wahl sind bis ins Einzelne geregelt. Die Wahlkomitien werden von dem nach Lebensjahren älteren duumvir einberufen und geleitet.21 Nur die von ihm nominierten Kandidaten, deren Wahlfähigkeit er prüfen mußte, können gewählt werden.22 Auf sein Geheiß versammeln sich die Kurien in eingefriedeten Bezirken, ihren consaeptae, stimmen gleichzeitig ab23 und melden dem Wahlleiter ihre Ergebnisse.24 Das Los bestimmt die Reihenfolge, in der alsdann die Wahlergebnisse der Kurien ausgerufen werden. Sobald ein Kandidat die Mehrheit der Kurien auf sich vereinigt hat, wird die Zählung abgebrochen und seine Wahl zum duumvir oder Ädil oder Quästor verkündet.25 Gewählt wurde schriftlich, per tabellam, mit Stimmtäfelchen26, was eine verdeckte Stimmabgabe erlaubte. Detaillierte, am Familienstand ausgerichtete Vorschriften regelten das Verfahren bei Stimmengleichheit.27 Custodes sollten Betrug und Fälschung vorbeugen. Jede Kurie hatte ihren Korb, in 15 Und auch nicht ganz unvermögend. Denn die Gravur des Stadtrechts, zu der das Gesetz selbst die Stadt verpflichtete, und die in dichter Beschriftung, in jeweils 3 Kolumnen 10 große Bronzetafeln füllte, war ein erheblicher Aufwand. 16 Vgl. Mal Kap. 52 I 35 – 37: utique ea distributione curiarum, de qua supra conprehensum est, suffragia ferri debunt, ita per tabellam ferantur facito. 17 Mal Kap. 52 I 35 – 37, siehe A. 15. 18 Irn Kap. 50 V C 46 – 51. 19 Vgl. Spitzl 38 f. 20 Mal Kap. 52 I 33 – 35. Mommsen 304. 21 Mal Kap. 52 I 29 – 35. 22 Mal Kap. 54 I 60 – II 3. 23 Mal Kap. 55 II 4 – 9. Spitzl 46 f. 24 Mal Kap. 57 II 49 / 50. 25 Mal Kap. 57 II 49 – 59. Spitzl 53 ff. 26 Mal Kap. 55 II 8 / 9. 27 In den einzelnen Kurien: Mal Kap. 56 II 32 – 47; in den Komitien: Kap. 57 II 59 – 65.

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den die Täfelchen gelegt wurden, und in jeder Kurie beobachteten drei vom Wahlleiter ernannte und vereidigte Stimmwächter die Stimmabgabe. Sie mußten Gemeindebürger sein, aber einer anderen Kurie angehören. Und weil sie die Stimmkörbe nicht aus dem Auge lassen durften, konnten sie statt in ihrer eigenen Kurie dort abstimmen, wo sie die Kontrolle übten. Außerdem konnte jeder Kandidat an jedem Korb einen custos seiner Wahl aufstellen.28 Wahlmanipulation wurde offenbar umso eher befürchtet, als die Kandidatur erzwungen sein konnte. Der duumvir mußte der Bürgerversammlung mindestens so viele Kandidaten präsentieren, wie Ämter zu besetzen waren, für das höchste Amt, den Duumvirat, also in der Regel zwei. Lag nur eine oder gar keine Bewerbung vor, mußte er einen oder zwei wahlfähige Bürger zu Kandidaten bestimmen. Die von ihm bestimmten Kandidaten konnten dann ihrerseits je einen Kandidaten nominieren, und diese Kandidaten wiederum je einen weiteren. Sie alle präsentierte im Wahltermin der duumvir den Komitien so, als hätten sie sich rechtzeitig, in der Bewerbungsfrist, sua sponte beworben: ob die Kandidatur freiwillig war oder erzwungen, spielte für die Wahl keine Rolle.29 Der Zwangskandidatur konnte sich der wahlfähige Bürger so wenig entziehen, wie, bei seiner Wahl, der Übernahme des Amts. Sie waren Bürgerpflichten, munera, nach denen er übrigens mit municeps auch benannt war. Die Möglichkeit der Zwangskandidatur legt die Vermutung nahe, daß nach der Erfahrung des Gesetzgebers die Ämter nicht unbedingt begehrt waren, obgleich sie dem Amtsinhaber auch dauerhafte Vorteile versprachen. Wer eine Magistratur bekleidet hatte, konnte damit rechnen, bei nächster Gelegenheit in den Stadtrat gewählt zu werden; und war er bei seiner Wahl zum duumvir oder Ädil oder Quästor schon Mitglied des Stadtrats, erwarb er mit Ablauf der Amtszeit das römische Bürgerrecht; und zwar nicht nur für sich, sondern auch für seine Eltern, seine Frau, seine ehelichen Kinder und die seiner Söhne.30 Die civitas Romana verdrängte nicht das munizipale Bürgerrecht und stellte auch nicht von den munizipalen Bürgerpflichten frei. Aber sie hob das soziale Ansehen. Ziel und Absicht dieser Regelung siehe ich darin, die Ausbildung eines städtischen Patriziats zu fördern. (b) Die Lex Irnitana sah für den Stadtrat 63 Mitglieder vor. Über seine Konstituierung erfahren wir nichts; sie war vermutlich in den verlorenen Teilen des Gesetzes geregelt. Aufgefüllt wurde er, bei Bedarf jährlich, durch Kooptation. Decurio konnte jeder Bürger von Irni werden, der frei geboren war, das 25. Lebensjahr erreicht hatte und über ein Vermögen von mindestens 5000 Sesterzen verfügte.31 Mal Kap. 55 II 9 – 25. Mal Kap. 51 I 1 – 27. Mommsen 316. 30 Irn Kap. 21 III A 39 – 45: Qui ex senatoribus decurionibus conscriptisve municipii Flavi Irnitani magistratus … creati sunt erunt, ii, cum eo honore abierint … cives Romani sunto … H. Galsterer, Municipium 90, und Gonzales 215 entnehmen dem Text, daß der Dekurionat, wie ein Lebensalter von 25 Jahren, zu den allgemeinen Voraussetzungen der Wahl zum Magistrat gehörte. Dagegen schon Lamberti 33. Mommsen 298 ff. 28 29

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Der Stadtrat war die bedeutendste Institution der Gemeinde. Seine Zuständigkeit war weit gefaßt; über vieles mußte er befragt und seine Entscheidung herbeigeführt werden. Die duumviri beriefen ihn ein32 und leiteten seine Sitzungen nach Regeln, die das Gesetz selbst vorsah. Zu Beginn des Amtsjahres mußte der Rat die Mittel für Kultus, Spiele und öffentliche Speisung bewilligen33, die Amts- und Gerichtsferien festlegen34, jedem Gemeindesklaven seine Arbeiten zuteilen35 und anderes mehr. Nur nach Maßgabe seiner Beschlüsse durften die duumviri Ausgaben tätigen36 und Darlehen aufnehmen37. Ein Haus in der Stadt, das nicht binnen Jahresfrist wieder aufgebaut werden sollte, durfte nur mit seiner Erlaubnis abgerissen werden.38 Den Bau von Straßen und Wegen, von Gräben und Kloaken mußte er beraten und beschließen.39 Und in den engen Grenzen, die schon das Gesetz zog, konnte nur er Bürger und Einwohner zu Hand- und Spanndiensten verpflichten.40 Er entschied über die Einstellung der Stadtschreiber, die das Archiv und die Rechnungsbücher verwalteten41, auch über ihre Entlohnung und die der anderen Amtsdiener42. Und ebenso lag die Freilassung von Gemeindesklaven in seiner Entscheidung.43 Wer mit einer multa, einem Bußgeld, überzogen worden war, konnte beim Stadtrat Beschwerde einlegen44, und ausnahmsweise fungierte er auch als Gericht, wenn nämlich der Bürger oder Einwohner, den die Stadt verklagt hatte, es wünschte.45 Für die meisten Entscheidungen des Stadtrats fordert das Gesetz die Präsenz von zwei Dritteln seiner Mitglieder46; für manche Entscheidungen darüber hinaus auch eine zweidrittel Mehrheit der Stimmen47; nicht selten Abstimmung per tabellam und gelegentlich die Beeidigung der Dekurionen unmittelbar vor der Stimmabgabe, so wenn der Stadtrat Gerichtsbarkeit übte.48 31 Arg. Kap. 86 IX B 49 – 54. Etwa zur gleichen Zeit war in Comum (Como) der Zensus für den Dekurionat 100.000 Sesterzen: Plin. epist. 2. 19. 2: esse autem tibi centum milium censum satis indicat, quod apud nos decurio es. 32 Irn Kap. 49 V C 34 / 35. 33 Irn Kap. 77 VIII C 21 – 28. 34 Irn Kap. 49 V C 24 – 32. 35 Irn Kap. 78 VIII C 29 – 36. 36 Irn Kap. 79 VIII C 37 – 58. 37 Irn Kap. 80 IX A 14 – 21. 38 Irn Kap. 62 VII A 37 – 47. 39 Irn Kap. 82 IX A 29 – 34. 40 Irn Kap. 83 IX A 35 – 51. 41 Irn Kap. 73 VIII B 32 – 35. 42 Irn Kap. 73 VIII B 43 – 44. 43 Irn Kap. 72 VIII B 6 – 30. 44 Irn Kap. 66 VII C 14 – 17. 45 Irn Kap. 69 VIII A 10 – 24. 46 Ausnahmsweise auch von drei Vierteln: Irn Kap. 79 VIII C 50 / 51. 47 Irn Kap. 45 V B 26 – 30.; eine dreiviertel Mehrheit, wenn ein früherer Beschluß aufgehoben werden sollte: Irn Kap. 42 V A 36 – 41. 48 Irn Kap. 69 VIII A 10 – 24.

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(c) Die erforderlichen Entscheidungen des Stadtrats herbeizuführen, lag in der Hand der duumviri, und die Ausführung der Beschlüsse verteilte sich auf sie und die anderen Magistrate, die Ädile und Quästoren. Ihre Aufgaben gingen freilich darüber hinaus. Die Ädile49 waren für die Getreideversorgung verantwortlich, für den Zustand der Bäder und Kloaken, für Ruhe und Ordnung in der Stadt, sie führten die Aufsicht über Tempel, Kultstätten und den Markt und kontrollierten Maße und Gewichte. Sie waren zu Pfändungen berechtigt und durften Bußen verhängen und hatten auch Gerichtsbarkeit in Bagatellsachen. Die Quästoren verwalteten die Gelder der Stadt. Sie verwahrten und führten die Kasse, wiesen die genehmigten Zahlungen an, beispielsweise für Spiele oder sakrale Zwecke, und trieben die Außenstände ein.50 Das Kapitel über die Zuständigkeit und die Aufgaben der duumviri ist nicht erhalten. Wir sahen indessen, daß sie die Bürgerversammlung und den Gemeinderat einberiefen und deren Sitzungen leiteten, daß sie den Wahlkomitien die gehörige Zahl von Kandidaten präsentieren und den Stadtrat mit einer Vielzahl von Aufgaben befassen mußten. Als die höchste Gewalt in der Stadt konnte jeder von ihnen (mit geringen Einschränkungen) jede Maßnahme des Kollegen und der nachgeordneten Magistrate durch Einspruch verhindern, aber auch jede Sache an sich ziehen, ungeachtet der den Ädilen und Quästoren zugeschriebenen Kompetenzen. Die duumviri waren, nach dem Beispiel der stadtrömischen Konsuln, dank ihrer Allgewalt sozusagen allzuständig. Auf zwei der ihnen ausdrücklich vorbehaltenen Aufgaben möchte ich noch näher eingehen. (1) Wie eingangs erwähnt, kam das römische Staatswesen bis tief in die Kaiserzeit ohne großen bürokratischen Apparat aus. In den Provinzen war die Verwaltung weithin den Städten überantwortet. Aber auch die Städte verfügten nur über einen kleinen Stab von Verwaltungspersonal. Sie hielten es wie die Staatsverwaltung: sie übertrugen die Ausführung ihrer Geschäfte auf Private, auf Einzelne, überwiegend allerdings auf genossenschaftlich organisierte Unternehmen. Bekannt ist die Steuerpacht: die publicani pachteten vom Staat die Steuer; gegen einen Pauschbetrag erhielten sie das Recht, die dem Staat geschuldete Steuer beizutreiben und zu behalten. Die Staatspacht war das dominierende Instrument der gesamten antike Wirtschaftsverwaltung. In welchem Maße Rom davon Gebrauch machte, führt uns eine in Südportugal gefundene Bronzetafel vor Augen, deren Inschrift als Bergwerksordnung von Vipasca bekannt ist. Der Staat nahm dort offenbar jedes Gewerbe als sein Geschäft in Anspruch. Denn das Fragment sieht vor, daß die Bergwerksverwaltung die Gewerbe des Auktionators, Bademeisters, Schusters, Barbiers, Walkers und Schulmeisters verpachtete. In welchem Umfang Irni diese Praxis nutzte, wissen wir nicht. Die Lex Irnitana verpflichtet aber die duumviri, vectigalia et ultro tributa, Steuern und andere Abgaben zu verpachten, sive quid aliut … locari oportebit, und was immer sonst zu verpachten nötig sein wird. Und sie verpflichtet die duumviri 49 50

Irn Kap. 19 III A 5 – 16. Irn Kap. 20 III A 28 – 30.

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weiter, die Verträge und Pachtsummen in tabulas communes, durch öffentlichen Aushang, für jedermann einsichtig zu machen. An anderer Stelle des Gesetzes werden die Magistrate sowie deren Söhne und Enkel, Geschwister, Väter und Großväter als Pächter und von jeder Art der Teilhaber an Pachtgenossenschaften strikt ausgeschlossen. Wer gegen dieses Verbot verstieß, haftete der Stadt auf das Doppelte seines Interesses und konnte von jedem Stadtbürger verklagt werden. Die Nachteile des Pachtsystems waren dem Gesetzgeber offenbar geläufig. (2) Die andere Zuständigkeit der duumviri, die noch zur Sprache kommen muß, ist ihre Gerichtsbarkeit. Sie gab ihnen auch den Namen, der nämlich vollständig lautete duumviri qui iure dicundo praesunt oder einfach duumviri iure dicundo. Die Gerichtsbarkeit, die ihnen das Stadtrecht zusprach, war Zivilgerichtsbarkeit; Strafgerichtsbarkeit hatten sie keine; sie war dem Statthalter vorbehalten. Die eigene Gerichtsbarkeit galt als das eigentliche Kriterium der städtischen Autonomie. In der Lex Irnitana nimmt sie mit 9 Kapiteln mehr Raum ein als jeder andere Regelungsbereich. Es sind die Kapitel 84 bis 92, die mit 217 Zeilen 4 der insgesamt 30 Kolumnen füllen.51 Ihr ausschließlicher Gegenstand ist die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren. Für das anzuwendende materielle Recht wird pauschal auf das römische ius civile verwiesen52, dessen Geltung für die Bürger und Einwohner der latinischen Munizipien sich allerdings schon per definitionem verstand. Die Geltung des römischen Zivilprozeßverfahrens in seinen Grundzügen wird dagegen ohne weiteres vorausgesetzt. Das Konzept der Kapitelfolge ist plausibel, Notwendigkeit und Abfolge der Regeln sind einsichtig. Zuweisung und Definition der Gerichtsbarkeit eröffnen in Kap. 84 die Sektion. Die Gerichtsbarkeit, die das Gesetz den duumviri hier gewährt, ist der Materie nach umfassend, dem Streitwert nach jedoch begrenzt. Von der ratione materiae unbegrenzten Zuständigkeit nimmt das Gesetz allerdings eine Reihe teils durch allgemeine Merkmale, teils individuell bestimmter Klagen aus, einige von ihnen wiederum mit der Maßgabe, daß die Parteien die lokale Zuständigkeit einverständlich begründen können. Die Streitwertgrenze war überraschend niedrig: an ihr scheiterte jede Klage, deren Wert 1000 Sesterzen überstieg. Sie war außerdem absolut und konnte darum auch nicht durch das Einverständnis der Parteien überwunden werden. Für Klagen, deren Wert die Streitwertgrenze überstieg, war stets der Statthalter zuständig. Ich bilde ein Beispiel: Die Klage aus Auftrag war von der Jurisdiktion des duumvir ausgenommen, weil mit der Verurteilung Infamie verbunden war, eine Bescholtenheit mit tiefgreifenden Folgen. Ging die Klage auf 1200 Sesterzen, war der duumvir nicht zuständig, weil sie die Streitwertgrenze überschritt. Ging sie auf 800 Sesterzen, war er nicht zuständig, weil die Mandatsklage von seiner Jurisdiktion ausgenommen war. Für diese Klage auf 800 Sesterzen konnten die Parteien seine Zuständigkeit aber begründen, für die auf 1200 Sesterzen dagegen nicht. Ich bin in dieses Detail gegangen, um einen Eindruck vom Filigran der 51 52

Irn Kap. 84 IX A 51 – 92 X B 51. Irn Kap. 93 X B 52 – C 4.

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Zuständigkeitsregelung zu geben. Sie besteht aus einem einzigen, grammatisch zwar streng durchgebildeten Satz, der indessen so komplex ist, daß die Regelung lange Zeit in wesentlichen Punkten mißverstanden wurde. Im nächsten Kapitel verpflichtet das Gesetz den duumvir, das Jurisdiktionsedikt des Statthalters, eine Art Klagspiegel, nämlich eine Liste aller verfügbaren Klagen, täglich und für die meiste Zeit des Tages, öffentlich und für jedermann gut lesbar aufzustellen und nach dessen Maßgabe zu judizieren53 – auch eine Vorschrift, die voraussetzt, daß die Fähigkeit zu lesen verbreitet war. In einem zweiten Block54 folgen Regeln über Erstellung und öffentlichen Anschlag der Richterliste sowie über die Auswahl eines Richters aus dieser Liste und seine Ernennung durch den Magistrat. Für unsere Vorstellung von Justiz und Gerichtswesen ist die äußere Gestalt des römischen Gerichtsverfahrens höchst fremdartig. Den römischen Prozeß kennzeichnet nämlich die Teilung des Verfahrens in zwei nach Ort und Zeit getrennte Abschnitte: einen prozeßeinleitenden vor dem Gerichtsmagistrat, in Irni also dem duumvir, und einen zweiten vor dem iudex, einem Privatmann, den der Magistrat ernannte und anwies, den Prozeß durchzuführen und auch das Urteil zu sprechen. Vor dem Magistrat wurde die Klage erhoben, das Klagbegehren vorgetragen, die Widerrede des Beklagten gehört und schließlich das Streitprogramm festgelegt, das für den iudex verbindlich war, nach dessen Maßgabe er also verfahren und urteilen mußte. Der erste Verfahrensabschnitt endete mit der Ernennung des iudex und dessen Instruktion durch den Magistrat. Was uns allein interessieren soll, ist die Auswahl des iudex. Die Streitparteien konnten sich auf einen Bürger von Irni verständigen, den dann der duumvir zum iudex bestellen mußte. Der duumvir war an den Vorschlag der Streitparteien gebunden, und wer von den Streitparteien vorgeschlagen wurde, konnte sich nur mit Krankheit oder hohem Alter entschuldigen. Konnten die Parteien sich nicht auf einen Vorschlag verständigen, kam in einem aufwendigen Verfahren die Richterliste zur Anwendung. Das Gesetz verpflichtete die duumviri, binnen fünf Tagen nach Amtsantritt die Richterliste zu erstellen und an allen übrigen Tagen ihres Amtsjahres in tabulis scripta, auf Holztafeln geschrieben, aput tribunal suum, vor der Gerichtsstätte und für jedermann gut lesbar auszustellen. Die Zahl der Listenplätze bestimmte der Statthalter und auch nach seiner Vorgabe mußten sie von den duumviri teils mit Stadträten, teils aus der übrigen Bürgerschaft besetzt werden. Wie die Stadträte mußten auch die frei gewählten Kandidaten ingenui, frei geborene Bürger sein, das 25. Lebensjahr vollendet haben, über ein Vermögen von mindestens 5000 Sesterzen verfügen und nach dem Urteil der duumviri für das Richteramt geeignet. Schließlich waren die Richterkandidaten auf drei, der Zahl nach möglichst gleich starke curiae zu verteilen. 53 54

Irn Kap. 85 IX B 28 – 42. Irn Kap. 86 IX B 42 – 89 X A 25.

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War nun aus der Richterliste ein iudex zu bestellen, weil sich die Streitparteien nicht auf einen Vorschlag hatten verständigen können, kam es zu folgendem Verfahren. Von den drei Kurien konnte jede Partei eine Kurie abwählen. Als erster wählte der Kläger, der damit die Auswahl auf zwei Kurien verkürzte, während der Beklagte mit seiner Abwahl die Kurie bestimmte, aus der nunmehr allein der iudex kommen konnte. Dessen Wahl erfolgte nach demselben Muster: aus der dritten Kurie konnten die Streitparteien abwechselnd jeweils einen Kandidaten abwählen, bis nur noch einer übrig blieb, den dann der Magistrat zum iudex bestellen mußte. Auch hier bestimmte das Gesetz, wer den Anfang machte. War die Zahl der Kandidaten ungrad, mußte der Kläger beginnen; war sie gerade, der Beklagte. Mit dieser Vorschrift sicherte das Gesetz, daß in jedem Fall dem Beklagten die letzte Wahl zustand, daß letzten Endes, wenn die Auswahl auf zwei Kandidaten beschränkt war, er bestimmte, wer von den beiden in seiner Sache Richter wurde. Eine leichte Begünstigung des Beklagten, der der Klage ja nicht ausweichen konnte. Ich breche hier meinen rhapsodischen Bericht über die Lex Irnitana ab, um in einem dritten kurzen Abschnitt eine Zusammenschau des Beitrags der Stadtrechte zur Romanisierung Spaniens zu versuchen.

III. 1. Ein nahe liegender Einwand ist vorweg zu erörtern. Wir haben das Gesetz, aber wissen wir, ob es auch angewandt und durchgesetzt wurde? Angewandt und durchgesetzt auch seine oft anspruchsvollen Details, vor allem aber das mit ihm verbindlich eingeführte römische Privatrecht, eine auch schon zu dieser Zeit hochentwickelte Rechtsordnung? Die Antwort muß unterscheiden zwischen der Stadtverfassung und der Privatrechtsordnung. Für die Stadtverfassung gibt die Lex Irnitana selbst die Antwort. Nicht nur, daß sie immer wieder die Mißachtung einer Vorschrift oder die Verhinderung einer von ihr angeordneten Maßnahme mit einer erheblichen Bußzahlung belegt; etwa die Weigerung des gewählten Magistrats den Amtseid überhaupt oder in der vorgeschriebenen Weise zu schwören55 oder den Versuch, Wahlkomitien zu stören oder verhindern56; in Kap. 96, dem eigentlichen Schlußkapitel, bedroht die Irnitana jeden, der bewußt gegen das Gesetz handelt oder es umgeht, mit einer unerhörten Bußzahlung, nämlich von 100.000 Sesterzen. Und jede Buße konnte von jedem Bürger der Stadt für die Stadt eingeklagt werden. Bei diesen Sanktionen ist nicht zu bezweifeln, daß die Stadtverfassung wirklich angewandt und ohne Aufschub durchgesetzt wurde. Für die Anwendung und Durchsetzung des römischen Privatrechts muß die Antwort anders ausfallen. Die Irnitana verpflichtet zwar die Bürger Irnis ausdrücklich, 55 56

Irn Kap. 26 III B 49 – 52. Mal Kap. 58 Col. II 66 – Col. III 5.

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ihre Rechtsverhältnisse nach römischem ius civile zu ordnen und zu gestalten57; verpflichtet die duumviri das Jurisdiktionsedikt der Statthalters, den ‚Klagspiegel‘, wie ich ihn genannt habe, ein Verzeichnis sämtlicher prozessualen Rechtsmittel öffentlich auszustellen und danach zu judizieren58; auch kann nicht zweifelhaft sein, daß die römische Gerichtsbarkeit und der römische Prozeß unverzüglich eingeführt wurden und die Bürger nur noch vor dem römischen Gericht der duumviri Recht nehmen konnten. Gleichwohl können wir uns nicht leicht vorstellen, daß die iberische Bürgerschaft Irnis, auch ihre Bereitschaft unterstellt, von heute auf morgen ihre gelebte Tradition aufgab und dem neuen Recht folgte, das nicht fremdartiger hätte sein können mit seiner Hausgewalt des pater familias, seiner mehrschichtigen Erbordnung, seinem Nachbarrecht oder auch nur der Sachmängelhaftung des Käufers. Bevor dieses Recht den Alltag bestimmte, müssen viele Jahre vergangen sein, die Spanne einer Generation, vielleicht mehr. Daß es aber demnächst die Lebenswelt Spaniens und gewiß auch Irnis bestimmte und formte, bezeugen uns noch die Westgoten, die für die römische Bevölkerung ihres Reichs ein eigenes Gesetzbuch aus Kaiserkonstitutionen und Juristenschriften des 2. und 3. Jahrhunderts schufen. 2. Der Beitrag der Stadtrechte zur Romanisierung erschöpfte sich nicht in Einführung und Praxis einer römischen Gemeindeverfassung und, für das Leben der Menschen erheblicher, des römischen Privatrechts. Sie sind die äußeren Daten der Anverwandlung römischen Lebensführung. Auf Dauer blieb von Bedeutung, was sie die Menschen erfahren ließen, was sie ihnen abverlangten und gewährten. Mit allem, was hier zu sagen ist, bewegen wir uns freilich im Grenzgebiet zwischen Möglichem, allenfalls Wahrscheinlichem und zuversichtlicher Spekulation. Unsere Überlegungen sind Folgerungen aus Zuständen und Verhältnissen, von denen wir wissen, daß sie mit der Verleihung des Stadtrechts und der civitas Latina intendiert waren, von denen wir auch vermuten dürfen, daß versucht wurde, sie zu verwirklichen, von denen wir aber nicht wissen, in welchem Maße sie erreicht worden sind, ob sie mithin unsere Folgerungen tragen oder nicht. Belege fehlen in Irni völlig und beschränken sich andernorts auf Inschriften, die bestenfalls von Karrieren in der Hierarchie der Ämter berichten. Mit diesem Vorbehalt fragen wir denn, was die neue Rechtsordnung die Menschen erfahren ließ, was sie ihnen abverlangte und gewährte. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in der Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse gehörten dazu. Die Vertragsfreiheit des ius civile gewährte und forderte die eigenverantwortliche Selbstbestimmung. Und wie wir sahen, überließ das Recht selbst den Streitparteien, in eigener Verantwortung den Richter zu bestimmen, der in ihrem Streit entscheiden sollte. Der Eigenverantwortung verschwistert ist die solidarische Verantwortung, die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen, das seine personale Bestim57 58

Irn Kap. 93 X B 52 – X C 4. Irn Kap. 85 IX B 28 – 42.

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mungsfreiheit verbürgt. Das Stadtrecht belegt sie mit vielen Beispielen: vor allem der Teilnahme an der Selbstverwaltung als decurio im Stadtrat; als Magistrat im einjährigen Amt des duumvir, des Ädils oder Quästors; als Kandidat auf der Richterliste oder als ernannter Richter; auch als Botschafter, den der Stadtrat bestellte59 für Missionen zum Gouverneur der Provinz oder zum Kaiser nach Rom; als vereidigter custos der Magistratswahlen, und nicht zuletzt auch als Kläger, der die an die Stadt verfallene Buße einklagt. Der mögliche Zwang zur Übernahme einer Magistratur, des Richteramts oder einer Gesandtschaft unterstreicht nur die Gemeinpflichtigkeit des Bürgers. Was sich den Menschen ebenso mitteilen mußte, war die gesetzliche Vorschrift bestimmten Verfahrens bei allen rechtlich relevanten Vorgängen des Gemeinwesens. Ich erinnere an die Wahl der Magistrate in den Komitien: die Anmeldung der Kandidatur, die Veröffentlichung der Kandidatenliste, die wenn immer erforderliche Nominierung von Zwangskandidaten, die Einberufung der Wahlversammlung, den Vorsitz, die Modalitäten der Wahl, die Auszählung der Stimmen bis hin zur Verkündung der Ergebnisse: kein Detail, das die Irnitana nicht regelte. Oder das Verfahren der Auswahl eines Listenrichters, über das ich bereichtet habe. 3. Voraussetzung dieses Legalismus, den die Verfahrensregeln der Irnitana eindrücklich zur Anschauung bringen, der sich aber nicht auf Verfahren beschränkt, vielmehr der gesamten römischen Rechtsordnung eigentümlich ist – Voraussetzung dieses Legalismus ist die Sonderung des Rechts von der Lebenswelt der sozialen Werte und Zwecke; ist die Isolierung des rechtlichen Teilsystems gegen andere soziale Regelsysteme und ihre Sanktionen wie dem Moralgebot, der Sitte, dem Brauch oder der Konvention. Diese Isolierung erlaubt die ausschließliche Herrschaft der Rechtsregel, bedeutet, daß das Recht autonom ist und nicht inhärent einer allgemein akzeptierten Sozialmoral wie im alten China, oder unmittelbar erfließt aus geoffenbarten religiösen Texten wie im Judentum und im Islam. Um mich vielleicht deutlicher zu machen: Mit ‚ausschließlicher Herrschaft der Rechtsregel‘ meine ich die Unterwerfung der Entscheidung über soziale Beziehungen und Konflikte unter eine allgemeine Rechtsregel, die in ihrer Geltung und Anerkennung unabhängig ist von einem Wert oder Zweck, der außerhalb ihrer selbst liegt, einem moralischen etwa oder sozialen oder politischen. Worin, fragen wir zuletzt, konnte sich dem neuen Rechtsgenossen diese singuläre Eigentümlichkeit des römischen Rechts mitteilen, worin konnte der Bürger von Irni die Autonomie der Rechtsordnung, die nun die seine war, erfahren? Die ausschließliche Herrschaft der Rechtsregel bedeutete eine Verrechtlichung der sozialen Beziehungen und entlastete damit die sozialen Konflikte von Emotionen, Interessen und Vorurteilen. Sie schloß die Willkür irrationaler Beweismittel und Rechtsfindung aus und verbürgte mit der Rationalisierung der Konfliktlösung auch mehr Rechtssicherheit für den Einzelnen. Vielleicht förderten diese Aussichten die Anerkennung 59

Irn Kap. 45 V B 10 – 45.

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und Akzeptanz der neuen Rechtsordnung in Irni und bald in allen Gemeinden Spaniens. Für die Römer, deren Jurisprudenz dieses Recht geschaffen hat, war sie das Fundament der Gesittung, die sie, getreu dem Vergilwort, nächst dem Frieden den unterworfenen Völkern bringen und sie damit zu ihres gleichen machen wollten. In welchem Maße dies gelungen ist, ist schwer abzuschätzen. Ob die Iberer und Kelten Spaniens eines Tages den Römern moribus artibus wirklich in nichts mehr nachstanden, was von den Galliern schon Claudius behauptete, steht dahin. Nur in einem können wir sicher sein: (um mit diesem Schlenker zu enden) etwas Praktischeres, als Latein zu lernen, konnten sie kaum tun.

Die Lex Irnitana und die Tafeln von Veleia und Ateste I. Die Lex Irnitana 1. Die republikanischen Inschriften, das Fragmentum Atestinum und die Bruchstücke der Lex Rubria, geben uns nur beschränkte Kenntnis von der Zuständigkeit der lokalen Gerichte in der Gallia Cisalpina, deren Regelung außerdem durch die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle Bewohner der Provinz veranlaßt und bestimmt war. Ganz anders die Lex Irnitana. Sie gibt uns umfangreiche Kenntnis von der Gerichtsbarkeit im Municipium Flavium Irnitanum gegen Ende des 1. Jhs. n. Chr., zugleich, mit großer Wahrscheinlichkeit, von der Gerichtsbarkeit in allen Munizipien der Baetica, wenn nicht der gesamten iberischen Halbinsel. Die Baetica war die südlichste und kleinste der drei Provinzen, in die Augustus die iberische Halbinsel neu gegliedert hatte. Heute entspricht ihr etwa Andalusien. Sie hieß Baetica nach dem Fluß Baetis, den wir mit seinem arabischen Namen Guadalquivir nennen, an dem Cordoba und Sevilla liegen und der nördlich von Cadiz in den Atlantic mündet. Cordoba, römisch Corduba, war Sitz des Statthalters und damit die Hauptstadt der Provinz; Sevilla, römisch Hispalis, war ihr wirtschaftliches Zentrum; und das uralte Cadiz, das die Römer Gades nannten, war eine phönizische Gründung, aber schon seit 206 v. Chr. Rom ergeben und später die erste fremdländische Stadt außerhalb Italiens, die das römischen Bürgerrecht erhielt. Das war im Jahre 49 v. Chr., durch Caesar, der damit eine Politik der institutionellen Romanisierung einleitete. Sie wurde von Augustus energisch fortgesetzt und im Jahre 70 oder 71 n. Chr. durch Vespasian mit der Verleihung der ius Latii (minus) an alle Gemeinden Spaniens, die noch kein Bürgerrecht besaßen, vorerst abgeschlossen. Die Verleihung der Latinität wurde wirksam mit dem Erlaß der Munizipalordnung in der Form der lex data. Irni hat sein Stadtrecht in der ersten Hälfte der neunziger Jahre erhalten. Bevor die Inschrift gefunden wurde, wußten wir nicht, daß es Irni gab. Dabei kann der Ort nicht ganz unbedeutend gewesen sein: im Gemeinderat saßen immerhin 63 Dekurionen, eine Zahl, bei der die Stadt leicht 5.000 Einwohner gehabt haben kann. Irni lag im Landesinneren, grob gesagt zwischen Malaga und Sevilla, etwa 20 Kilometer südlich von Osuna, dem römischen Urso, der 44 v. Chr., noch auf Geheiß Caesars, gegründeten colonia civium Romanorum. 2. Von den zehn Bronzetafeln, auf denen das Stadtrecht von Irni eingeschlagen war, hat der Fund von 1981 sechs an den Tag gebracht. Der Text der Tafel 3 deckt

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wortgleich den des Fragments der Lex Salpensana und der Text der Tafel 7 und der ersten 12 Zeilen der Tafel 8 deckt ebenso wortgleich einen großen Teil des erhaltenen Textes der Lex Malacitana. Für die Stadtrechte von Irni, Malaca und Salpensa steht darum außer Zweifel, daß sie eine gemeinsame Vorlage hatten. Da sie sich municipia mit dem Zusatz Flavia nennen, der an die Verleihung ihres latinischen Bürgerrechts durch Vespasian erinnert, und da eine große Zahl spanischer Munizipien in ihrem Titel diesen Zusatz führt, liegt nahe, daß die Stadtrechte all dieser latinischen Munizipien nach dieser Vorlage konzipiert waren. 3. Zu den sechs erhaltenen Bronzetafeln des Stadtrechts von Irni gehören auch die Tafeln 9 und 10 mit den Rubriken über Verfassung und Rechtsgang der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit in Irni. Es sind die Kapitel 84 bis 93. a) Schon in ihrem Abschnitt über die Magistrate verfügte die Irnitana über die Jurisdiktion der Duumvirn und der Ädile: über die der Duumvirn vermutlich in Kap. 18, über die der Ädile, wie wir sehen in Kap. 19, und wie hier, so sicher auch dort mit der Maßgabe ut hac lege licebit. Entsprechend diesem Vorbehalt wird in Kap. 84 die iurisdictio der Duumvirn und Ädile definiert: mit genauer Umschreibung ihres Umfangs und ihrer Reichweite gewährt hier das Gesetz Duumvirn und Ädilen noch einmal die iurisdictio. b) Das Gesetzt verleiht dem Duumvir (nur von ihm ist zunächst die Rede) Gerichtsbarkeit auf dem Territorium der Stadt, über ihre Bürger und Einwohner, in privaten Rechtssachen (IX B 1 – 3). Diese Grenzen sind klar und eindeutig. Sie sind auch absolute Grenzen: sie unterliegen nicht der einverständlichen Verfügung der Streitparteien. c) Nicht so leicht zu überschauen ist die gegenständliche Eingrenzung der dem Duumvir eingeräumten Jurisdiktion. Sie wird zunächst generell beschränkt auf Streitsachen, deren Wert ‚1.000 Sesterzen oder weniger‘ beträgt. Diese Grundbestimmung lautet: qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit … II viri … iuris dictio … esto. Dem Duumvir soll indessen nicht für alle Prozesse mit einem Streitwert von ‚1.000 Sesterzen oder weniger‘ die Jurisdiktion zustehen oder ohne weiteres zustehen. Von dieser auf Streitsachen bis 1.000 Sesterzen begrenzten Jurisdiktion werden vielmehr eine Reihe von Klagen ausgenommen; für diese Klagen ist mithin der Duumvir auch dann nicht zuständig, wenn ihr Streitwert 1.000 Sesterzen nicht übersteigt. Dem Katalog dieser Klagen folgt schließlich eine Prorogationsklausel, die den Streitparteien das Recht gibt, gesetzliche Einschränkungen der duumviralen Jurisdiktion durch ihr Einverständnis zu überspielen. 4. Die Reichweite dieser Prorogationsklausel ist umstritten. In Frage steht, ob sie auch für die Streitwertgrenze galt: ob die Streitparteien durch ihr Einverständnis die Zuständigkeit des Duumvir auch für Prozesse begründen konnten, deren Streitwert 1.000 Sesterzen überstieg. Auf diese Frage ist näher einzugehen. a) Der Katalog der Ausnahmen ist grammatisch streng organisiert. Die ausgenommenen Klagen sind in vier Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe wird mit neque ein-

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geleitet. Innerhalb dieser Gruppen wird die nächste Untergliederung mit aut getroffen, und in diesen Untergruppen für weitere Disjunktionen das enklitische -ve verwendet. An den positiven Satz qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit wird mit neque ea res dividua … facta sit fiatve eine negative Beschränkung angeknüpft. Aut und das enklitische -ve setzen die Negation des vorausgehenden neque-Satzes fort. Die noch folgenden drei neque-Sätze hätten auch mit aut angeschlossen werden können. Dann allerdings wäre das Darstellungsschema des Ausnahmekatalogs verwischt und die Absicht dieser syntaktischen Struktur verfehlt worden. Der syntaktischen Struktur des Ausnahmekatalogs entspricht nämlich eine Aufgliederung der Klagen nach sachlichen Kriterien. Auf sie kommen wir später zurück. b) Der Liste der ausgenommenen Klagen folgt die Klausel: de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet (sci. IIviri iuris dictio esto). Fast alle Interpreten beziehen diese Klausel sowohl auf die ausgenommenen Klagen wie auch auf die allgemeine Begrenzung quae res HS ∞ minorisve erit. Diese Interpretation ist jedoch verfehlt; sie scheitert am Text. Die Klausel de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet erstreckt sich nicht auf den Satz quae res HS ∞ minorisve erit. Die Logik des sprachlichen Ausdrucks erlaubt nicht zu sagen: ‚Der Duumvir soll Jurisdiktion haben über eine Rechtssache, die 1.000 Sesterzen wert ist oder weniger, … über diese Rechtssache auch, wenn beide Parteien es wollen.‘ Nur von einer vorausgehenden negativen Aussage kann ich sagen: de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet. Das Satz qua de re … quae res HS ∞ minorisve erit enthält aber eine positive Aussage. Negativ gefaßt sind die Ausnahmen. Das Ergebnis unserer Analyse: Die Prorogationsklausel de is rebus etiam, si uterque, inter quos ambigetur, volet erstreckt sich nicht auf quae res HS ∞ minorisve erit. Sie kann sich nur auf die ausgenommenen Klagen beziehen. Die allgemeine Streitwertgrenze stand mithin nicht zur Disposition der Parteien; sie war eine absolute Grenze. Die absolute Begrenzung der lokalen Jurisdiktion auf Streitsachen bis zu 1.000 Sesterzen wird in Kap. 89 auch ohne weiteres vorausgesetzt. Das Gesetz weist hier den Duumvir an, de ea re quae HS ∞ minorisve erit einen iudex oder recuperatoes zu bestellen nach der Regel, die in Rom gilt. Zu Streitsachen, deren Wert 1.000 Sesterzen übersteigt, sagt das Gesetz nichts über die Richter, die zu bestellen wären, weder hier noch an anderer Stelle. Solche Streitsachen kamen in Irni nicht vor. c) Die Prorogationsklausel in Kap. 84 kann sich sprachlich auf alle in den neque-Sätzen aufgeführten Klagen beziehen. Sie muß sich aber nicht auf alle erstrecken; es ist auch möglich, daß sie nur für die des letzten neque-Satzes galt. Daß sie nur für die Klagen des letzten und vorletzten neque-Satzes galt oder nur nicht für die des ersten, ist bei der strengen Organisation des Textes so gut wie ausgeschlossen. Bevor wir diese Frage verfolgen, ist ein Blick auf die von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommenen Klagen zu werfen.

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5. Im ersten neque-Satz werden die Klagen ausgenommen, die geeignet waren, die Grenzen der Jurisdiktion zu unterlaufen, zum einen die allgemeine Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen, zum anderen die Unzuständigkeit des Duumvir für Freiheitsprozesse, die sich aus dem dritten neque-Satz ergibt. Der Ausschluß dieser Klagen, der in Kap. 89 wiederholt wird, bedarf keiner weiteren Erklärung. Durch den zweiten neque-Satz werden pauschal alle Streitsachen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgeschlossen, deren Tatbestand Gewaltanwendung voraussetzte. Die Klausel neque ea res agetur qua in re vi factum sit galt indessen nicht ohne Gegenausnahme; sie galt nicht, wenn die Gewaltanwendung ‚wegen eines Interdikts‘ geschehen war: quod non ex interdicto decretove iussuve eius, qui iure dicundo praeerit, factum sit. Diese Gegenausnahme bedarf noch der Untersuchung, auf die wir uns hier nicht einlassen können. Das Motiv der Lex Irnitana, Gerichtsverfahren über Gewaltanwendung von der lokalen Jurisdiktion auszuschließen und der Gerichtsbarkeit das Statthalters vorzubehalten, liegt auf der Hand: der Ausschluß dieser Klagen war ein Gebot der Machtsicherung und des Friedensschutzes. An dritter Stelle werden Freiheitsprozesse von der Jurisdiktion des Duumvir ausgeschlossen. Maßgebend für diesen Ausschluß war auch hier das öffentliche Interesse. Es ergab sich daraus, daß mit der Latina libertas der Status der Latinität verbunden war und der Freigelassene municeps der Gemeinde seines Patrons wurde. Die Verurteilung aus den Klagen, die das Gesetz im vierten neque-Satz von der Jurisdiktion des Duumvir ausnimmt, bewirkte eine Bescholtenheit des Verurteilten, an die, mit einer Ausnahme, die Rechtsordnung in verschiedenen Bereichen bedeutende Nachteile knüpfte; es sind die actiones famosae. Ihren Ausschluß forderte kein unmittelbares öffentliches Interesse, wie den Ausschluß der Freiheitsprozesse und der Klagen wegen Gewalttätigkeiten. Maßgebend war hier vielmehr der Schutz es Beklagten. Die Folgen der Verurteilung aus einer infamierenden Klage waren für ihn so schwerwiegend, daß der Prozeß dem Statthalter vorbehalten wurde. Seine Zuständigkeit nahm das Verfahren aus dem Geflecht der lokalen sozialen Beziehungen heraus und bot zugleich die höhere Gewähr für die richtige Entscheidung. Ich fasse wieder zusammen: Den vier neque-Sätzen entsprechen vier Kategorien von Klagen, die das Gesetz von der Jurisdiktion des Duumvir auch für den Fall ausschließt, daß der Streitwert die Grenze von 1.000 Sesterzen nicht übersteigt. Im ersten neque-Satz sind die Klagen zusammengefaßt, die geeignet waren, die allgemeine Streitwertgrenze und die Unzuständigkeit des Duumvir für Freiheitsprozesse zu unterlaufen. Ihr Ausschluß sichert die Wirksamkeit dieser beiden primären Zuständigkeitsvorschriften. Mit dem Ausschluß der Klagen wegen Gewalttätigkeiten im zweiten und der Freiheitsprozesse im dritten neque-Satz folgte die Irnitana öffentlichem Interesse: bei Gewaltanwendung forderte das Friedensgebot die Zuständigkeit des Statthalters, in Statusfragen die Ordnung des Gemeinwesens. Mit dem vierten neque-Satz schließlich werden die Klagen der Gerichtsbarkeit des Statthalters vorbehalten, die bei Prozeßverlust Bescholtenheit des Verurteilten bewirkten; diese Beschränkung der lokalen Jurisdiktion war im Interesse des Beklagten.

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6. Wir kommen auf die Prorogationsklausel zurück. Wie wir sahen, erstreckt sich die Klausel nicht auf quae res HS ∞ minorisve erit. Nach der Logik des sprachlichen Ausdrucks kann sie sich nur auf das anschließende Verzeichnis der Ausnahmen beziehen: nach dessen syntaktischer Organisation entweder auf das gesamte Verzeichnis, also auf alle vier neque-Sätze, oder nur auf den letzten neque-Satz. Der Ausschluß der im ersten neque-Satz zusammengefaßten Klagen sichert die allgemeine Streitwertgrenze sowie den Ausschluß der Freiheitsprozesse gegen Umgehung. Da die Streitwertgrenze nicht zur Disposition der Parteien stand, muß das Gesetz die lokale Zuständigkeit auch für die Klagen definitiv ausgeschlossen haben, die geeignet waren, die Streitwertgrenze zu umgehen. Und da das Gesetz zugleich praeiudicia und präjudizielle Sponsionen de capite libero ausschließt, kann für deren Ausschluß nichts anderes gelten: auch er muß definitiv sein. Und daraus ist wiederum zu folgern: auch der Ausschluß der Freiheitsprozesse selbst. Danach ergibt sich folgendes Bild: Die Streitwertgrenze war absolut. Das Gesetz gestattete den Parteien nicht, durch ihr Einverständnis die Zuständigkeit des Duumvir für Prozesse zu begründen, deren Streitwert 1.000 Sesterzen überstieg. Dasselbe galt für die Klagen wegen Gewalttätigkeit und für Freiheitsprozesse; auch sie waren der Gerichtsbarkeit des Statthalters definitiv vorbehalten. Anders nur die infamierenden Klagen; ihr Ausschluß unterlag der Disposition der Parteien; durch ihr Einverständnis konnten sie für diese Klagen die Zuständigkeit des Duumvir begründen. Die Systematik dieser Zuständigkeitsverteilung entspricht einem durchdachten Konzept. Das Gesetz gewährt dem Duumvir dem Streitwert nach begrenzte, der Materie nach aber umfassende Jurisdiktion und nimmt von dieser ratione materiae unbegrenzten Zuständigkeit lediglich die in den neque-Sätzen aufgelisteten Klagen aus, teils definitiv, teils mit der Möglichkeit der Prorogation. Die Untersuchung der in den neque-Sätzen enumerierten Klagen hat auch die Gründe ihres definitiven oder bedingten Ausschlusses erkennen lassen. Die letzte Klausel der Zuständigkeitsverteilung, de ceteris quoque omnibus etc., ändert nichts an dem gewonnenen Bild: sie ist, wie man längst gesehen hat, redundant. Sie gehört zum Komplex der neque-Sätze, zu denen sie sich komplementär verhält: ‚Alle übrigen Streitsachen‘ sind die ungezählten Klagen, die nicht in den neque-Sätzen von der Jurisdiktion des Duumvir ausgenommen werden u n d nach ihrem Streitwert in seine Zuständigkeit fallen. Die de ceteris-Klausel hebt sich von der durchdachten Systematik und präzisen Darstellung der Zuständigkeitsverteilung ungünstig ab; sie fällt sozusagen aus dem Rahmen. Ich vermute, daß sie – wie der Satz eave de re in qua praeiudicium futurum sit de capite libero – einer anderen Textschicht angehört. Zuverlässig wird man darüber abererst urteilen können, wenn Sprach- und Darstellungsstil der Irnitana untersucht worden sind. Schließlich verfügt das Gesetz die Kompetenz de vadimonio promittendo. Sie wird dem Duumvir wohl darum ausdrücklich eingeräumt, weil, wie wir uns schon bei der Lex Rubria erinnert haben, die iurisdictio die Dekretierung einer Stipulation

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grundsätzlich nicht deckte. Wir gehen darauf nicht weiter ein und wenden uns der Gerichtsbarkeit der Ädile zu. In der Schlußklausel des Kapitels (IX B 23 – 28) schreibt das Gesetz zunächst dem Duumvir die vorweg definierte Jurisdiktion zu und verleiht sodann, anhangsweise, im gleichen Umfang Gerichtsbarkeit auch dem Ädil. Duumvir und Ädil wird zwar im gleichen Umfang, aber nicht einfach dieselbe Gerichtsbarkeit zugeschrieben; vielmehr wird dem Ädil gleichfalls Jurisdiktion verliehen. Sie wird auf dieselbe positive Art und Weise und mit derselben absoluten Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen, aber unabhängig von der des Duumvir definiert. Es heißt nicht etwa: IIviri, qui ibi iure dicundo praeerit, aedilisque, qui ibi erit, iuris dictio esto, sondern item eadem condicione, de eo, quod HS ∞ minorisve erit, aedilis, qui ibi erit, iuris dictio … esto. Alan Rodger hat darauf hingewiesen, daß diese Technik ohne weiteres erlaubte, den Jurisdiktionsbereich des Ädils gegenüber dem des Duumvirn zu variieren: nämlich seine Kompetenz, bei gleicher Zuständigkeit ratione materiae, abzustufen, etwa auf Bagatellsachen bis zu 200 Sesterzen zu begrenzen. Hier, in Kap. 84 geschieht das nicht. Anders aber in Kap. 19, wo die Irnitana Kompetenzen und Amtsgewalt der Ädile bestimmt. Und hier verfügt sie, daß die Ädile in denselben Streitsachen und für denselben Personenkreis wie die Duumvirn Gerichtsbarkeit haben sollen – aber nur bis zu einem Streitwert von 200 (III A 13 – 16). Eine dieser beiden Zahlen muß falsch sein. Die meisten ändern in Kap. 19 die Summenangabe ohne weiteres in ‚1.000 Sesterzen‘. Näher liegt, in der Schlußklausel von Kap. 84 die Summenangabe von ‚1.000 Sesterzen‘ in ‚200 Sesterzen‘ zu ändern. Denn neben der Gerichtsbarkeit der Duumvirn mit einer Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen ist eine Bagatellgerichtsbarkeit der Ädile bis zu 200 Sesterzen durchaus plausibel und außerdem in Kap. 84, wo von 1.000 Sesterzen wiederholt die Rede ist, ein Irrtum bei der Gravur oder schon in der Vorlage wahrscheinlicher als in Kap. 19. Bevor ich zum Ende komme, muß uns noch ein zweiter Widerspruch beschäftigen. Wie wir sahen, war die Zuständigkeit der lokalen Gerichtsbarkeit in Irni außerordentlich begrenzt. Alle Prozesse, deren Streitwert über 1.000 Sesterzen betrug, waren der Gerichtsbarkeit der Duumvirn entzogen und dem Gericht des Statthalters vorbehalten. Darüber hinaus waren eine Reihe von Klagen von der lokalen Gerichtsbarkeit auch dann ausgeschlossen, wenn der Streitwert 1.000 Sesterzen nicht überstieg. Insbesondere ergab sich, daß die Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen strikt, daß sie die absolute Maximalgrenze war. Wie wir sahen, läßt der Text von Kap. 84 kein anderes Verständnis zu. Die strikte Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen wird auch in Kap. 89 vorausgesetzt, und daß sie nicht ohne Beispiel war, belegen das Fragmentum Atestinum und die Lex Rubria. In anderen flavischen Munizipien scheint dagegen die Streitwertgrenze nicht strikt gewesen zu sein, sondern der Disposition der Streitparteien überlassen. Diese Vermutung legt jedenfalls Kap. 69 nahe, wo im Widerspruch zur strikten Be-

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grenzung der Zuständigkeit, die das Gesetz in Kap. 84 verfügt, die Prorogationsmöglichkeit vorausgesetzt wird: nach Kap. 69 hätten in Irni Kläger und Beklagter die Zuständigkeit des Duumvirn für Klagen über 1.000 Sesterzen durch Prorogationsvereinbarung begründen können. Das war aber gerade nicht der Fall. Kap. 69 nimmt auf eine Kompetenzregelung Bezug, die das Stadtrecht von Irni nicht kennt; am Sitz der Materie, in Kap. 84, wird eine Prorogation der Streitsachen von über 1.000 Sesterzen gerade nicht zugelassen. Kap. 69 nimmt Bezug auf die Jurisdiktion der Duumvirn, ist aber nicht auf sie abgestimmt. Diese Unstimmigkeit kann nicht durch einen der üblichen Lapsus bei der Gravur oder bei einer ihr vorausgehenden Abschrift des Gesetzes verursacht worden sein. Die Inkongruenz muß vielmehr bei der Herstellung des Gesetzes, genauer: des schließlich verabschiedeten Entwurfs der Irnitana entstanden sein. Denn wir wissen, daß die Vorlage der flavischen Stadtrechte für die Zuständigkeit der lokalen Gerichtsbarkeit Varianten vorsah. Die Inkongruenz der Kap. 69 und 84 läßt darum vermuten, daß die Vorlage, um den örtlichen Verhältnissen soweit wie möglich Rechnung zu tragen, auch wahlweise eine absolute Streitwertgrenze, wie sie die Irnitana in Kap. 84 normiert hat, und eine relative Streitwertgrenze vorsah, die der einverständlichen Disposition der Parteien überlassen war. Unter dieser Voraussetzung kann bei der Herstellung der Irnitana leicht vergessen worden sein, Kap. 69 auf die iurisdictio der Duumvirn in Kap. 84 abzustimmen. Es wäre nicht der einzige Fall von Nachlässigkeit bei der Abfassung der Lex Irnitana.

II. Die Lex Rubria de Gallia Cisalpina 1. Die Lex Rubria1 war die Gerichts- und Prozeßordnung für die lokalen Gerichte in Gallia Cisalpina, und zwar, nach herkömmlicher Meinung, bevor sie in das römische Staatsgebiet einbezogen wurde, also für die lokale Gerichtsbarkeit der Provinz Gallia Cisalpina.2 Die Provinz, im Jahre 81 v. Chr. von Sulla eingerichtet, umfaßte im wesentlichen das Siedlungsgebiet der Galli, einer Anzahl keltischer Stämme, die seit etwa 400 v. Chr. die Etrusker aus Norditalien verdrängt haben. Aber schon gegen Ende des 3. Jahrhunderts behauptet Rom die Vormacht über das Land nördlich des Arno und befestigt sie bald durch eine Reihe von Kolonien und zahlreiche Ansiedlungen vornehmlich in den Landstrichen südlich des Po3, nörd1 Bruns 97 Nr. 16; FIRA I 169 Nr. 19; RS I 461 Nr. 28. Die Bronzetafel wurde 1760 in den Ruinen von Veleia, etwa 30 km südlich von Placentia (Piacenza), gefunden. Bibliographie: RS I 460; auch Wenger 375. Die lex de Gallia Cisalpina ist, entgegen Mommsen, die Lex Rubria und nicht eine durch sie legitimierte lex data; vgl. insb. Th. Kipp, Geschichte der Quellen des römischen Rechts (4. Aufl. 1919) 41 f., aus der neueren Literatur etwa Laffi (1986) 9 f. Als Lex Rubria bezeichnet sich das Gesetz selbst in den Klagformeln des Kap. 20 (tab. I 29 und 38). 2 Zum Folgenden vgl. etwa H. Nissen, Italische Landeskunde (Berlin 1883 / 1902, Nachdr. Amsterdam 1967) I 73 ff., II 160 ff.; Niese, RE 7 (1910) 615 ff. s.v. Galli; Bruna 284 ff.; U. Laffi, La provincia della Gallia Cisalpina, in: Athenaeum 80 (1992) 5 – 23.

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lich vor allem durch Bündnisverträge mit keltischen Gemeinden.4 Die Latinisierung Norditaliens war weit fortgeschritten oder doch in vollem Gange, als Sulla die Provinz Gallia Cisalpina einrichtete und Caesar im Jahre 49 v. Chr., durch die Lex Roscia, allen Bewohnern der Provinz das römische Bürgerrecht, soweit sie es nicht schon besaßen, zuerkennen ließ.5 Es lag in der Konsequenz dieser Politik, daß dann im Jahre 41 v. Chr. die Provinz aufgehoben und ihr Gebiet dem römischen Staatsgebiet zugeschlagen wurde. Diese Annahme bestätigt auch die Lex Rubria, wenn sie, wie herkömmlich angenommen wird, in diese letzten Jahre der Provinz Gallia Cisalpina fällt, als alle ihre Bewohner römische Bürger waren.6 Denn obwohl Provinziale, unterstanden sie, jedenfalls in Zivilsachen, nicht der Gerichtsbarkeit des Statthalters, sondern der des Prätors in Rom, soweit nicht das lokale Gericht zuständig war.7 Auf der Bronzetafel, die sich als die vierte des Gesetzes bezeichnet, sind vollständig erhalten die Kap. 20, 21 und 22, von Kap. 19 nur die letzten, von Kap. 23 nur die ersten 7 Zeilen. Kap. 19 handelte de operis novi nuntiatione, Kap. 23 von der actio familiae erciscundae, beide Kapitel wohl von Sondervorschriften für die Ver3 Durch die Kolonien Placentia, Bononia, Mutina und Parma im cispadanischen, Cremona und Aquileia im transpadanischen Gallien. Mutina und Parma waren coloniae civium Romanorum, die übrigen latinischen Rechts; sie wurden im Jahre 90 v. Chr. durch eine Lex Iulia in den römischen Bürgerverband aufgenommen und municipia; vgl. Mommsen (1881) 180. Ansiedlungen zunächst ohne städtischen Status waren etwa an der Via Aemilia die Fora Popilii, Livii, Cornelii und Lepidi; vgl. Mommsen (1881) 183, 179 f. 4 Im transpadanischen Gallien waren civitates foederatae u. a. Bergomum, Comum, Mediolanum, Novaria, Vercellae, Verona, Genua, Patavium, Ateste; im cispadanischen offenbar nur Ravenna; sie alle wurden vermutlich im Jahre 89 v. Chr. durch eine Lex Iulia Kolonien latinischen Rechts; vgl. Mommsen (1881) 182 ff. 5 So die herkömmliche, nicht unbestrittene, aber immer noch überzeugende Meinung. Der Erlaß der lex Roscia kann auf den 11. März 49 v. Chr. datiert werden. Laffi (1986) 13 ff., 16 f. dagegen datiert die lex Roscia in das Jahr 41 v. Chr.; durch sie sei vielmehr die Provinz aufgehoben und ihr Gebiet Italien eingegliedert worden. Zustimmend W. Simshäuser, SZ 105 (1988) 815 ff. 6 Vgl. nur Bruna 296 ff. 7 Siehe Kap. 21 tab. II 21 / 22 (vadimonium Romam); Kap. 22 tab. II 45 ff. (praetor … ius deicito) und dazu Mommsen (1858) 173 f. sowie (1881) 186. – Die Zuständigkeit des Prätors verstünde sich zwar ohne weiteres, wenn das Gesetz, wie neuerdings wieder Laffi (1986) 10 ff. will, erst nach Aufhebung der Provinz ergangen wäre, eine Datierung, die allerdings nach G. Rotondi, Leges publicae populi romani (Milano 1912, Nachdr. Hildesheim 1966) 416, kaum möglich ist. Gegen Laffis Argumente: die Lex Rubria spreche nicht von der ‚Provinz‘ Gallia Cisalpina, sondern nur von der Gallia Cisalpina, sie wisse nichts von einem Statthalter, vielmehr grenze sie die lokale Jurisdiktion gegen die des Prätors ab: gegen diese Argumente schon Mommsen (1881) 186; Laffi zustimmend gleichwohl W. Simshäuser, SZ 105 (1988) 817. Für Laffi bliebe auch zu erklären, warum es der Lex Rubria überhaupt bedurfte: warum für die ehemalige Provinz mit der Eingliederung in das römische Staatsgebiet nicht ohne weiteres auch die allgemeine Gerichts- und Prozeßordnung Italiens galt. War das nicht der Fall, so läge nahe, daß die Lex Rubria für die Gallia Cisalpina einführte, was in ganz Italien galt. Allerdings wäre auch in Betracht zu ziehen, daß für das neue Staatsgebiet ‚Gallia Cisalpina‘ mit der Lex Rubria ein Sonderstatut gegolten hätte.

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fahren vor den lokalen Gerichtsmagistraten. Für unsere Zwecke sind diese Fragmente unergiebig und bleiben darum außer Betracht.8 2. Kap. 20 regelt das Verfahren de damno infecto vor den lokalen Gerichten.9 a) Drohte dem Eigentümer eines Grundstücks Schaden vom Nachbargrundstück, so befahl in Rom der Prätor dem Nachbarn, die cautio damni infecti zu leisten und sich damit zu verpflichten, den Schaden, wenn er eintreten sollte, zu ersetzen; wurde das Versprechen für den Nachbarn von einem Dritten geleistet, mußten auch Bürgen gestellt werden. Unterblieb das Versprechen oder wurden die Bürgen nicht beigebracht, wies der Prätor den bedrohten Eigentümer in den Mitbesitz des Nachbargrundstücks ein. Blieb der Nachbar bei seiner Weigerung, die cautio zu leisten, und drohte der Schaden nach wie vor, konnte der Prätor die Sanktion verschärfen und dem bedrohten Eigentümer das bonitarische Eigentum des Nachbargrundstücks zusprechen. Widersetzte sich der Nachbar allen Anweisungen des Prätors: dem Dekret, die cautio zu leisten, der ersten und dann auch der zweiten missio, so konnte er letzten Endes, wenn der Schaden eintrat, auf dessen Ersatz, genauer: auf Leistung dessen verklagt werden, was er aus der dekretierten, aber nicht erbrachten cautio damni infecti geschuldet hätte. So das Verfahren in Rom, wie es das prätorische Edikt in der von Julian redigierten Fassung vorsah.10 Iurisdictio war grundsätzlich nur die Befugnis, ein iudicium zu gewähren.11 Die Dekretierung einer Stipulation oder eine missio in possessionem deckte sie nicht; diese Maßnahmen waren nach Ulpian12 der Imperiumsgewalt vorbehalten, die nach Paulus13 den Munizipalmagistraten nicht zustand. Nach diesen offenbar überkommenen Grundsätzen waren die lokalen Gerichte für res damni infecti nicht zuständig. Die Provinzial- und Munizipalstatuten sahen indessen Ausnahmen vor. Das Verfahren, wie es in Rom vor dem Prätor stattfand, ließen sie allerdings nirgends zu. b) Kap. 20 der Lex Rubria ermächtigt den lokalen Gerichtsmagistrat lediglich, die cautio damni infecti anzuordnen; tritt ein Dritter für den Nachbarn auf, die cautio und zusätzliche Sicherheit durch Bürgen.14 Zur missio in possessionem oder gar zur Einweisung in das Eigentum des Nachbargrundstücks war der lokale Magistrat nicht befugt. Wird seine Anweisung, die cautio zu leisten oder Bürgen beizubrinSie werden ausführlich erörtert von Bruna 45 ff. und 228 ff. Zum Folgenden vgl. Laffi (1986) 29 ff. sowie etwa O. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte II (Leipzig 1901) 1239 ff.; Lenel, EP 53 f.; 551 ff.; M. Kaser, Das römische Privatrecht I (2. Auf. 1971) 407 f.; M. Talamanca, Istituzioni di diritto romano (Milano 1990) 450 f.; A. Guarino, Diritto privato romano (9. Ediz. 1992) 669 f. 10 Ulp D 39.2.7 pr.; Lenel, EP 53 f., 551 ff. 11 Näheres bei Kaser / Hackl 183 ff. 12 D 2.1.4: Iubere caveri praetoria stipulatione et in possessionem mittere imperii magis est quam iurisdictionis. 13 D 50.1.26 pr.: Ea quae magis imperii sunt quam iurisdictionis magistratus municipalis facere non potest. 14 Tab. I 7 – 12. 8 9

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gen, nicht befolgt und tritt der befürchtete Schaden ein, so soll er vielmehr ohne weiteres dem geschädigten Eigentümer Klagschutz gewähren – und zwar ‚gerade so wie wenn die cautio oder die satisdatio geleistet worden wäre‘: proinde atque si de ea re, quom ita postulatum esset, damni infecti ex formula recte repromissum satisve datum esset.15 Für diese Klage sieht Kap. 20 zwei Prozeßformeln vor, die eine für den Fall, daß die cautio nuda, die andere, daß die satisdatio dekretiert und nicht geleistet worden ist.16 Wie die Klagformel, die das prätorische Edikt verhieß, lauten auch sie auf Verurteilung des beklagten Nachbarn in den Betrag, den er aus der dekretierten, aber nicht erbrachten cautio damni infecti geschuldet hätte. c) Nach Kap. 21 und 22 war die Jurisdiktion der lokalen Gerichte für alle Arten von Klagen auf Prozesse mit einem Streitwert von maximal 15.000 Sesterzen beschränkt; für Prozesse, deren Streitwert diese Grenze überstieg, war der Prätor in Rom zuständig.17 Kap. 20 nennt dagegen keine Wertgrenze: weder für die cautio noch für die Klage. Bei der cautio ist der Verzicht auf eine Wertgrenze ohne weiteres plausibel: sie hätte Zweck und Nutzen des Instituts erheblich eingeschränkt.18 Bei der Klage wäre es dagegen nicht plausibel, wenn das lokale Gericht jedenfalls, ohne Ansehung des Streitwerts, zuständig gewesen wäre.19 Denn sie trat ja an die Stelle der Klage aus der cautio damni infecti, und aus der cautio damni infecti mußte nach Kap. 22 vor dem Prätor in Rom geklagt werden, wenn der Streitwert 15.000 Sesterzen überstieg. Damit aber wäre nicht vereinbar gewesen, daß für die Klage der Lex Rubria, die sich nach der dekretierten, aber nicht geleisteten cautio bemaß, keine Begrenzung gegolten hätte.20 Da in den Kap. 21 und 22 die Streitwertgrenze auch nicht eigentlich verfügt, sondern vielmehr vorausgesetzt wird 21, liegt die Vermutung nahe, daß das Gesetz die sachliche Zuständigkeit der lokalen Gerichte vorweg, in einem früheren Kapitel, ein für alle Mal regelte. d) Pugliese und andere22 haben denn auch erwogen, daß durch die dumtaxatKlausel der intentio der beiden Prozeßformeln23 die allgemeine Streitwertgrenze zur Tab. I 12 – 19. Tab. I 22 – 31 und 32 – 40. 17 s. unten 2. b). 18 Vgl. Simshäuser 211. 19 Anders Simshäuser 211 f. 20 Kap. 20 ermächtigt und verpflichtet den lokalen Magistrat, gerade so zu verfahren, wie wenn der Beklagte die cautio geleistet hätte: tum magistratus … de ea re ita ius deicito iudicia dato iudicareque iubeto cogito, proinde atque sei de ea re, quom ita postulatum esset, damnei infectei ex formula recte repromissum satisve datum esset (tab. I 15 – 19). Hätte der Beklagte die cautio geleistet und der Schaden die Streitwertgrenze überschritten, wäre der Magistrat für die Klage aus der Stipulation nicht zuständig, das gleichwohl erteilte iudicium nicht wirksam gewesen. Wörtlich genommen schließt die Fiktion die Zuständigkeit ein. 21 Mommsen (1858) 167 spricht von „beiläufigen Anführungen“. 22 G. Pugliese 148 mit Lit. in A. 57; F. Serrao, La iurisdictio del pretore peregrino (1954) 94. 15 16

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Geltung gebracht wurde. Diesem Vorschlag hätte kaum widersprochen werden können24, wenn die dumtaxat-Klausel die Grenzsumme von 15.000 Sesterzen nennen würde. Auf der Bronze ist die Grenzsumme in der ersten Prozeßformel aber regelrecht ausgespart: nach der Münzbezeichnung HS ist, wie für ihre spätere Einfügung, ein Spatium gelassen25, während in der zweiten Prozeßformel, am Ende einer Zeile, auch kein Spatium gelassen und außerdem die Münzbezeichnung ausgefallen ist26. Der vielfach belegten Nachlässigkeit des Graveurs27 kann die Aussparung der Grenzsumme in der ersten Prozeßformel kaum zugeschrieben werden; eher bekräftigt der spurlose Fortfall von Münzbezeichnung und Zahlzeichen in der zweiten Prozeßformel die naheliegende Vermutung, daß schon in der Vorlage die Grenzsumme hier und dort ausgespart war. So ist eher anzunehmen, daß die dumtaxat-Klausel mit der Zuständigkeit des Gerichts nichts zu tun hatte28; daß sie vielmehr vom Gerichtsmagistrat causa cognita ausgefüllt wurde, der auf diese Weise der Einschätzung der Schadenssumme durch den iudex eine Höchstgrenze setzte29 und sie damit unter seiner Kontrolle hielt.30 Als unwahrscheinlich bleibt außer Betracht, daß die Grenzsumme ausgespart war, weil in der Gallia Cisalpina für diese Klage keine einheitliche Streitwertgrenze galt, daß die Lex Rubria vielmehr für die oppida, municipia, coloniae und anderen Gerichtsplätze der Provinz31

23 Tab. I 26 / 27: tum quicquid eum Q Licinium ex ea stipulatione L. Seio dare facere oporteret ex fide bona dumtaxat HS (vac.), eius iudex … condemnato. Ebenso I 36 / 37, nur: … dumtaxat, eius iudex … condemnato. 24 s. unten A. 22 und 23. 25 Tab. I 27, s. oben A. 17. Bruns 98 A. 3 vermerkt: Summae taxationis in tabula spatium vacuum relictum. Nach Bruna 113 bietet das spatium Raum für „etwa zwei“, nach RS I 464 drei Buchstaben, mithin für gerade die Zahlzeichen XV. 26 Tab. I 36, s. oben A. 17. Bruns 98 A. 6: Desunt HS et summa in v. extremo. Bruna 119 vermerkt „den Fortfall von HS mit dem dazugehörigen Spatium“; ebenso RS 465. Tab. II 19 ist zwischen dumtaxat und dem Zahlzeichen die Münzbezeichnung HS ausgefallen. Gai 4.43 liest der Veronensis: iudex … dumtaxat condemna. 27 Vgl. nur Bruna 119. 28 Simhäuser 211 f.; D. Nörr, SZ 112 (1995) 68 f.; Philipp Grzimek, Studien zur Taxatio (2001) 67. Ein weiteres Argument liefern die Klagformulare der Kap. 21 und 22: sie haben keine dumtaxat-Klausel, obwohl sie nur für Klagen mit einem Streitwert von maximal 15.000 Sesterzen in Betracht kamen. 29 Bruna 113. 30 Der Einschätzung des Betrages also, den der Beklagte aus der cautio damni infecti geschuldet hätte. Mit der cautio versprach der Nachbar quanti ea res erit, tantam pecuniam dari; siehe die Musterformulare bei LENEL, EP 551 ff. – Grzimek (A. 25) 57 ff., 66 ff. hat „eine taxatio bei der Stipulationsklage nur in den Fällen gefunden, in denen diese auf bona fides gestellt ist“ (76). Der einzige Beleg von Gewicht ist indessen die Klage der Lex Rubria, die keine Stipulationsklage ist, deren intentio vielmehr die Leistungspflicht aus der cautio damni infecti kopiert: quicquid eum Q. Licinium ex ea stipulatione L. Seio dare facere o p o r t e re t ex fide bona dumtaxat HS. 31 Tab. II 1 / 2 und 26. Zu diesen Ortschaftsbezeichnungen s. Bruna 235 ff.; Mommsen (1881) 179 f.

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unterschiedliche Streitwertgrenzen vorsah – wie später in Spanien die flavischen Munizipalstatuten.32

e) Gewißheit ist mithin nicht zu gewinnen: Daß aber, wenn der befürchtete Schaden eingetreten war, für die Klage gegen den Nachbarn, der die cautio damni infecti verweigert hat, die lokalen Gerichte ohne Ansehung der im übrigen geltenden Streitwertgrenze zuständig gewesen wären, ist nicht wahrscheinlich, und ist es um so weniger, als für die Klage aus der cautio selbst die Streitwertgrenze von 15.000 Sesterzen durchaus galt. 3. In den Kap. 21 und 22 regelt das Gesetz das Verfahren gegen den indefensus.33 a) Dabei unterscheidet es die beiden Fälle: (1) daß der in ius vocatus zunächst das Klagbegehren anerkennt, dann aber nicht erfüllt und in dem jetzt angestrengten Prozeß34 sich nicht verteidigt35 und (2) daß er das Klagbegehren weder anerkennt noch bestreitet, sondern sich von vornherein überhaupt nicht auf die Klage einläßt36. Kap. 22 bestimmt für alle Arten von Klagen, für Klagen in personam und in rem, aus Delikt und auf Schadensersatz37, daß in beiden Fällen gelten soll, was gelten Siehe unten S. 156. Vgl. Bruna 132 ff., 190 ff.; Laffi (1986) 31 ff. 34 Dieser Prozeß macht der Interpretation von jeher die größten Schwierigkeiten (vgl. nur Bruna 134 ff., 147 ff.; Laffi (1986) 31 f.; Kaser / Hackl 271 ff.). Indessen scheint mir kaum zweifelhaft, daß es der von vornherein beabsichtigte Prozeß ist, in Kap. 21 mithin das iudicium certae creditae pecuniae, in Kap. 22 das jeweils postulierte iudicium. Kennzeichnend ist zum einen die Übereinstimmung in Kap. 21 von aut se sponsione (II 7) iudicioque utei[ve] oprtebit non defendet u n d neque de ea re sponsionem faciet neque iudicio utei oportebit (II 9) se defendet sowie in Kap. 22 von (II 36) neque se iudicio uti oportebit defendet u n d (II 37) neque de ea re se iudicio utei oprtebit defendet; zum andern die sponsio nur in Kap. 21. Sie ist die sponsio tertiae partis; um indefensus zu sein, reichte bekanntlich aus, die sponsio nicht zu leisten oder die Annahme des iudicium zu verweigern. Confessus pro iudicato est galt hier offenbar nicht. In allen anderen Prozessen bedurfte es ohnehin des Urteilsverfahrens, weil nur wegen einer bestimmten Geldsumme vollstreckt werden konnte. In diesen Prozessen wird man die confessio immerhin als Beweismittel verwendet haben können… – Die abgekürzten Wiederholungen der beiden Sachverhalte (Kap. 21 tab. II 4 – 9 sei is eam pecuniam – se defendet und Kap. 22 tab. II 29 – 37 sei is eam rem – defendet) in den Rechtsfolgeteilen (Kap. 21 tab. II 9 ff. tum de eo etc. und Kap. 22 tab. II 38 ff. tum de eo etc.) und die erheblichen Verwerfungen und Mängel des Textes gerade dieser Wiederholungen können hier nicht besprochen werden. Sie gehen weithin auf eine miserable Vorlage zurück und sind ersichtlich dem Kopisten dieser Vorlage zuzuschreiben. 35 Kap. 21 tab. II 5 – 7 dare oportere debereve se confessus (6) erit, neque id quod confessus erit solvet satisve faciet, aut se sponsione (7) iudicioque utei[ve] oportebit non defendet entspricht Kap. 22 tab. II 31 – 36 dare facere praestare restituereve oportere aut (32) se debere … confes(34)sus erit dixeritve neque de ea re satis uti oportebit faciet aut, si (35) sponsionem fieri oportebit, spnsionem non faciet non restituet, (36) neque se iudicio uti oportebit defendet. 36 Kap. 21 tab. II 7 seive is ibei de ea re in iure non (8) responderit, neque de ea re sponsionem faciet neque iudicio utei oportebit (9) se defendet enspricht Kap. 22 tab. II 36 – 37 aut sei de ea re in iure (37) nihil responderit, neque de ea re se iudicio utei oprtebit defendet. 32 33

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würde, wenn das Verfahren in Rom, vor dem Prätor, stattfände38; und daß der Prätor, dem die Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen vorbehalten bleibt39, gegen den indefensus oder seinen Erben so verfährt, als hätte das ganze Verfahren vor ihm stattgefunden40. Der lokale Magistrat mußte also das Verfahren nach Rom an den Prätor abgeben, wenn der Beklagte die Einlassung verweigerte.41 Anderes gilt nur, wenn der indefensus wegen pecunia certa credita verfolgt wird und mit der actio certae creditae pecuniae überzogen werden sollte.42 Auch in diesem Fall verwendet das Gesetz zunächst wieder eine Fiktion: für die Beteiligten, den Gläubiger und den Schuldner, soll gerade das gelten, was rechtens wäre, wenn der Schuldner wegen der eingeforderten Summe Geldes verurteilt worden wäre.43 Sodann ermächtigt es den lokalen Gerichtsmagistrat, dem Gläubiger und Kläger die Personalexekution zu gestatten.44 Anders also als in Kap. 22 räumt die Lex Rubria hier dem lokalen Gerichtsmagistrat die Befugnis ein, eine Maßnahme zu verfügen, die, wie in Kap. 20 die Anordnung der cautio damni infecti, von der iurisdictio nicht gedeckt, sondern grundsätzlich dem Magistrat cum imperio vorbehalten war. b) Die Verfahren gegen den indefensus, die Kap. 21 und 22 vorsehen, stehen unter dem Vorbehalt, daß der lokale Gerichtsmagistrat für die postulierte Klage zuständig ist. In beiden Kapiteln ist seine Zuständigkeit durch eine Streitwertgrenze eingeschränkt: übereinstimmend beschränken sie die Zuständigkeit auf Prozesse mit einem Streitwert von maximal 15.000 Sesterzen.45 Da Kap. 21 für die actio certae creditae pecuniae und Kap. 22 für alle anderen Klagen gilt, ergibt sich, daß die Zuständigkeit der lokalen Gerichte in der Gallia Cisalpina allgemein für Klagen mit einem Streitwert bis zu 15.000 Sesterzen reichte. Diese Streitwertgrenze stand offenbar nicht zur Disposition der Parteien. Das Recht, die Zuständigkeit des lokalen Gerichts einverständlich zu begründen, wenn der Wert des Streitgegenstandes 15.000 Sesterzen überstieg, hätte das Gesetz den Parteien ausdrücklich einräumen müssen46; von der Möglichkeit der Prorogation ist 37 Kap. 22 tab. II 31 – 34 dare facere praestare restituereve oportere aut (32) se debere eiusve eam rem esse aut se eam habere, eamve rem de (33) qua arguetur se fecisse obligatumve se eius rei noxiaeve esse confes(34)sus erit. 38 Kap. 22 tab. II 38 – 44 tum – iudicio se non defendisset. 39 Kap. 22 tab. II 50 – 52 dum – duceique eum iubeat. 40 Kap. 22 tab. II 45 – 50 praetorque – defendisset. 41 Vgl. Bruna 196. Das Verfahren gegen den indefensus bestimmte sich bekanntlich nach dem Klagbegehren und war von Zwangsmaßnahmen des Prätors gekennzeichnet; vgl. Kaser / Hackl 274 ff. 42 Kap. 22 tab. II 25 – 27 A quo quid praeter pecuniam certam creditam … petetur; Kap. 21 II 2 – 3 A quoquomque pecunia certa pecunia credita … petetur. 43 Kap. 21 tab. II 9 – 14 tum de eo – damnatus esset fuisset. 44 Kap. 21 tab. II 14 – 19 Queique quomque – duci iubeto. 45 Kap. 21 tab. II 3 / 4 quae res non pluris HS XV erit; Kap. 22 tab. II 27 quae res non pluris HS XV erit. Vgl., auch zum Folgenden, J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 49 f. 46 Oder, wenn an anderem Orte normiert, hier jedenfalls anmerken müssen.

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aber keine Rede. Eine absolute Streitwertgrenze ist im übrigen nichts Ungewöhnliches; wir treffen sie nicht nur hier an; auch im Fragmentum Atestinum und in der Lex Irnitana finden wir sie.47 c) Kap. 22 verordnet außer der Streitwertgrenze noch eine weitere Einschränkung: nicht nur darf der Wert der Streitsache 15.000 Sesterzen nicht übersteigen: quae res non pluris HS XV erit; sie muß auch eine Streitsache sein, de qua omnei pecunia ibei ius deicei iudiciave darei ex hac lege oportet oportebit. In den Juristenschriften ist omnis pecunia durchweg die ‚ganze Summe‘ eines feststehenden Betrages, in der Regel einer Forderung.48 Darum liegt nahe, daß mit dem Ablativ omnei pecunia auf den Wert der Streitsache Bezug genommen wird.49 Die Übersetzung der ganzen Klausel könnte dann lauten: ‚und wenn die Streitsache eine solche sein wird, über die nach diesem Gesetz wegen (oder: hinsichtlich) der ganzen Streitsumme daselbst Recht gesprochen und iudicia erteilt werden müssen‘. d) Bei diesem Textverständnis stellt sich allerdings sofort die Frage, in welchen Streitsachen das lokale Gericht kein iudicium erteilen durfte. Nach dem Beispiel des Fragmentum Atestinum50, vor allem aber der Lex Irnitana51 ist zu vermuten, daß auch das rubrische Gesetz jedenfalls die causae famosae von der lokalen Jurisdiktion ausschloß. Diese Vermutung ist umso wahrscheinlicher, als sie zugleich erklärt, warum das Gesetz diese zweite Einschränkung nur in Kap. 22 macht und nicht auch in Kap. 21 bei der Klage auf pecunia certa credita. Die actio certae creditae pecuniae war eine condictio, und bei Kondiktionen entfiel die Folge der Infamie, auch wenn der Klaggrund infamierend war.52 e) Überstieg der Streitwert 15.000 Sesterzen und folgte der Schuldner dem Gläubiger nicht ohne weiteres nach Rom vor den Prätor, so konnte er ihn vor das lokale Gericht laden und erwirken, daß der Magistrat dem in ius vocatus das vadimonium Romam auferlegte.53 Für den Fall, daß der in ius vocatus sich weigerte, das Versprechen zu leisten, räumt Kap. 21 dem Magistrat eine weitere außerordentliche Kompetenz ein: er konnte gegen den in ius vocatus ein iudicium recuperatorium verSiehe J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 32 – 37. Nachweise bei J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 50 A. 139. Die Klausel omnei pecunia macht der Interpretation große Schwierigkeiten, vgl. etwa Bruna 211 ff.; Laffi (1986) 40 ff.; M. Crawford in RS I 476. 49 Der Ablativ omnei pecunia wäre dann ein abl. limitationis, d. h. ein „Abl. der Rücksicht oder näheren Bestimmung oder Beschränkung“: H. Menge / A. Thierfelder, Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik (17. Aufl. Darmstadt 1979) 2. Hälfte 76 f. 50 Siehe Bruns 101 Nr. 17. 51 Siehe J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 37 – 45. 52 D 44.7.36 Ulp 1 ed: Cessat ignominia in condictionibus, quamvis ex famosis causis pendeant (aus Ulpians Kommentierung der erschlossenen Ediktsklausel De vadimonio Romam faciendo). 53 Allgemein zum ‚Vadimonium to Rome (and Elsewhere)‘ A. Rodger, SZ 114 (1997) 160 – 196. 47 48

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fügen.54 Die Klage war eine actio poenalis, die Sanktion eine Bußzahlung.55 Da Kap. 21 mit dieser Ermächtigung schließt, ist anzunehmen, daß sie nur galt, wenn der in ius vocatus wegen pecunia certa credita verfolgt wurde. Beschränkt auf diesen Fall hat mithin die Lex Rubria dem lokalen Magistrat zwei außerordentliche Kompetenzen eingeräumt: neben dieser Ermächtigung, ein iudicium recuperatorium poenale einzusetzen, die Zuständigkeit, gegen den indefensus die Personalexekution anzuordnen. Zu dieser auffälligen, später wieder zurückgenommenen56 Kompetenzerweiterung hat den Gesetzgeber offenbar der geringe, streitlose Aufwand dieses Verfahrens veranlaßt.57 Weil die intentio der actio certae creditae pecuniae auf Zahlung einer bezifferten Summe Geldes lautet, kann das Gesetz den indefensus ohne weiteres dem damnatus gleichstellen und damit die Voraussetzung der Personalexekution fingieren. Und weil der Streitwert nicht streitig sein kann und darum auch die Überschreitung der Streitwertgrenze kein Streitthema, ermächtigt das Gesetz den Gerichtsmagistrat, in diesem Ausnahmefall seine Diskretionsgewalt durch eine Pönalklage zu schützen. 4. Wir fassen die Ergebnisse unserer Interpretation zusammen: Die stadtrömischen Verfahren de damno infecto und gegen den indefensus sahen Maßnahmen vor, die grundsätzlich der Imperiumsgewalt vorbehalten und darum von der Jurisdiktion der lokalen Gerichtsmagistrate nicht gedeckt waren. Sollten die lokalen Gerichte der Gallia Cisalpina gleichwohl für res damni infecti und Maßnahmen gegen den indefensus zuständig sein, mußte die Lex Rubria diese Zuständigkeit ausdrücklich einräumen und regeln. Sie normiert diese Zuständigkeit und regelt die Verfahren vor den lokalen Gerichten in den Kap. 20, 21 und 22. Für res damni infecti sieht sie in Kap. 20 ein Verfahren vor, das gegenüber dem stadtrömischen um die missiones in possessionem verkürzt ist und folglich den lokalen Gerichtsmagistrat auch nur ermächtigt, die cautio damni infecti anzuordnen. Für das Verfahren gegen den indefensus trifft die Lex Rubria in den Kap. 21 und 22 eine Unterscheidung. Mit nur einer Ausnahme bleiben nach Kap. 22 bei allen Klagen Vollstreckungsmaßnahmen gegen den indefensus dem Prätor in Rom vorbehalten. In aller Regel mußte darum das Verfahren, wenn der Beklagte sich nicht verteidigte, in Rom fortgesetzt werden. Zuständigkeit des lokalen Gerichts sieht Kap. 21 nur für den Fall vor, daß der indefensus mit der actio certae creditae pecuniae verfolgt wird. Hier ermächtigt das Gesetz den lokalen Gerichtsmagistrat, dem Kläger die Personalexekution zu gestatten und bei Unzuständigkeit des Gerichts gegen den 54 Kap. 21 tab. II 21 – 24 Quo minus – nihilum rogatur. Vgl. E. v. Schrutka-Rechtenstamm, Ueber den Schlußsatz in Cap. XXI Legis Rubriae de Gallia Cisalpina, in: Sber. Ak. Wien, Phil.-hist. Classe, 106 (1884) 463 – 476; Bruna 163 ff.; Laffi (1986) 28 f. 55 Lenel, EP 56. 56 Ulp D 2.3.1 pr. Vgl. Simshäuser 220 f. 57 Vgl. Mommsen (1858) 172 f.

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Beklagten, der das vadimonium Romam verweigert, ein iudicium recuperatorium poenale einzuleiten. Den Verfahrensregeln der Kap. 21 und 22 ist zu entnehmen, daß die Zuständigkeit der lokalen Gerichte der Gallia Cisalpina generell auf Prozesse beschränkt war, deren Streitwert 15.000 Sesterzen nicht überstieg. Es ist anzunehmen, daß diese Grenze auch für die in Kap. 20 vorgesehenen Klagen gegen den Grundstückseigentümer galt, der die dekretierte cautio damni infecti verweigert hat. Die Streitwertgrenze von 15.000 Sesterzen stand nicht zur Disposition der Parteien: es war ihnen nicht gestattet, die Zuständigkeit des lokalen Gerichts einverständlich zu begründen, wenn der Streitwert ihres Prozesses 15.000 Sesterzen überstieg. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist schließlich zu vermuten, daß die Lex Rubria jedenfalls infamierende Klagen von der Zuständigkeit der lokalen Gerichte ausschloß. III. Das Fragmentum Atestinum 1. Das Fragmentum Atestinum58 ist, wie die Lex Rubria, das Bruchstück einer Gerichts- und Prozeßordnung für die lokale Gerichtsbarkeit in Gallia Cisalpina59. Die Gerichts- und Prozeßordnung, die das Fragment dokumentiert, ist alsbald nach der Lex Roscia ergangen, ersichtlich noch im selben Jahr wie das Plebiszit, das auf den 11. März des Jahres 49 v. Chr. datiert werden kann60 und nach herkömmlicher, auch durch das Fragmentum Atestinum gestützter Meinung allen Bewohnern der Provinz Gallia Cisalpina, die noch nicht römische Bürger waren, das römische Bürgerrecht zuerkannte.61 Die Gerichts- und Prozeßordnung bezeichnet sich ebenfalls als lex62 und setzt, wie die Lex Rubria, römisches Bürgerrecht und übergeordnete Zuständigkeit des Prätors in Rom voraus.63

58 Bruns 101 Nr. 17; FIRA I 176 Nr. 20; RS I 313 Nr. 16. Die Bronzetafel wurde 1880 in Este (Ateste), etwa 25 km südwestlich von Padua (Patavium), gefunden. Bibliographie: RS I 313; Wenger 375. 59 Vielleicht auch nur für die lokale Gerichtsbarkeit im nördlichen, transpadanischen Teil der Provinz Gallia Cisalpina, dessen Romanisierung dem cispadanischen deutlich nachhinkte und wo die Lex Roscia hauptsächlich wirksam wurde; vgl. Mommsen (1881) 179 ff. Die Kriterien der Zuordnung: der Fundort der Bronze, das transpadanische Ateste (Este), und die Bezugnahme des Fragments auf die Lex Roscia (l. 12 – 14) wären auch damit vereinbar. Ganz anders Crawford in RS I 316 ff. 60 Ll. 12 – 14. G. Rotondi, Leges publicae populi romani (Milano 1912, Nachdr. Hildesheim 1966) 416. 61 Nach Simshäuser 186 ff. kann das Statut auch erst nach der Vereinigung der Gallia Cisalpina mit Italien im Jahre 41 v. Chr. erlassen worden sein. Für diesen Fall müßte er allerdings, wie Laffi (1986) 13 ff., auch die Lex Roscia in das Jahr 41 v. Chr. datieren, was nach Rotondi (A. 3) aber kaum möglich ist. Im übrigen vgl. etwa Bruna 308 ff. 62 Ll. 8 / 9: ex hac lege iudicia data erunt; l. 9: ex hac lege nihilum rogatur. 63 L. 17: quo magis privato Romae revocatio sit.

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Das Fragmentum Atestinum macht uns mit zwei Bestimmungen seiner Gerichtsund Prozeßordnung bekannt. Sie regeln Zuständigkeiten der lokalen Gerichte in Munizipien, Kolonien und Präfekturen.64 2. Die erste Bestimmung (l. 1 – 9) regelt die Zuständigkeit der lokalen Gerichte für infamierende Klagen. In klarer dreiteiliger Folge listet das Gesetz zunächst die infamierenden Klagen auf (mandati – agatur)65; danach nennt es als Voraussetzungen, unter denen die Bestimmung getroffen wird, daß der Beklagte mit der Zuständigkeit des lokalen Gerichts einverstanden ist und daß der Streitwert des Prozesses 10.000 Sesterzen nicht übersteigt (sei is – minorisve erit); schließlich erlaubt es unter diesen Voraussetzungen, ein Urteilsgericht einzusetzen und so durchzuführen, wie ein Urteilsgericht, das ex hac lege erteilt worden ist (quo minus – nihilum rogatur). a) Aus dieser Bestimmung ergibt sich ohne weiteres, daß die lokalen Gerichte für infamierende Klagen ‚nach diesem Gesetz‘, ex hac lege, nicht zuständig waren, mithin das Gesetz die infamierenden Klagen von der ratione materiae offenbar unbegrenzten lokalen Gerichtsbarkeit ausnahm. Es gestattet aber den Streitparteien, die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für infamierende Klagen einverständlich zu begründen. Der in ius vocatus muß vor dem lokalen Gericht streiten ‚wollen‘ (l. 5 / 6).66 Vom Kläger ist nicht die Rede, weil er die Initiative hatte: er mußte die infamierende Klage postulieren, bevor der in ius vocatus zustimmen konnte.67 Stimmte er zu, dann konnte der Magistrat nunmehr das iudicium famosum erteilen. Nach der Vorstellung des Gesetzes erteilte er das iudicium famosum nicht ex hac lege68, sondern weil die Parteien es ‚wollten‘; ihr Einverständnis war es, das ihn ermächtigte. Indessen versteht sich, daß diese Zuständigkeit letzten Endes doch auf dem Gesetz be64 Anders als die Lex Rubria mit ihrer langen Reihe von Ortskategorien (s. unten A. 30) verwendet das Fragmentum Atestinum nur diese drei für den Gerichtsstand allein relevanten (ll. 5 und 10); dazu vgl. Mommsen (1881) 179 f.; Bruna 320, der 235 ff. die Ortsbezeichnungen auch ausführlich bespricht. 65 Die Liste der infamierenden Klagen ist nicht vollständig erhalten. Soweit ersichtlich deckte sie sich mit keinem der übrigen vier überlieferten Kataloge: Tabula Heracleensis (dicta Lex Iulia municipalis) 110 / 111; Lex Irnitana Kap. 84 IX 9 – 15; (Praetoris edictum) D 3.2.1; Gai 4. 182. Der Vergleich mit diesen Katalogen ergibt, daß für eine Ergänzung des Fragmentum Atestinum nur fiducia und societas in Betracht kommen, vgl. Mommsen (1881) 189. Außerdem: Wegen suo nomine (l. 1) muß Subjekt der Beklagte sein; aut quod furti (l. 2) legt nahe, daß der Satz mit quod begann; mandati aut tutelae … agatur (l. 1) verlangt auch für fiducia den gen. forensis; in eo municipio colonia praefectura (l. 5) fordert eine Entsprechung im Vordersatz. Somit schlage ich für den Textanfang folgende Ergänzung vor: Quod quom quoquomque in quoque municipio colonia praefectura fiduciae aut pro socio aut mandati … 66 Volet ist ergänzt nach SC de Asclepiade (78 v. Chr.) 3: cio certare, wo die Ergänzung durch die griechische Version (19) gedeckt ist; Mommsen (1881) 177; zuletzt Crawford in RS I 322. 67 Vgl. J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 48 A. 130 mit weit. Lit. „No trace of a deroga convenzionale“ findet dagegen Crawford in RS I 322. 68 Ll. 7 – 9: quove minus ibei d(e) e(a) r(e) iudex arbiterve ita feiat, utei de ieis rebus, quibus ex h(ac) l(ege) iudicia data erunt, iudicium fierei exerceri oportebit.

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ruhte; denn ohne diese gesetzliche Erlaubnis hätten die Parteien die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für infamierende Klagen nicht begründen können. Wenn der in ius vocatus nicht einverstanden war, wenn er nicht ‚wollte‘, daß die infamierende Klage bei dem lokalen Gericht anhängig wurde, mußte ihn der Kläger in Rom, vor dem Prätor, verklagen. Das war die Alternative. War hinwiederum dem Kläger an einem Prozeß vor dem lokalen Gericht nicht gelegen und ging er darum sofort nach Rom, so fand der Prozeß dort statt. Der in ius vocatus konnte nicht verlangen, daß er vor dem lokalen Gericht verklagt wurde.69 b) Die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für ein iudicium famosum konnten die Streitparteien aber nur im Rahmen einer Streitwertgrenze begründen: der Streitwert ihrer Klage durfte 10.000 Sesterzen nicht übersteigen.70 Mit aller Wahrscheinlichkeit galt diese Grenze nicht nur für die infamierenden Klagen; sie war offenbar die allgemeine Streitwertgrenze. Denn warum sollte das Gesetz, wenn es schon den Parteien die Begründung der Zuständigkeit für infamierende Klagen einräumte, für sie eine besondere Streitwertgrenze ziehen? Das Kriterium war die Infamie, und die Infamie war vom Streitwert des Prozesses ganz und gar unabhängig; bei einer Verurteilung auf 10.000 Sesterzen wog sie nicht leichter und nicht schwerer als bei einer Verurteilung auf vielleicht 15.000 Sesterzen. Die Streitwertgrenze von 10.000 Sesterzen galt offenbar nicht nur für alle Klagen; vermutlich war sie auch unabänderlich. Wenn die Streitparteien die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für infamierende Klagen nur innerhalb einer Streitwertgrenze begründen konnten, dann liegt die Vermutung nahe, daß diese Streitwertgrenze nicht ihrer Disposition unterlag, daß sie mithin generell und absolut galt71 – wie die Streitwertgrenzen der Lex Rubria72 und der Lex Irnitana.73 3. Die zweite Bestimmung des Fragmentum Atestinum (l. 10 – 21) besagt: Wenn in einem Munizipium, einer Kolonie oder einer Präfektur ein Duumvir oder ein anderer Gerichtsvorstand vor Erlaß der Lex Roscia Gerichtsbarkeit in Privatsachen bis zu einer bestimmten Streitwertgrenze hatte, dann soll er diese Gerichtsbarkeit, bis zu welchem Streitwert oder welcher Streitsumme sie auch reichte – quantaeque rei pequniaeve fuit (l. 16) – im selben Umfang weiterhin haben.74 Die Bestimmung setzt unterschiedliche Zuständigkeiten der lokalen Gerichte vor Erlaß der Lex Ros69 Der in ius vocatio mußte der vocatus bekanntlich auch vor den ex lege unzuständigen Magistrat folgen, der ihm im einen wie im anderen Fall aufgeben konnte, das vadimonium Romam zu leisten. 70 L. 6: et si ea res HS ( ( I ) ) minorisve erit. 71 Vgl. Mommsen (1881) 188 f.; J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 49 A. 131. 72 Siehe oben S. 144 unter c). 73 J. G. Wolf, SDHI 66 (2000) 32 ff. 74 Nach Mommsen (1881) 185 A. 3, galt diese Regelung nur für Prozesse, die vor Erlaß der Lex Roscia rechtshängig geworden und bei ihrem Erlaß noch nicht abgeschlossen waren; nach Bruna 316 A. 48 nur für die Amtszeit der lokalen Magistrate und Gerichtsvorstände, die bei Erlaß der Lex Roscia amtierten. Für beide Hypothesen gibt der Gesetzestext nichts her.

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cia voraus.75 Danach müssen wir uns vorstellen, daß die lokale Jurisdiktion, sagen wir, in den municipia Cremona und Aquileia76 größeren Spielraum hatte als in den coloniae latinae Mediolanum, Vercellae oder Verona77; und daß vielleicht die Streitwertgrenze ihrer Jurisdiktion wiederum über der der praefecturae lag. Weil in den Munizipien, Kolonien und Präfekturen die Gerichtsbarkeit ungeschmälert fortbesteht, steht dem in ius vocatus, der dort verklagt werden soll, wegen des Streitwerts die Romae revocatio nicht zu: eius rei pequniaeve quo magis privato Romae revocatio sit … ex hac lege nihilum rogatur (l. 16 / 17, 21).78 Wie ist das zu verstehen? Wir erinnern uns: aus der ersten Bestimmung des Fragments haben wir auf eine allgemeine Streitwertgrenze des Gesetzes von 10.000 Sesterzen geschlossen. Der in ius vocatus, der die Zuständigkeit des Gerichts unter Berufung auf diese Streitwertgrenze bestreitet, wird nicht gehört, wenn der Streitwert der gegen ihn postulierten Klage die dem Gericht eigene herkömmliche Streitwertgrenze nicht übersteigt. Veranschaulichen wir uns noch einmal die Zusammenhänge: Nehmen wir an, ein Schuldner wird in Cremona verklagt. Er schulde 12.000 Sesterzen und das Gericht in Cremona sei unverändert zuständig für Streitsachen, deren Wert 15.000 Sesterzen nicht übersteigt. Vergeblich bestritte dann der Schuldner die Zuständigkeit des Gerichts, beriefe er sich auf die Streitwertgrenze unseres Gesetzes von 10.000 Sesterzen. Das Gesetz denkt indessen nicht nur an den in ius vocatus. Wie es ihm in solchem Fall nicht gestattet, die neue allgemeine Streitwertgrenze des Gesetzes geltend zu machen, so erlaubt es den Gerichtsmagistraten und Gerichtsvorständen ausdrücklich, in solchem Fall gerade so zu verfahren, wie vor Erlaß der Lex Roscia, nämlich im Rahmen ihrer herkömmlichen Zuständigkeit zu judizieren und das iudicium zu erteilen (ll. 17 – 21) Die beiden Vorschriften komplementieren einander. 4. Mommsen79 hielt das Fragmentum Atestinum für „ein zweites Bruchstück des rubrischen Gesetzes“. Die These ist neuerdings von Laffi80 wieder aufgenommen 75 Sie könnten den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen der lokalen Gerichte entsprochen haben, die eingangs der Bestimmung (ll. 10 – 12) aufgeführt werden: quoius rei in qu(o)que municipio colonia praefectura quoiusque IIuir(i) eiusue, qui ibei lege foedere pl(ebei)ue sc (ito) s(enatus)ue c(onsulto) institutoue iure dicundo praefuit. Vgl. Mommsen (1881) 180; Bruna 318 spricht von „dementsprechender Ungleichmäßigkeit der Befugnisse der örtlichen Jurisdiktionsmagistrate“. Ebenso und vielleicht vorrangig können Größe und Bedeutung einer Stadt Kriterien für die Bemessung der Streitwertgrenze gewesen sein. 76 Gegründet als coloniae Latinae 218 und 181 v. Chr., durch eine Lex Iulia von 90 v. Chr. in die civitas Romana aufgenommen und seitdem municipia. 77 Bis 89 v. Chr. civitates foederatae, vgl. oben S. 142 A. 4. 78 Romae (wenn nicht, was unwahrscheinlich, verschrieben) steht offenbar für Romam, vgl. J. B. Hofman / A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik (München 1965, Nachdr. 1972) 150 f. Unvereinbar mit dem gesamten Kontext hält Crawford in RS I 324 für wahrscheinlich, daß Romae revocatio auf das ius revocandi domum zu beziehen sei. 79 (1881) 175. 80 (1986) 12 ff., 19 ff.

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worden, hat im übrigen aber kaum Beifall gefunden.81 Auch nach unserem Verständnis ist das Fragmentum Atestinum kein „zweites Bruchstück“ der Lex Rubria. Das Fragment dokumentiert vielmehr ein Gesetz, das alsbald, vermutlich unmittelbar nach der Lex Roscia ergangen ist und ersichtlich auch durch die Lex Roscia veranlaßt wurde82, wenn sie denn wirklich allen Bewohnern der Provinz Gallia Cisalpina, die noch nicht römische Bürger waren, das römische Bürgerrecht zuerkannte.83 Nichts war Rom wichtiger als eine geregelte Jurisdiktion, und darum nach der Verleihung des Bürgerrechts an alle Bewohner einer Provinz auch nichts dringlicher als die Ordnung der Gerichtsbarkeit in dieser Provinz. Die Gallia Cisalpina war reich an Städten und deren Status vielfältig84; ihre Größe und Bedeutung unterschiedlich. Eine Gerichts- und Prozeßordnung für die Provinz85 mußte auch über deren Gerichtsbarkeit, insbesondere ihre Zuständigkeit bestimmen. Sie konnte die Unterschiede aufheben und alle Gerichte in der Provinz derselben Regel unterwerfen; sie konnte aber auch auf Herkommen, Status und Bedeutung Rücksicht nehmen und Unterschiede erhalten; und sie konnte schließlich hier das eine und dort das andere tun. Nach den beiden Vorschriften zu urteilen, die uns die Bronze von Este erhalten hat, ist der Gesetzgeber pragmatisch verfahren. Die infamierenden Klagen hat er grundsätzlich von der Jurisdiktion der lokalen Gerichte ausgenommen, zugleich allerdings den Parteien gestattet, für diese Klagen die Zuständigkeit der lokalen Gerichte durch ihr Einverständnis zu begründen.86 Andererseits hat er bestimmt, daß die unterschiedlichen Streitwertgrenzen der lokalen Gerichte, bis zu welcher Marke sie auch reichten, unverändert fortbestehen sollten, also in der Höhe, die sie vor Erlaß der Lex Roscia hatten. 5. Die Geltung dieses Gesetzes scheint indessen nicht von Dauer gewesen zu sein. Wahrscheinlich ist es schon in den nächsten Jahren von der Lex Rubria abgelöst worden, die nach eigenem Zeugnis für die gesamte Gallia Cisalpina galt. Anders als das Fragmentum Atestinum87 nennt sie, mit der Vollständigkeit und 81 Sie wird ausdrücklich und überzeugend abgelehnt u. a. von Karlowa I (A. XX) 441 f.; P. Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des Römischen Rechts (2. Aufl. 1912) 80; Kipp (A. XX) 42; Ch. Appleton, Le fragment d’Este, in: Revue Générale de Droit 1900, 193 ff.; B. Kübler, SZ 22 (1901) 200 ff.; S. Riccobono in FIRA I 176; Wenger 375; Bruna 316 – 320; Crawford in RS I 313 (dessen Deutung des Fragments, einschließlich der Datierung „before 76 BC“, allerdings nicht überzeugt, vgl. Laffi [1997] 119 ff.). 82 Woran die zweite Bestimmung (ll. 10 – 21) keinen Zweifel läßt. Vgl. Bruna 319. 83 Siehe oben S. 142. 84 Das Fragment nennt neben den Duumvirn Gerichtsherren, die aufgrund eines Gesetzes, Vertrages, Volks- oder Senatsbeschlusses oder auch herkömmlicherweise der lokalen Jurisdiktion vorstanden (ll. 11 / 12: oben A. 18). Vgl. Bruna 318. 85 Oder denn für ihren nördlichen, transpadanischen Teil, jedenfalls für ein umschriebenes Gebiet; s. oben A. 2. 86 Gut möglich ist freilich auch, daß das Gesetz mit dieser Regelung nur wiederholte, was schon nach den lokalen Gerichtsordnungen gegolten hatte. Für den Ausschluß der infamierenden Klagen ist das sogar wahrscheinlich. 87 s. oben A. 7.

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Abbreviatur des Formulars, neben städtisch verfaßten Gemeinden mit eigenem Gerichtsstand auch die allenfalls möglichen und vielleicht nur denkbaren Gerichtsorte88, kennt aber, und wieder anders als das Fragmentum Atestinum89, nur noch den ordentlichen Gerichtsmagistrat der verfaßten Städte und den praefectus, der ihn, wohl vornehmlich in den Ortschaften ihres Gebiets, vertrat.90 Das rubrische Gesetz hat vermutlich die unterschiedlichen Streitwertgrenzen beseitigt, die die vorläufige, unverzüglich erlassene Gerichtsordnung noch gelten ließ, und auf höherem Niveau für alle lokalen Gerichte der Provinz eine einheitliche Streitwertgrenze verordnet. Die Einführung einer einheitlichen Streitwertgrenze lag schließlich in der Konsequenz der rechtlichen Gleichstellung aller Bewohner der Provinz durch die pauschale Verleihung des römischen Bürgerrechts. Wie unter dem Gesetz des Fragmentum Atestinum blieb dagegen auch unter der Lex Rubria die Streitwertgrenze von nunmehr 15.000 Sesterzen der Disposition der Parteien entzogen.

Schlußbemerkungen Vergleichen wir die Ergebnisse unserer Überlegungen, so müssen wir uns zunächst wieder vergegenwärtigen, daß die Lex Rubria und das Fragmentum Atestinum nur Bruchstücke von Gerichts- und Prozeßordnungen sind; daß diese Ordnungen Provinzialgesetze sind, die das Gerichtswesen in der gesamten Provinz Gallia Cisalpina (oder in einem ihrer Teile) einheitlich regelten; und daß die Bewohner der Gallia Cisalpina römische Bürger waren. Darum ist zunächst bemerkenswert, daß nach beiden Provinzialgesetzen auch in der Gallia Cisalpina wie in dem flavischen Munizipium Irni die Gerichtsbarkeit geteilt war, dort zwischen den Munizipalmagistraten und dem Prätor in Rom, in der Baetica zwischen den Duumvirn und dem Statthalter der Provinz. Wie die republikanischen Provinzialgesetze erteilte die Lex Irnitana den Munizipalmagistraten iurisdictio, aber strenger als sie hielt das flavische Stadtrecht daran fest, daß iurisdictio grundsätzlich nur die Befugnis war, ein iudicium zu erteilen. Die Irnitana rechnete der iurisdictio lediglich noch die Kompetenz zu, ein vadimonium, nämlich das Versprechen anzuordnen, sich zur Verhandlung vor dem Statthalter an dem Ort einzufinden, wo dieser sich aufhielt. Eine Zuständigkeit der Duumvirn etwa für Vollstreckungsbefehle sehen wir in der Irnitana nicht. Die Lex Rubria dagegen räumte den Munizipalmagistraten der Gallia Cisalpina auch die Zuständigkeit für res damni infecti und Maßnahmen gegen den indefensus ein und ermächtigte sie damit zu Rechtsakten, die nach offenbar überkommenen Grundsätzen der Imperiums-

88 Kap. 21 tab. II 3; 22 tab. II 26 / 27 und 23 tab. II 53, 56, 58: oppido municipio colonia praefectura foro veico conciliabulo castello territoriove. 89 s. oben A. 27. 90 Kap. 19 tab. I 6; 20 tab. I 15 / 16 u. ö. Daß der praefectus der Vertreter des Prätors war, ist eher unwahrscheinlich.

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Die Lex Irnitana und die Tafeln von Veleia und Ateste

gewalt vorbehalten waren. Diese Kompetenzerweiterung könnte ein Zugeständnis an die römische Bürgerschaft der Provinz gewesen sein. Das Gesetz der Tafeln von Ateste, die Lex Rubria und die Irnitana gehen darin überein, daß sie, wie andere Stadtrechte vor ihnen, die Zuständigkeit der lokalen Gerichte durch eine Streitwertgrenze beschränken; übersteigt der Streitwert einer Klage diese Grenze, ist der Prätor in Rom oder der Statthalter in Cordoba zuständig. Die Streitwertgrenze der Irnitana stand nicht zur Disposition der Parteien: sie konnten die Zuständigkeit des lokalen Gerichts nicht einverständlich begründen, wenn der Streitwert ihres Prozesses das zulässige Maximum überstieg. Dasselbe ist mit aller Wahrscheinlichkeit für die Streitwertgrenzen der beiden republikanischen Gerichts- und Prozeßordnungen anzunehmen. Eine zweite Konstante der Munizipalgesetzgebung ist der Ausschluß der infamierenden Klagen von der lokalen Gerichtsbarkeit: sowohl die Tafeln von Ateste wie 130 Jahre später das Stadtrecht von Irni behalten die actiones famosae der Zuständigkeit der übergeordneten Gerichtsbarkeit vor, dem Prätor und dem Statthalter. Der Grund dieser Einschränkung ist darin zu sehen, daß die Rechtsordnung an die Verurteilung aus einer infamierenden Klage über den Prozeßverlust hinaus bedeutende Nachteile knüpfte. Beide Gesetze gestatten aber auch den Streitparteien, die Zuständigkeit des lokalen Gerichts für infamierende Klagen einverständlich zu begründen. Für diese Gestattung kann nur maßgebend gewesen sein, daß die primäre oder gesetzliche Unzuständigkeit des lokalen Magistrats zum Schutz des Beklagten verfügt war. Ein letzter Punkt sind die enormen Unterschiede zwischen den zulässigen maximalen Streitwerten: nach dem Fragmentum Atestinum sind 10.000 Sesterzen die Obergrenze, nach der Lex Rubria 15.000, im spanischen Irni nur 1.000. Für eine hinreichende Erklärung fehlen uns die ökonomischen Daten. Wir können nicht einmal sagen, ob der zeitliche Abstand von etwa 130 Jahren zwischen den republikanischen Gesetzen und der flavischen Lex Irnitana eine Rolle spielt. Die Streitwertgrenze von 1.000 Sesterzen in Irni mag mit der geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Stadt zusammenhängen. Indessen ging die Gerichtsbarkeit in der wohlhabenden Handelsstadt Malaca aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht über 2.000 Sesterzen hinaus. Diese Streitwertgrenzen sind freilich nicht mehr ganz so erstaunlich, wenn man sie an den Einkommen des Hilfspersonals der Duumvirn von Urso mißt. Dort war der Jahreslohn eines Schreibers 1.200 Sesterzen, eines Liktors 600 und eines Boten 400. Der Abstand zu den Streitwertgrenzen in der republikanischen Gallia Cisalpina ist damit natürlich nicht erklärt.

Rechtspflege in Urso* I. Das flavische Stadtrecht Spaniens 1. Augustus hat bekanntlich die iberische Halbinsel neu aufgeteilt. Nach ihrer vollständigen und endgültigen Unterwerfung hat er drei Provinzen eingerichtet: Hispania Tarraconensis, Lusitania und Baetica1. Die Baetica, der heute etwa Andalusien entspricht, war die südlichste und kleinste. Benannt war sie nach dem Fluß Baetis2. Sie war die an Städten bei weitem reichste der drei neuen Provinzen. Um die Mitte des 1. Jhs. n. Chr. betrug die Gesamtzahl ihrer Städte 175. Davon waren 129 peregrine Städte. Von den 46 privilegierten Städten waren 9 coloniae und 10 municipia civium Romanorum, mithin 19 Städte, deren Bürger Römer waren; die übrigen 27 priviligierten Städte waren municipia iuris Latini, Gemeinden latinischen Rechts3. 2. Der Status der peregrinen Städte und mit ihr der ihrer Einwohner änderte sich indessen noch bevor das 1. Jh. n. Chr. zu Ende ging: sie wurden durchweg municipia; sie erhielten eine Verfassung, ein ‚Stadtrecht‘, und wurden damit nun auch ‚Stadt‘ nach den Kriterien des römischen Staatsrechts. In aller Regel erhielten sie die Latinität, wurden municipia iuris Latini. Und mit der Latinität gewannen sie weitgehende Selbständigkeit in Verwaltung und Jurisdiktion. Die Promotion nicht privilegierter Städte zu Munizipien (‚Munizipalisierung‘) wird in Spanien von Caesar eingeleitet und von Augustus energisch fortgeführt, von seinen nächsten Nachfolgern dagegen fast aufgegeben bis Vespasian, vermutlich 73 oder 74, ‚ganz Spanien‘ die Latinität, das ius Latinum, verlieh: universae Hispaniae, Vespasianus imperator Augustus iactatum procellis rei publicae Latium tribuit.4 * Mit dem Namen des Verfassers oder abgekürzt werden zitiert: G. Bruns, Die Erztafeln von Osuna, in: ZRG 12 (1876) 86 – 127; A. Caballos Rufino, El nuevo bronce de Osuna y la política colonizadora romana (2006); M. Kaser / K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht2 (1996); F. L. v. Keller, Der römische Civilprozeß und die Actionen, 6. Ausgabe bearbeitet von A.Wach (1883); Mommsen, Lex coloniae Iuliae Genetivae urbanorum sive Ursonensis, in: Gesammelte Schriften (1904, Nachdruck 165) I 194 – 264. 1 Erst nach der Unterwerfung der Cantabrer, Asturer und Vaccäer 26 und 25 v. Chr. war Spanien vollständig und der Niederwerfung ihrer letzten Erhebung 19 v. Chr. endgültig unter der Herrschaft der Römer. 2 Plin. n. h. 3. 7, 9. 3 Plin. n. h. 3. 7: von den 129 peregrinen Städten waren 120 tributpflichtig, 6 civitates liberae und 3 foederatae. 4 Plin. n. h. 3. 30.

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Universae Hispaniae, ‚ganz Spanien‘, ist zu verstehen: allen noch nicht privilegierten, mithin allen noch peregrinen Gemeinden Spaniens5; und ganz Spanien ‚erteilt‘ wurde das latinische Bürgerrecht durch die Promotion der peregrinen Städte zu Munizipien6. Über die Prozedur sind wir nicht weiter unterrichtet. Die Durchführung des kaiserlichen Edikts zog sich jedoch lange hin. Ich nenne nur die drei durch ihr Stadtrecht uns geläufigen Städte: Salpensa, nahe Hispalis gelegen, dem heutigen Sevilla, erhielt Anfang der 80er Jahre sein Stadtrecht; wenig später die blühende Hafenstadt Malaca, das heutige Malaga7; und erst in den frühen 90er Jahren Irni 8, die Stadt, von der wir vor 25 Jahren noch nicht wußten, daß es sie überhaupt gab. 3. Das Stadtrecht von Irni, die Lex Irnitana9, war auf 10 Bronzetafeln eingraviert. Von diesen 10 Tafeln spürten im Frühjahr 1981 Clandestini mit einem Metalldetektor 6 Tafeln auf und verkauften sie sofort in zwei Partien. Die Geschichte wurde ruchbar und binnen kurzem konnte der Verbleib der Tafeln ausfindig gemacht werden. Sie befinden sich heute im Archäologischen Museum von Sevilla. Die 6 Tafeln des Fundes sind die nummerierten Tafeln 3 und 5 sowie 7, 8, 9 und 10 der Lex Irnitana. Schon seit 1861 besitzen wir große Fragmente auch der Stadtrechte von Salpensa und Malaca10. Der Text der Tafel 3 der Irnitana deckt Wort für Wort den Text des Fragments der Salpensana, und der Text der Tafel 7 sowie der ersten Zeilen der Tafel 8 deckt einen großen Teil des erhaltenen Textes der Malacitana. Für die Stadtrechte von Salpensa, Malaca und Irni steht darum außer Zweifel, daß sie einer gemeinsamen Vorlage folgten. Mit gutem Grund dürfen wir indessen annehmen, daß nicht nur sie, sondern alle Stadtrechte Spaniens, die in der Folge des Latinum-Dekrets Vespasians zu Munizipien promoviert worden sind, dieser Vorlage folgten11. Wir besitzen nicht die vollständige Lex Irnitana; aber zusammen mit dem Teil der Malacitana, der auf den 6 Tafeln der Irnitana nicht erhalten ist, immerhin Zweidrittel 5 Gai 1. 95: … quod ius quibusdam peregrinis civitatibus datum est vel a populo Romano vel a senatu vel a Caesare. Vgl. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht (3. Aufl. 1887, Nachdruck 1952) II 888 ff. 6 Vgl. zu diesen Fragen Galsterer, Untersuchungen zum römischen Städtewesen auf der iberischen Halbinsel (1971) 37 ff. 7 Bruns, Fontes 142 und 147; FIRA I 202 und 208. 8 Auf der Bronze ist dem Gesetz hinzugefügt ein Brief Domitians vom 10. April 91, der am 11. Oktober 91 vermutlich in Rom in der Curia verlesen worden ist. 9 F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico (1990) 71 ss.; J. Gonzáles, The Lex Irnitana: a new Flavian municipal law, in: JRS 76 (1986) 153 ss. mit einer Übersetzung ins Englische von M. H. Crawford 182 ss.; F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (1993) 267 ss. mit einer Übersetzung ins Italienische. 10 Bruns, Fontes 142 ss. und 147 ss.; FIRA I 202 ss. und 208 ss. 11 Vgl. J. G. Wolf, The Romanization of Spain: The Contribution of City Laws in the Light of the Lex Irnitana, in: A. Burrows / Lord Rodger of Earlsferry (Ed.), Mapping the Law, Essays in Memory of Peter Birks (2006) 444 ss.

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des flavischen Stadtrechts der spanischen Provinzen, also auch der Lex Irnitana. Das ist durchaus singulär, denn es ist weit mehr als von allen anderen uns bekannten, durchweg älteren Stadtrechten des römischen Weltreichs überliefert ist.

II. Das Stadtrecht von Urso 1. Eines dieser älteren Stadtrechte ist die Lex Ursonensis12, das Stadtrecht von Urso, dem heutigen Osuna. Von den 175 Gemeinden der Baetica waren, wie gesagt, 9 Gemeinden coloniae civium Romanorum, römische Bürgerkolonien – und eine von ihnen war Urso13. Urso lag etwa 30 Kilometer östlich von Sevilla, an dem Hauptverkehrsweg, der die Hafenstadt Malaca mit dem Innern des Landes verband. Und auch nach Irni war es nicht weit: kaum 20 km nach Süden auf der Straße nach Arunda, dem heutigen Ronda. 2. Das Stadtrecht von Urso läßt uns beiläufig wissen, daß die Kolonie auf Geheiß des Diktators Caesar gegründet14 und die Gründung nach Senats- und Volksbeschlüssen durch eine lex Antonia, ein von Marcus Antonius erlassenes Gesetz15, vollzogen wurde16. Sie geschah im Jahre 44 kurz vor oder nach der Ermordung des Diktators. In das Jahr 44 oder 43 ist denn auch das Stadtrecht von Urso zu datieren17 – mehr als 100 Jahre vor der flavischen Munizipalordnung. Die Gravur ist Bruns, Fontes 122 ss.; FIRA I 177 ss. Die Zahl der bekannten republikanische Gründungen ist gering: Galsterer (o. A. 6) 7 ff. Außer Italica, der Heimat Trajans und seines Nachfolgers Hadrian, ist Carteia ein bemerkenswertes Beispiel: Im Jahre 171 v. Chr. wurde auf Geheiß des Senats in Rom in der griechischen oder phönikischen Gemeinde Carteia unweit der Meerenge von Gibraltar für 4000 Söhne römischer Legionäre und hispanischer Frauen eine colonia iuris Latini eingerichtet. Da Legionäre nicht heiraten durften, folgten ihre Kinder dem Personenstand der Mutter, waren also Peregrine. Mit ihrer Ansiedlung wurden sie nicht in den römischen Bürgerverband aufgenommen, erhielten aber ein eingeschränktes römisches Bürgerrecht, das ius Latinum. 14 Caesar soll 80.000 römische Bürger in überseeische coloniae verbracht haben (Sueton Caes. 42), vornehmlich ex libertino genere (Strabon 8. 6. 23), das bedeutet: aus der sozial bedürftigen hauptstädtischen Bevölkerung. Vgl. insb. Mommsen cit. 206 ss., 222; R. Grosse, Urso in RE IX A (1961) 1064 ss.; M. Gelzer, Caesar6 (1960) 274 ss. 15 Die lex Antonia war mithin eine lex data, was Kap.132 bestätigt: Ne quis in colonia Genetiva post hanc legem d a t a m petitor kandidatus. Vgl. Mommsen cit. 207 s. 16 Kap. 104: … qui iussu C. Caesaris dictatoris imperatoris et lege Antonia senatusque consulto plebique scitis ager datus atsignatus erit. Kap. 106: Quicumque colonus coloniae Genetivae erit, quae iussu C. Caesaris dictatoris deducta est. Vgl. außerdem Kap. 125: … quive tum magistratus imperium potestatemve colonorum suffragio geret iussuque C. Caesaris dictatoris consulis prove consule habebit; Kap.66: Quos pontifices … C. Caesar, quive iussu eius coloniam deduxerit, fecerit. 17 Durchweg scheint man anzunehmen, daß Gegenstand der lex Antoniana das Stadtrecht war, was nicht auszuschließen, aber auch nicht gewiß ist. Gewöhnlich wird darum die Lex Ursonensis in das Jahr 44 v. Chr. datiert. Vgl. etwa Mommsen cit. 208, 246; L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 397: „Anfang 44 bis zu den Iden des März“, doch sei das Stadtrecht erst von Marcus Antonius publiziert worden. 12 13

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indessen erheblich jünger18; sie stammt aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. Wie die Lex Irnitana bezeugt19, sah das flavische Stadtrecht vor, daß die peregrinen Städte Spaniens alsbald nach ihrer Einbürgerung ihre neue Verfassung in Erz schlugen und an einem viel begangenen Ort aufstellten. Es ist gut möglich, daß auch die schon priviligierten Kolonien und Munizipien, wie eben Urso, dieser Forderung unterworfen wurden. 3. Wie die Lex Irnitana war vermutlich auch die Lex Ursonensis auf 10 Bronzetafeln eingraviert20, die Irnitana allerdings in jeweils 3, die Ursonensis dagegen in jeweils 5 Kolumnen auf einer Bronze21. Schon daraus ergibt sich, daß die Lex Ursonensis erheblich umfangreicher war als die Lex Irnitana: während die Irnitana 97 Kapitel zählte, hatte die Ursonensis denn auch mindestens 140 Kapitel22. In beiden Gesetzen waren die Kapitel durchgezählt und beziffert, überschrieben aber nur in der Irnitana. Von den 10 Bronzetafeln der Lex Irnitana sind 6 vollständig erhalten. Von den vermutlich ebenfalls 10 Tafeln der Lex Ursonensis sind nur eine vollständig, von drei weiteren aber immerhin große Bruchstücke mit jeweils drei Kolumnen erhalten; das jetzt erst gefundene Bruchstück einer fünften Tafel überliefert uns drei Viertel des Textes einer Kolumne und die erste Hälfte der Zeilen einer zweiten23. So versteht sich, daß wir nicht einmal die Hälfte der Lex Ursonensis besitzen, nämlich nur 51 Kapitel vollständig24 oder nahezu vollständig25 und von weiteren 6 Kapiteln nur wenige, kaum brauchbare Textteile26. Von der Lex Irnitana haben wir dagegen, wenn wir die auf ihren Tafeln nicht auch überlieferten Textteile der Malacitana hinzunehmen27, mit 66 Kapiteln zwei Drittel ihres ursprünglichen Textes28. Vgl. Mommsen cit. 209. Kap. 95. – Vgl. J. G. Wolf (cit. o. A. 11) 444 ss. 20 Bruns, Fontes 122: „Lex … non minus octo inscripta fuit“; P. Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts2 (1912) 81: „mindestens neun“; Caballos 172 vermutet 11 Tafeln mit 2, 3, 5 und 6 Kolumnen. 21 Die Standardklauseln der auf den Bronzen erhaltenen Version der Lex Ursonensis sind nicht einheitlich, die Gravur darum möglicherweise nach verschiedenen Vorlagen erfolgt So sind von Kap. 125 an die Strafklauseln ausführlicher gafaßt als bis Kap. 104, vgl. unten III. 3. f. Dazu vgl. Bruns, Erztafeln cit. 118 ss. und seine – überzogenen – Interpolationsvermutungen in den Kap. 124 – 134 in Fontes 135 ss. 22 Nach Caballos 172 „sino al menos a 146 o 147“. 23 Siehe Caballos 49 ss., 105 ss., 133 ss. 24 Die Kap. 13 und 14, 62 – 81, 92 – 105, 124 – 133. 25 Die Kap. 15, 61, 82, 91, 134. 26 Von den Kap. 16, 17, 18, 19, 106, 123. 27 Nämlich die 8 Kapitel 51 – 58. 28 Auf den Bronzen der Lex Irnitana sind 58 Kapitel überliefert, auf tab. 3: Kap. 19 – 31; tab. 5: Kap. 39 – 50; tab. 7: Kap. 59 – 67; tab. 8: Kap. 68 – 78; tab. 9: Kap. 79 – 87; tab. 10: Kap. 88 – 97. 18 19

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4. Für die Einschätzung der legislatorischen Leistung bedeutsamer ist die innere Ordnung der Gesetze. Unverkennbar folgt die Irnitana im großen ganzen einem klaren Konzept29. Gegenstand ihrer Vorschriften und Regeln waren der Reihe nach: die Komitien30, die Magistratur31, die Dekurionen32, die Modalitäten der Wahlen33, allgemeine Verwaltung34 und Finanzwesen,35 schließlich die Gerichtsbarkeit und der Zivilprozeß36. Innerhalb der einzelnen Bereiche bestimmt weitgehend der Sachzusammenhang die Anordnung der Vorschriften und Regeln. In der Lex Ursonensis ist ein vergleichbares Konzept nicht zu erkennen37. Zwar sind immer wieder Vorschriften und Regeln offenbar assoziativ unter einem allgemeinen Gesichtspunkt zusammengestellt38. So etwa stehen die Kap.64 bis 72 in direkter oder indirekter Beziehung zu den sacra: die Beschließung der Festtage und öffentlichen sacra durch die Dekurionen auf Vorschlag der Duumvirn (Kap.64); die ausschließliche Verwendung der Strafgelder für die sacra der Stadtgemeinde (65); die Privilegien der Pontifices und Auguren und ihrer Kinder (66); die Ergänzung ihrer Kollegien durch Zuwahl oder Kooptation (67); ihre Wahl durch die Komitien (68); die Bezahlung der Lieferanten von Utensilien, die ad sacra und ad res divinas von Nöten sind (68); die Verpflichtung der Duumvirn und Ädile, Spiele zu Ehren von Jupiter, Juno und Minerva abzuhalten (70, 71); schließlich das Verbot, überschüssige Gelder, die in aedis sacras gespendet worden sind, für andere Zwecke zu verwenden (72). – Auf diesen sacra-Komplex, um ein zweites Beispiel zu geben, folgen Ordnungs- und baupolizeiliche Vorschriften. Sie untersagen: in der Stadt zu bestatten (73); neue Leichenbrandstätten nahe der Stadt anzulegen (74); Gebäude abzureißen, ohne daß Bürgen den Wiederaufbau garantieren (75); Ziegeleien in der Stadt einzurichten, die täglich mehr als 300 Dachziegel herstellen (76). – Und auf diese 29 Sozusagen außer der Reihe stehen auf tab. 3 die Kap. 28 (Freilassung) und 29 (Vormundschaft); auf tab. 8 die Kap. 74 (Verbot von Versammlungen und Zusammenschlüssen) und 75 (Verbot, Korn aufzukaufen und zu horten); auf tab. 9 die Kap. 81 (Sitzordnung bei Spielen), 82 (Recht der Duumvirn, Straßen, Flüsse u. a. zu bauen gemäß Beschlüssen der Dekurionen) und 83 (Zwangsdienste der Bürger und Einwohner beim Bau von Gebäuden). 30 Dieser Teil der Lex Irnitana ist nicht erhalten. 31 Auf tab. 3 nur noch die Kap.19 – 27. 32 Auf tab. 3 die Kap. 30 und 31 und auf tab. 5 die Kap. 39 – 49. Tab. 4 ist nicht erhalten. 33 Auf tab. 5 das Kap. 50, auf dem Fragment der Lex Malacitana die Kap. 51– 60 und auf tab. 7 (wieder der Irnitana) die Kap. 59 und 60. 34 Auf tab. 7 die Kap. 61 und 62. 35 Auf tab. 7 die Kap. 63 – 67, auf tab. 8 die Kap. 68 – 73 und 76 – 78 und auf tab. 9 die Kap. 79 und 80. 36 Auf tab. 9 die Kap. 84 – 87 und auf tab. 10 die Kap. 88 – 93. 37 Bruns, Erztafeln cit. 86: „völlig principlos“, „zufälliges Zusammenwerfen verschiedener schon vorher fertiger Bestimmungen“. 38 Mommsen cit. 211 zu den Kap. 91 – 134: „Res tamen in lege perscriptae fuisse videntur certo ordine nullo; … Nihilominus apertum est idem argumentum saepe per plura capita continuari.“ und zu den Kap. 61 – 82: „rerum ordinem certum nullum in lege fuisse videri“. Vgl. seine Auflistung 211 ss. und 247 s. Außerdem vgl. Bruns, Erztafeln cit. 86 s., 99 ss., und Die neuen Tafeln von Osuna, in: ZRG 13 (1878) 386. L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 397; R. Grosse, Urso in RE IX A (1961) 1065.

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Vorschriften wiederum folgen zunächst die den Duumvirn und Ädilen erteilte Erlaubnis, Straßen, Gräben und Kloaken zu bauen (77), und sodann die Bestimmungen, daß Wege und Straßen auf dem Gebiet der Kolonie öffentlich sind (78) und ebenso alle Wasser, Flüsse, Bäche und Seen, im Gemeingebrauch der Kolonisten stehen (79).

Wie schon diese Beispiele zeigen, ist die Ordnung der Vorschriften und Regeln auch nicht eigentlich willkürlich und gedankenlos. Eine nach den Instituten des Stadtrechts, ihren Zuständigkeiten und Aufgaben gegliederte Organisation der Materien, wie wir sie in der Lex Irnitana sehen, aber fehlt.

III. Die Jurisdiktions- und Prozeßvorschriften der Lex Ursonensis 1. Konkrete Anschauung von einem Gesetz ist nur anhand seiner Vorschriften zu gewinnen. Im Folgenden sollen darum einige Vorschriften der Lex Ursonensis besprochen werden, und zwar die Vorschriften, die von Gerichtsbarkeit und Prozeß handeln. a) In der Lex Irnitana, und das heißt immer auch: in den flavischen Stadtrechten ganz Spaniens, bilden die Vorschriften über Gerichtsbarkeit und Prozeß einen Block von 10 Kapiteln unterschiedlichen Umfangs; es sind die Kapitel 84 bis 93. Die Lex Ursonensis handelte dagegen an verschiedenen Stellen von Gerichtsbarkeit und Prozeß. Und es sind nur die 4 Kapitel 61, 94, 95 und 102, die allgemeine Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften enthalten. b) Die flavischen Munizipien latinischen Rechts hatten keine Strafgerichtsbarkeit; sie war dem Statthalter vorbehalten. Die Kapitel 84 bis 93 der Lex Irnitana handeln darum ausschließlich von Verfassung und Rechtsgang der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit. Die Vorschriften der Lex Ursonensis sind nicht von dieser Eindeutigkeit. Bruns war gar der Ansicht, daß über den Zivilprozeß die Tafeln nichts enthalten39. Kap. 61 regelt die Personalvollstreckung; Kap. 94 verfügt die Gerichtsbarkeit der Duumvirn und Ädile; Kap. 95 trifft Bestimmungen über ein Verfahren vor reciperatores; und Kap. 102 über die Redezeiten in einem Akkusationsprozeß. Neben diesen Vorschriften von allgemeiner Geltung stehen 3 Kapitel, deren Vorschriften ausschließlich für ein spezielles Verfahren gelten: für das Verfahren über die Indignität von Dekurionen40. Schließlich sind nicht weniger als 17 Kapitel mit Bußklauseln versehen, die Bürgern und Einwohnern von Urso das Recht einräumen, für die Gemeinde die Buße einzuklagen, die, in der großen Mehrzahl der Fälle, das Gesetz gegen den verhängt, der ein Gebot oder ein Verbot des Stadtrechts verletzt41. 3 Kapitel wollen wir im Einzelnen besprechen. 39 Bruns cit. 120. Kap. 61, das erst später bekannt wurde, kann dem „Civilprozeß“ nicht zugerechnet werden. 40 Es sind die Kap. 105, 123 und 124.

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2. a) Die Lex Ursonensis erteilt in Kap. 94 dem Duumvir, dem Präfekten, der den Duumvir in seiner Abwesenheit vertritt, und dem Ädil iurisdictio: (1) Ne quis in hac colonia ius dicito neve cuius in ea colonia iuris dictio esto nisi IIviri aut quem IIvir praefectum reliquerit aut aedilis, uti hac lege oportebit. (2) Neve quis pro eo imperio potestateve facito, quo quis in ea colonia ius dicat, nisi quem ex hac lege dicere oportebit.

Das Gesetz spricht von einem Duumvir und einem Ädil: ne … iuris dictio esto nisi IIviri aut … aedilis; es versteht sich aber, daß die Verfügung für jeden der beiden Duumvirn und jeden Ädil gilt. Iurisdictio war die hoheitliche Befugnis, die streitige und freiwillige Zivilgerichtsbarkeit auszuüben; erst im 2. Jh. n. Chr. wurde der Begriff auf Strafgerichtsbarkeit und Kognition erstreckt42. Der Kernbereich der iurisdictio war die Gewährung und Einsetzung eines Urteilsgerichts: die Ernennung eines iudex oder einer Richterbank von recuperatores43 und ihre Instruktion in einer formula. Andere Gesetze, ältere44 und jüngere, fügen darum erläuternd hinzu iudicis arbitri recuperatorum iudici datio addictio. In der Lex Irnitana lautet die Klausel (Kap. 84 Z. 23 ss.)45: IIviri … iuris dictio, iudicis arbitri recuperatorum … iudici datio addictio, item … aedilis … iuris dictio iudicis arbitri reciperatorum … iudicique datio addictio esto.

Kap. 94 belegt mithin, daß die Magistrate von Urso für die Zivilgerichtsbarkeit zuständig waren. Daß sie auch in Strafsachen eine Zuständigkeit hatten, ergibt sich aus Kap. 94 nicht. b) Im Vergleich mit der Jurisdiktionsverfügung der Lex Irnitana und einer Reihe anderer Gesetze46 ist nicht zu übersehen, daß diese Verfügung der Lex Ursonensis eigentümlich gefaßt ist: dem Duumvir, seinem Präfekt und dem Ädil räumt sie iurisdictio ein, indem sie diese Amtsträger von dem allgemeinen Verbot ausnimmt, in

41 Es sind die Kapitel, 73, 74, 75, 81, 92, 93, 97, 104, 125, 126, 128, 129, 130, 131 und 132. Nicht um Verstöße, sondern um unerwünschtes Verhalten geht es in Kap. 61 (s. unten III. 4. h)) und Kap. 82. 42 Vgl. Keller cit. 9 ss.; M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß, 2. Bd. (1865) 91 ss.; G. Pugliese, Il processo civile romano, II. Il processo formulare, Tomo 1 (Milano 1963) 113 ss., insb. 115 s.; Kaser / Hackl cit. 183 ss., 460 A.1. 43 Vgl. Keller cit. 41. 44 Lex agraria von 111 v. Chr. Z. 35: iuris dictio iudici iudicis recuperatorum datio esto; Lex Antonia de Termessibus von 71 v. Chr. II 3 / 4: ious deicunto iudicia recuperationes danto; Lex Mamilia von 59 v. Chr. Kap. 55: iuris dictio reciperatorumque datio addictio esto; Lex Rubria von (etwa) 42 v. Chr. XX 16 / 17: ius deicito iudicia dato iudicareque iubeto; XXII 28: ius deicei iudiciave darei oportebit. 45 Vgl. auch Lex Irnitana Kap. 19: (13) eisque aedilibus … (15) iurisdictio iudicis reciperatorumque datio addictio … esto. 46 Vgl. oben A. 41.

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Urso iurisdictio auszuüben. Während die Jurisdiktionsverfügung der Lex Irnitana die Ermächtigung noch anderer Amtsträger nicht ausschließt, beschränkt die der Lex Ursonensis die iurisdictio exklusiv auf die genannten Funktionäre. Dieser entschiedenen Ausgrenzung entspricht die Einschärfung des Verbots durch seine Wiederholung: ne quis in hac colonia ius dicito neve cuius in ea colonia iuris dictio esto; und entspricht ebenso die Verpflichtung der Amtsträger47, kraft ihrer Amtsgewalt, pro eo imperio potestateve, Gerichtsbarkeit nur zu übertragen, wenn das Stadtrecht es vorsieht – eine Ausnahme, für die wir in den überlieferten Kapiteln allerdings kein Beispiel finden. c) Ein letzter Punkt. Die den Duumvirn, dem Präfekt und dem Ädil in Kap. 94 der Lex Ursonensis zugesprochene iurisdictio ist nicht unbeschränkt; sie reicht nur soweit, uti hac lege oportebit: wie es nach diesem Gesetz, der Lex Ursonensis, geboten ist. Diese Einschränkung sehen wir auch in der Lex Irnitana48. Sie bedeutet, daß die hier zugewiesene iurisdictio andern Orts näher definiert wird. In der Irnitana ist einer dieser anderen Orte Kap. 84, wo die iurisdictio der Magistrate sowohl durch Streitwertgrenzen wie ratione materiae einschränkend definiert wird. Ob auch die Ursonensis die Gerichtsbarkeit der Magistrate nach diesen Kriterien eingrenzte, wissen wir nicht; aber schon das folgende Kap. 95 setzt voraus, daß für Rekuperatorenprozesse nur der Duumvir oder sein Stellvertreter und nicht auch der Ädil zuständig war. 3. a) In Kap. 95 trifft die Ursonensis eine Reihe von Bestimmungen über den Rekuperatorenprozeß. Der Rekuperatorenprozeß49 war ein spezieller Formularprozeß, seine auffälligste Spezialität eine Mehrheit von Richtern: die Richterbank der recuperatores. Wie jeder Formularprozeß war auch der Rekuperatorenprozeß zweigeteilt: er wurde eingeleitet vor dem zuständigen Magistrat, der die Richter einsetzte und in einer formula instruierte und zu urteilen anwies50. Der Rekuperatorenprozeß der Ursonensis wird indessen nicht durchweg so gesehen. Für Mommsen war er ein iudicium publicum, ein Strafprozeß, der „in geschärften Formen des Civilrechts“ stattfand51 und mit der Eigentümlichkeit, daß die datio recuperatorum ohne Litiskontestation, „auf den bloßen Antrag des Klägers“ 47 Mommsen cit. 229: „Quamquam alibi 1, 29 verbis pro eo imperio potestate IIvir praefectus aedilisque comprehenduntur.“ 48 Die Lex Irnitana verfügte in ihrem Abschnitt über die Magistrate (vgl. oben A. 31) die Gerichtsbarkeit der Duumvirn und Ädile, die der Duumvirn vermutlich in Kap. 18, die der Ädile, wie wir sehen, in Kap. 19, und wie hier, so sicher auch dort mit der Maßgabe ut hac lege licebit. Entsprechend diesem Vorbehalt wird in Kap. 84 die iurisdictio der Duumvirn und Ädile definiert: J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, in: SDHI 66 (2000) 29 ss. 49 Pugliese (cit. A. 42) 194 ss., 206 ss., 241 ss.; Kaser / Hackl cit. 197 ss. 50 Richtig bleibt nur, daß der Rekuperatorenprozeß straffer organisiert war, daß er insbesondere dem Magistrat erhebliche Eingriffe in das Verfahren gestattete, die aber ausnahmslos seine zügige Abwicklung bezweckten. Warum es diesen ‚speziellen Formularprozeß‘ gab, muß an den Klagen abgelesen werden, für die er zuständig war. 51 Mommsen, Römisches Strafrecht (1899, Nachdruck 1955) 180.

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erfolgte52. Wlassak nennt den Rekuperatorenprozeß der Ursonensis einen „öffentlicher Bußprozeß“, und auch er vermißt die Litiskontestation53. In der jüngeren Literatur scheint Schmidlin, in seiner Monographie über ‚Das Rekuperatotenverfahren‘, wieder Mommsen folgen zu wollen. Auch er kann „keine Litiskontestation feststellen“ und vermerkt, daß sich der Rekuperatorenprozeß strukturell an den Zivilprozeß anlehne, eine „deutliche Angleichung an den Quaestionenprozeß“ aber fühlbar sei54. Die Regulierung der Rekuperatorenprozesse von der Auswahl der Richter über die Beschränkung der Zahl der Zeugen und ihre amtliche Ladung bis hin zur Begrenzung der Prozeßdauer – diese gesetzlichen Vorgaben sind erheblich, aber kein ausreichender Grund, den Rekuperatorenprozeß als Strafverfahren zu deklarieren. Und dabei bleibt es auch, wenn man hinzu nimmt, daß in Kap. 95 der Kläger is qui rem quaeret und das Verfahren quaestio genannt werden – Termini, die zwar bevorzugt, aber keineswegs ausschließlich zum technischen Vokabular der Strafverfahren gehören. Und wenn in Kap. 95 von Litiskontestation nicht die Rede ist, bedeutet das noch nicht, daß es sie nicht gab – ganz abgesehen davon, daß wir gar nicht wissen, ob es im Formularverfahren ein litem contestari im eigentlichen Sinne überhaupt noch gab55. Wir schauen uns Kap. 95 näher an. b) In Kap. 95 eigentümlich geregelt ist die Prozeßdauer; die Zahl der Zeugen und ihre Ladung sowie der Zwang, unter Eid auszusagen; schließlich die Folgen, die eintreten, wenn der Kläger apud recuperatores ausbleibt. Die Zahl der Rekuperatoren erfahren wir nicht56, wohl aber beiläufig, daß, vermutlich aus einer Richterliste, zunächst eine größere Zahl von Kandidaten ausgelost wurde und von diesen Kandidaten die Parteien bis auf drei oder fünf, vermutlich im Wechsel, ablehnen konnten57. Kap. 95 lautet: (1) Qui reciperatores dati erunt, si eo die quo iussi erunt non iudicabunt, IIvir praefectusve ubi ea res agitur eos reciperatores eumque cuius res agitur adesse iubeto diemque certum dicito, quo die atsint, usque ateo, dum ea res iudicata erit, facitoque, uti ea res in diebus XX proxumis, quibus de ea re reciperatores dati iussive erunt iudicare, iudicetur, uti quod recte factum esse volet.

Mommsen (cit. A. 51) 184 / 5. M. Wlassak, Der Judikationsbefehl im römischen Prozesse (1921) 51. 54 B. Schmidlin, Das Rekuperatorenverfahren (1963) 117 ss. – Nach Bruns cit. 122 beziehen sich die Bestimmungen des Kap. 95 nur auf Strafsachen und auch hier nur auf die „vielen Geldstrafen, bei denen … eine populare Einklagung in einem iudicium recuperatorium stattfinden soll“ (vgl. oben III. 1. b) und unter III. 3. g)). 55 J. G. Wolf, Die litis contestatio im römischen Zivilprozeß (1968) insb. 35 ss. 56 Die Zahl bestimmte das Gesetz, das den Prozeß vorsah; meist waren es drei: Kaser / Hackl cit. 199. 57 Kap. 95 Z. 27: reciperatores sortiantur reiciantur. Auch das Auswahlverfahren war unterschiedlich geregelt: Lex agraria 37: consul … recuperatores ex civibus L, quei classis primae sient, XI dato, von denen die Parteien abwechselnd bis auf vermutlich drei ablehnen konnten; mehrstufig und variantenreich war das präzise beschriebene Verfahren nach der Lex Irnitana Kap. 88; vgl. Kaser / Hackl cit. 199 mit weit. Lit.; eigenwillig Schmidlin (cit. A. 54) 123 ss. 52 53

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(2) Testibusque in eam rem publice dum taxat hominibus XX, qui coloni incolaeve erunt, quibus is qui rem quaeret volet, denuntietur facito. (3) Quibusque ita testimonium denuntiatum erit quique in testimonio dicendo nominati erunt, curato uti at it iudicium atsint. (4) Testimoniumque si quis quit earum rerum quae res tum agetur, sciet aut audierit, iuratus dicat facito, uti quod recte factum esse volet, dum ne omnino amplius homines XX in iudicia singula testimonium dicere cogantur. (5) Neve quem invitum testimonium dicere cogito, cui ei, quae res tum agetur, gener socer, vitricus privignus, patronus libertus, consobrinus sit propiusve eum ea cognatione atfinitateve contingat. (6) Si IIvir praefectusve qui ea re colonis petet, non aderit ob eam rem, quot ei morbus sonticus, vadimonium, iudicium, sacrificium, funus familiare feriaeve denicales erunt, quo minus adesse possit sive is propter magistratus potestatemve populi Romani minus atesse poterit: quo magis eo absente de eo cui is negotium facesset reciperatores sortiantur reiciantur res iudicetur, ex hac lege nihilum rogatur. (7) Si privatus petet et is, cum de ea re iudicium fieri oportebit, non aderit neque arbitratu IIviri praefective ubi ea res agetur excusabitur ei harum quam causam esse, quo minus atesse possit, morbum sonticum, vadimonium, iudicium, sacrificium, funus familiare, ferias denicales eumve propter magistratus potestatemve populi Romani atesse non posse: post ei earum rerum, quarum hac lege quaestio erit, actio ne esto. (8) Deque ea re siremps lex resque esto, quasi si neque iudices relecti neque reciperatores in eam rem dati essent.

c) Konnten die Rekuperatoren an dem Tag, an dem sie angewiesen wurden zu urteilen (eo die quo iussi erunt sc. iudicare), nicht zu einem Urteil kommen, mußte der Duumvir oder der Präfekt, der ihn vertrat, einen Termin zur weiteren Verhandlung bestimmen, mußte die Präsenz der Rekuperatoren und des Beklagten anordnen (eos reciperatores eumque cuius res agitur adesse iubeto) und außerdem bewirken, daß spätestens 20 Tage nach der datio recuperatorum das Urteil gesprochen wurde (facitoque, uti … iudicetur). Von der Präsenz des Klägers auch im neuen Termin geht das Gesetz aus und regelt darum, im letzten Drittel des Kapitels, die Folgen seiner Abwesenheit. d) Der Kläger (is qui rem quaeret58) durfte nur 20 Zeugen aufbieten. Sie mußten Bürger oder Einwohner Ursos sein. Dem Duumvir oblag es von Amts wegen, ihre Ladung zu veranlassen (testibusque … denuntietur facito) und außerdem dafür zu sorgen, daß sie vor Gericht erschienen (curato uti at id iudicium atsint) und unter Eid aussagten (testimoniumque … iuratus dicat facito). Er sollte allerdings niemanden gegen seinen Willen zur Aussage zwingen (neve quem invitum testimonium dicere cogito), der mit dem Beklagten verwandt oder verschwägert oder dessen Patron oder Freigelassener war. Über welche Zwangsmittel der Duumvir verfügte, wird nicht gesagt, und von Zeugen des Beklagten ist auch nicht die Rede. e) Erschien der Kläger nicht zur Verhandlung, kam es für die Folgen darauf an, ob er ein Amtsträger war, der für die Bürger von Urso klagte (si IIvir praefectusve qui ea re colonis petet), oder eine Privatperson (si privatus petet).

58 Im Akkusationsprozeß ist es der Magistrat, von dem eben das gesagt wird: Kap. 102: IIvir qui hac lege quaeret iudiciumve exercebit.

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War er ein Amtsträger und entschuldigt, wurde das Verfahren ausgesetzt: Rekuperatoren wurden nicht ausgewählt, der Streit nicht entschieden (reciperatores sortiantur reiciantur res iudicetur, ex hac lege nihilum rogatur) und der Prozeß konnte demnächst erneuert werden. Nach diesen Folgen zu urteilen, geht das Gesetz davon aus, daß der Kläger zur Verhandlung in iure, vor dem Magistrat, nicht erschien. Was die Folgen waren, wenn er unentschuldigt ausblieb, bestimmt das Gesetz nicht. Da der Prozeß nicht ohne den Kläger stattfinden konnte, war möglicherweise die Sanktion, daß der Prozeß nicht erneuert werden konnte. Ebensowenig ist der Fall geregelt, daß der Kläger zur Verhandlung vor den Rekuperatoren nicht erschien. Hier ist denkbar, daß jedenfalls dann ohne ihn verhandelt wurde, wenn er unentschuldigt ausblieb. Die Entschuldigung war formalisiert. Der Kläger galt als entschuldigt, wenn einer der 7 aufgeführten Entschuldigungsgründe vorlag, etwa morbus sonticus, ein Vadimoniums- oder ein Prozeßtermin. War der Kläger eine Privatperson, dann fiel der Prozeß endgültig aus, wenn er zur Verhandlung in iure, vor dem IIvir oder dem Präfekten, nicht erschien und, nach dessen Urteil, durch einen der nämlichen Gründe nicht entschuldigt war (is … non aderit neque arbitratu IIviri praefective ubi ea res agetur excusabitur). Der Prozeß fiel endgültig aus, das heißt: er konnte nicht erneuert werden. War der private Kläger dagegen entschuldigt, wird der Prozeß vielleicht nur ausgesetzt worden sein. Soweit Kap. 95 der Lex Ursonensis. f) Die Lex Irnitana regelt detailliert die Auswahl der Rekuperatoren59 und verweist auch für deren Zuständigkeit auf die stadtrömische Gerichtspraxis60, enthält aber keine den Regeln der Ursonensis entsprechende oder vergleichbare Bestimmungen über die gesetzliche und magistratische Regulierung des Rekuperatorenverfahrens. Das bedeutet, daß nach Kap. 93 der Irnitana für den Rekuperatorenprozeß der flavischen Munizipien Spaniens dieselben Regeln galten wie für den Rekuperatorenprozeß in Rom. Denn Kap. 93 der Irnitana bestimmt: Quibus de rebus in hac lege nominatim cautum scriptumve non est, quo iure inter se municipes municipi Flavi Irnitani agant, de iis rebus ii inter se agunto, quo cives Romani inter se iure civili agunt agent. …

Möglicherweise hatten inzwischen die augusteischen Prozeßgesetze, die Lex Iulia iudiciorum privatorum eher als die publicorum, den Rekuperatorenprozeß einheitlichen Regeln unterstellt. g) Die Lex Ursonensis dagegen verfügt noch selbst, daß Bußen, die sie verhängt, im Rekuperatorenprozeß eingeklagt werden. In 17 Kapiteln verhängt das Gesetz Strafgelder fast immer für den Fall, daß sein Gebot oder Verbot nicht eingehalten wird. Bis Kap. 104 folgt die Strafklausel mit geringen Varianten61 in 10 Kapiteln62 dem Muster: 59 60 61

esto.

In Kap. 88. In Kap. 89. In den Kap. 61, 75, 81, 92, 97. Die auffälligste in Kap. 81 mit multa esto statt damnas

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HS … colonis coloniae Genetivae Iuliae dare damnas esto eiusque pecuniae cui volet petitio persecutioque ex hac lege esto.

Von Kap. 125 an, wieder mit geringen Varianten63, in 7 Kapiteln64 dagegen dem Muster: HS … colonis coloniae Genetivae Iuliae dare damnas esto eiusque pecuniae cui eorum volet reciperatorio iudicio aput IIvirum praefectumve actio petitio persecutioque ex hac lege ius potestaque esto.

Ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Fassung der Strafklauseln ist nicht ersichtlich. Darum liegt nahe, daß die Gravur der letzten Tafel oder der beiden letzten Tafeln gleichzeitigt mit der Gravur der Tafeln 1 bis 8 erfolgte und offenbar nach einer anderen Vorlage. Die kürzere Fassung entspricht der Straftklausel der Lex Iulia agraria von 59 v. Chr.65 und ist vermutlich die ursprüngliche. Ihre Erweiterung, die anläßlich der Gravur des Stadtrechts66 geschehen sein könnte, ist überraschend diletantisch. Die Worte ius potestasque passen nicht in das Satzgefüge67; nur ohne sie hat der Satz seinen Sinn. Ein Experte hätte außerdem reciperatorio iudicio dem folgenden aput IIvirum praefectumve nachgestellt. Actio petitio persecutio ist dagegen keine, wie man angenommen hat, „sinnlose Häufung“ von Begriffen68, sondern eine vielfach belegte69, auch in der Lex Irnitana häufig70 verwendete formelhafte Wortverbindung71, die der Befürchtung steuNämlich in den Kapiteln 61, 73, 74, 75, 81, 82 92, 93, 97 und 104. In den Kap. 126 (wo eorum ausgelassen) und 130 (wo interregem hinzugefügt ist). 64 Nämlich den Kap. 125, 126, 128, 129, 130, 131 und 132. 65 Kap. 104 der Lex Ursonensis entspricht wörtlich Kap. 54 der Lex Iulia agraria (oder: Mamilia). Ihre Strafklauseln lauten: Si quis adversus ea quid fecerit, Si quis atversus ea quit fecerit is in res singulas, quotienscumque fecerit, is in res singulas, quotienscumque fecerit, HS IIII HS M colonis municibusve eis, in quorum agro colonis coloniae Genetivae Iuliae id factum erit, dare damnas esto, dare damnas esto, eiusque pecuniae qui volet petitio eiusque pecuniae cui volet petitio persecutioque hac lege esto. esto. Vgl. Mommsen cit. 209; Bruns cit. 99 s., 117 ss. 66 Siehe oben II. 2. 67 Es ist nicht auszuschließen, daß sie gedankenlos eingefügt worden sind nach dem unpassenden Beispiel der flavischen Stadtrechte. In der Lex Irnitana kommt ius potestasque esto häufiger vor (Kap. 27, 64, 71, 82), und Kap. 19 und 83 schließen auch mit dieser Klausel. Indessen siehe auch Lex Ursonensis Kap. 62, 65, 66, 99, 100, und 103. 68 Bruns cit. 118. 69 Vgl. etwa Pap D 44.7.28, Ulp D 50.16.178.2 oder Flor D 46.4.18.1. 70 Nämlich in den Kap. 45, 47, 48, 58, 62 und 67. 62 63

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ern sollte, mit nur dem einen Wort, petitio72, oder auch den zwei Worten, petitio persecutioque73, nicht all das zu erfassen und auszudrücken, was man erfassen und ausdrücken wollte74. Die grammatischen Mängel der Erweiterung sind kein Grund, die Information in Zweifel zu ziehen, die sie liefert. Da nicht anzunehmen ist, daß nur die in den späteren Kapiteln der Ursonensis verhängten Bußen reciperatorio iudicio eingeklagt wurden, müssen wir annehmen, daß die Erweiterung der Strafklauseln lediglich zum Ausdruck bringt, was ohnehin und für alle Bußen gleichermaßen galt. Wenn aber die Bußen, die das Stadtrecht vorsah, generell im Rekuperatorenprozeß eingeklagt wurden, dann kann für dessen Zuständigkeit nicht der Betrag der Buße das Kriterium gewesen sein; denn die Skala der Strafsummen reicht von 100 bis 100.000 Sesterzen75. Die Buße konnte von jedem Bürger Ursos eingeklagt werden76. Zu entrichten war sie aber an die coloni, mithin an ‚die Gemeinde‘77. Darum bestand ein öffentliches Interesse an der Beitreibung der Bußen. Und es war offenbar dieses ‚öffentliche Interesse‘, das die Zuständigkeit der recuperatores für die Bußklagen begründete78. 4. a) Ungern wird man annehmen, daß dem Bürger, der eine Buße einklagte, die an die Gemeinde zu zahlen war, auch die Vollstreckung des Urteils oblag79. Ausschließen können wir es nicht und müssen darum auch die Möglichkeit einräumen, daß der Kläger die Zahlung der Urteilsschuld an die Stadtkasse durch Schuldhaft zu 71 Vgl. Kaser / Hackl cit. 236 A. 32. Mit Erkärungen, wie sie etwa L. Mitteis, Römisches Privatrecht (1908) 89 ss., vorschlägt, ist dieser Praxis nicht beizukommen. Siehe auch L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozeßrechts (1925) 249 A. 10. 72 Lex Ursonensis Kap. 61 und 97. 73 Lex Ursonensis Kap. 74, 75, 81, 82, 83, 93 und 104. 74 W. Kalb, Wegweiser in die römische Rechtssprache (1912, Neudruck 1961) 133; J. G. Wolf, Haftungsübernahme durch Auftrag?, in: D. Nörr / S. Nishimura (Hrsg.), Mandatum und Verwandtes (1993) 80. 75 Der Erwerber unveräußerlicher Immobilien, die in Gemeingebrauch stehen, soll für deren Nutzung pro iugum und Jahr 100 Sesterzen zahlen: Kap. 82. Die häufigste Buße sind 5000 Sesterzen: Kap. 73, 74, 81, 97, 125, 126 und 132. Die Buße von 100.000 Sesterzen sieht das Gesetz für Verstöße gegen die Regeln vor, die bei der Wahl eines Patrons einzuhalten sind: Kap. 130. 76 Allerdings auch nur von einem Bürger der Kolonie, vgl. Kap. 97: … eiusque pecuniae c o l o n i s eius coloniae cui volet petitio esto, sowie Kap. 125, 128 – 132: eiusque pecuniae qui / cui e o r u m volet … 77 Wie in der Ursonensis mit coloni, so wurden in der Irnitana mit municipes nicht die einzelnen Bürger, sondern die Gemeinde bezeichnet, vgl. nur Kap. 62: Qui adversus ea fecerit, is quanti ea res erit, tantam pecuniam m u n i c i p i b u s municipi Flavi Irnitani dare damns esto … 78 Vgl. Pugliese (cit. A. 42) 197 ss.; Kaser / Hackl cit. 197; Schmidlin (cit. 54) 44 ss., 71 ss. 79 Persecutio, die dem Kläger in den Strafklauseln zugesprochen wird, soll in älterer Zeit allerdings die Vollstreckung bezeichnet haben: F. Eisele, Cognitur und Procuratur (1881) 33.

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erzwingen versuchte. Kap. 61 der Lex Ursonensis regelte die Personalvollstrekkung. Das Kapitel ist nur zum Teil erhalten, aber auch der erhaltene Teil läßt noch den engen Anschluß an die Vollstreckungsvorschriften der XII Tafeln erkennen: LEX URSONENSIS KAP. 61

XII TAFEL – FRAGMENTE

Cui quis ita manum inicere iussus erit, iudicati iure manus iniectio esto

Aeris confessi rebusque iure iudicatis XXX dies iusti sunto (III 1). Post deinde manus iniectio esto (III 2).

itque ei sine fraude sua facere liceto. Vindex arbitratu IIviri quive iure dicundo praerit locuples esto.

Assiduo vindex assiduus esto; proletario iam civi quis volet vindex esto (I 4).

Ni vindicem dabit iudicatumve faciet, secum Ni iudicatum facit aut quis endo eo in iure ducito. vindicit secum ducito (III 3). Iure civili vinctum habeto.

Vincito aut nervo aut compedibus XV pondo, ne maiore, aut si volet minore vincito (III 3) Si volet suo vivito. Ni suo vivit, qui eum vinctum habebit, libras farris endo dies dato. Si volet plus dato (III 4). Tertiis autem nundinis capite poenas dabant, aut trans Tiberim peregre venum ibant (III 5).

Si quis in eo vim faciet, ast eius vincitur, dupli damnas esto colonisque eius coloniae HS CCICC CCICC dare damnas esto,

eiusque pecuniae cui volet petitio, IIviro quive iure dicundo praerit exactio iudicatioque esto.

b) Kap. 61 regelte die Personalexekution wegen einer Urteilsschuld (iure iudicati). Dem verurteilten Schuldner waren nach altem und neuem Recht 30 Tage eingeräumt80, das iudicatum zu erfüllen. Vermutlich waren auch in Kap. 61 diese 30 Tage ausdrücklich angeordnet. Nach Ablauf dieser Frist konnte der Gläubiger die manus iniectio beantragen, die ihm, wie wir annehmen, der Duumvir gestatten mußte (manum inicere iussus erit)81. Einen weiterer Prozeß gegen den Schuldner sah das Vollstreckungsverfahren offenbar nicht vor; von der actio iudicati sagt das Gesetz, soweit wir sehen, jedenfalls nichts. Nur wenn gegen die manus iniectio ein

Kaser / Hackl cit. 384. Die angehängte Klausel itque ei sine fraude sua facere liceto ist eine Eigentümlichkeit der Ursonensis. Sie begegnet allenthalben und versichert den Adressaten einer Erlaubnis, daß er von ihr Gebrauch machen kann, ohne Schaden oder Nachteil befürchten zu müssen. Siehe Kap. 62, 63, 65, 70, 71, 91,103, 124. 80 81

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vindex auftrat, kam es zwischem ihm und dem Gläubiger zu einem Prozeß über deren Rechtmäßigkeit82. c) Der vindex mußte locuples, mußte ‚zahlungsfähig‘ sein. Assiduus und proletarius waren an die soziale Umwelt der XII Tafeln gebunden und in der mit stadtrömischen Proletariern beschickten Kolonie Urso des Jahres 44 v. Chr. kein Kriterium. Weil aber locuples ein unbestimmter Begriff war, wurde die ‚Zahlungsfähigkeit‘ dem Urteil des Duumvir unterworfen (vindex arbitratu IIviri … locuples esto). d) Stellte der Schuldner keinen vindex (ni vindicem dabit) und zahlte er auch nicht die Urteilsschuld (ni … iudicatum faciet), sollte ihn der Gläubiger ‚mit sich führen‘ (secum ducito), was soviel heißt wie ‚in Schuldhaft nehmen‘. Die addictio, die ihn dazu ermächtigte, wird nicht erwähnt, weil auch sie längst selbstverständlich war83. Die Nachbildung des XII Tafel-Satzes ist frappant, aber auch seine Veränderung bemerkenswert. Das Futur dabit und faciet entspricht dem Sprachstil der jüngeren Gesetze. In den XII Tafeln handelt der vindex, ‚sagt er in Ansehung des verhafteten Schuldners Gewalt an‘ (endo eo in iure vindicit); in der Ursonensis dagegen wird der vindex vom Schuldner gestellt (vindicem dabit), und das – vielleicht noch förmliche, an eine Spruchformel gebundene – vindicere, das er vollziehen muß, ist nur noch Beiwerk, das sich unausgesprochen versteht. e) Die XII Tafeln verpflichteten den Gläubiger im Einzelnen auf eine bestimmte, nach den Anschauungen der Zeit wohl angemessene Behandlung des verhafteten Schuldners bevor er ihn töten oder ‚ins Ausland‘ verkaufen durfte. In der späten Republik waren Tötung und Verkauf längst abgeschafft und auch die Umstände der Haft seit langem gemildert. Die Ursonensis läßt sich nicht im Einzelnen auf sie ein, sondern verweist pauschal auf sie: der Gläubiger soll den Schuldner nach Maßgabe des ius civile in Fesseln halten (iure civili vinctum habeto). f) Der Schlußsatz des Kapitels ist nicht ohne weiteres verständlich. Wer ist quis? Exner84 ist der Frage nachgegangen und kam zu dem Ergebnis, quis sei ein Dritter, der dem Gläubiger den verhafteten Schuldner mit Gewalt entreiße. Mommsen85 dagegen hielt ihn für den vindex – und hatte damit wohl Recht. Das Gesetz verpflichtete quis, unter den zu klärenden Voraussetzungen das Doppelte zu zahlen (dupli damnas esto). Das Doppelte kann in diesem Kontext nur das Doppelte der Urteilssumme gewesen sein. Quis mußte das Doppelte zahlen, wenn er in einem Prozeß unterlag (si … vincitur). Eius verweist auf den Streitgegenstand dieses Prozesses: in der Grammatik des Satzes auf vis, auf die Gewalt, die quis ‚in

Siehe unten III. 4. f). Keller cit. 429. 84 A. Exner, Zur Stelle über die Manus Iniectio in der Lex Coloniae Iuliae Genetivae, in: ZRG 13 (1878) 392 ss. 85 Mommsen cit. 261. 82 83

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Ansehung des Schuldners‘ (in eo) geübt hat. Quis mußte demnach das Doppelte der Urteilssumme zahlen, wenn er in einem Prozeß über die Rechtmäßigkeit seiner Intervention unterlag; wenn in diesem Prozeß mithin entschieden wurde, daß er diese Gewalt zu Unrecht geübt hat – und folglich die manus iniectio des Gläubigers rechtmäßig war. Treffen diese Überlegungen zu, dann kann quis nur der vindex gewesen sein, der gegen die manus iniectio des Gläubigers einschritt, der ihre Rechtmäßigkeit bestritt, indem er sie durch einen symbolischen Gewaltakt abwehrte. Dieser symbolische Gewaltakt war das manum depellere, durch das er die Haftungsgewalt des Gläubigers aufhob und sich zugleich auf einen Prozeß um dessen Zugriffsrecht einließ. Der Bedingungssatz si quis in eo vim faciet ist übrigens ersichtlich dem Zwölftafelsatz Ni … quis endo eo in iure vindicit nachgebildet (III 3)86. g) Der vindex intervenierte gegen die Exekution des Schuldners unter der Gefahr, daß er das Doppelte der Urteilsschuld dem Gläubiger schuldig wurde. Diese Konsequenz bekräftigt, daß das sibi manum depellere des Schuldners in der Personalexekution des klassischen Rechts den symbolischen Gewaltakt, das manum depellere des vindex, abgelöst hat und daß der Prozeß um das Zugriffsrecht des Gläubigers Vorläufer und Vorbild der actio iudicati war87. Die Lex Ursonensis belegt damit, daß zu ihrer Zeit die Personalhaftung noch nicht modernisiert war, und legt die Vermutung nahe, daß erst die augusteischen Prozeßgesetze das sibi manum depellere gestattet und die actio iudicati eingeführt haben. h) Der vindex intervenierte indessen nicht nur unter der Gefahr, dem Gläubiger die doppelte Urteilssumme schuldig zu werden. Unterlag in dem Prozeß um das Zugriffsrecht des Gläubigers, hatte er außerdem ein Strafgeld von 20.000 Sesterzen an die Gemeinde zu zahlen. Jeder Bürger konnte die Geldstrafe einklagen; zuständig für den Prozeß und auch die Vollstreckung des Urteils war der Duumvir. Diese enorme Strafdrohung sollte vermutlich vor leichtfertiger Intervention warnen und vorsorglich die Zahl der Einsprüche gering halten, obgleich schon die Einschätzung der Zahlungsfähigkeit durch den Magistrat die Zahl der Interventionen einschränken mußte.

IV. Schlußbemerkung Auf den Bronzen von Urso sind 51 Kapitel seines Stadtrechts aus dem Jahre 44 v. Chr. erhalten. Die 3 Kapitel, mit denen ich Sie bekannt gemacht habe, können darum nur einen ganz vorläufigen Eindruck von diesem Gesetz geben. Ich fasse die Punkte zusammen, die wir berührt haben. In auffallendem Unterschied zu den flavischen Stadtrechten Spaniens, die von der Lex Irnitana repräsentiert werden, hat die Lex Ursonensis keine systematische

86 87

Mommsen cit. 261. Vgl. Kaser / Hackl cit. 385, 138 s.

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Ordnung. Für Bruns, einen ihrer frühen Bearbeiter, war sie darum kein planmäßig ausgearbeitetes Gesetz, sondern aus vorhandenen, für andere Zwecke verfaßten Bestimmungen planlos zusammengesetzt worden. Kap. 104 ist in der Tat weithin wortgleich mit einem Kapitel der Lex agraria von 59 v. Chr. Indessen könnte auch die Unterstellung, daß die Ursonensis aus vorhandenem Material gefertigt worden ist, nicht den Mangel einer systematischen Ordnung erklären. Wir müssen uns vielmehr mit der Vermutung begnügen, daß der Gesetzgeber die allenfalls assoziative Zusammenordnung von Kapiteln nicht als Mangel empfunden hat. Möglicherweise gab es verschiedene, allerdings nur marginal unterschiedliche Fassungen der Lex Ursonensis. Vermutlich ist das letzte Drittel des Gesetzes nach einer anderen Fassung eingraviert worden, als die beiden ersten Drittel. Das scheinen die zum Teil unglücklich erweiterten Strafklauseln zu belegen. Daß an mehreren Tafeln gleichzeitig gearbeitet wurde, war nicht unüblich. Diese Praxis beobachten wir auch an der Lex Irnitana. Wenden wir uns dem Gegenstand der Gesetze zu, so sind die zahlreichen Androhungen von Geldstrafen nicht zu übersehen. Die Beträge sind enorm; der geringste sind 1000 Sesterzen, der höchste 100.000, die meisten Strafen 5000 Sesterzen. Fast alle Strafen werden für den Fall angedroht, daß das Verbot oder Gebot, auf das sie folgen, verletzt wird. Diese Verbindung läßt den Schluß zu, daß der Gesetzgeber mit diesen Sanktionen seinen Vorschriften Achtung verschaffen wollte, daß die Sanktionen die Befolgung seiner Gesetze sichern sollten. Zu weit ginge wohl die Vermutung, daß dem Gesetzgeber die Androhung von Sanktionen darum angebracht schien, weil die Kolonisten aus den untersten Schichten der stadtrömischen Bevölkerung kamen. Der Absicht der Lex Ursonensis, die Durchsetzung ihrer Gebote und Verbote zu sichern, entspricht die Art, in der das Stadtrecht Verfügungen trifft. In Kap. 94 verfügt die Ursonensis die Jurisdiktion der Duumviri, Präfekten und Ädile. Sie verfügt sie nicht, indem sie bestimmt, daß der Duumvir Jurisdiktion haben soll; sie sagt nicht, wie etwa die Lex Irnitana, IIviri iurisdictio esto, sondern nimmt den Magistrat von dem allgemeinen Verbot aus, in Urso iurisdictio auszuüben. Damit beschränkt sie die iurisdictio strikt auf die genannten Amtsträger; sie schließt auf diese Weise aus, daß andern Orts noch weiteren Personen iurisdictio erteilt wird. Die Zuweisung der Jurisdiktion stellt außer Zweifel, was allerdings ohnehin für sicher gelten durfte, daß die Duumvirn Zivilgerichtsbarkeit hatten. Ob diese Zuständigkeit, wie in den flavischen Munizipalverfassungen, auf einen bestimmten Streitwert und auf bestimmte Materien beschränkt war, steht dahin. Immerhin hatten die Duumvirn die Kompetenz, die Personalexekution anzuordnen; und diese Befugnis, die die Magistrate der flavischen Munizipien nicht hatten, spricht für eine weitreichende Zuständigkeit in Zivilsachen. Zur Zivilgerichtsbarkeit gehörte trotz aller hoheitlichen Reglementierung auch der Rekuperatorenprozeß. Die Beschränkungen und Eingriffe, die das Gesetz in Kap. 95 gestattet oder selbst vorsieht, sollten das Verfahren vor allem straffen. Re-

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Rechtspflege in Urso

kuperatoren verfügte die Ursonensis für die Klagen auf Zahlung verfallener Strafgelder. Jedermann konnte diese Klagen anstellen, zu zahlen waren die Strafgelder aber an die Gemeinde. Dieses öffentliche Interesse erklärt sowohl die Popularklage wie auch die Anordnung des Rekuperatorenverfahrens. Die Regelung der Personalexekution in Kap. 61 schließlich ist von besonderem Interesse. Sie dokumentiert offenbar den Rechtszustand vor der Einführung der actio iudicati, die den vindex verdrängte, und belegt zugleich die nach 400 Jahren noch ungebrochene Fortwirkung der XII Tafeln.

Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens* § 1. Zur Einführung I. 1. Augustus hat bekanntlich die iberische Halbinsel neu aufgeteilt1. Nach ihrer vollständigen und endgültigen Unterwerfung hat er drei Provinzen eingerichtet: Hispania citerior oder Tarraconensis, Lusitania und Hispania ulterior oder Baetica2. Die Baetica, der heute etwa Andalusien entspricht, war die südlichste und kleinste3. Benannt war sie nach dem Fluß Baetis4. Sie war die an Städten bei weitem reichste der drei neuen Provinzen5. Nach Plinius, der allerdings nach älteren, augusteischen und voraugusteischen Quellen zitiert6, betrug die Gesamtzahl ihrer Städte 175. Davon waren 129 peregrine Städte. Von den 46 privilegierten Städten waren 9 coloniae und 10 municipia civium Romanorum, mithin 19 Städte, deren Bürger Römer waren; die übrigen 27 privilegierten Städte waren municipia iuris Latini, Gemeinden latinischen Rechts7. * Mit dem Namen des Verfassers oder abgekürzt werden zitiert: G. Bruns, Die Erztafeln von Osuna, in: ZRG 12 (1876); ders., Die neuen Tafeln von Osuna, in: ZRG 13 (1978); A. Caballos Rufino, El nuevo bronce de Osuna y la política colonizadora romana (2006); J. Gonzáles, The Lex Irnitana: a new Flavian municipal law, in: JRS 76 (1986); M. Kaser / K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht2 (1996); M. H. Crawford, Roman Statutes I, II (1996); F. L. V. Keller, Der römische Civilprozeß und die Actionen, 6. Ausgabe bearbeitet von A.Wach (1883); E. Kornemann, Coloniae in RE 4 (1900); ders., Municipium in RE 16 (1933); F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (1993); W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreich (1900, Nachdr. 1967); J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung2 (1884, Nachdr. 1957); Mommsen, Lex municipii Tarentini; ders., Lex coloniae Iuliae Genetivae urbanorum sive Ursonensis; ders., Die Stadtrechte der latinischen Gemeinden Salpensa und Malaca: alle in Ges. Schr. I (1904, Nachdr. 1965); Th. Spitzl, Lex Municipii Malacitani (1984). 1 Vgl. nur Marquardt cit. I 251 ff. 2 Erst nach der Unterwerfung der Cantabrer, Asturer und Vaccäer 26 und 25 v. Chr. war Spanien vollständig und nach der Niederwerfung ihrer letzten Erhebung 19 v. Chr. endgültig unter der Herrschaft der Römer. 3 Zu ihrer Ausdehnung: Plin. n. h. 3. 17. 4 Plin. n. h. 3. 7 und 9. 5 Vgl. auch M. Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Reich (o. J., doch 1930) 175 ff. 6 W. Kroll, Plinius d. Ä. in RE 21 (1951) 304 f. 7 Plin. n. h. 3. 7: von den 129 peregrinen Städten waren 120 tributpflichtig, 6 civitates liberae und 3 foederatae.

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2. Eine der Bürgerkolonien war Urso. Urso, mit dem Titel Colonia Iulia Genetiva, lag etwa 30 Kilometer östlich von Hispalis, dem heutigen Sevilla, an dem Hauptverkehrsweg, der die Hafenstadt Malaca mit dem Innern des Landes verband. Die Kolonie war auf Geheiß des Diktators Caesar gegründet8 und die Gründung nach Senats- und Volksbeschlüssen durch eine lex Antonia, ein von Marcus Antonius erlassenes Gesetz9, vollzogen worden10. Sie geschah im Jahre 44 kurz vor oder nach der Ermordung des Diktators. In das Jahr 44 ist denn auch das Stadtrecht der Kolonie11 zu datieren12, dem unlängst der Fund eines weiteren Fragments der Bronzetafeln von Urso13 neue Aufmerksamkeit verschafft hat. 3. Mit ihren etwa 140 Kapiteln14 waren die umfangreichen Statuten der Bürgerkolonie vermutlich auf 10 Tafeln eingraviert15. Der erste Fund, über dessen Umstände nichts bekannt ist, kam in den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in zwei Schüben in den Handel16. Er bestand aus 5 großen Bruchstücken. Zwei Bruchstücke ergänzen sich zur Tafel VIII, während die 3 übrigen Bruchstücke Fragmente der Tafeln VI, VII und X sind. Die neue Bronze ist das Bruchstück einer weiteren Tafel: allem Anschein nach der Tafel II17.

8 Den langwierigen Ablauf einer Koloniegründung beschreibt Kornemann, Coloniae cit. 568 ff. – Caesar soll 80.000 römische Bürger in überseeische coloniae verbracht haben (Sueton Caes. 42), vornehmlich ex libertino genere (Strabon 8. 6. 23), was bedeutet: aus der sozial bedürftigen hauptstädtischen Bevölkerung. Vgl. etwa Mommsen, Urs. cit. 206 ff., 222; Kornemann, Coloniae cit. 572; R. Grosse, Urso in RE 9 A (1961) 1064 ff.; M. Gelzer, Caesar6 (1960) 274 ff. Anderer Ansicht jetzt Caballos cit. 411 ff. 9 Eine lex data mithin, was Kap. 132 der Ursonensis zu bestätigen scheint: Ne quis in colonia Genetiva post hanc legem d a t a m petitor kandidatus; vgl. Mommsen, Urs. cit. 207 f.; Bruns, Erztafeln cit. 99 f.; Crawford, Statutes cit. I 5 f. Anders G. Tibiletti, Sulle leges romane, in: Studi in onore di Pietro De Francisci (1956) IV 610 mit A. 4; M. W. Frederiksen, The Republican Municipal Laws, in: JRS 55 (1965) 190; Caballos cit. 334 f. 10 Lex Ursonensis Kap. 104: … qui iussu C. Caesaris dictatoris imperatoris et lege Antonia senatusque consulto plebique scitis ager datus atsignatus erit. Kap. 106: Quicumque colonus coloniae Genetivae erit, quae iussu C. Caesaris dictatoris deducta est. Außerdem Kap. 125: … quive tum magistratus imperium potestatemve colonorum suffragio geret iussuque C. Caesaris dictatoris consulis prove consule habebit; Kap.66: Quos pontifices … C. Caesar, quive iussu eius coloniam deduxerit, fecerit. Kornemann, Coloniae cit. 569. 11 Bruns, Fontes Nr. 28 S. 122 – 141; Riccobono, FIRA I 177 – 198; Crawford, Statutes cit. I 400 – 417 mit Lit. 393 f. 12 Mommsen, Urs. cit. 208, 246; L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 397: „Anfang 44 bis zu den Iden des März“, doch sei das Stadtrecht erst von Marcus Antonius publiziert worden; ebenso schon Kornemann, Municipium cit. 613. 13 Caballos cit. 35 ff. 14 Die 3. Kolumne der Tafel X endet mit den ersten 9 Zeilen von Kapitel 134. Nach Caballos 172 hatte die Lex Ursonensis wenigsten 146 oder 147 Kapitel. 15 Bruns, Fontes 122: „Lex .… non minus octo inscripta fuit“; P. Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des Römischen Rechts2 (1912) 81: „mindestens neun“; Caballos cit. 172 vermutet 11 Tafeln. 16 Vgl. Bruns (1876) cit. 82 ff. und (1878) 283 ff. Die Bronzen sind abgebildet bei J. Gonzáles Fernández, Bronces juridicos romanos de Andalucia (o. J.) Figura I – V. 17 Caballos cit. 171 f.

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Die Tafel VIII ist in 5 Kolumnen beschrieben. Darum ist die Vermutung begründet, daß die Gravur auch der anderen Tafeln dieser Ordnung folgte18. Auf den Fragmenten der Tafeln VI, VII und X sind jeweils 3 Kolumnen erhalten: von Tafel VI die Kolumnen 3, 4 und 5 (C, D, E); von Tafel VII und X die Kolumnen 1, 2 und 3 (A, B, C)19. Auf Tafel II sind etwa drei Viertel des Textes der ersten (A) und die erste Hälfte der Zeilen der zweiten Kolumne (B) zu lesen. Die 140 Kapitel des Stadtrechts waren durchgezählt, die Zählung aber offenbar nachgetragen. Mit den 3 Kolumnen (C, D, E) der Tafel VI sind erhalten: von Kapitel 61 die 10 letzten Zeilen, Kapitel 62 bis 68 vollständig und von Kapitel 69 die ersten 13 Zeilen; mit den 3 Kolumnen (A, B, C) der Tafel VII von Kapitel 69 die letzten 5 Zeilen, Kapitel 70 bis 81 vollständig und Kapitel 82 so gut wie vollständig; mit den 5 Kolumnen (A, B, C, D, E) der Tafel VIII Kapitel 91 fast vollständig, Kapitel 92 bis 105 vollständig und von Kapitel 106 die 2 ersten Zeilen; mit den 3 Kolumnen (A, B, C) der Tafel X von Kapitel 123 die letzten 3 Zeilen, Kapitel 124 bis 133 vollständig und von Kapitel 134 die ersten 9 Zeilen. Von Tafel II schließlich sind die Kapitel 13, 14 und 15 vollständig oder nahezu vollständig erhalten, die Kapitel 16 bis 19 dagegen äußerst fragmentarisch.

Nach dieser Bilanz besitzen wir, das neue Fragment eingerechnet, gut ein Drittel des Stadtrechts von Urso, von seinen etwa 140 Kapiteln nämlich 51 Kapitel vollständig20 oder nahezu vollständig21, von 2 Kapiteln22 jeweils drei immerhin ergiebige Zeilen, von weiteren 6 Kapiteln kaum brauchbare Textteile23. 4. Die Gravur ist indessen erheblich jünger als das Stadtrecht selbst; sie stammt aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.24 Wie die Lex Irnitana bezeugt25, sah das flavische Stadtrecht vor, daß die peregrinen Städte Spaniens alsbald nach ihrer Einbürgerung ihre neue Verfassung in Erz schlugen und an einem viel begangenen Ort aufstellten26. Es liegt nahe, daß auch die schon privilegierten Kolonien und Munizipien, wie eben Urso, dieser Forderung unterworfen wurden. 18 Caballos cit. 171 ff. nimmt an, daß die Tafeln I und XI in 2, die Tafeln V und VII in 3 und die Tafeln II, III, IV, VIII, IX und X in 5 Kolumnen beschrieben waren. 19 Die Gravur der Tafel X ist in kleinerer und engerer Schrift; im unteren Drittel der 2. Kolumne die Kap. 129 und 130 sowie im oberen Viertel der 3. Kolumne Kap. 131 an Stelle einer ausgehämmerten in noch kleinerer und gedrängterer Schrift; vgl. Bruns, Erztafeln cit. 84; Kornemann, Municipium cit. 613. Offenbar mußte der Graveur die Schrift verkleinern, um auf der zehnten und letzten Tafel die übrigen Kapitel des Gesetzes noch unterzubringen, und zu der Rasur war er genötigt, weil er eines der drei Kapitel (die alle mit derselben Klausel enden) übersehen hatte; vgl. Crawford, Statutes cit. I 395. 20 Die Kap. 13 und 14, 62 – 81, 92 – 105, 124 – 133. 21 Die Kap. 15, 61, 82, 91, 134. 22 Die Kap. 106 und 123. 23 Die Kap. 16 – 19. 24 Vgl. Mommsen, Urs. cit. 208 f.; Krüger (cit. A. 15) 81 A. 32; Kornemann, Municipium cit. 613; Crawford, Statutes cit. I 395. Nach Caballos cit. 402 ff. ist die Gravur erfolgt zwischen 20 oder 17 v. Chr. und 24 n. Chr. 25 Irn Kap. 95. Vgl. J. G. Wolf, The Romanization of Spain: The Contribution of City Laws in the Light of the Lex Irnitana in A. Burrows and Lord Rodger of Earlsferry (Ed.), Mapping the Law. Essays in Memory of Peter Birks (2006) 444 ff.

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II. 1. Irni war eine Nachbarstadt von Urso, gut 20 km südlich gelegen, an der Straße nach Arunda, dem heutigen Ronda27. Es konnte sich nicht mit Urso messen, war aber gewiß nicht unbedeutend, auch wenn die Geschichte sich seiner nicht erinnert28. Schon die Beförderung zum Municipium Flavium Irnitanum steht für Rang und Ansehen. 2. Die Promotion nicht privilegierter Städte zu Munizipien wird in Spanien von Caesar eingeleitet und von Augustus energisch fortgeführt29, von seinen nächsten Nachfolgern dagegen fast aufgegeben bis Vespasian, vermutlich 73 oder 74, ‚ganz Spanien‘ die Latinität, das ius Latinum, verlieh30: universae Hispaniae, Vespasianus imperator Augustus iactatum procellis rei publicae Latium tribuit.31 Universae Hispaniae, ‚ganz Spanien‘, ist zu verstehen: allen noch nicht privilegierten, mithin allen noch peregrinen Gemeinden Spaniens32; und ganz Spanien ‚erteilt‘ wurde das latinische Bürgerrecht durch die Promotion der peregrinen Städte zu Munizipien33. Über die Prozedur sind wir nicht weiter unterrichtet. Die Durchführung des kaiserlichen Edikts zog sich jedoch lange hin. Salpensa, nahe Hispalis gelegen, erhielt Anfang der 80er Jahre sein Stadtrecht; wenig später die Hafenstadt Malaca, das heutige Malaga34; und erst in den frühen 90er Jahren Irni35, die Stadt, von der wir vor 25 Jahren noch nicht wußten, daß es sie überhaupt gab. 3. Seine Statuten, die Lex Irnitana36, waren auf 10 (etwa 90 cm breiten und 57 cm hohen) Bronzetafeln eingraviert. Von diesen 10 Tafeln spürten im Früh26 Was bekanntlich schon von den XII Tafeln berichtet wird: Liv. 3. 57. 10. Vgl. Plin. n. h. 34. 21. 99 und das SC de Bacchanalibus von 186 v. Chr., Z. 26: Bruns, Fontes Nr. 36 S. 164 f. 27 Vgl. J. G. Wolf, La lex Irnitana e le Tavole di Veleia e Ateste, in: L. Capogrossi Colognesi, E. Gabba (ed.), Gli Statuti Municipali (2006) 207 A. 14. 28 Vgl. J. G. Wolf, Romanization (cit. A. 25) 446. 29 Bevorzugt in der Baetica: Kornemann, Municipium cit. 594 ff.; F. Vittinghoff, Römische Kolonisation und Bürgerrechtspolitik (1952) 72 ff., 104 ff. Vgl. außerdem B. Galsterer-Kröll, Zu den spanischen Städtelisten des Plinius in: C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, Lateinisch-Deutsch, Bücher III / IV, hg. u. übersetzt von G. Winkler und R. König (1988) 457 ff. 30 Zur Verbreitung der Munizipien in den Provinzen (‚Munizipalisierung‘): Kornemann, Municipium cit. 590 ff. 31 Plin. n. h. 3. 30. Vgl. Kornemann, Municipium cit. 599. 32 Gai 1. 95: … quod ius quibusdam peregrinis civitatibus datum est vel a populo Romano vel a senatu vel a Caesare. Vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht3 (1887, Nachdruck 1952) II 888 ff. 33 Vgl. zu diesen Fragen H. Galsterer, Untersuchungen zum römischen Städtewesen auf der iberischen Halbinsel (1971) 37 ff. 34 Bruns, Fontes Nr. 30 S. 142 und Nr. 30 S. 147; FIRA I 202 und 208. 35 Auf der Bronze ist dem Gesetz hinzugefügt ein Brief Domitians vom 10. April 91, der am 11. Oktober 91 vermutlich in Rom in der Curia verlesen worden ist. 36 F. Fernández Gómez y M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico (1990) 71 ff.; Gonzáles cit.153 – 181; Lamberti cit. 267 ff.

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jahr 1981 Clandestini mit einem Metalldetektor 6 Tafeln auf und verkauften sie sofort in zwei Partien. Die Geschichte wurde ruchbar und binnen kurzem konnte der Verbleib der Tafeln ausfindig gemacht werden. Sie befinden sich heute im Archäologischen Museum von Sevilla. 4. Die 6 Tafeln des Fundes sind die nummerierten Tafeln III und V sowie VII, VIII, IX und X der Lex Irnitana. Schon seit 1861 besitzen wir große Fragmente auch der Stadtrechte von Salpensa und Malaca37. Der Text der Tafel III der Irnitana deckt Wort für Wort den Text des Fragments der Salpensana, und der Text der Tafel VII sowie der ersten Zeilen der Tafel VIII deckt einen großen Teil des erhaltenen Textes der Malacitana. Für die Stadtrechte von Salpensa, Malaca und Irni steht darum außer Zweifel, daß sie einer gemeinsamen Vorlage folgten. Mit gutem Grund dürfen wir indessen annehmen, daß nicht nur sie, sondern die Statuten aller Städte Spaniens, die in der Folge des Latinum-Dekrets Vespasians zu Munizipien promoviert worden sind, dieser Vorlage folgten38. 5. Die 6 erhaltenen Tafeln der Irnitana sind in jeweils 3 Kolumnen (von durchschnittlich 53 Zeilen) beschrieben. Dieser Befund erlaubt den sicheren Schluß, daß auch die Gravur der übrigen 4 Tafeln nach diesem Schema eingerichtet war. Die Irnitana hatte 97 Kapitel. Von ihnen sind auf den 6 Bronzen 58 Kapitel überliefert: auf Tafel III Kapitel 19 bis 31; Tafel V Kapitel 39 bis 50; Tafel VII Kapitel 59 bis 67; Tafel VIII Kapitel 68 bis 78; Tafel IX Kapitel 79 bis 87 und Tafel X Kapitel 88 bis 97.

Wir besitzen nicht die vollständige Lex Irnitana. Nehmen wir aber die 8 Kapitel der Lex Malacitana hinzu, die auf den Bronzen von Irni nicht überliefert sind, so haben wir mit 66 Kapiteln zwei Drittel des ursprünglichen Textes der Irnitana und das heißt auch: des Stadtrechts der flavischen Munizipien Spaniens.

III. 1. Das flavische Stadtrecht Spaniens ist ein anschauliches Zeugnis der zentralistischen Reichspolitik. Am Ende des 1. Jhs. n. Chr. müssen wir in den spanischen Provinzen und ganz sicher in der Baetica mit einer Vielzahl von flavischen Munizipien ein und derselben Ordnung rechnen: mit einem deutlichen Überhang dieser Munizipien, die in der Folge des Latinum-Dekrets Vespasians gegründet wurden, alle mit demselben Stadtrecht wie Salpensa, Malaca, Irni39. Neben ihnen bestanden die alten und älteren Kolonien und Munizipien, die republikanischen Gründungen und die Gründungen Caesars und Augustus’ unverändert fort. Nachrichten, daß ihre urBruns, Fontes Nr. 30 S. 142 ff. und Nr. 30 S. 147 ff.; FIRA I 202 ff. und 208 ff. Vgl. J. G. Wolf, Romanization (cit. A. 25) 444 ff. 39 Die Liste der privilegierten Gemeinden in der Baetica bei Galsterer (cit. A. 33) 65 ff. weist aufgrund ihres Titels 16 municipia Flavia aus, was indessen nicht ausschließt, daß von den municipia unbestimmten Ursprungs weitere flavische Gründungen waren. 37 38

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sprünglichen Verfassungen ersetzt oder auch nur geändert worden wären, gibt es nicht. Einige sind zwar im Laufe ihrer Geschichte im Rang gehoben worden40; Corduba etwa, im 2. Jh. v. Chr. als latinische Kolonie gegründet, wurde unter Augustus Bürgerkolonie41. Ob indessen mit der Veränderung ihres Status eine Revision auch ihrer Verfassung verbunden war, steht dahin. Im übrigen haben wir von den Stadtrechten der vorflavischen Kolonien und Munizipien allenfalls grobe Vorstellungen42 – mit nur einer Ausnahme. Und diese Ausnahme ist Urso. 2. Ein Vergleich der Stadtrechte von Urso und Irni wird präsent halten, daß die spätrepublikanischen Statuten erheblich umfangreicher waren als die flavischen und daß von jenen mit 53 Kapiteln nur ein Drittel erhalten ist, von diesen dagegen mit 66 Kapiteln zwei Drittel ihres ursprünglichen Textes überliefert sind. Außerdem, daß Urso immer eine Bürgerkolonie war, Irni dagegen, wie alle flavischen Gründungen in der Nachfolge des Latium-Dekrets Vespasians, ein Municipium latinischen Rechts. Andererseits werden zwar die Lebensumstände in Irni und seinen Schwesterstädten kaum andere gewesen sein als 100 Jahre vorher in Urso; wohl aber könnte inzwischen ihre Regelungsbedürftigkeit oder könnten auch die Regelungsaufgaben eines Stadtrechts unterschiedlich eingeschätzt worden sein. Wir vergleichen zunächst die Organisation der Materie in den Stadtrechten von Urso und, anhand der Irnitana, den flavischen Munizipien (§ 2). Alsdann erweitert sich der Blick auf Caesars Ackergesetz von 59 v. Chr. und die wenig älteren Munizipalstatuten von Tarentum. Bei beiden hat die Lex Ursonensis Anleihen gemacht und von den tarentinischen einige an das flavische Stadtrecht weitergegeben (§ 3). Die imitatio exempli in den beiden spanischen Stadtrechten beschränkt sich aber nicht auf wortgleiche Übernahmen. Wir beobachten sie auch in Normen, die lediglich den gleichen Gegenstand regeln (§ 4).

§ 2. Aufbau und Ordnung der beiden Stadtrechte I. Für die Einschätzung der legislatorischen Leistung ist in der Abfolge der einzelnen Vorschriften ihre sachliche Kohärenz ein erstes Kriterium. 1. Unverkennbar folgt die Lex Irnitana einem klaren Konzept. Gegenstand ihrer Vorschriften und Regeln sind der Reihe nach43: die Komitien44, die Magistra40 Galsterer (cit. A. 33) 7 ff. Auch Asido, das, noch 2 n. Chr. Munizipium, ebenfalls unter Augustus Bürgerkolonie wurde. 41 Galsterer (cit. A. 33) 9 f. 42 Zur Quellenlage Galsterer (cit. A. 33) 1 ff. 43 Wahrscheinlich nach einem ersten Abschnitt von Definitionen elementarer oder herausgehobener Einrichtungen (wie Stadtbürgerschaft, Festkalender, Priesterschaften), vielleicht auch Regeln von allgemeiner Bedeutung; vgl. Gonzáles cit. 148, 200.

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tur45, die Dekurionen46, die Modalitäten der Wahlen47, allgemeine Verwaltung48 und Finanzwesen49, Gerichtsbarkeit und Zivilprozeß50, und abschließend drei Kapitel über die Verpflichtung auch der incolae, das Stadtrecht zu befolgen; über dessen Gravur und Ausstellung; sowie über Sanktionen bei Verstößen gegen seine Gebote und Verbote51. 2. Innerhalb der einzelnen Bereiche bestimmt der Sachzusammenhang die Anordnung der Vorschriften und Regeln. Ein anschauliches Beispiel sind die 10 Kapitel über die Zivilgerichtsbarkeit. Es sind die Kap. 84 bis 93, die auf den Tafeln 9 und 10 mit 217 Zeilen 4 (von 30) Kolumnen füllen52: Zuweisung und Definition der Gerichtsbarkeit eröffnen die Sektion (Kap. 84)53. Die Verpflichtung des Magistrats, das Jurisdiktionsedikt des Statthalters, soweit es für ihn in Betracht kommt, öffentlich anzuschlagen und nach dessen Maßgabe zu judizieren, schließt sich folgerecht an (Kap. 85). In einem zweiten Block folgen die Regeln über Erstellung und öffentlichen Anschlag der Richterliste sowie deren Verbindlichkeit für den Magistrat (Kap. 86); über die Auswahl eines Richters aus dieser Liste, über seine Ernennung oder die eines listenfremden Richters sowie die Verpflichtung des ernannten Richters, seines Amtes zu walten und ein Urteil zu sprechen (Kap. 87); ferner über die Auswahl und Einsetzung von Rekuperatoren und ihre Urteilspflicht (Kap. 88); sowie schließlich über die Zuständigkeit des Einzelrichters und des Rekuperatorengerichts, die sich nach der stadtrömischen Praxis richten soll (Kap. 89)54. Die Rechtssätze der noch folgenden drei Kapitel gehen über das Verfahren n a c h Einsetzung des Urteilsgerichts. Während Kap. 90 ausschließlich de intertium dando handelt, von der Anberaumung eines Termins für das Urteilsgericht durch den Magistrat55, wird in Kap. 91 für eine Reihe von Prozeßhandlungen und die Folgen ihrer Versäumnis auf das stadtrömische Prozeßrecht verwiesen56. In Kap. 92 werden die Tage bestimmt, an denen das Urteilsgericht nicht 44 Dieser Abschnitt ist nicht erhalten. Er darf aber vermutet werden, weil die comitia in vielen Belangen eine Rolle spielen; vgl. insb. die Kap. 51 – 60. 45 Auf Taf. 3 nur noch die Kap. 19 – 29. 46 Auf Taf. 3 die Kap. 30 und 31 und auf Taf. 5 die Kap. 39 – 49. Taf. 4 ist nicht erhalten. 47 Auf Taf. 5 das Kap. 50, auf dem Fragment der Lex Malacitana die Kap. 51 – 60 und auf Taf. 7 (wieder der Irnitana) die Kap. 59 und 60. 48 Auf Taf. 7 die Kap. 61 und 62 sowie auf Taf. 9 die Kap. 81 – 83. 49 Auf Taf. 7 die Kap. 63 – 67, auf Taf. 8 die Kap. 68 – 78 und auf Taf. 9 die Kap. 79 und 80. 50 Auf Taf. 9 die Kap. 84 – 87 und auf Taf. 10 die Kap. 88 – 93. 51 Auf Taf. 10 die Kap. 94 – 96. Kap. 97 ist ein Nachtrag zu Kap. 23. 52 A. Rodger, The Lex Irnitana and Procedure in the Civil Courts, in: JRS 81 (1991) 76 – 78; W. Simshäuser, Stadtrömisches Verfahrensrecht im Spiegel der lex Irnitana in SZ 109 (1992) 170, auch schon SZ 107 (1990) 555 f.; J. G. Wolf, Diem diffindere: Die Vertagung im Urteilstermin nach der Lex Irnitana in: P. McKechnie (ed.), Thinking like a Lawyer, Essays for John Crook (2002) 17 f. 53 J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana in SDHI 66 (2000) 29 – 61 m. Lit. 54 J. G. Wolf, Iurisdictio (cit. A. 53) 35 ff. m. Lit.; G. Zanon, SDHI 58 (1992) 323 A. 60. 55 J. G. Wolf, Intertium, und kein Ende? in BIDR 100 (2003) 1 ff. m. Lit. 56 J. G. Wolf, Diem diffindere (cit. A. 52) 19 ff. und, mit einer wesentlichen Korrektur zur Eidesleistung, Iudex iuratus, in: J. L. Linares u. a. (ed.), Liber amicorum Juan Miquel (2005) 1087 – 1111.

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oder nur mit Einverständnis aller Beteiligten verhandeln darf. Nach Kap. 93 ist das Privatrecht der Stadtbürger das ius civile, wo das Stadtrecht anderes nicht ausdrücklich vorsieht. Weil inter se iure civili agere rechtsgeschäftliches Handeln einschließt, könnte allerdings zweifelhaft sein, ob die Vorschrift noch zu diesem Abschnitt über die Zivilgerichtsbarkeit gehört57.

Die Abfolge der Vorschriften ist ersichtlich durchdacht und ihre Notwendigkeit einsichtig. Der Gegenstand der Kapitel, die nicht – wie Kap. 89 und 91 – auf den stadtrömischen Prozeß verweisen, konnte nicht durch Verweisung geregelt werden. Das liegt für die Kap. 84, 85 und 86 auf der Hand, gilt aber ebenso für die der Kap. 87, 88 und 92 und ist auch für die Regelung der datio intertii in Kap. 90 anzunehmen, obwohl für die denuntiatio intertii in Kap. 91 auf die Prozeßpraxis in Rom verwiesen wird. Die in ius vocatio und auch das vadimonium bleiben offenbar darum unerwähnt, weil sie im Edikt geregelt waren.

II. In der Lex Ursonensis ist ein vergleichbares Konzept nicht zu erkennen. Zwar sind immer wieder Vorschriften und Regeln offenbar assoziativ unter einem allgemeinen, weit greifenden Gesichtspunkt zusammengestellt. So etwa stehen die Kap. 64 bis 72 in direkter oder indirekter Beziehung zu den sacra: die Beschließung der Festtage und öffentlichen sacra durch die Dekurionen auf Vorschlag der Duumvirn (Kap. 64); die ausschließliche Verwendung der Strafgelder für die sacra der Stadtgemeinde (Kap. 65); die Privilegien der Pontifices und Auguren und ihrer Kinder (Kap. 66); die Ergänzung ihrer Kollegien durch Zuwahl oder Kooptation (Kap. 67); ihre Wahl durch die Komitien (Kap. 68); die Zahlungen auf Beschluß der Dekurionen an Lieferanten von Utensilien, die ad sacra und ad res divinas gebraucht werden (Kap. 69); die Verpflichtung der Duumvirn und Ädile, Spiele zu Ehren von Jupiter, Juno und Minerva zu veranstalten (Kap. 70, 71); schließlich das Verbot, überschüssige Gelder, die in aedis sacras gespendet worden sind, für andere Zwecke zu verwenden (Kap. 72). Auf diesen sacra-Komplex, um ein zweites Beispiel zu geben, folgen Ordnungs- und baupolizeiliche Vorschriften. Sie untersagen: in der Stadt zu bestatten (Kap. 73); neue Leichenbrandstätten nahe der Stadt anzulegen (Kap. 74); Gebäude abzureißen, ohne daß Bürgen den Wiederaufbau garantieren (Kap. 75); Ziegeleien in der Stadt einzurichten, deren Gebäude mehr als 300 Dachziegel haben (Kap. 76). – Und auf diese Vorschriften wiederum folgt die Duumvirn und Ädilen erteilte Erlaubnis, Straßen, Gräben und Kloaken zu bauen (Kap. 77), und darauf die Bestimmung, daß Wege und Straßen auf dem Gebiet der Kolonie öffentlich sind (Kap. 78) und alle Wasser, Flüsse, Bäche und Seen im Gemeingebrauch der Kolonisten stehen (Kap. 79).

Wie diese Beispiele zeigen, ist die Abfolge der Vorschriften und Regeln nicht eigentlich willkürlich und gedankenlos. Von einer Ordnung kann gleichwohl nicht die 57 Sie wird ihm ohne weiteres zugezählt von Gonzáles cit. 237; Lamberti cit. 369; J. G. Wolf, Iurisdictio (cit. A. 53) 29. Immerhin war damit auch gesagt, daß in Rechtsstreitigkeiten der municipes nach ius civile zu urteilen war.

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Rede sein: eine auch nur nach den Instituten des Stadtrechts gegliederte Organisation der Materien, wie wir sie in der Lex Irnitana sehen, fehlt. Seit Mommsens frühem Kommentar ist dieses Urteil nicht in Frage gestellt worden58. Für Bruns59 gar ist die Abfolge der Kapitel „völlig principlos“ und zwar „so sehr, daß man darin wohl nur ein mehr zufälliges Zusammenwerfen verschiedener schon vorher fertiger Bestimmungen sehen kann“.

§ 3. Wörtliche imitatio Eine Reihe von Vorschriften der Lex Ursonensis decken sich in der Tat mehr oder weniger wörtlich mit Vorschriften anderer Gesetze: Kap. 104 mit Kap. 54 der Lex Mamilia Roscia Peducaea Alliena Fabia und die Kap. 14, 75 und 77 mit den Kap. VIIII 3, 4 und 5 der Lex Tarentina.

I. 1. Mit der Wahl eines coloniae patronus darf nach Kap. 97 der Ursonensis die Dekurionen befassen, wer ex lege Iulia befugt ist, den Kolonisten Land anzuweisen. Callistrat berichtet in seinen libri de cognitionibus60, daß Gaius Caesar in einer lex agraria die Versetzung von Grenzsteinen mit einer Geldstrafe bedroht habe: nam in terminos singulos, quos eiecerint locove moverint, quinquaginta aureos in publico dari iubet. Die Lex Mamilia verbietet in Kap. 55 Grenzsteine, die hac lege gesetzt worden sind, zu verrücken und bestimmt: Si quis adversus ea fecerit, is in terminos singulos, quos eiecerit locove moverit sciens dolo malo, HS V milia nummum in publicum eorum, quorum intra fines is ager erit, dare damnas esto. Diese Überlieferungsdaten erlauben die Annahme, daß die lex Iulia der Ursonensis Callistrats lex agraria und die Lex Mamilia diese Lex Iulia agraria ist – das Ackergesetz, das Caesar in seinem Konsulat im Jahre 59 v. Chr. eingebracht hat61. 58 Mommsen, Urs. cit. 211 zu den Kap. 91 – 134: „Res tamen in lege perscriptae fuisse videntur certo ordine nullo“; er räumt lediglich ein: „Nihilominus apertum est idem argumentum saepe per plura capita continuari“; und zu den Kap. 61 – 82: „rerum ordinem certum nullum in lege fuisse videri“; vgl. auch seine Auflistung 211 ff. und 247. Aus der neueren Literatur s. L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 397; R. Grosse, Urso in RE IX A (1961) 1065. 59 Erztafeln (1886) cit. 86. 60 D 47.21.3 pr. 61 W. Drumann, Geschichte Roms, Dritter Theil (1837) 196 ff., 670; Mommsen, Ueber die Lex Mamilia etc. in: F. Blume u. a., Die Schriften der römischen Feldmesser (1852, Nachdruck 1967) II 221 ff. insb. zur Doppelbenennung; G. Rotondi, Leges publicae populi romani (1912, Nachdruck 1966) 387 ff. – E. Fabricius, Über die Lex Mamilia etc. in: SB Heidelberger Akad., Philos.-hist. Kl. Jg. 1924 / 25 (1924) 1ss. lehnt die Identifizierung ab und datiert das Gesetz in das Jahr 109 v. Chr., während A. Rudorff, Gromatische Institutionen, in: Blume u. a.

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2. a) Von der Lex Mamilia sind nur die Kap. 53, 54 und 55 erhalten; sie sind in den Schriften der römischen Feldmesser überliefert62. Kap. 53 geht davon aus, daß der ager einer Kolonie, die nach den Vorschriften der Lex Mamilia gegründet worden ist – oder auch eines Municipiums, einer Präfektur, eines Forums oder Marktfleckens –, im Zuge der Gründung vermessen wurde und die Grenzen der Ackerstücke durch Grenzsteine markiert worden sind63; und bestimmt, daß ein fehlender Grenzstein vom Eigentümer des begrenzten Ackerstücks ersetzt werden und der Magistrat dafür sorgen soll, daß es geschieht. Kap. 55 verpflichtet zunächst den, der eine Kolonie – oder ein Municipium, eine Präfektur, ein Forum oder einen Marktflecken – gründet, auch dafür zu sorgen, daß das Territorium vermessen, die Grenzen festgelegt und Grenzsteine gesetzt werden; sodann verbietet es, wie schon gesagt, Grenzsteine zu versetzen und bedroht Verstöße gegen dieses Verbot mit einer Geldstrafe; und es schließt endlich mit ausgedehnten prozeßrechtlichen Bestimmungen. b) In diesem Kontext verbietet Kap. 54 der Lex Mamilia, nach den Vorschriften des Gesetzes angelegte Dekumani und Grenzwege zu versperren oder umzupflügen sowie hac lege ausgehobene Grenzgräben zu verschließen, und bedroht jeden Verstoß gegen dieses Verbot mit einer Geldstrafe von 4000 Sesterzen, die an die betroffenen Kolonisten oder Munizipalbürger zu zahlen sind. Es ist diese Vorschrift, der Kap. 104 der Lex Ursonensis weithin wörtlich entspricht. Lex Ursonensis Kap. 104

Lex Mamilia Kap. 54

Qui limites decumanique

Qui limites decumanique hac lege

intra fines coloniae Genetivae deducti factique erunt

deducti erunt

quaecumque fossae limitales in eo agro erunt

quaecumque fossae limitales in eo agro erunt

qui iussu C. Caesaris dictatoris imperatoris

qui ager hac lege

et lege Antonia senatusque consultis plebique scitis ager datus atsignatus erit

datus adsignatus erit

ne quis limites decumanosque opsaeptos

ne quis limites eos decumanosque opsaeptos

neve quit in eis immolitum

neve quid in eis molitum

neve quit ibi opsaeptum habeto

neve quid ibi opsaeptum habeto

neve eos arato

neve eos arato

244 f. Callistrats Lex agraria zwar mit der Lex Mamilia etc. identifiziert, dieses Gesetz aber weder für Caesars Lex Iulia agraria noch die republikanische Lex Mamilia hält, sondern Gaius Caesar Caligula zuschreibt. 62 F. Blume / K. Lachmann / A. Rudorff, Die Schriften der römischen Feldmesser I (1848, Nachdruck 1967) 263 – 266; Bruns, Fontes Nr. 15 S. 95 f.; Riccobono, FIRA I 138 – 140; Crawford, Statutes cit. II 763 f. Zum Folgenden vgl. Fabricius (cit. A. 61) 6 ff. 63 Vgl. etwa Kornemann, Coloniae cit. 573 f.

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neve eis fossas opturato

neve eis fossas opturato

neve opsaepito

neve opsaepito

quo minus suo itinere aqua ire fluere possit.

quo minus suo itinere aqua ire fluere possit.

Si quis atversus ea quit fecerit

Si quis adversus ea quid fecerit

is in res singulas, quotienscumque fecerit

is in res singulas, quotienscumque fecerit

HS M

HS IIII

colonis coloniae Genetivae Iuliae

colonis minicipibusve eis, in quorum agrum id factum erit,

dare damnas esto

dare damnas esto

eiusque pecuniae cui volet

eiusque pecuniae qui volet

petitio persecutioque esto.

petitio hac lege esto.

3. a) Der Vergleich mit Kap. 104 der Ursonensis hebt den generellen Zuschnitt von Kap. 54 der Mamilia deutlich heraus. Kap. 54 galt nicht für eine bestimmte Kolonie oder ein bestimmtes Municipium: die Vorschrift sichert nicht Erhalt und Tauglichkeit der Grenzwege und Grenzgräben einer bestimmten Stadt oder Ortschaft; sie sichert die Grenzwege und Grenzgräben, die hac lege, nach den Vorschriften der Lex Mamilia, angelegt worden sind. Kap. 54 galt danach für alle Kolonien, Munizipien und Wohnflecken im Geltungsbereich der Lex Mamilia. In der Lex Ursonensis haben wir dieselbe Norm, hier aber eingeschränkt auf die Geltung in Urso: In der Lex Ursonensis schützt sie Erhalt und Tauglichkeit der Grenzwege und Grenzgräben im Geltungsbereichs des Stadtrechts: intra fines coloniae Genetivae. b) Kap. 104 setzt voraus, daß Grenzwege und Grenzgräben angelegt sind. Sie anzulegen, könnte die Ursonensis an anderem, nicht erhaltenem Orte bestimmt haben. Eine Vorschrift, die Kap. 55 der Lex Mamilia entspräche, ist in einem Stadtrecht allerdings kaum zu erwarten. Eher könnte ein so weitläufiges Gesetz wie die Ursonensis eine Kap. 53 der Lex Mamilia entsprechende Anweisung getroffen haben. Aber auch das ist unwahrscheinlich, weil die Vorschrift für den Fall eines Mangels der Gründungsmaßnahmen Vorsorge trifft und das Stadtrecht nicht die Gründung, sondern die Belange der gegründeten Kolonie regelt. Vielleicht galt die Lex Mamilia auch in den spanischen Provinzen, so daß die Kap. 53 und 55 auch für die Gründung der colonia Iulia Genetiva verbindlich waren. In diesem Fall hätte die Übernahme der Vorschrift von Kap. 54 in die Ursonensis wohl deren Beachtung in der neuen Kolonie sichern, vielleicht aber auch nur das erheblich geringere Strafgeld von nur 1000 Sesterzen normieren sollen. Indessen wissen wir über all das nichts. Und überdies ist nicht auszuschließen, daß Kap. 104 unabhängig von der Lex Mamilia nach einer gemeinsamen Vorlage konzipiert worden ist. Nach diesen Überlegungen müssen wir uns mit der Einsicht begnügen, daß hier der Spekulation Tor und Tür geöffnet sind. 4. Von Interesse bleibt indessen, daß Kap. 104 nicht eigens und erst für die Lex Ursonensis konzipiert worden ist. Die Ordnungsvorschrift war angebracht, wo im-

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mer Land vermessen und Grenzen durch Wege und Gräben markiert waren. Damit ist weder gesagt noch ausgeschlossen, daß die Regelung älter ist als die offenbar in großer Ausführlichkeit und sachlicher Ordnung angelegte Lex Mamilia. Außerhalb der beiden Gesetze hat sie keine Spuren hinterlassen. Auch für den nicht erhaltenen Teil der Lex Irnitana können wir die Vorschrift ausschließen: sie wäre in dem flavischen Stadtrecht fehl am Platze gewesen. Denn mit der Verleihung des flavischen Stadtrechts in der Folge des Latinum-Dekrets Vespasians war keine Kolonisation, keine Zuteilung von Land und darum weder eine Landvermessung noch die Anlage von Grenzwegen und Grenzgräben verbunden: aus Irni wurde das municipium Flavium Irnitanum, limites und decumani erhielt es darum nicht.

II. 1. Wann Tarentum den Status eines municipium erhielt und mit ihm vermutlich das römische Stadtrecht, ist nicht überliefert64. Die griechische Stadt, seit 272 v. Chr., dem Ende des pyrrhischen Krieges, unter römischer Herrschaft, schlug sich 212 v. Chr. auf die Seite Hannibals und bezahlte den Abfall mit dem Verlust großer Teile ihres Territoriums. Dort, auf ihrer alten Feldmark, wurde 123 v. Chr. die Bürgerkolonie Neptunia gegründet, die indessen schon nach wenigen Jahrzehnten mit Tarentum vereinigt wurde, vermutlich bald nachdem Tarentum in den ersten achtziger Jahren, wie die anderen Griechenstädte Italiens, das römische Bürgerrecht und eine (erste) Munizipalverfassung erhalten hatte. Es liegt nahe, daß nach der Vereinigung der colonia Neptunia mit dem municipium Tarentum65 das neue municipium, in dem Neptunia und die griechische Stadt vereint waren, mit der Lex Tarentina die überlieferte (zweite) Munizipalordnung erhielt66. 2. Wie Ursonensis und Irnitana war die Lex Tarentina in Erz geschlagen. Erhalten ist nur ein Stück der VIIII. Tafel mit der völlig integren 1. Kolumne von 44 Zeilen sowie den ersten Buchstaben oder Worten der 44 Zeilen der 2. Kolumne, die dagegen nichts ausgeben67. Das Fragment wurde 1894 vor den Toren Tarents gefunden. Der überlieferte Text ist in 6 Abschnitte untergliedert, die in einigen Ausgaben als Kapitel durchgezählt werden; vom 1. Kapitel sind nur die letzten 6 Zeilen, vom

64 Zum Folgenden vgl. Mommsen, Tar. cit. 149 ff.; H. Rudolph, Stadt und Staat im römischen Italien (1935, Neudruck 1965) 124 ff. 65 Vgl. Kornemann, Municipium cit. 587 – 590. 66 Mommsen, Tar. cit. 151: zwischen 89 und 62 v. Chr.; Bruns, Fontes Nr. 27 S. 120: aetatis Ciceronianae; Crawford, Statutes cit. I 302: „to the decade or so after the Social War“. Anders Rudolph (cit. A. 64) 122 ff.: nach 47 v. Chr. Ein Hinweis auf eine vorausgehende Munizipalverfassung in Tar Kap. 2, s. unten VII. 2. 67 Mommsen, Tar. cit. 146 / 7; Crawford, Statutes cit. I 304 – 306; Bruns, Fontes Nr. 27 S. 120 – 122; Riccobono, FIRA I 166 – 169.

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6. Kapitel nur die ersten 2 Zeilen erhalten. Den Kapiteln 3, 4 und 5 entsprechen, wie schon gesagt, die Kapitel 14, 75 und 77 der Lex Ursonensis. 3. Nahezu vollständig decken sich Kap. 77 der Ursonensis und Kap. 5 der Tarentina: Lex Ursonensis Kap. 77

Lex Tarentina Kap. 5

Si quis vias fossas cloacas

Sei quas vias fossas cloacas

IIvir aedilisve

IIIIvir IIvir aedilisve eius municipi caussa

publice facere inmittere

publice facere inmittere

commutare aedificare munire intra eos fines

commutare aedificare munire volet intra eos fineis

qui coloniae Iuliae erunt, volet

quei eius municipi erunt

quot eius sine iniuria privatorum fiet

quod eius sine iniuria fiat

it is facere liceto.

id ei facere liceto.

Auch wenn si quis im Text der Ursonensis grammatisch zulässig ist, liegt doch nahe, daß quis für quas verschrieben ist68, und ebenso kann kaum zweifelhaft sein, daß im Text der Tarentina nach sine iniuria der Genitiv privatorum ausgefallen ist69. In beiden Gesetzen normiert die Vorschrift, unter welchen Voraussetzungen die Magistrate70 nach freiem Ermessen an Wegen, Gräben und Abwasserkanälen Baumaßnahmen vornehmen dürfen: nur im öffentlichen Interesse (publice), nur auf dem Territorium der Stadt (intra eos fines / fineis qui coloniae Iuliae / quei eius municipi erunt) und nur mit Einwilligung betroffener privater Grundstückseigentümer (quot / quod eius sine iniuria privatorum / fiet / fiat). Die Zweckbestimmung eius municipi caussa sagt nicht mehr als publice, auf eine entsprechende Klausel (etwa eius coloniae causa) konnte darum in der Ursonensis leicht verzichtet werden. Im übrigen sind beide Fassungen gleichermaßen konzis. Die tarentinische könnte ohne weiteres die Vorlage der ursonensischen gewesen sein, das zentrale Gesetzgebungs- und Redaktionsbüro aber auch beide nach ein und derselben Vorlage abgefaßt haben. 4. Die Vorschrift kehrt ein drittes Mal wieder in Kap. 82 der Lex Irnitana: Lex Irnitana Kap. 82 R(ubrica). De viis itineribus fluminibus fossis cloacis. Quas vias itinera flumina fossas cloacas inmittere commutare eius municipi IIviri ambo alterve volet Vgl. auch Irn Kap. 82 unter 3. b). Mommsen, Tar. cit. 147 A. 13; Crawford, Statutes cit. I 311 sub ll. 39 – 42. 70 Zur Funktion der Ädile neben den Duumvirn vgl. insb. W. Ohnesseit, Über den Ursprung der Ädilität in den italischen Lanstädten, in: SZ 4 (1883) 206. Zum Nebeneinander von IIIIviri und IIviri s. Crawford, Statutes cit. I 302 f. m. weit. Lit.; mit anderer Erklärung u. a. Mommsen, Tar. cit. 155; Rudolph (cit. A. 64) 122, 128. 68 69

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dum ea ex decurionum conscriptorumve decreto et intra fines eius municipi et sine iniuria privatorum fiant, IIviris ambobus alterive facere ius potestasque esto. Si quaeque ita inmissa commutata erunt, ea ita esse haberi ius esto.

a) Der Text folgt ersichtlich dem der beiden republikanischen Gesetze oder deren Vorlage; Satzgefüge und Wortmaterial schließen jeden Zweifel aus. Diese Abhängigkeit läßt auch vermuten, daß nach eius municipi die Präposition causa ausgefallen ist. Denn bei aller Freiheit der Wortstellung kann eius muncipi weder den vorausgehenden Akkusativen vias itinera flumina fossas cloacas zugeordnet werden noch dem nachfolgenden Nominativ IIviri. b) Indessen ist Kap. 82 keine bloße Wiederholung der republikanischen Gesetze: in der Irnitana ist der Normgehalt der Vorschrift erheblich verändert. Zu den erheblichen Veränderungen zähle ich nicht den Nachtrag von itinera und flumina in der Liste der Objekte; er könnte durch die Terminologie des prätorischen Edikts veranlaßt sein71. Auch nicht die eher unbedachte Kürzung der Liste möglicher Maßnahmen um facere, aedificare und munire auf die spezifischen inmittere und commutare. c) Tarentina und Ursonensis ‚erlauben‘ dem Magistrat, die Bauarbeiten vorzunehmen (id / it ei / is facere liceto), die Irnitana dagegen erteilt ihm dazu ‚Recht und Rechtsmacht‘ (IIviris ambobus alterive facere ius potestasque esto). Ein sachlicher Unterschied scheint sich darin nicht auszudrücken. Wie die Ursonensis verwendet auch die Irnitana beide Klauseln72. Wem erlaubt ist, Arbeiten vorzunehmen, der ist 71 Vgl. O. Lenel, Das Edictum perpetuum3 (1927, Nachdr. 1956) §§ 238 und 240, 241 – 244 f., S. 459 ff.; auch Pomp D 43.7.1; Ulp D 43.8.2.3; und die Titel D 43.11 – 15. 72 Die Irnitana allerdings seltener als die Ursonensis. Sie ‚erlaubt‘: dem Ädil, Gemeindesklaven zu seiner Verfügung zu haben (Kap. 19 III A 16 / 17); dem Quästor dasselbe (Kap. 20 III A 30 – 32); und dem IIvir, den vom Gemeinderat beschlossenen Lohn aus der Gemeindekasse den Amtsdienern auszuzahlen, sowie den Amtsdienern, das Geld ohne Nachteil für sich anzunehmen: quod ita constitutum erit, it IIviris ex communi pecunia … erogare idque apparitoribus ita capere sine fraude sua liceto (Kap. 73 VIII B 45 – 47). Die Ursonensis verwendet die liceto-Klausel durchweg mit dem Zusatz sine fraude sua. Sie erlaubt: dem Amtsdiener, ohne Nachteil für sich den Lohn anzunehmen (Kap. 62 VI D 2 und Kap. 63 VI D 7 / 8); jedwedem, von der Gemeinde eingezogene und für die sacra bestimmte Strafgelder zu Kultzwecken ohne Nachteil für sich anzunehmen (Kap. 65 VI D 30); sowohl dem IIvir wie dem Ädil, aus öffentlichen Geldern einen Zuschuß für die von ihnen auszurichtenden Spiele ohne Nachteil für sich anzunehmen und zu verwenden (Kap. 70 VII A 9 und Kap. 71 VII A 28 / 29); dem IIvir, den decurio, augur oder pontifex, der im Stadtgebiet kein Haus hat und darum das Amt nicht wahrnehmen kann, aus den tabulae publicae ohne Nachteil für sich zu streichen (Kap. 91 VIII A 7); dem IIvir, gemäß dem Beschluß der Dekurionen die bewaffnete Mannschaft von Bürgern und Einwohnern zur Verteidigung der Grenzen der Kolonie aus der Stadt ohne Nachteil für sich herauszuführen (Kap. 103 VIII E 5); und dem Dekurio, an Stelle des von ihm erfolgreich de indignitate angeklagten Dekurio ohne Nachteil für sich zu votieren (Kap. 124 X A 8).

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auch berechtigt, sie vorzunehmen; und wem ‚Recht und Rechtsmacht‘ zugesprochen werden, dem steht es frei, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Eine Verpflichtung begründet weder die eine noch die andere Klausel. d) Die Tarentina erteilt IIIIvir, IIvir und Ädil, die Ursonensis IIvir und Ädil ‚Erlaubnis‘ – und das heißt: jedem IIIIvir, jedem IIvir und jedem Ädil73: Sei / Si … IIIIvir IIvir aedilisve … volet … id / it ei facere liceto; die Irnitana dagegen ius und potestas ‚beiden IIviri gemeinsam oder einem von beiden‘: IIviris ambobus alterive facere ius potestaque esto. Den älteren Stadtrechten ist, soweit wir sehen, die Klausel ambo alterve fremd. Die Irnitana verwendet sie noch ein zweites Mal, in Kap. 64. Während hier, in Kap. 82, das Stadtrecht den Duumvirn, ‚beiden gemeinsam oder einem von ihnen‘, ius und potestas zuspricht, die Bauarbeiten vorzunehmen, erteilt es dort, in Kap. 64, den Duumvirn, ‚beiden gemeinsam oder einem von ihnen‘, ‚Recht und Rechtsmacht‘, ex decurionum conscriptorumve decreto die der Gemeinde haftenden Sicherheiten zu verwerten, nämlich praedes, praedia und cognitores unter definierten Voraussetzungen ‚zu verkaufen‘ und die Vertragsbestimmungen festzulegen: eosque praedes eaque praedia eosque cognitores … duumviris … ambobus altrive eorum … vendere legemque eis vendendis dicere ius potestasque esto74. Als „unklar“ galt, ob dieser Beschluß der Dekurionen nur erforderlich war, wenn einer der beiden IIviri den Verkauf der Sicherheiten vornehmen sollte, oder in jedem Fall, also auch dann, wenn sie den Verkauf gemeinsam vornehmen sollten75. Richtig ist indessen, daß die Dekurionen über die Verwertung der Sicherheiten Beschluß fassen mußten; wer den ‚Verkauf‘ vornahm, war nicht ihre Sache76. Kap. 82 der Irnitana schließt inzwischen jeden Zweifel aus. Allerdings war längst zu sehen, daß die Klausel ambo Die Klausel i u s e t p o t e s t a s e s t o (habento) verwenden Ursonensis und Irnitana gleichermaßen. Die U r s o n e n s i s erteilt ‚das Recht und die Rechtsmacht‘ (ius potestasque esto): den IIviri und Ädilen, nach Zahl und Funktion bestimmtes Personal zu haben, die toga praetexta zu tragen und Fackeln sich vorantragen zu lassen (Kap. 62 VI C 12 – 19, 21 – 23); den pontifices und augures, bei Spielen und Opferfeiern die toga praetexta zu tragen und bei Spielen unter den Dekurionen Platz zu nehmen (Kap. 66 VI E 4 – 10); den IIviri, Aquädukte so über die Grundstücke in die Stadt zu führen, auch über privates Land, wie die Dekurionen beschlossen haben (Kap. 99 VIII D 3 – 8); dem Kolonisten, mit Erlaubnis der Dekurionen überschüssiges Wasser zu seinem privaten Gebrauch abzuleiten (Kap. 100 VIII D 13 – 16); dem IIvir, der die bewaffnete Mannschaft anführt, das zu tun, was einem tribunus militum zu tun erlaubt ist (Kap. 103 VIII E 6 – 9: isque IIvir … idem ius eademque animadversio esto, uti tribuno militum … est, itque ei sine fraude sua facere liceto ius potestasque esto … ). In den Kap. 125, 126 und 128 – 132 (jeweils in fine) ist vorgesehen, daß jeder Kolonist die in diesen Vorschriften verhängte Buße einklagen kann. Diese Klauseln lauten: … eiusque pecuniae cui eorum volet … actio petitio persecutioque ex hac lege ius potestasque esto. In vergleichbaren Fällen bestimmt die I r n i t a n a ius potestasque esto in den Kap. 19, 20, 22, 25, 27, 64, 71, 83. 73 Vgl. etwa Mommsen, Staatsrecht (cit. A. 32) II 514. 74 Irn = Mal Kap. 64 VII B 30 – 39. Das kompliziert gefaßte Kapitel erörtert ausführlich Spitzl cit. 88 – 99. 75 Spitzl cit. 90 / 91, 98 / 99. 76 So schon Mommsen, Stadtrechte cit. I 306; und neuerdings die Übersetzungen von Crawford, in: Gonzàles cit. 190 / 191 sowie Lamberti cit. 321.

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alterve offenbar aus der strengen Redaktionspraxis der Senatsbeschlüsse übernommen wurde77. Wo das senatus consultum den consules eine Aufgabe zuweist, ist, soweit die Überlieferung reicht, ihren Namen stets hinzugefügt: ambo alterve oder alter ambove, oft mit dem Zusatz: si eis videbitur78. Wird den IIviri ‚beiden gemeinsam oder einem von ihnen‘ ius und potestas erteilt, so müssen sie sich in jedem Fall verständigen. Das versteht sich, wenn sie gemeinsam handeln wollen. Verständigen müssen sie sich aber auch, wenn sie nicht gemeinsam die Sicherheiten verwerten oder die Bauarbeiten ausführen wollen: in diesem Fall müssen sie entweder einverständlich bestimmen, wer von ihnen die Aufgabe übernehmen soll, oder aber – wenn beide gleichermaßen willens sind, allein zu handeln, und ein Vergleich nicht möglich – daß das Los entscheidet79. Vermutlich schloß die eine wie die andere Übereinkunft die Möglichkeit der Interzession aus80, jedenfalls eine Interzession wegen mangelnder Berechtigung. e) Was die Vorschrift der Irnitana aber vor allem von der Vorschrift der Ursonensis abhebt, ist die Zuständigkeit des Gemeinderats und die Suspendierung der Ädile: in Urso entschieden IIvir und Ädil selbst, ob eine Straße gebaut, ein Graben gezogen oder ein Abwasserkanal befestigt werden mußte; in Irnidagegen oblag diese Entscheidung dem Gemeinderat und war nur noch der IIvir von Gesetzes wegen ermächtigt, ex decurionum conscriptorumve decreto tätig zu werden81. Schon in der Bürgerkolonie Urso war der Gemeinderat das bedeutendste Verfassungsorgan. Seine Zuständigkeit war weit gefaßt; über vieles mußte er befragt und seine Entscheidung herbeigeführt werden. Das flavische Stadtrecht beließ es nicht nur dabei: wie wir sehen, erweiterte es noch, wo möglich82, die Zuständigkeit des Gemeinderats83. Die Anlage und Erhaltung von Straßen, Gräben und Kloaken war aufwendig 77 Vgl. Liebenam cit. 226 f. Er verweist auch darauf, daß die Dekrete der Dekurionen „überall eine große Anlehnung an die Geschäftsordnung des römischen Senates erkennen lassen“ (243). 78 Frontinus de aquis 100: utique tabulas chartas ceteraque … eis curatoribus Q. Aelius Paulus Fabius cos., ambo alterve, si eis videbitur … praebenda locent (11 v. Chr.); Cicero Phil. 5. 53: utique C. Pansa A. Hirtius consules, alter ambove, si eis videretur, rationem agri haberent; 8. 33: uti C. Pansa A. Hirtius consules, alter ambove, si iis videbitur, de eius honore … ad senatum referant; 9. 16: utique C. Pansa A. Hirtius consules, alter ambove, si iis videatur, quaestoribus urbanis imperent; 14. 37: uti … C. Pansa A. Hirtius consules, alter ambove, aut, si aberunt, M. Cornutus … supplicationes … constituat. Pansa und Hirtius bekleideten das Konsulat im Jahre 43 v. Chr. 79 Vgl. Mommsen, Staatsrecht (cit. A. 32) I 41 ff. 80 Sie ist in Irn Kap. 27 vorgesehen. Vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 324 f.; Liebenam cit. 276 f. 81 Gonzáles cit. 227 verweist „for the overall responsibility of the aediles“ auf Irn Kap. 19, wo auch viae und cloacae unter den res omnes curandi faciendi aufgeführt sind. Diese pauschale Zuständigkeitsbeschreibung schließt indessen nicht aus, daß bestimmte Aufgaben den Duumvirn vorbehalten werden. 82 Vgl. Urs Kap. 75 alsbald unter V. 1 und Irn Kap. 62 unter V. 4. 83 Vgl. etwa den Überblick in J. G. Wolf, Romanization (cit. A. 25) 448.

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und belastete das städtische Budget erheblich. Vielleicht wurden sie darum der Entscheidung der Dekurionen unterstellt, denen ohnehin die Kontrolle des Gemeindehaushalts oblag. Ihre Zuständigkeit entlastete aber auch die IIviri, was die Bewerbung um das Amt erleichtern mochte, das schon im späteren 1. Jahrhundert nicht mehr unbedingt begehrt war84. Indessen war die forcierte Konzentration der Zuständigkeiten beim Gemeinderat wohl eher eine Konsequenz der Rationalisierung aller Verwaltungen, die mit der Kaiserzeit einsetzte. Und diese Rationalisierung war vermutlich ebenso maßgebend für die Beschneidung der ädilizischen Kompetenz und die exklusive Zuständigkeit der Duumvirn. f) Unverändert gegenüber der Ursonensis ist in der Irnitana der Schutz des privaten Grundeigentums. So wenig wie dort die Entscheidung des Magistrats darf hier der Beschluß der Dekurionen das Recht privater Anlieger verletzen85, darf etwa über privaten Grund und Boden ohne Zustimmung des Eigentümers ein Weg oder ein Graben geführt werden.

III. 1. Um die Erhaltung der Bausubstanz in den Städten Italiens und der Provinzen war offenbar schon im letzten Jahrhundert der Republik die Zentrale der Reichsverwaltung besorgt. Ihr Schutz schien ihr jedenfals in Urso so dringlich wie in Tarent, und hier wie dort so bedeutsam, daß sie, um den Baubestand zu bewahren, Beschränkungen des städtischen Grundeigentums in Kauf nahm. Ein einschneidendes Mittel dieser Politik war das Verbot der Stadtrechte, Häuser im umfriedeten Stadtgebiet abzureißen: Lex Ursonensis Kap. 75 Ne quis in oppido coloniae Iuliae aedificium detegito neve demolito neve disturbato nisi si praedes IIvirum arbitratu dederit se redaedificaturum aut nisi decuriones decreverint dum ne minus L adsint, cum ea res consulatur.

Lex Tarentina Kap. 4 Nei quis in oppido quod eius municipi erit aedificium detegito neve demolito neve disturbato neive quod non deterius restiturus erit neive de senatus sententia.

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84 Die Möglichkeit der Zwangskandidatur legt diese Vermutung nahe: Irn = Mal Kap. 51; vgl. J. G. Wolf, Romanization (cit. A. 25) 447; Spitzl cit. 32 ff.; Liebenam cit. 479; Mommsen, Stadtrechte cit. 315 ff. 85 Ohnesseit (cit. A. 70) 206 spricht von ‚Privatinteressen‘; Liebenam cit. 405 von ‚privaten Gerechtsamen‘; Mommsen, Urs. cit. 264: „agro privato uti ne liceat nisi consentiente domino“. Siehe auch Frontinus, de aquis 125 i. f. Für den Bau von Aquädukten galt anderes: Urs Kap. 99, vgl. Mommsen 227.

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Fortsetzung von Seite 191 Lex Ursonensis Kap. 75 Si quis adversus ea fecerit quanti ea res erit tantam pecuniam colonis coloniae Genetivae Iuliae dare damnas esto eiusque pecuniae qui volet petitio persecutioque ex hac lege esto.

Lex Tarentina Kap. 4 Sei quis adversus ea faxit quanti id aedificium fuerit tantam pequniam municipio daredamnas esto eiusque pequniae quei volet petitio esto. Magistratus quei exegerit dimidium in publicum referto, dimidium in ludis quos publice in eo magistratu faciet consumito sieve ad monumentum suom in publico consumere volet liceto idque ei sine fraude sua facere liceto.

Das Verbot ist in beiden Vorschriften dasselbe: in oppido, dem gewöhnlich umfriedeten Kernbereich der Stadt, darf kein Haus abgedeckt, abgerissen, zerstört werden86. Von diesem grundsätzlichen Verbot sind indessen in beiden Vorschriften zwei weitreichende Ausnahmen vorgesehen, und in diesen Ausnahmen unterscheiden sie sich. 2. a) Die Tarentina erlaubt dem Eigentümer den Abriß, wenn er das Haus ‚nicht schlechter‘ wieder aufbauen wird (neive quod non deterius restiturus erit). Daß er dazu verpflichtet wäre oder sich verpflichten müßte, ist nicht ersichtlich. Allerdings droht dem Eigentümer ein Strafgeld, wenn er das Haus nicht wieder aufbaut. Eine Frist für den Wiederaufbau setzt die Tarentina aber nicht. Die Sanktion kann ihn darum erst dann treffen, wenn, vor Gericht verwertbar, feststeht, daß er das Haus nicht wieder aufbauen wird oder das wieder aufgebaute Haus nicht mindestens gleichwertig ist. In diesem Fall verpflichtet ihn das Gesetz zur Zahlung eines Betrags an das Munizipium, der dem Wert des abgerissenen Hauses entspricht (quanti id aedificium fuerit tantam pequniam municipio dare damnas esto). Diese Mult kann jedermann einklagen. Ob er, letzten Endes, sie auch zahlen muß, hängt somit davon ab, daß die Popularklage auch angestrengt wird (eiusque pequniae quei volet petitio esto).

86 Zu dieser Häufung von parallelen oder synonymen Begriffen vgl. R. Kühner / C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Satzlehre4 (1962) II 567 f.; J. B. Hofmann / A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik (1965, Nachdruck 1972) 784 ff.; W. Kalb, Wegweiser in die römische Rechtssprache (1912, Neudr. 1961) 133, auch Das Juristenlatein (1888, Neudruck 1961) 37 ff.; J. G. Wolf, Haftungsübernahme ohne Auftrag? Eine Urkunde aus dem Jahre 48 n. Chr. in: D. Nörr / Sh. Nishimura, Mandatum und Verwandtes (1993) 80 f.

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b) Die Ursonensis gibt sich damit nicht zufrieden. Den Abriß gestattet sie, wenn der Eigentümer praedes stellt, die an seiner Stelle dafür eintreten, daß er das Haus wieder aufbauen wird (si praedes IIvirum arbitratu dederit se redaedificaturum)87. Ihre Haftung setzt eine ‚Hauptschuld‘ nicht voraus, und von einer Verpflichtung des Eigentümers ist denn auch hier, wie in der Tarentina, keine Rede. Über die Zahl der praedes entscheidet in freiem Ermessen der Duumvir. Eine Frist für den Wiederaufbau setzt auch die Ursonensis nicht. Unterläßt der Eigentümer den Wiederaufbau, verpflichtet sie ihn aber, an die Stadt so viel zu zahlen, quanti ea res erit, was, wie alsbald zu zeigen ist, dem Interesse der Stadt am Wiederaufbau des Hauses entsprach. Und auf diesen Betrag hafteten wohl auch die praedes, unabhängig, wie gesagt, von der Verpflichtung des Eigentümers, die Geldbuße zu zahlen. c) Die Geldbuße beträgt nach der Lex Tarentina quanti id aedificium fuerit, nach der Lex Ursonensis quanti ea res erit. Die Ästimationsklausel der Tarentina ist individuell gefaßt: der Gegenstand der Schätzung, das abgerissene Haus, konkret bezeichnet (id aedificium)88. Der für die Schätzung maßgebende Zeitpunkt ist der seines Abbruchs (quanti … fuerit)89. Die Geldbuße war mithin nach dem objektiven Sachwert zu berechnen, den das Haus zuletzt hatte. Die Ästimationsklausel der Ursonensis bezeichnet den Gegenstand der Schätzung dagegen mit dem bedeutungsoffenen Wort res, und mit erit bestimmt sie für der Schätzung einen zukünftigen Zeitpunkt. Im Kontext der Klagformel verweist das erit der Ästimationsklausel auf den Zeitpunkt der Urteilsfällung90. Diesem Stichtag entspricht hier, in der Norm, die das Bußgeld verhängt, der Zeitpunkt, in dem die Verpflichtung zur Bußgeldzahlung entsteht: zu dem also feststeht, daß der Eigentümer gegen die Vorschrift verstoßen hat, nämlich das Haus nicht wieder aufbauen wird (si quis adversus ea fecerit quanti ea res erit)91. Das abgerissene Haus kann demnach nicht, wie in der Tarentina, der Gegenstand der Schätzung sein. Jetzt, wenn feststeht, daß der Eigentümer das Haus nicht wieder aufbaut, kann Gegenstand der Schätzung nur das Interesse der Stadt an seinem Wiederaufbau sein92. d) Nach beiden Gesetzen konnte der Abriß außerdem vom Gemeinderat gestattet werden (neive de senatus sententia; nisi decuriones decreverint), nach der Ursonen-

87 Über diese Form der Bürgschaft unterrichten: Varro de ling. Lat. 6. 74 und Festus 223; M. Spitzl cit. 70 ff.; Liebenam cit. 320 ff.; Mommsen, Stadtrechte cit. 357 ff.; G. Wesener, praes in RE Suppl. 14 (1974) 455 ff. 88 Vgl. M. Kaser, Quanti ea res erit (1935) 5. 89 Vgl. etwa die Ästimationsklausel der actio furti oder der actio legis Aquiliae bei Lenel (cit. A. 71) 328, 201, die die Schätzung zum Zeitpunkt des Diebstahls und (modifiziert) der Sachbeschädigung vorsieht; Kaser (cit. A 88) 132 ff., 167 ff. 90 Vgl. etwa M. Kaser, Das römische Privatrecht2 (1971) 500 bei A. 11; Das römische Zivilprozessrecht (1966) 243. 91 Im Kontext der Klagformel verweist das erit der Ästimationsklausel auf den Zeitpunkt der Urteilsfällung. 92 Siehe auch u. 4.

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sis allerdings nur mit der Maßgabe, daß bei der Beratung und Beschlußfassung nicht weniger als 50 Dekurionen anwesend waren (dum ne minus L adsint, cum ea res consulatur). 3. In der Sanktionsklausel ermächtigen beide Gesetze einen jeden, der die Popularklage anstrengen will, die Tarentina kurz und bündig: eiusque pecuniae quei volet p e t i t i o e s t o , die Ursonensis weitläufiger: eiusque pecuniae qui volet p e t i t i o p e r s e c u t i o ex hac lege e s t o 93. Die kurze Formel petitio esto der Tarentina kennen wir schon aus der Lex Mamilia, dem Ackergesetz Caesars aus dem Jahre 59 v. Chr.94. Sie ist allerdings auch der Ursonensis nicht ganz fremd: in ihren 17 Sanktionsklauseln kommt sie immerhin einmal vor, in Kap. 97. Von den übrigen 16 Sanktionsklauseln folgen 7 dem Muster: eiusque pecuniae cui / qui volet petitio persecutio ex hac lege esto.

Sie sind auf den Tafeln VII und VIII überliefert95. Weitere 7 Sanktionsklauseln folgen dagegen dem Muster: eiusque pecuniae cui / qui eorum volet reciperatorio iudicio aput IIvirum praefectumve actio petitio persecutio ex hac lege ius potestasque esto.

Sie sind auf Tafel X überliefert96. Ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Fassung der Strafklausel ist nicht ersichtlich97. Darum liegt nahe, daß die Gravur der letzten Tafel, der Tafel X (oder der beiden letzten Tafeln98), gleichzeitig mit der Gravur jedenfalls der Tafeln VII und VIII erfolgte und offenbar nach einer anderen, erweiterten Vorlage. Die Erweiterung, die anläßlich der Gravur des Stadtrechts99 geschehen sein könnte, ist überraschend dilettantisch. Die Worte ius potestasque passen nicht in das Satzgefüge100; nur ohne sie hat der Satz seinen Sinn. Ein Experte hätte außerdem reciperatorio iudicio dem folgenden aput IIvirum praefectumve nachgestellt. Bruns, Erztafeln cit. 117 ff. Kap. 54 i. f. (oben III. 2. b)). 95 Kap. 74, 75 (qui), 81, 82 (qui) und ohne ex hac lege 92, 93, 104. Zu cui („quod Latine dici non potest“) Mommsen, Urs. cit. 208, 246; auch Bruns, Erztafeln cit. 88 – 98 ändert durchgehend cui in qui. 96 Kap. 125 (qui), 126 (ohne eorum und ex), 129, 130, 131 (ohne ex), 132. – Keinem der Muster folgen Kap. 61: eiusque pecuniae cui volet petitio, IIviro quive iure dicundo praerit exactio iudicatio esto; und Kap. 73: eiusque pecuniae cui volet petitio persecutio exactioque esto. Dazu vgl. Mommsen, Urs. cit. 246. 97 Bruns, Erztafeln cit. 118 f. 98 Tafel IX ist bekanntlich nicht erhalten. 99 Siehe oben I. 1. d). 100 Vgl. Mommsen, Urs. cit. 209; Bruns, Erztafeln cit 118 f., Fontes 136 ff. Es ist nicht auszuschließen, daß sie gedankenlos eingefügt worden sind. In der Ursonensis kommen sie auch an gehörigem Orte wiederholt vor, so in Kap. 62, 65, 99 und 103, und Kap. 66 und 100 enden 93 94

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Actio petitio persecutio ist dagegen keine, wie man angenommen hat, „sinnlose Häufung“ von Begriffen101, sondern eine vielfach belegte102, auch in der Lex Irnitana häufig103 verwendete formelhafte Wortverbindung104, die der Befürchtung steuern sollte, mit nur dem einen Wort, petitio, oder auch den zwei Worten, petitio persecutioque, nicht all das zu erfassen und auszudrücken, was man erfassen und ausdrücken wollte105. 4. Das flavische Stadtrecht hat an dem Verbot festgehalten, seinen Geltungsbereich aber ausgedehnt, die Regelung der Ausnahmen eingeschränkt und die Vorschrift insgesamt präzisiert: Lex Irnitana Kap. 62 R(ubrica). Ne quis aedificia, quae restituturus non erit, destruat. Ne quis in oppido municipi Flavi Irnitani quaeque ei oppido continentia aedificia erunt, aedificium detegito destruito demoliundumve curato, nisi de decurionum conscriptorumve sententia, cum maior pars eorum adfuerit, quod restituturus intra proximum annum non erit. Qui adversus ea fecerit, is quanti ea res erit tantam pecuniam municipibus municipi Flavi Irnitani dare damnas esto, eiusque pecuniae deque ea pecunia municipi eius municipi cui volet, cuique per hanc legem licebit, actio petitio persecutio esto.

a) Tarentina und Ursonensis bestimmen ne quis … aedificium detegito neve demolito neve disturbato, die Irnitana dagegen ne quis … aedificium detegito destruito demoliundumve curato. Die republikanischen Gesetze führen den negativen Imperativ (futuri) regelrecht mit neve fort106; die Irnitana bevorzugt dagegen die unverbundene (asyndetische) Aufzählung und fügt nur das letzte Glied, ebenfalls regelrecht, mit -ve an. Diese Stilisierung verkürzt die Periode und fördert damit die Übersichtlichkeit, erlaubt aber auch die in der Rechtsprache (wie das Asyndeton) beliebte Alliteration detegito destruito demoliundumve curato. Die Alliteration könnte auch ein zusätzlicher Grund gewesen sein, das disturbare der republikanischen Fassung mit ihnen. In der Lex Irnitana ist ius potestasque esto ebenfalls nicht selten: Kap. 19 i. f., 27, 64, 71, 82 und 83 i. f. 101 Bruns, Erztafeln cit. 118. 102 Vgl. etwa Pap D 44.7.28, Ulp D 50.16.178.2 oder Flor D 46.4.18.1. 103 Kap. 45, 47, 48, 58, 62 und 67. 104 Vgl. M. Kaser / K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht2 (1996) 236 A. 32. Mit Erklärungen, wie sie etwa L. Mitteis, Römisches Privatrecht (1908) 89 ff., vorschlägt, ist dieser Praxis nicht beizukommen. Siehe auch L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozeßrechts (1925) 249 A. 10. 105 Kalb, Wegweiser (cit. A. 86) 133; J. G. Wolf, Haftungsübernahme (cit. A. 86) 80 f. 106 Wie andern Orts auch die Irnitana: Kap. 47 V B 51 / C 1.

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durch destruere zu ersetzen, das sich gegenüber disturbare vor allem durch seine eigentliche Bedeutung ‚niederreißen, einreißen‘ empfahl107. Demoliundum curato stellt klar, daß unter das Verbot auch die Veranlassung des Hausabbruchs fällt. b) Das Verbot wird über den umfriedeten Stadtbereich hinaus auf angrenzende Gebäude erstreckt. (ei oppido continentia aedificia)108. c) Wie nach den republikanischen Stadtrechten kann der Abriß allerdings von den Dekurionen erlaubt werden, und wie in Urso mindestens 50 Dekurionen bei der Beschlußfassung anwesend sein mußten, war es in Irnidie Mehrheit (nisi decurionum conscriptorumve sentential[m], cum maior pars eorum adfuerit). Erlaubt ist dem Eigentümer der Abriß aber auch dann, wenn er die Absicht hat, das Haus binnen eines Jahres wieder aufzubauen. Anders als die Ursonensis verlangt die Irnitana nicht, daß der Eigentümer praedes stellt. Mit der Frist setzt sie sich aber von beiden republikanischen Gesetzen wirkungsvoll ab. Die Jahresfrist verschärft nicht nur die Strafdrohung, durch sie ist die Konsequenz eines Verstoßes gegen das Verbot für die Beteiligten absehbar und die Verfolgung des straffälligen Eigentümers auch erleichtert. d) Die Buße bemißt sich, wie in Urso, nach dem Interesse der Stadt am Wiederaufbau des abgerissenen Hauses (is quanti ea res erit tantam pecuniam … dare damnas esto)109. Wie in all ihren Sanktionsklauseln110 präzisiert danach die Lex Irnitana, daß nicht jeder, sondern nur jeder Bürger des Municipium Irnitanum die Popularklage anstrengen kann, fügt bestätigend hinzu, daß sie es dem Willigen erlaubt, und erteilt ihm schließlich actio petitio persecutio (eiusque pecuniae deque ea pecunia municipi eius municipi [cui] volet, cuique per hanc legem licebit, actio petitio persecutio esto). 5. a) Die Stadtrechte von Tarent, Urso und Irni präsentieren uns drei Stationen der Geschichte einer Verbotsnorm. An ihnen lesen wir eine vielseitige Entwicklung ab, die teils aus der Natur der Sache folgte, teils neuen Anforderungen an die Rechtssicherheit entsprach, die das Verbot verschärfte und wieder milderte, die die Tatbestände präzisierte und damit auch der Praxis die Anwendung der Vorschrift erleichterte. Die eigentliche Bedeutung von disturbare ist bekanntlich ‚auseinandertreiben‘. Nach Mommsen, Stadtrechte cit. 372 mit A. 67 auf die „Vorstädte“. 109 Nach dem Interesse der Stadt bemißt sich die Buße auch in Irn Kap. 47 V C 3 – 7, 48 V C 18 – 23 und 67 VII C 36 – 44. Vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 373 f.; Gonzáles cit. 218. Anders Spitzl cit. 80 ff. – Später, etwa seit Nerva und Traian, als der Niedergang der Selbstverwaltung einsetzte, gehörte zu den Aufgaben der curatores rei publicae, der vom Kaiser bestellten Kommissare (Marquardt cit. I 163 ff.), dafür zu sorgen, daß eingerissene Häuser von ihren Eigentümern wieder aufgebaut wurden. Das mit öffentlichen Mitteln wieder aufgebaute Haus konnte die Gemeinde verkaufen, wenn der Eigentümer die Kosten nicht zu bestimmter Zeit ersetzte: Paul 1 sent D 39.2.46. 110 Irn Kap. 26 III B 49 – 52; 45 V B 39 – 45; 47 V C 3 – 7; 48 V C 18 – 23; Mal Kap. 58 Col. II 71 / Col. III 5; Irn Kap. 62 VII A 43 – 47; 67 VII C 36 – 44; 72 VIII B 26 – 30; 74 VIII B 51 / C 2; 75 VIII C 5 – 9; 90 X A 37 – 41; 96 X C 13 – 18. 107 108

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Das Verbot, in der Stadt ein Haus abzureißen, blieb sich immer gleich; verändert in der Sache und präzisiert durch Ausführlichkeit wurden die Ausnahmen und Folgen. Während die Lex Tarentina vorsieht, daß die bloße Zusage des Eigentümers, das Haus wieder aufzubauen, das Verbot suspendiert, verlangt wenige Jahre später die Lex Ursonensis, daß der Eigentümer, will er das Haus abreißen, praedes beibringt, die für seine Zusage einstehen. Diese Verschärfung der Norm wird in der Lex Irnitana nicht wiederholt oder, wenn man so will, durch die Anforderung ersetzt, daß der Wiederaufbau des Hauses binnen Jahresfrist geschehen muß: eine Anforderung, die das Verfahren für die Beteiligten absehbar und nun auch wirklich praktikabel macht. Wie in Tarent können auch in Urso und Irnidie Dekurionen den Abriß erlauben, in den spanischen Städten aber nur mit einem Beschluß, bei dessen Beratung 50 Dekurionen anwesend sind oder die Mehrheit des Gemeinderats111. Die auffälligste und wichtigste Neuerung schon der Ursonensis gegenüber der Tarentina ist die Berechnung der Mult nicht mehr nach dem Wert des abgerissenen Hauses, sondern nach dem Interesse der Stadt an seinem Wiederaufbau. Wenn die Zusage des Eigentümers, das Haus wieder aufzubauen, das Verbot suspendierte, war diese Umstellung nur konsequent. Sie erlaubte außerdem der Stadt, in eigener Regie das Haus auf Kosten des Eigentümers wieder aufzubauen112. Wenn Tarentina und Ursonensis jedermann das Recht einräumen, den säumigen Eigentümer auf Zahlung der Mult zu verklagen, so verstand sich, daß nur jeder Bürger der Stadt dieses Recht hatte. Die Irnitana hält indessen für geboten, diese Eingrenzung auch festzuschreiben und hinzuzufügen, daß dem Bürger per hanc legem erlaubt sei, die Popularklage anzustrengen. Ebenso genügt ihr nicht, den Gegenstand der Klage mit eiusque pecuniae zu bezeichnen: sie fügt hinzu deque ea pecunia. Und dem Bürger erteilt sie nicht, wie die Tarentina, petitio, oder, wie die Ursonensis, petitio und persecutio: sie spricht ihm actio petitio persecutio zu. Diese gelegentlich insistierende Ausführlichkeit und Präzisierung ist nicht mediokre Hilflosigkeit: vielmehr beugt sie Mißverständnissen und Kontroversen vor, sie fördert das Verständnis der Vorschrift, erleichtert ihre Anwendung und dient der Einheitlichkeit ihrer Praxis, und mit all dem der Rechtssicherheit. Sie ist ersichtlich das Ergebnis kompetenter Überlegung und vielleicht schon ein Ertrag fachwissenschaftlich unterstüzter Gesetzgebung.

111 Urso hatte vermutlich einen Gemeinderat von 100 Dekurionen, Irni dagegen von 63, Kap. 31 III C 50. In den flavischen Munizipien war die Zahl der Dekurionen nicht einheitlich. Darum sah das Stadtrecht die Anwesenheit nicht einer bestimmten Zahl vor, sondern der maior pars. Vgl. Mommsen, Staatsrecht (cit. A. 32) III 842, 844 f.; B. Kübler, Decurio in RE IV (1901) 2323 f. 112 Die Tarentina sah vor, daß der Magistrat, der die Mult beigetrieben hat, nur die Hälfte des Betrages an die Stadtkasse abführen mußte; die andere Hälfte durfte er für die Spiele verwenden, die er in seiner Amtszeit ausrichten mußte, oder ad monumentum suom: Kap. 5 VIIII 36 – 38. In Urso und Irni fällt der gesamte Betrag an die Stadt – was nur konsequent war, wenn sich die Mult nach ihrem Interesse am Wiederaufbau des abgerissenen Hauses bemaß.

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b) Über die Motive des Abrißverbots ist den Gesetzen nichts abzugewinnen. Daß die Vorschrift die Ansehnlichkeit der Innenstädte erhalten sollte, ist kaum anzunehmen113. Eher würde man vermuten, daß sie ihrer Verödung steuern sollte. Da das Verbot nur für den ‚umfriedeten Stadtkern‘, das oppidum, galt, wo der Raum beschränkt und die Bebauung dicht war und darum die Außenwände der Häuser oft gemeinsames Eigentum der Nachbarn (parietes communes), könnte auch baupolizeiliche Vorsorge das Motiv der Vorschrift gewesen sein. Zu erwägen wäre auch, daß mit dem Abrißverbot schon die republikanischen Stadtrechte bekämpften, was in der Kaiserzeit offenbar zu einer verbreiteten Unsitte wurde: daß Häuser gekauft wurden, um sie einzureißen oder abzutragen und aus dem Verkauf von gefragten Bauteilen, wie etwa Marmorsäulen114, Gewinn zu ziehen115. Bekanntlich hat Claudius im Jahre 44 n. Chr. gegen diese Plage Front gemacht und einen Senatsbeschluß herbeigeführt, der solchen Kauf unter Strafe stellte und den Verkauf für ungültig erklärte116. Der Beschluß galt indessen für Rom und ganz Italien, und für Stadt- und Landhäuser gleichermaßen – das Abrißverbot unserer Stadtrechte dagegen nur für den umfriedeten, allenfalls noch angrenzenden Bereich der Städte. Was das Verbot allemal bewirkte, war die Erhaltung der Bausubstanz der Innenstädte. Aufschluß über andere Motive, wenn es sie denn gab, ist, wie es scheint, kaum zu gewinnen.

IV. 1. Nach Kompetenz und Ansehen war in den Städten der Provinz, ob Kolonie oder Munizipium, der Gemeinderat die bedeutendste Institution117. Seine Mitglieder, die Dekurionen, wurden auf Lebenszeit bestellt118. Ihre Vorrechte waren enorm119, ihre Pflichten noch im 2. Jahrhundert n. Chr. eher gering120. Zwingend aber war die Residenzpflicht, die sie in Urso mit Auguren und Pontifices teil113 Die Vorrede des SC de aedificiis non diruendis von 44 n. Chr. (siehe A. 116) erwähnt allerdings diesen Gesichtpunkt: neque inimicissimam pace faciem inducere ruinis domum villarumque. 114 Instruktiv Paul 33 ed D 18.1.34 pr. i. f. ; Marcian l g delat D 39.2.48. 115 Vgl. P. Garnsey, Demolation of houses and the law, in: M. I. Finley, Studies in Roman Property (1976) 133 – 136. 116 SC de aedificiis non diruendis (Bruns, Fontes Nr. 54 S. 200 f.; Riccobono, FIRA I Nr. 45 S. 288 f.): si quis negotiandi causa emisset quod aedificium, ut diruendo plus adquireret quam quanti emisset, tum duplam pecuniam, qua mercatus eam rem esset, in aerarium inferri … Cumque aeque non oporteret malo exemplo vendere quam emere … placere: tales venditiones inritas fieri (Z. 10 – 17). Dieses SC, das 56 n. Chr. wieder durch ein SC bekräftigt wurde (Bruns und Riccobono aaO.), wird von Paulus 54 ad ed D 18.1.52 angeführt. Siehe außerdem C 8.10.2 von 222 n. Chr. Vgl. Liebenam cit. 391 ff. 117 B. Kübler, Decurio in RE IV (1901) 2330, 2336 f. 118 Liebenam cit. 233, 235; J. Schmidt, Adlectio in RE I (1893) 389. 119 Kübler (cit. A. 117) 2330 ff.; Liebenam cit. 237 f. 120 Kübler (cit. A. 117) 2343 ff.

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ten121. Waren sie nicht schon in Urso ansässig, mußten sie, wollten sie ihr Amt nicht verlieren, in der Stadt122 oder deren naher Umgebung, in einer Entfernung von allenfalls 1000 Schritten, sich ankaufen und Wohnsitz nehmen. Das Gesetz nennt als Grund dieser Verpflichtung die Möglichkeit, das domicilium oder Teile ‚davon‘ als Pfand zu nehmen (unde pignus eius quot satis sit capi possit) – wohl um den säumigen Dekurio anzuhalten, seinen Pflichten nachzukommen123. Gleichwohl läßt es den Betroffenen 5 Jahre Zeit und bei der Wahl von Grundstück und Haus alle Freiheit124. 2. Nicht so großzügig verfährt die Ursonensis mit den ersten, bei Gründung der Kolonie ernannten Dekurionen. Die Vorschrift, Kap. 14, deren Kenntnis wir dem neuen Fund verdanken125, geht streckenweise mit Kap. 3 der Lex Tarentina überein: Lex Ursonensis Kap. 14 Quicumque in colonia Genetiva Iulia decurio erit

is decurio in ea colonia intra qua aratro circumductum est aedificium quod non sit minus tegularum DC qui colonus neque decurio erit is aedificium, quod non sit minus tegularum CCC habeto in biennio proxumo, quo ea colonia deducta erit.

Lex Tarentina Kap. 3 Quei decurio municipi Tarentinei est erit queive in municipio Tarentino in senatu sententiam deixerit is in oppido Tarentei aut intra eius municipi fineis aedificium quod non minus MD tegularum tectum sit

habeto dolo malo.

Quei eorum ita aedificium suom non habebit seive quis eorum eo aedificium emerit mancupiove acceperit Fortsetzung nächste Seite 121 Urs Kap. 91 VIII A 1 – 7: erit tum quicumque decurio augur pontufex huiusque coloniae domicilium in ea colonia oppido propiusve it oppidum passus M non habebit annis V proxumis, unde pignus eius quot satis sit capipossit, is in ea colonia augur pontifex decurio ne esto …… 122 Eigentlich: in dem umfriedeten Kernbereich der Stadt, vgl. oben V. 1; Mommsen, Urs. cit. 223 mit A. 3. 123 Vgl. Mommsen, Urs. cit. 216, 223 f. 124 Crawford, Statutes cit. I 310 zu ll. 26 – 31 hingegen glaubt, die Ursonensis „specifies the size only by implication by defining the purpose“. 125 Caballos cit. 133, 137, 208 ff.

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Fortsetzung von Seite 198 Lex Ursonensis Kap. 14

Lex Tarentina Kap. 3 quo hoic legi fraudem faxit is in annos singulos HS nummum I ) ) municipio Tarentino dare damnas esto.

Kap. 3 der Tarentina verpflichtet die Dekurionen des municipium Tarentinum, in der Stadt126 oder doch innerhalb der Grenzen ihres Territoriums ein Haus von bestimmter Mindestgröße zu haben; Kap. 14 der Ursonensis dagegen verpflichtet die Dekurionen der colonia Genetiva Iulia, innerhalb des pomerium, der bekanntlich nach altem Ritus mit dem Pflug gezogenen Grenzfurche127, ein Haus ebenfalls von bestimmter Mindestgröße zu haben, aber auch alle anderen Bürger der Kolonie ein Haus von geringerer Mindestgröße; da sie auf eine Örtlichkeit nicht beschränkt werden: vermutlich in den Grenzen des Territoriums der Kolonie. Die Tarentina verpflichtet jedweden Dekurio, gleichviel wann er ernannt worden ist128; die Ursonensis dagegen nur die Dekurionen, die bei der Gründung der Kolonie ernannt129, und die Kolonisten, die im Zuge der Gründung nach Urso geführt worden sind. Die Tarentina setzt den Dekurionen keine Frist, ihrer Anweisung zu folgen; die Ursonensis dagegen Dekurionen und Kolonisten eine Frist von 2 Jahren. Da die Laufzeit dieser Frist mit der Gründung der Kolonie beginnt, ist jeder Zweifel ausgeschlossen, daß Kap. 14 nur für die ersten Dekurionen und nur für die als erste angesiedelten Kolonisten gegolten hat (in biennio proxumo, quo ea colonia deducta erit)130. 3. Die Tarentina droht dem Dekurio, der dem Gebot nicht nachkommt oder nur zum Scheine nachgekommen ist, mit einer empfindlichen Geldbuße. Sie verpflichtet ihn, für jedes Jahr, das er säumt, 5000 Sesterzen an die Stadt zu zahlen131. Die Zu in oppido s. oben V. 1. Varro de ling. Lat. V 143; A. v. Blumenthal, Pomerium in RE 21 (1952) 1868 ff., insb. unter 3., mit weit. Nachweisen; Kornemann, Coloniae cit. 573. 128 Umständlich verpflichtet sie ausdrücklich den Dekurio, der im Amt ‚ist‘, und den, der im Amt ‚sein wird‘ (quei decurio … e s t e r i t ) und auch den Magistrat, dessen Amtszeit abgelaufen, der nunmehr ansteht, zum Dekurio bestellt zu werden, und schon vor seiner Ernennung im Gemeinderat Sitz und Stimme hat (queive … in senatu sententiam deixerit). Zu diesen Anwärtern vgl. Kübler (cit. A. 117) 2325; Marquardt cit. I 185 f.; Liebenam cit. 233 mit Verweis auf Lex tabulae Heracleensis 96, 109 / 110. 129 Von den in den Tributkomitien gewählten Gründungskommissaren (Cic. leg. agr. II 96) oder, seit den turbulenten Zeiten der späten Republik, von dem Mandatar des Machthabers, der die Gründung der Kolonie befahl – wie Caesar die Gründung der colonia Iulia Genetiva; vgl. Kornemann, Coloniae cit. 570 f., 577. 130 Das Datum der Koloniegründung war das ihrer Konstituierung. Sie erfolgte nach der Landanweisung in einem feierlichen Akt, der dem römischen Lustrum entsprach: Kornemann, Coloniae cit. 577 f. 131 Implizit gibt sie dem Dekurio mithin nur ein Jahr Zeit, ihrem Gebot zu folgen. 126 127

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Mult beizutreiben oder einzuklagen, war offenbar den Duumvirn vorbehalten; denn eine Popularklage sieht das Gesetz hier nicht vor132. Die Ursonensis dagegen verfügt weder gegen den Dekurio noch gegen den Bürger, der die Frist nicht einhält, eine Sanktion. 4. a) Bei aller formalen Übereinstimmung in Syntax und Wortgebrauch der beiden Gesetze ist doch nur der Normzweck der tarentinischen Vorschrift ohne weiteres einsichtig. Die Vorschrift der Tarentina soll offenbar den Zugriff auf den Grundbesitz des Dekurio, der seinen Pflichten nicht nachkommt, erleichtern und die Pfandhaftung sichern. Damit hat Kap. 3 der Tarentina denselben Zweck wie Kap. 91 der Ursonensis133. b) Wenn die Ursonensis in Kap. 14 die Dekurionen anweist, innerhalb des Pomerium ein Haus von bestimmter Mindestgröße zu haben, so scheint sie mit diesem Gebot keinen anderen Zweck zu verfolgen als die Tarentina mit ihrer Anweisung in Kap. 3. Doch damit ist nicht verträglich: daß sie nur die ersten, bei Gründung der Kolonie ernannten Dekurionen verpflichtet; daß sie gleichzeitig auch alle nach Urso geführten Kolonisten verpflichtet, in den Grenzen des Territoriums der Kolonie ein Haus zu haben; und daß sie Dekurionen und Kolonisten gleichermaßen eine Frist von 2 Jahren einräumt, für den Fall aber, daß ihre Anweisung nicht erfüllt wird, eine Sanktion nicht vorsieht. Das Verständnis der Norm erschließt sich, wenn wir uns das Verfahren der Koloniegründung vergegenwärtigen134. Nach aufwendigen legislatorischen und administrativen Vorbereitungen in Rom, die mit der Auswahl, vielleicht auch zusätzlichen Aushebung der Kolonisten abschloß, wurde die colonia geschlossen an ihren Siedlungsort geführt. Dort waren inzwischen die Agrimensoren tätig gewesen, war das Territorium vermessen, waren die cardines und decumani gezogen, die Wege und Gräben angelegt, Acker- und Siedlungsland in centuriae, schließlich die centuriae in sortes aufgeteilt worden. Jetzt, nach der Ankunft der Kolonisten, wurden auspicia eingeholt, wurde der sulcus primigenius, die Grenzlinie des pomerium, gezogen, zuletzt den Kolonisten ihre Parzellen in einem Losverfahren zugewiesen. Das zugewiesene Landlos bemaß sich nach iugera135; die Größe der Lose war von verschiedenen Faktoren abhängig und sehr unterschiedlich136; für Tarentum und auch für Urso ist keine Zahl überliefert137. Das zugewiesene Land war unbebaut 132 In Kap. 1 VIIII 5 / 6 ermächtigt die Tarentina ausdrücklich den Magistrat, in Kap. 4 VIIII 35 jeden Bürger der Stadt (s. oben V. 3). 133 Siehe o. VI. 1. 134 Ausführlich Kornemann, Coloniae cit. 568 – 578. 135 1 iugerum waren 2523 m2, mithin etwa 25 Ar oder 0,25 Hektar. 136 Kornemann, Coloniae cit. 574 f. 137 M. Prell, Sozialökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom (1997) 136 ff., schreibt zusammenfassend: „Die zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes notwendige Landfläche hing von der Familiengröße ab und schwankte zwischen 2 und 20 iugera (0,5 bis 5 ha).“

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und bestenfalls guter Ackerboden. Für den Kolonisten gab es keinen Aufschub: er mußte sein Land bestellen und ebenso dringlich war der Hausbau. Und wie wir sehen, ließ ihm die Ursonensis auch keine Wahl: binnen zweier Jahre sollte es gebaut sein, und eine bestimmte Größe sollte es nicht unterschreiten. Unvorhergesehenes konnte beim Hausbau allemal eintreten. Da das Gebot aber die ganze Kolonie verpflichtete, hunderte von Kolonisten gleichermaßen anwies, unverzüglich ein Haus zu bauen, überdies ein Haus von uniformer Mindestgröße, war nachgerade abzusehen, daß viele die Frist nicht würden einhalten können, weil es an Baumaterial mangelte, weil Hilfskräfte fehlten oder die Bodenverhältnisse die Arbeiten behinderten. Der Gesetzgeber war darum gut beraten, sein Gebot nicht mit einer Strafandrohung zu bewehren. c) Ihm konnte nur daran gelegen sein, daß der Zweck seiner Anweisung im großen ganzen erreicht wurde. Und dieser Zweck war vielfältig. Die Kolonisation mußte zu Ende kommen, die Kolonisten mußten, auch im Wortsinn, ansässig werden. Die Einförmigkeit, die durch das vorgeschriebene Mindestmaß begünstigt wurde, gleichsam eine Fortsetzung der Limitation, vereinfachte den Siedlungsplan, erleichterte Maßnahmen und Kontrolle der Baupolizei und entsprach, was kaum überschätzt werden kann, der sozialen Struktur der Kolonie. Gegen die große Überzahl der einfachen Kolonisten hebt die Ursonensis die Gruppe der Dekurionen signifikant ab. Sie schreibt ihr vor, innerhalb des pomerium den Wohnsitz zu nehmen und hier ein Haus zu bauen von der doppelten Mindestgröße, die sie den ‚einfachen Leuten‘ zur Pflicht macht. Da der Dekurio wie die Magistrate, Pontifices und Auguren nach der Landanweisung ernannt wurde138, mußte er den Siedlungsplatz intra pomerium wohl in der Regel erwerben, jedenfalls aber für das Haus erheblich mehr aufwenden als der gemeine Kolonist. Mancher Orts setzte der Dekurionat einen bestimmten Census voraus139; in Urso, wo auch ein Freigelassener zum Dekurio ernannt werden konnte140, tat er das nicht141. Die Anforderungen an das Haus verlangten indessen einen gehobenen Vermögensstand, der die Auswahl der Dekurionen folglich mitbestimmen mußte. 5. a) In Tarentina und Ursonensis steht die Zahl der Dachziegel für die Größe des Hauses142. Und wie Cato in seinem Liber de agri cultura berichtet, wurde auch der Arbeitslohn für den Bau eines Landhauses nach der Zahl der Dachziegel berechnet143. Diese Maßeinheit für die Größe eines Hauses und die Berechnung des BauKornemann, Coloniae cit. 577. Kübler (cit. A. 117) 2328; Liebenam cit. 234. Siehe unten A. 156. 140 Urs Kap. 105 VIII E 20 ff. Vgl. Liebenam cit. 233 mit A. 4. 141 Vielleicht weil die Kolonisten aus der römischen Unterschicht kamen. 142 Ein zweites Mal bezeichnet die Ursonensis in Kap. 76 VII B 24 / 25 die Größe eines Hauses, und zwar einer Ziegelei, mit der Zahl der Dachziegel: Figlinas teglarias maiores tegularum CCC tegulariumque in oppido colonia Iulia ne quis habeto. Gelegentlich wird die Zahl fälschlich auf die tägliche Ziegelproduktion bezogen. Doch s. schon Mommsen, Tar. cit. 158 A. 55. 138 139

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lohns ist offenbar bald aufgegeben worden; soweit ich sehe, begegnet sie später nicht mehr. Die tegula war ein flacher rechteckiger Dachziegel144, eine Platte, deren Längsseiten 5 cm hohe Kanten hatten145. Der Gebrauch der römischen Maße verbreitete sich mit dem römischen Bürgerrecht. Pompeii etwa wechselte die Maße, als Sulla im Jahre 80 v. Chr. in der Stadt Veteranen ansiedelte und sie zu einer römischen Bürgerkolonie machte146: die römische Fußlänge von 0,296 m verdrängte alsbald die bis dahin streng beobachtete oskische von 0,275 m. Dagegen ist nicht ersichtlich, daß sich für den Dachziegel eine Einheitsgröße durchgesetzt hat. Gleichwohl ist zu vermuten, daß es (jedenfalls für bestimmte Zeitspannen) eine Normgröße gab und diese Normgröße wohl die römische war. Andernfalls hätte der römische Gesetzgeber den Dachziegel nicht als Maßeinheit für die Größe eines Hauses einsetzen können. Bekanntlich haben in den Provinzen seit dem frühen Prinzipat auch die Legionen die Ziegelproduktion zu ihrem Geschäft gemacht147; hier liegt ebenfalls nahe, daß für sie einheitliche, von Rom vorgegebene Normen galten. Die Angaben der Ziegelmaße in der neueren Literatur gehen allerdings weit auseinander. Sie sind durchweg auch ohne Zeitangabe148. Nach Friedrich Ebert149 war im römischen Italien das „Normalformat“ 650 auf 450 mm; nach Tenny Frank150 das Standardmaß „probably about 1 square foot“, das sind 296 auf 296 mm; nach Helmut Wilsdorf151 „der übliche römische sehr schwere Flach-Ziegel“ 550 auf 550 mm; nach Samuel Birch mißt ein in Boxmoor (England) gefundener „flange tile 1 foot 3 ½ inches long, and 10 ½ inches wide“, das sind 394 auf 305 mm152. 143 Kap. 17 (14. 3 / 4): Huic operi pretium ab domino bono, qui bene praebeat quae opus sunt et nummos fide bona solvat in tegulas singulas II. (4) Id tectum sic numerabitur: tegula integra quae erit; quae non erit – unde quarta pars aberit –, duae pro una; conliciares quae erunt, pro binis putabuntur; vallus quot erunt, in singulas quaternae numerabuntur. Zur Lohnberechnung s. R. Duncan-Jones, The Economy of the Roman Empire (1974) 125. 144 Isid. orig. 15. 8. 15: Tegulae, quod tegant aedes; auch 19. 10. 15 und 19. 19. 8. Dachziegel lassen nicht den Schluß auf Steinbauweise zu. 145 S. Birch, History of Ancient Pottery2 (1873) 470: „The most distinctive mark of tiles is the flanges. … The flange tiles were probably made in the same way (as bricks), and the flanges subsequently turned up by the hand of the workman. … In the Museum of Sèvres are many of theses tiles … from the remains of Roman villas and baths in France. … Similar tiles are found all over England and Germany, wherever traces of Roman occupation occur, and were made on the spot“; ebenda 469 eine Abbildung. Marquardt cit. II 637: „… an beiden Längsseiten mit einem 2 ¼ Zoll hohen Rand versehen und so eingerichtet, dass der höher liegende (Ziegel) in den tiefer liegenden paßte“. J. Yates / G. E. Marindin, Tegulae in A Dictionary of Greek and Roman Antiquities3 II (1891) 763 ff. mit Abbildungen. 146 H. Nissen, Pompeianische Studien zur Städtekunde des Altertums (1877) 70 ff., insb. 92 ff. 147 Vgl. etwa J. Szilágyi, Ziegelstempel in RE 10 A (1972) 433 ff.; auch Margareta Steinby, Ziegelstempel von Rom und Umgebung, in: RE 15 Suppl. (1978) 1489 ff. 148 Das gilt auch für die Nachrichten über Mauerziegel, die nach Marquardt cit. II 636 „in verschiedenen Gegenden … verschiedene Dimensionen“ haben. 149 Tegula in RE 5 A (1934) 123. 150 An Economic Survey of Ancient Rome I (1933) 165. 151 Ziegel in Lexikon der Antike6 (1985) 621.

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Es versteht sich, daß der Dachziegel als Maßeinheit für die Größe eines Hauses einstöckige Bauweise voraussetzte153. Das 300 Ziegel-Haus hätte dann nach den genannten Maßen eine Grundfläche von mindesten 88 (Ebert) oder 26 (Frank) oder 91 (Wilsdorf) oder 36 m2 (Birch) gehabt; das 600 Ziegel-Haus von etwa 176 oder 52 oder 182 oder 72 m2. Was die Maßeinheit der Lex Ursonensis war, ließe sich wohl ermitteln, wenn am Ort auch nur Stücke einer tegula gefunden worden sind. b) Dreißig Jahre früher gebietet die Lex Tarentina den Dekurionen des Munizipium in oppido Tarentei oder doch innerhalb der Grenzen des Stadtgebiets ein Haus mit nicht weniger als 1500 Dachziegeln zu haben154. Wir können nicht ausschließen, daß die Tarentina mit einer anderen, kleineren Ziegelgröße rechnete als die Ursonensis. Wahrscheinlich ist das nicht. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß der Abstand zum 600 Ziegel-Haus der Dekurionen von Urso dem Wohlstandsgefälle entsprach, das die alte und geschichtsträchtige und immer noch wohlhabende griechische Hafen- und Handelsstadt155 von einer soeben gegründeten und gewiß ärmlichen, mit besitzlosen Bürgern der römischen Unterschicht beschickten spanischen Kolonie trennte. Der Anspruch, dem die Tarentina ihre Dekurionen unterwarf, kann im übrigen kaum verwundern, wenn man erinnert, daß in Comum, wie dem Briefwerk des jüngeren Plinius zu entnehmen ist, der Dekurio ein Vermögen von 100.000 Sesterzen ausweisen mußte156.

§ 4. Strukturelle imitatio Die Parallelen in den Stadtrechten von Tarentum, Urso und Irnibeschränken sich nicht auf die wortgleichen oder weithin wortgleichen Vorschriften. Parallelen sehen wir auch in den Vorschriften, die auf unterschiedliche Weise denselben Gegenstand regeln. So treffen die drei Stadtrechte Bestimmungen über Sicherheitsleistungen der Magistrate157, regeln Ursonensis und Irnitana Wahl und Pflichten von Gesandten158, 152 History of Ancient Pottery2 (1873) 472; siehe dazu auch A. 146. Ähnlich A. G. McKay, Houses, Villas and Palaces in the Roman World (1975) 197: „The tiles, one inch thick, were usualy rectangular, 16 by 12 inches (das sind etwa 400 mal 300 mm), and were provided with flanched sides“. 153 Zu den ländlichen Gebäudetypen vgl. Prell (cit. A. 137) 130 ff. mit weit. Lit. 154 Nach den genannten Maßen hätte dieses Haus eine Grundfläche von mindestens 439 (Ebert) oder 131 (Frank) oder 454 (Wilsdorf) oder 180 m2 (Birch) haben müssen. 155 H. Nissen, Italische Landeskunde (1902, Nachdr. 1967) II 2, S. 867 ff. 156 Plin. epist. 1. 19. 2. Nur diese Nachricht belegt, daß für den Dekurionat „vielfach … auch ein gewisser Census gefordert“ wird: Liebenam cit. 234 f. A. N. Sherwin-White, The Letters of Pliny, A Historical and Social Commentary (1966) 129, vermutet, daß der Census von 100.000 Sesterzen „may go back at least to the municipal reorganization initiated by Julius Caesar“. 157 Tar Kap. 2 ll. 7 – 14; Urs Kap. 13; Irn = Mal Kap. 60. 158 Urs Kap. 92; Irn Kap. 45.

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die Vereidigung der Schreiber159, die Kooptation eines Patrons160 und verbieten illegale Zusammenkünfte161. Die imitatio exempli ist hier nicht weniger manifest. Drei Beispiele werden das zeigen.

I. Tarentina, Ursonensis und das flavische Stadtrecht verlangen von ihren Magistraten Sicherheiten für den Fall, daß sie öffentliche Gelder unterschlagen, veruntreuen, jedenfalls nicht in gehöriger Weise verwalten; die Tarentina162 von den IIIIviri und den aediles, die Ursonensis163 von den IIviri, die Irnitana164 von den IIviri und den quaestores; als Sicherheit praedes und die Verpfändung von praedia. Im einzelnen gehen ihre Vorschriften auseinander. 1. In Kap. 2 der Tarentina sind Adressaten der Norm die Quattuorvirn und Ädile, die als erste unter der Lex Tarentina das Amt übernehmen: Lex Tarentina Kap. 2 IIIIvirei aedilesque, quei hac lege primei erunt, quei eorum Tarentum venerit, is in diebus XX proxumis, quibus post hanc legem datam primum Tarentum venerit, facito quei pro se praes stat praedes praediaque ad IIIIviros det quod satis sit, quae pequnia publica sacra religiosa eius municipi ad se in suo magistratu pervenerit, eam pequniam municipio Tarentino salvam recte esse futuram eiusque rei rationem redditurum ita, utei senatus censuerit. Isque IIIIvir, quoi ita praes dabitur, accipito idque in tabuleis publiceis scriptum sit facito.

Die Vorschrift geht davon aus, daß sie ortsfremd sind, nämlich in Tarentum nicht ansässig und offenbar von den Gründungskommissaren ernannt165. Sie sollen binnen 20 Tagen nach ihrer Ankunft in Tarentum dafür sorgen, daß praedes bestellt und praedia zum Pfande gegeben werden: Sicherheiten in ausreichendem Umfang, Urs. Kap. 81; Irn Kap. 73. Urs. Kap. 97; Irn. Kap. 61. 161 Urs. Kap. 106 (Fragment); Irn Kap. 74. 162 Tar Kap. 2 VIIII A 7. Nach Mommsen, Tar. 156 soll aedilesque ‚überflüssig‘ sein, sollen nämlich die Ädile an der ‚Kassenverwaltung‘ nicht beteiligt und darum auch nicht verpflichtet gewesen sein, Sicherheiten zu bestellen. 163 Urs Kap. 13 II A 2. 164 Irn Kap. 60 VII A 10. Die Tarentina sah vermutlich keine quaestores vor (vgl. Marquardt cit. I 167; Liebenam cit. 265). Die Ursonensis neben den IIviri offenbar nur aediles: Urs Kap. 62 VI C 11 ff. Da auch sie öffentliche Gelder in die Hand bekamen (Urs Kap. 71 VII A 20 – 29), liegt nahe, daß ihre Verpflichtung, Sicherheiten zu stellen, eigens geregelt war. Nach ihren Kompetenzen (Irn Kap. 19 III A 1 ff.; Kap. 83 IX A 48 ff.) hatten wahrscheinlich auch in Irni die Ädile öffentliche Gelder zu verwalten (anders Mommsen, Stadtrechte cit. 343; Marquardt cit. I 166); daß sie in Kap. 60 nicht genannt werden, soll darum nach Gonzáles cit. 217 auf Nachlässigkeit beruhen. Wir können der Frage hier nicht weiter nachgehen. 165 s. oben A. 129. Möglicherweise auch direkt von den Tributkomitien. 159 160

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die dafür einstehen und haften sollen, daß öffentliche und für Opfer und andere religiöse Zwecke bestimmte Gelder, die sie in ihrer Amtszeit einnehmen, unbeschadet bleiben, und daß sie über deren Verbleib in der Weise Rechnung legen, wie es die Dekurionen beschließen. Die Sicherheiten sollen den noch amtierenden Quatturvirn bestellt werden, die nach der vorausgehenden tarentinischen Verfassung gewählt oder ernannt worden waren166. Eigentümlich ist schließlich die Klausel facito q u e i p ro s e p r a e s s t a t praedes praediaque ad IIIIviros det. Von einem Dritten ist indessen nicht die Rede, der, selbst praes, die praedes stellen und die praedia zum Pfande geben sollte167. Mommsen168 hat auf Festus169 verwiesen, wo wir belehrt werden: Manceps dictur, qui quid a populo emit conducitve …: qui idem p r a e s dicitur, quia tam debet praestare populo, quod promisit, quam is, qui pro eo praes factus est. Es ist mithin der Quattuorvir selbst oder der Ädil, quei pro se praes stat170 – wobei offen bleiben kann, ob er sich eigens verpflichten mußte oder durch die Bestellung der Sicherheiten ohne weiteres auch selbst haftbar wurde. Wie die ersten mußten nach einer entsprechenden Vorschrift wohl auch die nachfolgenden Magistrate praedes praediaque haben stellen müssen. 2. In Kap. 13 der Lex Ursonensis sind gerade außer den ersten alle ihnen nachfolgenden Duumvirn Adressaten der Norm: Lex Ursonensis Kap. 13 Quicumque IIviri praefective in col(onia) Gen(etiva) Iul(ia) facti creatique erunt, ii duumviri, ante quam quisquam eorum magistratum inierit, praedes dato praediaque subsig[n]ato ad dumvir(os) praefectosve arbitratu decur(ionum), dum ne minus XXV adsint, cum ea res consulatur, quod eius pecuniae publicae colon(orum) colon(iae) G(enetivae) I(uliae) sibi datum traditum erit quodque exegerint acceperintve, id se IIvir(is) proxumis praefectisve, qui se sequentur, omne, arbitratu decurionu(m) quod eius extabit, s(ine) d(olo) m(alo) traditurum rationemque arbitratu eorum redditurum.

Wer in Urso zum Duumvir gewählt wird171, muß, bevor er das Amt antritt, praedes stellen und praedia verpfänden, und zwar den noch amtierenden Duumvirn oder ihren Vertretern, den Präfekten. Für die ersten, von Marc Anton172 oder seinen Vgl. oben IV. 1; Kornemann, Municipium cit. 587 ff. Crawford, Statutes cit. I 307: „he is to see that whoever is standing surety for him furish to a IIIIvir sureties and securities“. 168 Tar. cit. 157 mit A. 51. 169 P. 151 M. sub voce Manceps. 170 Mommsen, Tar. cit. 157: „etiam is ipse tenetur qui praedes praediaque publico dedit, id quod alibi significatur formula idem praes, hic diversa adhuc ignota quei pro se praes stat“. 171 Die disjunktive Verbindung IIviri praefective (in diesen und anderen Kasus) ist in der Ursonensis häufig und hier offenbar verfehlt vielleicht wegen dumviros praefectosvo in l. 4 und IIviris proxumis praefectisve in l. 7 / 8. Vgl. aber J. A. Correa Rodríguez in Caballos cit. 144 f. 172 s. oben I. 1. b). 166 167

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Kommissären ernannten Duumvirn konnte das nicht gelten. Ob sie überhaupt Sicherheit leisten mußten wie die ersten Quattuorvirn und Ädile in Tarentum oder wem sie praedes stellen und praedia verpfänden mußten, ist nicht auszumachen. Was an Sicherheiten zu bestellen war, bestimmten in Tarentum die amtierenden Quattuorvirn: in Urso entscheiden darüber die Dekurionen (praedes dato praediaque subsignato … arbitratu decurionum). Dieser – gegenüber Tarentum – nur unbedeutenden Erweiterung ihrer Kompetenz entspricht das für die Entscheidung erforderliche geringe Quorum von nur 25 Dekurionen173. Anders als in der Tarentina ist nur von ‚öffentlichen Geldern‘ die Rede, die den Kolonisten gehören, Geldern, von denen es allerdings ausführlicher heißt: die ihnen übergeben werden und die sie erheben oder erhalten (quod eius pecuniae publicae … sibi datum traditum erit quodque exegerint acceperintve). In Tarentum sollen diese Gelder ‚unbeschadet‘ bleiben; hier haften Bürgen und Pfänder dafür, daß sie den nachfolgenden Duumvirn oder deren Präfekten übergeben werden, und zwar restlos, soweit sie nach dem Urteil der Dekurionen noch vorhanden sein müssen. Zugleich sollen sie sicher stellen, daß der scheidende Duumvir nach Ermessen der Dekurionen über seine Verwaltung der Gelder Rechnung legt. Gegenüber der Tarentina sind die Anweisungen der Norm zum Teil differenzierter: so etwa werden praedes ‚gegeben‘ und praedia ‚verpfändet‘ und am Ende der Amtszeit sollen die öffentlichen Gelder dem Nachfolger überhändigt werden können, soweit sie nicht nach den Regeln einer ordentlichen Verwaltung verbraucht worden sind. Auffallender ist die Beteiligung der Dekurionen: nicht weniger als dreimal ist ihre Entscheidung verlangt. An dieser Einbindung lesen wir die Tendenz ab, mit Einfluß und Verantwortung die Machtstellung und das Ansehen des ordo decorionum auszubauen und zu festigen174. 3. Noch einmal verändert sich das Bild in der flavischen Munizipalordnung: Lex Irnitana / Lex Malacitana Kap. 60 Rubrica. Ut de pecunia communi municipum caveatur ab his, qui duumviratum quaesturamve petent. Qui in eo municipio IIviratum quaesturamve petent quique propterea, quod pauciorum nomine quam oporteret professio facta esset, nominatim in eam condicionem rediguntur, ut de his quoque suffragium ex hac lege ferri oporteat: quisque eorum, quo die comitia habebuntur, ante quam suffragium feratur arbitratu eius qui ea comitia habebit praedes in commune municipum dato pecuniam communem eorum, quam in honore suo tractaverit, salvam is fore. Si de ea re is praedibus minus cautum esse videbitur, praedia subsignato arbitratu eiusdem. Isque ab iis praedes praediaque sine dolo malo accipito, quoad recte cautum sit, uti quod recte factum esse volet. 173 s. die Übersicht bei Crawford, Statutes cit. I 399. Der ordo hatte wahrscheinlich 100 Ratsmitglieder. Vgl. auch Liebenam cit. 229. 174 Vgl. Liebenam cit. 247, 251.

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Per quem eorum, de quibus IIvirorum quaestorumve comitiis suffragium ferri oportebit, steterit, quo minus recte caveatur, eius qui comitia habebit rationem ne habeto.

Adressaten der Norm sind die Bewerber um das Duumvirat und die Quästur, außerdem die Kandidaten, die gegen ihren Willen nominiert worden sind, weil weniger qualifizierte Bewerbungen erfolgt waren, als Amtsstellen besetzt werden müssen175. Anders als in Urso müssen die Kandidaten in den flavischen Munizipien vor der Wahl Sicherheit leisten, und zwar am Tage der Wahlkomitien. In erster Linie müssen, wie aller Orten, Bürgen gestellt werden176. Sie versprechen der Bürgerschaft (praedes in commune municipum dato), dafür einzustehen, daß deren Gelder, die der Duumvir oder Quästor in seinem Amt verwalten müßte, unbeschadet bleiben: pecuniam communem eorum, quam in honore suo tractaverit, s a l v a m is fore. Mit dieser allgemeinen Formel kehrt das flavische Stadtrecht zu der älteren Fassung der Tarentina zurück. Wie die Tarentina läßt es auch den Magistrat über den Umfang der Sicherheitsleistung entscheiden (arbitratu eius qui ea comitia habebit praedres … dato). Wenn die Bürgschaften nicht ausreichen, soll nach seinem Ermessen der Kandidat noch praedia zum Pfande geben (si de ea re is praedibus minus cautum esse videbitur, praedia subsignato arbitratu eiusdem)177. Hier macht das Gesetz selbst deutlich, daß neben der Personal- die Sachhaftung nur Hilfsfunktion hatte178. Anders als in Tarent und Urso brauchen in Irni oder Malaca für Rechnungslegung die Bürgen offenbar nicht einzustehen; sie wird in Kap. 60 gar nicht erwähnt, sondern in Kap. 67 jedem zur Pflicht gemacht, der öffentliche Gelder in die Hand bekommt179. Abschließend trifft das Stadtrecht Vorsorge für den Fall, daß ein Kandidat keine ausreichende Sicherheit geleistet hat; ihn soll der die Wahl leitende Magistrat ‚nicht berücksichtigen‘: per quem … steterit, quo minus recte caveatur, eius qui comitia habebit rationem ne habito. Vielleicht sollte er ihn von der Liste der Kandidaten streichen, vielleicht aber auch, wenn er gewählt wurde, nicht als ‚ernannt und gewählt proklamieren‘; denn in Kap. 57 verfügt das Stadtrecht die Proklamation des Gewählten, ‚wenn er, wie das Gesetz vorschreibt, geschworen und wegen der öffentlichen Gelder Sicherheit geleistet hat‘: eum, cum hac lege iuraverit caveritque de pecunia communi, factum creatumque renunciato180. 175 Diese Zwangskandidatur ist in Mal = Irn Kap. 51 vorgesehen. Vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 315 f.; Spitzl cit. 32 ff.; González cit. 214 f. 176 D 46.5.7 Ulp 14 ed. Mommsen, Stadtrechte cit. 361 ff. 177 Wie die Bürgschaften sind auch diese Pfandrechte nicht die des ius civile, sondern Institute eigenen Rechts; vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 357 ff. 178 Vgl. etwa Kaser (cit A. 90) 457. 179 Vgl. Spitzl cit. 110 ff. 180 Das Verfahren war nur dann problemlos, wenn mehr geeignete Kandidaten zur Wahl standen, als Ämter zu besetzen waren. War das nicht der Fall, konnte jeder Kandidat, da praedes praediaque erst am Wahltag gestellt werden mußten, die Wahl unterlaufen, indem er keine oder nicht ausreichende Sicherheit leistete. Immerhin konnte, wer ohne sein Einverständnis oder gegen seinen Willen nominiert worden ist, auch seinerseits einen Kandidaten benennen,

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4. Bei allen Unterschieden gehen die Vorschriften der drei Stadtrechte in ihrem primären Gehalt überein. Es geht um die ordentliche Verwaltung öffentlicher Gelder durch die Magistrate. Sicherheiten sollen das Gemeinwesen vor Schaden bewahren. Kap. 12 der Lex Tarentina verpflichtet nur die ersten Amtsträger. Da sie ernannt werden und offenbar ortsfremde Persönlichkeiten vorgesehen waren, ist einsichtig, daß sie erst nach ihrer Bestellung und nach ihrer Ankunft in Tarent gehalten waren, die Sicherheiten zu bestellen, freilich binnen 20 Tagen. Was die Folgen waren, wenn sie dieser Verpflichtung nicht gehorchten, wissen wir nicht. Die Vorschriften der Ursonensis und der flavischen Munizipalordnung verpflichten gerade nicht die ersten, sondern alle nachfolgenden Amtsträger. Nach Kap. 13 der Lex Ursonensis mußten die Duumvirn nach ihren Wahl, aber vor Amtsantritt die Sicherheiten bestellen, nach Kap. 60 des flavischen Stadtrechts die Bewerber um das Duumvirat und die Quästur dagegen schon vor ihrer Wahl. Erfüllten sie diese Verpflichtung nicht, konnten sie in Urso ihr Amt nicht antreten und wurden sie in Irniund Malaca von der Wahlliste gestrichen oder, wenn sie gewählt wurden, nicht proklamiert. Die Sicherheiten sind in allen drei Stadtrechten praedes praediaque. In der Tarentina werden praedes und praedia unterschiedslos ‚gegeben‘ (dare), in den beiden anderen Stadtrechten dagegen nur die praedes ‚gegeben‘ (dare), die praedia dagegen ‚verpfändet‘ (subsignare). Nur das flavische Stadtrecht aber macht deutlich, daß die Sicherheit in erster Linie durch Bürgschaften zu erbringen ist. Praedes und praedia haften in der Tarentina dem municipium, in der Ursonensis und dem flavischen Stadtrecht dagegen den Stadtbürgern, dort den coloni coloniae, hier den municipes. Sie haften ihnen für den Fall, daß die ‚öffentlichen‘ oder ‚gemeinschaftlichen‘ Gelder (pecunia publica, pecunia communis) in der Hand der Amtsträger nicht ‚unbeschadet‘ bleiben (pecuniam salvam esse): so die Tarentina und wieder das flavische Stadtrecht; daß sie am Ende der Amtszeit, soweit sie nach regelrechter Verwaltung noch vorhanden sein müßten, den Nachfolgern nicht ausgehändigt werden können: so die Ursonensis. Eine letzte auffallende Differenz ist die Beteiligung der Dekurionen in der Lex Ursonensis. Sie verlangt dreimal deren Entscheidung auf Kosten der Zuständigkeit der Magistrate: die Dekurionen sollen den Umfang der Sicherheitsleistung bestimmen, den Betrag festsetzen, der an den Nachfolger auszuhändigen ist, und schließlich auch verfügen, ob der scheidende Magistrat über seine Verwaltung der öffentlichen Gelder Rechnung legen muß. Die nachhaltige Beteiligung der Dekurionen am Verfahren der Sicherheitsleistung auf Kosten der Magistratur war eine prinzipielle, eine politische Maßnahme. Durch und dieser wiederum einen dritten (Irn = Mal Kap. 51). Ihre Nomination mußte allerdings so rechtzeitig geschehen, daß der die Wahl leitende Magistrat ihre Eignung prüfen und ihre Namen proponieren, also öffentlich aushängen konnte. All das regelt Mal = Irn Kap. 51. Vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 316, 319; Spitzl cit. 32 ff.

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die Verlagerung von Verantwortung auf den ordo decurionum entlastete sie auch die Magistratur und trug vermutlich zur Festigung des Verfassungssystems bei. Sie könnte durch die eigentümliche soziale Struktur der colonia Genetiva Iulia veranlaßt worden sein. Denn Urso war bekanntlich eine Kolonie besitzloser Bürger der römischen Unterschicht, was den Gesetzgeber auch bestimmt hat, wie in anderen transmarinen Kolonien Caesars181, Freigelassenen den Zugang zu Dekurionat und Magistratur zu öffnen182. Im übrigen sind die sachlichen Unterschiede von geringer Bedeutung. Daß in der Tarentina Quattuorvirn und Ädile, in der Ursonensis Duumvirn und in der flavischen Munizipalordnung neben den Bewerbern um das Duumvirat und die Quästur auch die Zwangskandidaten Adressaten der Normen sind, entspricht, wie sich versteht, den unterschiedlichen Verfassungskonzepten der drei Stadtrechte. Wie die Tarentina und die flavische Munizipalordnung definieren, sollen praedes und praedia gewährleisten, daß die öffentlichen Gelder ‚unbeschadet‘ bleiben. Auf dasselbe läuft es hinaus, wenn die Ursonensis diese pauschale Zweckbestimmung in die konkrete Handlungsanweisung ausmünzt, daß der Duumvir die ihm übergebenen und von ihm erhobenen und nach regelrechter Verwaltung noch vorhandenen Gelder an seinen Nachfolger weitergeben soll. Während Tarentina und Ursonensis praedes und praedia nebeneinander nennen, erinnert die flavische Munizipalordnung an den althergebrachten Vorrang der Personalhaftung. Vielleicht war es ihre Absicht, mit ihrer ausdrücklichen Abstufung die neuen spanischen Munizipalbürger zu belehren. Einfluß der Theorie könnte es gewesen sein, wenn die Ursonensis und das flavische Stadtrecht nicht mehr, wie die Tarentina, von den öffentlichen Geldern des municipium, sondern der coloni coloniae und municipes sprechen. Die drei Vorschriften haben schließlich auch denselben sachlichen Aufbau. Außerdem ist ihre Syntax im großen ganzen dieselbe, und dieselben Schlüsselbegriffe geben den Vorschriften ihr Profil. Auch nach diesem Befund lagen der Kanzlei, als sie die Ursonensis abfaßte, die Tarentina vor, und als sie das flavische Stadtrecht ausformulierte, die beiden republikanischen Ordnungen.

II. 1. Die Lex Ursonensis und die flavische Munizipalordnung sehen für die Kooptation eines Patrons eigentümliche Verfahren vor, die Ursonensis eine mehrstufige Prozedur, das flavische Stadtrecht immerhin einen qualifizierten Beschluß der Dekurionen. Gleichwohl ist nicht zu bezweifeln, daß Kap. 61 der flavischen Munizipalordnung Kap. 97 der Lex Ursonensis nachgebildet ist: Siehe Marquardt cit. I 178 A. 3; Liebenam cit. 233 A. 4. Urs Kap. 105 VIII E 20 ff. und Kap. 101 VIII D 17 ff. Mommsen, Staatsrecht (cit. A. 32) III 452; Marquardt cit. I 178 mit A. 3; Liebenam cit. 233 mit A. 4; Crawford, Statutes cit. I 444, 446. Vgl. auch oben A. 8 und bei A. 140, 141. 181 182

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Lex Ursonensis Kap. 97 Ne quis IIvir neve quis pro potestate in ea colonia facito neve ad decuriones referto neve decurionum decretum facito fiat, quo quis colonis coloniae patronus sit atopteturve praeter eum, cui colonis agrorum dandorum atsignandorum ius ex lege Iulia est, eumque, qui eam coloniam deduxerit, liberos posterosque eorum, nisi de maioris partis decurionum quitum aderunt per tabellam sententia, cum non minus L aderunt, cum ea res consuletur. Qui atversus ea fecerit, HS ICC colonis eius coloniae dare damnas esto, eiusque pecuniae colonorum eius coloniae cui volet petitio esto. Lex Irnitana / Lex Malacitana Kap. 61 Ne quis patronum publice municipibus municipi Flavi Irnitani cooptato patrociniumve cui deferto, nisi ex maioris partis decurionum decreto, quod decretum factum erit, cum duae partes non minus adfuerint et iurati per tabellam sententiam tulerint. Qui aliter adversusve ea patronum publice municipibus municipii Flavi Irnitani cooptaverit patrociniumve cui detulerit, is HS X (milia) in publicum municipibus municipi Flavi Malacitani dare damnas esto, et is, qui adversus hanc legem patronus cooptatus cuive patrocinium delatum erit, ne magis ob eam rem patronus municipum municipii Flavi Irnitani esto.

2. Nach beiden Vorschriften entscheiden die Dekurionen über die Verleihung des Patronats. In Urso bringt der Duumvir oder wer sonst in der Kolonie über Amtsgewalt verfügt (quis pro potestate in ea colonia) die Sache vor den Gemeinderat und läßt die Dekurionen darüber abstimmen, ob die von ihm vorgeschlagene Person als Patron der Bürger Ursos adoptiert werden soll. Erhält sein Vorschlag die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, ist der Patronat beschlossen (decretum … quo quis colonis coloniae patronus sit atopteturve). Ob die Ernennung zum Patron von dem Ernannten, um wirksam zu sein, akzeptiert werden mußte, bleibt offen. Daß sie ihm überbracht werden mußte, versteht sich. Indessen verbietet die Ursonensis dem Duumvir, seinem Stellvertreter und wohl auch dem Ädil183, den ordo ohne weiteres mit einer Patronatsverleihung zu befassen (neve ad decuriones referto neve decurionum decretum facito fiat). Das Gesetz erlaubt ihm nur dann, eine Patronatsverleihung vor die Dekurionen zu bringen, wenn ein vorausgegangener Gemeinderatsbeschluß diesen Schritt zuläßt184. Dieser BeVgl. Urs Kap. 130 X B 39 und Kap. 131 X B 52. Für die Wahl eines römischen Senators oder des Sohnes eines Senators zum Patron oder ‚Gastfreund‘ der colonia Genetiva Iulia sehen (mit geänderten Qualifikationen) Urs Kap. 130 und 131 dasselbe zweistufige Verfahren vor. Vgl. Bruns, Erztafeln cit. 105 ff.; Mommsen, Urs. cit. 237 ff. 183 184

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schluß wird zwar mit einfacher Mehrheit, aber in geheimer Abstimmung, nämlich schriftlich gefaßt, und erfordert die Anwesenheit von mindestens 50 Dekurionen, vermutlich der Hälfte der Mitglieder des Gemeinderats (nisi de maioris partis decurionum qui tum aderunt per tabellam sententia cum non minus L aderunt, cum ea res consuletur). Offenbar war dieser Vorentscheid das Kernstück des ganzen Verfahrens. In der ‚Zweiten Lesung‘ ist kein Quorum erforderlich und für die Annahme des Vorschlags, wie schon gesagt, die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichend. Ausgenommen von dieser Voraussetzung sind nur der Gründer der Kolonie und seine Nachkommen sowie der Kommissar, der nach einer Lex Iulia ermächtigt ist, den Kolonisten ihr Stück Land zuzuweisen. Diese Personen konnten ohne den Vorentscheid für den Patronat vorgeschlagen und zu Patronen gewählt werden. Die zitierte Lex Iulia ist mit aller Wahrscheinlichkeit das Ackergesetz, das Caesar in seinem Konsulat im Jahre 59 v. Chr. eingebracht hat und das in Bruchstücken unter der Überschrift Lex Mamilia Roscia Perducaea Alliena Fabia überliefert ist185. Kap. 97 schließt mit einer Sanktionsklausel, die den Amtsträger, der gegen die Vorschrift verstößt, mit einer Mult von 5000 Sesterzen belegt, die jeder Bürger von Urso einklagen kann. 3. Das Zitat ex lege Iulia hat in den erhaltenen Teilen der Ursonensis keine Parallele. Darum wird nicht ausgeschlossen, daß Kap. 97 aus einem anderen Gesetz wortgetreu übernommen worden ist186. Diese Spekulation kann auf sich beruhen. Festen Grund hat dagegen die Beobachtung, daß die Prozedur der Ursonensis mit dem Verfahren der flavischen Munizipalordnung vergleichbar ist187. Wie in Urso entscheiden auch in den flavischen Munizipien die Dekurionen über die Verleihung des Patronats. Die doppelte Beschlußfassung des Gemeinderats, wie sie die Ursonensis vorsieht, hat das flavische Gesetz dagegen nicht übernommen. An die Stelle der ‚Zweiten Lesung‘ scheint die Kooptation des Patrons oder die Verleihung des Patronats im Namen der Stadt getreten zu sein, ohne daß gesagt wird, wer den Akt vornimmt (ne quis patronum publice municipibus municipi Flavi Irnitani cooptato patrociniumve deferto). Indessen verbietet das Gesetz unter Androhung einer Mult die Kooptation oder die Patronatsverleihung und er-

Vgl. oben III. 1. Crawford, Statutes cit. 397: „was taken over without adaption from the chapter in another charter dealing with patrons“. Als ein weiteres Indiz gilt „the form of wording“ der Sanktionsklausel (444). In der Ursonensis sind die Sanktionsklauseln keineswegs einheitlich. Zwar lauten sie ganz überwiegend HS … colonis coloniae Genetivae Iuliae dare damnas esto; doch Kap. 61: colonisque eius coloniae HS … dare damnas esto, und Kap. 92: HS … colonis huiusque coloniae dare damnas esto. Ohne Parallele ist eiusque pecuniae c o l o n o r u m e i u s c o l o n i a e cui volet; von Kap. 125 an haben die Sanktionsklauseln, aber wieder nicht ausnahmslos: eiusque pecuniae qui / cui e o r u m volet. 187 Spitzl cit. 78 spricht von „Parallelität des Verfahrens“; González cit. 218 von „obvious comparison“. 185 186

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klärt sie auch für unwirksam, wenn sie nicht durch einen vorausgegangenen qualifizierten Beschluß der Dekurionen gedeckt ist (nisi ex maioris partis decurionum decreto). In Wahrheit stand also die Kooptation den Dekurionen zu. Denn es ist ganz unwahrscheinlich, daß jener quis, von dem das Gesetz sagt, er kooptiere den Patron oder erteile den Patronat, die Rechtsmacht hat, die Kooptation noch zu verhindern188. Mit der ‚Zweiten Lesung‘ entfiel auch das Verbot, die Dekurionen mit der Wahl eines Patrons zu befassen, ohne daß ein vorausgegangener Beschluß des Gemeinderats diese Möglichkeit eröffnet hätte. Und da die Munizipalordnung einer bestehenden Gemeinde verliehen wurde, entfiel ebenso der Sonderstatus der von der Ursonensis privilegierten Personen. Der infolgedessen erheblich entlastete Text entspricht in Aufbau und Struktur Kap. 97 der Ursonensis. Dort ist das Gerüst des Textes: Ne quis … facito … referto … facito … nisi de maioris partis decurionum … sententia … Qui adversus ea fecerit HS … colonis eius coloniae dare damnas esto

In Kap. 61 der Irnitana: Ne quis … cooptato … deferto … nisi ex maioris partis decurionum decreto Qui aliter adversusve ea … cooptaverit … detulerit is HS … municipibus municipi Flavi Irnitani dare damnas esto

Für den maßgebenden Vorentscheid des Gemeinderats verlangt die Ursonensis die Anwesenheit von (mindestens) 50 Dekurionen, die Irnitana für den Beschluß des Gemeinderats die Anwesenheit von (mindestens) zwei Dritteln seiner Mitglieder. Hier wie dort wurde per tabellam abgestimmt, in Irniaußerdem unter Eid189. Anders als die Ursonensis sieht die Irnitana nicht die Popularklage vor190, erklärt aber, wie schon erwähnt, die adversus hanc legem – was nur heißen kann: ohne den Gemeinderatsbeschluß – erfolgte Patronatsverleihung für unwirksam191. In Urso könnte sich diese Sanktion allerdings von selbst verstanden haben. Die Klarheit der Struktur der irnitanischen Vorschrift, eine Folge des vereinfachten Verfahrens, wird schließlich noch gefördert durch die stereotype Fassung, die der flavische Gesetzgeber dem Gegenstand der Vorschrift, der Patronatsverleihung, gegeben hat. In dem kurzen Text kehrt dieselbe Wortgebung dreimal wieder: Vgl. dazu insbesondere Mommsen, Stadtrechte cit. 345 f. Vgl. J. G. Wolf, Iudex iuratus (cit. A. 56) 1102 ff. 190 Nach C. G. Bruns, Kleine Schriften (1882) I 332 A. 80 ist die Klausel eiusque pecuniae etc., mit der Kap. 74 VIII B 52 – C 2 schließt, ausgefallen. Vgl. auch Spitzl cit. 78. 191 Nach Mommsen, Stadtrechte cit. 345 „etwas Besonders in unserem Stadtrecht“. – Ne m a g i s ob eam rem …. esto ist nicht eindeutig. ‚Eher nicht‘ läge nahe, wäre aber mit der Anordnung eines Gesetzes kaum zu vereinbaren. 188 189

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Ne quis patronum publice municipibus municipi Flavi Irnitani cooptato patrociniumve cui deferto Qui ……. patronum publice municipibus municipi Flavi Irnitani cooptaverit patrociniumve cui detulerit Qui …… patronus cooptatus cuive patrocinium delatum erit.

Die – gegenüber der Ursonensis – veränderte Terminologie und die zweifache Bezeichnung desselben Vorgangs (patronum cooptare192 und patrocinium deferre), eine Art Synonymenhäufung193, reflektieren die fortschreitende Fachdiskussion, die Iteration der neuen Wortgebung die Absicht ihrer Typisierung. 4. Kap. 97 der Ursonensis diente dem flavischen Gesetzgeber als Vorlage für Kap. 61. Er hielt an der Verbotsform der Ursonensis fest und verfügte wie sie Sanktionen bei Verstößen. Er folgte der Vorlage, obwohl er das Verfahren der Patronatserteilung veränderte und die Terminologie wechselte. Die Vereinfachung des Verfahrens verkürzte zwar die Darstellung erheblich, hinderte aber nicht, Aufbau und Struktur der Vorlage akkurat zu übernehmen. Kap. 61 gewährt damit einen aufschlußreichen Einblick in die Praxis der Gesetzesredaktion. Die Vorlage behinderte keine Neuerung der Norm, wurde aber mit ihrem sachlichen Gehalt und in ihrer formalen Gestalt bewahrt, soweit es die Neuerung überhaupt zuließ.

III. 1. Ein wieder anderes Bild von der Redaktionsarbeit erhalten wir durch unser letztes Beispiel. Kap. 81 der Lex Ursonensis und Kap. 73 der flavischen Munizipalordnung regeln die Vereidigung der Gemeindeschreiber, deren Zuständigkeit die Buchführung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand war. In der Ursonensis sind die Duumvirn und die Ädile die Adressaten der Vorschrift, im flavischen Stadtrecht dagegen die Schreiber selbst: Lex Ursonensis Kap. 81 Quicumque IIviri aedilesve coloniae Iuliae erunt, ii scribis suis, qui pecuniam publicam colonorumque rationes scripturus erit, antequam tabulas publicas scribet tractetve in contione palam luci nundinis in forum ius iurandum adigito per Iovem deosque Penates ’sese pecuniam publicam eius coloniae concustoditurum rationesque veras habiturum esse, uti quod recte factum esse volet sine dolo malo, neque se fraudem per litteras facturum esse scientem dolo malo'. Uti quisque scriba ita iuraverit, in tabulas publicas referatur facito. Qui ita non iuraverit, is tabulas publicas ne scribito neve aes apparitorium mercedemque ob eam rem capitpo. 192 Zu dieser Terminologie vgl. Mommsen, Stadtrechte cit. 345. Patronum cooptare und patrocinium deferre kommen, soweit ich sehe, bei den Juristen nicht vor und sind auch sonst selten. 193 Siehe oben A. 86.

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Qui ius iurandum non adegerit, ei HS ICC multa esto, eiusque pecuniae cui volet petitio persecutioque ex hac lege esto. Lex Irnitana Kap. 73 Scribae, qui tabulas libros rationes communes in eo municipio scripturi ordinaturi erunt, duumviris apparento, quos decuriones conscriptive municipi eius pars maior probaverit, iique, antequam tabulas communes municipum suorum inspiciant aut quit in eas referant, quisque eorum iurato per Iovem et divom Augustum et divom Claudium et divom Vespasianum Augustum et divom Titum Augustum et genium imperatoris Caesaris Domitiani Augusti deosque Penates ’se tabulas communes municipium suorum fide bona scripturum neque se scientem dolo malo falsum in eas tabulas relaturum dolo malo, quod in eas referri oporteat, praetermissurum’. Qui ita non iuraverit is scriba ne esto. Quantum cuiusque generis apparitoribus aeris apparitori dari oporteat decuriones conscriptive constituunto. Quod ita constitutum erit, it IIviris ex communi pecunia municipum eius municipi erogare idque apparitoribus ita capere sine fraude sua liceto.

2. Die Ursonensis verpflichtet die Magistrate unter Androhung eines Bußgeldes, ihre Schreiber zu veranlassen oder gar zu nötigen, den Amtseid zu schwören (scribis suis … ius iurandum adigito194). Die Irnitana dagegen bringt die Duumvirn nur als die Dienstherrn ins Spiel, denen die Schreiber ‚gehorchen‘ sollen (duumviris apparento), und verpflichtet selbst die Schreiber, den Eid zu leisten (quisque eorum iurato). In Irniwie in Urso sollen sie den Eid leisten, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen: antequam tabulas publicas scribet tractetve verfügt prägnant die Ursonensis, umständlicher und wortreicher die Irnitana antequam tabulas communes municipum suorum inspiciant aut quit in eas referant. Wie zum Ausgleich fügt aber nur die Ursonensis die weiteren Modalitäten hinzu: daß sie den Eid ‚vor aller Welt, auf dem Forum und an einem Markttag‘ leisten sollen (in contione palam luci nundinis in forum195). In der Republik schwört der Schreiber bei Juppiter und den Penaten, unter dem Principat, gegen Ende des 1. Jhs. n. Chr., außerdem bei den vergötterten Kaisern Augustus, Claudius, Vespasian und Titus und dem Genius des regierenden Princeps196. Die Eidesformeln sind durchaus verschieden im Wortlaut, in ihrer Tragweite und Wirkung aber kaum. In Urso muß der Schreiber schwören: ‚die öffentlichen Gelder zu überwachen und die Rechnungsbücher unverfälscht zu halten‚ (sese pecuniam publicam eius coloniae concustoditurum rationesque veras habi194 ‚Ihre Schreiber selbst zu vereidigen‘ müßte, soweit ich sehe, mit dem Akk. ausgedrückt werden: scribas suos (ad) ius iurandum adigito. 195 Palam luci in forum … iouranto schon Lex Latina tabulae Bantinae 17 (Bruns, Fontes Nr. 9 S. 53 ff.). Irn Kap. 26 III B 40 / 41: in contione; Kap. 59 VII A 3: in contione palam. 196 Vgl. etwa Irn Kap. 25 III B 21 – 24; Kap. 26 III B 41 – 43.

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turum esse); in Irni: ‚die Rechnungsbücher redlich zu führen‘ (se tabulas communes municipum suorum fide bona scriturum); und weiter in Urso: ‚wissentlich und in böser Absicht keinen Betrug durch die Buchführung zu begehen‘ (neque se fraudem per litteras facturum esse scientem dolo malo197); konkreter und wieder wortreicher in Irni: ‚wissentlich und in böser Absicht nichts Falsches in die Rechnungsbücher einzutragen, und auch nicht in böser Absicht auszulassen, was eingetragen werden muß‘ (neque se scientem dolo malo falsum in eas tabulas relaturum dolo malo, quod in eas referri oporteat, praetermissurum)198. Beide Gesetze bestimmen, zum Teil wortgleich, daß nicht Schreiber sein kann, wer den Eid nicht leistet (qui ita non iuraverit, is tabulas publicas ne scribito: Ursonensis – is scriba ne esto: Irnitana). Die Ursonensis fügt hinzu, daß er in diesem Fall auch nicht das Gehalt eines Schreibers oder eine Entlohnung erhält (neve aes apparitorium mercedemque ob eam rem capito). In Kap. 62 regelt sie die Einkommen der apparitores und sieht für die Schreiber der Duumvirn ein Jahresgehalt von 1200 Sesterzen, der Ädile von 800 Sesterzen vor199; in Kap. 63 die Entlohnung (merces) der apparitores, die den ersten Duumvirn dienen, deren Amtszeit mit dem Ende des Jahres ihrer Ernennung ausläuft. Die flavische Munizipalordnung regelte ihre Besoldung offenbar nicht. Denn unvermittelt ordnet sie hier, in Kap. 73, an, was Gegenstand einer eigenen Rubrik hätte sein können: daß die Dekurionen das Gehalt der apparitores festsetzen sollen; und ermächtigt abschließend auch noch die Duumvirn, die beschlossenen Gehälter aus der Stadtkasse zu zahlen; und die apparitores, ihre Entlohnung ohne Schaden für sich (sine fraude sua) entgegen zu nehmen. Die Ursonensis schließt dagegen mit der Sanktionsklausel, die eine Buße von 5000 Sesterzen für den Magistrat verordnet, der seinen Schreiber zur Eidesleistung nicht hat bestimmen können200, und der Verfügung, daß jeder Bürger diese Mult einklagen kann. 3. Wir wissen, daß den Redaktoren der flavischen Munizipalordnung die Lex Ursonensis vorlag. Die wortgleichen Passagen (antequam tabulas und qui ita non iuraverit) sind gleichwohl minimal und kaum erwähnenswert. Das Hauptstück der Vorschrift, die Eidesleistung, ist in der Irnitana in Formulierung und Wortgebung völlig selbständig gegenüber der Ursonensis: in Absicht, Tragweite und Wirksamkeit unterscheiden sich die Darstellungen dagegen nicht. Wer den Eid nicht leistet, kann den Posten des Schreibers nicht einnehmen. In dieser Konsequenz gehen Ursonensis und Irnitana überein. Daß der Schreiber in diesem Fall auch nicht bezahlt 197 Vgl. Lex Tarentina Kap. 1 VIIII 3 / 4: neive p e r l i t t e r a s publicas fraudemve publicum peius facito und dazu Mommsen, Tar. cit. 147 A. 4 und Crawford, Statutes cit. I 309 ll. 3 – 4. 198 Die Eide der Schreiber korrespondieren mit der Beschreibung ihrer Aufgaben eingangs der Vorschriften. In Urso müssen sie ‚über die öffentlichen Gelder Buch führen und die Rechnungsbücher der coloni führen‘ (pecuniam publicam colonorumque rationes scripturus erit), in Irni ‚Archiv, Register und Rechnungsbücher der Stadt ordnen und führen‘ (tabulas libros rationes communes in eo municipio scripturi ordinaturi erunt). 199 Vgl. Mommsen, Urs. cit. 258 f. 200 Wohl hinzuzufügen: ihn aber gleichwohl die Schreiberdienste hat verrichten lassen. Vgl. auch oben A. 194.

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wird, verordnet ausdrücklich nur die Ursonensis201. Für die Redaktoren der flavischen Munizipalordnung könnte diese Bestimmung aber der Anlaß gewesen sein, das Thema zu wechseln und die Dekurionen zu verpflichten, die Besoldung der apparitores zu beschließen, und zwar aller apparitores, nicht nur der scribae. Und schließlich auch noch die Duumvirn zu ermächtigen, die beschlossenen Bezüge aus der Stadtkasse zu zahlen. Ebenso überraschend ist eingangs der Vorschrift die Verpflichtung der scribae, den Duumvirn zu gehorchen. In dieser Allgemeinheit hat sie so wenig mit deren Vereidigung zu tun, wie die Verpflichtung der Dekurionen und die Ermächtigung der Duumvirn. Sucht man eine Erklärung, so könnte auch sie in der Ursonensis gefunden werden: nämlich in der Anweisung der Duumvirn und Ädile, ihre Schreiber den Amtseid schwören zu lassen202. Mit dieser Anweisung korrespondiert die Sanktionsklausel am Ende der Vorschrift. Kap. 81 der Ursonensis ist sozusagen aus einem Guß. Die Vorschrift ist übersichtlich konzipiert, konsequent durchgebildet und klar im Ausdruck. Anders Kap. 73 der flavischen Munizipalordnung. Es zerfällt in drei Anweisungen: Zunächst werden die scribae angewiesen, den Duumvirn zu gehorchen, sodann den Amtseid zu schwören, schließlich die Dekurionen, die Besoldung der apparitores zu regeln. Dieses heterogene Konglomerat von Vorschriften ist möglicherweise die Folge einer sachlichen Änderung: der Verpflichtung nicht mehr der Magistrate, ihre Schreiber den Amtseid schwören zu lassen, was die Ursonensis vorsieht, sondern der Schreiber selbst; und außerdem des Umstandes, daß die flavische Munizipalordnung nicht, wie die Ursonensis, die Besoldung der apparitores auch mit ihren Beträgen vorschrieb. Jene Änderung zeitigte die Verpflichtung der scribae, den Duumvirn zu gehorchen, dieser Umstand die Verpflichtung der Dekurionen, die Besoldung der apparitores zu regeln. Treffen diese Vermutungen zu, so beobachten wir in dieser Vorschrift des flavischen Stadtrechts eine imitatio exempli, die sich durch die Vorlage auch da noch bestimmen läßt, wo sie in der Sache eigene Wege geht. Im übrigen zogen die Redaktoren der flavischen Munizipalordnung dem knappen Gesetzesstil der Ursonensis, jedenfalls gelegentlich, eine ausführlichere, fast narrative Gesetzessprache vor. Dem prägnanten antequam tabulas publicas scribet tractetve der Ursonensis gaben sie die konkretere und handlichere, damit aber auch engere Fassung antequam tabulas communes municipum suorum inspiciant aut quit in eas referant; und dem formelhaften neque se fraudem per litteras facturum esse den Tatbestand neque se … falsum in eas tabulas relaturum … quod in eas referri oporteat praetermissurum.

201 Die Vorschrift setzt offenbar voraus, daß die Anstellung als Schreiber erfolgte, bevor die Eidesleistung verlangt wurde. 202 Die Gedankenbrücke könnte die Vorstellung gewesen sein, daß die scribae der Anweisung der Duumvirn folgen müßten, den Amtseid zu leisten.

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§ 5. Rückblick 1. Oftmals ist vermutet worden, daß auch die Statuten der Provinzstädte, ob Kolonien oder Munizipien, Bürgerstädte oder Städte latinischen Rechts, in Rom verfaßt wurden. Diese nahe liegende Vermutung, die im übrigen der zentralistischen Reichspolitik entspricht, wird durch unsere Untersuchung gestützt. Wenn es ein Archiv der ergangenen Gesetze gab, dann in Rom. Und die Verfasser der römischen Stadtrechte Spaniens hatten dieses Archiv offenbar zur Hand. Die auffälligsten Anleihen, auf die unsere Untersuchung sich beschränken mußte, dokumentieren, daß sie für die Lex coloniae Iuliae Genetivae von Caesars Lex agraria203 und der noch einmal um 20 Jahre älteren Lex municipii Tarentini204 Gebrauch gemacht haben; und, 100 Jahre später, für das flavische Stadtrecht jedenfalls von der Lex Ursonensis. 2. Von älteren Gesetzen Gebrauch gemacht haben die Redaktoren auf vielfältige Weise. Wir haben grob die ‚wörtliche‘ von der ‚strukturellen imitatio‘. unterschieden. Die ‚wörtliche imitatio‘ ist nicht in striktem Sinne zu verstehen; denn daß eine Vorschrift völlig unverändert übernommen wurde, kam, soweit wir sehen, nicht vor. Die Vorschrift in Kap. 54 der Lex agraria ist allgemein gefaßt, weil sie für alle Kolonien, Munizipien und Wohnflecken im Geltungsbereich dieses Gesetzes galt; in Kap. 104 der Lex Ursonensis ist sie auf die ausschließliche Geltung in Urso zugeschnitten205. – Die Vorschrift in Kap. 5 der Lex municipii Tarenti ist in Kap. 77 der Lex Ursonensis lediglich auf die Duumviralverfassung umgestellt; in Kap. 82 der Lex Irnitana dagegen, wo sie ein drittes Mal wiederkehrt, ist auch der Normgehalt verändert, so insbesondere die Entscheidung, die in Tarent und Urso der Magistrat trifft, den Dekurionen vorbehalten206. – Kap. 4 der Lex Tarentina, Kap. 75 der Lex Ursonensis und Kap. 62 der Lex Irnitana verbieten gleichermaßen den Abriß eines Hauses in der Stadt, bestimmen aber die Bereiche des Stadtgebiets, für die das Verbot galt, unterschiedlich; ebenso die Ausnahmen, die sie zulassen, die Sicherheit die sie fordern, und die Sanktionen, die sie vorsehen207. – Kap. 3 der Lex Tarentina und Kap. 14 der Lex Ursonensis treffen Bestimmungen über die Residenzpflicht. Ihre Vorschriften gehen indessen weit auseinander. So etwa verpflicht die Tarentina nur den Dekurio, aber jedweden Dekurio; die Ursonensis dagegen den Dekurio und den Bürger, aber nur den Dekurio, der bei der Gründung der Kolonie ernannt, und den Bürger, der im Zuge der Gründung nach Urso geführt worden ist. Bei aller Divergenz läßt uns die formale Übereinstimmung in Syntax und Wortgebrauch nicht zweifeln, daß Kap. 14 der Lex Ursonensis nach Kap. 3 der Lex Tarentina oder beide nach derselben Vorlage komponiert sind208.

Parallelen sehen wir auch in den Vorschriften, die denselben Gegenstand zwar auf unterschiedliche Weise regeln, die aber denselben sachlichen Aufbau haben, 203 204 205 206 207 208

Siehe o. § 3 I. 1. Siehe o. § 3 II. 1. Siehe o. § 3 I. 3. Siehe o. § 3 II. 3 und 4. Siehe o. § 3 III., insb. 5. Siehe o. § 3 IV.

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deren Syntax im großen ganzen dieselbe ist und denen dieselben Schlüsselbegriffe ihr Profil geben. Bei diesem Befund sprechen wir von ‚struktureller imitatio‘. In unserem ersten Beispiel gehen die Vorschriften in Kap. 2 der Lex Tarentina, Kap. 13 der Lex Ursonensis und Kap. 60 der flavischen Munizipalordnung in ihrem primären Gehalt überein: sie verlangen übereinstimmend, daß die Magistrate Sicherheit leisten für den Fall, daß sie öffentliche Gelder nicht in gehöriger Weise und mit Schaden für das Gemeinwesen verwalten; im Einzelnen aber gehen sie auseinander. So in der Verpflichtung nur der ersten oder nur der nachfolgenden Amtsträger; in der Bestellung der Sicherheit erst nach Amtsantritt oder schon vor der Wahl oder zwar nach der Wahl, aber vor Amtsantritt; und auch in der Beteiligung der Dekurionen am Verfahren der Sicherheitsleistung209. – Für die Kooptation eines Patrons sehen die Vorschriften in Kap. 97 der Lex Ursonensis und Kap. 61 der Lex Irnitana jeweils eigentümliche Verfahren vor. Aber wieder ist nicht zweifelhaft, daß dem flavischen Gesetzgeber auch hier die Ursonensis als Vorlage diente: obwohl er das Verfahren änderte und die Terminologie wechselte, hat er Aufbau und Struktur der Vorlage akkurat übernommen210. – Das dritte Beispiel ist besonders komplex. Die Vorschriften in Kap. 81 der Lex Ursonensis und Kap. 73 der Lex Irnitana regeln die Vereidigung der Gemeindeschreiber. Die Vorschrift der Ursonensis ist aus einem Guß, die der Irnitana dagegen ein Konglomerat heterogener Bestimmungen. Anlaß dieser Divergenz war vermutlich die Verpflichtung der Schreiber selbst, den Amtseid zu schwören, und nicht mehr, was die Ursonensis vorsieht, der Magistrate, ihre Schreiber den Eid schwören zu lassen. Offensichtlich ließ sich hier der flavische Gesetzgeber durch die Vorlage auch da noch bestimmen, wo er in der Sache eigene, neue Wege ging211.

3. Schließlich ist daran zu erinnern, daß die Ordnung der Lex Irnitana einem klaren Konzept folgt212, während die Abfolge der Vorschriften und Regeln in der Lex Ursonensis ein rationales System nicht erkennen lassen213. Soweit wir urteilen können, repräsentiert die Lex Irnitana aber keine neue Art der Gesetzgebung; sie zeigt lediglich die Absicht einer übersichtlichen Ordnung des weithin gleichen Materials. Die wenigen überlieferten Kapitel der Lex Iulia agraria Caesars zeugen auch nicht von einer konsequent durchdachten Ordnung, lassen aber ein weiteres Urteil nicht zu214. Ähnliches gilt von dem erhaltenen Textstück der Lex Tarentina215. 4. Die Fassung der untersuchten Vorschriften ist, unbesehen ihrer Herkunft, überwiegend klar und präzise. Tatbestände und Rechtsfolgen sind weithin differenziert und unmißverständlich dargestellt und konzis formuliert. Wo die Darstellung ausführlicher ist, beugt sie offenbar Mißverständnissen vor216; und wo sie umständlich wirkt oder gar konfus ist217, hat das seinen eigenen Grund. Durch weitere Untersu209 210 211 212 213 214 215 216

Siehe o. § 4 I., insb. 4. Siehe o. § 4 II. Siehe o. § 4 III. Siehe o. § 2 I. Siehe o. § 2 II. Siehe o. § 3 I. 2. Siehe o. § 3 II. 2. Wie in Kap. 62 der Lex Irnitana, siehe o. § 3 III. 4.

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chungen können gewiß spezifischere und damit auch verläßlichere Kriterien gewonnen werden. 5. Wenn die untersuchten Beispiele repräsentativ sind, dann ist – über das durchweg befolgte dreigliedrige Verfassungsmodell comitia, ordo decurionum, magistratus hinaus – Kontinuität ein Kennzeichen der römischen Stadtrechtsgesetzgebung. Der Entwurf eines neuen Stadtrechts begann, wie sich versteht, mit der Sichtung des vorhandenen einschlägigen Materials: der ergangenen geltenden oder auch schon obsoleten Stadtrechte. Aber es blieb nicht bei Sichtung und Orientierung. Vorschriften, die nach wie vor zweckmäßig und brauchbar erschienen, wurden mehr oder weniger verändert übernommen, andere als Vorlage auch dann noch genutzt, wenn man ihre Regelung verwarf und neue Wege ging.

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Wie in Kap. 73 der Lex Irnitana, siehe o. § 4 III. 3.

Irni vor der Irnitana* I. Zur Einführung Das flavische Stadtrecht ist Irni in der ersten Hälfte der neunziger Jahre verliehen worden. Die Eckdaten1 sind der 18. September 96, der Todestag Domitians, der in der Lex Irnitana durchweg als regierender Kaiser angeführt wird2, und das Schreiben Domitians3, das am 10. Oktober 91 in Irni verlesen4 und bald darauf als Anhang der Irnitana auf der letzten der zehn Bronzetafeln, die das Stadtrecht ausfüllt, eingeschlagen worden ist; denn die Irnitana selbst heißt die Duumvirn, das Stadtrecht primo quoque tempore, sobald wie möglich, in Erz schlagen zu lassen und die Tafeln am belebtesten Ort der Stadt aufzustellen5. Wie Plinius berichtet6, hat Vespasian ganz Spanien das ius Latii erteilt: Universae Hispaniae Vespasianus Imperator Augustus … Latium tribuit7. Spanien hatte sich im Bürgerkrieg auf seine Seite gestellt, und vielleicht wollte er mit dieser Privilegie-

* Mit dem Namen des Verfassers werden zitiert: H. Galsterer, Untersuchungen zum römischen Städtewesen auf der iberischen Halbinsel, Madrider Forschungen VIII (Berlin 1971); La loi municipal des Romains: chimère ou réalité?, in: RH 65 (1987) 181 – 203; F. Fernandez Gomez / M. Del amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su conrexto arqueologico (1990); J. González, The Lex Irnitana: A New Copy of the Flavian Municipal Law, JRS 76 (1986) 147 – 238; F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (1993); W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche (1900. Nachdr. 1967); M. Luik, Der schwierige Weg zur Weltmacht, Roms Eroberung der Iberischen Halbinsel 218 – 19 v. Chr. (2005); J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I (1884), II3 (1881), III2 (1885), I-III Nachdr. 1957); Th. Mommsen, Die Stadtrechte der latinischen Gemeinden Salpensa und Malaca, Gesammelte Schriften 1. Bd. (1905. Nachdr. 1965) 265 – 382; Th. Spitzl, Lex municipii Malacitani (1984). 1 Galsterer (1987) 186. 2 Siehe etwa cap. 24 III B 9 – 11; 25 III B 23 / 4; 26 III B 42 / 3; 45 V B 34; 59 VII A 4 / 5; 69 VIII A 20; 73 VIII B 38; 79 VIII C 55 / 6. 3 X C 33 – 41. Das Schreiben ist am 9. April 91 in Circei, wo eine kaiserliche Villa war (Martial. 11. 7), abgefaßt worden. Die Version auf der Bronze ist ohne Adressat und offenbar verkürzt. Die Zeitspanne von einem halben Jahr bis zur Publikation in Irni am 10. Oktober 91 erklärt weniger der erhebliche Seeweg als vielmehr die Verleihung des Stadtrechts offenbar durch eine Kommission, die von Ort zu Ort reiste: Sabora wurde 78 flavisches municipium, Salpensa Anfang der achtziger Jahre und wenig später (nach Galsterer [1971] 38 schon 82 / 83 n. Chr.) Malaca. 4 Nach Gonzales 238 in der curia in Rom. 5 Cap. 95. 6 Plin. n. h. 3. 30. 7 Latium steht, metonymisch, für ius Latii.

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rung diesen Beistand vergelten. Eine Reihe von Inschriften der folgenden Jahre legen nahe, daß die Gewährung des ius Latii in Vespasians und seines Sohnes Titus Censur anläßlich der Reichsschätzung im Jahre 74 erfolgt ist8. Das Edikt hatte für die Peregrinen Spaniens keine unmittelbaren Folgen9: es änderte ihren personenrechtlichen Status nicht ohne weiteres; denn der Schluß auf ein autonomes, dem Bürgerrecht entsprechendes ‚latinisches Personalrecht‘, das man erwogen hat, wäre verfehlt10. Zu vermuten ist vielmehr, daß Vespasian den spanischen peregrinen Gemeinden das ius Latii zugesprochen hat, sein Edikt mithin nicht personen-, sondern städterechtliche Bestimmungen traf11. Nach dieser Hypothese hätten Irni und seine peregrinen Schwesterstädte schon mit der Privilegierung des Jahres 74 und nicht erst mit dem flavischen Stadtrecht zu Beginn der neunziger Jahre latinischen Status und wohl auch städterechtliche Institutionen erhalten. Indessen braucht dies nicht Hypothese zu bleiben. Denn daß die Verfassungslage der durch Vespasians Edikt privilegierten Gemeinden wirklich so war, bezeugt unwiderleglich die Lex Irnitana selbst. Ihrem Zeugnis wenden wir uns jetzt zu. Als Irni das flavische Stadtrecht erteilt wurde, hatte das Gemeinwesen am Rio Corbones schon die der römischen Stadtverfassung eigentümlichen konstitutiven Einrichtungen: die üblichen Magistraturen und den Gemeinderat. Denn die Lex Irnitana unterscheidet die duumviri, aediles, quaestores und decuriones, die bei Einführung der Lex im Amt waren, von den Stadtmagistraten und Dekurionen, die nach ihren Vorschriften in das Amt erst noch zu wählen waren.

8 Weyand, Flavius Nr. 206 (Vespasianus), RE 6 (1909) 2659, dort, 2660, auch die Inschriften; Flavius Nr. 207 (Titus), RE 6 (1909) 2713 / 14. Schon im Jahre 72 / 3 wird Titus censor genannt (Dessau I 260). Im Jahre 76 nennen sich die Bürger des flavischen municipium Minuga: beneficio imp. Caesaris Aug. Vespasiani c(ivitatem) R(omanam) c(onsecuti) cum suis per honorem Vespasiano VI cos. (Dessau I 1981). Den Namen der verstorbenen Caesares Augusti Vespasianus und Titus fügen Inschriften des flavischen municipium Munigua (CIL 2. 1050 und 1049 = Dessau I 256) nur den Titel censor hinzu: Divo Caesari Aug. Vespasiano, censori, municipium Munigense d. d., L. Aelius Fronto dedicavit. – Galsterer (1987) 196: „probablement pendant sa censure de 73 / 74 apr. J.-C., ou on tout cas avant 75.“ 9 Die Gewährung des ius Latii wird durch Edikt erfolgt sein. Das Edikt war die Hauptform, in der die Kaiser als magistratus populi Romani Recht setzten. 10 Nach H. Braunert, Ius Latii in den Stadtrechten von Salpensa und Malaca, Corolla memoriae E. Swoboda dedicata (1966) 68 ff., hätten die Peregrinen Spaniens von Vespasian „als Angehörige einer personenrechtlichen Gemeinschaft einen eigenen personenrechtlichen Status“ erhalten (76). Ablehnend Galsterer 38 – 44; H. Wolff, Chiron 6 (1976) 281 A. 28; A. N. Sherwin-White, The Roman Citizenship (2. Aufl. 1973) 378 f.; Spitzl 3 ff. Von einem ‚latinischen Personalrecht‘, einer allgemeinen civitas Latina weiß die Überlieferung nichts. 11 Gai 1. 95: Alia causa est eorum, qui Latii iure cum liberis suis ad civitatem Romanam perveniunt: nam horum in potestate fiunt liberi. Quod ius quibusdam peregrinis civitatibus datum est vel a populo Romano vel a senatu vel a Caesare. – Vgl. Mommsen, Römische Geschichte V 66.

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II. Die Zeugnisse 1. Kapitel 19 der Lex Irnitana (III A) listet die Zuständigkeiten der Ädile auf: 1 AEDILES · QUI · IN · EO · MUNICIPIO · EX · EDICTO · IMP · VESPASANI · CAESARIS · AUG · INPVE 2 T · CAESARIS · VESPASIANI · AUG · AUT · IMP · CAESARIS · DOMITIANI · AUG · CREATI · SUNT 3 ET · IN · EA · AEDILITATE · NUNC · SUNT · II · AEDILES · AD · EAM · DIEM · I · IN · QUAM · CREATI · SUNT 4 QUIQUE · IBI · POSTEA · HL · AEDILES · CREATI · ERUNT · AD . EAM · DIEM · IN · QUAM · CREATI . ERUNT 5 AEDILES MUNICIPII · FLAVI IRNITANI · SUNTO · ANNONAM · AEDES · SACRAS · LOCA 6 SACRA · RELIGIOSA · OPPIDUM · VIAS · VICOS · CLOACAS · BALINEA · MACELLUM · PONDERA 7 MENSURAS · EXIGENDI · AEQUANDI · VIGILIAS · CUM · RES DESIDERABIT · EXIGENDI 8 ET · SI · QUIT · PRAETER · EA · DECURIONES · CONSCRIPTISVE · AEDILIBUS · FACIENDUM · ESSE 9 CENSUERINT · EAS · RES · OMNES · CURANDI · FACIENDI · ITEM · PIGNUS · CAPIENDI A 10 MUNICIPIBUS · INCOLISQUE · IN · HOMINES · DIESQUE · SINGULOS · QUOD · SIT · NON · PLU 11 RIS · QUAM · HS · X · NUMMORUM · ITEM · MULTAM · DICENDI · DAMNUM · DANDI · EISDEM 12 DUM · TAXAT · IN · HOMINES · DIESQUE · SINGULOS · HS V · NUMMOS IUS · POTESTATEMQUE 13 HABENTO · EISQUE · AEDILIBUS · QUIQUE · POSTEA · HAC · LEGE · CREATI · ERUNT DE IS · REBUS 14 ET · INTER · EOS · DE · QUIBUS · ET · INTER · QUOS · DUMVIRORUM · IURIS · DICTIO · ERIT · AT 15 HS · CC · IURISDICTIO · IUDICIS · RECIPERATORUMQUE · DATIO · ADDICTIO · ITA · UT · H · L · 16 16 LICEBIT · ESTO ·

a) Der Katalog beginnt in Zeile 5 mit ANNONAM und endet zunächst in den Zeilen 12 / 13 mit IUS POTESTATEMQUE HABENTO. Danach setzt der Text erneut an und erteilt, herausgehoben in einem eigenen Satz (Z. 13 – 16), den Ädilen auch Gerichtsbarkeit. Eingangs (Z. 1 – 5) und noch einmal mit Beginn des letzten Satzes (Z. 13), der die Gerichtsbarkeit der Ädile normiert, wird ausgeführt, daß die aufgelisteten Kompetenzen und die Gerichtsbarkeit wie den hac lege gewählten, so auch den Ädilen zustehen, die vor der Verleihung des Stadtrechts ihr Amt angetreten haben und bei der Verleihung noch in ihrem Amt waren; und daß die einen wie die anderen bis zum Ablauf der Fristen in ihrem Amt bleiben, für die sie gewählt worden sind. b) Die Irnitana begnügt sich nicht damit, die bei der Verleihung des Stadtrechts amtierenden Ädile und die nach den Regeln dieses Stadtrechts gewählten Ädile

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gleich zu stellen, indem sie den einen wie den anderen dieselben Zuständigkeiten einräumt: sie beschreibt und definiert sie auch nach den rechtlichen Grundlagen ihrer Bestellung. Von den bei der Stadtrechtsverleihung amtierenden Ädilen sagt sie: in eo municipio ex edicto Imp Vespasani Caesaris Aug Impve T Caesaris Vespasiani Aug aut Imp Caesaris Domitiani Aug creati sunt: in diesem Munizipium sind sie gemäß einem Edikt Vespasians oder des Titus oder Domitians bestellt worden; von den nach den Regeln des Stadtrechts bestellten Ädilen dagegen: ibi postea hac lege aediles creati erunt: dort, in eo municipio, werden sie später, nach der Verleihung des Stadtrechts, nach den Vorschriften der Irnitana gewählt worden sein. Die Definition der postea bestellten Ädile versteht sich ohne weiteres. Aber auch die Definition der vor der Stadtrechtsverleihung bestellten Ädile gibt uns keine Rätsel auf. Nach allem, was überliefert ist, kann das Edikt, aufgrund dessen vor der Stadtrechtsverleihung die Ädile bestellt worden sind, nur das Edikt des Jahres 74 sein, mit dem Vespasian, allein oder gemeinsam mit seinem Sohn Titus12, ‚ganz Spanien‘ das ‚latinische Recht‘ erteilt hat13. Vespasian und Titus bekleideten die Censur gleichzeitig. Und wenn die Gewährung des ius Latii anläßlich der Reichsschätzung erfolgt ist, so liegt nahe, daß sie in beider Namen erfolgt ist. Auch die Irnitana liefert ein Argument zugunsten dieser Annahme. Wie Galsterer schon in der Lex Salpensana beobachtet hat14, verbindet der Text Vespasian und Titus mit angehängtem -ve: ex edicto Imp Vespasani Caesaris Aug I m p v e T Caesaris Vespasiani Aug; den so verbundenen Vespasian und Titus wird dagegen Domitian mit aut hinzugefügt: a u t Imp Caesaris Domitiani Aug. Während a u t ausschließend unterscheidet und darum Vespasian und Titus von Domitian strikt getrennt gesehen werden müssen, sodaß entweder Vespasian und Titus das Edikt erlassen haben oder aber Domitian – während aut diese Bedeutung hat, verbindet -ve Vespasian und Titus derart, daß gleichgültig ist, wer von beiden das Edikt erlassen hat, und daß darum auch beide das Edikt erlassen haben können. Daß Domitian überhaupt neben Vespasian und Titus in der Irnitana und schon in der Salpensana genannt wird, entspricht offenbar den autokratischen Neigungen Domitians, unter dessen Herrschaft beide Stadtrechte verliehen worden sind15. c) Nach diesen Überlegungen dürfen wir davon ausgehen, daß Vespasian, vielleicht zusammen mit seinem Sohn Titus, das ius Latii den peregrinen Gemeinden Spaniens gewährt hat und daß sein Edikt städterechtliche Institutionen vorsah. 2. a) Das Edikt sah neben Ädilen auch Quästoren vor. Wie Kapitel 19 die Zuständigkeiten der Ädile auflistet, so verzeichnet Kap. 20 (III A) die der Quästoren. Und wie dort die bei der Einführung des flavischen Stadtrechts amtierenden und die nach den Regeln dieses Stadtrechts in Zukunft zu wählenden Ädile unterschieden 12 13 14 15

Vgl. R. Weigels, Hermes 1978, 196; Gonzales 201. Gonzales 201. Galsterer (1971) 38 A. 13 und 16 am Text der Kap. 22 und 23 der Lex Salpensana. Gonzales 201.

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werden, so werden auch hier von den amtierenden die in Zukunft zu wählenden Quästoren unterschieden; wie dort aber die Ädile, so hier auch die Quästoren in ihren Zuständigkeiten gleich gestellt. 1 R · DE · IURE · ET · POTESTATE · QUAESTORUM 2 QUAESTORES · QUI EX · EDICTO · DECRETO · IUSSU · IMP · CAESARIS · VESPASIANI · AUG 3 IMPVE · TITI · CAESARIS · VESPASIANI · AUG · AUT · IMP · CAESARIS · DOMITIANI · AUG · AN 4 TE · HANC · LEGEM · CREATI · SUNT · ERUNT · IN · EA · QUAESTURA · SUNTO · AT · EAM · DIEM 5 AT · QUAM · CREATI · SUNT · QUAESTORES · ITEM · QUI · H · L · CREATI ERUNT · AT · EAM · DIEM 6 AT · QUAM · CREATI · ERUNT · QUAESTORES · SUNTO · EISQUE · PECUNIAM · COMMUNEM 7 MUNICIPUM · EIUS · MUNICIPII · EXIGENDI · EROGANDI · CUSTODIENDI · AT · MINIS 8 TRANDI · DISPENSANDI · ARBITRATUM · IIVIRORUM · IUS · POTESTASQUE · ESTO · EIS 9 QUE · SERVOS · COMMUNES · MUNICIPUM · EIUS · MUNICIPI · QUI · IS · APPAREANT 10 IN · EO · MUNICIPIO · SECUM · HABERE · LICETO . DUM · NE · QUIT · EORUM · OMNIUM · 11 QUAE · S · S · S · ADVERSUS · LEGES · PLEBIS · SCITA · SENATUS · CONSULTA · EDICTA · DECRE 12 TA · CONSTITUTIONES · DIVI · AUG · TIVE · IULI · CAESARIS · AUG · TIVE · CLAUDI · CAESARIS 13 AUG · IMPVE · GALBAE · CAESARIS · AUG · IMPVE · VESPASIANI · CAESARIS · AUG · IMP 14 VE · TITI · CAESARIS · VESPASIANI · AUG · IMPVE · CAESARIS · DOMITIANI · AUG · PONTIF 15 MAX · P · P · FIAT · IUS · POTESTATSQUE · ESTO

b) Wie Kapitel 19 die Ädile so beschreibt und definiert eingangs auch Kapitel 20 die Quästoren nach den rechtlichen Grundlagen ihrer Bestellung16. So auffällig die beiden Kapitel in ihren ersten Teilen einander entsprechen: ihre Darstellungen dekken sich nicht. Zwar sind die Sätze ähnlich strukturiert, auch das Wortmaterial ist weithin dasselbe und manche Formulierungen sind identisch: die Abweichungen sind gleichwohl auffällig und nicht unbedeutend. Während Kapitel 19 von den Ädilen spricht, die in eo municipio bestellt worden sind, spricht Kapitel 20 allgemein von Quästoren, die bestellt worden sind und bestellt worden sein werden17. Sie sollen nicht wie die Ädile ex edicto, sondern ex edicto decreto iussu der Kaiser Vespasian, Titus oder Domitian bestellt worden sein

16 17

IRN cap. 20 l. 2 – 6. IRN cap. 20 l. 2 – 4.

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und bestellt werden. Iussum ist ‚der konkrete Befehl‘ oder ‚die Ermächtigung‘, decretum im 1. Jahrhundert noch durchweg ‚das richterliche Urteil‘. Daß in der Form eines iussum oder decretum ganz Spanien das ius Latii zugesprochen und ebenso allgemein die Einrichtung von städterechtlichen Institutionen wie der aedilitas und der quaestura in den privilegierten Gemeinden vorgeschrieben wurde, ist durchaus unwahrscheinlich. Ex edicto decreto iussu war offenbar eine Formel, die unbedacht eingesetzt wurde. Ebenso unbedacht ist das Prädikat des Relativsatzes Quaestores, qui … ante hanc legem creati sunt e r u n t , quaestores sunto. War das Stadttrecht dem Gemeinwesen Irni einmal verliehen, dann mußten wie die Ädile, so auch die Quästoren nach dessen Regeln bestellt werden. Die genaue Angabe der Zeitverhältnisse ist dem Lateinischen eigen und die Häufung sunt erunt gerade in den Stadtrechten anzutreffen18, hier aber, in Kapitel 20, ist sie eindeutig fehl am Platze. Die Sanktionsklausel des letzten Satzes in Kapitel 20 ist ohne Gegenstück in Kapitel 19. Nehmen wir noch hinzu, daß viermal at für ad und einmal auch quit für quid steht19, so ist vollends kaum zu bezweifeln, daß Kapitel 20, trotz einer gleichen Regelung, mit Kapitel 19 nicht abgeglichen und vermutlich nach einer anderen Vorlage ohne angemessene Überlegung abgefaßt worden ist. Der Vergleich der beiden Kapitel gibt uns darum auch einen Eindruck von der – nach unseren Maßstäben – großen Sorglosigkeit, mit der Gesetze wie das Stadtrecht von Irni komponiert wurden. Für unsere Untersuchung bleibt indessen im Vordergrund, daß in Irni schon ante hanc legem auch Quästoren amtierten. 3. a) Von der 2. Tafel der Lex Irnitana sind aus dem Bereich der 3. Kolumne wenige kleine Bruchstücke erhalten. Die Textteile, die sie überliefern, sind Fragmente von Kapitel 18. Sie lassen den Schluß zu, daß Kapitel 18 die Kompetenzen der duumviri normierte20, und die Vermutung, daß die bei der Einführung des Stadtrechts amtierenden duumviri und die in Zukunft nach den Regeln des Stadtrechts zu wählenden duumviri zwar unterschieden, in ihren Zuständigkeiten aber gleich gestellt wurden. b) Diese Vermutung wird bestärkt durch die ersten sechs erhaltenen Zeilen von Kapitel 50 (V C)21: 1 R. UT · II · VIR · IURI · DICUNDO · CURIAS · D · T · XI · CONSTITUANT22 2 II · VIRI · IURI · DICUNDO · QUI · PRIMUM · IN · MUNICIPIO · FLAVIO · IRNI 3 TANO · ERUNT · IN DIEBUS · LXXXX · PROXIMIS · QUIBUS · HAC · LEGE · IN

18 Etwa IRN cap. 21 tab. III A 40; cap. 28 tab. III C 12. – Lex Rubria Cap. XXI tab. 2. 4, 14; XXII tab. 2. 27; XXIII tab. 2. 54. – Tabulae Heracleensis 20. – Lex Iulia municipalis 111. 19 IRN cap. 20 l. 4 / 5 und 5 / 6: at eam diem at quam creati sunt / erunt. – l. 10: dum ne quit eorum omnium. Vgl. V. Väänänen, Introduction au latin vulgaire (Paris 1981) 69 unter Nr. 131. 20 F. Fernández Gómez u. a. 35 – 38. 21 Mit den ersten 6 Zeilen von Kapitel 50 endet die 3. Kolumne der 5. Tafel. Die Tafel 6 ist nicht erhalten. 22 D(UM) T(AXAT).

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4 IT · MUNICIPIUM · PER · LATA · ERIT · CURANTO · UTI · ARBITRATU · MAIIO 5 RIS · PARTIS · DECURIONUM · CUM · DUAE · PARTES · NON MINUS · DECU 6 RIONUM · ADERUNT · CURIAE · CONSTITUANTUR · …

Das Kapitel verpflichtet die duumviri, die als Erste dieses Amt in municipio Flavio Irnitano bekleiden werden, in den ersten 90 Tagen nach Einführung des Stadtrechts mit Zustimmung der Mehrheit der Dekurionen curiae einzurichten23. Die ersten Duumvirn in municipio Flavio Irnitano waren die duumviri, die ante hanc legem bestellt worden sind und bei der Verleihung des Stadtrechts amtierten. Mit aller Wahrscheinlichkeit muß der Text so verstanden werden24. c) Diese Vermutung wird schließlich zur Gewißheit durch Kapitel 52 der Lex Malacitana, mit dem, wie wir annehmen dürfen, Kapitel 52 der Lex Irnitana wortgleich war: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

R. DE COMITIIS HABENDIS EX IIVIRIS QUI NUNC SUNT, ITEM EX IS, QUI DEINCEPS IN EO MUNICIPIO IIVIRI ERUNT, UTER MAIOR NATU ERIT, AUT SI EI CAUSA QU AE INCIDERIT QUO MINUS COMITIA HABERE POS SIT TUM ALTER EX HIS COMITIA IIVIRIS ITEM AEDILIBUS ITEM QUAESTORIBUS ROGANDIS SUBROGANDIS HAC LEGE HABETO. UTIQUE EA DIS TRIBUTIONE CURIARUM DE QUA SUPRA CON PREHENSUM EST SUFFRAGIA FERRI DEBE BUNT ITA PER TABELLAM FERANTUR FACITO. QUIQUE ITA CREATI ERUNT II ANNUM UNUM AUT SI IN ALTERIUS LOCUM CREATI ERUNT RELIQUA PARTE EIIUS ANNI IN EO HONORE SUNTO QUEM SUFFRAGIS ERUNT CONSECUTI.

Die Duumvirn, Ädile und Quästoren wurden in den Komitien auf ein Jahr gewählt; abgestimmt wurde in den curiae und per tabellam. Die Wahlkomitien mußten von einem duumvir einberufen werden, und zwar von dem nach Lebensjahren älteren der beiden; der jüngere war nur dann befugt, wenn der ältere verhindert war. Das Kapitel spricht nicht unterschiedslos von den duumviri, sondern unterscheidet, wie uns mittlerweile geläufig, die vor der Verleihung des Stadtrechts bestellten und zur Zeit der Verleihung amtierenden duumviri und die post hanc legem künftighin nach den Regeln des Stadtrechts zu bestellenden duumviri25: Ex IIviris qui nunc sunt, item ex is, qui deinceps in eo municipio IIviri erunt26. Kein Zweifel also, daß in Irni schon vor der Einführung des flavischen Stadtrechts neben Ädilen und Quästoren auch Duumvirn die Gemeinde regierten. 23

Die curiae waren Stimmabteilungen in den Komitien. Siehe MAL cap. 52, 53, 55, 56,

57. 24 25 26

González 214; Lamberti 78 – 83. Spitzl 37. Die Formulierung qui nunc sunt auch in Irn cap. 19 l. 1 / 3: Aediles qui … nunc sunt …

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4. Wenn es noch eines weiteren Beweises bedürfte, so lieferte ihn Kapitel 26 (III B) der Irnitana: 1 R. · DE · IURE · IURANDO · IIVIRORUM · ET · AEDILIUM · ET · QUAESTORUM 2 IIVIRI · QUI · IN · EO · MUNICIPIO · IURI · DICUNDO · PRAEsUNT · ITEM · AEDILES · QUI · IN · EO 3 MUNICIPIO · SUNT · ITEM · QUAESTORES · QUI · IN · EO · MUNICIPIO · SUNT · EORUM · QUIS 4 QUE · IN · DIEBUS · QUINQUE · PROXIMIS · POST · HANC · LEGEM · DATAM · QUIQUE · IIVIRI 5 AEDILES · QUAESTORESQUE · POSTEA · EX · H · L · CREATI · ERUNT · EORUM · QUISQUE · IN 6 DIEBUS · QUINQUE · PROXIMIS · EX · QUO · IIVIRI · AEDILIS · QUAESTOR · ESSE · COEPE 7 RIT · PRIUSQUAM · DECURIONES · CONSCRIPTIVE · HABEANTUR · IURATO · IN · CON 8 TIONE · PER · IOVEM · ET · DIVOM · AUG · ET · DIVUM · CLAUDIUM · ET · DIVOM · VESPASI 9 ANUM · AUG · ET · DIVOM · TITUM · AUG · ET · GENIUM · IMP · CAESARIS · DOMITIANI 10 AUG · DEOSQUE · PENATIS · … ·

a) In diesem Kapitel bestimmt das Gesetz, daß die Duumvirn, Ädile und Quästoren, die vor der Verleihung des Stadtrechts bestellt worden und bei der Verleihung im Amt sind, in diebus quinque proximis post hanc legem datam: binnen fünf Tagen nach der Verleihung des Stadtrechts den Amtseid in contione: öffentlich ablegen müssen; und ebenso die Duumvirn, Ädile und Quästoren, die postea ex hac lege creati erunt: die nach Verleihung des Stadtrechts gewählt werden, binnen fünf Tagen nach Amtsantritt27. Die Frist verkürzt sich, wenn vor Ablauf der fünf Tage die Ratsversammlung tagen soll: bevor sie einberufen werden kann, muß der Magistrat den Eid geleistet haben: priusquam decuriones conscriptive habeantur iurato in contione. b) Da dieses Limit auch für die Duumvirn, Ädile und Quästoren gilt, die vor der Verleihung des Stadtrechts bestellt worden sind, scheint diese Begrenzung vorauszusetzen, daß vor der Stadtrechtsverleihung Irni nicht nur die genannten drei Magistraturen, sondern auch schon decuriones conscriptive hatte. Bei dieser Vermutung muß es nicht bleiben. 5. Kapitel 31 (III C) der Lex Irnitana läßt uns wissen, daß schon ante hanc legem rogatam Irni eine Ratsversammlung von 63 Dekurionen hatte: 1 R · DE · CONVOCANDIS · EDICTO · DECURIONIBUS · AT SUBLEGENDOS DECURIONES 2 QUO · ANNO · PAUCORES · IN · EO · MUNICIPIO · DECURIONES · CONSCRIPTIVE · QUAM 27

Mommsen 320. Was sie schwören müssen, wird im weiteren Text ausgeführt.

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3 LXIII · QUOD · ANTE · H · L · ROGATAM · IURE · MORE · EIUS · MUNICIPI · FUERUNT · NISI · SI · EO 4 ANNO · IAM · ERIT · FACTA · DECURIONUM · CONSCRIPTORUMVE · LECTIO · SUBLEC 5 TIO · QUI · EO · ANNO · DUUMVIRI · I. · D. · PRAERUNTI · AMBO · ALTERVE · EORUM · PRI 6 MO · QUOQUE · TEMPORE · UTI · QUOD · RECTE · FACTUM · ESSE · VELINT · AD · DECURI 7 ONES · CONSCRIPTOSVE · CUM · EORUM · PARTES · NON · MINUS · QUAM · DUAE · TER 8 TIAE · ADERUNT · REFERTO · QUO · DIE · PLACEAT · LEGI · SUBLEGI · SUBSTITUIVE · EOS 9 QUIBUS · ALLECTIS · AD · NUMERUM · DECURIONUM · CONSCRIPTORUMVE 10 IN · EO · MUNICIPIO · DECURIONES · CONSCRIPTIVE · FUTURI · SINT · LXIII · QUOD · AN 11 TE · H · L · ROGATAM · IURE · MORE · EIUS · MUNICIPI · FUERUNT …………

a) Thema dieses Kapitels ist die Nachwahl von Dekurionen. Irnis Ratsversammlung hatte 63 Sitze. Blieb die Zahl der Dekurionen dahinter zurück28, mußten, um die volle Zahl von 63 Dekurionen zu erreichen, unverzüglich Nachwahlen stattfinden – sofern in dem laufenden Jahr noch keine Nachwahl stattgefunden hatte29. Die Prozedur begann damit, daß die Duumvirn die Ratsversammlung befragten, an welchem Tag die Nachwahl erfolgen sollte, und wurde mit der Bestimmung des Wahltages fortgesetzt; eine Frist von 30 Tagen mußte gewahrt werden und geschäftsfreie sowie Fest- und Feiertage waren ausgeschlossen30. b) Die Zahl von 63 Dekurionen ist nicht neues, mit der Lex Irnitana eingeführtes Recht, sondern galt in Irni iure more: nach Recht und Sitte schon vor der Stadtrechtsverleihung: LXIII quod ante hanc legem rogatam iure more eius municipi fuerunt. Siehe D 50.2.2 pr. Ulp 1 disp. In der Rubrik ist nur von sublegere die Rede. Lectio sublectio in Zeile 44 und legi sublegi substituive sind offenbar – wieder unbedacht – übernommene Formeln. Vgl. Gonzáles 208 zu l. 48. 30 Was in den Zeilen 11 bis 20 vorgeschrieben wird: 11 te · h · l · rogatam · iure · more · eius · municipi · fuerunt . quique · cum · ad 12 eos · de · ea · re · relatum · erit · primo · quoque · tempore · diem · ei · rei · dum · ne 13 ex · his · diebus · per · quos · ut · res · in · eo · municipio · prolatae · sint · futurum 14 erit · quive · dies · propter · venerationem · domus · augustae · festi · feria 15 rumve · numero · erunt · neve · eum · quicquam · xxx · dies ab · eo · die · quo · de 16 e · r · decernetur · futurum · erit · proximum · quem · que · quo · die · ius · fie 17 ri · poterit · ab · eo · xxx · die · destinanto · de · quo · die · maiior · pars · eorum 18 censerit · iiviri · ambo · alterve · eorum · primo · quoque · tempore · fcito 19 ++c · uti · eo · die · decuriones · conscriptive · quicumque · per · aetatem González 158 und Lamberti 288 lesen am Ende von Zeile 18 GITO und ergänzen zu AGITO; die Bronze hat FCITO, nicht auszuschließen FGITO. In Zeile 19 ergänzen Gonzáles und Lamberti ITA. Zu lesen ist mit einiger Sicherheit nur ein C. 28 29

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6. a) Die Verbindung von ius und mos führt zu weiteren Überlegungen. Sie könnte nämlich bedeuten, daß die Grundlage dieser rechtlichen, als ius anerkannten Regelung nicht ein legislatorischer Akt, etwa ein kaiserlicher Erlaß war, sondern daß Herkommen und Gewohnheit ihre Grundlage waren31. In diesem Fall liegt die Vermutung nahe, daß Irni längst vor dem vespasianischen Edikt stadtrechtliche Strukturen hatte, römischen Munizipalverfassungen vielleicht nachgebildet. Für diese Möglichkeit können auch die Kapitel 30 (III C) und 21 (III A) angeführt werden. In beiden Kapiteln sind die Dekurionen die Protagonisten. In beiden Kapiteln aber werden vor den decuriones zunächst senatores genannt. b) In Kapitel 30 wird eigens festgestellt, daß die senatores und decuriones, die vor der Stadtrechtsverleihung, sowie die decuriones die nach der Stadtrechtsverleihung in ihr Amt gewählt worden sind, Dekurionen optimo iure optumaque lege sind, wie die Dekurionen jedes anderen latinischen Munizipiums32: 1 R. DECURIONUM · CONSCRIPTORUMVE · CONSTITUTIO 2 QUI · SENATORES · PROVE · SENATORIBUS · DECURIONES · CONSCRIPTIVE · PROVE · DE 3 CURIONIBUS · CONSCRIPTISVE · FUERUNT · IN · MUNICIPIO · FLAVIO · IRNITANI 4 QUIQUE · POSTEA · EX. H · L · LECTI · SUBLECTIVE · ERUNT · IN · NUMERO · DECURIONUM 5 CONSCRIPTORUMVE · QUI · EORUM · OMNIUM · EX · HAC · LEGE · DECURIONES · CON 6 SCRIPTIVE · ESSE · DEBEBUNT · DECURIONES · CONSCRIPTVE · MUNICIPI · FLAVI · IRNI 7 TANI · SUNTO · UTIQUE · OPTIMO · IURE · OPTUMAQUE · LEGE · CUIUSQUE · MUNICIPI 8 LATINI · DECURIONES · CONSCRIPTIVE · SUNT

Es ist nicht zu übersehen, daß die vor der Stadtrechtsverleihung bestellten Stadträte auch senatores genannt wurden, die hac lege gewählten dagegen ausschließlich decuriones, und daß sie alle, senatores und decuriones, gleichermaßen decuriones des flavischen Munizipiums Irni sind und zwar decuriones optimo iure optumaque lege. Die Lex Irnitana hat die offenbar ältere und ersichtlich nach stadtrömischem Vorbild herkömmliche Bezeichnung senatores unabänderlich aufgegeben. c) Von senatores spricht sie nur noch da, wo der Sachzusammenhang es erfordert. Weil die vor der Stadtrechtsverleihung bestellten senatores den hac lege gewählten decuriones gleichstehen, sieht Kapitel 21 vor, daß senatores und decuriones, die zu Magistraten gewählt worden sind, mit dem Ablauf ihrer Amtszeit zusammen mit einer Reihe von nahen Verwandten die civitas Romana erwerben33: Vgl. F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Erster Abschnitt (1988) 501 / 2. Vgl. González 207; Lamberti 38 / 9. 33 Zur umstrittenen Interpretation dieses Kapitel siehe González 202 / 3; zu der Einschränkung des letzten Satzes (l. 7 / 8) insbesondere Lamberti 26 – 32. 31 32

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1 R. · QUAE · AD · MODUM · CIVITATEM · ROMANAM · IN · EO · MUNICIPIO · CONSEQUANTUR 2 QUI · EX · SENATORIBUS · DECURIONIBUS · CONSCRIPTISVE · MUNICIPII · FLAVI · IRNITA 3 NI · MAGISTRATUS · UTI · H · L · CONPREHENSUM · EST · CREATI · SUNT · ERUNT · II · CUM · EO 4 HONORE · ABIERINT · CUM . PARENTIBUS · CONIUGIBUSQUE · AC · LIBERIS · QUI · LEGITI 5 MIS · NUPTIS · QUAESITI · IN · POTESTATE · PARENTIUM · FUERUNT · ITEM · NEPOTIBUS 6 AC · NEPTIBUS FILIO · NATIS · QUI · QUAEVE · IN · POTESTATE · PARENTIUM · FUERUNT 7 CIVES · ROMANI · SUNTO · DUM · NE · PLURES · CIVES · ROMANI · SINT · QUAM · QUOD 8 EX · H · L · MAGISTRATUS · CREARI · OPORTET ·

d) Die Ratsversammlung hatte verschiedene Namen. Sie wurde ordo genannt oder ordo decurionum oder curia oder auch decuriones34; nach dem Vorbild der römischen Stadtverfassung war ihr ältester Name aber senatus und der seiner Mitglieder senatores35. So nennt die Lex Iulia Heracleensis von 45 v. Chr. die Ratsversammlung durchweg senatus36 und ihre Mitglieder meistens zwar decuriones, zweimal aber auch senatores37. In Kapitel 30 ist deutlich, daß die Lex Irnitana den Namen senator für den Stadtrat aufgegeben hat und die Stadträte nur noch decuriones nennt. Andererseits ist nach den Klauseln senatores prove senatoribus decuriones conscriptive prove decurionibus conscriptisve in Kapitel 30 und ex senatoribus decurionibus conscriptisve in Kapitel 21 zu vermuten, daß Irni längst vor dem vespasianischen Edikt der frühen siebziger Jahre einen Gemeinderat hatte, der wohl nach dem Vorbild der nicht wenigen römischen Kolonien und Munizipien in der Baetica senatus und dessen Mitglieder senatores genannt wurden. Dieser Vermutung entspricht die Überlieferung, daß die iberischen Gemeinwesen von einer Ratsversammlung regiert und verwaltet wurden, deren Mitglieder Livius senatores nennt38. Diese Hypothese und die Überlieferung, daß Irnis Ratversammlung die ungewöhnliche, durch Sitte und Herkommen gefestigte Zahl von 63 Dekurionen hatte39, ergänzen sich zu einem kohärenten Bild. J. Marquardt I 183. Mommsen, Römisches Staatsrecht III 1 (4. Aufl. Nachdr. 1952) 722; B. Kübler, Decurio, RE 4 (1901) 2319 – 2322; W. Liebenam 226: „Senatus heißt in den latinischen Orten, weiterhin auch sonst häufig, hie und da ausschließlich, der städtische Rat, seine Glieder senatores …“. 36 Lex Iulia municipalis (Tabulae Heracleensis) 86, 105, 109, 128, 131, 133, 135. 37 Lex Iulia municipalis 87, 96. 38 Liv. 34. 17. 7: Quod ubi consuli renuntiatum est, s e n a t o r e s o m n i u m c i v i t a t i u m ad se vocari iussit … 39 Mommsen, Römisches Staatsrecht III 1 (4. Aufl. Nachdr. 1952) 842; Marquardt I 184 mit A. 1; Liebenam 229; B. Kübler, Decurio, RE 4 (1901) 2323 / 4; R. Duncan-Jones, The Economy of the Roman Empire (1974, 1977) 283 / 4, 286 Table 8; J. Nicols, On the Standard Size 34 35

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III. Der historische Kontext 1. Als Irni im Jahre – sagen wir – 95 n. Chr. das flavische Stadtrecht verliehen wurde40, waren seit der Landung der Römer in Spanien mehr als 300 Jahre vergangen. Im September des Jahres 218 v. Chr. ging Cnaeus Cornelius Scipio Calvus41 mit einer Legion Soldaten bei Emporiae42 (Ampurias) an Land, einer griechischen Gründung, weit im Norden der Ostküste, wo die Pyrenäen das Mittelmeer erreichen. Unverzüglich brachte er einen Küstenstreifen wohl bis hinunter zur Mündung des Ebro unter seine Kontrolle, noch bevor die Legion das Winterquartier in Tarraco (Tarragona) bezog43. Der demnächst gesicherte Küstenstreifen war auf Jahre hinaus Stütz- und Ausgangspunkt aller kriegerischen Expeditionen nach Süden entlang der Küste und nach Westen in das Landesinnere. Irni war tief im Süden Spaniens, im Siedlungsgebiet der iberischen Turdetaner44, die das westliche Andalusien bis zum Mittellauf des Baetis45 (Guadalquivir) bevölkerten. Die Ortschaft lag in 500 Meter Höhe auf einem Bergrücken, den im Westen und Süden der Rio Corbones umfloß, in dessen Tal der Bergrücken unüberwindlich steil abfiel. Von Irni bis zum nächsten Küstenpunkt, wenig westlich von Malaca (Malaga), waren es etwa 60, nach Norden bis Urso (Osuna) etwa 30 Kilometer46. Das Siedlungsgebiet der Turdetaner gehörte zur Zeit der römischen Invasion zum gesicherten Machtbereich Karthagos. Er umfaßte den Süden der Halbinsel vom äußersten Osten der Südküste bis zur Mündung des Tagus (Tajo) in den Ocean. Die Karthager aber waren nicht die ersten Fremden, für die Spanien und insbesondere der Süden der Halbinsel ein lohnendes Ziel war. of the Ordo decurionum, in: SZ 105 (1988) 712 – 719: die verbreitete Annahme, 100 Dekurionen sei der ‚Standard‘ gewesen, beruhe „on very little evidence“ (718); auch nach González 208 „the apparent regularity of 100 or 30 is clearly a delusion“. 40 Siehe oben bei A. 1. 41 W. Henze, Cornelius 345, RE 4 (1900) 1491 / 2. 42 E. Hübner, Emporiae, RE 5 (1905) 2527 / 30. 43 Liv. 21. 60. A. Schulten, Hispania, RE 8 (1913) 2034; J. Seibert, Hannibal (1993) 131 – 134; M. Luik 24 / 5. 44 A. Schulten, Turdetaner, RE 7 A (1948) 1378 / 80. 45 E. Hübner, Baetis, RE 2 (1896) 2763 / 4. 46 Die Koordinaten werden mit 37° 01' 40'' N., 5° 06' 40'' angegeben. Wie man den Siedlungsplatz erreicht, beschreiben F. Fernandez Gomez u. a. 13: (übersetzt) ‚Um zum Fundort (der Bronzetafeln) zu gelangen, muß man von El Saucejo die Straße nach Algamitas nehmen. Man folgt ihr bis zur Brücke über den Rio Corbones (bei 5, 5 km). Bevor man ihn überquert nimmt man den Fahrweg, der linker Hand abgeht, vorbei an einem Arbeitshaus. Er führt in das Vado-Yeso. Danach folgt man dem Corbones flußaufwärts bis man zu dem Las Arrizas genannten Berg gelangt. Dort liegt die alte römische Stadt, wo die Bronzetafeln gefunden worden sind und wo, zweifelsfrei, früher eine einheimische Ansiedlung war; dafür machen Beweis die dort gefundenen Keramikscherben, die mit den typischen Streifen verziert sind. … Der Fundort befindet sich in einer außergewöhnlichen Lage: auf einem 500 Meter hohen Berg, den der Corbones, 400 Meter tiefer, umfließt und der nur von einer Seite über einen steilen Abhang zugänglich ist.‘

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2. Lebhaften Handel müssen schon die Mykener mit den Iberern betrieben haben, wie hier und dort deutlich fassbare Spuren mykenischer Einwirkung auf die iberische Kultur, auf Schmuck und Keramik, Denkmäler und Kultus, bezeugen. Der Reichtum Spaniens an Metallen war in der alten Welt unvergleichlich47, und es wird vor allem sein Gold und Silber, sein Kupfer und Zinn gewesen sein, das die mykenischen und, nach ihnen, die phönizischen und griechischen Kaufleute angezogen hat. Mit dem Niedergang der mykenischen Dynastien, ihren Lebensformen und ihrer Kultur noch vor 1000 v. Chr. erstarb auch der Seehandel und mit ihm jeder Einfluß auf die iberischen Partner. 3. Nicht lange währte es, da erschienen vor Spaniens Küsten die Phönizier, die ersten Kolonisten, die, wie vor ihnen die Mykener, von den iberischen Volksstämmen offen empfangen wurden. Gades48 (Cadiz) war ihre bedeutendste, aber nur eine von vielen Gründungen. Östlich der Meerenge reihten sich die phönizischen Niederlassungen von Carteia49 bis Abdera50: Cerro de Villar, Malaca, Toscanos, Moro de Mezquitilla und Sexi. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts nahmen auch die Griechen am Handel mit Spanien teil; zu Niederlassungen aber entschließen sie sich erst seit dem frühen 6. Jahrhundert. Es sind die Phokäer, die jetzt Emporiae (Ampurias) gründen und bald, von Messalia (Marseille) aus, in nächster Nachbarschaft Rhodae (Roses) und demnächst weiter im Süden an der Mündung des Sucro gleich drei Faktoreien; ihre südlichste Niederlassung war Mainake51 östlich von Malaca, an der Mündung des Velez, gegründet für den Umschlag der Waren, die auf dem Landwege von Tartessos52 kamen. Das eigentliche Einzugsgebiet der Phokäer war die nördliche Ostküste Spaniens und ihr weites Hinterland, das durch die Flußtäler des Ebro und Sucro leicht zugänglich war. Der Einfluß der griechischen Kolonisatoren auf die Kulturen der iberischen Volksstämme war im ganzen ungleich geringer als der der Phönizier. Aber auch die phönizische Ära fand ihr Ende. 4. Seit dem späteren 6. Jahrhundert drängte der karthagische Imperialismus in das westliche Mittelmeer. Im Laufe des 5. Jahrhunderts erreichte die punische Expansion Spanien und überlagerte oder unterdrückte nach und nach alle phönizische Wirksamkeit und damit auch deren Einwirkung auf die iberischen Kulturen. Die Karthager waren die ersten Fremden, die als Eroberer kamen und eine regelrechte Territorialherrschaft anstrebten und einrichteten – allerdings mit der Folge fortwährender kriegerischer Konflikte mit den iberischen Volksstämmen. Der Kernbereich ihrer Herrschaft war der befriedete Süden, der bald einen bedeutenden wirtschaftlichen und bewußt geförderten kulturellen Aufschwung erfuhr. Seine größte AusdehA. Schulten, Hispania, RE 8 (1913) 2004 – 2008. E. Hübner, Gades, RE 7 (1910) 439 – 461. 49 E. Hübner, Carteia, RE 3 (1899) 1617 – 1620. 50 E. Hübner, Abdera Nr. 2, RE 1 (1893) 23. 51 A. Schulten, Mainake, RE 14 (1928) 575. 52 E. Hübner, Gades, RE 7 (1910) 439 / 40; A. Schulten, Tartessos, RE 4 A (1932) 2446 – 2451. 47 48

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nung erreichte das Herrschaftsgebiet der Karthager, nach offenbar erheblichen Rückschlägen, im 3. Jahrhundert durch die großen Barkiden53: durch Hamilkar Barkas, der in harten Kämpfen die an die Iberer wieder verlorenen Gebiete zurück eroberte und den karthagischen Machtbereich nach Norden und Osten ausdehnte; durch dessen Schwiegersohn Hasdrubal54, der nach Hamilkars Tod im Jahre 229 v. Chr. den Oberbefehl übernahm und auf überwiegend friedliche Weise Karthagos Macht stärkte; durch Hamilkars Sohn Hannibal, der nach der Ermordung seines Schwagers Hasdrubal dessen Nachfolge antrat und vor seinem Aufbruch nach Italien im Frühjahr 218 v. Chr. in drei Feldzügen die Olkaden und ihre Stadt Althaia55 unterworfen, die Vakkäer, die am mittleren Durius (Duero), und die Carpetaner, die am Oberlauf des Tagus (Tajo) siedelten, geschlagen und Saguntum56 (Sagunto) erobert hat; und durch Hamilkars jüngeren Sohn Hasdrubal, der ein Jahrzehnt, bis 208 v. Chr., den Römern erbitterten Widerstand leistete. Carthago Nova (Cartagena), von Hamilkars Schwiegersohn Hastrubal gegründet, wurde der Vorort der karthagischen Herrschaft und war immer wieder der Ausgangsort ihrer Feldzüge. Es war auch dieser Hasdrubal, der im Jahre 226 v. Chr. mit einer römischen Gesandtschaft übereinkam, daß die Gebiete nördlich des Iberus (Ebro) den Machtinteressen Roms vorbehalten sein sollten, die Landstriche südlich des Flusses denen Karthagos und daß Saguntum (Sagunto), wenn gleich im Machtbereich der Karthager gelegen, unabhängig bleiben sollte. Hannibals Verletzung dieses Vertrages im Jahre 218 v. Chr., die Eroberung des inzwischen mit Rom freundschaftlich verbundenen Saguntum (Sagunto) sowie die Überschreitung des Iberus (Ebro) bei seinem Aufbruch nach Italien, markieren den Beginn des 2. Punischen Krieges. 5. Cnaeus Cornelius Scipio Calvus und seine Legion kamen zu spät, um Hanibal in den Weg zu treten. Ihre Unternehmungen beschränkten sich auf die nähere Umgebung: Bei Cissis unweit Tarraco (Tarragona) schlug Scipio die punischen Truppen Hannos57 und im Frühjahr des nächsten Jahres Hastrubal in einer Seeschlacht vor der Ebromündung58. Erst als im Sommer 217 v. Chr. Cnaeus’ Bruder Publius, einer der Konsuln des Vorjahres, mit zusätzlichen 8000 Soldaten anlandete, überschritten, unter dem Kommando der Brüder, die vereinigten Truppen den Iberus (Ebro) und griffen nach Süden aus. In den wechselvollen Kämpfen der nächsten Jahre fanden in verlustreichen Schlachten beide Brüder den Tod, und im selben Jahr, 211 v. Chr., gingen auch die südlich des Iberus (Ebro) eroberten Gebiete wieder verloren. Das Blatt wendete sich, als 209 v. Chr. der jüngere Publius Cornelius M. Luik 20 – 23. Th. Lenschau, Hastrubal Nr. 5, RE 7 (1912) 2469 / 70; M. Luik 21. 55 E. Hübner, Althaia Nr. 1, RE 1 (1894) 1693. 56 A. Schulten, Saguntum, RE 1 A (1920) 1755 / 6. 57 Liv. 21. 60. 7; 60. 8: oppidum parvum. G. Alföldy, Tarraco, RE Suppl. 15 (1978) 583 / 4; A. Schulten, Tarraco, RE 4 A (1932) 2399; J. Seibert, Hannibal (1993) 131 / 2. 58 Nach J. Seibert, Hannibal (1993) 179, war die Seeschlacht ein „unbedeutendes Treffen“, in den Quellen „diletantisch aufgebauscht“. 53 54

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Scipio die Nachfolge seines Vaters antrat und die geschlagene Truppe um 10.000 Soldaten und 1000 Reiter aufgestockt wurde. Publius’ erste große Tat war die Eroberung von Carthago Nova (Cartagena), der karthagischen Machtbasis, wo die iberischen Geiseln inhaftiert waren, die Kriegskasse verwaltet, die Waffen geschmiedet und die Edelmetalle gehortet wurden. Mit dem Verlust der scheinbar unüberwindlichen Machtbasis begann der Niedergang der karthagischen Herrschaft in Spanien. Eine Niederlage folgte der anderen: 208 v. Chr. wurde Hastrubal bei Baecula (Bailén) am Oberlauf des Baetis (Guadalquivir) geschlagen59; 207 v. Chr. ging Orongis60 (Jaén?) an die Römer verloren und, trotz Übermacht, die Schlacht bei Ilipa61 am Unterlauf des Baetis (Guadalquivir), unweit Hispalis (Sevilla); 206 v. Chr., schließlich, wurde Gades (Cádiz) den Römern kampflos übergeben. Die Unterwerfung des Südens war damit abgeschlossen, bekundet auch durch die Gründung von Italica62 am Unterlauf des Baetis (Guadalquivir), der ältesten römischen Siedlung Spaniens, noch 206 v. Chr. von Scipio für seine Veteranen angelegt. Die geschlagenen punischen Truppen wurden von Karthago angewiesen, Spanien zu verlassen und Hannibal in Italien zu unterstützen. Die vollständige Eroberung Spaniens konnten die Römer aber erst nach zweihundert Jahren mit der Unterwerfung der Kantabrer und Asturer im Nordwesten der Halbinsel vollenden. Erst dann galt von Spanien das Wort provincia pacata. 6. Von den Kriegen gegen die keltiberischen Völkerschaften Nordwestspaniens63 war der gesicherte römische Herrschaftsbereich nicht betroffen: die Landstriche entlang der Mittelmeerküste (von den Pyrenäen bis zum Orospeda-Gebirge östlich von Carthago Nova64) und der bisher von den Karthagern beherrschte Süden. Schon seit 205 v. Chr. war dieser Herrschaftsbereich in die beiden Provinzen Hispania citerior und Hispania ulterior aufgeteilt65. In den nächsten Jahrzehnten wurden deren Grenzen gegen das Landesinnere erheblich vorgeschoben – was Agrippa im Jahre 27 v. Chr. erlaubte, den Westen der Ulterior als dritte (kaiserliche) Provinz einzurichten, die Lusitania genannt wurde und sich von der Mündung des Anas (Guadiana) bis zum Durius (Duero) erstreckte66. Der verbliebene östliche Teil der Ulterior wurde Senatsprovinz und nach dem Fluß Baetis Baetica genannt; die Citerior nach Tarraco Tarraconensis.

59 Und im nächsten Jahr in Italien, in der Schlacht am Metaurus (R. Oehler, RE 15 (1932) 1369; J. Seibert, Hannibal (1993) 385 – 390) getötet. 60 A. Schulten, Orongis, RE 18 (1939) 1160. 61 A. Schulten, Ilipa, RE 9 (1914) 1066. 62 E. Hübner / A. Schulten, Italica, RE 9 (1916) 2283 / 4. 63 A. Schulten, Keltiberer, RE 11 (1921) 150 – 156. 64 A. Schulten, Orospeda, RE 18 (1939) 1196. 65 205 v. Chr. beginnt auch die iberische Münzprägung mit römischem Münzfuß. 66 Plin. n. h. 3. 16. Zugleich verschob er an der Ostküste die Grenze von Carthago Nova südlicher nach Murgi: Plin. n. h. 3. 8. Etwa 20 Jahre später hat Augustus die Grenzen der 3 Provinzen noch einmal neu bestimmt: Plin. n. h. 3. 6 – 8.

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Hispania citerior und Hispania ulterior wurden zunächst von Prokonsuln, seit 197 v. Chr. von Prätoren und einem Stab von nachgeordneten Magistraten und Hilfskräften verwaltet. Die Erhebung von Steuern und Abgaben erfolgte auch hier durch publicani, private Gesellschaften, die dieses Geschäft gepachtet hatten. Schon diese Verwaltungsstrukturen lassen keinen Zweifel, daß Rom die Romanisierung der eroberten und gesicherten Herrschaftsgebiete von vornherein nachdrücklich betrieb. Sie ging indessen nicht in beiden Provinzen gleichermaßen vonstatten. Der Erfolg war vom Stand der Kultivierung abhängig, und darin war der Süden dem Norden weit voraus. Hier, in der Baetica, hatten seit Jahrhunderten Mykener und Phönizier, Griechen und Karthager in dauerndem Austausch auf die iberischen Völkerschaften, allen voran die Turdetaner, eingewirkt, ihre Lebensumstände und ihr geistiges Leben beeinflußt und geformt und damit, wie es scheint, auch bewirkt, daß sie sich der Romanisierung nicht verschlossen. 7. In seiner Beschreibung der iberischen Halbinsel berichtet Strabon, daß die Baetica schon zu seiner Zeit in Sprache und Sitte römisch, Spaniens Süden mithin schon zu Beginn des Prinzipats vollkommen romanisiert war67. Hier ist nur zu erinnern, daß C. Iulius Hyginus, der Freigelassene des Ausgustus, Freund Ovids und langjähriger Vorstand der Palatinischen Bibliothek, Spanier war; daß die beiden Seneca aus Corduba stammten, Columella und Canius Rufus, der Schriftsteller und Freund Martials, aus Gades; und daß Italica die Geburtsstadt Trajans und Hadrians war68. Corduba, Kolonie seit 152 v. Chr., und Gades, seit 206 v. Chr. civitas libera und foederata, von Caesar zum municipium civium Romanorum erhoben, und Italica, von Publius Scipio für seine Veteranen gegründet, waren römische Städte und offenbar auch geistige Zentren der Romanisierung. Die Baetica war die kleinste der drei Provinzen, aber weit dichter besiedelt als die deutlich größere Lusitania und die dreimal so große Tarraconensis. Plinius berichtet, vermutlich aus Quellen der augusteischen Zeit, die Provinz Baetica sei in vier Gerichtsbezirke (conventus iuridici) aufgeteilt69 und habe 175 oppida70. Von diesen 175 Gemeinwesen waren 9 c o l o n i a e c i v i u m R o m a n o r u m 71: unter ihnen Corduba, schon 152 v. Chr. von M. Claudius Marcellus gegründet72, seit Augustus mit dem Titel Colonia Patricia; Hispalis, eine alte turdetanische Stadt, die Caesar 45 v. Chr. zur Colonia Iulia Romula erhoben hat; Astigi mit dem Beinamen 67 Strabon, Gewgrafika 3 p.167. J. Marquardt I 258; A. Schulten, Hispania, RE 8 (1913) 2042. 68 Trajan wurde am 18. September 53 n. Chr., Hadrian am 24. Januar 76 n. Chr. in Italica geboren. 69 In die Bezirke Gades, Corduba, Astigi (Écija) und Hispalis (Sevilla): Plin. n. h. 3. 7, 10, 11, 12, 15. 70 Plin. n. h. 3. 7. 71 Plin. n. h. 3. 7. 72 F. Münzer, M. Claudius Marcellus Nr. 225, RE 3 (1899) 2758 – 2760.

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Augusta Firma, offenbar eine Neugründung neben Astigi Vetus; Urso, eine alte iberische Siedlung, in die 45 v. Chr., nach Caesars Tod, aber noch auf sein Geheiß eine Kolonie gegründet wurde mit dem Titel Colonia Genitiva Ursonensis; waren des weiteren 10 m u n i c i p i a c i v i u m R o m a n o r u m , unter ihnen Regina im Gerichtsbezirk von Gades73; waren 27 c i v i t a t e s L a t i n a e , unter ihnen Laepia Regia und Carisa Aurelia, auch diese beiden im Gerichtsbezirk von Gades74, ebenso Carteia, die auf Geheiß des Senats für die Kinder römischer Legionäre und hispanischer Frauen 171 v. Chr. gegründete latinische Kolonie75; 6 c i v i t a t e s l i b e r a e , unter ihnen Astigi Vetus76 und Ostippo77 im Gerichtsbezirk von Astigi; 3 c i v i t a t e s f o e d e r a t a e : Ripa (Castro del Rio) und Epora (Montoro) im Gerichtsbezirk von Corduba78 sowie Malaca, die uralte, bald nach Gades von den Tyriern gegründete Stadt, seit 205 v. Chr. unter römischer Herrschaft79; und 120 peregrine c i v i t a t e s s t i p e n d i a r i a e 80. 8. Zu den vielen tributpflichtigen Städten gehörten Arunda81 (Ronda) und Salpensa82, ebenso Sabora83 im Gerichtsbezirk von Astigi. Sabora lag an der Straße von Urso nach Arunda – an der Straße, an der, nördlich von Sabora, auch Irni lag. „Die Wiege der spanischen Bildung“ war die Baetica84, war insbesondere das Land der Turdetaner, die seit Jahrhunderten in dauerndem Austausch mit Phöniziern und Griechen, mit Puniern und Römern lebten und auf vielfältige Weise, gewollt und ungewollt, eine unvergleichliche kulturelle Erziehung erfuhren85. Inmitten dieser Region war Irni gelegen. Wir wissen nicht, wann die ersten iberischen Siedler auf dem Höhenrücken hoch über dem Rio Corbones angekommen sind und wann der Flecken sich zu der Stadt entwickelt hat, die schließlich, nach Norden ausgedehnt, sechs oder sieben Hektar einnahm. Das oppidum Irni mag über lange Zeit so unbedeutend gewesen sein, daß es zwar den tributpflichtigen Städten zugezählt wurde, Plin. n. h. 3. 15. Plin. n. h. 3. 15. R. Grosse, Laepia, RE Suppl. 9 (1962) 383 / 4; E. Hübner, Carisa, RE 3 (1899) 1591 / 2. 75 Plin. n. h. 3. 7. E. Hübner, Carteia, RE 3 (1899) 1617 – 1619. 76 Plin. n. h. 3. 12. M. Ihm, Astigi Nr. 2, RE 2 (1896) 1791. 77 Plin. n. h. 3. 12. A. Schulten, Ostippo, RE 18 (1942) 1665. 78 Plin. n. h. 3. 10. A. Schulten, Ripa, RE 1 A (1914) 846; E. Hübner, Epora, RE 6 (1907) 249. 79 Plin. n. h. 3. 8. A. Schulten, Malaca, RE 14 (1928) 823 / 4. 80 Eine Auswahl in Plin. n. h. 3. 7, 10, 11, 12, 14 und 15. 81 Plin. n. h. 3. 14. E. Hübner, Arunda, RE 2 (1896) 1491. 82 Plin. n. h. 3. 14. A. Schulten, Salpensa, RE 1 A (1920) 2007. 83 Plin. n. h. 3. 12. A. Schulten, Sabora, RE 1 A (1920) 1607. 84 A. Schulten, Hispania, RE 8 (1913) 2042. 85 Der Militärdienst im römischen Heer förderte die Romanisierung. Ein anderes Mittel war die Verbreitung des Kultus der Staatsreligion und des kaiserlichen Hauses. Nicht zu unterschätzen ist auch die Nachahmung römischer Einrichtungen aller Art. Vgl. J. Marquardt I 258 / 9; W. Liebenam 457. 73 74

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Irni vor der Irnitana

die Schriftsteller aber keine weitere Notiz von ihm nahmen86. Die wirtschaftliche87 und kulturelle Entwicklung der Baetica ist an Irni gleichwohl nicht vorbeigegangen. Wie sonst wäre die Ausdehnung der Stadt zu erklären, wäre zu erklären, daß ihre Einwohner nach Rang und Stand gegliedert waren, daß sie, schon längst bevor ihr das flavische Stadtrecht erteilt wurde, ein Theater hatte88 und einen Stadtrat, der 63 Sitze zählte. Und wer wollte danach ausschließen, daß Irni nach dem mehr als hundertjährigen Vorbild der benachbarten Colonia Genitiva Ursonensis noch über andere stadtrechtliche Institutionen verfügte. Systematische Grabungen könnten darüber kaum Auskunft, wohl aber noch einiges Licht in die dunkle Geschichte Irnis bringen.

86 Allerdings nennt Plinius auch das von Appian, Livius und Strabo genannte Carmo (Carrmona) nicht, zwischen Hispalis und Astigi gelegen, eine bedeutende Stadt, für Caesar die festeste der ganzen Provinz (bell. civ. 2. 19. 4); vielleicht ein oppidum civium Romanorum oder Latinorum: E. Hübner, Carmo, RE 3 (1899) 1597. 87 A. Schulten, Hispania, RE 8 (1913) 2040 – 2042. 88 IRN cap 81 1 R. De · ordine · spectacula 2 Quae · spectacula · in · eo · municipio · edentur · ea · spectacula · quibus · locis · quae 3 que · genera · hominum · ante · hac · lege · spectare · solita · sunt · isdem · spectan 4 to · utique · ex · decurionum conscriptorumve · decreto · utique · ex · legibus 5 plebisve · scitis · senatusve · consultis · edictis · decretisve · divi · Aug · Tive Iu 6 li · Caesaris · Aug · Tive · Claudi · Caesaris · Aug · impve · Galbae · Caesar · Aug · 7 impve · Vespasiani · Caesaris · Aug · impve · Titi · Caesaris · T · Caesaris · Vesp · 8 Aug · impve · Domitiani · Caesaris · Aug · ibi · licet · licebit Vgl. Lex Ursonensis 125 – 127. J. Gonzàlez 226; J. Marquardt III 534 – 536; W. Liebenam 371 / 2.

Bußen, Einkommen und Preise* Die römischen Stadtrechte, die in Fragmenten erhalten sind, bewehren ihre Gebote und Verbote vielfach mit Bußzahlungen: wer gegen sie verstößt, so verfügen sie, soll verpflichtet sein, eine bestimmte Summe Geldes an die Bürger der Stadt zu zahlen. Die Lex municipii Tarentini1, die dem municipium bald nach dem Bundesgenossenkrieg verliehen worden ist2, droht in den 6 überlieferten Kapiteln dreimal mit einer Buße3. Die Lex Iulia agraria4 aus dem Jahre 59 v. Chr. sieht in den nur 3 erhaltenen Kapiteln 2 Bußen vor5. In den überlieferten 30 Rubriken der Lex Iulia municipalis6 von 45 v. Chr. kommen 5 Bußen vor7. In den 53 Kapiteln der Lex Ursonensis8, die 44 v. Chr. der Kolonie verliehen worden ist, sind 15 Vorschriften mit Bußen bewehrt9. Und in den 66 Rubriken der Lex Irnitana10, die dem municipium vermutlich 94 n. Chr. erteilt worden ist, drohen 11 Bußen11 bei Verstößen gegen Verordnungen des Stadtrechts.

* Abgekürzt werden Zitiert: C. G. Bruns, Fontes Iuris Romani Antiqui7 (1909); R. DuncanJones, The Economy of the Roman Empire (1974, 1977); Marcus Prell, Armut im antiken Rom. Von den Gracchen bis Kaiser Diokletian (1997). 1 Bruns, Fontes Nr. 27 S. 120 – 122. 2 Siehe J. G. Wolf, Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens, IURA 56 (2006 – 2007) 14 mit A. 66. 3 In den Kapiteln VIIII 1, 3 und 4. 4 Oder Lex mamilia Roscia Peducaea Alliena Fabia: Bruns, Fontes Nr. 15 S. 95 / 6. Vgl. J. G. Wolf (cit. A. 2) 11, 13: Das Gesetz galt nicht für eine bestimmte Kolonie oder ein bestimmtes municipium, sondern für alle Kolonien, municipia und Wohnflecken in seinem Geltungsbereich. 5 In den Kapiteln 534 und 55. 6 Oder Tabulae Heracleensis: Bruns, Fontes Nr. 18 S. 102 – 119. Zu ihrem Inhalt siehe P. Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts2 (1912) 80 / 1. 7 In den Kapiteln 6, 9, 20, 21 und 22. 8 Bruns, Fontes Nr. 28 S. 122 – 141. Zur Lex Ursonensis vgl. J. G. Wolf (cit. A. 2) 2 – 4. 9 In den Kapiteln 61, 73, 74, 81, 82, 92, 93, 97, 104, 125, 126, 128, 129, 130 und 132. 10 J. Gonzáles, JRS 76 (1986) 153 – 181 mit englischer Übersetzung 182 – 199 von M. H. Crawford / F. Lamberti, Tabulae Irnitanae (1993) 270 – 372 mit italienischer Übersetzung. Zum Verhältnis der Irnitana zur Lex Salpensana und Lex Malacitana siehe demnächst J. G. Wolf, Die Lex Irnitana. Ein römisches Stadtrecht aus Spanien (2011). 11 In den Rubriken 26, 45, 48, 61, 62, 67, 72, 74, 75, 90 und 96. Nehmen wir die in der Irnitana nicht erhaltenen Rubriken der Lex Malacitana hinzu, sind es 12 Bußzahlungen (Rubrik 58).

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I. Die Bußverordnungen 1. Die Formulierung der Bußverordnungen zeigt bei gleichbleibender Grundstruktur eine Entwicklung, die auf eine deutlichere Differenzierung und Konkretisierung der Rahmenumstände hinausläuft. Durchgehend gleich geblieben in den mehr als anderthalb Jahrhunderten von der Lex Tarentina bis zur Lex Irnitana ist der Kern der Bußklausel: die Normierung der Verpflichtung. Zwei elementare Klauseln der Lex Iulia municipalis und der Lex Irnitana geben die gehörige Anschauung: 20 QUI ADVERSUS EA FECERIT IS HS I))) 50000 POPULO DARE DAMNAS ESTo EIUSQUE PECUNIAE QUI VOLET PETITIO ESTO 74 QUI· ADVERSUS· EA· FECERiT MUNICIPIBUS· MUNICIPII· FLAVI· IRNITANI· HS· X· DARE· DAMNAS· ESTO EIUS QUE· PECUNIAE· DEQUE· EA· PECUNIA· MUNICIPI· EIUS· MUNICIPII QUI· VOLET· CUIQUE· PER· HANC· LEGEM· LICEBIT ACTIO PETITIO · PERSECUTIO ESTO

2. (a) Die Buße ist überwiegend ein in Sesterzen bezifferter Geldbetrag12. Gelegentlich geht sie allerdings auch auf quanti ea res erit oder das Mehrfache des geschätzten Betrages, wenn je nach dem bewehrten Gebot oder Verbot diese Lösung angemessener und damit auch sachdienlicher ist13. Das flavische Stadtrecht sah in Rubrik 67 vor – überliefert sowohl in der Lex Malacitana wie in der Lex Irnitana – daß Geld der Gemeinde, das an Dritte gelangt ist, binnen 30 Tagen an die Stadtkasse abgeführt werden muß; und wer Geschäfte für die Gemeinde besorgt hat, ebenfalls binnen 30 Tagen den Dekurionen oder dem von ihnen Beauftragten Rechenschaft erstatten muß. Für den Fall, daß diese Vorschriften nicht eingehalten werden, bestimmt das Stadtrecht: IS · PER · QUEM · STETERIT QUO · MINUS · RATIONES · REDDERENTUR QUOVE · MINUS · PECUNIA · REDIGERETUR · REFERRETUR · HERESQUE· EIUS ISQUE · AT QUEM · EA· RES · Q UA · DE · AGITUR· PERTINEBIT QUANTI · EA · RES · ERIT · TANTUM ET ALTERUM · TANTUM · MUNICIPIBUS · EIUS· MUNICIPI · D ARE · DAMNAS · ESTO EIUSQUE· PECUNIAE· DEQUE· EA· PECUNIA· MUNICIPI· MUNICIPI· FLAVI IRNITANI QUI · VOLET · CUIQUE · PER · HAC · LEGE · LICEBIT ACTIO PETITIO · PERSECUTIO · ESTO In 30 der 36 Bußdrohungen der oben (unter 1.) genannten Stadtrechte. So in Lex municipii Tarentini VIIII 1 (auf das Vierfache) und 4 sowie in Lex Irnitana 48 (auf das Zweifache), 62, 67 (Zweifache), 72. 12 13

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(b) Der Gesetzgeber hätte als Buße auch einen Geldbetrag, 10.000 oder 20.000 Sesterzen, aussetzen können. Sie wären verfallen, wann immer gegen die Vorschriften verstoßen worden, gleichviel ob 1.000 oder 100.000 Sesterzen nicht abgeliefert oder ob 2 oder 10 Geschäfte für die Gemeinde getätigt und nicht rechtzeitig über sie berichtet worden wäre. Die gewählte Lösung trägt dagegen der Schwere des Verstoßes Rechnung: Ist der nicht rechtzeitig abgeführte Gelbbetrag gering, ist auch die Buße gering, ist er erheblich, ist auch die Buße erheblich. Und die Einschätzung der nicht erstatteten Rechenschaft wird sich auch nach dem finanziellen Gewicht des oder der Geschäfte bestimmt haben. Für den Delinquenten war mithin die Rechtslage ebenso übersichtlich, wie bei festen Bußbeträgen. Ein zweites Beispiel soll diese Interpretation abstützen. Schon die Lex municipii Tarentini untersagt, wie auch die späteren Stadtrechte14, ohne Erlaubnis des städtischen Senats ein Stadthaus abzureißen, wenn es nicht wieder aufgebaut werden soll. Für den Fall, daß gegen diese Vorschrift verstoßen wird, bestimmt das Gesetz: VIIII 4 SEI QUIS ADVERSUS EA FAXIT, QUANTI ID AEDIFICIUM FUERIT, TANTAM PEQUNIAM MUNICIPIO DARE DAMNAS ESTO EIUSQUE PEQUNIAE QUEI VOLET PETITIO ESTO.

Hier ist der Wert des Hauses der Maßstab für die Buße: Ist das aedificium klein und bescheiden, fällt sie geringer aus, ist es ein ansehnliches Gebäude, ist sie erheblich. In Rubrik 48 untersagt die Lex Irnitana den Magistraten, ihren Verwandten und Amtsgehilfen, Gemeindeland und Steuern zu kaufen oder zu pachten, und droht dem, der gegen dieses Verbot verstößt, mit einer Bußzahlung, die dem Doppelten des geschätzten Gewinns entspricht, den ihm das Geschäft eingebracht hat. In Rubrik 72 regelt sie die Freilassung von Gemeindesklaven gegen Zahlung eines Entgelts an die Gemeindekasse und untersagt jedermann, von dem Freigelassenen mehr zu verlangen, als das von den Dekurionen beschlossene und an die Gemeindekasse zu zahlende Entgelt. Wer gegen diese Vorschrift ‚wissentlich in böser Absicht‘ handelt, soll als Buße an die Gemeindekasse quanti ea res erit zahlen – vermutlich den Betrag, der dem Freigelassenen zusätzlich abverlangt worden ist. Schließlich: Kapitel VIIII 1 (Zeile 1 – 6) der Lex Tarentina, das nur zu einem Teil erhalten ist, verbietet Unterschlagung und Entwendung öffentlicher, auch für sakrale und religiöse Zwecke bestimmter Gelder, die dem municipium gehören, und droht bei Verstoß mit der Zahlung einer Buße, die das Vierfache des geschätzten Verlusts beträgt. 14 Lex Ursonensis 75 und Lex Irnitana 62. Dazu siehe J. G. Wolf, Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens, IURA 56 (2006 – 2007) 20 – 28.

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Nach allem ist nicht zu bezweifeln, daß die Buße, wo sie nicht auf einen bezifferten Geldbetrag, sondern auf quanti ea res erit lautet, keine willkürliche, sondern eine bedachte, dem jeweiligen Verstoß angemessene und darum auch gerechtere Regelung ist. 3. (a) Die aus den leges angeführten Beispiele lassen uns zugleich wissen, daß der Text, der der Verpflichtungsklausel voran steht, variabel war. Folgende Verbindungen dominieren: Si quis adversus ea faxit15 oder fecerit16 oder Si quis adversus ea q u i d fecerit17, auch Qui adversus ea fecerit18 oder fecerit s c i e n s d o l o m a l o 19 oder q u i d fecerit sciens dolo malo20, und ebenso kommt vor Qui a l i t e r adversus ea fecerit sciens dolo malo21 und Qui eorum ex eis , qui supra scripti sunt, adversus ea fecerit22, schließlich Si quis i t a n o n fecerit sive q u i t adversus ea fecerit sciens dolo malo23. Sie verbinden vorweg normierte Gebote mit der folgenden Verpflichtungsklausel, die dann in der Regel mit dem Demonstrativpronomen is beginnt. Bei aller Variantenvielfalt ist kaum zu verkennen, daß diese Formulierungen auf eine Vorlage zurückgehen, die Si quis adversus ea fecerit gelautet haben könnte, aber nicht für verbindlich galt und darum großzügige Veränderungen nicht ausschloß. Zwei Rubriken, die eine aus der Lex Ursonensis (73), die andere aus der Lex Irnitana (74), sollen die Funktion dieser Verbindungsstücke demonstrieren: 73 NE QUIS INTRA FINES OPPIDI COLONIAEVE QUA ARATRO CIRCUMDUCTUM ERIT HOMINEM MORTUOM INFERTO NEVE IBI HUMATO NEVE URITO NEVE HOMINIS MORTUI MONIMENTUM AEDIFICATO SI QUIS ADVERSUS EA FECERIT IS COLONIS COLONIAE GENETIVAE IULIAE HS ICC DARE DAMNAS ESTO 74 NE QUIS · IN · EO · MUNICIPIO · COETUM · FACITO · NEVE · SODALICIUM · CONLEGIUMVE EIUS · REI · CAUSAM · HABETO · NEVE · UT · HABEATUR · CONIURATO NEVE · FACITO · QUO · QUID · EARUM · RERUM · FIAT QUI · ADVERSUS · EA · FECERIT MUNICIPUM · MUNICIPI · FLAVI · IRNITANI · HS · X · D ARE · DAMNAS · ESTO ·

(b) Das Verbindungsstück ist, wie sich versteht, entbehrlich, wenn die Verpflichtungsklausel unmittelbar an den Tatbestand der Gebots- oder Verbotsverletzung anschließt. Lex Tarentina VIIII 4. Lex Iulia agraria 55; Lex Ursonensis 73, 128, 132. 17 Lex Iulia agraria 54; Lex Ursonensis 104; Lex Irnitana 48. 18 Lex Iulia municipalis 20, 22; Lex Ursonensis 74, 93, 97, 126; Lex Malacitana 62; Lex Irnitana 62, 74, 75. 19 Lex Irnitana 96. 20 Lex Irnitana 72. 21 Lex Malacitana 58; Lex Irnitana 58. 22 Lex Iulia municipalis Zeile 96 / 7. 23 Lex Ursonensis 129. 15 16

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Die Lex Tarentina verlangt in Kapitel VIIII 3 (Zeile 26 – 31), daß der Dekurio sowie derjenige, der im Senat sein Votum vorgetragen hat, in der Stadt oder innerhalb der Grenzen des municipium ein Haus mit nicht weniger als 1.500 Dachziegeln besitzt, und verfügt: QUEI EORUM ITA AEDIFICIUM SUOM NON HABEBIT SEIVE QUIS EORUM EO AEDIFICIUM EMERIT MANCUPIOVE ACCEPERIT QUO HOIC LEGI FRAUDEM FAXIT IS IN ANNOS SINGULOS HS NUMMUM I ) ) MUNICIPIO TARENTINO DARE DAMNAS ESTO

Die Lex Iulia municipalis untersagt (Zeile 17 – 19), Getreide an Personen auszugeben, die ein Magistrat von der Getreideversorgung ausgeschlossen hat, und verfügt: QUI ADVERSUS EA EORUM QUOI FRUMENTUM DEDERIT IS IN TRITICI MODIOS I (SINGULOS) HS I))) POPULO DARE DAMNAS ESTO

Die Lex Ursonensis bestimmt in Kapitel 61, daß der Gläubiger den Urteilsschuldner, der das iudicatum nicht leistet und auch keinen vindex stellt, abführen und in Gewahrsam halten soll. Widersetzt sich der Schuldner gewaltsam und wird er erneut verurteilt, soll er das Doppelte der Urteilsschuld und den Kolonisten eine Buße von 20.000 Sesterzen zahlen: NI VINDICEM DABIT IUDICATUMVE FACIET SECUM DUCITO IURE CIVILI VINCTUM HABETO SI QUIS IN EO VIM FACIET AST EIUS VINCITUR DUPLI DAMNAS ESTO COLONISQUE EIUS COLONIAE HS I I DARE DAMNAS ESTO

Die Lex Irnitana, schließlich, bestimmt in der schon angeführten24 Rubrik 67, daß Geld der Gemeinde, das an Dritte gelangt ist, binnen 30 Tagen an die Stadtkasse abgeführt und über Geschäfte, die für die Gemeinde besorgt worden sind, ebenfalls binnen 30 Tagen berichtet werden muß – und fährt fort: IS . PER · QUEM · STETERIT QUO · MINUS · RATIONES · REDDERENTUR QUOVE · MINUS · PECUNIA · REDIGERETUR · REFERRETUR · HERESQUE · EIUS ISQUE · AT QUEM · EA · RES · Q UA. DE · AGITUR · PERTINEBIT QUANTI · EA · RES · ERIT · TAN TUM ET ALTERUM · TANTUM MUNICIPIBUS · EIUS · MUNICIPI · D ARE · DAMNAS · ESTO

Die vier Beispiele stehen für elf Normierungen ihrer Art in den eingangs genannten fünf Stadtrechten. Wie die angeführten Verbindungsstücke belegen sie eine Kontinuität der Gesetzesformulierung von der Lex Tarentina bis zu den flavischen Stadtrechten Spaniens, wie die Lex Irnitana belegt. Diese Kontinuität setzt für die Stadtrechtsgesetzgebung die Zuständigkeit einer zentralen Einrichtung voraus, die 24

Oben nach A. 13.

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ihren Sitz nur in Rom gehabt haben kann. Und sie darf ebenso als Zeugnis einer zentralistischen Reichsverwaltung gelten. 4. (a) Dieser Befund wird gestützt und bestärkt durch die Verpflichtungsklausel, deren Struktur eine feste Konstanz zeigt. Sie lautet entweder Quanti ea res erit tantam pecuniam … dare damnas esto oder HS V milia nummum … dare damnas esto. Von Stadt zu Stadt ändert sich die Benennung des Empfängers der Zahlung: In der Lex Tarentina ist es das municipium oder das municipium Tarentinum; in der Lex Iulia agraria sind es die coloni municipesve ii, in quorum agro id factum erit oder das publicum eorum quorum intra fines is ager erit; in der Lex Iulia municipalis ist es der populus (offenbar weil das Gesetz für Gemeinden mit verschiedenem Status galt25); in der Lex Ursonensis sind es die coloni eius coloniae oder die coloni coloniae Genetivae Iuliae; in der Lex Irnitana die municipes eius municipii oder die municipes municipii Flavi Irnitani; und in der Lex Malacitana die municipes municipii Flavi Malacitani. (b) Neben diesen gebotenen Varianten haben die Verpflichtungsklauseln auch immer wieder verschiedene zweckdienliche Zusätze. Die Lex Tarentina sieht in Kapitel VIIII 1 (Zeile 1 – 6) vor, daß die Buße auf das Vierfache der unterschlagenen oder entwendeten öffentlichen Gelder geht26: Quanti ea res erit q u a d r u p l u m m u l t a e e s t o eamque pecuniam municipio dare damnas esto. Die Lex Iulia agraria verbietet, Grenzwege und decumani zu versperren und Wasser führende Gräben zu verstopfen und verordnet für jeden Verstoß27 eine Buße von 4.000 Sesterzen: Is i n re s s i n g u l a s q u o t i e n s c u m q u e f e c e r i t HS IIII Colonis … dara damnas esto. Nach der Lex Iulia municipalis (Zeile 18 / 9) zahlt die Hilfsperson für jeden modius Weizen, den sie Personen zuteilt, die von der Getreideversorgung ausgeschlossen sind, eine Buße von 50.000 Sesterzen: Is i n t r i t i c i m o d i o s s i n g u l o s HS IƆƆƆ populo dare damnas esto. Und ein letztes Beispiel aus der Lex Irnitana: Sie verpflichtet in Kapitel 90 den Magistrat, der das intertium auf den von den Parteien mit dem iudex verabredeten Tag nicht gibt, für jeden überzähligen Tag eine Buße von 1.000 Sesterzen zu zahlen: is i n s i n g u l o s d i e s q u i b u s d e b u e r i t … HS ∞ dare damnas esto. Einige dieser Zusätze waren offenbar standardisiert, so die Klausel in res singulas quotienscumque fecerit, die in der Lex Iulia agraria28 und wiederholt in der Lex Ursonensis29, und die kürzere Klausel in res singulas, die auch in der Ursonensis30 und wiederholt in der Irnitana31 verwendet wird.

Siehe oben A. 4. Siehe oben I. 2.: i. f. Vgl. auch Lex Irnitana 48 und 67: et alterum tantum. 27 Rubrik 54. Vgl. Lex Ursonensis 104: is in res singulas quotienscumque fecerit, auch 125, 126, 129 und 130; Lex Irnitana 75 und 96: in res singulas. 28 Rubrik 54. Vgl. J. G. Wolf, Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens, IURA 56 (2006 – 2007) 11 – 14. 29 Rubrik 104 und, leicht erweitert, 125, 126, 130: in res singulas quotienscumque quit (de ea re) adversus ea fecerit. 30 Rubrik 129. 25 26

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5. Dare damnas esto begründet die Verpflichtung des Delinquenten, den geschätzten oder bezifferten Geldbetrag zu zahlen. Zahlt er, so zahlt er auf eine Schuld, zahlt er nicht, kann nicht ohne weiteres gegen ihn vollstreckt werden. Vielmehr muß er verklagt werden, und erst wenn er das iudicatum nicht leistet, kann Vollstreckung erfolgen. (a) Wenn öffentliche Gelder unterschlagen oder entwendet worden sind, behält die Lex Tarentina VIIII 1 (Zeile 1 – 6) den Anspruch (und die mit ihm verbundene Klage) sowie die Vollstreckung den Magistraten des municipium vor: eiusque pecuniae magistratus qu(ei quomque in municipio erit petitio exactioque esto. Die Lex Ursonensis gewährt durchweg die Popularklage, behält aber in einem Fall, in Rubrik 61, wenn sich der Urteilsschuldner der Festnahme durch den Gläubiger widersetzt, die Vollstreckung dem Magistrat vor32: eiusque pecuniae qui volet petitio IIvir quive iure dicundo praerit exactio iudicatioque esto. Werden Grenzsteine ‚wissentlich in böser Absicht‘ entfernt oder versetzt, sind nach der Lex Iulia agraria (Kapitel 55) für die Klage auf Bußzahlung nicht die ordentlichen Magistrate zuständig, sondern ein eigens bestellter Kurator, und von ihm ist auch nicht ein iudex, sondern sind recuperatores als Richter zu bestellen: deque ea re curatoris qui hac lege erit iuris dictio reciperatorumque datio addictio esto. Wer den Anspruch verfolgen kann, sagt das Gesetz nicht. (b) Anders alle anderen Bußverordnungen der Stadtrechte. Sie alle sehen die Popularklage vor: jeder Bürger der Gemeinde, ob Kolonie oder municipium, kann den Anspruch auf Bußzahlung einklagen und das Urteil vollstrecken. Die Texte dieser Bestimmung sind sich in der Struktur seit der Lex Tarentina gleich geblieben. Im Laufe der anderthalb Jahrhunderte bis zur Lex Irnitana sind sie allerdings zum Vorteil der Rechtssicherheit und ihrer praktischen Anwendung stufenweise differenzierter, präziser, konkreter geworden. Die Vorschrift lautet in der Lex Tarentina VIIII 4 EIUSQUE PEQUNIAE

QUEI VOLET PETITIO ESTO.

und in der

Lex Irnitana 45 EIUSQUE · PECUNIAE · DEQUE · EA · PECUNIA MUNICIPI · EIUS · MUNICIPII QUI · VOLET · CUIQUE · PER HANC · LEGEM · LICEBIT · ACTIO · PETITIO · PERSECUTIO · ESTO

Die Erweiterung von eiusque pecuniae zu eiusque pecuniae deque ea pecunia – ‚wegen dieses Geldes und was dieses Geld anlangt‘ – kann erfolgt sein, um größere Bestimmtheit oder größere Prägnanz zu erzielen. Quei volet konnte kaum mißverstanden werden: wer anders sollte zu klagen befugt sein, als der Munizipalbürger. Die Irnitana will jeden Zweifel ausschließen und präzisiert municipi eius municipii. 31 32

Rubrik 58, 75 und 96. Siehe oben 2. (b).

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Die Ergänzung cuique per hanc legem licebit kommt in den älteren Stadtrechten nicht vor und die Irnitana selbst kennt weder eine Erlaubnis noch ein Verbot, die Popularklage anzustrengen. Der Zusatz scheint ohne praktische Bedeutung zu sein – vielleicht eine Vorsorge für den Fall, daß nur noch bestimmten Personen die Popularklage gestattet werden sollte. Die petitio der Tarentina umfaßte neben dem ‚Anspruch‘ auch dessen ‚Geltendmachung‘, das ‚Klagrecht‘, und, kaum zweifelhaft, auch das Recht, das iudicatum, die Zahlung an die Gemeindekasse, zu vollstrecken. Die Irnitana wiederum begnügt sich nicht mit dieser Interpretation und benennt, was auch hier die Rechtssicherheit fördert, die Rechte im einzelnen: actio petitio persecutio esto33 – wohl auch um der Befürchtung zu steuern, mit nur dem einen Wort, petitio, oder auch den zwei Worten, petitio persecutioque, nicht all das zu erfassen und auszudrücken, was man erfassen und ausdrücken wollte. Die Lex Iulia municipalis folgt der Tarentina und gestattet die Popularklage durchgehend mit derselben Formel: eiusque pecuniae quei volet petitio esto. (c) Die Lex Ursonensis dagegen bietet ein uneinheitliches Bild. In Rubrik 61, die den Urteilsschuldner mit einer Buße bedroht, der sich dem Gläubiger, der ihn in Gewahrsam nehmen will, gewaltsam widersetzt, und in Rubrik 97, die von der Bestellung eines Patrons für die Kolonie handelt, lautet die Bestimmung wie in der Tarentina und der Lex Iulia municipalis, erweitert allerdings um einen Zusatz, der klar stellt, daß nur ein Kolonist die Popularklage anstrengen kann: eiusque pecuniae colonorum eius coloniae cui volet petitio esto. Die Rubriken 61 und 97 stehen auf den Tafeln 1 und 3. Auf den Tafeln 2 und 3 hat in den 6 Rubriken 74, 81, 82, 92, 93 und 104 die Vorschrift den Wortlaut: eiusque pecuniae qui volet petitio persecutioque ex hac lege esto, in den 3 zuletzt genannten ohne ex hac lege. Und auf Tafel 4, in den Rubriken 125, 126, 128, 129, 130 und 132, ist ihr Wortlaut noch einmal geändert: eiusque pecuniae cui volet reciperatorio iudicio aput IIvirum praefectumve34 actio petitio persecutioque hac lege ius potestasque esto. Da auszuschließen ist, daß nur über die in diesen Rubriken der Ursonensis verhängten Bußen ‚Rekuperatoren in Gegenwart eines Duumvir oder Präfekten‘ urteilten, müssen wir annehmen, daß diese Erweiterung der Bußvorschrift lediglich zum Ausdruck bringt, was ohnehin und für alle Bußen gleichermaßen galt. Sie ist vermutlich eine spätere Zutat wie auch die Differenzierung und Präzisierung der Rechte des Klägers mit der Dreiheit actio petitio persecutioque. Hier ist daran zu erinnern, daß die Gravur der Lex Ursonensis erheblich jünger ist als das Stadtrecht selbst35: sie stammt aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr., mithin aus flavischer Zeit. Wie die Lex Irnitana in Rubrik 95 bezeugt, verfügte das flavi33 Actio petitio persecutio ist keine, wie man angenommen hat (G. Bruns, Die Erztafeln von Osuna, in: ZRG 12 1876, 118), „sinnlose Häufung“ von Begriffen, sondern eine vielfach belegte formelhafte Wortverbindung (vgl. etwa Pap D 44.7.28, Ulp D 50.16.178.2, Flor D 46.4.18.1). 34 In Rubrik 130 lautet dieser Satzteil: reciperatorio iudicio aput IIvirum interregem praefectum.

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sche Stadtrecht, daß die peregrinen Städte Spaniens alsbald nach ihrer Einbürgerung ihre neue Verfassung in Erz schlagen und an einem viel begangenen Ort aufstellen sollten. Es liegt nahe, daß auch die schon privilegierten Kolonien und Munizipien, wie eben Urso, dieser Forderung unterworfen wurden. Die Erweiterung der Bußvorschrift, die anläßlich der Gravur des Stadtrechts geschehen sein könnte, ist kaum zu bezweifeln, denn sie ist überraschend dilettantisch. Die Worte ius potestasque passen nicht in das Satzgefüge; nur ohne sie hat der Satz seinen Sinn. Sie könnten gedankenlos eingefügt worden sein nach dem unpassenden Beispiel der Rubriken 62, 65, 66, 99, 100 und 103. Die verschiedenen Fassungen der Bußklauseln könnten sich, schließlich, daraus erklären, daß die Tafeln 1, 2 und 3 gleichzeitig mit der Tafel 4 (und den folgenden), aber nach verschiedenen Vorlagen graviert worden sind.

II. Die Bußen 1. Die Bußen sind, wie gesagt, überwiegend in Sesterzen bezifferte Geldbeträge36. Sie sind keineswegs einheitlich. In den beiden älteren italischen Stadtrechten, der Lex Tarentina und der Lex Iulia agraria37, von denen wir allerdings nur drei Bußvorschriften mit bezifferten Geldbeträgen haben, sind die Bußen mit 4.000 und 5.000 Sesterzen verhältnismäßig gering38. In der Lex Iulia municipalis von 45 v. Chr. betragen sie einheitlich 50.000 Sesterzen39; in der Lex Ursonensis achtmal 5.000, dreimal 10.000 und zweimal 20.000 Sesterzen40; in der Lex Irnitana, schließlich, viermal 10.000, einmal 20.000 und einmal 100.000 Sesterzen41. 2. Die Bußen, auch schon die von 4.000 und 5.000 Sesterzen, sind außerordentlich hoch bemessen. Nur Vermögende hätten sie bezahlen können: etwa der Schauspieler Quintus Roscius, der Sulla und Cicereo nahe stand und dessen Jahreseinkommen auf 500.000 oder 600.000 Sesterzen geschätzt wurde42; oder Quintus Stertinius, dem seine Arztpraxis jährlich 600.000 Sesterzen eintrug und der als Leibarzt des Kaisers Claudius mit einem Jahreseinkommen von 500.000 Sesterzen nicht zu35 Vgl. etwa P. Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts2 (1912) 81 A. 32; M. H. Crawford, Roman Statutes (1996) I 395. 36 Die auf Quanti ea res est / erit gestellten Bußen bleiben hier außer Betracht, weil sie nicht verlässlich zu quantifizieren sind. 37 Siehe oben A. 4. 38 Lex Iulia agraria 54: 4.000 HS, 55: 5.000 HS; Lex Tarentina VIIII 3: 5.000 HS. 39 Zeile 17, 89, 98, 108, 135. 40 Rubrik 73, 74, 81, 97, 125, 126, 128 und 132: 5.000 HS; Rubrik 92, 129 und 130: 10.000 HS; Rubrik 61 und 93: 20.000 HS. 41 Rubrik 26, 58, 74 und 75: 10.000 HS; 45: 20.000; 96: 100.000 HS. In Rubrik 90 beträgt die Buße für jeden überzähligen Tag 1.000 HS – was leicht zu fünf oder mehr Tausend Sesterzen auflaufen konnte. 42 Plinius n. h. VII 129. F. von der Mühll, Roscius Nr. 16, RE I A (1914) 1124.

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frieden war43; oder der berühmte Redner Quintus Hortensius, Konsul im Jahre 69 v. Chr., der für ein Gemälde 144.000 Sesterzen bezahlen konnte; oder auch ein kaiserlicher procurator, dessen Jahresgehalt, war er ein trecenarius, 300.000 Sesterzen betrug.44 3. Indessen galten die Stadtrechte für jedermann, für jeden Munizipalbürger und jeden Kolonisten und jeden Einwohner der Munizipien und Kolonien. In der übervölkerten Millionenstadt Rom waren die Reichen45, an der Spitze die Senatoren46 und Ritter eine sichtbare, wenn auch kleine Minderheit, und auch in Neapolis und Puteoli und anderen Städten des Südens und Nordens – wie Tarentum, Herakleia oder Sybaris am Mare Ionicum, Comum im cisalpinischen Gallien oder Cremona am Nordufer des Po – wird es vermögende Bürger gegeben haben, die eine Buße von 50.000 HS hätten zahlen können. Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung Roms, der Kolonien und Munizipien aber waren diese Summen schlechterdings unerreichbar: ein ungeheurer Abstand trennte Arm und Reich. Für unsere spanischen Städte Urso und Irni können wir Reichtum jenes Ausmaßes ausschließen, und auch für andere municipia Flavia wie Malaca oder Salpensa ist er eher unwahrscheinlich47.

III. Einkommen, Löhne und Preise 1. Die Nachrichten über Einkommen, Löhne und Preise sind spärlich. Sehen wir von den afrikanischen Provinzen ab48, so kommen die bei weitem meisten Nachrichten aus Italien49. Von den in der Katastrophe des Jahres 79 n. Chr. zu Tode gekommenen Pompejanern trugen wenige mehr als 1.000, die meisten nur bis zu 30 Sesterzen bei sich. Zwei Inschriften aus Pompeji belegen als Tageslohn eines Arbeiters im einen Fall 4 Sesterzen und Kost50, im anderen nur 5 Asse51. Der Dirnenlohn konnte 27 Asse betragen, betrug aber ganz überwiegend 2 Asse; für das Lupanar sind 4 Sesterzen belegt52. In der 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. berichtet der Jurist Scaevola den Fall53, daß eine Maevia einem Lucius Titius einen Jahreslohn von

Plinius n. h. XXIX 7 / 8. Kind, Stertinius Nr. 2, RE III A (1929) 2450. R. Duncan-Jones 343 / 4, Appendix 7, verzeichnet 29 große Privatvermögen der – überwiegend – frühen Prinzipatszeit von Senatoren, Ärzten, Freigelassenen. 45 Siehe R. Duncan-Jones 3 – 5. 46 Siehe R. Duncan-Jones 17 – 32. 47 Weitere flavische Munizipien nennt H. Galsterer, Untersuchungen zum römischen Städtewesen auf der iberischen Halbinsel (1971) 47. 48 Die Preise bei R. Duncan-Jones 90 – 114. 49 Die Preise bei R. Duncan-Jones 157 – 223. 50 CIL IV 6877. 51 CIL IV 4000. 52 Vgl. P. G. Guzzo / V. Scarano Ussani, Ex corpore lucrum facere (2009) 121. 43 44

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1.000 Sesterzen ausgesetzt habe, wenn er die Verwaltung des Vermögens ihres zum Erben eingesetzten Enkels übernähme; und berichtet wenig später der Jurist Papinianus54, daß ein Erblasser seinem ‚treuen Freund Seius‘ 600 Sesterzen und ein Wohnrecht ausgesetzt habe, wenn er sich der Geschäfte seiner Kinder annähme. Nach allem, was wir im übrigen wissen, war das Leben aber nirgends teurer als in Rom55. 2. Ganz anders waren die Verhältnisse in Spanien. Martial, gegen 40 n. Chr. in der Ibererstadt Bilbilis in der Tarraconensis geboren, ging 64 nach Rom, wo er 34 Jahre lebte56. In einem sehnsuchtsvollen Gedicht57 vergleicht er die römischen Zustände mit denen seiner Heimat: pascitur hic, ibi pascit ager. Tepet igne maligno hic focus, ingenti lumine lucet ibi. hic pretiosa fames conturbatorque macellus, mensa ibi divitiis ruris operta sui

So versteht sich auch, daß in dem reichen Comum im cisalpinischen Gallien decurio nur werden konnte, wer über ein Vermögen von 100.000 Sesterzen verfügte58 – während in Irni ein Vermögen von 5.000 Sesterzen ausreichte59. In Tarentum mußte der decurio ein Stadthaus mit mindestens 1.500 Dachziegeln besitzen60 – während er in Urso nur verpflichtet war, in der Stadt oder innerhalb des ersten Meilensteins zu wohnen61. Die Duumvirn und Ädile der colonia Ursonensis, die in ihrer Amtszeit viertägige Gladiatoren- oder Theaterspiele veranstalten mußten, erhielten aus der Gemeindekasse 2.000, die Ädile 1.000 Sesterzen und hatten aus ihrem Privatvermögen 2.000 Sesterzen beizusteuern62 – während etwa in Paestum der öffentD 33.1.13 pr. D 33.1.10 pr. 55 Iuvenalis III 167: et frugi coenula magno; 183 / 4: omnia Romae cum pretio. Vgl. R. Duncan-Jones 344 – 347 und 364 / 5. 56 Epigrammata X 103: quattuor accessit tricesima messibus aestas / ut sine me Cereri rustica liba datis. 57 Epigrammata X 96 (Zeile 7 – 10), in der Übersetzung von R. Helm (1957): Hier ernährt man das Land, doch dort nährt’s uns, und nur schwelend / wärmt hier das Feuer den Herd, lichterloh leuchtet er dort. / Hier kostspieliger Hunger, ein Markt, der nur zum Bankrott führt; / dort ein Tisch, vom Ertrag eigenen Landes bedeckt! 58 Plin. ep. I 19. Zu Plinius’ eigenem Vermögen R. Duncan-Jones 17 – 32. Für den Unterhalt seiner 100 liberti vermachte er seiner Stadt bekanntlich 1.866. 666 Sesterzen. 59 Das ergibt sich aus Rubrik 86: Die Duumvirn hatten nach der Vorstellung des Statthalters für die Richterlisten decuriones und municipes zu bestimmen: municipes, die selbst oder deren Vater oder (väterlicherseits) Großvater oder Urgroßvater oder, wenn sie nicht sui iuris waren, ihr pater familias ein Vermögen von nicht weniger als 5.000 Sesterzen hatten. 60 Lex Tarentina VIIII 3 (Zeile 26 – 29). Die Berechnung der Baukosten nach der Anzahl der Dachziegel bei Cato (agr. XIV 4) ist umstritten. Vgl. R. Duncan-Jones 124 – 126. 61 Lex Ursonensis 91. 62 Lex Ursonensis 70 und 71. 53 54

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liche Beitrag 25.000 Sesterzen betrug: was uns die Kosten der Spiele hier und dort abschätzen läßt. Ebenso kennzeichnet die Verhältnisse, daß die den Duumvirn, dem Präfekten und dem Ädil in Kapitel 94 der Lex Ursonensis zugesprochene iurisdictio jedenfalls nicht unbeschränkt war; und daß in Irni die absolute Streitwertgrenze der Gerichtsbarkeit der Duumvirn bei 1.00063, der Ädile bei 200 Sesterzen lag64, und die Gerichtsbarkeit außerdem ratione materiae erheblich eingeschränkt war65; in dem größeren und bedeutenderen municipium Flavium Malacitanum die Zuständigkeit der Duumvirn allerdings bis 2.000 Sesterzen ging 66. 3. Die unmittelbarste Anschauung der wirtschaftlichen Verhältnisse in der bei weitem größten Bevölkerungsschicht der Städte Spaniens gibt die Lex Ursonensis mit der Liste der Jahreseinkommen der Hilfsbeamten67. Von den apparitores der Duumvirn erhielten die Schreiber oder Sekretäre 1.200, die Amtsdiener 700, die Liktoren 600, die Amtsboten 400, die Buchhalter oder Kopisten 300, die haruspices 500 und die Ausrufer 300 Sesterzen; von den Hilfsbeamten der Ädile: die Schreiber oder Sekretäre 800, die haruspices 50068, die Flötenspieler 300 und auch die Ausrufer 300. Da die Tafeln der Ursonensis aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. stammen und, wie wir wissen, ihr Text nicht unberührt geblieben ist, dürfen wir annehmen, daß die Kaufkraft des Geldes seit dem Erlaß der Ursonensis nicht nachgegeben hat und die normierten Einkommen in flavischer Zeit unverändert waren69. Es stützt diese Annahme, daß auch die Soldzahlungen seit Caesars Reform über mehr als hundert Jahre stabil geblieben sind und erst 84 n. Chr. der Jahressold eines Legionärs von 900 auf 1.200 Sesterzen gehoben wurde70. Indessen wird das Einkommen der Hilfsbeamten ihren Lebensunterhalt nicht gedeckt haben, so daß ein zweiter und dritter Arbeitslohn wohl unerläßlich waren. 4. Über die Kaufkraft des Geldes in Spanien sind wir ohne Nachrichten, und von den Preisen auch nur der wichtigsten Nahrungsmittel in der Baetica oder der Tarraconensis haben wir ebenfalls keine Kenntnis. Und selbst über das Preisniveau in Italien wissen wir eher wenig71.

J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, SDHI 66 (2000) 32 – 37. SDHI 66 (2000) 54 – 56. 65 SDHI 66 (2000) 37 – 45. 66 Was ein Vergleich der Rubriken 69 der Malacitana und Irnitana nahe legt: SDHI 66 (2000) 60. 67 Rubrik 62. Siehe auch M. Prell 171 – 178; über ‚Preise, Kaufkraft und Lebensstandard‘ 179 – 191. 68 Der überlieferte Text verzeichnet 100 Sesterzen. 69 Vgl. M. Prell 179. 70 Ein Prätorianer in Rom hatte allerdings einen Jahressold von 2.880 Sesterzen und erhielt nach 16 Dienstjahren eine Abfindung von 20.000 Sesterzen – ein Legionär nach 20 Dienstjahren unter Augustus 3.000 Sesterzen. Vgl. M. Prell 175 / 6. 71 R. Duncan-Jones 144 – 147; M. Prell 179 – 191; G. Rickman, The Corn Supply of Ancient Rome (1980) 143 – 155; 171 / 2; 39 / 40. 63 64

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Für die arme Bevölkerung war der Kornpreis der wichtigste. Er war keineswegs einheitlich; von Region zu Region gab es spürbare Unterschiede. Außerdem unterlag er großen Schwankungen. In Pompeii kostete der modius72 Weizen mal 3, mal 4, mal 7 ½ Sesterzen. Rom hatte wieder eine Sonderstellung: auch hier gab es einen freien Markt, neben den Marktpreisen aber die annona: Getreide, das an die arme Bevölkerung zu staatlich subventionierten Preisen verkauft oder auch unentgeltlich ausgegeben wurde. In der Teuerung des Jahres 19 n. Chr. hat Tiberius den Verkaufspreis verordnet und den modius mit 2 Sesterzen subventioniert. Den Weinpreis bestimmten vor allem Herkunft und Qualität. In Pompeii wurde die amphora, die gut 26 Liter faßte, mit 12, 24 und 48 Sesterzen angeboten, in der Nachbarstadt Herculaneum die billigste mit 24 Sesterzen73. Über Olivenöl ist nur bekannt, daß im 1. Jh. n. Chr. in Pompeii der Liter für etwa 3 Sesterzen verkauft wurde74. 5. Bei solchen Preisen, wenn sie denn auch für Comum galten, hätten die Freigelassenen des Plinius Secundus mit einem Budget von – umgerechnet – 2 bis 3 Sesterzen für den täglichen Unterhalt ihr gutes Auskommen gehabt. Aber dieser Satz war offenbar nicht die Regel. Etwa 70 oder 80 Jahre später mußte Scaevola den Fall beurteilen75, daß ein Aurelius Symphorus zwei verschwisterten Mündeln alimentorum nomine bis zum 14. Lebensjahr pro Monat jedem 24 Sesterzen vermacht hat: umgerechnet 0,8 Sesterzen für die tägliche Nahrung. Und daß dies keine Ausnahme war, zeigt ein zweiter, auch von Scaevola berichteter Fall76, daß eine Erblasserin in einem Kodizill ihrer Pflegetochter Sempronia auf Lebenszeit monatlich 20 Sesterzen als Fideikommiß ausgesetzt hat: umgerechnet weniger als 0,7 Sesterzen für den täglichen Unterhalt. Auch wenn in Spanien die wirtschaftlichen Verhältnisse für den einfachen Mann günstiger waren, wird man kaum annehmen können, daß mit noch geringeren Beträgen der tägliche Unterhalt bestritten werden konnte. Der Schreiber, dessen Jahreslohn 1.200 Sesterzen betrug, konnte täglich knapp 3.5, der haruspex, der 500 verdiente, täglich knapp 1.4, und der Flötenspieler, der nur 300 Sesterzen erhielt, täglich wenig über 0.8 Sesterzen ausgeben. Und sie mußten nicht nur essen und trinken: sie mußten sich auch kleiden und wohnen und vielleicht Frau und Kinder unterhalten. Auch ein Jahreslohn von 1.200 Sesterzen reichte dafür nicht aus: ein zweiter und dritter Arbeitslohn waren, wie schon gesagt, unerläßlich. Und wieder ist festzuhalten, daß die Bußen von 10.000 oder 50.000 Sesterzen für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung allemal in Spanien, aber sicher auch im Mutterland Italien ohne Bedeutung waren. Ein Hohlmaß von 8, 754 Litern. Es faßte 7 bis 8 kg Weizen. R. Duncan-Jones 46 A. 3. 74 CIL IV 4000. Ein Schwein kostete 240 – 280, ein Rind 800, ein Esel 400 – 800 Sesterzen. Für eine feine Tunica zahlte man 300, für eine hübsche Sklavin bis zu 4.000, für einen qualifizierten Sklaven bis zu 100.000 Sesterzen. 75 D 34.3.28 pr. 76 D 34.4.30 pr. 72 73

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IV. Die Adressaten der Bußverordnungen 1. Die Bußverordnungen etwa der Lex Ursonensis galten überwiegend für Amtspersonen, einige allerdings auch für jedermann. So sollten Duumvirn und Ädile ihre Schreiber öffentlich, in einer contio, einer Versammlung der Bürger und Einwohner der Kolonie, den Eid schwören lassen, die Gelder der Kolonisten sorgfältig zu verwalten77; bei Theaterspielen sollten sie dafür sorgen, daß Bürger und Nichtbürger, Gäste und Besucher so gesetzt wurden, wie die Dekurionen es beschlossen haben78; sie sollten auch veranlassen, daß Aufseher für Tempel und Heiligtümer durch Beschluß der Dekurionen bestellt werden und Zirkusspiele durchführen, Opfer darbringen und Bittprozessionen veranstalten, wie die Dekurionen es beschließen79; sie sollten sich nicht bestechen lassen80 und sowohl sie wie die Dekurionen selbst den ordo nicht mit der Bestellung eines ‚Gastfreundes‘81 oder Patrons82, auch wenn er ein römischer Senator oder der Sohn eines Senators ist83, befassen; der Dekurio, der die ihm übertragene Gesandtschaft ablehnt, sollte einen Vertreter seines Standes stellen84; und sie alle, Magistrate und Dekurionen, sollten den Beschlüssen der Dekurionen gehorsam folgen85. Bei Verletzung einer dieser Amtspflichten drohten ihnen empfindliche Geldbußen. 2. Die für jedermann geltenden, mit Bußdrohungen bewehrten Verbote haben durchweg ‚ordnungspolizeilichen’ Charakter. Sie untersagen, Tote in der Stadt und innerhalb der Grenzen der Kolonie, qua aratro circumductum erit, zu bestatten oder zu verbrennen oder ihnen ein Monument zu errichten86; eine neue Leichenbrandstätte anzulegen näher als 500 Fuß zur Stadt87; decumani oder Grenzwege zu versperren oder Wasser führende Grenzgräben zu verstopfen88; bei Spielen die Sitzordnung zu mißachten und Plätze einzunehmen, die den Dekurionen vorbehalten sind89. Andere Vorschriften, die auch jedermann treffen konnten, untersagen dem Urteilsschuldner, der das iudicatum nicht leistet und keinen vindex stellt, sich gewaltsam dem Gläubiger zu widersetzen, der ihn in Gewahrsam nehmen will90; oder dem Kandidaten, der sich um ein Amt bewirbt, im Wahljahr Gastmähler zu geben 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Lex Ursonensis 81. Lex Ursonensis 126. Lex Ursonensis 128. Lex Ursonensis 93. Lex Ursonensis 131. Lex Ursonensis 97. Siehe oben I. 5 (b). Lex Ursonensis 130. Lex Ursonensis 92. Lex Ursonensis 129. Lex Ursonensis 73. Siehe oben I. 3 (a). Lex Ursonensis 74. Lex Ursonensis 104. Vgl. Lex Iulia agraria 54, oben bei A. 27. Lex Ursonensis 125. Lex Ursonensis 61. Siehe oben I. 3. (b); I. 5. (a) und (b).

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und Geschenke zu machen91; schließlich einem jeden Bürger und Einwohner, Land oder Wald zu kaufen, den die Stadt einem Kolonisten zur Nutzung überlassen hat92. Wie den Magistraten und Dekurionen bei Verletzung einer der Amtspflichten drohte hier jedermann, der eines der ‚ordnungspolizeilichen’ oder der drei anderen Verbote verletzte, eine empfindliche Buße. 3. Hier stellt sich allerdings sofort die Frage, ob nicht die mittellosen Bürger und Einwohner der Kolonie durch ihre wirtschaftliche und soziale Lebenslage aus dem Kreis der Adressaten dieser Verbote, wenngleich sie ihnen von Rechts wegen unterlagen, de facto ausgeschlossen waren. Eine klare Grenzziehung ist kaum möglich. Gleichwohl wird man nicht annehmen wollen, daß ein haruspex oder praeco, ein Amtsbote oder Flötenspieler einen Leichnam in der Stadt verbrannte oder bestattete oder ein Grabmal errichtete; daß er den decumanus versperrte oder bei Spielen einen Platz unter den Dekurionen einnahm; für ein Wahlamt kandidierte und Gastmähler gab oder ein Stück Land oder Wald von einem Kolonisten kaufte. 4. Entsprechendes galt für Gebote und Verbote anderer Stadtrechte, die mit Bußzahlungen bewehrt waren. Daß der Schreiber eines Duumvir öffentliche Gelder in die Hand bekam und unterschlug und, der Tat überführt, dem municipium Tarentinum eine Buße schuldete, die das Vierfache der unterschlagenen Summe betrug93, ist nicht auszuschließen, daß er aber die geschuldete Buße aufbringen konnte, ist durchaus unwahrscheinlich – so unwahrscheinlich wie die Unterschlagung öffentlicher Gelder durch einen Zimmermann, Schmied oder Steinmetz, obwohl sie, wie der Schreiber, dem Verbot unterlagen. Oder daß gegen ein Gebot der Lex Iulia municipalis ein fullo oder pistor, der noch keine 30 Jahre alt war, angab, die Altersgrenze erreicht zu haben94, um mit seiner Bewerbung für eine Kandidatur um das Duumvirat nicht abgewiesen zu werden, wird kaum vorgekommen sein, und ebenso wenig, daß aus demselben Grunde ein Ausrufer, Totengräber oder Bestattungsunternehmer seinen Beruf verleugnete95. Die Lex Irnitana gibt kein anderes Bild. Der Duumvir soll das intertium auf den Tag erteilen, den Parteien und iudex vereinbart haben96, und er soll nichts unternehmen, etwa durch Interzession, was die Durchführung von Komitien verhindert97. Die Duumvirn, Ädile und Quästoren sollen den Amtseid leisten98 und an Kauf und Pacht von Gemeindeland und Steuern sollen sie und auch nicht ihre Schreiber und nächsten Verwandten teilnehmen99. Und der Dekurio, der ablehnt eine Gesandt91 92 93 94 95 96 97 98 99

Lex Ursonensis 132. Lex Ursonensis 82. Lex Tarentina VIIII 1. Siehe oben I. 2 (b); 4 (b); 5 (a). Lex Iulia municipalis Zeile 89 – 93. Lex Iulia municipalis Zeile 94 – 97. Lex Irnitana 90. Siehe oben I. 4 (b). Lex Malacitana = Lex Irnitana 58. Lex Irnitana 26. Lex Irnitana 48. Siehe oben I. 2. (b).

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schaft zu übernehmen, obwohl er keinen Grund der Entschuldigung hat, soll einen Vertreter aus den Reihen der Dekurionen stellen100. Wer diesen Vorschriften nicht entspricht, muß mit einer beträchtlichen Buße rechnen. Nicht anders der Bürger und Einwohner, der ohne Erlaubnis der Dekurionen in der Stadt ein Haus abreißt und nicht binnen Jahresfrist durch ein neues ersetzt101; der unerlaubte Zusammenkünfte durchführt und organisiert102; der Waren aufkauft und zurückhält oder zu teuer wieder verkauft oder zu diesem Zweck eine Gesellschaft gründet103; der gegen das Gesetz handelt oder es umgeht104; der von einem libertus der Gemeinde als Entgelt für die Freilassung mehr verlangt, als die Dekurionen festgesetzt haben105; und, schließlich, der Geld, das der Gemeinde zusteht, in die Hand bekommen und nicht binnen 30 Tagen an die Stadtkasse abgeführt hat106. Jeder Bürger und Einwohner von Irni unterlag diesen Vorschriften, aber wieder stellt sich die Frage, für wen sie überhaupt aktuell waren107. Ein Mann, der von seiner Hände Arbeit lebte, hatte vermutlich kein Haus in der Stadt und erst recht nicht die Mittel, es durch ein neues zu ersetzen. Kein Lohnarbeiter mit einem täglichen Einkommen von vielleicht 4 Sesterzen und kein arbeitsamer Landmann108 hatte Geld genug, um Waren aufzukaufen und zurückzuhalten, und wer schon, wenn nicht ein Magistrat, sein Schreiber oder ein negotiorum gestor der Gemeinde, bekam Geld in die Hand, das er an die Stadtkasse abführen mußte.

V. Rückblick Die außerordentlich hohen Bußen, mit denen die Lex Irnitana die Verletzung von Geboten und Verboten sanktioniert, waren der Anlaß dieser Abhandlung. Bußdrohungen dieser Art beschränken sich indessen nicht auf das flavische Stadtrecht Spaniens. Die Lex Ursonensis steht ihm nicht nach und schon die Lex Tarentina bewehrte ihre Gebote mit hohen Geldbußen. Es ergab sich außerdem eine Kontinuität in der sachlichen und grammatischen Grundstruktur der Bußvorschriften über die nahezu zwei Jahrhunderte hin von der Tarentina bis zur Irnitana109 – eine Kontinuität, die allerdings eine Differenzierung

100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Lex Irnitana 45. Siehe oben I. 5. (b). Lex Irnitana 62. Siehe oben bei A. 14. Lex Irnitana 74. Siehe oben I. 3. (a). Lex Irnitana 75. Lex Irnitana 96. Lex Irnitana 72. Siehe oben I. 2. (b). Lex Irnitana 67. Siehe oben nach A. 13 und bei A. 24. Über die Armut siehe M. Prell insb. 213 – 231; zu den Erwerbsformen ebd. 156 – 170. Zu den Verhältnissen auf dem Lande siehe M. Prell 208 – 212. Siehe oben II. 1.

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und Konkretisierung und damit auch Präzisierung der Bußklauseln nicht behinderte110. Und ebenso sind sich die Gesetze darin gleichgeblieben, daß sie – mit wenigen Ausnahmen – jedem Bürger des Gemeinwesens das Recht einräumen, den Bußanspruch zu verfolgen111. Das Außerordentliche der Bußbeträge zeichnet sich erst ab im Vergleich mit den Einkommen der Bevölkerung und den Preisen der unentbehrlichen Sachgüter. Der soziale Abstand zwischen den Reichen und der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung Roms, Italiens, der Kolonien und Munizipien, auch wenn sie ihr tägliches Auskommen hatte, war enorm. Das Vermögen des jüngeren Plinius oder des Stadtpräfekten Pedanius Secundus112 war nahezu unermeßlich. Das Jahreseinkommen des Schauspielers Quintus Roscius wurde auf 500.000, das des Arztes Quintus Stertinius auf 600.000 Sesterzen geschätzt; das eines kaiserlichen Prokurators konnte 300.000 Sesterzen betragen113 – während der Sekretär eines Duumvir im spanischen Urso ein Jahreseinkommen von 1.200, der eines Ädils von 800 und ein haruspex von 500 Sesterzen hatte114; und der Tagesverdienst eines Lohnarbeiters im Durchschnitt 3 bis 4 Sesterzen war. Die Vorstellung, daß die Bußdrohungen auf die dünne Schicht der Reichen zugeschnitten war, würde täuschen. Die Adressaten der meisten mit Bußen bewehrten Gebote und Verbote sind in Irni und Urso, in Tarentum und den italischen Gemeinden der Lex Iulia municipalis die Magistrate, in erster Linie die Duumvirn, und die Dekurionen115. Wer in Irni für das Duumvirat kandidierte, brauchte nur nachzuweisen, daß er oder sein Vater oder Großvater über ein Vermögen von 5.000 Sesterzen verfügte116 – während die geringste Buße 10.000 Sesterzen betrug. Schließlich bleibt festzuhalten, daß die mit Bußdrohungen bewehrten Gebote und Verbote, denen jedermann unterlag, keineswegs auch für jedermann relevant waren117. Den einfachen Mann, auch wenn er und seine Familie ihr tägliches Auskommen hatten, schlossen die meisten Tatbestände der Gebote und Verbote, denen er de iure unterlag, de facto aus. Wo aber das – meist ‚ordnungspolizeiliche‘ – Verbot für ihn relevant war, konnte die Bußdrohung allenfalls präventive Wirkung haben. Selbst für die Amtsträger wird dies der Fall gewesen sein. Mit welcher Absicht die Bußen so hoch bemessen worden sind, muß offen bleiben. Eine Präventionswirkung wäre auch mit wesentlich geringeren Bußen erreicht worden.

Siehe oben I. 4. und 5. Siehe oben I. 5. b). 112 Siehe J. G. Wolf, Das Senatusconsultum Silanianum und die Senatsrede des C. Cassius Longinus aus dem Jahre 61 n. Chr. (SB Heidelberger Ak. Philos.-hist. Kl. 1988 Nr. 2) 9 – 16. 113 Siehe oben II. 2. 114 Siehe oben III. 3. und 5. 115 Siehe oben IV. 1. 116 Siehe oben A. 59. 117 Siehe oben IV. 2., 3. und 4. 110 111

Die Eide der Lex Irnitana I. Wie in den griechischen Stadtstaaten1 so war auch in Rom der Eid in hohem Ansehen. Gleichwohl war die Eidesleistung in den griechischen Städten nahezu alltäglich, aber auch in Rom war seine Verwendung keine Ausnahme2. Im griechischen Privatrecht hatte der Eid vielfältige Aufgaben, im römischen dagegen nur dort, wo Rechtsnormen keine Verbindlichkeiten oder andere Rechtsfolgen begründeten3 – wie etwa die iurata promissio operarum, die dem Sklaven vor seiner Feilassung in aller Regel abverlangt wurde4. Im römischen Zivilprozeß indessen war der Eid allenthalben erforderlich5, seine Domäne allerdings das Staats- und Verwaltungsrecht6. So wird in den Stadtrechten die Eidesleistung, im Prozeß- wie im Verwaltungsrecht, immer wieder verordnet7: in den Rubriken der Lex Irnitana – einschließlich der auf ihren Bronzetafeln nicht erhaltenen Kapitel der Lex Malacitana8 – nicht weniger als zwölf Mal. Es sind, mit einer Ausnahme9, promissorische Eide, die das Gesetz verlangt. Kein Eid wird im Wortlaut angeführt, ihre Anordnungen allerdings unterscheiden sich in ihrer Ausführlichkeit. Sieben Mal nennt die Lex Irnitana auch die Gottheiten, die vergötterten Kaiser und den Genius des regierenden Kaisers Domitian, bei denen der Schwur zu leisten ist, während sechs Mal die Eidesleistung ohne weiteres angeordnet wird. Es E. Ziebarth, Eid, in: RE 5 (1905) 2076 – 2083 mit weit. Lit. A. Steinwenter, Iusiurandum, in: RE 10 (1918) 1253 – 1260 mit weit. Lit. 3 Th. Mommsen, Das römische Gastrecht, in: Römische Forschungen I (1864, 1962) 370; Römisches Staatsrecht (1871) 235 mit A. 2; L. Mitteis, Römisches Privatrecht (1908) 23 A. 2; Steinwenter (cit. A. 2) 1259. – Cic. ad Atticum 7. 2. 8; Venuleius D 40.12.44 pr. 4 Mommsen, Mitteis (cit. A. 3); M. Kaser, Das römische Privatrecht (2. Aufl. 1971) 300. Siehe auch Cic. de officiis 3. 111, 112; Gai 3. 96; Celsus bei Ulpian D 38.1.15.1. 5 M. A. von Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß II (1865) 572 – 585; Steinwenter (cit. A. 2) 1257 – 1259; L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozessrechts (1925) 345 Sachregister s. v. Eid; M. Kaser, Das römische Zivilprozessrecht (1966)197 – 200, auch 197 A. 1. 6 Steinwenter (cit. A. 2) 1256 / 7. 7 Lex Latina tabulae Bantinae (2. H. 2 Jh. v. Chr.) Kap. 3: Z. 14 – 19, Kap. 4: Z. 23 – 25; Lex Rubria (49 v. Chr.) XX. 9, Lex tabulae Heracleensis (45 v. Chr.) Zeile 113; Lex Ursonensis (44 v. Chr.) Kap. 81 / 82, 95. 8 Kap. 51 – 59. Näheres J. G. Wolf, Die Lex Irnitana, Ein römisches Stadtrecht aus Spanien (2011) 20 / 21. 9 Rubrik 45. 1 2

Die Eide der Lex Irnitana

257

versteht sich, daß auch diese Eide nicht geschworen wurden, ohne daß eine Gottheit oder Gottheiten angerufen wurden10; für einen wirksamen Eid war ihre Anrufung unerläßlich. Zu beantworten wird allerdings die Frage sein, warum die Schwurgottheiten, die vergötterten Kaiser und der Genius des regierenden Kaisers mal vollzählig aufgeführt werden, mal aber auch nicht eine Gottheit benannt wird. Zunächst aber machen wir uns mit den Texten bekannt, in denen die Schwurgottheiten aufgeführt werden.11

II. R. 25

22 23 24 25 26

R. 26 41 42 43 44 45 46

EX IIVIRIS QUI … EX EO MUNICIPIO PROFICISCE[RE]TUR … ARBITRABITUR QUEM PRAEFECTUM MUNICIPI … RELINQUERE VOLET FACITO UT IS IURET PER IOVEM ET DIVOM · AUG · ET DIVOM CLAUDIUM · ET · DIVOM VESPASIA NUM AUG Et DIVOM · TITUM · AUGUSTUM ET GENIUM IMP CAESARIS DOMITIANI AUg · DEOSQUE · PENATIS QUAE IIVIRUM QUI IURE DICUNDO PRAE ERIT HAC LEGE fACERE OPORTEAT SE DUM PRAEFECTUS ERIT, D T QUAe EO tEMPO RE FIERI POSSINT FACTURUM NEQUE ADVERSUS EA FACTURUM SCIENTEM D M IIVIRI … ITEM AEDILES … ITEM QUAESRORES … EORUM QUISQUE … IURATO IN CON TIONE PER · IOVEM ET DIVOM · AUG · ET DIVUM CLAUDIUM · ET DIVOM VESPASI ANUM AUG · ET DIVOM · TITUM · AUG · ET · GENIUM · IMP · CAESARIS · DOMITIANI AUG · DEOSQUE · PENATIS SE QUOD CUMQUE EX H L EX QUE RE COMMUNI MU NICIPUM MUNICIPI FLAVII IRNITANI CENSEAT RECTE ESSE FACTURUM NE QUE ADVERSUS H L REMVE COMMINEM MUNICIPUM EIUS MUNICIPI FAC TURUM SCIENTEM D M QUOSQUE PROHIBERE POSSIT PROHIBITURUM NEQUE SE

10 Steinwenter (cit. A. 2) 1254: „ein göttlich gedachtes Wesen“ ; K. Latte, Meineid, in: Kleine Schriften (1968) 375 – 379. Cic. de officiis 8. 81; auch Ulpian D 12.2.5.1. 11 Zur Datierung der Lex Irnitana: J. G. Wolf, Irni vor der Irnitana, in: IURA 58 (2010) 197 / 8; Die Lex Irnitana (cit) A. 8) 19 / 20; zu ihrem Inhalt: ders., The Romanisation of Spain, in: A. Burrows / Lord Rodger of Earlsferry (Hgb.), Mapping the Law, Essays in Memory of Peter Birks. (2006) 445 – 452; Die Lex Irnitana (cit. A. 8) 21 – 29.

258

Die Eide der Lex Irnitana 47 48 49

R. 45 31 32 33 34 35 R. Mal 59

2 3 4 5 6 7 R. 69

18 19 20 21 22 R. 73

ALITER CONSILIUM INITURUM NIQUE ALITER DATUM NEQUE SENTENTIAM DICTURUM QUA MUT EX H L EXQUE RE COMMUNI MUNICIPUM EIIUS MUNICIPI CENSEAT FORE … … QUI HAC LEGE LEGATUS ERIT IS NISI EIIUS EXCU SATIONEM DECURIONES … ACCEPERINT AUT IURAVERIT CORAM DECURIONIBUS … PER · IOVEM · ET · DIVOM · AUGUSTUM · ET · DIVOM · CLAU DIUM · [AUGUSTUM · ET · DIVUM CLAUDIUM ] · ET · DIVUM · VESPASIANUM · AUG ET · DIVUM · TITUM · AUG · ET · GENIUM · IMP · CAESARIS · DOMITIANI · AUG · DEOSQue PENATIS SE ANNORUM LX MAIORemVE ESSE AUT … QUI EA COMITIA HABEBIT UTI QUISQUE EORUM QUI IIVIRATUM AEDILITATEM QUAESTURAMVE … PETET MAIOREM PARTEMNUMERI CU RIARUM EXPLEVERIT PRIUS QUAM EUM FACTUM CREATUMQUE RENUN TIET IUS IURANDUM ADIGITO IN CONTIONE PALAM PER IOVEM · ET · DIV OM · AUG · ET · DIVOM · CLAUDIUM · ET · DIVOM · VESP · AUG · ET · DIVOM · T · AUG · ET · GE NIUM · IMP · CAESARIS DOMITIANI · AUG deOSQUE · PENATES EUM QUAE EX HAC LEGE FACERE OPORTEBIT FACTURUM NEQUE ADVERSUS H L FECIS SE AUT FACTURUM ESSE SCIENS D MALO … DECURIONUM COGNITIO IUDICATIO LITISQUE AESTUMATIO ESTO ITA UT … IIQUE QUI SENTENTIAS LATURI ERUNT PRIUS QUAM SENTENTIAS FERANT QUISQUE EORUM IURET PER · IOvEM · ET · DIVOM · AUG · ET · DIVOM · CLAUDIUM · ET · DIVOM · VESP · AUG · ET · DIVOM · TITUM AUGUSTUM · ET · GENIUM · IMP · DOMITIANI · AUG · DEOSQUE · PENATES SE QUOD AEQUUM BONUMQUE ET MAXIME E RE COMMUNI EIUS MUNICIPI ESSE CEN SEAT IUDICATURUM SCRIBAE QUI TABULAS LIB[E]ROS RATIONES COMMUNES IN EO MUNICIPIO SCRIPTURI ORDINATURIQUE ERUNT … ANTEQUAM TABULAS COMMUNES

Die Eide der Lex Irnitana

37 38 39 40 R. 79 54 55 56 57

259

MUNICIPUM SUORUM INSPICIANT AUT QUIT IN EAS REFERANT QUISQUE EO RUM IURATO · PER · IOVEM · ET · DIVOM · AUG · ET · DIVOM · VESPASIANUM · AUG ET · DIVOM · TITUM · AUG · ET · GENIUM · IMP · CAESARIS · DOMITIANI · AUG · DE OSQUE · PENATES .SE TABULAS COMMUNES MUNICIPUM SUORUM FI DE BONA SCRIPTURUM … ET TUM NE ALITER DECRETUM FIAT QUA MUT pER TABELLAM DECURIONES … SENTENTIAM FERANT ET ANTE QUAM FERANT IURENT PER · IOVEM ET · DIVOM · AUG · ET · DIVOM VESP · AUG · ET · DIVOM · TITUM · AUG · ET · GENIUM · IMP CAESARIS · DOMITIANI · AUG · DEOSQUE · PENATES SE EAM SENTENTIAM LATUROS QUAM MAXIME E RE COMMUNI MUNICIPUM ESSE CENSEANT …

1. In allen sieben Fällen erfolgt die Eidesleistung – mit einer Ausnahme – per

IOVEM DIVOM AUG / AUGUSTUM DIVOM CLAUDIUM DIVOM / DIVUM VESPASIANUM / VESP DIVOM TITUM / T GENIUM DOMITIANI DEOS PENATES

Die Ausnahme sind die in den Rubriken 73 und 79 vorgesehenen Eide: hier ist jeweils Divus Claudius ausgespart. In Rubrik 73 ist es der Schwur der Stadtschreiber, in Rubrik 79 der Schwur der Dekurionen. Die Stadtschreiber schwören, daß sie ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllen werden; die Dekurionen, daß sie bei der Abstimmung über die Ausgabe der öffentlichen Gelder so votieren werden, wie es nach ihrer Meinung für das gemeine Wohl der Bürger am besten ist. Es ist nicht ersichtlich, warum die Stadtschreiber und Dekurionen diese Eide nicht auch per Divom Claudium geschworen haben sollten. So bleibt nur anzunehmen, daß in der Aufzählung Divus Claudius vergessen worden ist. Juppiter war nicht nur der erste Himmelsgott, er war auch der wichtigste Schwurgott12, dem allerdings schon gegen Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, in der Lex Latina tabulae Bantinae13, die Dii Penates hinzugefügt sind14. Die Erweiterung 12

K. Latte, Römische Religionsgeschichte (1960) 126 – 128; Steinwenter (cit. A. 2) 1254 /

55. 13 Zeilen 17 / 18: [Eis consistunto pro ae]de Castorus palam luci in forum vorsus, et eidem in diebus V apud q(uaestorum) iouranto per Iovem deosque [Penateis]; 23 / 24: Qui senator est

260

Die Eide der Lex Irnitana

um die konsekrierten Kaiser und den Genius des regierenden ist erst durch das flavische Munizipalrecht Spaniens15 belegt. Außerdem ist daran zu erinnern, daß Tiberius in der Reihung fehlt, weil er nicht ‚zur Gottheit erhoben‘ wurde; Caligula und Nero fehlen, weil das Totengericht über sie die damnatio memoriae verhängt hat; und Galbe fehlt, weil auch ihn die damnatio memoriae getroffen hat, sein Gedächtnis zwar schon bald restituiert, er allerdings nicht konsekriert worden ist16. Der Genius des regierenden Kaisers Domitian wird, entsprechend der altrömischen Vorstellung vom Genius des Hausherrn, zum Zeichen der Unterwürfigkeit angerufen17. 2. Geschworen wurden die Eide von den Magistraten, dem Duumvir, dem Ädil und dem Quaestor; von dem Präfekten, der den Duumvir vertrat; von den Dekurionen; den Stadtschreibern, die den Duumvirn zugeordnet waren; und dem Dekurio, der zum Gesandten bestimmt worden ist. a) Die Duumvirn, Ädile und Quästoren (Rubrik 26)18, die im Amt sind, sollen binnen fünf Tagen nach Einführung des Stadtrechts, und die später ernannten Magistrate sollen binnen fünf Tagen nach ihrer Ernennung schwören, ‚daß sie tun werden, was das Stadtrecht vorschreibt und was nach ihrer Meinung für das Gemeinwohl richtig ist; daß sie nicht gegen das Sradtrecht handeln werden; und daß sie die schützen werden, die sie schützen können‘. – Auch schon der Bewerber um den Duumvirat, die Ädilität und die Quästur (Rubrik 59), wenn er in den Komitien die Mehrheit der Kurien erreicht hatte, und bevor ausgerufen wurde, daß er gewählt worden ist, mußte in einer Gemeindeversammlung schwören, daß er tun wird, was er nach dem Stadtrecht tun muß, und daß er nicht gegen das Stadtrecht gehandelt hat19 und auch nicht handeln wird. – Zusammengefaßt: die amtierenden Magistrate und die gewählten Bewerber mußten schwören, das Amt, das sie bekleideten oder jetzt antraten, nach Gesetz und Recht gewissenhaft zu führen. b) Der praefectus (Rubrik 25), der den abwesenden Duumvir vertrat20, sollte schwören, daß er tun wird, was ein Duumvir nach dem Stadtrecht tun mußte, aber auch nicht mehr als das, was in seiner Amtszeit getan werden mußte; und daß er eritve … ikuranto apud quaestorem ad aerarium palam luci per Iovem deosque penatis. – Von Mommsen CIL I 46 in die Jahre 133 – 118 datiert. 14 So auch Lex Ursonensis 81. 15 J. G. Wolf, Die Lex Irnitana (cit. A. 8) 20 / 21. 16 Die Gesetze, Edikte und Dekrete der Kaiser Tiberius und Galba waren indessen zu beachten: siehe etwa Lex Irnitana R. 61, 71, 80 und 86. 17 TH. Mommsen, Römisches Staatsrecht II (2. Aufl. 1877) 809 / 810; Römisches Strafrecht (1899, 1955) 585 / 6; G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) 78 – 81; Latte (cit. A. 11) T306, 308; Steinwenter (cit. 2) 1255. Zur Etymologie und Deutung des Wortes genius siehe G. Radke, Zur Entwicklung der Gottesvorstellung und der Gottesverehrung in Rom (1987) 182 – 184. 18 W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreich (1900, 1967) 256 / 7: duumviri, 263 – 265: aediles, 265 / 6: quaestores. 19 In diesem Punkt ist der Eid assertorisch. 20 Liebenam (cit. 18) 260.

Die Eide der Lex Irnitana

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nicht gegen diese Regeln handeln wird. Auch er also mußte schwören, daß er das Amt gewissenhaft führen wird. c) Die Dekurionen (Rubrik 69), wenn sie in einem Prozeß der Stadt gegen einen Bürger oder Einwohner der Stadt, auf dessen Wunsch, die Richter waren, sollten schwören, daß sie entsprechend ihrer Meinung gerecht und gut und zum Besten für das Gemeinwohl der Stadt urteilen werden. – Ebenso sollten sie vor der Beschlußnahme über die Ausgabe von öffentlichen Geldern aus dem gemeinschaftlichen Vermögen der Bürgen schwören, daß sie so votieren werden, wie es am besten für das gemeine Wohl der Bürger war (Rubrik 79). – Diese speziellen, auf einen konkreten Anlaß bezogenen Eide finden ihre Erklärung darin, daß die Dekurionen nicht, wie die Magistrate, einen all ihre Pflichten einschließemdem Eid leisteten, also schwören mußten, all ihren Pflichten gewissenhaft nachzukommen. Darum mußten sie von Fall zu Fall, wo immer das Stadtrecht es vorsah, schwören, daß sie eine wohl nicht alltägliche Aufgabe von vermutlich größerer Bedeutung gewissenhaft wahrnehmen werden. In seiner Funktion war dieser Eid den allgemein gefaßten Eiden der Magistrate gleichwertig. d) Die den Duumvirn zugeordneten und von den Dekurionen für tüchtig befundenen und damit bestätigten Schreiber, richtiger ‚Sekretäre‘, hatten die Bilanzen, Verzeichnisse und Geschäftsbücher der Gemeinde zu führen (Rubrik 73). Bevor sie die Arbeit aufnahmen, mußten sie schwören, daß sie die gemeindeeigenen Bücher der Bürger gewissenhaft führen und wissentlich nichts Falsches in die Bücher eintragen und daß sie eintragen werden, was eingetragen werden muß. Eine Vorschrift der um mehr als hundert Jahre älteren Lex Ursonensis gibt den Eid im Wortlaut wieder21. Unter den Apparitoren der Munizipalmagistrate waren die Schreiber der Duumvirn die angesehensten und vornehmsten22. Ihr Ansehen war in ihrem Amt und ihrer Verantwortung begründet, wie auch durch ihre Wahl oder Bestätigung durch die Dekurionen. Ihre Arbeit war für die Leitung und Ordnung des Gemeinwesens von großer Bedeutung, was wiederum der Eid, den sie leisten mußten, anschaulich belegt. Für sie, die Unterbeamten, gilt darum auch, was für die Magistrate maßgebend war: daß sie schwören mußten, den Pflichten ihres Amtes gewissenhaft nachzukommen23. e) Wer von den Dekurionen aus ihren Reihen durch Beschluß wirksam24 zum Gesandten bestimmt25 und dessen Entschuldigung von ihnen nicht angenommen wor-

21 Kapitel 81: Die Duumvirn und Ädile sollen ihre Schreiber nötigen, antequam tabulas publicas scribet tractetve in contione palam luci nundinis in forum zu schwören ‚per Iovem deosque Penates sese pecuniam publicam eius coloniae concustoditurum rationesque veras habiturum esse, uti quod recte factum essevolet sine dolo malo neque se fraudem per litteras facturumesse scientem dolo malo‘. Th. Mommsen, Lex coloniae Iuliae Genetivae, in: Ges. Schr. I (1904, 1965) 259 / 260; F. Klingmüller, Scriba, in: RE II A (1921) 855 / 56. 22 Nach Lex Ursonensis 82 betrug ihr Jahreseinkommen 1200, das der Schreiber der Ädile nur 800 Sesterzen. Vgl. Liebenam (cit. A. 18) 278. 23 Liebenam (cit. 18) 278 mit A. 7. 24 Siehe Rubrik 45 Zeilen 17 bis 28.

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Die Eide der Lex Irnitana

den ist (Rubrik 45), kann sich der Aufgabe nur entledigen, indem er vor den Dekurionen schwört, daß er älter als 60 Jahre ist oder daß eine Krankheit ihn hindert, die Gesandtschaft zu übernehmen. Von den Eiden, deren Verfügung die Schwurgottheiten nennt, ist dieser Eid der einzige assertorische und damit den promissorischen sozusagen gleich gestellt, deren Thema durchweg die gewissenhafte Erfüllung von Amtspflichten ist. Die Gleichstellung ist verständlich und angemessen, weil die Durchführung der Gesandtschaft nach Vorgaben der Dekurionen26 der Erfüllung einer Amtspflicht gleich zu achten war. Eine Parallele kann man in dem Eid des iudex sehen, der zu keinem Urteil kommt und sich durch den Eid sibi non liquere von seiner Urteilspflicht entbindet27. Mit dem assertorischen Eid des zum Gesandten bestimmten Dekurio wird die Befreiung von einer öffentlichen Pflicht dem promissorischen Eid, die Amtspflicht gewissenhaft zu erfüllen, praktisch gleichgestellt. 3. Die Durchsicht der Eidesverfügungen, die auch die Schwurgottheiten benennen, hat ergeben, daß in sechs von sieben Fällen das Thema des Eides die gewissenhafte Erfüllung von Amtspflichten, im siebten Fall die Befreiung von einer öffentlichen, einer Amtspflicht gleich zu achtenden Aufgabe ist.

III. Die bloße Anordnung von Eiden kommt mit folgendem Wortlaut vor: 10 11 12 13 14 15

QUI COMITIA EX H L HABEBIT … CURATO UT AD CIS TAM CUIIUSQUE CURIAE EX MUNICIPIBUS EIUS MUNICIPI TERNI SUNT QUI EIIUS CU RIAE NON SINT QUI SUFFRAGIA CUSTODIANT DIRIBEANT ET UTI ANTE QUAM ID FACIANT QU ISQUE EORUM IURENT SE RATIONEM SUFFRA GIORUM FIDE BONA HABITURUM RELATURUM

53 54 55 56 57 58

QUI COMITIA EX H L HSBEBIT … ET UT CUIIUSQUE CURIAE NOMEN SORTE EXIERIT QUOS EA CURIA FECERIT PRONUNTIARI IUBETO ET UT QUISQUE PRIOR MAIOREM PARTEM NUMERI CURIARUM CON FECERIT EUM CUM H L IURAVERIT CAVERIT QUE DE PECUNIA COMMUNI FACTUM CREA TUMQUE RENUNTIATO

27

NE QUIS PATRONUM PUBLICE MUNICIPIBUS MUNICIPI … COOPTATO … NISI EX MAIORIS PAR

R. Mal 55

R. Mal 57

R. 61

Vgl. Liebenam (cit. A 18) 353 – 357.82 – 88. Siehe Rubrik 47. Der Gesandte, der die Anweisungen der Dekurionen nicht beachtet, wird verpflichtet, den angerichteten Schaden zu ersetzen (Zeilen 3 bis 7). 27 J. G. Wolf, Iudex iuratus, in: Liber amicorum Juan Miquel (2005) 1109 / 10. 25 26

Die Eide der Lex Irnitana 28 29 30 R. 71 1 2 R. 80 16 17

R. 86

47 2 3 4

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TIS DECURIONUM DECRETO QUOS DECRETUM FACTUM ERIT CUM DUAE PARTES NON MINUS DECURIONUM AD FUERINT ET IURATI PER TABELLAM SENTENTIAM TULERINT IIVIRI A QUO POSTULATUM ERIT EOS QUIBUS DENUNTIATUM ESSE EDITUM EI ERIT EDICTO AD ESSE IUBETO TESTIMONIUM QUE IURATOS DI CERE COGITO MULTA PIGNORIBUSQUE COERCETO SI QUAS PECUNIAS IN USUS REI PUBLICAE MUNICIPI FLAVI IRNITANI SU MENDAS ESSE DECURIONES … EIUS MUNICIPI CUM EORUM NON MINUS TRES PARTES ADFUERINT IURATI PER TABELLAM DECREVERINT QUI II VIRI IN EO MUNICIPIO I D PRAEERUNT … AUT SI UTER EORUM ABERIT … ALTER IN DIEBUS QUINQUE PROXIMIS QUIBUS IURE DICUNDO PRAESSE COEPERIT POTERITQUE IUDI CES LEGITO EX DECURIONIBUS… EX RELIQIS MUNICIPIBUS … QUOS MAXIME IDONEOS ARBITRABITUR LEGIQUE IUDICES PRO COM MUNI MUNICIPUM EIUS MUNICIPI ESSE IURAVERIT CORAM DECURIONI BUS … NON PAUCIORIBUS QUAM DECEM

1. Geschworen wurden diese Eide von den Dekurionen jeweils vor einer Stimmabgabe; den Kustoden, die in den Komitien die Stimmabgabe überwachten; den Zeugen, bevor sie vor Gericht aussagten; und den für die Richterliste ausgewählten iudices. In Rubrik Mal 57 ist der Eid lediglich erwähnt, der in Rubrik Mal 59 angeordnet wird. a) Die Dekurionen schwören hier, wie nach den Verfügungen in den Rubriken 69 und 79, vor der Abgabe definierter Voten: zum einen vor der Abstimmung über die Kooptation eines Patrons für die Bürger der Stadt (Rubrik 61)28, zum anderen vor der Abstimmung über die Aufnahme von Gelddarlehen zum Nutzen des Gemeinwesens (Rubrik 80)29. Auch für sie gilt, was für die in den Rubriken 69 und 79 verfügten Eide im Abschnitt II. 2. e gesagt worden ist. Hier allerdings werden die Themen der Eide nicht genannt. Indessen ist zu vermuten, daß die Dekurionen im einen wie im anderen Fall schworen, so zu votieren, wie es nach ihrer Meinung für das Gemeinwesen am besten ist. Die Dekurionen schwören also auch 28 Zum Vergleich siehe Lex Ursonensis 97 und 130; auch Lex civitatis Narbonensis de flamonio provinciae 11: per tabellas IURATI. – Th. Mommsen, Stadtrechte von Salpensa und Malaca, in: Ges. Schr. (1904, 1965) 345 / 6; Liebenam (cit. A. 18) 34. 29 Liebenam (cit. 18) 332 / 3, 340.

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Die Eide der Lex Irnitana

hier, bestimmten, offenbar nicht alltäglichen Amtspflichten gewissenhaft nachzukommen. b) Wer Komitien abhält, soll auch dafür sorgen, daß bei jeder Wahlurne drei Bürger aus anderen Kurien die Stimmabgabe überwachen und die Stimmtäfelchen auszählen30. Diese Kustoden sollen schwören (Rubrik Mal 55), daß sie die Stimmabgabe gewissenhaft beaufsichtigen und über sie berichten werden. Sie sind keine Amtsträger, nehmen aber eine Aufgabe wahr, die den Wahlgang gegen Manipulation sichern soll und die damit für das Gemeinwesen grundsätzliche Bedeutung hat. c) Wer im Namen der Bürger der Stadt gegen einen Bürger oder Einwohner der Stadt vor Gericht klagt, kann bis zu zehn Bürger oder Einwohner als Zeugen benennen. Der Duumvir, der die Zeugen stellen muß, soll sie nicht nur laden, sondern auch nötigen, ihre Aussage zu machen, nachdem sie geschworen haben (Rubrik 71). Das Thema ihres Eides wird nicht genannt, aber wieder läßt sich vermuten, daß sie schwören, die Wahrheit zu sagen. Wie die Kustoden, sind auch die Zeugen keine Amtsträger, ihre Wahrheitspflicht aber ein Pfeiler der städtischen Jurisdiktion. d) Die Duumvirn mußten binnen fünf Tagen nach Amtsantritt eine Richterliste aufstellen und für diese Liste, nach Vorgaben des Statthalters31, Dekurionen und amtsfreie Bürger auswählen, die nach ihrem Urteil für die Aufgaben eines iudex geeignet waren (Rubrik 86). Die Erwählten mußten, bevor sie in die Richterliste eingetragen wurden, schwören, daß sie, in einem Zivilprozeß zum iudex ernannt, dem gemeinen Wohl der Bürger dienen werden. Der iudex war kein Magistrat, aber eine öffentliche Person mit Pflichten, die den Pflichten der Magistrate nicht nachstanden. Wie die Magistrate schworen sie, zum iudex ernannt, ihren Pflichten gewissenhaft nachzukommen. 2. Sechs der sieben Eide, deren Schwurgottheiten aufgeführt werden, schwören Amtsträger. Thema dieser Eide ist durchweg die gewissenhafte Erfüllung von Amtspflichten. In einem Fall nur dient der Eid der Befreiung von einer auferlegten öffentlichen Aufgabe, der Wahrnehmung einer Gesandtschaft, die indessen einer Amtspflicht gleich zu achten war. Von den fünf Eiden, deren Schwurgottheiten die Verfügung nicht nennt, werden zwei von Amtsträgern, nämlich Dekurionen geschworen: sie schwören, konkret benannten Amtspflichten gewissenhaft nachzukommen, weil sie nicht, wie die Magistrate, bei Amtsantritt einen all ihre Pflichten einschließenden Eid leisteten. Auch die Themen der drei übrigen Eide werden konkret benannt. Sie wurden nicht von Amtsträgern geschworen, sondern von Bürgern, denen Aufgaben übertragen wurden, die für das Gemeinwesen von grundsätzlicher Bedeutung waren: Kustoden, die in den Komitien die ordnungsgemäße Stimmabgabe sichern; Zeugen, vom Duumvir geladen, die vor Gericht der Wahrheit gemäß 30 Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht III (Nachdruck: 4. Aufl. 1952) 406 / 7; J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I (2. Aufl. 1884; 1957) 146 / 7; Liebenam (cit. 18) 271 / 2. 31 Von den Statthaltern der senatorischen Provinz Baetica sind nur wenige bekannt, aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. keiner: W. Liebenam, Forschungen zur Verwaltungsgeschichte des römischen Kaiserreichs (1888, 1970) 67 – 71.

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aussagen und so zu einem fairen Prozeß beitragen; ausgewählte Bürger, die, zu iudices ernannt, den Prozeß gewissenhaft führen und ein gerechtes Urteil finden sollten. 3. Die wiedergegebenen Eidesverfügungen nennen keine Schwurgottheiten – was nicht bedeutet, daß in diesen Eiden keine Gottheiten angerufen wurden; für den wirksamen Eid war, wie gesagt, ihre Anrufung unerläßlich. Wir können nicht ausschließen, daß die in den zuvor wiedergegebenen Eidesverfügungen aufgeführten Gottheiten auch in den Eiden angerufen wurden, deren Verfügung keine Gottheiten nennen. Ebenso gut aber ist möglich, daß sie der republikanischen Tradition folgten und vorsahen, daß nur Iovis oder Iovis und die penates angerufen wurden, wie wir es in der Lex Latina tabulae Bantinae aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. lesen, auch in der Lex Ursonensis von 44 v. Chr. In der Lex Bantina (Z. 15 – 18) heißt es: Item DICtator, COnSul PRaeter … EIS IN DIEBUS V PROXUMEIS, QUIBUS QUISQUE EORUM MAGistratum INPERIUMVE INIERIT, IOURANTO, uti infra scriptum est. eis consistunto pro aeDE CASTORUS PALAM LUCI IN FORUM VORSUS, ET EIDEM IN DIEBUS V APUD Quaestorum IOURANTO P E R I O V E M D E O S Q U E P e n a t e i s : sese quae ex h l oportEBIT FACTURUM NEQUE SESE ADVORSUM H L FACTURUM SCIENTEM D M NEQUE SESE FACTURUM NEQUE INTERCESSURUM quo quae ex h l oportebit minus fiant.

Und in der Lex Ursonensis (Kap. 81): QUICUMQUE IIVIRi AEDilesVE … ERUNT, II SCRIBIS SUIS … ANTEQUAM TABULAS PUBLICAS SCRIBET TRACTETVE IN CONTIONE PALAM LUCI NUNDINIS IN FORUM IUS IURANDUM ADIGITO P E R I O V E M D E O S Q U E P E N AT E S ‚SESE PECUNIAM PUBLICAM EIUS COLONIAE CONCUSTODITURUM RATIONESQUE VERAS HABITURUM ESSE, UTI QUOD RECTE FACTUM ESSE VOLET SINE DOLO MALO NEQUE SE FRAUDEM PER LITTERAS FACTURUMESSE SCIENTEM DOLO MALO.

Die Gravur der Lex Ursonensis ist erheblich jünger als das Gesetz selbst. Sie stammt aus der 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr., mithin aus der Zeit, in der die peregrinen Städte Spaniens das flavische Stadtrecht erhielten32. Wie die Lex Irnitana bezeugt, hieß es die Duumvirn, das Stadtrecht so bald wie möglich in Erz schlagen zu lassen und am belebtesten Ort der Stadt aufzustellen. Es ist gut möglich, daß auch die schon privilegierten Städte, wie die Kolonie Urso33, dieser Forderung unterworfen wurden. Doch wie dem auch sei: In Irnis Nachbarstadt Urso wurde bei Juppiter und den Penaten geschworen, was die Möglichkeit unterstreicht, daß auch in Irni bei Juppiter und den Penaten geschworen wurde, wenn das Gesetz nicht eigens vorsah, daß außerdem die konsekrierten Kaiser und der Genius des regierenden Kaisers angerufen werden mußten. 32 Sabora vor 78 n. Chr., Salpensa und Hispalis Anfang der 80er Jahre, wenig später Malaca, Irni in der 1. Hälfte der 90er Jahre: J. G. Wolf, Die Lex Irnitana (cit. A. 8) 18 – 20. 33 J. G. Wolf, Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens, in: IURA 56 (2008) 2 – 4.

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IV. Wie die der Lex Bantina und der Lex Ursonensis, geben auch die ausführlicheren Verfügungen der Lex Irnitana in den Rubriken 25, 26 und 59 die Eide nicht so wieder, wie sie geschworen wurden, nicht in ihrem Wortlaut und nicht einmal in Anlehnung an ihre Sachfolge. Das übliche Konzept war zweigliedrig: der Schwurklausel folgte die Selbstverwünschung – vielfach belegt etwa von Livius mit dem Eid des Publius Cornelius Scipio nach der Schlacht bei Cannae34: Ex mei animi sententia, ut ego rem publicam populi Romani non deseram neque alikum civium Romanum deserere patiar. Si sciens fallo, tum me, Iuppiter optime maxime, domunm amiliam remque meam pessimo leto adficias.

Oder durch die in Lusitanien in den Ruinen von Aritium gefundene Bronzeinschrift aus dem Jahre 37 n. Chr.35: Ex mei animi sententia, ut ego iis inimicus ero, quos C. Caesari Germanico inimicos esse cognovero … Si sciens fallo fefellero, tum me liberosque meos Iüppiter optimus maximus ac divus Augustus ceterique omnes di immortales expertem patria incolumitate fortunisque omnibus faxint.

Oder auch durch das Fragment TPN 23 aus dem Jahre 49 n. Chr.36: EX TUI ANIMI SE[ntentia … ADVERSUS B[onos mores INIURIAM [ te non fecisse SI SCIENS [ fallis tum te iuppit ER [ opt max et numen divi augusti

Die Beispiele gestatten den Schluß, daß die in der Lex Irnitana verfügten Eide demselben Formular folgten. Die Schwurformel war elliptisch gefaßt: im Eid selbst wurde iuro nicht ausgesprochen. An die stereotype Eingangsklausel EX MEI ANIMI SENTENTIA – ‚Nach meiner innersten Überzeugung‘ – schloß miit UT EGO oder in der Konstruktion des Acc. c. Inf. das Schwurthema an. Mit dem wieder stereotypen SI SCIENS FALLO folgte die Selbstverwünschung37. Für den Fall, daß er sein Versprechen brach oder, beim assertorischen Eid, die Unwahrheit beschworen hat, rief der Schwörende die Gottheiten an, ihn, sein Haus, seine Familie zu bestrafen. SCIENS beschränkte die Selbstverwünschung auf den Meineid, Livius 22. 53. 10 / 11. Dessau 190 = CIL II 172. 36 J. G. Wolf, Neue Rechtsurkunden aus Pompeji. Tabulae Pompeianae Novae (2010) 49. Das Protokoll stilisiert den Eid, wie er deferiert wurde, in der 2. Pers. Sg., während Sulpicius Cinnamus, als er schwur, selbstverständlich sagte: Ex mei anima sententia und Si sciens fallo. 37 G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) 388: Selbstverwünschung „finden wir in jedem Eide“. 34 35

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schloß die Verantwortung für den nicht bewußten Falscheid aus. So könnte etwa der in Rubrik 25 angeordnete Eid des praefectus gelautet haben: EX MEI ANIMI SENTENTIA QUAE IIVIRUM QUI IURE DICUNDO PRAEERIT HAC LEGE FACERE OPORTEAT ME DUM PRAEFECTUS ERO DUMTAXAT QUAE EO TEMPOREFIERI POSSINT FACTURUM NEQUE ADVERSUS EA FACTURUM SCIENTEM DOLO MALO. SI SCIENS FALLO TUM ME IOVIS ET DIVUS. AUGUSTUS · ET DIVUS CLAUDIUS · ET · DIVUS VESPASIA NUS AUGUSTUS ET DIVUS · TITUS · AUGUSTUS ET GENIUS IMPERATORIS CAESARIS DOMITIANI AUGUSTI. DIIQUE · PENATE SEXPERTEM PATRIA INCOLUMITATE FORTUNISQUEOMNIBUS FAXINT.

Gerichtsbarkeit in Irni * I. Zur Einführung 1. Dreißig Jahre sind vergangen, seitdem wir wissen, daß es in der städtereichen römischen Provinz Baetica1 im Süden Spaniens eine Stadt mit dem Namen Irni gab. Der Siedlungsplatz2, an der römischen Straße von Urso (heute Osuna) über Sabora nach Arunda (Ronda) gelegen, auf einem Bergrücken hoch über dem Flußtal des Rio Corbones, war längst bekannt. Von der Archäologie vernachlässigt, beschenkte er schon im 19. Jahrhundert private Ausgräber mit manchem kostbaren Fund. So war es auch im Frühjahr 1981, als Clandestini mit einem Metalldetektor sechs der zehn Bronzetafeln entdeckten, in die das Stadtrecht von Irni eingeschlagen war3. Die Tafeln wurden in zwei Partien verkauft, aber bald ausfindig gemacht und befinden sich heute, vorzüglich präpariert, im Archäologischen Museum von Sevilla4. 2. Plinius berichtet in seiner Naturgeschichte5, daß Vespasian 73 oder 74 n. Chr. ‚ganz Spanien‘ die Latinität, das ius Latinum, verliehen hat: universae Hispaniae Vespasianus imperator Augustus … Latinum tribuit6. Vollzogen wurde das kaiserliche Edikt durch die Promotion der peregrinen Städte zu Munizipien. Sie geschah durch Verleihung des Stadtrechts7. Mit ihr erwarben die Bürger und Einwohner der promovierten Städte das ‚latinische Bürgerrecht‘. Da die peregrinen Städte das Stadtrecht sukzessive erhielten, zog sich der Vollzug des Edikts lange hin. So wurde Irni das Stadtrecht erst in den frühen neunziger Jahren erteilt8.

* Abgekürzt oder mit IRN oder Irnitana werden zitiert: Die Lex Irnitana. Ein römisches Stadtrecht aus Spanien Lateinisch und deutsch. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von J. G. Wolf; C. G. Bruns (Th. Mommsen, O. Gradenwitz), Fontes iuris romani antiqui (7. Aufl. 1909). 1 Irnitana 17. 2 F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera, La Lex Irnitana y su contexto arqueologico (1990) 13 – 15; Irnitana 17 / 18; H. Galsterer, Municipium Flavium Irnitanum, in: JRS 78 (1988) 78 ss. 3 F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera (cit. A. 2) 14 – 15. 4 F. Fernández Gómez / M. del Amo y de la Hera (cit. 2) 21 – 33. 5 Plin. n. h. 3. 30. 6 Irnitana 18 / 19. J. G. Wolf, Irni vor der Irnitana, in: IURA 58 (2010) 198. 7 Das Stadtrecht: Irnitana 45 – 141. 8 Irnitana 19 / 20.

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3. Schon 1861 wurden große Fragmente der Stadtrechte von Salpensa und Malaca (Malaga) gefunden9. Sie decken sich Wort für Wort mit dem Text der Lex Irnitana. Für die Stadtrechte von Salpensa, Malaca und Irni steht darum außer Zweifel, daß sie einer gemeinsamen Vorlage folgten. Da die drei Städte in ihren Titeln zur Erinnerung an die Verleihung der Latinität das Beiwort Flavium führten und da, wie sie, viele andere spanische Munizipien dieses Epitheton in ihrem vollen Namen führen, ist anzunehmen, daß die Stadtrechte all dieser Munizipien nach ein und derselben Vorlage abgefaßt waren. Bruchstücke der Stadtrechte von drei weiteren municipia Flavia bekräftigen diese Annahme10. Mit der Lex Irnitana und dem sie um einige Kapitel ergänzenden Fragment der Lex Salpensana besitzen wir mithin nicht nur die Stadtrechte von Salpensa, Malaca und Irni, sondern das Flavische Stadtrecht, das in der Folge des Latinum-Dekrets Vespasians allen peregrinen Gemeinden Spaniens erteilt worden ist11. Von wenigen Ausnahmen abgesehen12, lebte nach diesem Recht die Bürgerschaft des antiken Spanien, und es kann nicht zweifelhaft sein, daß dieses Recht auch ihre Romanisierung nachhaltig gefördert hat13. 4. Anders als in den älteren Stadtrechten, etwa der Lex Ursonensis von 44 oder 43 v. Chr., folgt die innere Ordnung der Lex Irnitana einem klaren Konzept. Ihre Vorschriften und Regeln sind nach Sachbereichen übersichtlich gegliedert14. Es mag überraschen, daß die römischen Stadtrechte auch über die Gerichtsbarkeit befanden: über die lokale Gerichtsverfassung und den lokalen Zivilprozeß. In der Lex Irnitana ist die zivile Gerichtsbarkeit der letzte Sachbereich. Von den 97 Rubriken des Stadtrechts sind 10 der Gerichtsbarkeit verschrieben: auf Tafel 9 die Rubriken 84 bis 87, auf Tafel 10 die Rubriken 88 bis 9315. Strafgerichtsbarkeit stand der Gemeinde nicht zu; sie war dem Statthalter in Corduba (Cordoba) vorbehalten.

II. Die Gerichtsverfassung und der Zivilprozeß 1. Die Gerichtsverfassung der ‚flavischen‘ Gemeinden folgte in ihren Grundzügen der stadtrömischen und ihr Zivilprozeß war dem stadtrömischen FormularproBruns, Fontes Nr. 30 S. 142 – 146, 147 – 157. Irnitana 20 A. 51 und ‚Anhang‘ 149 – 152. 11 Irnitana 20 – 21; A. d’Ors, La nueva copia irnitana de la ‚lex Flavia municipalis‘, in: AHDE 53 (1983) 5 ss. und La ley Flavia municipal, in: AHDE 54 (1984) 179 ss. 12 Die Ausnahmen waren die schon promovierten coloniae und municipia. 13 J. G. Wolf, The Romanization of Spain, The Contribution of City Laws in the Light of the Lex Irnitana, in: Mapping the Law, Essays in Memory of Peter Birks (2006) 439 – 454; A. Torrent Ruiz, Ius Latii y Lex Irnitana. Bases jurídico-administrativas de la romanización de Espana, in: AHDE 78 / 79 (2008 / 2009) 51 ss. 14 Irnitana 21 – 29. – A. D’Ors, Nuevos datos de la Ley Irnitana sobre Jurisdicción municipal, in: SDHI 49 (1983) 18 ss. und (Nachtrag) SDHI 50 (1984) 179 ss. 15 Mit 217 Zeilen füllen sie 4 der insgesamt 30 Kolumnen des Gesetzes. – W. Simshäuser, La juridiction municipale à la lumière de la lex Irnitana, in: RHD 67 (1989) 619 ss.; A. Rodger, The Lex Irnitana and Procedure in the Civil Courts, in: JRS 81 (1991) 74 ss. 9

10

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zeß in allem Wesentlichen nachgebildet. Vermutlich erklärt diese Nähe, daß die Vorschriften und Regeln der Lex Irnitana die Kenntnis der stadtrömischen Einrichtungen zu einem guten Teil voraussetzen. So etwa setzen sie voraus, daß der Zivilprozeß, wie der stadtrömische, geteilt war: begründet wurde er in iure, durch den Magistrat, durchgeführt aber von einem Richter, dem iudex, den der Magistrat ernannte und durch die formula, das unabänderliche Prozeßprogramm, instruierte 16. 2. Die Bestellung des Urteilsrichters durch den Magistrat und ihre Voraussetzung werden in der Irnitana in größter Ausführlichkeit geregelt. Die duumviri, die obersten Magistrate des municipium, verpflichtet das Stadtrecht, in den ersten fünf Tagen ihrer Amtszeit die Richterliste aufzustellen17. Die Zahl der Listenrichter sollte der Statthalter, der in Corduba residierte, vorgeben18. Die duumviri sollten die Listenrichter auswählen sowohl unter den Dekurionen, den gewählten Abgeordneten des Stadtrats19, wie unter den frei geborenen Bürgern der Stadt, die sie für geeignet hielten, die nicht jünger als 25 Jahre sein durften und die oder deren Väter oder Vorväter über ein Vermögen von 5000 Sesterzen verfügten20. Ihre Liste sollte dreigeteilt, nämlich die vorgesehenen iudices auf drei Dekurien verteilt und dieses Listenwerk, für jedermann zugänglich, öffentlich ausgehängt werden21. 3. Kommt es in iure zur Richterbestellung, so hat das Einvernehmen der Parteien unbedingten Vorrang. Einigten sich Kläger und Beklagter auf eine Person, so mußte der Magistrat diese Person, auch wenn sie nicht auf der Richterliste stand, zum Richter bestellen22. Einigten sie sich nicht, so kam die Richterliste zur Anwendung. Kläger und Beklagter hatten die Möglichkeit der Abwahl. Sie konnten zunächst zwei der drei Rubriken ablehnen, der Kläger die eine, der Beklagte die andere. Sodann konnten sie aus der dritten Rubrik abwechselnd Namen für Namen ablehnen bis ein Name übrigblieb, dessen Träger der Magistrat dann zum Richter bestellen mußte23. Im Einzelnen ist außerdem geregelt, wer jeweils zuerst sich äußern durfte24. 4. Bei der Einleitung des Verfahrens mußten Kläger und Beklagter oder ihre Vertreter in iure anwesend sein. Den Beklagten zu laden, war Sache des Klägers, das Instrument die in ius vocatio. Sie mußte mündlich erklärt werden und der Geladene dem Kläger auf der Stelle in ius folgen. Nach Zwölftafelrecht durfte der Verfolger den widerstrebenden Gegner mit Gewalt vor den Magistrat bringen. Im 1. nach-

16 17 18 19 20 21 22 23 24

IRN R. 86 Taf. 9 C Z. 23 – 26. IRN R. 86 Taf. 9 B / C. IRN R. 86 Taf. 9 B Z. 47 / 48. IRN R. 86 Taf. 9 B Z. 47 – 49. IRN R. 86 Taf. 9 B Z. 49– Taf. 9 C Z. 2. IRN R. 86 Taf. 9 C Z. 16 – 23. IRN R. 87 Taf. 9 C Z. 30 – 32; Z. 43 – 48. IRN R. 84 Taf. VIIII B 23. IRN R. 87 Tal. 9 C mit weiteren Details.

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christlichen Jahrhundert war diese Eigenmacht durch mittelbaren Zwang, den der Prätor übte, längst abgelöst. Um ihn zu vermeiden und die Verwendung der in ius vocatio bei wachsender Population, Ausdehnung der Städte und fortschreitender bürokratischer Planung auch der prätorischen Gerichtsbarkeit zu erhalten, konnte sich der Beklagte in einem vadimonium25 verpflichten, an einem bestimmten Tag, der ein Gerichtstag sein mußte, zu einer bestimmten Stunde, zu der, zuverlässig, der Magistrat zu Gericht saß, und an einem bestimmten Ort unweit der Gerichtsstätte zu erscheinen, so daß ihn dann der Kläger in ius laden und vor den Magistrat bringen konnte26. So war das Ladungsgeschehen in Rom und Italien und so wird es auch in Irni gewesen sein. Die Kompetenz des Magistrats, bei Verweis einer Streitsache an das Gericht des Statthalters in Corduba ein vadimonium anzuordnen, wird in der Liste seiner Zuständigkeiten ausdrücklich aufgeführt27. Bei den vielen Details, die das Stadtrecht regelt, ist es überraschend, daß von der Ladungsprozedur im übrigen mit keinem Wort die Rede ist. Dabei war die in ius vocatio unerläßlich: ohne sie kam der Prozeß nicht zustande28. Daß sie unerläßlich und darum bekannt war, wurde offenbar vorausgesetzt. 5. Auch die Vertagung der den Prozeß begründenden Verhandlung in iure war nicht geregelt. Kam man in diesem Termin nicht zu Rande, konnte der Magistrat einen zweiten Termin bestimmen und den Beklagten anhalten, sich dem Kläger zu verpflichten, in diesem zweiten Termin zu erscheinen. Das Instrument dieser Verpflichtung war das heute sogenannte ‚Vertagungsvadimonium‘29. Nicht auszuschließen ist allerdings, daß im Provinzialprozeß oder auch nur in den kleineren Gemeinden wie Irni eine Vertagung der Verhandlung in iure nicht in Betracht kam. 6. Die Lex Irnitana verfügte, daß für Bürger und Einwohner Irnis das römische ius civile galt30. Soweit die Zuständigkeit der lokalen Gerichtsbarkeit reichte, mußten, wie in Rom das Album des Prätors und in der Hauptstadt der Provinz, Corduba, das – jenem weithin entsprechende – Album des Statthalters, so auch in Irni vor der lokalen Gerichtsstätte die prozessualen Rechtsmittel, auf Tafeln geschrieben, ‚täglich für den größeren Teil des Tages öffentlich‘ so ausgestellt werden, daß sie ‚von ebener Erde richtig gelesen werden‘ konnten31. Danach versteht sich, daß die Forderung oder das Begehren des Klägers nach römischem Recht beurteilt und verhandelt wurde32. Die Verhandlung endete mit der Bestellung des 25 Zur Geschichte des Begriffs und seiner Etymologie J. G. Wolf, Das sogenannte Ladungsvadimonium, in: Festschrift R. Feenstra (1985) 62. 26 Zu all dem J. G. Wolf (cit. A. 25) 59 – 69. 27 IRN R. 84 Taf. VIIII B 20 – 22. 28 Gai 4. 183 / 4. 29 J. G. Wolf (cit. A. 25) 62. 30 IRN R. 93 und 94 Taf. X B 53 – 55 und X C 1 – 7. 31 IRN R. 85 Taf. VIIII B 30 – 37. 32 IRN R. 85 Taf. VIIII B 37 – 42. Siehe auch IRN R. 93 Taf. X B 53 – 55 / X C 1 – 4.

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Richters und dessen Instruktion und Anweisung, nach Maßgabe der ihm vom Magistrat vorgegebenen formula, der Klagformel, zu verfahren und das Urteil zu sprechen33. 7. Während die Lex Irnitana das ‚Ladungsvadimonium‘ und die in ius vocatio und auch die Vertagung des Verfahren in iure sozusagen übergeht, trifft sie detaillierte Bestimmungen über das intertium. Das intertium war die Terminierung des Verfahrens apud iudicem auf Antrag des Klägers durch den Magistrat34. Wie das Wort intertium verrät, muß das Verfahren apud iudicem ursprünglich ‚auf den dritten Tag‘, nach römischer Zählung also den übernächsten Tag – in tertium (diem) – nach der Richterbestellung anberaumt worden sein. Diese Beschränkung war inzwischen offenbar aufgehoben und jeder Tag für das Verfahren apud iudicem zulässig, der nicht der Verehrung des kaiserlichen Hauses vorbehalten war. Hatten sich die Streitparteien mit dem iudex auf einen Tag geeinigt, mußte der Magistrat das intertium auf diesen Tag legen35. Sonst war er offenbar in der Terminierung des Verfahrens apud iudicem frei36. Seine Verpflichtung aber, das intertium zu erteilen, mußte er an allen Gerichtstagen bei seiner Gerichtsstätte öffentlich anschlagen. Der Magistrat, der dieser Verpflichtung, das intertium zu erteilen, nicht nachgekommen war oder wissentlich den öffentlichen Aushang unterlassen hatte, mußte den Bürgern Irnis eine Buße von 1000 Sesterzen zahlen37. Das intertium wurde dem Kläger auf Antrag erteilt, der den Termin alsdann binnen zwei Tagen dem Prozeßgegner und dem iudex anzeigen mußte38. 8. Das Urteilsgericht konnte vertagt werden39. Wie das zu geschehen hatte, sagt das Stadtrecht nicht. Wohl aber lesen wir, was die Folge war, wenn das Urteilsgericht nicht vertagt und auch das Urteil nicht gesprochen und der Streitgegenstand nicht eingeschätzt wurde: in diesem Fall gereichte der Prozeß dem iudex zum Schaden40. Und wenn innerhalb der Frist, die von der ‚unlängst ergangenen‘ Lex Iulia de iudiciis privatis41 eingeführt worden war, das Urteil nicht erging, so sollte gelten, IRN R. 85 Taf. VIIII B 37 – 40. D. Johnston, Three Thoughts on Roman Privata Law and the Lex Irnitana, in: JRS 77 (1987) 70 ss.; E. Metzger, Interrupting Proceedings in iure: Vadimonium and Intertium, in: ZPE 120 (1998) 215 ss.; M. De Bernardi, Lex Irnitana 84 – 85 – 89: Nuovi spunti per una riflessione sulla sponsio nel processo romano, in: Testimonium Amicitiae (1992) 95 ss.; J. G. Wolf, ‚Intertium‘, und kein Ende?, in: BIDR 100 (2001) 1 – 36; Neue Rechtsurkunden aus Pompeji (2010) 60 – 62. 35 IRN R. 90 Taf. X A 31 – 37. 36 IRN R. 90 Taf. X A 27 – 29. 37 IRN R. 90 Taf. X A 37 – 40. 38 IRN R. 91 Taf. X A 45 – 49. 39 IRN R. 91 Taf. X A 49. – A. Rodger, Postponed Business at Irni, in: JRS 86 (1996) 61 ss. 40 IRN R. 91 Taf. X A 51 – 53. – A. D’Ors, ‚Litem suam facere‘, in: SDHI 48 (1982) 368 ss. 41 G. Rotondi, Leges publicae populi romani (1912, Nachdruck 1966) 448 – 450: Leges Iuliae iudiciorum publicorum et privatorum; anno 17 v. Chr. Vgl auch D. Johnston, Three Thoughts on Roman Privata Law and the Lex Irnitana, in: JRS 77 (1987) 64. 33 34

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wie weitläufig ausgeführt wird, was auch in Rom galt: daß die Streitsache, wie die Lex Iulia vorsah, nicht mehr Gegenstand dieses Prozesses war42. 9. Über den Urteilsspruch selbst trifft die Lex Irnitana keine Bestimmung. Die Rubrik 91 läßt indessen nicht nur wissen, daß der Urteilsspruch erfolgen mußte43. Hier erfahren wir auch, daß der Urteilsrichter, bevor er das Urteil sprach, schwören mußte – jetzt erst und nicht schon, bevor er sein Geschäft aufnahm44. Der Urteilsspruch war vorgezeichnet durch die Prozeßformel, die im stadtrömischen Prozeß durchweg eine condemnatio pecuniaria, eine Verurteilung in eine Summe Geldes, vorsah. Es ist wieder Rubrik 91, die, neben dem Urteilsspruch, die erforderliche ‚Einschätzung des Streitgegenstandes‘ anführt und damit zugleich wissen läßt, daß es in Irni, im Provinzialprozeß, nicht anders war. 10. Mit dem Urteil war dem obsiegenden Kläger noch nicht wirklich geholfen: zahlte der verurteilte Beklagte nicht ohne weiteres, mußte das Urteil vollstreckt werden. Dem Bürger, der eine Buße, die an die Gemeindekasse zu zahlen war, einklagte, standen, wie das Gesetz vielmals wiederholt, actio petitio persecutio zu45, und in der Liste der Zuständigkeiten des Magistrats werden Bürger und Einwohner genannt, die ‚einen Anspruch vor Gericht verfolgen, einfordern und vollstrecken wollen‘: agere petere persequi volent 46. Über die Vollstreckung selbst wird dagegen nichts gesagt oder bestimmt. Ob, wie im stadtrömischen Vollstreckungsverfahren, der Kläger die actio iudicati anstrengen mußte und ob der lokale Magistrat für das Vollstreckungsverfahren zuständig war, steht dahin. Vermutlich war er es nicht, lag die Kompetenz für die persecutio vielmehr beim Statthalter in Corduba, vermutlich weil sie ein Eingriff in das Vermögen des unterlegenen Beklagten war oder gar zu einem Zugriff auf seine Person führen konnte. Ein Indiz könnte sein, daß auch für die actio furti oder die actio de dolo malo oder die actio iniuriarum der lokale Magistrat nicht zuständig war47. Und bei der – wie wir bald sehen werden – niederen Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen und den weiteren Einschränkungen der lokalen Gerichtsbarkeit ratione materiae werden Bürger und Einwohner kaum als Zumutung empfunden haben, auch wegen einer Urteilsvollstreckung vor das Gericht des Statthalters in Corduba gehen zu müssen.

IRN R. 91 Taf. X A 53 – X B 9. IRN R. 91 Taf. X A. 50. 44 Der Text in IRN R. 91 Taf. X A lautet (48) intertium adversario iudici arbitro(49)ve in biduo proximo denuntiandi diem diffindendi d i e s (50) d i f f i s i iurandi antequam iudicent. – D. Mantovani, La diei diffissio nella Lex Irnitana, in: Iuris vincula, Studi in onore di M. Talamanca (2002) V 213272, hat erkannt, daß dies diffisi verschrieben ist für diei diffisi und das folgende iurandi zu antequam iudicent gehört. Die gebotene Folgerung wird vielfach gestützt: J. G. Wolf, Iudex iuratus, in: Liber amicorum Juan Miquel (2005) 1087 – 1111. 45 So etwa IRN R. 74 Taf. VIII C 1 oder IRN R. 75 Taf. VIII C 8 / 9. F. Casavola, Actio petitio persecutio (1965) 76 –114. 46 IRN R. 84 Taf. VIIII B 3. 47 IRN R. 84 Taf. VIIII B 13, 15. 42 43

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11. Der lokalen Gerichtsbarkeit standen die Duumvirn vor: duumviri qui in eo municipio iuri dicundo praesunt. Nach dieser Aufgabe, die offenbar als ihre bedeutendste galt, war ihr voller Titel duumviri iure dicundo. Als ihre bedeutendste galt sie wohl auch darum, weil die eigene Gerichtsbarkeit das eigentliche Kriterium der städtischen Autonomie war. Für Bagatellsachen bis zu einem Streitwert von 200 Sesterzen war auch der Ädil zuständig48. Die Zuständigkeit der Duumvirn und des Ädils ist im einzelnen in der – glänzend durchstrukturierten – Rubrik 84 normiert, mit der die Sektion der 10 Vorschriften über die Gerichtsbarkeit beginnt49. Die Zuständigkeit ist der Materie nach umfassend, dem Streitwert nach jedoch begrenzt: für die Duumvirn war die Streitwertgrenze 1000 Sesterzen50, für den Ädil 200 Sesterzen51. Diese Streitwertgrenzen waren absolut: sie konnten durch das Einverständnis der Streitparteien nicht überwunden werden. Von der Zuständigkeit ratione materiae nimmt das Gesetz allerdings eine Reihe von Klagen aus: Es nimmt die Klagen aus, durch die die Streitwertgrenze unterlaufen werden sollte, etwa durch Teilung der Klage in fraudem legis52. Sodann die Klagen, deren Tatbestand Gewaltanwendung voraussetzte, wie etwa die actio vi bonorum raptorum oder die actio de vi armata53. Ebenso alle Freiheitsprozesse, wie die vindicatio in libertatem oder die vindicatio in servitutem54. Schließlich die Klagen, die bei Prozeßverlust Infamie des Verurteilten bewirkten, eine Bescholtenheit, mit der erhebliche Nachteile verbunden waren55. Zu ihnen gehörten die vererblichen actiones pro socio, fiduciae, mandati und tutelae, sowie die unvererblichen ex lege Laetoria, de dolo malo und iniuriarum. Für die vererblichen Klagen der vierten Gruppe konnten allerdings die Streitparteien die Zuständigkeit der Duumvirn durch ihr Einverständnis begründen56. 12. Nicht alle Tage des Jahres waren auch Gerichtstage. Strikt ausgeschlossen waren die der Verehrung des kaiserlichen Hauses gewidmeten Festtage: an diesen Tagen konnte weder in iure ein Prozeß eingeleitet werden, noch apud iudicem ein IRN R. 84 Taf. VIIII B 25 – 28. J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, in: SDHI 66 (2000) 29 – 61; Irnitana 27; A. Rodger, The Jurisdiction of Local Magistrates: CH. 84 of the Lex Irnitana, in: ZPE 84 (1990) 147 ss.; G. P. Burton, The Lex Irnitana, CH. 84, the Promise of Vadimonium and the Jurisdiction of Proconsuls, in: Classical Quarterly 46 (1996) 217 – 221; D. Nörr, Lex Irnitana c. 84 IX B 9 – 10: ‚neque pro socio aut fiduciae aut mandati quod dolo malo factum esse dicatur‘, in: SZ 124 (2007) 1 ss.; M. L. Peluso, Die sponsio in probum facta im Jurisdiktionskatalog der Lex Irnitana, in: SZ 120 (2003) 42 ss. 50 IRN R. 84 VIIII B ¾; R. 89 X A 16. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 32 – 37. 51 IRN R. 84 VIIII B 25 – 28. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 54 – 56. 52 IRN R. 84 VIIII B 4 – 6; R. 89 X A 16 – 25. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 37 – 39. 53 IRN R. 84 VIIII B 6 – 8. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 40 – 42. 54 IRN R. 84 Taf. VIIII B 8 / 9. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 42. 55 IRN R. 84 Taf. VIIII B 9 – 16. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 42 – 45. – J. G. Wolf, Das Stigma ignominia, in: SZ 126 (2009) 55 – 113. 56 IRN R. 84 Taf. VIIII B 17 / 18. Iurisdictio Irnitana (cit. 49) 45 – 48. 48 49

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Urteilsgericht stattfinden57. Ausgeschlossen waren aber auch die Tage: an denen aufgrund eines Dekrets der Dekurionen ein Schauspiel aufgeführt; eine Speisung der Bürger oder ein Abendmahl der Dekurionen stattfand; eine Versammlung der Bürgerschaft einberufen wurde; sowie an den Tagen, die durch ein Dekret der Dekurionen für die Ernte und Weinlese vorgesehen waren58. Wenn Streitparteien und iudex allerdings einverständlich wollten, daß an einem solchen Tag die Streitsache apud iudicem verhandelt werden sollte, konnte das Urteilsgericht tagen59.

III. Besondere Verfahren 1. Neben den iudex stellt die Lex Irnitana allenthalben den arbiter, ohne eine Unterscheidung zu treffen60. Ursprünglich war der iudex der Urteilsrichter in kontradiktorischen Prozessen, der arbiter dagegen der Richter in Schlichtungs- und Schätzungsverfahren, deren Parteien ein und denselben Zweck verfolgten. Indessen muß diese klare Unterscheidung schon frühzeitig aufgegeben worden sein und schließlich der Begriff iudex auch den arbiter eingeschlossen haben – ohne daß die Bezeichnung arbiter für Prozesse aufgegeben worden wäre, die dem Urteilsrichter einen weites Ermessen einräumen, wie etwa die Verfahren der actio familiae erciscundae oder der actio finium regundorum oder der actio communi dividundo61. 2. Neben iudices und arbitri kennt die Lex Irnitana noch eine dritte Kategorie von Urteilsrichtern: die recuperatores62. Während iudex und arbiter stets als Einzelrichter berufen wurden, bildeten die recuperatores immer eine Richterbank von bis zu sieben Richtern, jedenfalls in Irni. Die Lex Irnitana sieht vor63, daß recuperatores stets dann zu bestellen sind, wenn in der anstehenden Streitsache in Rom, unabhängig vom Streitwert, recuperatores bestellt werden müßten – und zwar so viele, ‚wie bestellt werden müßten, wenn in dieser Sache in Rom geklagt würde‘. Sie konnten von den Streitparteien in freier Wahl dem Magistrat vorgeschlagen oder aus der Richterliste ausgelost oder, wie die iudices, von den Streitparteien durch wechselweise Ablehnung der in der Liste aufgeführten Namen bis IRN R. 92 Taf. X B 27 – 30. IRN R. 92 Taf. X B 30 – 36; R. 49 Taf. V C 25 – 32. 59 IRN R. 92 Taf. X B 36 – 46. 60 IRN R. 89 Taf. X A 14, 16; R. 91 Taf. X A 45, 47, 48, 52 / 3, Taf. X B 16; R. 92 Taf. X B 27, 36, 39, 42 / 3, 46 / 7, 47 / 8. – Zur Etymologie von arbiter: A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch (4. Aufl. 1965) I 62; M. Niedermann, Historische Lautlehre des Lateinischen (3. Aufl. 1953) 99. 61 M. Kaser, Das römische Zivilprozessrecht (1966) 41 – 44; F. L. von Keller / A. Wach, Der römische Civilprocess und die Actionen (6. Aufl. 1883) 33 – 37. 62 D. Johnston, Three Thoughts on Roman Privata Law and the Lex Irnitana, in: JRS 77 (1987) 67 ss. 63 IRN R. 89 Taf. X A 20 – 25. 57 58

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auf sieben bestimmt werden64, die dann der Magistrat als Urteilsrichter einsetzen mußte. Die Prozesse, in denen im stadtrömischen Prozeß recuperatores bestellt wurden, lassen ein Prinzip nicht erkennen65. So wurden recuperatores bestellt in den Verfahren: der actio und des interdictum de vi hominibus coactis armatisve66, der actio iniuriarum67, der actio de sepulchro violato68, der Klage wegen gebrochenen Vadimoniums69 oder der Klage des Patrons gegen seinen libertus wegen unbefugter in ius vocatio70 oder auch in den Verfahren von status-Klagen71. Ob diese Prozesse „von stärkerem öffentlichem Interesse“ waren72, bleibt dahin gestellt. Für status-Klagen mag es zutreffen, während den anderen Klagen immerhin Tatbestände ‚unerlaubter Handlungen‘ gemeinsam sind. Vom Rekuperatorenprozeß wird gesagt, daß er „straffer gestaltet“ war als der Prozeß vor dem iudex oder arbiter73. Nach der Lex agraria habe die Richtereinsetzung binnen zehn Tagen erfolgen74, nach der Lex Ursonensis das Urteil jedenfalls binnen zwanzig Tagen gesprochen werden müssen75; und die Zeugen seien vom Gericht geladen worden und ihre Zahl begrenzt gewesen76. Von all dem weiß die Lex Irnitana nichts. 3. Die Rubrik 69 regelt einen Prozeß, der nur in Kolonien und Munizipien der Provinz möglich war77. Wurde im Namen der Bürger oder Einwohner des municipium Flavium Irnitanum78 ein Mitbürger de pecunia communi verklagt und lag der Streitwert über 500 Sesterzen, dann konnte der verklagte Bürger das ordentliche Verfahren vor einem Einzelrichter, einem iudex oder arbiter, ablehnen und verlanIRN R. 88 Taf. X A 3 – 8. Keller / Wach (cit. A. 61) 40 / 1. 66 Keller / Wach (cit. A. 61) 158. 67 Gellius N.A. 20. 1. 13. 68 O. Lenel, Das edictum perpetuum (3. Aufl. 1927) 228 / 9, 27. 69 Gai 4. 185. 70 Gai 4. 46. 71 Vgl. O. Lenel (cit. A. 67) 26 mit Verweis auf Plautus, Cicero und Suetonius, 30, 397 – 399. Auch Gai 1. 20. 72 So etwa M. Kaser (cit. A. 61) 142. 73 M. Kaser (cit. A. 61) 143, 145; Keller / Wach (cit. A. 61) 40. 74 Lex agraria (111 v. Chr.) 37. – Bruns, Fontes Nr. 11 (37) S. 81; S. Riccobono, FIRA Pars prima, Leges (1968) Nr. 8 (37) S. 111. 75 Lex Ursonensis (44 n. Chr.) 95 col. 2 Z. 1 – 4. – Bruns, Fontes Nr. 28, cap. 95, col. 2, Z. 1 – 4, S. 130 / 1. 76 Lex Ursonensis (44 n. Chr.) 95 col. 2 Z. 4 – 7. – Bruns, Fontes Nr. 28, cap. 95, col. 2, Z. 4 – 7, S. 131. 77 IRN R. 69 Taf. VIII A 9 – 32. M. Talamanca, ‚Ibi‘ in ‚Lex Irnitana‘, 69. Lin. 12 – 13: un contributo allo studio dell’ ‚agere de pecunia communi‘, in: BIDR 101 / 102 (2002) 665 – 741. Vgl. auch D. Johnston, Municipal Funds in the Light of Ch. 69 of the Lex Irnitana, in: ZPE 111 (1996) 199 ss. 64 65

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gen, daß ‚die richterliche Untersuchung, die Entscheidung und die Schätzung der Urteilssumme‘ durch die decuriones, den gewählten ‚Gemeinderat‘, erfolgen, die Dekurionen mithin als Urteilsrichter fungieren sollten79. Zwei Drittel der 63 Dekurionen Irnis mußten anwesend sein, wenn der ‚Gemeinderat‘ zu Gericht saß. Die Voten mußten auf Stimmtäfelchen abgegeben, mußte mithin ‚geheim‘ gewählt werden und der Dekurio zuvor schwören80, daß er ‚gerecht und gut und zum Besten für das Gemeinwohl‘ urteilen werde81. Betrug der Streitwert 500 Sesterzen oder weniger, dann sollte an Stelle der Gesamtheit der Dekurionen ein Ausschuß von fünf Dekurionen ‚die richterliche Untersuchung, Entscheidung und Schätzung der Urteilssumme‘ übernehmen. Ihre Wahl aus der Zahl der anwesenden Dekurionen geschah wie die Wahl eines iudex aus der Richterliste: abwechselnd konnten die Streitparteien einen um den anderen Dekurio ablehnen bis schließlich fünf übrig blieben, denen alsdann die Aufgaben des Urteilsrichters zustanden. Wie die Entscheidung der Gesamtheit der Dekurionen war auch ihre Entscheidung rechtens und unumstößlich wirksam82.

IV. Rückblick 1. Das Stadtrecht, die Lex Irnitana, wurde Irni in den 90er Jahren des 1. Jahrhunderts zugewiesen. Die Stadt teilte die damit verbundene Promotion zum municipium Flavium mit allen peregrinen Gemeinden Spaniens, die im Vollzug des Latinum-Dekrets Vespasians von 73 oder 74 n. Chr. das flavische Stadtrecht erhielten. Die großen Fragmente der Stadtrechte von Malaca und Salpensa, die schon 1861 gefunden worden sind, und eine Reihe kleinerer Fragmente anderer Stadtrechte belegen ihre Einheitlichkeit, was bezeugt, daß sie nach ein und derselben Vorlage ergangen sind – und wie sie, so vermutlich auch die Stadtrechte all der Gemeinden, die in ihrem Namen das Epitheton Flavium führen. 2. Anders als die älteren Stadtrechte, etwa die Lex Ursonensis von 44 oder 43 v. Chr. oder die Lex Tarentina, ergangen nach den Sozialkriegen in den 80er Jahren v. Chr., ist die Lex Irnitana übersichtlich nach Sachbereichen gegliedert. Der lokalen Gerichtsverfassung und dem lokalen Zivilprozeß ist der letzte Sachbereich ge78 Die Prozeßvertretung der Bürger ist in R. 70 geregelt. Der Vertreter wird von den Dekurionen bestimmt und kann nach einem Edikt des Statthalters als procurator oder cognitor fungieren. 79 IRN R. 69 Taf. VIII A 10 – 15. Nach R. 84 und 89, am Sitz der Materie, ist die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen absolut, nach R. 69 Taf. VIII A 12 – 13 dagegen durch Prorogationsvereinbarung der Streitparteien zu überwinden. Die Inkongruenz ist vermutlich bei der Herstellung des Gesetzes entstanden: vgl. J. G. Wolf, Iurisdictio Irnitana, in: SDHI 66 (2000) 56 – 61. 80 Vgl. J. G. Wolf (cit. A. 44) 1087 – 1111. 81 IRN R. 69 Taf. VIII A 16 – 22. 82 IRN R. 69 Taf. VIII A 22 – 24, 31 – 32.

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widmet. Er beginnt mit der Rubrik 84, in der die Zuständigkeiten der Duumvirn und des Ädils bestimmt werden. Ihre Zuständigkeiten sind grundsätzlich umfassend, die Streitwertgrenzen der Duumvirn allerdings schon bei 1000, die des Ädils bei 200 Sesterzen, die eine wie die andere absolut, nämlich nicht durch das Einverständnis der Streitparteien auszuräumen. Für die Streitwertgrenzen war offenbar die Größe der Gemeinde maßgebend. Außerdem sind der lokalen Gerichtsbarkeit eine Reihe von Klagen entzogen: teils zur Wahrung der Streitwertgrenzen, teils aber wohl auch, wie die actio de vi armata oder die vindicatio in libertatem oder servitutem oder die infamierenden Klagen, um den sozialen Frieden in der kleinen Stadt nicht zu gefährden. Denn der Duumvir und der Urteilsrichter waren immer auch Mitbürger. Diese Klagen waren der Zuständigkeit des Statthalters in Corduba vorbehalten. Schließlich: Die Rubrik 84 ist das Musterbeispiel eines sachlich und sprachlich vorzüglich gegliederten und geformten Gesetzes83. In ihrem Sachbereich ist sie außergewöhnlich. 3. Überblickt man den Sachbereich, so muß als erstes auffallen, daß eine Reihe wesentlicher Einrichtungen übergangen ist, während andere in großer Ausführlichkeit geregelt werden. So wird ohne weiteres die Kenntnis erwartet, daß der Zivilprozeß geteilt war: daß er in iure, durch den Magistrat begründet und eingeleitet, und apud iudicem, von einem Urteilsrichter durchgeführt wurde, den der Magistrat einsetzte und dem er mit der formula das Prozeßprogramm vorgab. – Dasselbe gilt von der Ladung. Es war Sache des Klägers, den Beklagten vor Gericht zu bringen; das Instrument die in ius vocatio, die in der Kaiserzeit längst mit dem vadimonium kombiniert wurde. Das vadimonium war ein Versprechen des Beklagten, das ihn verpflichtete, an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde und an einem bestimmten Ort sich einzufinden, wo ihn dann der Kläger in ius vozieren und vor das nahe gelegene Gericht bringen konnte. Von beiden Einrichtungen kein Wort in der Irnitana. – Auch von der Möglichkeit, die Verhandlung in iure zu vertagen, weiß das Gesetz nichts. Andererseits wird die Vertagung des Urteilsgerichts als möglich und offenbar bekannt dargestellt. – Mit größter Ausführlichkeit und Akribie wird dagegen die Bestellung des Urteilsrichters geregelt: ihre Vorbereitung durch die den Duumvirn aufgegebene Erstellung einer dreigegliederten Richterliste; die Bindung des Magistrats an den einverständlichen Vorschlag der Streitparteien, eine bestimmte Person als iudex einzusetzen; schließlich die Auswahl, wenn die Parteien sich nicht verständigten, eines iudex aus der Richterliste. – Ebenso gründlich wird das intertium geregelt: die Terminierung des Urteilsgerichts durch den Duumvir auf Antrag des Klägers – wobei der Magistrat wieder an den einverständlichen Vorschlag der Parteien und des iudex gebunden war. – Die vielleicht auffälligste prozeßrechtliche Rubrik sieht ein Verfahren vor, in dem um pecunia communis, eine Geldforderung der Gemeinde, gestritten wird und auf Verlangen des verklagten Bürgers anstelle eines iudex die Dekurionen das Urteilsgericht sind, bei Beträgen

83 Vgl. W. D. Lebek, La Lex Lati di Domiziano (Lex Irnitana): Le strutture giuridiche die capitoli 84 e 86, in: ZPE 97 (1993) 159 ss.

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über 500 Sesterzen ihre Gesamtheit, bei geringeren Beträgen ein Ausschuß von 5 Dekurionen. 4. Eine Erklärung, weshalb die Lex Irnitana eine Reihe wesentlicher Institute des Prozeßgeschehens nicht erwähnt, geschweige denn regelt, wird zunächst daran erinnern, daß die Baetica schon zu Vespasians Zeiten seit mehr als 200 Jahren eine römische Provinz, die Nachbarstadt Urso seit 100 Jahren eine römische Kolonie und die römische Verwaltung in der städtereichen Provinz84 allgegenwärtig war. Und außerdem: daß schon das peregrine Irni, offenbar nach römischem Vorbild, einen ‚Stadtrat‘ (ordo, curia) mit 63 Sitzen, Duumvirn, Quästoren und Ädile hatte und auch ein Theater mit einer festen, nach Ständen eingerichteten Sitzordnung85. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß die ausführlich geregelten Institute den Prozeßparteien Rechte verbriefen: das Recht, dem Magistrat bindend vorzuschlagen, eine von ihnen einverständlich benannte Person als Urteilsrichter einzusetzen oder aus der Richterliste einen Urteilsrichter durch wechselweise Abwahl der nicht gewünschten Namen zu bestimmen; ebenso beim intertium dem Magistrat bindend vorzuschlagen, das Urteilsgericht auf einen von ihnen gewählten Tag zu legen; und auch das Recht des Bürgers, der von der Gemeinde de pecunia communi verklagt wird, vom Magistrat zu verlangen, als Urteilsrichter die Dekurionen einzusetzen. Bei diesen Verhältnissen wird man in Irni mit den römischen Prozeßeinrichtungen, auch wenn man an ihnen nicht teil hatte, bekannt und vertraut gewesen sein. Die Einschränkung der gerichtlichen Zuständigkeit ratione materiae hatte auch ihre Gründe. Irni war eine kleinere Stadt mit allenfalls 2000 Bürgern, was bedeutete, daß zahllose Freund- und Bekanntschaften die Stadtgesellschaft durchzog. Die Magistrate waren Mitbürger, und auch der Urteilsrichter war ein Mitbürger. Darum mag es sich empfohlen haben, dem stadtfremden Statthalter die Klagen vorzubehalten, deren Tatbestände ‚unerlaubte Handlungen‘ waren oder den Verurteilten mit Infamie belasteten. So wurden Gerüchte, Spannungen und Feindschaften wenn nicht vermieden, so doch gering gehalten und die Friedfertigkeit der Stadtgesellschaft nachhaltig geschützt. Und diese Überlegungen werden den Gesetzgeber auch veranlaßt haben, die Urteilslast den Dekurionen aufzubürden, wenn das Gemeinwesen einen Mitbürger wegen der Zahlung öffentlicher Gelder verklagen mußte.

84 85

Plinius N. H. 3. 7. J. G. Wolf, Irni vor der Irnitana, in: IURA 58 (2010) 197 – 218.

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica I. Das Stadtrecht von Irni, die Lex Irnitana, war, wie das Gesetz selbst vorsah, in Bronze geschlagen und am belebtesten Ort der Stadt aufgestellt1. Es waren zehn Tafeln, von denen im Jahre 1981 Clandestini mit einem Metalldetektor sechs aufgespürt, ausgegraben und in zwei Partieen verkauft haben. Der Fund wurde ruchbar und die Tafeln bald ausfindig gemacht. Sie befinden sich seitdem, glänzend präpariert, im Archäologischen Museum von Sevilla. Schon seit 1861 besitzen wir große Fragmente der Stadtrechte von Salpensa2 und Malaca (Malaga). Der Text der Tafel III der Irnitana deckt Wort für Wort den Text des Fragments der Lex Salpensana und der Text der Tafel VII einen großen Teil des erhaltenen Textes der Lex Malacitana. Danach steht außer Zweifel, daß die drei Stadtrechte nach ein und derselben Vorlage abgefaßt worden sind. Da die drei Städte zur Erinnerung an das Latinum-Dekret Vespasians in ihren Titeln das Epitheton Flavium führen – municipium Flavium Salpensanum, municipium Flavium Malacitanum, municipium Flavium Irnitanum – ist anzunehmen, daß auch die Stadtrechte der vielen anderen municipia, die in ihren Titeln ebenfalls das Beiwort Flavium haben, mit den Stadtrechten von Salpensa, Malaca und Irni übereingehen. Diese Vermutung wird gestützt und zur Gewissheit durch eine Reihe kleiner Bruchstücke der Stadtrechte von Italica, Villo und Ostippo und durch Fragmente einer Bronzetafel, in die vermutlich die Vorlage des flavischen Stadtrecht eingraviert war3. So ergibt sich, daß wir mit der Lex Irnitana und den – von der Irnitana nicht erhaltenen – Rubriken 51 bis 59 der Malacitana das flavischen Stadtrecht Spaniens zu einem großen Teil besitzen. Die Textstücke der Stadtrechte von Italica, Villo und Ostippo und das Fragment der, wie vermutet, Vorlage der flavischen Stadtrechte werden im Folgenden dargestellt und am Beispiel der Lex Irnitana ihrem ursprünglichen Kontext zugeordnet.

IRN R. 95 Taf. X C 7 – 10. Die genaue Lage ist nicht bekannt. Sie wird vermutet in der weiteren Umgebung von Utrera in Andalusien. 3 Diese Fragmente sind abgedruckt bei Julian Gonzáles Fernández, Bronces juridicos romanos de Andalucia (1990) 125 – 127, 129 – 132, 133 – 134 und Francesca Lamberti, Tabulae Irnitanae (1993) 377 – 383. 1 2

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica

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II. 4

1. Ostippo (Estepa) , eine eher unbedeutende Stadt, lag einige Meilen östlich von Urso (Osuna) an der Straße von Anticaria (Antequera) nach Hispalis (nahe Sevilla) und gehörte zum conventus, dem Gerichtsbezirk, von Astigi5. Die Stadt war offenbar eine Neugründung nach der völligen Zerstörung von Astapa im Jahre 206 v. Chr. durch die Römer6. Das kleine Fragment, das 7, 2 cm mal 5, 7 cm mißt7 und den Namen Ostippo ausweist, ist nicht in Ostippo selbst, sondern unweit der Ortschaft Herrera, am Ufer des Flusses Genil gefunden worden. Die wenigen Worte, die das Fragment überliefert, sind gut zu lesen8: O OD RE UI ADVER SI OSTIPPO EIUS MUN ECUTIO ES ONENDIS

Das Fragment ist ein Bruchstück der Tafel, in die – gezählt nach der Lex Irnitana – die Rubriken 62 und 63 des flavischen Stadtrechts eingraviert waren. Rubrik 62 untersagt, ein Haus abzureißen, das nicht innerhalb eines Jahres wieder aufgebaut werden soll, es sei denn, daß die Dekurionen den Abriß genehmigen. Rubrik 63 handelt von Verpachtungen durch die Gemeinde, die von den Duumvirn vertreten wird; sie sind verpflichtet, die Pachtverträge und alles was mit ihnen zusammenhängt durch öffentlichen Anschlag bekannt zu machen. In Rubrik 62 der Lex Irnitana sind die Buchstaben und Worte des Fragments in den Zeilen 42 bis 47 zu identifizieren, in Rubrik 63 das Wortteil onendis in der Überschrift. Auf den Bronzen von Ostippo scheint die Zeilenlänge der auf den Bronzen von Irni entsprochen zu haben. In den drei mit OSTIPPOnensis, EIUS MUNicipi und persECUTIO ESto endenden Zeilen könnten Abkürzungen die Unterschiede zur Lex Irnitana verursacht haben. Lex Irnitana Kap. 62 tab. VII A 37 – 47 (37) (38) (39) (40) (41)

4 5 6 7 8

R. NE QUIS AEDIFICIA QUAE RESTITURUS NON ERIT DE STRUAT NE QUIS IN OPPIDO MUNICIPI FLAVI IRNITANI QUAE QUE EI OPPIDO CONTINENTIA AEDIFICIA ERUNT AEDIFICIUM DELEGITO DESTRUI TO · DEMOLIUNDUMVE · CURATO · NISI · de . DECURIONUM · CONSCRIPTORUM

A. Schulten, Ostippo, RE 18 (1942) 1665. Plin. n. h. 3.12. Liv. 28. 22. 1 – 23. 5. A. Schulten, Ostippo, RE 18 (1942) 1665. Gonzáles Fernández (cit. A. 3) 133. Abgebildet in Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVII‘.

282 (42) (43) (44) (45) (46) (47)

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica VE · SENTENTIA[M ]. CUM · MAIOR · PARS · EORUM · AD · FUERIT · QUOD RES TITUTURUS . INTRA · PROXIMUM · ANNUM · NON · ERIT · QUI . ADVERSUS EA · FECERIT · IS · QUANTI · EA · RES · ERIT · T · P · MUNICIPIBUS · MUNICIPI · FLAVI IRNITANI 9 · DECRETO · DECURIONUM · ESTO · EIUSQUE · PECUNIAE · DEQUE EA · PECUNIA · MUNICIPI · EIUS · MUNICIPI · QUI · VOLET · CUIQUE · PER · H · L · LI CEBIT · ACTIO · PETITIO · PERSECUTIO · ESTO

Lex Irnitana Kap. 63 tab. VII B 1 – 13 (1) (2) (3) (4)

R · DE LOCATIONIBUS · LEGIBUSQUE · LOCATIONUM · PRO PONENDIS ET IN TABULAS MUNICIPI REFERENDIS QUI · IIVIR · IURI · DECUNDO · PRAEERIT · VECTIGALIA · ULTRO · QUE TRIBUTA · SIVE · QUID · ALIUT · COMMUNI · NOMINE · MUNICI

2. Deutlich größer – 13, 8 cm mal 44, 9 cm – ist das Fragment, dessen Fundort umstritten ist: Es wird Italica10 zugeschrieben, am Baetis gegenüber Sevilla gelegen, aber auch Corticata11, das nordwestlich von Italica bei Arucci gelegen war. Für Corticata spricht indessen, daß Italica die älteste römische Stadt Spaniens war, gegründet von Scipionen, daß die Stadt später mit einer Garnison belegt und schon von Caesar12 und auf Münzen des Augustus und Tiberius municipium genannt wurde13. Nach diesen Daten möchte man vermuten, daß Italica zu Vespasians Zeiten keine peregrine Stadt mehr war und als municipium längst eine römische Stadtverfassung hatte14. Letzte Gewissheit ist gleichwohl nicht zu gewinnen. Für Gonzáles Fernández15 und Lamberti16 ist das Fragment ein Bruchstück der Lex Italicensis. Die Gravur ist nicht so klar wie die der Lex Ostipponensis17. Dennoch ist gut zu lesen: IES EX H L IBI IUDICIA FIERI LICEBIT OPOR Q PROSCIRTUM (2)IN EO LOCO IN QUO IUS DICET QUOS INTIRTIUM D D HABER? I U D P R L P ITEM SI EM QUI INTER EOS IUDICARE DEBEBIT IN ALIQUEM 9 Die Lex Ostipponensis las an dieser Stelle, wie sich versteht, MUNICIPI FLAVI OSTIPPONENSIS. 10 E. Hübner / A. Schulten, Italica, RE 9 (1916) 2283 / 4. 11 E. Hübner, Corticata (1), RE 4 (1901) 1660. 12 Bell. Alex. 52, 4. 13 E. Hübner / A. Schulten, Italica, RE 9 (1916) 2283 / 4. 14 Von der „älteren Verfassung“ sollen nur wenige Spuren erhalten sein: CIL II 1129, 5368: E. Hübner / A. Schulten, Italica, RE 9 (1916) 2284. 15 Gonzáles Fernández (cit. A. 3) 125 mit Lit in A. 1. 16 Tabulae Irnitanae (1993) 377. 17 Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XV‘.

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica

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ENIET NEQ IS DIES PROPTER VENERATIONEM DOMUS O PROPTER EANDEM CAUSAM HABERE DEBEBIT IN EUM CUIQ PER H L LICEBIT ACTIO PETITIO PE (1) (3) (4) (5) (41)

EX H L ex hac lege INTIRTIUM intertium / D D dari debebit? / I U D P R T P ita ut de plano recte possint NEQ neque HABERE haberi? CUIQ cuique / PER H L per hanc legem / PE persecutio

Das Fragment ist ein Bruchstück der Tafel, in die – gezählt nach der Lex Irnitana – die Rubrik 90 des flavischen Stadtrechts eingraviert war. Rubrik 90 regelt die Erteilung des intertium: die Terminierung des Urteilsgerichts durch den Magistrat auf Antrag des Klägers. Die Rubrik bestimmte, auf welche Tage der Duumvir das intertium erteilen mußte und auf welche Tage er das intertium nicht erteilen durfte, und verpflichtete den Duumvir, diese Regelung durch Aushang öffentlich bekannt zu machen. Die Zeilen dieser Inskription waren etwa anderthalbmal so lang wie die auf den Bronzen von Irni; die Zeilen der Irnitana zählten 45 bis 50, die unseres Fragments etwa 70 Buchstaben; der Text, der in der Irnitana über 10 Zeilen ging (R. 90 Z. 27 – 36), nahm auf der Bronze unseres Fragments 6 Zeilen ein. Lex Irnitana R. 90 (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36) (37) (38 – 40) (41)

tab. X A 26 – 41

DE INTERTIUM DANDO QUICUMQUE IN EO MUNICIPIO IIVIR I D PER QUOS DIES EIX H L IBI IUDICIA FIERI LICEBIT OPORTEBIT IN EOS DIES OMNES INTERTI UM DATO IIQUE PROSCRIPTUM IN EO LOCO IN QUO IUS DICET MAIO RE PARTE CUIUSQUE DIEI PER OMNES DIES PER QUOS INTERTIUM DARI DEBEBIE HABETO ITA UT D P R L P ITEM SI INTER EOS INTER QUOS AMBIGETUR ET IUDICEM QUI INTER EOS IUDICARE DEBE BIT IN ALIQUEM DIEM UTI INTERTIUM INTER EOS [IUDICARE DE BEBIT IN ALIQUEM DIEM UTI INTERTIUM INTER EOS] DETUR CONVENIET NEQUE IS DI ES PROPTER VENERATIONEM DOMUS AUGUSTAE FESTUS ERIT FERIARUMVE NU MERO PROPTER EANDEM CAUSAM HABERI DEBEBIT IN EUM DIEM INTERTIUM INTER EOS DATO QUI DEBUERIT DARE INTERTIUM NEQUE DEDERIT QUIVE IT PROSCRIPTUM .……………………………………………… NICIPII CUI VOLET CUIQUE PER H L LICEBIT ACTIO PETITIO PERSECUTIO ESTO

(27) (28) (29) (31)

I D P : iure dicundo praerit * EX · H L : ex hac lege * FIERE : verschrieben für fieri * IIQUE : verschrieben für idque * DEBEBIE : verschrieben für debebit * D · P · R · L · P : de plano recte legi possint *

284

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica (33 / 34) · [ IUDICARE · DEBEBIT · IN ALIQUEM DIEM · UTI · INTERTIUM · INTER · EOS ]: Wiederholung, offenbar veranlaßt durch das vorausgehende INTER EOS* (37) IT : verschrieben für id * (41) CUI : verschrieben für qui * PER HL : per hanc legem *

3. Auf der Ranch La Estacca, 8 Kilometer südlich von La Puebla de Cazalla18, sind, wohl schon vor Jahren, eine Reihe von Bronzefragmenten gefunden worden, deren Beschriftung einer Lex municipii Villonensis zugeschrieben wird – ohne daß die Ortschaft Villo ausfindig gemacht werden könnte. Die Zuschrift beruht auf dem Wortfragment ILLONE, dem, durch den Kontext gesichert, in der Rubrik 67 der Lex Irnitana die Ortsangabe MUNICIPI FLAVI IRNITANI entspricht. Die Fragmente sind Bruchstücke der Tafel oder der Tafeln, in die – wieder gezählt nach der Lex Irnitana – die Rubriken 64, 65, 66 und 67 eingraviert waren. (a) Die Rubrik 64 trägt die Überschrift De obligatione praedum et praediorum cognitorumque und trifft Bestimmungen – mit Verweis auf die in Rom geltenden Gesetze – über die Haftung der Bürgen, die zum Schutz des Vermögens der Bürger verpflichtet worden sind, über die Haftung der zum Pfande genommenen Grundstücke sowie deren Sachwalter. Die Inschrift19 ist gut zu lesen: OS QUI ROMAE AERA FACTI EAQUE + + + + + IA SUBD T EOSQUE PRA+ + + + +AQUE EORUM IN QU + COGNI QUAEQUE SOLUTI LIBE NON ERUNT AUT D P

Die Zeilenlänge scheint der auf den Bronzen von Irni etwa entsprochen zu haben. Die Worte und Buchstaben sind in den Zeilen 28 bis 35 der Rubrik 64 der Lex Irnitana zu identifizieren: Lex Irnitana R. 64 tab. VII B 14 – 47 (14) (15) (16 – 25) (26) (27) (28) (29) (30) (31) 18 19

R · DE · OBLIGATIONE · PRAEDUM · ET · PRAEDIORUM · COGNITO RUMQUE ………………………………………… MUNE · MUNI · CIPUM · EIUS · MUNICIPI · ITEM · OBLIGATI · OB LIGATAQUE · SUNTO · UT · II · EAVE · POPULO · R · OBLIGATI · OBLIGA TAvE · ESSENT · SI · APUT · EOS · QUI · ROMAE · AERARIO · PRAE · ESSENT · II PRAEDES · IIQUE · COGNITORES · FACTI · AEQUE · PRAEDIA · SUBDI TA · SUBSIGNATA · OBLIGATAVE · ESSENT · EOSQUE · PRAEDES · AEQue PRAEDIA · EOSQUE · COGNITORES · SI QUIT · EORUM · IN QUaE

Gonzáles Fernández (cit. A. 3) 130. Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (b)‘.

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica

285

COGNITORES · FACTI · sunt ERUNT · ITA · NON ERIT · QUI QUAEVE · SO LUTI · LIBERATI · SOLUTA · LIBERATAQUE · NON · SUNT · NON ERUNT · AUT · NON · SINE · D · M · SUNT · ERUNT · DUUMVIRIS · QUI · IBI (35) I · D · P RAEERUNT · AMBOBUS · ALTERIVE · EORUM · EX · DECURIONUM (36) CONSCRIPTORUMVE · DECRETO · QUOD · DECRETUM · CUM · EO (37 – 47) ……………………………… (32) (33) (34)

(27) (30) (32) (35)

POPULO · R : POPULO romano * AEQue : verschrieben für eaque * das Fragment liest AQUE * QUAEVE : das Fragment liest QUAEQUE * I D P : iuri dicundo praeerunt *

(b) Die Rubrik 65 der Lex Irnitana ist überschrieben Ut ius dicatur lege dicta praedibus et praedis vendendis und bestimmt, daß der Käufer eines verpfändeten Grundstücks oder von anderen Vermögensgütern eines Bürgen oder Sachwalters ebenso vor Gericht das gekaufte Gut fordern und verfolgen kann wie der Grundstückseigentümer, der Bürge oder der für das Grundstück bestellte Sachwalter. Die Rubrik 65 zählt nur neun Zeilen und auf einem kleinen Fragment20 sind auch nur in zwei Zeilen zwei kurze Buchstabenfolgen erhalten, die im Text der Irnitana in den Endzeilen 8 und 9 ihre Entsprechung haben. Auf dem Fragment lesen wir: IS REBU SINT

Der Text der Irnitana lautet: Lex Irnitana R. 65 tab. VII C 1 – 9 (1) (2) (3 – 5) (6) (7) (8)

R. UT · IUS · DICATUR · LEGE · DICTA · PRAEDIBUS · ET · PRAEDIS · VENDENDIS ………………………………………………… PRAEDIA · MERCATI · ERUNT · PRAEDESQUE · SOCII · HEREDESQUE · EORUM IIQUE · AD · EOS · EAE · RES · PERTINEBIT · DE · IS · REBUS · AGERE · EASQUE · RES · PETE RE PERSEQUI · RECTE · POSSINT

(c) Auf demselben Bronzestück21 sind, deutlich abgesetzt, in vier Zeilen wenige Worte zu lesen, die – wieder nach Ausweis der Lex Irnitana – der Rubrik 66 zuzuordnen sind. Die Rubrik 66 steht unter der Überschrift De multa quae dicta erit und sieht vor, daß die von den Magistraten verhängten Geldbußen in die Register der Gemeinde eingetragen werden müssen und daß die Betroffenen an die Dekurionen appellieren können. Auf der Bronze lesen wir: 20 21

Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (c)‘. Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (c)‘.

286

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica DICTAS IR AMBO A TABULAS C RI IUBETO

Der Text der Irnitana lautet: Lex Irnitana R. 66 tab. VII C 9 – 19 R · DE · MULTA · QUAE · DICTA · ERIT. MULTAS · IN EO · MUNICIPIO · AB · DUUM · VIRIS · PRAEFECTOVE · DICTAS (11) ITEM · AB · AEDILIBUS · QUAS · AEDILES · DIXISSE · SE · APUT · DUUM · VI ROS · AMBO · ALTERUMVE · EX · H · IS · PROFESSI · ERUNT · DUM · VIR (12) · QUI · I D (13) PRAERUNT · IN TABULAS · COMMUNES · MUNICIPUM · EIUS · MUNICI (14) PI · REFERRI · IUB · ET · O S · E · IS · CUI · EA · MULTA · DICTA · ERIT · AUT · NOMINE (15 – 19) …………………………………………… (9) (10)

(10) (11 / 12) (12 / 13) (13) (14)

DUUM VIRIS / VIR : duumviris, duumvir * DUUM VIROS : duumviros * DUM VIR QUI I D PRAERUNT : duumvir qui iuri dicundo praerunt * PRAERUNT : verschrieben für praerit * IUB ET O : iubeto * S E : verschrieben für si *

(d) Auf einem dritten Bruchstück22, vermutlich – was der Schriftenvergleich nahe legt23 – derselben Tafel, sind in fünf Zeilen Worte und Wortteile zu lesen, die auch der Rubrik 66 zuzuordnen sind. Während die Wortreste des vorstehenden Fragments in den Zeilen 10 bis 14 der Rubrik 66 der Lex Irnitana ihre Entsprechung finden, haben die Textteile dieses Bronzestücks in der zweiten Hälfte dieser Rubrik ihr Korrelat. Auf dem Bronzestück lesen wir: EIIUS ALI NES CONSCRIPTOSVE ONSCRIPTORUMVE I ERUNT INIUSTAE D E EAS MULTA

Der Text der Irnitana lautet: Lex Irnitana R. 66 tab. VII C 9 – 19 (9) R · DE · MULTA · QUAE · DICTA · ERIT (10 – 14) ……………………………………………… Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (d)‘. Unverkennbar sind die Buchstaben R, S, M, N, C und U auf beiden Bruchstücken von derselben Hand eingeschlagen. 22 23

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica (15) (16) (17) (18) (19)

287

EIUS · ALIUS · POSTULABIT · UT · DE · EA · AD DECURIONES · CONSCRIPTOS VE · REFERATUR · DE · EA · DECURIONUM · CONSCRIPTORUMVE · IUDI CIUM · ESTO · QUAEQUE · MULTAE · NON · ERUNT · IN · IUSTA · E A · DECU RIONIBUS · CONSCRIPTISVE · IUDICATA · E · EAS · MULTAS · II · VIRI · IN PUBLICUM · MUNICIPUM · EIUS · MUNICIPI · REDIGUNTO (17) (18)

IUSTA E : iustae * IUDICATA E : iudicatae * II VIRI ; duumviri *

(e) Die Rubrik 67 der Lex Irnitana ist überschrieben De pecunia communi municipum deque rationibus eorundem und handelt von Zahlungen an die Gemeindekasse, von Rechenschaftsberichten über Geschäfte mit Geldern der Bürger und Strafzahlungen bei Verstößen gegen die Vorschriften der Rubrik. Sie zählt in der Lex Irnitana 25 Zeilen und auf einem eher kleinen Bronzestück24 sind in 8 Zeilen ein Wort vollständig und von acht Worten Teile erhalten, die im Text der Irnitana in den Zeilen 37 bis 44 wiederkehren. Auf dem Bronzestück lesen wir: RATIO RATIONES RED EFERRETUR ERTINEBIT M MUNI NIAE DE ILLONE RSEC

Der Text der Irnitana lautet: Lex Irnitana R. 67 tab. VII C 20 – 44 (20) (21) (22 – 36) (37) (38) (39) (40) (41)

24

R · DE · PECUNIA · COMMUNI · MUNICIPUM · DEQUE · RATIONIBUS EORUNDEM .……………………………………………… TUR · REFFERRETUR · QUOVE · MINUS · ITA · RATIONES · REDDERENTUR IS · PER · QUEM · STETERIT · QUO · MINUS · RATIONES · REDDERENTUR · QUO VE · MINUS · PECUNIA · REDIGERETUR · REFERRETUR · HERESQUE · EIUS ISQUE · AT QUEM · EA · RES · Q · D · A · PERTINEBIT . QUANTI · EA · RES · ERIT · TAN TUM ET ALTERUM · TANTUM · MUNICIPIBUS · EIUS · MUNICIPI · D · D · E · EI

Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (e)‘.

288

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica

(42) (43) (44)

IUSQUE · PECUNIAE · DEQUE · EA · PECUNIA · MUNICIPI · MUNICIPI · FLAVI IRNITANI QUI · VOLET · CUIQUE · PER · HAC · LEGE · LICEBIT · ACTIO PETI TIO · PERSECUTIO · ESTO (37) (40) (41) (42 / 43)

REFFERRETUR : verschrieben für referretur * Q D A : qua de agitur * D D E : dare damnas esto * EA · PECUNIA · MUNICIPI · MUNICIPI · FLAVI IRNITANI : Lex Malacitana : EA PECUNIA MUNICIPUM MUNICIPII FLAVI MALACITANI * PER · HAC · LEGE : verschrieben für per hanc legem *

An Stelle von IRNITANI in Zeile 43 stand in der Lex Villonensis VILLONENSIS – wie ILLONE in der vorletzten Zeile des Bronzefragments beweist. (f) Ein letztes und größeres Bruchstück25 einer Bronzetafel aus dem Fund auf der Ranch La Estaaca zeigt auf zehn Zeilen Textstücke, die auch – nach Ausweis der Lex Irnitana – der Rubrik 67 zuzuordnen sind. Die Bronzetafel war, woran der Vergleich der Gravuren kaum Zweifel läßt, nicht identisch mit der Tafel, deren Bruchstück zuletzt besprochen worden ist – obwohl deren Beschriftung an die der jetzt darzustellenden unmittelbar anschließt. Sie ist unschwer zu lesen und ergibt folgendes Bild: IIUS M IIUS ISVE AD UMIS QUIBUS RACTARE DESIERI HABEBUNTUR RAT IBUS CONSCRIPT SCENDIS EX DEC RUMVE QUOD DE M PARTES NO NEGO

Der korrespondierende Text der Irnitana lautet: Lex Irnitana R. 67 tab. VII C 20 – 44 (20) R · DE · PECUNIA · COMMUNI · MUNICIPUM · DEQUE · RATIONIBUS (21) EORUNDEM (22 – 26) ……………………………………………… (27) COMMUNE · MUNICIPUM · EIUS · MUNICIPI · GESSERIT · TRAC (28) TAVERIT · IS · HERESVE · EIUS · ISVE · AD . QUEM · EA · RES · PERTINEBIT (29) IN DIEBUS · XXX · PROXIMIS · QUIBUS · EA · NEGOTIA · EASVE · RATI (30) ONES · GERERE · T · RACTARE · DE · SIERIT · QUIBUSQUE · DECURIONES

25

Abgebildet bei Gonzáles Fernández (cit. A. 3) ‚Figura XVI (a)‘.

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica (31) (32) (33) (34) (35)

289

CONSCRIPTIVE · HABEBUNTUR · RATIONES · EDITO · REDDITO QUE · DECURIONIBUS · CONSCRIPTISVE · CUIVE · DE · IS · ACCIPIEN DIS · COGNOSCENDIS . EX · DECRETO · DECURIONUM · CONSCRIPTO RUMVE · QUOD · DECRETUM · FACTUM · ERIT · CUM · EORUM · PARTES NON · MINUS · QUAM · DUAE · TERTIAE · ADESSENT NEGOTIUM · DA (29) (30)

IN DIEBUS · XXX : in diebus triginta * T · RACTARE : tractare * DE · SIERIT : desierit *

Während die Irnitana EIUS in den Zeilen 27 und 28 und PROXIMIS in Zeile 29 hat, hatte der Text des Fragments EIIUS und PROXUMIS. Das eine ist so richtig wie das andere. Die Unterschiede könnten allerdings, wenn sie nicht erst bei der Gravur angerichtet worden sind, die Vermutung nahe legen, daß mehrere Vorlagen des flavischen Stadtrechts in Umlauf waren. 4. Das Archäologische Museum in Sevilla besitzt das Fragment einer Tafel mit Textstücken – wieder nach Ausweis der Lex Irnitana – der Rubriken 67, 68, 69, 70 und 71. Die Tafel muß sehr groß gewesen sein. Ihre Breite können wir annähernd ermessen. Die Rubrik 67 nimmt in Irni auf der 7. Tafel 24 Zeilen ein: auf der Tafel unseres Fragments lediglich 6 Zeilen. Die Länge ihrer Zeilen betrug mithin das Vierfache der irnitanischen Zeilen. Die Tafel muß demnach breiter gewesen sein als die Tafeln von Irni mit ihren 3 Kolumnen, was, wie die Tabula Alimentaria Traiana mit ihren 7 Kolumnen zeigt, ohne weiteres möglich war. Die Rubrik 68 nimmt auf der 7. Tafel der Lex Irnitana 2 und auf der 8. Tafel 8 Zeilen ein: auf der Tafel unseres Fragments waren es nur 3 Zeilen. Die Länge dieser Zeilen betrug deutlich mehr als das Dreifache. Die Reduktion gegenüber der Rubrik 67 könnten leicht Abkürzungen verursacht haben. Ähnlich die Rubrik 69. Auf der Tafel der Lex Irnitana füllt sie 24 Zeilen: auf der Tafel des Fragments nahm sie nur 7 Zeilen ein. Auch hier beträgt die Länge der Zeilen deutlich mehr als das Dreifache der Zeilen auf den Tafeln von Irni. Die Textstücke des Fragments der Bronzetafel sind gegeneinander abgesetzt und ergeben in der Umschrift folgendes Bild: Rubrik 67 tab. VII C 20 – 44 (24 / 25) (27 / 28) (31 / 32) (37) (41)

IA AD EUM PERVE CTAVERIT HIS HERE DITOQUE DECURIONI ETUR REFERRETUR QUOQ TERUM TANTUM MUNICI (27 / 28) HIS : Irnitana IS * (37) REFERRETUR : Irnitana REFFERRETUR * QUOQ : Irnitana

Rubrik 68 tab. Vii C 45 – 46 – VIII A 1 – 8 (2)

RE IQUE DECURIONES CONSCRIPTISV

290 (5) (8)

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica AGENT IQUE QUI ITA LECTI ERUNT T OD RECTE FACTUM ESSE VOLET AGUNt (2) (8)

IQUE : Irnitana QUIQUE * (5) AGENT IQUE : Irnitana AGANT IIQUE * AGUNT : Irnitana AUGUSTO *

Rubrik 69 tab. VIII A 9 – 32 (12) (14 / 15) (18) (20 / 21) (23 / 24) (27) (30)

S HS vacat SINT NEQUE LATINI SIT QUE AESTUMATIO ESTO ITA UT CUM D QUM SENTENTIAS FERANT QUIS SE QUOD AEQUUM BONUMVE MA RATAQUE ESTO QUOT HS vacat MI DONEC QUINQUE RELIQ UR DEVE ERETUR (12) (18) (21) (24)

HS vacat SINT : Irnitana HS D SIT * QUM : Irnitana QUAM * BONUMVE MA : Irnitana BONUMQUE ET MAXIME * QUOT HS vacat MI : Irnitana QUOD HS D MINORISVE *

Rubrik 70 tab. VIII A 33 – 45 (34) (37) (40 / 41) (43)

VE EIUS IS NOMINE EOR E PROVINCIAE PRA TURUSVE ESSE ERUNT (43)

TURUSVE ESSE ERUNT : Irnitana PETITURIVE ERUNT

Rubrik 71 tab. A VIII A 46 – 53 – B 1– 5 (46) (50)

MUNI TESTIBUS DENU CIPII INCO (50)

CIPII INCO : Irnitana MUNICIPE INCOLAEVE *

Die Bronze, die uns diese Textstücke überliefert, ist mit aller Wahrscheinlichkeit nicht das Fragment einer Gesetzestafel. Ein schwacher Hinweis ist schon das Schriftbild: Soweit ich sehe, gibt es keine Gesetzestafel mit einer derartigen Gravur. Durchweg zeigen die Gesetzestafeln – die Lex Ursonensis, die Leges Salpensana und Malacitana, die Lex Iulia municipalis oder die Lex Rubria – Kolumnen zwar unterschiedlicher, aber stets kürzerer Zeilenlänge. Was indessen die Vermutung zur Gewissheit macht, sind die beiden Leerstellen in dem Fragment der Rubrik 69. Die Lex Irnitana sieht vor, daß bei der Klage des Munizipium gegen einen Bürger oder Einwohner der Stadt, der Bürger oder Einwohner verlangen kann, daß die Gesamtheit der Dekurionen anstelle eines iudex urteilt, wenn die Klagsumme 500 Sesterzen übersteigt; und ein Ausschuß von fünf Dekurionen als Urteilsgericht eingesetzt wird, wenn die Klagsumme 500 Sesterzen oder weniger beträgt. In unserem Textstück der Rubrik 69 fehlen diese Grenzbe-

Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica

291

träge: ein sicheres Zeichen, daß die Bronze nicht das Fragment einer Gesetzestafel ist. Aus der Rubrik 95 der Lex Irnitana wissen wir, daß das Stadtrecht selbst die Duumvirn verpflichtet, das Gesetz in Bronze schlagen zu lassen und am belebtesten Ort des Munizipium aufzustellen. Ein erteiltes Stadtrecht aber kann solche Grenzbeträge nicht offen lassen. Die Leerstellen auf unserem Bronzestück lassen uns vielmehr wissen, daß diese Grenzen nicht einheitlich waren, sondern von der Größe der Stadt oder des Stadtrats oder anderen Eigenarten der Stadt abhingen – und legen den Schluß nahe, daß die Bronze das Bruchstück einer Vorlage des flavischen Stadtrechts ist.

III. Die Gesetzestexte belegen, daß nicht nur die Stadtrechte von Malaca26, Salpensa27 und Irni28, sondern auch die von Ostippo, Villo und Italica29 nach ein und derselben Vorlage abgefaßt worden sind. Dieser Befund stützt die These, daß alle Städte, die in ihrem Titel das Epitheton Flavium führen, das flavische Stadtrecht teilten. Die Stadtrechte waren bis auf die eine oder andere Quantitätsgrenze identisch. Soweit Vergleichsmöglichkeiten gegeben sind, haben die Bußbeträge denselben Standard30. Indessen kann der Bürger oder Einwohner, der von seinem municipium verklagt wird, in Malaca die Bestellung der Gesamtheit der Dekurionen als Urteilsgericht erst verlangen, wenn der Wert der Streitsache 1000 Sesterzen31, in Irni dagegen, wenn der Wert der Streitsache 500 Sesterzen beträgt oder übersteigt32. Diese Differenzierung beruht offensichtlich auf Größe und Bedeutung der Stadt, vielleicht auch auf der Zahl ihrer Dekurionen. Sie wird auch durch das Fragment bestätigt, in dessen Beschriftung in der Rubrik 69 die Quantitätsgrenzen offen gelassen worden sind und das wir vor allem darum für eine Vorlage des flavischen Stadtrechts halten33.

C. G. Bruns, Fontes iuris romani antiqui (7. Aufl. 1909) 147 – 157. Bruns, Fontes 142- 146. 28 J. G. Wolf, Die Lex Irnitana (2011) 45 – 141. 29 Siehe oben II 1, 2 und 3. 30 Vgl. Lex Salpensana und Lex Irnitana R. 26 Zeile 49; Lex Malacitana und Lex Irnitana R. 58 Zeile 1 und R. 61 Zeile 32. 31 Lex Malacitana R. 69 Zeile 12. 32 Lex Irnitana R. 69 Zeile 12. 33 Vgl. oben II. 4. 26 27

Nachweis der Erstveröffentlichungen Iurisdictio Irnitana. Studia et Documenta Historiae et Iuris LXVI. Pontificia Universitas Lateranensis, Romae 2000, S. 29 – 61 Intertium, und kein Ende? Bulletin di Diritto Romano Vol. C. A. Giuffrè, Milano 2001, S. 1 – 36 Diem diffindere. Thinking Like a Lawyer. Essays … for John Crook on His Eightieth Birthday. Brill, Leiden 2002, S. 15 – 41 Iudex iuratus. Liber Amicorum Juan Miquel. Estudios Romanisticos con Motivo de su Emeritazgo. Universitat Pompeu Fabra, Barcelona 2005, S. 1087 – 1111 Zur Romanisierung Spaniens. Der Beitrag der Stadtrechte am Beispiel der Lex Irnitana. Essays in Memory of Peter Birks. Oxford University Press, 2006, S. 439 – 454 Die Lex Irnitana und die Tafeln von Veleia und Ateste. Gli Statuti Municipali. IUSS Press, Pavia 2006, S. 205 – 237 Rechtspflege in Urso. Essays in Memory of Lord Rodger. Oxford University Press, 2012 Imitatio exempli in den römischen Stadtrechten Spaniens. IURA Rivista internazionale di diritto Romano e Antico 56. Iovene, Napoli 2008, S. 1 – 54 Irni vor der Irnitana. IURA Rivista internazionale di diritto Romano e Antico 58. Iovene, Napoli 2010, S. 197 – 218 Bußen, Einkommen und Preise. IURA Rivista internazionale di diritto Romano e Antico 61. Iovene, Napoli 2012 Die Eide der Lex Irnitana. IURA Rivista internazionale di diritto Romano e Antico 60. Iovene, Napoli 2012, S. 33 – 45 Gerichtsbarkeit in Irni. Festschrift für Rolf Stürner. Mohr Siebeck, Tübingen 2012 Fragmente flavischer Stadtrechte von Gemeinden in der Baetica. Studia et Documenta Historiae et luris LXXVIII. Pontificia Universitas Lateranensis, Romae 2012

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3