Aufsatze Zur Griechischen Literatur Und Philosophie 3896657453, 9783896657459

Homer und Sophokles, Platon und Aristoteles: vier grosse Autoren, die die Essenz der griechischen Kultur mit besonderer

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Aufsatze Zur Griechischen Literatur Und Philosophie
 3896657453, 9783896657459

Table of contents :
Cover
Verzeichnis der Abkürzungen
1. Ilias und Gilgamesch-Epos (2004)
2. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas (1981)
3. Der angeklagte Ödipus: Zum Charakter des Titelhelden im Oedipus Coloneus (2007)
Nachtrag
4. Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers (1994)
1. Aias
2. Trachiniai
3. Antigone
4. Oidipus Tyrannos und Elektra
5. Philoktetes und Oidipus auf Kolonos
5. Mania und Aidos. Bemerkungen zur Ethik und Anthropologie des Euripides (1986)
6. Polis – Arche – Adikia. Deutungen Athens bei Sophokles, Thukydides und Platon (1999)
7. Wolfgang Schadewaldt als Übersetzer (2005)
8. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik (1983)
9. Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N (1987)
10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele (1993)
1. La spaccatura fra Aristotele e Platone
2. La scienza «ricercata»
3. L'«aporia» come mezzo per raggiungere l'«euporia»
4. L'interrogazione della tradizione
5. La scienza «di tutto»
6. La scienza «più vera»
7. La superiorità della «οὐσία»
8. La felicità della conoscenza suprema
11. Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte (1998)
12. Sechs Philosophen über philosophische Esoterik (2003)
1. Wittgenstein
2. Kant
3. Schleiermacher
4. Nietzsche
5. Hegel
6. Platon
13. Dialogform und Esoterik: Zur Deutung des platonischen Dialogs Phaidros (1978)
14. Wer braucht den Siebten Brief? Methodische Überlegungen zur Diskussion um die mündliche Philosophie Platons (2012/2019)
15. Are There Deliberately Left Gaps in Plato’s Dialogues? (2015)
16. Struttura e finalità dei dialoghi platonici. Che cosa significa «venire in soccorso al discorso»? (1989)
1. La finalità della critica della scrittura
2. Partizione e andamento concettuale della critica della scrittura
3. Alcune osservazioni sul testo
4. La spiegazione di Gregory Vlastos
5. Metodi filologici al posto dell’intuizione
6. Tre esempi di βοήθεια platonica
7. La situazione sempre uguale della βοήθεια. Alcuni sinonimi per βοηθεῖν τῷ λόγῳ
8. Sul significato di τίμιον
9. Il dialogo scritto può aiutarsi da solo? Le teorie sul dialogo del diciannovesimo e ventesimo secolo
10. Origine e caratteristiche delle contemporanee teorie del dialogo
11. L’impostazione di Schleiermacher deve essere controllata sul testo di Platone
12. βοηθεῖν orale e i passi che si trattengono dall’esprimersi
13. Che cosa significa veramente la critica della scrittura
17. Mündliche Dialektik und schriftliches ‚Spiel‘: Phaidros (1996)
18. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–e4 (1999)
19. On the Meaning of the Key Concepts in Plato’s Criticism of Writing. A Philological Approach to Phaedrus 274 b–278 e (2015)
20. Abschied von einem ‚Klassiker‘. 50 Jahre nach Vlastos´ Rezension von Krämers „Arete bei Platon und Aristoteles“ (2016)
21. οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους. Zu Platons Gebrauch des Namens φιλόσοφος (2000)
22. Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog? (2009)
23. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804: Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann (1997)
1. Kritik an einem Klassiker?
2. Dieterich Tiedemann und die drei Quellen der platonischen Philosophie
3. Tennemann stimmt weitgehend überein mit Tiedemann
4. Tennemanns Fragen von Schleiermacher aufgenommen
5. Charakteristik der Dialogauffassung Schleiermachers
6. Was sonst noch fehlt in Schleiermachers „Einleitung“
7. Anspruch und Wirklichkeit
24. Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts (2004)
25. Der Begriff „Seele“ als Mitte der Philosophie Platons (2010)
1. Platons Weichenstellung
2. Worauf Platon zurückgreifen konnte
3. Zehn kurze Beispiele platonischen Redens von der Psyche
4. Einige Grundzüge der platonischen Seelenvorstellung
a) Die Struktur der Seele – und die des Staates
b) Die Unsterblichkeit der Seele
c) Verwandtschaft mit dem Intelligiblen. Eros
d) Die ontologische Konstitution der Seele. Die Seele als Mitte des Seins
e) Der ethische Aspekt. Die Angleichung an Gott
26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos (1980)
27. Das Höhlengleichnis (Buch VII, 514 a–521 b und 539 d–541 b) (1997)
1. Herkunft, Ort und Vielschichtigkeit des Gleichnisses
2. Auffällige Einzelheiten
3. Die exegetischen Schwierigkeiten und die moderne Kritik am Gleichnis
4. Liniengleichnis und Höhlengleichnis.
5. Welcher Art ist die Erkenntnis des Guten?
6. Das Gute „hinreichend“ sehen?
7. Die Idee des Guten als Ursache
8. Das Gute als paradeigma des Handelns
9. Die Präzisierung der Seelenlehre
10. Die Umwendung der ganzen Seele.
11. Die Art der Durchführung der paideia
12. Die Pflicht zur Rückkehr in die Höhle: für wen ist der Staat da?
13. Ist der ‚beste Staat‘ eine bloße Wunschvorstellung?
28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia (2002)
1. Sokrates’ Theorie des Prinzips
2. Die platonische Theorie der Prinzipien in der indirekten Überlieferung
3. Wie verhalten sich die beiden Theorien zu einander? Verschiedene Möglichkeiten der Erklärung
4. Die literarische Form der Entfaltung von Sokrates’ Theorie des Prinzips
5. Kein Widerspruch zwischen den beiden Theorien
6. In welcher Haltung spricht Sokrates? Was verrät uns die Sprache des Sonnengleichnisses?
7. Sokrates’ Zurückhaltung und die philosophische Praxis im Idealstaat
8. Probleme, die Sokrates offen läßt
29. Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios (1997)
30. The Indefinite Dyad in Sextus Empiricus’s Report (Adversus Mathematicos 10.248–283) and Plato’s Parmenides(2010)
1. The Problem
2. The Indefinite Dyad
3. The Indefinite Dyad in Plato’s Parmenides
4. The Indefinite Dyad and Plato’s Metaphysics
5. The Complementarity Between Sextus’s Report and the Parmenides
31. Platonische Dialektik: der Weg und das Ziel (2005)
1. Dialektik als Aufgabe
2. Wie wird man Dialektiker? Die Mündlichkeit der Dialektik
3. Wie wurde man Dialektiker zu Platons Zeit? Das philosophische συζῆν
4. Die verstreuten Hinweise der Dialoge
32. Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift (2008)
33. Zur üblichen Abneigung gegen die Agrapha Dogmata (1993)
Anhang: Zur Bedeutung von λεγόμενος (oben S. 654-656)
34. Platon und die Pythagoreer: das Zeugnis des Aristoteles (2011)
1. Die frühen Einflüsse auf Platons Denken
2. Platons Nähe zu den Pythagoreern
3. Das Pythagoreische im ἀρχή-Denken Platons
4. Platon und die philosophische Tradition der Griechen
35. Hermeneutische Grundprobleme der Platondeutung (2019)
1. Platons Kritik der Schrift als eines Mittels der philosophischen Erkenntnisgewinnung: Phaidros 274 b–278 e.
2. Was die Schriftkritik vom philosophos verlangt
3. Schleiermachers Fehlinterpretation und die moderne Theorie des Dialogs
4. Widerlegung der modernen Theorie des platonischen Dialogs
5. Die indirekte Überlieferung zu Platons Theorie der Prinzipien
6. Prinzipiendenken bei Speusippos, Xenokrates, Aristoteles
7. Die uneinholbare Überlegenheit des Dialogführers: Der philosophische Sinn dieser Figurenkonzeption
8. Vom fälligen Ende einer verfehlten Platonhermeneutik
Literaturverzeichnis
Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák
I Bücher
II Herausgebertätigkeit, Einleitungen, Vorworte u.a.
III Aufsätze
IV Rezensionen

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International Plato Studies

Thomas A. Szlezák

Aufsätze zur griechischen Literatur und Philosophie

ACADEMIA

| 39

International Plato Studies Published under the auspices of the International Plato Society

Series Editors: Claudia Marsico | Francesco Fronterotta Thomas M. Tuozzo | Dimitri El Murr | Filip Karfik

Volume 39

BUT_Szlezák_745-9_HC.indd 2

04.09.19 08:02

International Plato Studies

| 39

Thomas A. Szlezák

Aufsätze zur griechischen Literatur und Philosophie

ACADEMIA

BUT_Szlezák_745-9_HC.indd 3

04.09.19 08:02

© Titelbild: markara – istockphoto.com

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89665-745-9 (Print) ISBN 978-3-89665-806-7 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Academia – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, BadenBaden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Besuchen Sie uns im Internet www.academia-verlag.de

BUT_Szlezák_745-9_HC.indd 4

04.09.19 08:02

Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abkürzungen

11

1.

Ilias und Gilgamesch-Epos (2004)

13

2.

Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas (1981)

37

Der angeklagte Ödipus: Zum Charakter des Titelhelden im Oedipus Coloneus (2007)

62

Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers (1994)

84

3. 4.

1. 2. 3. 4. 5. 5.

Aias Trachiniai Antigone Oidipus Tyrannos und Elektra Philoktetes und Oidipus auf Kolonos

93 99 102 108 114

Mania und Aidos. Bemerkungen zur Ethik und Anthropologie des Euripides (1986)

123

Polis – Arche – Adikia. Deutungen Athens bei Sophokles, Thukydides und Platon (1999)

142

7.

Wolfgang Schadewaldt als Übersetzer (2005)

157

8.

Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik (1983)

182

Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N (1987)

221

10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele (1993)

247

6.

9.

1.

La spaccatura fra Aristotele e Platone

247

5

Inhaltsverzeichnis

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

La scienza «ricercata» L'«aporia» come mezzo per raggiungere l'«euporia» L'interrogazione della tradizione La scienza «di tutto» La scienza «più vera» La superiorità della «οὐσία» La felicità della conoscenza suprema

250 252 254 255 257 260 263

11. Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte (1998)

265

12. Sechs Philosophen über philosophische Esoterik (2003)

285

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Wittgenstein Kant Schleiermacher Nietzsche Hegel Platon

285 288 290 295 298 301

13. Dialogform und Esoterik: Zur Deutung des platonischen Dialogs Phaidros (1978)

306

14. Wer braucht den Siebten Brief? Methodische Überlegungen zur Diskussion um die mündliche Philosophie Platons (2012/2019)

323

15. Are There Deliberately Left Gaps in Plato’s Dialogues? (2015)

343

16. Struttura e finalità dei dialoghi platonici. Che cosa significa «venire in soccorso al discorso»? (1989)

358

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

6

La finalità della critica della scrittura Partizione e andamento concettuale della critica della scrittura Alcune osservazioni sul testo La spiegazione di Gregory Vlastos Metodi filologici al posto dell’intuizione Tre esempi di βοήθεια platonica La situazione sempre uguale della βοήθεια. Alcuni sinonimi per βοηθεῖν τῷ λόγῳ Sul significato di τίμιον

358 359 361 362 365 366 368 371

Inhaltsverzeichnis

9. 10. 11. 12. 13.

Il dialogo scritto può aiutarsi da solo? Le teorie sul dialogo del diciannovesimo e ventesimo secolo Origine e caratteristiche delle contemporanee teorie del dialogo L’impostazione di Schleiermacher deve essere controllata sul testo di Platone βοηθεῖν orale e i passi che si trattengono dall’esprimersi Che cosa significa veramente la critica della scrittura

372 373 376 377 379

17. Mündliche Dialektik und schriftliches ‚Spiel‘: Phaidros (1996)

381

18. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–e4 (1999)

398

19. On the Meaning of the Key Concepts in Plato’s Criticism of Writing. A Philological Approach to Phaedrus 274 b–278 e (2015)

409

20. Abschied von einem ‚Klassiker‘. 50 Jahre nach Vlastos´ Rezension von Krämers „Arete bei Platon und Aristoteles“ (2016)

419

21. οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους. Zu Platons Gebrauch des Namens φιλόσοφος (2000)

432

22. Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog? (2009)

442

23. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804: Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann (1997)

464

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Kritik an einem Klassiker? Dieterich Tiedemann und die drei Quellen der platonischen Philosophie Tennemann stimmt weitgehend überein mit Tiedemann Tennemanns Fragen von Schleiermacher aufgenommen Charakteristik der Dialogauffassung Schleiermachers Was sonst noch fehlt in Schleiermachers „Einleitung“ Anspruch und Wirklichkeit

464 465 467 471 474 479 481

7

Inhaltsverzeichnis

24. Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts (2004)

488

25. Der Begriff „Seele“ als Mitte der Philosophie Platons (2010)

509

1. 2. 3. 4.

Platons Weichenstellung Worauf Platon zurückgreifen konnte Zehn kurze Beispiele platonischen Redens von der Psyche Einige Grundzüge der platonischen Seelenvorstellung

510 511 513 516

26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos (1980)

528

27. Das Höhlengleichnis (Buch VII, 514 a–521 b und 539 d–541 b) (1997)

547

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Herkunft, Ort und Vielschichtigkeit des Gleichnisses Auffällige Einzelheiten Die exegetischen Schwierigkeiten und die moderne Kritik am Gleichnis Liniengleichnis und Höhlengleichnis. Welcher Art ist die Erkenntnis des Guten? Das Gute „hinreichend“ sehen? Die Idee des Guten als Ursache Das Gute als paradeigma des Handelns Die Präzisierung der Seelenlehre Die Umwendung der ganzen Seele. Die Art der Durchführung der paideia Die Pflicht zur Rückkehr in die Höhle: für wen ist der Staat da? Ist der ‚beste Staat‘ eine bloße Wunschvorstellung?

28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia (2002) 1. 2. 3. 4. 5.

8

Sokrates’ Theorie des Prinzips Die platonische Theorie der Prinzipien in der indirekten Überlieferung Wie verhalten sich die beiden Theorien zu einander? Verschiedene Möglichkeiten der Erklärung Die literarische Form der Entfaltung von Sokrates’ Theorie des Prinzips Kein Widerspruch zwischen den beiden Theorien

547 549 550 552 556 559 561 562 563 564 565 566 567 569 569 571 573 575 578

Inhaltsverzeichnis

6. 7. 8.

In welcher Haltung spricht Sokrates? Was verrät uns die Sprache des Sonnengleichnisses? Sokrates’ Zurückhaltung und die philosophische Praxis im Idealstaat Probleme, die Sokrates offen läßt

580 585 586

29. Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios (1997)

591

30. The Indefinite Dyad in Sextus Empiricus’s Report (Adversus Mathematicos 10.248–283) and Plato’s Parmenides(2010)

601

1. 2. 3. 4. 5.

The Problem The Indefinite Dyad The Indefinite Dyad in Plato’s Parmenides The Indefinite Dyad and Plato’s Metaphysics The Complementarity Between Sextus’s Report and the Parmenides

31. Platonische Dialektik: der Weg und das Ziel (2005) 1. 2. 3. 4.

Dialektik als Aufgabe Wie wird man Dialektiker? Die Mündlichkeit der Dialektik Wie wurde man Dialektiker zu Platons Zeit? Das philosophische συζῆν Die verstreuten Hinweise der Dialoge

601 605 608 612 613 615 615 617 620 623

32. Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift (2008)

639

33. Zur üblichen Abneigung gegen die Agrapha Dogmata (1993)

649

34. Platon und die Pythagoreer: das Zeugnis des Aristoteles (2011)

667

1. 2. 3. 4.

Die frühen Einflüsse auf Platons Denken Platons Nähe zu den Pythagoreern Das Pythagoreische im ἀρχή-Denken Platons Platon und die philosophische Tradition der Griechen

667 671 674 682

9

Inhaltsverzeichnis

35. Hermeneutische Grundprobleme der Platondeutung (2019) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Platons Kritik der Schrift als eines Mittels der philosophischen Erkenntnisgewinnung: Phaidros 274 b– 278 e. Was die Schriftkritik vom philosophos verlangt Schleiermachers Fehlinterpretation und die moderne Theorie des Dialogs Widerlegung der modernen Theorie des platonischen Dialogs Die indirekte Überlieferung zu Platons Theorie der Prinzipien Prinzipiendenken bei Speusippos, Xenokrates, Aristoteles Die uneinholbare Überlegenheit des Dialogführers: Der philosophische Sinn dieser Figurenkonzeption Vom fälligen Ende einer verfehlten Platonhermeneutik

685

685 688 689 691 692 697 698 703

Literaturverzeichnis

705

Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák

729

I II III IV

Bücher Herausgebertätigkeit, Einleitungen, Vorworte u.a. Aufsätze Rezensionen

729 730 731 737

Stellenregister

739

Sachregister

769

Namensregister

773

10

Verzeichnis der Abkürzungen

Allgemein APA Carm. aur. D. L. DK IG LSJ

Mem. N2 PSP I PSP II SSR Suppl. Hell. TrGF TP

TUAT

H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, 1959 Pythagoras, Carmen aureum Diogenes Laertios, Vitae philosophorum Diels, Hermann/Kranz, Walther: Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 61952 Inscriptiones Graecae, Berlin 1873 ff. A Greek-English Lexicon. Compiled by H. G. Liddell and R. Scott, rev. and augm. throughout by Sir H. St. Jones with the assistance of R. McKenzie. Oxford 91940. With a rev. Supplement 1996 Xenophon, Memorabilia Tragicorum Graecorum Fragmenta recensuit A. Nauck, 2. Aufl. Leipzig 1889 Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004 Socratis et Socraticorum reliquiae, 4 Bde. Hg. v. Gabriele Giannantoni. Napoli 1990 Supplementum Hellenisticum, edd. H. Lloyd-Jones, P. Parsons, Göttingen 1983 Tragicorum Graecorum Fragmenta, vol. IV: Sophocles. Hg. v. Stefan Radt. Göttingen 1977 Testimonia Platonica (gesammelt bei Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], 441–557) Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (Hg. v. Otto Kaiser, Bernd Janowski, Gernot Wilhelm, Daniel Schwemer)

11

Verzeichnis der Abkürzungen

Aristoteles An. Po. Ar. poet. Pol. Cael. De an. De gen. an. De gen. et corr. De inc. an. De part. an. De resp. EE EN Met Meteor Phys.

Aristoteles, Analytica posteriora Aristoteles, Ars poetica Aristoteles, Politik Aristoteles, De caelo Aristoteles, De anima Aristoteles, De generatione animalium Aristoteles, De generatione et corruptione Aristoteles, De incessu animalium Aristoteles, De partibus animalium Aristoteles, De respiratione Aristoteles, Eudemische Ethik Aristoteles, Ethica Nikomacheia (Nikomachische Ethik) Aristoteles, Metaphysik Aristoteles, Meteorologie Aristoteles, Physik

Platon Apol. Cha. Epist. Gorg. Hi. mai. Krat. Men. Nom. Parm. Phdn. Phdr. Phil. Pol. Prot. Soph. Symp. Tht. Tim.

Platon, Apologie des Sokrates Platon, Charmides Platon, Briefe Platon, Gorgias Platon, Hippias Maior Platon, Kratylos Platon, Menon Platon, Nomoi Platon, Parmenides Platon, Phaidon Platon, Phaidros Platon, Philebos Platon, Politeia Platon, Protagoras Platon, Sophistes Platon, Symposion Platon, Theaitetos Platon, Timaios

Sophokles OK OT

Sophokles, Oidipus auf Kolonos Sophokles, Oidipus Tyrannos

12

1. Ilias und Gilgamesch-Epos (2004)

Die homerischen Epen gelten mit Recht als der Beginn der abendländischen literarischen Tradition. Seit sie im 8. und 7. Jh. v. Chr. gesungen und aufgeschrieben wurden, gibt es eine nie ganz erloschene Kontinuität der literarischen Formen, Erzählweisen, Stoffe und Motive, kurz: eine lebendige literarische Tradition. Ursprung der abendländischen Tradition sind die homerischen Gedichte in einem doppelten Sinn: der trojanische Krieg und die sich daran anschließenden Heimkehrergeschichten sind nicht der einzige, aber doch der wichtigste stoffliche Bereich, aus dem sich spätere Dichtung Anregungen holen konnte. In diesem Sinne sagte Aischylos, seine Tragödien seien ‚Schnitte von den großen Gastmählern Homers‘.1 ‚Ursprung‘ ist Homer aber noch in dem Sinn, daß er als Gründer der literarischen Kultur der Griechen ein für alle mal zugleich den Ton angab und die literarische Höhe, die im Folgenden verbindlich blieben, weswegen er bei Platon als ‚erster Lehrer und Anführer‘ der Tragödie, also einer ganz anderen Gattung, bezeichnet wird.2 Diese doppelte Ursprungsfunktion Homers läßt sich mit besonderer Klarheit an der Literatur zeigen, die die europäischen Nationalliteraturen in direktem Kontakt geprägt hat, nämlich der lateinischen. Die Literatur der Römer beginnt bekanntlich mit einer ziemlich wörtlichen Umsetzung der Odyssee ins Lateinische durch Livius Andronicus um 250 v. Chr.; sie orientierte sich also in einer ersten Phase stofflich an Homer. Als dann mehr als 200 Jahre später das Höchste in lateinischer Sprache versucht wurde, nämlich Nationalcharakter, Geschichtsbild und Sendungsbewußtsein der Römer in einem Großepos zu formen, da war Homer wiederum das Leitbild, und das nicht nur in stofflicher Hinsicht. Vergils Äneis ist in ihrer ersten Hälfte mit den Irrfahrten des Aeneas und seiner Suche der alten Heimat eine poetische Transformation der Odyssee, in der zweiten Hälfte mit den Kämpfen um Latium die römische Adaptation der Ilias. Vergils erkennbarer Wille zu literarischer Größe in Konzeption und Sprache seines Epos ist untrennbar verbunden mit seinem Willen, Homer in al-

1 Tragicorum Graecorum Fragmenta, Bd. 3: Aeschylus. Hg. v. Stefan Radt Göttingen 1985, T 112a. 2 Politeia 598 d8; 595 c1–2.

13

1. Ilias und Gilgamesch-Epos

len seinen Aspekten ins Lateinische herüberzubringen. Der größte der römischen Epiker ist auch der homerischste. Und das ist kein Zufall. Für die Griechen selbst waren die homerischen Epen mehr als nur der Ursprung der literarischen Tradition. Bald schon waren sie sich bewußt, daß alles Lernen für sie mit Homer begann und daß insbesondere ihr Bild der Götter von Hesiod und Homer festgelegt worden war3 – was das aber bedeutet in einer noch nicht säkularisierten Kultur, machen sich selbst die Fachleute oft nicht hinreichend klar. Die Problematik der Ehre, der timé (τιμή), die das gesellschaftliche und politische Zusammenwirken reguliert, war für die Griechen exemplarisch durchgespielt in der Ilias, das ideale Bild der Ehe vorgezeichnet in der Ilias und der Odyssee (in den Gestalten Hektor und Andromache, Odysseus und Penelope). Von größter Bedeutung ist ferner, daß die Griechen ihre Kämpfer- und Heldenideale bei Homer fanden – für ein Volk, das in mehreren hundert selbständigen Stadtstaaten lebte, die ständig im Krieg mit benachbarten Nichtgriechen, noch öfter aber im Krieg gegeneinander waren, ist diese Funktion der Epen für die Ausbildung der eigenen Mentalität von grundlegender Bedeutung. Schließlich ist zu erwähnen, daß die Griechen nach der kaum erhofften, rational nicht erwartbaren Abwehr der persischen Aggression in den Jahren 490–479 v. Chr. keine neuen Texte als ideologische Grundlage für ein nationales Identitätsbewußtsein brauchten: die Ilias zeigte ja bereits den Kampf der ‚Gesamt-Griechen‘, der Panachaioi (Παναχαιοί), gegen eine große Militärmacht im Osten. Spätestens seit Euripides’ Drama Iphigenie in Aulis (aufgeführt 405 v. Chr.) – aber in Wirklichkeit wohl schon viel früher – war der trojanische Krieg das ‚historische‘ Modell, das den zerstrittenen griechischen Staaten die Möglichkeit vorführte, daß sie vereint stärker sein könnten als das immense Reich der Perser. So viel also in Kürze über die Bedeutung Homers als Ursprung der literarischen Tradition für Europa und von manchem mehr für die Griechen. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß diese chronologische Position Homers am Beginn der kontinuierlichen westlichen Überlieferung bis ins 19. und 20. Jh. hinein auch inhaltlich im Sinne eines absoluten Anfangs gedeutet wurde. Natürlich war das höhere Alter der Hochkulturen in Ägypten und im Zweistromland bekannt – schließlich hatten die Griechen selbst sehr viel und mit großer Bewunderung davon geschrieben (seit Herodot und sogar schon früher). Sie hatten sich selbst als ‚seelisch immer jung‘, ja als ‚Kinder‘ im Vergleich mit den weisen alten Orientalen be-

3 Xenophanes, Fragment B 10. In: Hermann Diels/Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 61952 (= Diels-Kranz, DK), Bd. I, 131; Herodot 2.53.

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1. Ilias und Gilgamesch-Epos

zeichnet (Platon, Tim. 22 b4–5) und insgesamt doch wohl ein überzogen positives Bild von deren kulturellen Leistungen gezeichnet. Das wirkte nach, und so hatte z. B. das 18. Jh. ein ausgesprochenes Faible für das Alte Ägypten. Aber ein Einfluß von dieser Seite auf das frühe Griechenland war nicht auszumachen, ganz einfach, weil die ägyptischen Hieroglyphen vor 1822 nicht gelesen werden konnten. Was Mesopotamien betrifft, so hatte man damals nicht einmal den Verdacht, daß in diesem Bereich für die Griechen wichtige Texte lagern könnten. Die Entzifferung der Keilschrift gelang erst 1857, und literaturgeschichtlich bedeutsame Texte, wie die Sintflutgeschichte auf Tafel XI des Gilgamesch-Epos, wurden gar erst ab 1872 veröffentlicht und diskutiert.4 Das 18. Jh. hatte hingegen Homer durchaus noch als ‚Originalgenie‘ verstehen wollen, unverdorben von den Einflüssen alter Zivilisation. Und die von den Griechen selbst in die Welt gesetzte Redeweise von ihrer Jugendlichkeit, ja Kindlichkeit blieb lange Allgemeingut. So bezeichnete etwa Karl Marx in der „Einleitung“ zur Kritik der politischen Oekonomie „das Griechentum“ als „die geschichtliche Kindheit der Menschheit“; diese „nie wiederkehrende Stufe“ übe einen „ewigen Reiz“ aus, und weiter: „Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorien. Normale Kinder waren die Griechen“.5 So Marx im Jahr 1857. Noch lange danach verband sich mit dieser Liebe zu den Griechen als den ‚normalen Kindern‘ der Menschheitsgeschichte das erhebende Gefühl der Autarkie: Europa verdankte an seinem Ursprung keiner anderen Kultur etwas. Heute haben wir ein ganz anderes Bild der kulturellen Entwicklung. Vielfältige archäologische Forschung hat gezeigt, daß es weit mehr Kontakte mit dem Orient gab als man früher für möglich gehalten hätte, und zwar sowohl in der 2. Hälfte des 2. Jt.s, d. h. in mykenischer Zeit, als auch in den Jahrhunderten vom Verfall der mykenischen Burganlagen bis zu Homer, also in der Zeit, die man wegen spärlicher archäologischer und fehlender historiographischer Bezeugung die ‚dunklen‘ Jahrhunderte zu nennen pflegte (diese ‚dunkle‘ Zeit hellt sich für uns allmählich auf).6 Die-

4 Einen Überblick über die allmähliche Einbeziehung des Alten Orients in die Geistes- und Literaturgeschichte des frühen Griechentums gibt Walter Burkert: Homerstudien und Orient. In: Joachim Latacz (Hg.): Zweihundert Jahre Homerforschung. Stuttgart 1991, 155–181. 5 Karl Marx/Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Auswahl und Redaktion Manfred Kliem, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1968, 125. 6 Vgl. Peter Blome: Die dunklen Jahrhunderte – aufgehellt. In: Joachim Latacz (Hg.): Zweihundert Jahre Homerforschung. Stuttgart 1991, 45–60.

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se Kontakte – und damit der Einfluß des Orients – verstärkten sich im 8. und 7. Jh., man kann eine ‚orientalisierende Epoche‘ des frühen Griechentums konstatieren (zwischen der ‚geometrischen‘und der ‚archaischen‘ Epoche), in der mannigfache Kulturimporte der Griechen in den Bereichen Technik, Schriftgebrauch, Kunst, Religion und Medizin nachzuweisen sind.7 Sofort stellte sich die Frage, ob nicht die Griechen, wie in diesen Gebieten, so auch in der Literatur die einseitig Nehmenden waren. Und die Frage ist längst beantwortet, haben sich doch Gräzisten anfangs vielleicht zögerlich, seit der Mitte des 20. Jh.s jedoch mit wachsendem Eifer daran beteiligt, im einzelnen nachzuweisen, was an orientalischen Motiven, Konzeptionen und Gestaltungsprinzipien in die frühe griechische Literatur eingegangen ist. Es kam sehr viel zusammen. Nach den Arbeiten von Franz Dornseiff – der schon 1935 ironisch fragte, wann die Vorstellung von der „provinzialen Abgeschlossenheit“ der Völker um 1000–650 „amtlich aufgegeben“ werde8 – Albin Lesky, Károly Marót, Luigia Achillea Stella, D. Gary Miller und Walter Burkert – um nur die wichtigsten zu nennen9 – konnte Martin L. West zu einer großangelegten Zusammenfassung eigener und fremder Forschungen ansetzen: das Ergebnis ist das umfangreiche Buch The East Face of Helicon von 1997, in dem allein die Aufzählung der orientalischen Bezüge und Reminiszenzen in Ilias und Odyssee mehr als 100 Seiten füllt. Die nachgewiesenen Übereinstimmungen sind nicht von der Art, daß sie auch als selbständige Neuschöpfungen im Rahmen einer gemeinsamen anonymen Tradition gedeutet werden könnten. Vielmehr werden wir jeweils auf bestimmte orientalische Quellen als den sicheren Ursprung der unterschiedlichsten Motive und Ideen bei den Griechen geführt – was nun aber nicht heißt, dass der betreffende griechische

7 Aufarbeitung und Fortführung früherer Forschungsergebnisse bei Walter Burkert: Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur. Heidelberg 1984 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jg. 1984, Bd. 1), Teil I und II. 15–84 (= Walter Burkert: The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on Greek Culture in the Early Archaic Age. Cambridge, Mass. 1992, 9–87). 8 Franz Dornseiff: Homerphilologie. In: Hermes 70 (1935), 241–244, hier: 244. Vgl. Burkert: Homerstudien und Orient, 166. 9 Wieder ist auf Burkerts instruktiven Überblick über die Forschungsgeschichte (vgl. Burkert: Homerstudien und Orient) sowie auf Teil III seiner Arbeit Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (dort 85–118) zu verweisen. Zu Burkerts umfangreichen Literaturverzeichnissen (ders.: Homerstudien und Orient, 174–181; ders.: Die orientalisierende Epoche, 121–131) könnte man etwa noch nachtragen Károly Marót: Die Anfänge der griechischen Literatur. Budapest 1960 und D. Gary Miller: Homer and the Ionian epic Tradition. Innsbruck 1982.

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Text direkt und bewußt aus dieser Quelle geschöpft hat. Denn über die Wege der Tradition von Ost nach West ist noch wenig bekannt, ebenso über die Art der Tradition: vermutlich überwiegend mündlich. So viel ich weiß, ist W. Burkerts Feststellung noch nicht widerlegt: „Wir haben nach wie vor kein orientalisches Buch, das ein Grieche im 8. Jh. sehen oder gar lesen konnte“.10 Wir können also nicht über den Prozeß der Übernahme reden, können keine Entwicklung dabei nachzeichnen oder gar Kriterien der Auswahl und Methoden der Adaptation aufweisen – für dergleichen fehlt uns das Material. Wir können jedoch beschreiben, was hier und dort vorliegt und den Befund dann einem Vergleich unterziehen. Die Situation, die wir in beiden Literaturen, der altorientalischen und der griechischen, antreffen, erlaubt es, über eine bloße Liste von Berührungspunkten hinauszugelangen. Denn beide verfügen über je ein herausragendes Großepos, was zum direkten Vergleich nicht nur einzelner Motive und Episoden, sondern auch der übergreifenden Komposition und der dichterischen Konzeption von Handlung und Schicksal, von Grenzen und Aufgaben des Menschen einlädt. Im mesopotanischen Kulturkreis war das Gilgamesch-Epos ohne Konkurrenz was den Umfang, die Wirkung, die Beliebtheit und Verbreitung betraf (Gilgamesch-Dichtungen sind in vier Sprachen erhalten: sumerisch, akkadisch, hurritisch und hethitisch). Bei den Griechen hat die Ilias in der Odyssee zwar bald eine Konkurrenz bekommen, die ihr an Umfang nahe kommt (sie macht etwa drei Viertel der Ilias aus) und die sie an Beliebtheit bei vielen Hörern gewiß erreicht oder vielleicht übertroffen hat – so publikumswirksame Episoden wie die vom menschenfressenden Ungeheuer Polyphemos oder vom zart angedeuteten Ehewunsch der schönen Prinzessin Nausikaa garantierten wohl von Anfang an den Erfolg des Epos –, aber ein gewisser Vorrang der Ilias blieb sowohl in der antiken als auch der modernen Literaturkritik erhalten. Sprachen die Alten mehr von der literarischen Qualität des hypsos (ὕψος) oder der Erhabenheit, die nirgends so verwirklicht wird wie in der Ilias, und vom unüberbietbaren Pathos (πάθος) dieses Werkes, so verweisen heutige Interpreten eher auf die kompositorische Grundidee der dramatischen Konzentration eines langen Geschehens auf die Schilderung weniger Tage und auf die Kunst der konsistenten Charakterdarstellung – beides Bereiche, in denen der Odyssee-Dichter vom Ilias-Dichter direkt gelernt zu haben scheint. Der Nachweis, daß

10 Burkert: Homerstudien und Orient, 172.

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der Odyssee-Dichter die Ilias nicht nur als mündliche Dichtung, sondern auch als Text kannte, durch Knut Usener,11 scheint mir überzeugend. Wenden wir uns also den beiden maßgebenden traditionsbildenden Werken zu. Eine kurze Erinnerung an den jeweiligen Handlungsgang soll dem näheren Vergleich vorangehen. Das Gilgamesch-Epos ist in der sogenannten ninivitischen Fassung auf uns gekommen, die auch unter dem Namen Zwölftafel-Epos bekannt ist.12 In der Bibliothek des Königs Assurbanipal (669–627 v. Chr.) zu Ninive fand man eine Aufzeichnung der Sagen von Gilgamesch in akkadischer Sprache auf 12 Tafeln, wobei das in sich geschloßene Epos, markiert durch die Wiederholung von Versen vom Anfang ganz am Ende, nur bis Tafel XI reicht. Die 12. Tafel führt nicht die Handlung weiter, sondern fügt eine Episode, die in das XI-Tafel-Epos nicht integriert wurde, als Übersetzung aus dem Sumerischen hinzu. Die Großkomposition der 11 Tafeln wird auf einen Dichter viel früherer Zeit, auf Sinleqeunnini aus dem 13./12. Jh., zurückgeführt. Ob dieser seinerseits auf eine ältere, altbabylonische Zusammenfassung von Gilgamesch-Stoffen in einem einheitlichen Gedicht zurückgreifen konnte, wird von den Fachleuten noch diskutiert.13 Der Inhalt ist folgender: Gilgamesch, König von Uruk, ist Sohn der Göttin Ninssun und des Sterblichen Lugalbanda. Er ist zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch. Er ist von unvergleichlicher Schönheit und Kraft. Seine Untertanen freilich unterdrückt er. So beschließen die Götter, ihm einen gleichwertigen Gegner zu erschaffen. Das ist Enkidu, der zunächst mit den Tieren der Steppe lebt, langhaarig und am ganzen Leib behaart, und mit den Gazellen das Gras frißt und mit ihnen zur Tränke kommt.

11 Knut Usener: Beobachtungen zum Verhältnis der Odyssee zur Ilias. Tübingen 1990. 12 Referiert und zitiert wird das Gilgamesch-Epos in diesem Beitrag nach der Übersetzung von Karl Hecker: Das akkadische Gilgamesch-Epos. In: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT), Bd. III: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Bd. 4: Mythen und Epen II. Gütersloh 1994, 646–744, darin 671–744: „Das 12-Tafel-Epos“. Zitiert wird nach Tafel, Kolumne und Vers (z. B. I, IV 21), die Bemerkungen des Herausgebers als „TUAT III (+ Seitenzahl)“. Eine neuere Übersetzung ist die von Andrew George: The Epic of Gilgamesh. Translated and with an Introduction by A. G. London 1999. Eine neue kommentierte Übersetzung von Raoul Schrott erschien 2001, vgl. Raoul Schrott (Üb.): Gilgamesh. Epos. Mit einem wissenschaftlichen Anhang von Robert Rollinger und Wolfgang Schretter. München 2001. 13 Jeffrey H. Tigay: The Evolution of the Gilgamesh Epic. Philadelphia 1982.

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Enkidu wird in die Stadt geholt von dem Freudenmädchen Schamchat, die zu ihm hinausgeht in die Steppe und sich vor ihm entblößt, so daß er sich ihrer bemächtigt. „Sechs Tage und sieben Nächte war Enkidu auf und beschlief Schamchat“ (Taf. I, IV 21). Danach kennen ihn seine Tiere nicht mehr. Schamchat gibt ihm Kleidung und überredet ihn, mit ihr nach Uruk zu gehen. Enkidu will dort Gilgamesch herausfordern (Taf. II). In der Stadt kommt es zum Kampf der unvergleichlich starken Helden. Der Kampf bleibt unentschieden, und die beiden werden Freunde. Gilgamesch beschließt, um sich einen Namen zu machen, zum Zedernwald zu ziehen, dessen Bewacher, den schrecklichen Chumbaba, zu töten und die Zeder – den Baum des Lebens – zu fällen. Er wird gewarnt, auch von Enkidu, läßt sich aber nicht abbringen von seinem Plan (Taf. III). Seine Mutter Ninssun bittet den Sonnengott Schamasch um Beistand für ihren Sohn. Mit einer Schar von 50 jungen Leuten brechen sie auf, Enkidu ausdrücklich als Beschützer seines Freundes (Taf. III, VI 8). Im Zedernwald angekommen, wird Gilgamesch zunächst vom Schreckensstrahl des Chumbaba betäubt; mit Hilfe des Enkidu kann er sich wieder aufrichten. Im Kampf mit Chumbaba steht der Sonnengott Schamasch Gilgamesch bei (Taf. V, II 8–14), bis Chumbaba um sein Leben fleht. Es ist Enkidu, der davon abrät, ihn zu verschonen: „Errichte einen ewigen Namen für dich, daß Gilgamesch den Chumbaba erschlug“ (V, III 14–15). Bevor er getötet und sein Kopf abgeschlagen wird, kann Chumbaba noch Gilgamesch und Enkidu verfluchen. Dann wird die Zeder gefällt, ihr Holz ist für eine riesige Tür im Tempel des Schamasch in Nippur bestimmt, vorerst dient es jedoch als Floß auf der Fahrt den Euphrat hinab (V, V 10). Durch den Sieg über Chumbaba steht Gilgamesch in neuem Glanz da. „Komm, Gilgamesch, sei mein Gemahl! ... Du sollst mein Mann, ich will deine Frau sein!“ – so spricht die Göttin Ischtar zu ihm (Taf. VI 7–9). Doch Gilgamesch schmäht die Göttin, zählt ihre früheren Liebhaber auf, die sie alle zugrunde gerichtet hat. Ischtar, empört über die Beschimpfung, weint im Himmel vor ihrem Vater Anum und ihrer Mutter Antum und erbittet die Entsendung des Himmelsstiers, daß er Gilgamesch töte (VI 80–95). Doch Gilgamesch und Enkidu töten sogar den Himmelsstier (VI 147–150). Enkidu reißt ihm das rechte Bein aus, wirft es vor Ischtar und ruft: „Auch dich, sollte ich dich kriegen, werd’ ich wie diesen behandeln“ (VI 160). Auf diesen zweiten Sieg folgt ein triumphaler Umzug durch Uruk mit stolzem Prahlen des Gilgamesch (VI 176–187). Die siebte Tafel bringt eine Wende: die großen Götter beschließen, Enkidu sterben zu lassen als Strafe für die Tötung Chumbabas. Er wird krank, welkt dahin, stirbt.

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Die tiefe Erschütterung des Gilgamesch über den Tod des Freundes ist auf der 8. Tafel in überaus eindrucksvoller Weise geschildert. Sechs Tage und sieben Nächte klagt Gilgamesch und wartet auf ein Wiedererwachen Enkidus. Die Künstler des Landes weist er an, ein Bild seines Freundes zu machen (VIII, II 25–27). Wiederum eine neue Wendung tritt mit Tafel IX ein: das schaurige Erlebnis des Todes seines Freundes bezieht Gilgamesch direkt auf sich: „Werde ich auch sterben, nicht wie Enkidu sein?“ (IX, I 3). Eine schreckliche Todesfurcht treibt ihn um, er läuft durch die Steppe, bis er sich entschließt, zu seinem Ahn Utnapischtim zu gehen, der unsterblich geworden war und entrückt am Ende der Welt lebt (IX, III 3). Die abenteuerliche Reise zu Utnapischtim führt zum Skorpionenmensch, der den Berg Maschu bewacht, über den die Sonne täglich heraufkommt (IX, II 1–3), dann durch eine dichte Finsternis in einem unendlich langen Tunnel, an dessen Ende ein Edelsteingarten liegt, schließlich zur Schenkin Siduri (X, I 1ff.) und zum Fährmann Urschanabi, der ihn dann in langer Fahrt über die Wasser des Todes (X, III 48) zu Utnapischtim bringt. Gilgamesch bekennt abermals seine Todesfurcht, die ihn zu Utnapischtim trieb; dieser antwortet mit einer „pessimistischen Rede über den Sinn des menschlichen Lebens“.14 (X, VI 19–25) Die elfte und letzte Tafel schildert dann, wie Gilgamesch von Utnapischtim Auskunft verlangt, wie er als Mensch unsterblich und so den Göttern gleich werden konnte. Utnapischtim erzählt nun von der Sintflut, die er überlebte. (Diese Erzählung, inhaltsgleich mit dem Atramchasis-Epos, ist in wenig abgewandelter Form auch ins Alte Testament eingegangen: Genesis 6–9). Der Gott Enlil, der nicht gewollt hatte, daß Menschen die Flut überleben, machte Utnapischtim und seine Frau unsterblich – eine Lösung, die für Gilgamesch nicht in Frage kommt, denn eine zweite Sintflut wird es nicht geben. Gleichwohl heißt Utnapischtim Gilgamesch sechs Tage und sieben Nächte nicht zu schlafen (XI, 199) – offenbar eine Art Test für die Unsterblichkeit, den Gilgamesch natürlich nicht besteht – er schläft vielmehr sechs Tage und sieben Nächte. Nach dem Aufwachen überfällt ihn neue Todesgewißheit (XI, 230–233). Und trotzdem erhält er eine weitere Chance. Utnapischtim erzählt ihm von einem Kraut, dessen Besitz ihm das (ewige) Leben sichern würde. Und Gilgamesch gelingt es, das Kraut vom Grund des Apsu, des unterirdischen Ozeans, heraufzuholen – doch verliert er es

14 Hecker: Das akkadische Gilgamesch-Epos, TUAT III, 719.

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wieder an die Schlange, die es frißt, während er aus einem kühlen Brunnen trinken will. Mit Urschanabi kehrt Gilgamesch zurück nach Uruk. Was bleibt statt der erhofften Unsterblichkeit, ist der Ruhm der gewaltigen Mauer von Uruk, die Gilgamesch hatte erbauen lassen. Diese Schlußverse greifen auf Verse vom Anfang zurück (XI, 303–307 entspricht I, I 16–21), das Epos ist abgeschlossen. (Die 12. Tafel bringt eine andere Episode des sumerischen Gilgamesch-Zyklus, vgl. o. S. 15.) In extremer Verkürzung läßt sich das Gilgamesch-Epos umschreiben als das Gedicht von der Freundschaft zwischen Gilgamesch und Enkidu, von gemeinsamen Heldentaten und dem Tod des Enkidu, von Gilgameschs Erschütterung ob seiner so erlebten Sterblichkeit und von seiner vergeblichen Suche nach dem ewigen Leben. Es ist nicht ohne Reiz, die Handlung der Ilias direkt daneben zu halten. Achilleus, der Sohn der Göttin Thetis und des sterblichen Vaters Peleus, erleidet durch Agamemnon vor der griechischen Heeresversammlung eine empfindliche Schmälerung seiner Ehre durch Wegnahme des Beutemädchens Briseis. Achilleus entschließt sich daraufhin, am Kampf gegen die Trojaner nicht mehr teilzunehmen. Seine Mutter Thetis erfleht von Zeus Unterstützung für ihren Sohn. Zeus läßt nun die Trojaner siegen, bis die Griechen eine Mauer um ihr Lager bauen müssen und drei Gesandte zu Achilleus senden, die ihn inständig bitten, die anstürmenden Trojaner mit ihnen abzuwehren, wofür sie die Rückgabe der Briseis und riesige materielle Kompensation für den Ehrverlust bieten. Doch Achilleus schlägt das Angebot aus, zürnt weiter dem Agamemnon und dem Griechenheer. Sein Freund Patroklos aber wird von Mitleid mit den bedrängten Freunden ergriffen. Achilleus erlaubt ihm, mit seinen Waffen in den Kampf einzugreifen. Patroklos kann Hektor, der mit den Trojanern siegreich bis zu den Schiffen der Griechen vorgedrungen war, zurückdrängen, wird aber vor Troja von Hektor und Apollon getötet. Sein Leichnam wird gerettet, Achilleus’ Rüstung aber bleibt im Besitz der Feinde. Achilleus ist über den Tod seines Freundes, den er selbst verschuldet hat, zutiefst erschüttert. Er schwört Rache: er will Hektor töten, obwohl er weiß, daß bald nach Hektors Tod auch er selbst wird sterben müssen. Und Hektors Leichnam schwört er den Hunden und Vögeln zu überlassen. Statt der verlorenen Rüstung erhält er vom Gott Hephaistos durch Vermittlung seiner Mutter eine neue, prächtigere. Mit dieser zieht er in den Kampf, nachdem er sich mit Agamemnon ausgesöhnt und neben immensen Entschädigungsgaben auch die Briseis zurückbekommen hat. Seine noch frische Trauer um Patroklos treibt ihn zu einem unsäglichen Wüten und Morden im Kampf. Nach der Erschlagung unzähliger Trojaner steht

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er Hektor gegenüber. Er tötet ihn und schleift seinen Leichnam, am Kampfwagen angebunden, um das Grab des Patroklos, der erst jetzt, nach gelungener Rache an Hektor, bestattet wird. Doch auch nach der Bestattung des Freundes fährt Achilleus in immer noch rasender Trauer fort mit der unmenschlichen Behandlung des toten Hektor – bis die Götter selbst daran Anstoß nehmen und Zeus ihm den Befehl gibt, den Leichnam herauszugeben. In der folgenden Nacht begibt sich Priamos, der König der Trojaner und Vater des Hektor, ungeschützt mit reichen Geschenken in das Lager der Griechen zu Achilleus, fällt vor ihm nieder, küsst seine Hände und fleht ihn an, ihm seinen toten Sohn herauszugeben. Der Anblick des unglücklichen alten Königs ergreift Achilleus in tiefstem Herzen: er denkt an seinen eigenen greisen Vater, der ihn nicht mehr wiedersehen wird. In tiefer Erschütterung weinen die beiden Männer zusammen, der junge Krieger auf der Höhe seines Triumphes und der alte, ihm auf Gnade und Ungnade ausgelieferte König. Das gemeinsame Tränenvergießen bezeichnet das Ende der Feindschaft: Achilleus tröstet Priamos und hebt dann selbst den Leichnam Hektors auf die Bahre, auf der ihn Priamos nach Troja zurückbringen wird. Bevor das geschieht, bewirtet Achilleus den König; beim Mahl betrachtet man sich mit gegenseitiger Anerkennung und Bewunderung. Aus dem Feind ist beim gemeinsamen Essen ein Gastfreund, ein xénos (ξένος) geworden. Folgerichtig übernachtet Priamos im Feindeslager, da er in der Hütte des Achilleus sicher ist, bevor er im Morgengrauen seinen toten Sohn nach Hause fährt, wo er nach großer Vorbereitung bestattet wird. Die Ilias ist also – wieder in extremer Verkürzung – das Gedicht von der Verletzung der Ehre des Achilleus, von seiner Kampfenthaltung bis zur Niederlage der Achaier, vom Eingreifen des Patroklos in den Kampf und von seinem Tod, schließlich von Achilleus’ Trauer und seiner Rache für Patroklos durch Schändung des Leichnams des Hektor, den er aber schließlich, durch die persönliche Begegnung und das Flehen des Priamos zu Mitleid gerührt, herausgibt. Nach diesem raschen Überblick über die Hauptlinien der Handlung in beiden Epen könnte man meinen, die Berührungen seien eher oberflächlich. Achten wir jedoch auf die wichtigsten Motive, die in beiden Epen vorkommen, so sehen wir, dass die Übereinstimmungen sehr spezifisch sind und Wesentliches berühren: 1. Der Hauptheld ist jeweils Sohn einer Göttin und eines menschlichen Vaters. 2. Die göttliche Mutter interveniert in beiden Epen bei einer höheren Gottheit, um für ihren Sohn von dort Unterstützung zu erlangen.

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3.

Gilgamesch und Achilleus ist jeweils ein Freund zugeordnet, der ihm sehr nahe steht, ihm aber nicht gleichgestellt ist (in der ursprünglichen sumerischen Sage war Enkidu noch Sklave des Gilgamesch). 4. In beiden Epen gibt es eine Götterversammlung mit kontroverser Bewertung einer Tat des Helden (Taf. VII, Anfang, hethitische Fassung; Ilias, 24.23–76). 5. Der Freund stirbt, und zwar in irgendeinem Sinne stellvertretend für den Helden (Enkidu stirbt für die gemeinsame Tat, Patroklos stirbt in der Rüstung des Achilleus, nachdem er an Stelle des Freundes Hektor von den Schiffen zurückgeworfen hat). 6. Der Freund wird in beiden Epen von einem Gott getötet: Enkidu wird krank, weil Enlil es so will, Patroklos stirbt durch Hektor und Apollon – in der Ilias ist er der einzige Kämpfer, dem diese Ehre zuteil wird. 7. Auf den Tod des Freundes folgt in beiden Epen exzessive Trauer des Helden, mit langer Klage und langer Verzögerung der Bestattung. Der Tod des Freundes wird zum Wendepunkt des Geschehens. 8. Beide Helden sterben einen symbolischen Tod in der Flut: Gilgamesch überquert das Wasser des Todes und taucht auf den Grund des unterirdischen Ozeans hinab, Achilleus ertrinkt beinahe in den Fluten des Skamander. 9. Der Totengeist des Freundes steigt aus der Unterwelt herauf, der Held und der Freund umarmen und unterhalten sich. Im Gilgamesch-Epos findet sich das auf der unverbundenen 12. Tafel (XII, 78ff.), in der Ilias gut integriert in die Handlung zu Beginn des vorletzten Buches (23.62–107), wo es übrigens beim Versuch einer Umarmung bleibt. 10. Beide unvergleichliche Helden lassen sich bei einem Kampf, an dem sie nicht teilnehmen, auf einer Mauer sehen, so daß ihr bloßes Erscheinen beim Feind Verwirrung stiftet und den Kampf wendet. Von Gilgamesch wird das erzählt in dem Kurz-Epos Bilgamesch und Akka (Agga) von Kisch,15 von Achilleus in Buch 18 nach dem Tod des Patroklos (18.202–238). Diese Liste läßt keinen Zweifel daran, daß der überragende Held der TrojaEpik und seine Tragik ganz wesentliche Züge dem alten sumerischen Helden und seinem Schicksal verdanken.

15 Dietz Otto Edzard (Hg. u. Üb.): Bilgamesch und Akka. In: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT), III: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Bd. 3: Mythen und Epen I. Gütersloh 1993, 549–559 (Erscheinen auf der Mauer: 557).

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In die Augen fallend sind aber auch die Unterschiede, deren wichtigster wohl der ist, daß Gilgamesch in einem ganz anderen Sinne gottähnlich, gottgleich ist als Achilleus. Schon daß die Götter selbst beschließen müssen, für Gilgamesch einen ebenbürtigen Gegner zu schaffen, zeigt, auf welcher Höhe sich dieser Held bewegt. Dementsprechend beginnt das Epos auch mit einem Hymnus auf Gilgamesch (Taf. I, I), der Züge eines Götterhymnus hat. Alles, was Gilgamesch tut, ist letztlich Auseinandersetzung mit Göttern und übermenschlichen Gegnern:16 Die Tötung des Chumbaba und des Himmelsstiers, die Fahrt zu Utnapischtim – dieser Gottgewordene ist sein Ahn. Er selbst ist zu zwei Dritteln Gott, nur zu einem Drittel Mensch, wie wir gleich zu Beginn erfahren (I, II 1), und als der Skorpionenmensch später die gleiche Information wiederholt, sagt er bekräftigend: „Der da zu uns kommt, dessen Körper ist Götterfleisch“ (IX, II 14– 16). Nach seinem Sieg über Chumbaba ist Gilgamesch zu einem solchen Rang aufgestiegen, daß die Göttin Ischtar ihn als Gemahl begehrt. Der Sieg über den Himmelsstier steigert seine Stellung noch. Demgegenüber ist bei Achilleus die Bezeichnung ‘den Göttern gleich’ – z. B. in dem formelhaften Versschluß θεοῖς ἐπιείκελ᾽ ᾽Αχιλλεῦ (theoîs epiekíel᾽ Achilleû), 9.485, 494, 23.80, 24.486) nicht mehr als ein schmückendes Beiwort, das in ähnlicher Form auch andere Gestalten haben können, z. B. Πρίαμος θεοειδής (Príamos theoeidés, „gottgleicher Priamos“: 24.483, 552). Unvergleichlich als Kämpfer mag Achilleus sein, aber sein Körper ist gewiß nicht ‚Götterfleisch‘. Selbst die in der Sage vorgegebene Unverwundbarkeit (bis auf die sprichwörtliche Achilles-Ferse) hat Homer ihm genommen. Achilleus ist trotz seiner Abstammung nicht zur Hälfte Gott, zur Hälfte Mensch. Er ist allen weit überlegen an Kraft und Schönheit, aber er ist Mensch, durchaus nur Mensch. Da er nun aber, wie wir sahen, deutlich nach dem Vorbild des Gilgamesch modelliert ist, könnte man sagen, die Ilias sei das Gedicht vom rein menschlichen Helden, von dem auf seine Menschlichkeit reduzierten ‚gottgleichen‘ Helden. Hier nun laufen wir Gefahr, in Konflikt zu geraten mit einer bekannten und gewichtigen Interpretation des Gilgamesch-Epos, der von Gerald K. Gresseth.17 Das dreifache Mißlingen des Erwerbs der Unsterblichkeit, so betont Gresseth mit Recht, ist die eigentliche Botschaft des Epos: der Autor sei ein Intellektueller, der eine ‚message‘ zu verkünden habe. 18 Fünfmal 16 Vgl. Hans E. Hirsch: Gilgamesch-Epos. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hg. v. Walter Jens, Bd. 18. München 1988, 640. 17 Gerald K. Gresseth: The Gilgamesh Epic and Homer. In: The Classical Journal 70 (1975), 1–18. 18 Ebd., 4.

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wird Gilgamesch bedeutet, daß die Unsterblichkeit für ihn unerreichbar ist: er soll mit leeren Händen zurückkommen.19 Ganz anders sei das im älteren Sagenmaterial gewesen, das der altbabylonische Dichter umgeformt habe: im sumerischen Gedicht „Gilgamesch und das Land der Lebenden“ ist Gilgameschs Abenteuer erfolgreich, und in der sumerischen Vorlage, die Tafel XII übersetzt, stirbt Enkidu nicht wirklich, vielmehr handelt es sich um einen Abstieg in die Unterwelt mit Rückkehr nach Schamanenart. Alle Änderungen weisen in dieselbe Richtung: sie betonen die durch und durch menschliche Natur des Helden, im Gegensatz zu den übernatürlichen Helden der Vergangenheit. Gresseth spricht von einer ‚Humanisierung‘ des Helden, vom „new, humanized hero“.20 Das ist für ihn eine revolutionäre Konzeption, aus der allererst eine neue Art von Literatur erwachsen konnte, nämlich das Heldenepos, in dessen Zentrum ein tragischer Held steht. Das ältere sumerische Sagengut war demgegenüber durchwegs untragisch. Aus dem Menschen als Mittelpunkt ergebe sich auch eine neue Einheit der Handlung. Insgesamt sei das Gilgamesch-Epos die erste dramatische Verwirklichung und explizite Formulierung „of the idea of humanism“,21 einer Idee, die man doch gewöhnlich mit dem Aufstieg der griechischen Kultur verbinde.2223 Als Gräzist habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn wir eine grundlegende Errungenschaft der Geistesgeschichte, die wir bisher den Griechen zuschrieben, nun in einer früheren Kultur vorfinden – unser Bild der geistigen Entwicklung kann dadurch nur an Klarheit und historischer Tiefe gewinnen. Wir müssen uns allerdings im Klaren sein über die Bedeutung der Begriffe, die wir dabei verwenden. Was hat es mit dem ‚humanism‘ des Gilgamesch-Epos auf sich, und was wurde aus dem ‚Humanismus ‘ des Gilgamesch bei der Übertragung auf seine westliche Nachbildung Achilleus? Ich möchte diese Frage nicht auf direktem Weg beantworten, sondern über den Umweg der weiteren Betrachtung der Unterschiede, mit der wir nach der Aufzählung der verbindenden Motive begonnen haben (o. S. 20f.).

19 20 21 22 23

Ebd., 13. Ebd., 12,14. Ebd., 16. Ebd., 13. Martin L. West urteilt ganz ähnlich: „It [sc. the Gilgamesh Epic] has been called the first great embodiment of humanism – a title that others would willingly bestow on the Iliad“ (Martin L. West: The East Face of Helicon. West Asiatic elements in Greek poetry and myth. Oxford 1997, 338, mit Verweis auf Gresseth).

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Da der Mensch als Mittelpunkt für die Einheit der Handlung verantwortlich gemacht wurde,24 ist es nicht unangebracht, auf die kausale Handlungsverknüpfung in beiden Epen einen Blick zu werfen. Im Gilgamesch-Epos lassen sich fünf große Handlungsabschnitte erkennen: 1. Enkidu kommt als Widerpart des Gilgamesch und wird dessen Freund. 2. Zusammen ziehen die beiden aus, besiegen Chumbaba und fällen die Zeder. 3. Ischtar sendet den Himmelsstier, den die Helden töten. 4. Enkidu siecht dahin und stirbt. 5. Gilgamesch reist auf der Suche nach dem ewigen Leben zu Utnapischtim und kehrt erfolglos zurück. Die kausale Verknüpfung vom ersten Handlungsabschnitt zum zweiten, also von Enkidu zu Chumbaba, ist evidentermaßen recht locker: nach der Begründung ihrer Freundschaft könnten die beiden Helden irgendeinen Zug unternehmen, oder einen Angriff abwehren (z. B. den des Agga von Kisch) oder voneinander getrennt werden und durch eine tragische Verwechslung gegeneinander kämpfen. Auch der Übergang vom Chumbaba zum Himmelsstier ist nicht zwingend, denn für ihr Liebesverlangen hätte Ischtar bei der Schönheit des Gilgamesch schon vorher einen würdigen Anlaß gehabt, oder Gilgamesch hätte die Liebe der Göttin als erster Liebhaber annehmen können, ohne von ihr geschädigt zu werden – so wie Odysseus das Lager der Hexe Kirke besteigt, ohne von ihr verzaubert zu werden. Der Tod des Enkidu ist dann zwar klar mit dem Fällen der Zeder (bzw. der Tötung des Chumbaba) begründet, aber daß die Götter Enkidu an Stelle des Gilgamesch büßen lassen, ist keine zwingende Entwicklung der Handlung. Die tiefe Erschütterung des Gilgamesch über den Tod des Freundes läßt zwar seinen Wunsch nach Unsterblichkeit gut verstehen, zieht aber nicht mit kausaler Notwendigkeit die Flutgeschichte des Utnapischtim nach sich. Die Handlung des Gilgamesch-Epos besteht trotz allem aus zwei getrennten Abenteuern der Freunde und einer einsamen Reise des Gilgamesch ans Ende der Welt; die Teile sind nicht unverbunden, aber andererseits auch nicht durch kausale Notwendigkeit verknüpft, weswegen man nicht viel Phantasie braucht, sich andere Verbindungen vorzustellen. Auch die Haupthandlung der Ilias läßt sich in fünf großen Abschnitten konstruieren (wenn wir einmal die vielen Ausbuchtungen und Retardationen, die das Gedicht so reich machen, beiseite lassen). Die Verletzung der Ehre des Achilleus, seine Kampfenthaltung und die Zusage der Hilfe

24 Gresseth: The Gilgamesh Epic and Homer, 18.

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durch Zeus an Thetis wäre die erste Handlungseinheit. Daraus folgt unmittelbar die zweite, bestehend in der Niederlage der Griechen, ihren Bitten vor Achilleus und deren Ablehnung. Der dritte große Schritt, daß Patroklos stellvertretend für Achilleus in den Kampf zieht, siegt und stirbt, scheint zunächst nicht mit zwingender Notwendigkeit aus dem zweiten zu folgen – und doch, wenn man bedenkt, daß Achilleus’ Ablehnung der Bitten unverständlich, überzogen, inhuman ist, vermisst man keine weitere Motivation für die neue Entwicklung: Patroklos als ‚alter ego‘ seines Freundes tut nur das, was dieser tun sollte und eigentlich auch möchte, wenn sein Stolz und sein Groll es nur zuließen. Die vierte Phase der Handlung, die Rache für Patroklos durch die Tötung Hektors, folgt wieder unweigerlich aus dem Ausgang der dritten Phase. Die abschließende Handlungsphase, die Herausgabe des Leichnams des Hektor und die Aussöhnung mit Priamos ist auf der göttlichen Ebene zwingend erfordert: Apollon und Zeus mißbilligen die inhumane Behandlung des toten Feindes, ihrem Willen muß sich der Mensch fügen (24.140). Doch auf der menschlichen Ebene fehlt diesem Schritt die Notwendigkeit. Was der Dichter hier nach einer streng kausal geführten Handlung vorführt, ist das nicht Vorhersehbare und nicht kausal Erzwingbare, daß Achilleus auch innerlich, als freier Mensch, den Haß auf den Mörder seines Freundes und den Feind Priamos aufgibt und sich dem leidenden, unglücklichen Mitmenschen als Mitmensch öffnet – kurz, das Ereignis der Humanität. Dieser Nachvollzug der kausalen Handlungsverknüpfungen zeigt: die Ilias ist bestimmt von einer Handlung, nämlich dem Ausbruch, dem Anwachsen und der Überwindung einer zerstörerischen Leidenschaft, des Grolls, der mênis (μῆνις), des Achilleus. (Den Groll als Thema benennt mit großer Klarheit schon der erste Vers und das erste Wort des Gedichts: Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληιάδεω᾽Αχιλῆος (Mênin áeide, theá, Peleiádeo Achilêos, „Den Groll singe, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilleus“)). Demgegenüber wird man beim Gilgamesch-Epos doch wohl zumindest zwei Handlungen zählen, nämlich Gewinnung des Freundes (1a) und Bestehen zweier Abenteuer mit ihm (1b, c) sowie die Suche des einsam gewordenen Helden nach dem immerwährenden Leben (2). Die eine Handlung der Ilias läuft in einem zeitlichen Rahmen von 50 Tagen ab, alles Handlungsrelevante ereignet sich in oder vor Troja. Die zwei (oder mehr) Handlungen des Gilgamesch-Epos erstrecken sich über eine sehr lange Zeit – wie lang, wird nicht gesagt – und der Schauplatz wird mehrfach gewechselt (Gilgamesch reist bis ans Ende der Welt). Wenn man nun hört, daß die beiden Epen in einem quantitativen Verhältnis von 4:1 zueinander stehen, so würde man zunächst annehmen, daß das GilgameschEpos mit seinen (mindestens) zwei Handlungen, seinen weiten Räumen

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und seiner langen Zeitspanne viermal länger ist als die Ilias. Doch ist es umgekehrt. Wenn aber das griechische Epos mit der einen Handlung innerhalb weniger Tage am selben Ort so viel länger ist als das akkadische, so müßte es doch so manches andere bieten, was das Gilgamesch-Epos nicht bietet, andernfalls müßten seine ca. 15 000 Verse ziemlich inhaltsleer sein. Doch das ist wohl das Letzte, was man dem Iliasdichter vorwerfen könnte, daß er breit und ereignisarm den epischen Apparat am Laufen hielte – im Gegenteil, es gibt wohl wenige Dichter, die so dichtgedrängt, geradlinig und bedeutungsbeladen darstellen können wie er. (Nicht zufällig stammt der Ausdruck „in medias res“ aus einer Beschreibung der Vorgehensweise der Ilias: „semper ad eventum festinat et in medias res / non secus ac notas auditorem rapit“, sagt Horaz in der Ars poetica (148f.) vom Ilias-Dichter: „immer strebt er [sc. Homer] rasch zum Endziel und reißt den Hörer mitten hinein in die Ereignisse nicht anders als wären sie ihm schon bekannt“.) Was also ist in der Ilias gestaltet, was im Gilgamesch-Epos nicht zur Sprache kommt? 1. Da ist erstens der Krieg, der zwar nicht das Thema, wohl aber die Lebenswirklichkeit der Ilias ausmacht. Kampf gibt es im GilgameschEpos wohl (zwischen Gilgamesch und Enkidu, zwischen den beiden Helden und Chumbaba), aber keinen Krieg. (Das kurze Gedicht Gilgamesch und Agga ist nicht ins 12-Tafel-Epos integriert.) 2. Die Politik: es gibt Diplomatie und Politik sowohl im griechischen Lager als auch zwischen Griechen und Trojanern. Gilgamesch dagegen hat keine menschlichen Gegner, es gibt niemanden, gegen den er sich ‚diplomatisch‘ oder ‚politisch‘ verhalten könnte. 3. Folglich fehlt im Gilgamesch-Epos auch so etwas wie Gesellschaft. Nur in Andeutungen tritt sie in Erscheinung in Form eines Rates, aber eine Struktur der Gesellschaft von Uruk könnte man von da aus nicht skizzieren. 4. Auch die Ehre als Ausdruck der gesellschaftlichen Geltung und Triebkraft der Politik ist nicht thematisiert. Gilgamesch wird zwar im Hymnus gepriesen, er ist unvergleichlich, und er macht sich einen unsterblichen Namen – aber bei wem und im Vergleich mit wem, wird nicht deutlich gemacht. Die timé (τιμή, „Ehre“) des Achilleus erleben wir dagegen als etwas gesellschaftlich Bedingtes und folglich notwendig Relatives. 5. Mangels gleichwertiger Gegner gibt es auch keinen Streit (Gilgamesch und Enkidu entzweien sich nach dem Kampf am Anfang nicht). 6. Verrat und Betrug, so allgegenwärtig im Menschenleben, werden im Gilgamesch-Epos nicht thematisiert. Homer schildert Verrat auf

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menschlicher Ebene (der Schuß des Pandaros: 4.85ff. ) und läßt sogar die Götter einander betrügen (Heras Betrug an Zeus, die „Dios apate“, 14.153–353.). Das Gegenbild zum Verrat, die Treue, fehlt nicht: Gilgamesch und Enkidu sind unzertrennliche Freunde, und dieses Verhältnis hat der Iliasdichter nachgebildet. Götter sind in beiden Epen allgegenwärtig, aber Religion, Kult, Priester – also die konkrete Hinwendung der Menschen zu den Göttern – sind nur im griechischen Epos zu finden. Die Ilias thematisiert auch die Kunst (in der berühmten Schildbeschreibung, 18.468–617) und hält das Handwerk und die Berufswelt stets präsent in den zahlreichen Gleichnissen – hierin kann ihr das Gilgamesch-Epos nicht das Vorbild gewesen sein. (Gilgamesch läßt zwar Bildnisse des verstorbenen Enkidu anfertigen, aber kein Kunstwerk wird in die Dichtung einbezogen.) Es fehlt im Gilgamesch-Epos nicht nur die Ehe, sondern auch – und das ist das Erstaunlichste überhaupt – die Liebe. Denn daß Enkidu die Dirne Schamchat sechs Tage und sieben Nächte beschläft, macht noch keine Liebesbeziehung aus, ebensowenig die Begierde der Göttin Ischtar, die ihre Liebhaber zugrunde zu richten pflegt. In der Ilias scheint der Verlust der Kriegsbeute Briseis für Achilleus zunächst nur eine Frage seiner öffentlichen Stellung zu sein. Im Fortgang des Gedichtes zeigt sich aber, daß er die Sklavin von Herzen liebt (9.342f. ), und daß Patroklos seinen Freund Achilleus dazu bringen wollte, Briseis zu heiraten (19.297–299). Neben dieser zurückhaltenden, aber bedeutungsvollen Andeutung von Liebe und Ehe des Haupthelden steht das voll entfaltete Bild der problematischen Liebesleidenschaft Helenas für Paris (3.383–447) und der tief empfundenen, von Verantwortung und Innigkeit geprägten Liebe der Eheleute Hektor und Andromache (6.392– 502, 22.437–515, 24.723–746). Im Gilgamesch-Epos finden wir andererseits in den Worten „du wirst ihn lieben wie eine Gattin“ – so spricht Ninssun in ihrer Deutung eines Traums des Gilgamesch, der das Kommen Enkidus ankündigte (I, VI 19, vgl. I, V 36, 47, I, VI 12) – die Andeutung eines homoerotischen Verhältnisses der beiden Helden. Man hat versucht, dergleichen auch in Homer hineinzulesen, wie mir scheint ohne zureichende Textgrundlage. (Fest steht allerdings, daß die Griechen des 6. und 5. Jh.s Achilleus und Patroklos gerne als Liebespaar deuteten.) Wo die Liebe fehlt und ein gleichgewichtiger menschlicher Gegner für den Haupthelden, da fehlt folgerichtig auch der leidenschaftliche Haß, wie er in Achilleus aufkeimt, zuerst gegen Agamemnon, dann gegen Hektor. Versöhnung ist aber nur dort möglich, wo vorher Haß regier-

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te. Die doppelte Versöhnung mit dem Gegner im eigenen Lager (Agamemnon) und mit dem Fremden (Priamos) ist der Sinn des Ilias–Geschehens; im Gilgamesch–Epos ist für dergleichen der Raum nicht geschaffen, obschon das Gedicht Gilgamesch und Agga einen Ansatz dazu bot. Dieser zweifellos unvollständige Überblick über die Dinge in der Welt Homers, die er breit thematisiert und die keine Entsprechung im GilgameschEpos haben, lässt einem das bekannte Wort von der „Welthaltigkeit“ Homers in den Sinn kommen. Die seelische Welt der Ilias ist immens reich, lebendig und bunt, voll von gegensätzlichen, oft klar aufeinander bezogenen Verhaltensweisen, Leidenschaften, Erfahrungen, Temperamenten, Wertungen und Schicksalen. Trotz der Pluralität der Handlungsabschnitte wirkt das Gilgamesch-Epos im Vergleich dazu einsträngiger, abstrakter, weniger erfahrungsgesättigt. Läßt sich das vielleicht so verstehen, daß das Gilgamesch-Epos, entsprechend dem hohen Alter der in ihm verarbeiteten Sagen, das urtümlichere Gedicht ist, dem notwendig die Vielfalt der entfalteten Zivilisation fehlen müsse? Kann man sagen, daß das Gilgamesch-Epos sich auf das Primäre und Uranfängliche konzentriert, während Homer sich an die Fülle der Realität verliert? Solche Aspekte und Frageweisen mögen verlockend sein für den Interpreten, müssen aber sorgfältig am Befund der Texte geprüft werden. Fragen wir uns also ganz unvoreingenommen, welches Gedicht tiefer zurückgeht auf das für den Menschen Grundlegende, Wesentliche, Elementare, sei es im philosophischen Sinn, sei es im anthropologischen. Im Gilgamesch-Epos finden wir eine Reihe von Ideen, Konzeptionen, Zielvorstellungen, die geeignet sind, den Menschen als Menschen zu bestimmen. 1. Der Zug gegen Chumbaba wird an einer Stelle in einen weiteren Zusammenhang gestellt: „... bis ich den wilden Chumbaba töte und alles Böse ... im Lande vernichte“ (III, I 29–30). Die Erde von Ungeheuern, allgemein von „allem Bösen“, zu reinigen, kann zwar nur den herausragenden Individuen gelingen (in der griechischen Tradition steht für diese Leistung der Name Herakles), doch gehört es prinzipiell zur menschlichen Existenz, daß der Raum, in dem zivilisiertes Leben sich entfalten kann, erst einmal geschaffen werden muß. 2. Allein auf den einen Menschen Gilgamesch bezogen scheinen auch die Worte der Ninssun an den Sonnengott Schamasch: „Warum gabst du meinem Sohn Gilgamesch ein schlafloses Herz zur Last? ... Einem unbekannten Kampf will er entgegentreten, eine unbekannte Straße fahren!“ (III, II 10–14). Doch vielleicht darf man auch diesen individuellen Zug des Helden zugleich paradigmatisch nehmen: mit seinem

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stets unruhigen Herzen, das stets zu Unbekanntem weiterdrängt, hat Gilgamesch ein gleichsam faustisches Wesen, und kann so für den Menschen überhaupt stehen wie Faust. Enkidu, der wilde Mensch der Steppe, wird von der Dirne Schamchat seinen Tieren entfremdet und in die Stadt geholt. Man könnte darin eine Einsicht in die zivilisatorische Kraft der Geschlechterbeziehung sehen, wozu freilich ein wenig interpretatorische Verdrehung nötig ist, redet das Gilgamesch-Epos doch nicht vom Zusammenleben von Mann und Frau. Gleichwohl – wer abstrahierend nur auf das Prinzipielle blickt und weite Zeiträume zu überbrücken bereit ist, mag hier einen allerersten Ansatz erblicken für Goethes bekanntes Wort, daß die Männer der Frauen bedürfen für ihre Erziehung und seelische Bildung. (Ich gebe allerdings zu, daß es ein sehr weiter Weg ist vom animalisch wilden Begattungsspiel des Enkidu über sechs Tage und sieben Nächte bis zu Goethes seelisch ach so verfeinerter Beziehung zu Frau von Stein ...) Zentral für das Gilgamesch-Epos ist die Idee der Freundschaft. Die Steigerung nicht nur der Leistung im Kampf, sondern der ganzen Welterfahrung durch die enge und treue Bindung an einen, den man als seinesgleichen und ‚alter ego‘ erfährt, ist eine Grunderfahrung, die allen Zeiten und Kulturen gemein sein dürfte und somit zum Menschsein überhaupt gehört. Zum dichterisch Eindrucksvollsten im Gilgamesch-Epos zählt die Todesangst, die Gilgamesch befällt beim Anblick des Leichnams seines Freundes Enkidu, und seine leidenschaftliche Totenklage (VIII, I und II). Gilgamesch bezieht den am Anderen erlebten Tod unmittelbar auf sich: „Werde ich auch sterben, nicht wie Enkidu sein?“ (IX, I 3), und ebenso kann er in voller Allgemeinheit sagen, seinen Freund „erreichte die Bestimmung der Menschheit“ (X, II 5, III 22, VI 13 usw.). Die Sterblichkeit als das, was den Menschen definiert in Abhebung von den Göttern muß als die je eigene Bestimmung erfahren werden. Gilgameschs gesamtes Tun ist fortan von der Todeserfahrung bestimmt, seine Existenz ist durch sie verändert. Heidegger, der Denker der Endlichkeit und des ‚Vorlaufens‘ in den Tod, muß seine Freude gehabt haben an der Art, wie Gilgamesch in seinen Tod ‚vorläuft‘ und so zu einer neuen Eigentlichkeit des Daseins kommt. Was Gilgamesch bleibt nach der Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Sterblichkeit ist das Streben nach unvergänglichem Ruhm. Das Verlangen, über das Gegenwärtige und Augenblickliche hinauszukommen, übersteht also auch die Erschütterung durch den Anblick des Todes und den Verlust der hochgesteckten Hoffnung. Ruhm aber ist nur

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möglich in einer Gemeinschaft, die die Erinnerung wahrt. Das Höchste ist dem Menschen als Sterblichen also nur erreichbar in der Kontinuität der kulturellen Tradition. Das freilich wird im Epos nicht mehr reflektiert. Wenn diese sechs Punkte nicht ganz vorbeigehen an den Intentionen des Dichters, so müssen wir sein Epos als ein überaus philosophisches Gedicht einschätzen, das konstitutive Züge der condition humaine teils explizit reflektiert – so die Todeserfahrung – teils implizit berücksichtigt. Die Ilias ihrerseits ist – entsprechend der Welthaltigkeit Homers – überaus reich an Einsichten in viele grundlegende Gegebenheiten des menschlichen Lebens, die meist exemplarisch in Szenen gestaltet, seltener abstrakt ausformuliert werden. Ich will mich nun nicht bei solchen Einsichten aufhalten. (Als Beispiel will ich nur eine einzige in Erinnerung rufen, nämlich die Einsicht, daß es ein leidfreies Leben für Menschen nicht geben kann: die Götter geben entweder Übel und Unglück unvermischt, oder eine Mischung von Gutem und Schlechtem: 24.527–533.) Statt dessen will ich mich auf drei Verhaltensweisen konzentrieren, die für die Handlung des Epos bestimmend sind und die alle drei, wie wir sehen werden, als anthropologisch uralt und fundamental gewertet werden müssen. 1. Durch die ganze Ilias zieht sich die Frage der Behandlung des toten Feindes. Dabei scheint vorausgesetzt, dass Bestattung bzw. Herausgabe zur Bestattung das Richtige wäre, zugleich hören wir ständig, daß der Krieg die Menschen immer wieder dazu bringt, die Aggression auch gegen den toten Feind fortzusetzen, den Leichnam grausam zu misshandeln und ihm die Bestattung zu verweigern. Die Wahl ist also eine ganz elementare: bestatten oder von Hunden und Vögeln zerreißen lassen. Fragen wir uns nun, wo das Bestatten seinen Ort hat in der Evolution, so ist klar: das ist das eigentlich menschliche Verhalten. Bei Tieren, auch den menschenähnlichsten, finden wir allenfalls ein trauerndes Verweilen beim toten Artgenossen, aber kein Versorgen des Leichnams. Die Wahl, vor der der homerische Krieger immer wieder steht, lautet also: das eigentlich menschliche Verhalten, das ihm als das Richtige irgendwie bewußt ist, auch dem Feind gegenüber zu bewähren, oder um der Aggression willen auszusetzen, den Feind also nicht mehr als seinesgleichen anzuerkennen. 2. Eine zweite Verhaltensweise von grundlegender anthropologischer Bedeutung zeigt sich in der Einladung des Achilleus an Priamos, in seiner Hütte zu speisen. Die gemeinsame Mahlzeit wäre nach der Annahme des Lösegeldes und Freigabe der Leiche Hektors nicht strikt nötig. Priamos könnte sogleich nach Troja zurückkehren. Auch so wäre die Freigabe Hektors kein bloßer Handel, da Achilleus weiß, daß ihm der

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Tod unmittelbar bevorsteht, folglich auch weiß, daß er mit dem Gold, das er für Hektor bekommt, nichts wird anfangen können. Mit der Bewirtung des Priamos rückt die Entscheidung des Achilleus noch weiter weg von bloßer gegenseitiger Vorteilsgewährung, jener Reziprozität, die vielen als Grundlage aller archaischen Ethik gilt. Denn Priamos wird zum Gast, zum xénos (ξένος), ohne daß Achilleus Aussicht hätte, jemals seinerseits in Troja die Privilegien des xénos genießen zu können.25 Fragen wir wiederum, wo dieses Verhalten anzusiedeln ist in der Evolution, so ist abermals klar: das formell geordnete gemeinsame Essen ist etwas, das nur der Mensch kennt. Tiere können gleichzeitig nebeneinander weiden, Raubtiere können wohl auch zugleich am selben Beutetier fressen, aber wie weit das gelingt, hängt gänzlich von der Willkür des ranghöchsten Tieres ab. Das gemeinsame gewaltfreie Essen, der geregelte Kommensalismus, eignet nur dem Menschen. Auch hier besteht aber die Möglichkeit, den Menschen des anderen Stammes prinzipiell vom gemeinsamen Mahl auszuschließen (die jüdische Religion hat bekanntlich diesen Weg gewählt). Achilleus und Priamos aber essen zusammen, und daß dies ein Akt gegenseitiger Anerkennung als Mensch ist, ist keine ethologische Überinterpretation, sondern steht fast wörtlich im Text: nach dem Mahl bewundern sich die bisherigen Feinde gegenseitig, beide sehen die Vollkommenheit des anderen (24.628–632). 3. Wie aber wurde die Freigabe des toten Hektor und das gemeinsame Mahl und die gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung möglich? Das führt uns zur dritten elementaren Verhaltensweise, der handlungsentscheidenden Hikesie. Diese Form des Bittens besteht im Niederknien des vollkommen macht- und wehrlosen Bittstellers vor dem Herrn der Situation, dem Umfassen seiner Knie, dem Ergreifen und Küssen der Hände des Mächtigen und dem Ausstrecken der Hand zu seinem Kinn. Das Ritual besteht also in einer Selbsterniedrigung des Flehenden, die Körperhaltung zeigt allein schon sein totales Ausgeliefertsein und seine Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Aggression. Dazu kommen die flehentlichen Worte. Die Hikesie nun gilt als moralisch zwingend: es ist frevelhaft, einen Hiketes, einen Schutzflehenden, zurückzuweisen oder gar zu töten. Aber möglich ist das, und es geschieht in der Ilias häufig, in einer Kampfszene auch durch Achilleus (21.34–

25 Vgl. Graham Zanker: Beyond Reciprocity. The Akhilleus-Priam Scene in Iliad 24. In: Christopher Gill/Norman Postlethwaite/Richard Seaford (Hg.): Reciprocity in Ancient Greece. Oxford 1998, 73–92.

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138). Vor allem: das ganze unheilvolle Geschehen nahm seinen Anfang davon, dass Agamemnon einen Hiketes, der seine Tochter zurückhaben wollte, zurückwies. Der Schlußpunkt der Kette des Unheils ist folgerichtig die moralisch richtige Reaktion des Achilleus auf die letzte und bedeutendste Hikesie des Epos. Achilleus läßt sich menschlich ergreifen vom unermesslich tiefen Leid des Priamos, das er selbst ihm zugefügt hat, da er es war, der Hektor tötete, und geht auf seine Bitte ein, was angesichts seines bisherigen Grolls auf Hektor eine schlichtweg nicht zu erwartende Selbstüberwindung bedeutet. Im elementaren Affekt des Mitleids mit dem ihm vollständig ausgelieferten Bittflehenden erkennt Achilleus die Gleichheit zwischen dem alten Priamos und seinem eigenen alten Vater, und damit die Verbundenheit aller Menschen in ihrer Abhängigkeit vom Unheil, das ihnen die Götter reichlicher oder sparsamer zuweisen. Und zum dritten Mal fragen wir: wohin gehört die Hikesie in der Evolution? Sie ist nicht etwas spezifisch Menschliches, vielmehr ist flehende Unterwerfung in derselben Körperhaltung auch bei Menschenaffen nachgewiesen.26 Mit der Hikesie des Priamos gelangen wir somit in den Bereich der vormenschlichen ethologischen Grundlagen menschlicher Ethik. Die Fähigkeit, den Schwächeren zu schonen, beginnt weit vor dem Übergang vom Tier zum Menschen, und es besteht klare Kontinuität im gestischen Ausdruck dieses Verhaltens. Andererseits macht die Fähigkeit zur aidós (αἰδώς), d. h. zur Rücksicht auf und Scheu vor dem Anderen, besonders dem Ausgelieferten, und die Fähigkeit, im sichtbar Ungleichen doch den einem selbst Gleichen, nämlich qua Mensch Gleichen, zu sehen, den Kern der archaischen Ethik aus. Die drei geschilderten elementaren Verhaltensweisen: die Bestattung des Leichnams, die Gemeinsamkeit des Mahls, die Anerkennung des Hiketes als seinesgleichen, setzt Homer ein als Aspekte eines Geschehens, das als Überwindung des Hasses und zugleich der trennenden Grenzen zwischen Angehörigen verfeindeter Völker zu deuten ist. Eine dieser Verhaltensweisen ist bereits vormenschlich, die anderen beiden sind menschliche Spezifika der elementarsten Art.27

26 Walter Burkert: Structure and History in Greek Mythology and Ritual. Berkeley 1979, 45ff.; ders.: Creation of the Sacred. Tracks of Biology in Early Religions. Cambridge, Mass./London 1996, 85ff. 27 Es ist nicht auszuschließen, daß künftige ethologische Forschung nicht nur Vorstufen von Bestattung und Kommensalismus bei den Tieren finden wird, sondern diese Verhaltensweisen selbst für bestimmte Spezies vindizieren wird. Mei-

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Im Vergleich damit ist das wache Bewusstsein des Gilgamesch von der Ubiquität des Todes (X, VI 20ff.; XI 230–233) etwas Fortgeschrittenes und Entwickeltes, etwas anthropologisch Spätes, Reflektiertes, Philosophisches. Das Gleiche gilt wohl von seinem faustischen Wesen, seinem Begriff von Freundschaft, seinem Streben nach Ruhm. Wir kommen so zu dem vielleicht überraschenden Ergebnis, daß das jüngere griechische Gedicht tiefer hinabsteigt, oder umgekehrt (zeitlich) höher hinaufgreift zu den anthropologischen und evolutiven Grundlagen bzw. Ursprüngen unserer Existenz als das ältere akkadische. Wie steht es nun mit dem ‚Humanismus‘ bzw. ‚humanism‘, der ‚Menschlichkeit‘ von Gilgamesch und Achilleus respektive? In der Interpretation von Gresseth, die ich insgesamt überzeugend finde, meint der ‚humanism‘ des Gilgamesch-Epos vor allem die Einsicht, daß der Mensch auf sich gestellt ist, daß er durch seine Sterblichkeit unwiderruflich getrennt ist von den Göttern und daß er auch auf schamanistische Techniken der Gewinnung des ewigen Lebens ein für alle Mal verzichten soll. Man könnte noch hinzufügen – mit Blick auf Enkidu, das Halbtier aus der Steppe – daß der Mensch definiert ist durch seine Stellung zwischen Tier und Gott. Diese Sicht auf den Menschen ist in der Ilias als dem späteren Gedicht bereits vorausgesetzt. Es kommt hier eine neue Stufe des Verständnisses des spezifisch Menschlichen hinzu. Wir begegnen hier jener Menschlichkeit, die sich zeigt in der Fähigkeit, den Feind als einem selbst gleich anzuerkennen und in der Schwäche des Ausgelieferten die allen Menschen gemeinsame Fragilität des Glücks zu sehen. Diese Art von Humanität läßt keine stolze Selbstbehauptung mehr zu. Gilgamesch kann nach dem Verlust der Hoffnung auf Unsterblichkeit immerhin noch auf die großartige Mauer von Uruk verweisen, die er gebaut hat und die seinen Ruhm sichert. Die Unsterblichkeit des Ruhms tritt an die Stelle der biologischen Unsterblichkeit. Achilleus ist gewiß auch vom Verlangen nach unvergänglichem Ruhm beseelt. Er entscheidet sich sogar um des Ruhmes willen für einen frühen Tod, was in sich schon eine einzigartige Tat ist (9.410–416). Doch als weit großartiger läßt uns der Dichter seine Fähigkeit erscheinen, mit dem Vater seines ärgsten Feindes Mitleid zu empfinden und ihn zu schonen. Das Größte an Achilleus ist seine Einsicht in die Schwäche und in die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns. Selbst seine unerreichbare Überlegen-

ne These über das Verhältnis von Ilias und Gilgamesch-Epos würde das nur stützen.

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heit als Krieger versteht er jetzt – nicht ohne Melancholie – als tristes Leidverursachen für Priamos (24.541–2). Während also der ‚Humanismus‘ des Gilgamesch-Epos noch Raum für menschliche Leistung und Stolz läßt, begegnen wir in der Ilias am Anfang der abendländischen Tradition einem anderen Humanismus, der vor allem Einsicht in die menschliche Schwäche ist.

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2. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas (1981)

Man kann nicht sagen, daß die Stücke der griechischen Dramatiker im heutigen Theaterleben vernachlässigt würden. Man versucht auf den Bühnen, entsprechend der inneren Dynamik der Theaterkunst, den alten Texten neue Effekte im Einzelnen und neuen Sinn im Ganzen abzugewinnen. Die Theaterleute suchen dabei in ihren Deutungen nicht selten die Anlehnung an Ergebnisse der literarischen Interpretation, die doch meistens in zunächst theaterferner Absicht und Einstellung erarbeitet wurden. Für die akademischen Interpreten mag das schmeichelhaft sein, doch ist es gewiß noch kein Grund zur Selbstzufriedenheit, vielmehr sollte es einen zusätzlichen Ansporn bieten, die Aufmerksamkeit in erhöhtem Maß auf jene Interpretationsfragen zu richten, deren Entscheidung in diesem oder jenem Sinne unmittelbar für die bühnenmäßige Verwirklichung der betreffenden Stücke, für die Erfahrung ihres Sinnes auf der Bühne von Bedeutung ist. Sophokles’ Elektra stellt uns bekanntlich vor solch eine Frage, und es ist eine Frage von unüberbietbarer Aktualität. Die Beendigung der Gewalt ist das zentrale Thema der politischen Ethik unserer Zeit. Die Geschichte von der langwährenden Herrschaft der Gewalt im Haus der Pelopiden und ihrer schließlich erreichten Beendigung scheint ein klares Modell der Probleme zu enthalten, die heute nicht nur Kultur und Gesittung der Gesellschaft, sondern das Überleben der Menschheit bedrohen. Nur überwindet Orestes die Gewalt durch Gewalt, während die Hoffnung der gegenwärtigen Welt ist, daß Gewaltlosigkeit die Gewalt einmal überwinden werde – auch wenn diese Hoffnung von Generation zu Generation enttäuscht wird. Es ist dieser Gegensatz, der der sophokleischen Elektra ein erhebliches Interesse für die heutige Bühne sichert und der zugleich die bühnenmäßige Verwirklichung vor ein schwieriges Interpretationsproblem stellt. Ist es möglich, eine Gewalttat als die letzte zu akzeptieren, sich sozusagen bei ihr zu beruhigen? Aischylos hatte dem Mythos eine Gestaltung gegeben, die dem Hoffen der Menschheit (es ist offenbar nicht erst unser Hoffen) auf ein Ende der Gewalt in sehr anderer Weise entgegenkommt: auf Orestes’ Mord an Klytaimestra und Aigisthos folgt weder menschliche Rache noch der Triumph des Siegers, sondern die Verfolgung durch die Erinyen. Deren unentrinn-

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2. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas

bare Gewalt – es ist nicht mehr die physische Gewalt – gegen den Täter wird nicht gebrochen durch einen Machtspruch, sondern durch ein Gericht. Es siegt die Einsicht in die Notwendigkeit eines neuen Prinzips der Sittlichkeit. Demgegenüber wartet man bei Sophokles nach dem Muttermord vergeblich auf die Erinyen, auf Gericht und Freispruch. Hat Sophokles uns lediglich die trostlose Botschaft zu überbringen, daß Gewalt nur durch Gewalt zu überwinden ist? Damit verlöre sein Stück, so will es scheinen, das Interesse, von dem wir ausgingen. Unter dem Eindruck dieses Dilemmas – wenn es denn ein Dilemma ist – versucht eine bestimmte Deutung des schwierigen Stückes, die vor gut 50 Jahren als provokatives Minderheitsvotum zuerst auftrat und heute drauf und dran ist, zur rezipierten Mehrheitsmeinung zu werden, zwischen dem Text des alten Dichters und den modernen Erwartungen zu vermitteln. Es ist die ironische Deutung des Schlußteils der Elektra, die notwendig das Verständnis des ganzen Stückes affiziert und so die Möglichkeit des ironischen Dramas überhaupt zu einem Thema der Sophoklesinterpretation macht. Die mit dieser Deutung verbundenen Fragen weisen einerseits eine große Textnähe auf und führen andererseits unmittelbar auf weiterreichende Gesichtspunkte, auf Strukturfragen, Methodenfragen und auf die Eigenart des sophokleischen Menschenbildes. In dieser Kombination von Scharfeinstellung und Orientierung am Sinnganzen muß sich zeigen, ob in der Sophoklesinterpretation begründete Antworten möglich sind oder ob alles dem individuellen Empfinden des einzelnen Interpreten oder Regisseurs überlassen bleiben muß.1 1 Zur Illustration des Eindrucks der Beliebigkeit und Willkür, den die Interpretationen zur Elektra nicht selten bieten, seien die Meinungen von Waldock und Segal zu den letzten Zeilen des Dramas gegenübergestellt: während der eine darauf beharrt, daß „a dramatist simply cannot spring ironies on us in the last ten lines of his play“, erklärt der andere: „a three-line choral tag cannot lift the weight of a fifteen-hundred-line meditation an waste and death“ (Arthur John Alfred Waldock: Sophocles the Dramatist. Cambridge 1951, 189 gegenüber Charles P. Segal: The Electra of Sophocles. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 97 (1966), 473–545, hier: 545). Beide sind also überzeugt, daß das, was die Gegenseite aus dem Schluß herausholen möchte, im Hauptteil Schlichtweg fehlt. – Ein Beispiel für Willkür in der Regie gab eine neuere Aufführung, in der nach Vers 1504 die Bühne leer war und eine längere Pause entstand, in der man sich die Tötung des Aigisthos im Haus vorzustellen hatte; dann kam Orestes heraus und verkündete die Verse 1505–1508 als sein politisches Credo nach der Tat und für alle Zukunft, losgelöst von der Szene 1442–1504. Aber selbstverständlich kennt die griechische Bühne keine wortlosen Pausen für hinterszenisches Geschehen; auch 1384ff. singt der Chor, während Orestes und Pylades zur Tat schreiten.

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2. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas

Zunächst, um die Frage verständlich zu machen, ein kurzer Überblick über die Exodos der Elektra. Das vierte Epeisodion schloß damit, daß Orestes mit Pylades in den Palast ging, bereit, die Ermordung Agamemnons gemäß dem Orakel des Apollon an Klytaimestra zu rächen. Elektra war ihnen gefolgt; sie kommt nun, nach einem kurzen Chorlied, wieder aus dem Haus und teilt dem Chor mit, daß die Männer die Tat vollbringen. Schon hört man die Schreie Klytaimestras aus dem Haus, sie ruft nach Aigisthos, sie fordert Erbarmen von Orestes, ihrem Sohn. Den Rufen Klytaimestras hinter der Bühne antworten nicht Worte des Orestes, der bei ihr ist, sondern Elektras, die vor dem Chor spricht. Die Geschwister sind so gleichsam zusammen als Vollstrecker der Tat vorgeführt.2 Auf Klytaimestras Bitte um Erbarmen erwidert Elektra, sie habe ihrerseits mit Agamemnon und Orestes kein Erbarmen gehabt. Und als die Mutter, vom Schwert des Sohnes getroffen, aufschreit ὤμοι, πέπληγμαι, ruft Elektra παῖσον, εἰ σθένεις, διπλῆν, „schlag, wenn du die Kraft hast, noch einmal“. Und Orestes führt den zweiten, den tödlichen Schlag. Gleich nach der Tat kommt er mit Pylades auf die Bühne, die Hand von Blut befleckt. Auf die Frage Elektras, wie es stehe, antwortet er καλῶς, ᾽Απόλλων εἰ καλῶς ἐθέσπισεν (1425) „gut, wenn Apollons Spruch gut war“. Und er versichert Elektra, daß die Erniedrigung durch Klytaimestra für sie zu Ende ist. Eine neue Wendung: der Chor warnt – Aigisthos kommt. Die Rächer gehen zurück in den Palast, Elektra will Aigisthos vor dem Palast empfangen. In doppelsinniger Sprache, hinter der der Zuschauer den wahren Sachverhalt durchhört, bestätigt sie die falsche Nachricht vom Tod ihres Bruders und erweckt bei Aigisthos den Eindruck, die Leiche des Orestes sei aus Phokis nach Mykene gebracht worden. Aigisthos gibt darauf Befehl, den Leichnam öffentlich zur Schau zu stellen, damit etwaige Unzufriedene, die auf die Rächung Agamemnons durch Orestes gehofft haben sollten, ihren Widerstand als hoffnungslos erkennen.

2 Wolf Steidle: Studien zum antiken Drama. München 1968, 92 betont mit Recht die Bedeutung von Elektras Entschluß (947ff.), die Tat der Rache selbst durchzuführen; daß sie die „eigentliche Täterin“ sei, und sei es auch nur „symbolisch“ (Steidle: Studien zum antiken Drama, 94), ist indes nicht gut vereinbar mit ihrer Unterordnung unter Orestes’ Führung (1301ff. – im Gegensatz zur dominierenden Rolle Elektras bei der Planung und Durchführung der Tat bei Euripides, Elektra 960ff. 1225). Den Sinn dieser Unterordnung hat Sophokles klar bezeichnet: der Auftrag des Gottes erging an Orestes (70. 1264–1270), nicht an Elektra.

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Herausgerollt wird eine verdeckte Leiche – es ist die Leiche Klytaimestras. Neben ihr die vermeintlichen Phoker. In seiner Verblendung will Aigisthos Klytaimestra holen lassen; doch Orestes veranlaßt ihn, die verdeckte Leiche zu enthüllen. Aigisthos erkennt seine Lage, weiß, daß er verloren ist. Er bittet freilich gleich um ein letztes Wort der Rechtfertigung. Es wird ihm verweigert, nicht von Orestes, sondern von Elektra; sie fordert ihren Bruder auf, Aigisthos sofort zu töten und ihn den Totengräbern auszusetzen, die ihm ziemen. Gemeint sind Hunde und Geier. Die Tötung des Aigisthos kann nach den Konventionen der griechischen Bühne natürlich nicht vor dem Zuschauer erfolgen. Aus der bühnenmäßigen Notwendigkeit, die Handelnden zu entfernen, hat Sophokles einen Dialog um die dahinterstehende moralische Notwendigkeit gemacht. Warum die Tat im Dunkeln geschehen müsse, fragt Aigisthos, wenn sie doch gerechtfertigt sei (εἰ καλὸν τὸ ἔργον). Doch Orestes antwortet nur mit der Notwendigkeit der Vergeltung für Agamemnon, und daß Aigisthos nicht zu bestimmen habe, wie er sterben wolle. Das ist das Ende des Dialogs und der Handlung. Es folgen noch drei Trimeter des Orestes moralisierenden Inhalts: Verbrechen müßten sogleich mit dem Tod geahndet werden, und es gäbe weniger Schurkerei in der Welt. Während Orestes und sein Opfer ins Haus gehen, läßt der Chor drei Verse folgen, in denen er verkündet, daß das Haus des Atreus nach vielen Leiden heute zur Freiheit gelangt sei. Der letzte Herausgeber, R. Dawe (1975), athetiert mit Philologen des 19. Jahrhunderts diese letzten Worte des Orestes und des Chores.3 Aber ob die letzten sechs Verse echt sind oder nicht, in jedem Fall fehlt dem Stück ein Ausklang, ein distanzierendes Nachspiel, wie wir es im Aias haben, in der Antigone, im König Oedipus. Wir haben Handlung fast bis zum letzten Augenblick, einen mit hoher dramatischer Komprimierung ablaufenden Doppelmord, wovon einer ein Muttermord ist – das gräßlichste aller Verbrechen. Es tritt freilich als Recht auf, als Dike. Und hier liegt der Ansatzpunkt der ironischen Interpretation. Sie wurde zuerst vorgetragen von John Sheppard in einem Aufsatz von 1927 mit dem Titel: „Electra. A Defence of Sophokles“.4 Sophokles müsse also verteidigt werden gegen die Vorstellung, er habe diesen glatt ablaufenden Doppel-

3 Vgl. unten S. 14 mit Anm. 23. 4 John Sheppard: Electra. A Defence of Sophokles. In: Classical Review 41 (1927), 2– 9 und 163–165 (vgl. schon ders.: The Tragedy of Electra, According to Sophocles. In: Classical Quarterly 12 (1918), 80–88). Einen Ansatzpunkt für Sheppards Interpretation enthält bereits G. Kaibels Kommentar (Sophokles Elektra. Erkl. v. George Kaibel. Leipzig 1896), in dem S. 302 gegen R. Jebb (dessen Kommentar

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mord als unbezweifelbares Recht darstellen wollen, ohne die im Mythos vorgesehene Umkehrung der Wertung, das heißt ohne die der Tat folgenden Erinyen. Das wäre eine Ungeheuerlichkeit. Die Verteidigung lautet: die Schlußszene meint gar nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sagen scheint; sie ist hintergründig, ironisch zu verstehen. Euripides hat bekanntlich die Immoralität der Tat herausgestellt und die Weisheit des Apollon, dessen Orakel die Tat befahl, offen angezweifelt.5 Sophokles sei seinerseits weit davon entfernt, die Tat zu rechtfertigen (wie die eine der zwei gängigen Auffassungen glaubt) oder gar ihre moralischen Aspekte zu ignorieren (so die andere Lösung). Wie Euripides kritisiere er die Unmenschlichkeit des Muttermordes, nur mit anderen Mitteln: statt durch explizites Raisonnement durch das subtile Mittel der dramatischen Ironie. Indem er uns die Tat in einem bestimmten Licht zeigt, will er sie uns verstehen lassen als das, was sie ist: als Verbrechen. Diese Interpretation stieß zunächst auf Ablehnung, so zum Beispiel im Sophoklesbuch von Maurice Bowra, scheint aber in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend an Boden zu gewinnen in verschiedenen Varianten, die nicht immer den Begriff der Ironie in den Mittelpunkt stellen. A. Salmon sprach 1961 von der „inhumanité monstrueuse d’Electre“ und versah die. gesamte Schlußszene Zeile für Zeile mit geheimem ironischen Doppelsinn. Auf den Spuren von Winnington-Ingram arbeitete Ch. P. Segal auf 70 Seiten in lyrisch-suggestiver Weise die düsteren Seiten des Stückes heraus, Holger Friis Johansen legte eine Interpretation vor, der zufolge wir am Ende „nur einen unsicher gewordenen Jungen und eine innerlich gebrochene Frau sehen“. Kamerbeeks Kommentar von 1974 schließt sich dieser Deutung Elektras als am Ende gebrochener Gestalt an, während der ein Jahr zuvor erschienene Cambridger Kommentar von J. H. Kells in allen Punkten ausdrücklich auf Sheppard zurückgreift. Das ganze Stück, schreibt Kells, ist eine fortgesetzte Übung in dramatischer Ironie.6

von 1894 jedoch nicht zitiert ist) versichert wird, Sophokles habe nach Aischylos nicht auf die homerische Rechtfertigung der Tat des Orestes zurückgreifen können und daß Orestes nach der Tat „nagende Gewissenszweifel“ verspüre. 5 Eur. El. 971 ὦ Φοῖβε, πολλήν γ᾽ ἀμαθίαν ἐθέσπισας vgl. 1245f. 6 Cecil Maurice Bowra: Sophoclean Tragedy. Oxford 1944, 215–218. A. Salmon: L’ironie tragique, dans l’exodos de l’Electre de Sophocle. In: Les Etudes Classiques 29 (1961), 241–270, hier: 244. Reginald Pepys Winnington-Ingram: The Electra of Sophocles. Prolegomena to an Interpretation. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 183 (1954/55), 20–26; ders.: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980, 217–247 (ausführlichere Fassung des Artikels von 1954/55; Zitate beziehen sich im Folgenden auf das Buch). Segal: The Electra of Sophocles, 473– 545. Holger Friis Johansen: Die Elektra des Sophokles. In: Classica et Mediaevalia

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Diese Interpretation hat nun zweifellos ihre Vorzüge. Sie bringt Sophokles in Übereinstimmung mit unserem modernen ebenso wie mit dem archaisch griechischen Empfinden – im Mythos waren ja die Erinyen vorgegeben,7 bei Sophokles fehlen sie.8 Sie hat zudem den Vorteil, den Leser zu erhöhter Aufmerksamkeit zu zwingen, ihn zu sprachlicher Feinfühligkeit und Hellhörigkeit zu erziehen – und was könnte wichtiger sein bei einem so differenzierten Dichter wie Sophokles? Die zum Teil grotesken Verirrungen solcher (vermeintlicher) Hellhörigkeit bei Salmon und Segal brauchten uns im Prinzip nicht zu stören9 – auch sonst entwickeln sich ja Übertreibungen oft aus richtigen Ansätzen. Aber ist der ironische Ansatz in der Deutung der Elektra wirklich der richtige? Die gewöhnlich doch wohl unbewußt mitwirkende Vorstellung, daß Ironie allemal etwas Feines und Subtiles ist und daß der Ironiker dem bedauernswerten Ironielosen in jedem Fall überlegen ist, sollte uns nicht abhalten, diese Frage zu stellen. Aber auch nicht die Berufung auf die Tatsache, daß Sophokles nun einmal ein anerkannter Meister der tragischen

25 (1964), 8–32, hier: 32. Jan C. Kamerbeek (Hg.): The Plays of Sophocles, Part VII: The Oedipus Coloneus. Leiden 1984, 17–20. John H. Kells (ed.): Sophocles, Electra. Cambridge 1973, 1–12, hier: 11. 7 Die Odyssee (α 29–43. 298–300; γ 193–200. 304–310) sagt nichts von den Erinyen, obschon der Tod Klytaimestras vorausgesetzt ist (γ 309f.); sie sind jedoch für die Oresteia des Stesichoros bezeugt (PMG 217). 8 Winnington-Ingram: Sophocles, 217–224 legt großen Wert darauf, daß die Erinyen viermal genannt sind (112. 276. 489. 1080, dazu die periphrastische Nennung 1388) – so als wäre das vor ihm unbekannt gewesen. Worauf es ankommt, ist, daß diese Stellen nicht die Sühnung des Muttermordes betreffen; was bei Sophokles fehlt, sind die μητρὸς ἔγκοτοι κύνες (Aisch. Choeph. 924. 1054). Vgl. unten Anm. 36. 9 Hier nur einige Beispiele. Nach Salmon: L’ironie tragique, 264 meint πέπτωχ᾽ ὁ τλήμων 1477 sowohl Agamemnon (πέπτωκε) als auch Aigisthos, der diese Worte spricht (πέπτωκα). (Die Reminiszenzen an die Ermordung Agamemnons sind natürlich überall im Schlußteil zu finden, aber aus der Form πέπτωχ᾽ eine Anspielung herausholen zu wollen, hat doch wohl mit Interpretation nichts mehr zu tun.) Aus 1407 will Salmon: ebd., 269 eine Mißbilligung des Chores heraushören – seine offene Billigung der Tat 1423 übergeht er. – Für Segal: The Electra of Sophocles, 492, der nur das ‚Düstere‘ und ‚Zweideutige‘ des Stückes sieht und alles Zuversichtliche übergeht oder weginterpretiert, ist selbst das Zwitschern der Vögel (Prolog 17f.) ein sinistres Omen, und zwar wegen der unseligen Nachtigall – die freilich erst in der nächsten Szene genannt ist. Segal sieht Identität der Symbole, wo Sophokles durch den Kontrast sprechen will: die helle Zukunft wird über die dunkle Gegenwart siegen. – Ingeniös und abwegig ist auch die Vermutung von Winnington-Ingram: Sophocles, 236f., durch den fingierten Botenbericht habe Sophokles andeuten wollen, daß Orestes durch Apollon eben doch zu Schaden kam.

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Ironie ist. Vielmehr gilt es, dieses Faktum gerade zum Prüfstein zu machen und zu fragen: was ist sophokleische Ironie sonst, und was liegt in der Elektra vor? Vor allem durch diesen Ansatz unterscheidet sich die vorliegende Analyse von zwei Beiträgen, in denen die Richtigkeit der auf Sheppard zurückgehenden Auslegung bereits in Frage gestellt wurde, nämlich von B. Alexandersons als fortlaufende Interpretation gestalteter Erwiderung auf den Aufsatz von H. Friis Johansen und von H. Erbses vorwiegend gegen J. H. Kells gerichteter Klärung mehrerer zentraler Themenkreise des Stückes. Da auch diese Beiträge – wie die jüngst erschienene Interpretation von R. W. B. Burton zeigt – trotz der konkreten Klarheit ihrer Einzelinterpretationen noch nicht zu einer hinreichenden Besinnung auf die Voraussetzungen und Grenzen der zur Frage stehenden Auslegung geführt haben, mag es gerechtfertigt sein, diese Besinnung erneut zu versuchen, diesmal unter steter Berücksichtigung von Methodenfragen der Drameninterpretation und mit Einbeziehung eines weiteren Sektors der älteren Literatur.10

10 B. Alexanderson. On Sophocles’ Electra, Class. et Med. 27 (1966) 79–98; H. Erbse, Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, Hermes 106 (1978) 294–300. Zur übergreifenden Frage der dramatischen Ironie äußern sich beide nur beiläufig (Alexanderson 90 u. 97, Erbse 294 Anm. 30, 300 Anm. 44); ebensowenig kommt das Strukturmoment der Figurenkonstellation und die Ausdifferenzierung der divergierenden moralischen Ansprüche im Durchgang durch die Figurenperspektiven zur Sprache (worin nach der hier vorgelegten Deutung der sicherste Zugang zur Intention des Dichters zu sehen ist). Den Einzelinterpretationen beider Beiträge kann ich fast immer zustimmen – eine Übereinstimmung, die für mich um so erfreulicher ist, als ich meinen Beitrag ohne Kenntnis der Vorgänger verfasste. Da aber außer den übergreifenden Gesichtspunkten auch die Begründungen im einzelnen häufig anders lauten, schien es geraten, auch diejenigen Punkte im Zug einer einheitlichen Interpretation zu berühren, die schon von Alexanderson und nach ihm von Erbse behandelt wurden (Verweise auf ihre Ergebnisse wurden in den Anmerkungen nachgetragen). R. W. B. Burton, The Chorus in Sophocles’ Tragedies (1980) (Electra: 186–225) interpretiert, der Zielsetzung des Buches gemäß, vorwiegend aus der Perspektive des Chores, was eine Rechtfertigung dafür enthalten mag, dass die Kernfrage der Deutung des Stückes nirgends direkt angegangen wird – denn für diese Frage sind die Äußerungen des Chores zwar wichtig, aber natürlich nicht allein entscheidend. Immerhin kommt Burton aufgrund des Chorliedes 1384 ff. und der Exodos zur Ablehnung der Auffassung, dass das Stück zum Ende hin offen sei (220–223); hingegen zeigt er sich in den Bemerkungen über „the dark forces that fashion Electra’s character“ noch sehr im Bann der psychologisierenden Deutung von Winnington-Ingram und Friis Johansen. Die in ihrem Charakter ‚entstellte‘ (194) Elektra versucht der Chor in der Parodos und in der Chrysothemis-Szene zur Mäßigung zu bewegen, während er ihr in den Chorliedern volle moralische Unterstützung gibt (224f.) – wie sich beides zueinander

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Bekanntlich kam der Begriff der tragischen Ironie gerade aus der Sophokles-Deutung in die Literaturwissenschaft.11 Da Sophokles das Paradigma war und ist, sollte es möglich sein, bei ihm selbst die Kriterien zu finden, die zur Entscheidung unserer Frage dienen können. Die übliche Art, die Handhabung der Ironie bei Sophokles auf den Begriff zu bringen, besteht darin, daß man sie als die dramatische Auswertung des Gegensatzes von Wirklichkeit und Schein bestimmt. Diese Bestimmung findet sich, um nur ein Beispiel zu geben, im Sophoklesbuch von G. Kirkwood.12 Auf die Elektra angewendet hieße das, daß die Wirklichkeit des Muttermordes als des gräßlichsten Verbrechens kontrastiert sei mit dem trügerischen Bewußtsein der Täter, Recht zu üben. Wir seien durch den Kontrast aufgefordert, die Selbsteinschätzung von Orestes und Elektra umzukehren und so zum Einklang mit der Wirklichkeit zu kommen. Ich glaube nun, daß diese Bestimmung des Wesens der tragischen Ironie zwar nicht falsch, aber unvollständig ist. Sie muß ergänzt werden durch den nur scheinbar trivialen Zusatz, daß die Wirklichkeit, die den einen Pol des vom Dichter intendierten Gegensatzes bildet, die vom Zuschauer verstandene und als eindeutig bestimmt aufgefaßte Wirklichkeit sein muß. Und das bedeutet: der Dichter hat dafür zu sorgen, daß der Zuschauer seine Auffassung der Wirklichkeit hat. Um verständlich zu machen, worauf es hier ankommt, werfen wir einen kurzen Blick auf den Aias und auf König Oedipus. Oedipus schickt sich an, durch Untersuchung und Sühnung des Mordes an Laios die Stadt Theben von der Seuche zu befreien. Er weiß nicht, gegen wen sich seine Untersuchung richtet, und versteht es auch nicht, als Teiresias es ihm wörtlich und ganz ohne Ironie sagt. Zuvor schon spricht er einen schrecklichen Fluch gegen den Täter, ohne zu wissen, daß er sich selbst verflucht. Aber der Zuschauer weiß es, und es ist leicht zu sehen, daß nur unter der Voraussetzung dieses Wissens der Effekt der tragischen verhält, fragt Burton nicht. Offenbar gelangt der Chor von anfänglicher Kritik zu einem besseren Verständnis der Haltung Elektras, und dieses Fortschreiten ist das Wichtigste, was man aus der Rolle des Chores für die Deutung des Stückes gewinnen kann. 11 Ernst Behler: Der Ursprung des Begriffs der tragischen Ironie. In: Arcadia 5 (1970), 113–142; ders.: Klassische Ironie, Romantische Ironie, Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972. Entscheidend für die spätere Begriffsbildung wurde On the Irony of Sophocles (1833) von Connop Thirlwall, der ein guter Kenner der deutschen Romantik und ihrer Theorie der Ironie war. 12 Gordon M. Kirkwood: A Study of Sophoclean Drama. Ithaca, NY 1958, 262f.: „the soul of dramatic irony is contrast between what seems and what is“.

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Ironie möglich ist. Der Zuschauer versteht, anders als Oedipus, daß der blinde Seher die Wahrheit sieht, während der sehende Oedipus, der glorreiche Rätsellöser, der das Rätsel seines Lebens nicht lösen konnte, in Wirklichkeit blind ist. Hier ist also das Wissen des Zuschauers um die Wirklichkeit des Oedipus zunächst vorausgesetzt – niemand kann die tiefe Zweideutigkeit der Fluchszene verstehen, der die Identität des Königs nicht kennt. Beachten wir jedoch, daß diese Kenntnis des Publikums gleich im ersten Epeisodion durch die Worte des Sehers bestätigt, in, gewissem Sinne dramenintern neu aufgebaut wird. Der Dichter begnügt sich also, wenn es um die Wirklichkeit geht, gegen die sich der Schein in tragischer Ironie abhebt, nicht mit der Übernahme vorausgesetzten Wissens. Ein noch deutlicheres Beispiel hierfür ist der Anfang des Aias. Der Held tritt aus seinem Zelt, von Athene gerufen. Auf ihre Frage berichtet er, wie er die Atriden getötet habe, während er Odysseus, bevor auch er sterben muß, noch blutig zu peitschen gedenke. Auch diese Szene ist ein oft gewürdigtes Beispiel tragischer Ironie. Aias hält Athene für seine Helferin und glaubt mit ihr von gleich zu gleich sprechen zu können, während in Wirklichkeit gerade sie ihn in Wahnsinn gestürzt hat und ihn statt seiner Feinde die Herdentiere töten und peitschen ließ. Die Geschichte vom Rindermord war allen bekannt;13 das Publikum hätte die Verblendung des Aias ohne weiteres aufgrund seines Vorwissens verstanden. Aber Sophokles setzt auch hier nicht einfach auf die allgemeine Vorinformiertheit, sondern bringt zuvor eine andere Szene, die zwischen Athene und Odysseus, in der das Wissen des Zuschauers vom Rindermord nicht lediglich aktualisiert, sondern in der vom Dichter gewollten Optik neu aufgebaut, neu gestaltet wird. Es ist evident, daß die besondere Nuance der tragischen Ironie, hier die besondere Schärfe, um nicht zu sagen Grausamkeit der Situation, entscheidend von dieser Gestaltung abhängt. In beiden Fällen, bei Oedipus und bei Aias, ist die Situation ferner auf die Auflösung der tragischen Ironie angelegt. Der Held wird in der Diskrepanz zwischen seiner stolzen Zuversicht und seiner schrecklichen Wirklichkeit gezeigt, damit sich seine Größe in dem Augenblick zeigen kann, in dem ihm die Wahrheit aufgeht. Ohne Erkenntnis der Tatsache, daß ihre Tat sie vernichtet hat, wären weder Aias noch Oedipus tragische Gestalten.

13 Verzeichnis der reichen bildlichen Überlieferung („Aias trauernd nach der Raserei“, „Aias’ Selbstmord“) bei Frank Brommer: Denkmälerlisten zur griechischen Heldensage. Marburg 31976, 14–19.

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Die tragische Ironie hat also, dramaturgisch gesehen, vorbereitenden Charakter. Auf der Erwartung ihrer Auflösung beruht die dramatische Spannung; aus der Art, wie der Held die Enthüllung der Wahrheit besteht, schafft Sophokles das tragische Pathos. Vielleicht wäre dies der Ort, kurz an die Fragwürdigkeit der Bezeichnung ‚tragische Ironie‘ zu erinnern. Denn wenn wir unter Ironie die Einnahme eines überlegenen Standpunktes unter der Maske der Unterlegenheit verstehen, und dies zum Zweck der Zerstörung eines zu hoch angesetzten Anspruchs, so ist klar, daß Ironie nicht die passendste Bezeichnung des hier gemeinten literarischen Phänomens ist. Die Götter, die den Menschen vernichten, können zwar die ironisch-überlegene Haltung einnehmen – Athene im Aias tut es – doch ist dies nicht das Wesentliche; Apollon14 im Oedipus tut es gar nicht erst, und dies wirkt im Grunde stärker. Niemals wird der Dichter diese Haltung gegenüber seinen Gestalten einnehmen, und vollends absurd wäre es, wenn der Zuschauer ironische Überlegenheit empfinden wollte. Und wenn auch der hohe Anspruch des tragischen Helden zunächst zerstört wird, so zeigt er doch in der Art, wie er der Vernichtung begegnet, eine neue Größe, einen neuen Anspruch, der diesmal nicht zerstört wird (sonst hätten wir Komödie, nicht Tragödie). Ähnliche Überlegungen veranlaßten Lewis Campbell vor fast genau 100 Jahren, statt ‚tragische Ironie‘ die Bezeichnung ‚pathetischer Kontrast‘ vorzuschlagen.15 Doch Campbells Vorschlag drang nicht durch, und so liegt es auch mir fern, den inzwischen in allen Sprachen eingebürgerten Terminus ändern zu wollen. Wir halten einstweilen als Merkmale der tragischen Ironie bei Sophokles fest (1) die Gestaltung der Wirklichkeit, gegen die sich der Schein in tragischem Kontrast abheben soll, in eigener Optik, und (2) die Auflösung der Täuschung auch und gerade für den Verblendeten. Diese Merkmale bestimmen auch die Ankunft des Aigisthos im Schlußteil der Elektra. Tragische Ironie – die in der entsprechenden Szene bei Aischylos (Choeph. 838ff.) fehlt – wäre erreichbar gewesen schon durch ein paar Worte des Aigisthos über das Erreichen seines Ziels. Aber die besondere Nuance in der Ironie dieser unheimlichen Anagnorisis erreicht Sophokles dadurch, daß er dem noch unwissenden Aigisthos die Wirklichkeit in ganz eigener Gestaltung vorgegeben sein läßt: Klytaimestra ist tot 14 Apollon als der eigentlich Handelnde hinter dem Geschehen, das Oedipus auslöst: ᾽Απόλλων τάδ᾽ ἦν, ᾽Απόλλων, φίλοι 1329. 15 Lewis Campbell: Sophocles. The Plays and Fragments. Ed. with English Notes and Introductions, Bd. I. Oxford 21879 [Repr. 1969], 126–133: „On the so-called Irony of Sophocles“.

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(bei Aischylos und Euripides stirbt sie bekanntlich erst nach ihm). Aigisthos glaubt die Erniedrigung der unnachgiebigen Elektra auskosten zu können (bei Aischylos tritt Elektra im zweiten Teil der Choephoren nicht mehr auf). Und er glaubt an der Bahre seines Rächers zu stehen – doch vor ihm liegt seine Frau, und er ist in der Hand des Rächers. Die Auflösung seiner Täuschung bleibt auch ihm, obschon er nicht als große tragische Figur konzipiert ist, nicht erspart. Eine Durchsicht der übrigen Werke des Sophokles – die hier aus Raumgründen nicht durchgeführt werden kann – würde ergeben, daß wir in den genannten zwei Merkmalen feste Strukturelemente der sophokleischen Handhabung der tragischen Ironie vor uns haben. Dies vor Augen, können wir uns nunmehr der Gestalt Elektras zuwenden – denn das Licht der tragischen Ironie, in dem die Schlußszene Aigisthos zeigt, sagt natürlich nichts darüber aus, wie wir nach dem Willen des Dichters Elektra sehen sollen. Zunächst muß noch ein Wort zum formalen Aufbau des Stückes gesagt werden, da die Struktur des Ganzen durchaus nicht gleichgültig ist für unsere Frage. Der Aufbau zeigt, wie man längst weiß, die Leiden Elektras im Mittelpunkt. Ihre Hoffnungslosigkeit und ihre seelische Vereinsamung werden breit ausgespielt in einer zwingenden Abfolge symmetrisch angelegter Szenen: Am Anfang hören wir die Planung der Tat durch Orestes, noch ohne Elektra. Die Parodos zeigt Elektras ausweglose, verzweifelte Vereinsamung. Sie kann und will nicht darauf verzichten, den Mord am Vater anzuklagen und den Tag der Rache herbeizusehnen. Im ersten Epeisodion ist sie mit ihrer Schwester Chrysothemis konfrontiert, die zum Nachgeben rät, im vorliegenden Fall aber selbst so weit nachgibt, daß sie auf Drängen der Elektra das Opfer Klytaimestras am Grab des Agamemnon nicht darbringen will. Wir sehen hier also Elektra erfolgreich; das setzt sich fort im zweiten Epeisodion, in dem sie die Auseinandersetzung mit der Mutter über den Tod des Vaters und ihre Haltung dazu mit einem moralischen Sieg beendet. Hier aber bricht die aufsteigende Linie ab (und dieser Bruch ist die Symmetrieachse der Szenenfolge): es kommt der Erzieher des Orestes und bringt Klytaimestra die falsche Nachricht von dessen Tod. Elektra ist vernichtet – wohlgemerkt von denen, die sie retten werden. Es folgt im dritten Epeisodion die zweite Begegnung mit Chrysothemis. Elektra will sie dazu gewinnen, mit ihr die Tat zu vollbringen, da Orestes, der vorbestimmte Rächer, tot sei. Chrysothemis hält das für Wahnsinn – worauf Elektra erklärt, sie werde die Tat alleine vollbringen. Im vierten Epeisodion kommt Orestes mit der Urne, die, gemäß der erfundenen Nachricht von seinem Tod, seine Asche enthalte. In der Klage um den Toten erreicht

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Elektras Leid die äußerste Intensität – und hier erfolgt der Umschlag in der Wiedererkennung der Geschwister. Der Ausbruch der Freude entspricht der Intensität des Leids unmittelbar davor. Dies ist das symmetrische Gegenstück zur Schilderung ihrer hoffnungslosen Lage am Anfang, und hier liegt zweifellos die Peripetie des Stückes. Was folgt, habe ich bereits anfangs vorweggenommen, es ist die rasche Ausführung der Tat, bei der für den Zuschauer zunächst weiterhin – und das ist entscheidend – Elektra im Mittelpunkt steht, um erst in der letzten Szene, als Orestes zum zweiten Mal aus dem Haus kommt, hinter diesem zurückzutreten. Nun zur Wirklichkeit, die Sophokles in diesen 1400 Versen um Vereinsamung und Leid Elektras aufgebaut hat. Folgende Schlüsselthemen werden immer wieder aus verschiedenen Perspektiven zur Sprache gebracht: Zunächst der zentrale Komplex der Dike und Eusebeia, des Rechts und der Frömmigkeit sowie der Rolle der Götter. Elektra versteht ihr Ausharren im Widerstand als Wahrung der Grundlagen von αἰδώς und εὐσέβεια (249f.). Das könnte freilich noch die ihrer Rolle entsprechende perspektivische Fehleinschätzung sein. In gewissem Sinne ist es daher wichtiger, wie die anderen Figuren die Frage sehen. Klytaimestra behauptet, Agamemnon zu Recht getötet zu haben (528). Aber Sophokles gibt Elektra eine überlegene Entgegnung: die Gestaltung des Dialogs läßt keinen Zweifel daran, wer das Recht vertritt.16 Chrysothemis, von jeher uneins mit ihrer Schwes-

16 Es wird versichert, daß Elektras Kritik des Prinzips der Vergeltung (580ff.) auch ihr Verlangen nach Rache ironisch desavouiert (Winnington-Ingram: Sophocles, 222; Johansen: Die Elektra des Sophokles, 18f.). Doch hatte Cedric H. Whitman: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge, Mass. 1951, 158 u. 164 den dramatischen Sinn der Stelle bereits richtig erklärt: sie ist eher als Drohung Elektras zu verstehen denn als theoretische Rechtfertigung; Elektras moralische Überlegenheit liegt in der Widerlegung des Anspruchs der Mutter auf Dike und in der Tatsache, daß sie, obschon fast eine Sklavin, frei von Vergeltung an der Mutter reden kann. – Für den Gehalt der Stelle ist es im übrigen wichtig, daß Elektra das Vergeltungsprinzip betrachtet, als wäre es eine Setzung Klytaimestras (580); in der Tat handelte Klytaimestra in eigener Verantwortung nach menschlicher Motivation; der Zuschauer weiß bereits, daß Orestes in göttlichem Auftrag kommt (70), und Elektra wird später davon erfahren und es akzeptieren (1264– 1270; vgl. auch die nicht von Menschen gemachten – ἔβλαστε drückt dies aus – μέγιστα νόμιμα 1095, die wohl schwer von Ant. 455, OT 865 zu trennen sind). Den Unterschied der Beweggründe betonte richtig Kaibel: Sophokles Elektra, 302. Ähnlich Hartmut Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles. In: Hermes 106 (1978), 284–300, hier: 289, mit treffender Kritik der Auffassung von Bengt Alexanderson: On Sophocles’ Electra. In: Classica et Mediaevalia 27 (1966), 79–98, hier: 88, in 558–560 gerate Elektra in Widerspruch zu ihrer sonst eingenommenen Haltung.

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ter, gesteht in der ersten Begegnung doch zu, daß das Recht so steht, wie Elektra es sieht (337); in der zweiten rät sie, das Recht fahren zu lassen, wenn es Schaden bringt (1042). Auch diese Maxime dient dazu, Elektras Position e contrario zu definieren. Der Chor verweist tröstend auf die noch ungebrochene Herrschaft des Zeus, als er Elektra klagen hört (175), spricht vom Kommen der Dike, als er an eine Wendung zum Guten im Sinne Elektras glaubt (476), und ruft die Blitze des Zeus an, als die Rache durch Orestes’ Tod unmöglich geworden scheint (824). In der zweiten Chrysothemisszene redet er zwar von Maßhalten, lobt auch vorsichtig Chrysothemis’ Zögern (990f.), läßt sich dann aber doch von der Richtigkeit von Elektras Entschluß, selbst zu handeln, überzeugen.17 Im zweiten Standlied erkennt er an, daß sie allein die μέγιστα νόμιμα achtet, daß ihre Haltung εὐσέβεια ist (1097). Nach der Tat sagt er οὐδ᾽ ἔχω ψέγειν „ich kann es nicht mißbilligen“ (1423).18 Was Orestes betrifft, so trug ihm Apollon selbst χειρὸς ἐνδίκους σφαγάς (37) auf, die gerechte Tötung mit der eigenen Hand. So ist er καθαρτὴς πρὸς θεῶν ὡρμημένος (70), ein gottgesandter Entsühner des väterlichen Hauses. Elektra bezeichnet den Umstand, daß ein Gott Orestes sandte, als den höchsten Grund ihrer Freude (1265–1270): ihr persönliches Verlangen nach Rache tritt davor gleichsam von selbst zurück. Die Versicherung von Sheppard, neuerdings wiederholt von Kells, Orestes habe Apollons Orakel mißdeutet, der Gott stehe nicht hinter der Rachetat, ist aus der Luft gegriffen.19

17 Für George H. Gellie: Sophocles. A Reading. Melbourne 1972, 120 sind die Standpunkte von Chrysothemis und Elektra offenbar gleichwertig: „There are two ways of looking at Electra's decision here“ (Hervorhebung von G.), weswegen Sophokles dem Chor die „flexibility“ einräume, beide Standpunkte mit Lob zu bedenken. Aber ein Drama ist kein statisches Ausbalancieren gleichwertiger Meinungen; die dramatische Aussage liegt vielmehr in der Wendung des Chores von einer vorsichtigen Unterstützung für Chrysothemis zu einer bewundernden Zustimmung für Elektras Entschluß und Motivation. – Wenig Sinn für den dramatischen Sinn von Figurenkonstellationen zeigt auch Segal: The Electra of Sophocles, 538f., der gleichfalls an die Gleichwertigkeit der Standpunkte glaubt und zudem die Parallelität in der Konzeption der Schwesternpaare Antigone-Ismene und Elektra-Chrysothemis teils ignoriert, teils herunterzuspielen versucht. 18 Anders der Chor bei Euripides, El. 1175ff., φρονεῖς γὰρ ὅσια νῦν, τότ᾽ οὐ φρονοῦσα 1203. 19 Die Berufung auf Geschichten von der Befragung des Gottes in eindeutig unmoralischer Absicht (im Anschluß an die Fehldeutung bei Dion von Prusa 10, 23–32 Sheppard: Electra, 2–4, vgl. Kells (ed.): Sophocles, Electra, 4) ist eine petitio principii: die Widerrechtlichkeit der Tötung Klytaimestras steht ja gerade zur Debatte und sollte nicht auf dem Umweg über ‚Parallelen‘ aus anderen Autoren etabliert

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Weniger augenfällig ist auf den ersten Blick die Unangemessenheit einer weitverbreiteten Einschätzung von Elektras Charakter. Es sei ihre Tragik, daß sie, um ihren Standpunkt zu wahren, sich allzu weit der Sphäre Klytaimestras nähern, ja deren φύσις annehmen müsse; sie opfere mehr, als Aias und Antigone opfern, mehr als das Leben, nämlich ihre Persönlichkeit.20 Richtig ist daran nur so viel, daß Elektra ihre Maßlosigkeit in der Trauer um Agamemnon und im Wunsch nach Vergeltung selbst als Grund zur Scham empfindet (254. 616). Da Zurückhaltung der Inbegriff der Arete der Frau und mehr noch des Mädchens ist, bedeutet das, daß Elektra zugleich noch mädchenhaft empfindet, auch wenn sie bereits in eine Rolle hinübergewachsen ist, die mehr Einsatz, Selbständigkeit und Autorität von ihr verlangt, als in ihrer gesellschaftlichen Stellung vorgesehen ist. Solche Scham bringt sie nicht nur nicht in die Nähe Klytaimestras – die doch, anders als die euripideische Klytaimestra, keine Scham und keine Reue empfindet (549–551 gegen Eur. El. 1105ff.) – sondern setzt sie wirkungsvoll

werden. Seltsam Kells: ebd., 4: das Orakel treibe den unmoralischen Ratsuchenden zu seiner Tat „in order that he might the sooner complete his own destruction“. Wann erfolgte die ‚destruction‘ des Orestes? Bei Aischylos wurde er freigesprochen, was selbst Euripides mit seinen deis ex machina (El. 1233ff., Or. 1625ff.) respektierte. – Sehr klar zeigt Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, 285f., daß die Befragung des delphischen Orakels durch Xenophon (Anab. 3, l, 6 – herangezogen von Sheppard: Electra, 4, vgl. Kells (ed.): Sophocles, Electra, 4) mit der Situation des sophokleischen Orestes Schlichtweg nichts zu tun hat. – Der niveauvollste Vertreter der ironischen Interpretation, H. Friis Johansen, hat die Unhaltbarkeit von Sheppards Auffassung erkannt (Johansen: Die Elektra des Sophokles, 9), wird aber seinerseits der Bedeutung der „supematural agency“-vor deren Bagatellisierung schon Jebb gewarnt hatte (xlv) – keineswegs gerecht. Desgleichen versucht Armin Vögler: Interpretationen zur Datierung und zum Zeitverhältnis der beiden Elektren. Heidelberg 1967, 22–30 mit dem moralischen auch den religiösen Komplex herunterzuspielen (bes. 28, Anm. 58). Abzulehnen sei „die Deutung der Tragödie als Versuch des Dichters, den apollinischen Befehl und den Muttermord zu verteidigen“ (ebd., 27) – „verteidigen“ ist natürlich der falsche Ausdruck; im übrigen folgt aus der seit Kaibel bekannten Tatsache, daß Elektras Leid im Mittelpunkt steht, noch nicht, daß Sophokles hinsichtlich des Muttermordes unentschieden, unklar oder gar kritisch gegen Apollon wäre. – Zu dem schon in der Antike belegten Mißverständnis, daß 59–61 die Immoralität des Orestes zeige, vgl. Kaibel: Sophokles Elektra, 78. – Zu den Gebeten s. unten S. 15ff. 20 So vor allem Johansen: Die Elektra des Sophokles, 17. 31, vor ihm schon Winnington-Ingram: Sophocles, 22ff., Kirkwood: A Study of Sophoclean Drama, 167, nach ihm Segal: The Electra of Sophocles, 539, Gellie: Sophocles, 130, Kamerbeek (Hg.): The Plays of Sophocles, Part VII: The Oedipus Coloneus, 19.

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von ihr ab.21 Aber nicht erst die erschrockene Betroffenheit über die eigene Unbeugsamkeit trennt die Tochter von der Sphäre der Mutter, sondern zuvor schon das, wozu die Unbeugsamkeit die beiden Frauen jeweils führt: die Mutter zur Fortsetzung ihrer unmoralischen Ehe mit dem Komplizen des Mordes – Elektra spricht in wenig mädchenhafter Weise von Beischlafverhältnis und Kinderzeugen (272–274. 586–589) – sowie zur Mißhandlung und Entrechtung der rechtmäßigen Kinder (585–594. 1195f.), die Tochter hingegen zur freien Benennung des Verbrechens als Verbrechen. Trotz Elektras bitterem Wort αἰσχροῖς γὰρ αἰσχρὰ πράγματ᾽ ἐκδιδάσκεται (621) greift Klytaimestras tiefsitzender Mangel an moralischem Empfinden nicht auf sie über.22 Seltsam, daß Elektras Festhalten an dem als richtig Erkannten selbst unter Mißachtung der gesellschaftlichen Konventionen –

21 Daß Klytaimestra in Angst lebt (780ff.), kann selbstverständlich nicht als Ersatz für eine moralische Auseinandersetzung mit ihrer Lage gelten: sie vermag sich von ihrer Tat innerlich nicht abzusetzen (wie es die euripideische Klytaimestra versucht) und erfährt daher keine Milderung ihres Wesens. Vgl. unten S. 15f. mit Anm. 27. – αἰσχύνομαι 254 erklärt auch Alexanderson: On Sophocles’ Electra, 83 aus der Diskrepanz der Rolle Elektras „to the traditional view of a young woman’s behaviour“. Als positiven Zug deutet die „Sensibilität der Heldin“ Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, 292. 22 Elektra hält unbeirrbar an der Vergeltung für Agamemnons Tod fest (604f.); Klytaimestra mag sie dafür ruhig als schlecht, schmähsüchtig oder als ἀναιδείας πλέαν (607) hinstellen – wenn sie sich auf dergleichen üble Dinge versteht σχεδόν τι τὴν σὴν οὐ καταισχύνω φύσιν (609). Es gehört eine bemerkenswerte Naivität dazu, diese bitter-sarkastische Replik gleichsam als objektive Aussage über Elektras φύσις zu nehmen und zum Angelpunkt der Deutung ihrer Tragik zu machen. Weder der Ton der Worte noch der dramatische Kontext lassen es zu, in ihnen Sophokles’ eigenes Urteil über die Heldin zu sehen. Nachdem Klytaimestra im Streit um die Dike (516ff.) unterlegen ist, fällt sie auf den Vorwurf des Verstoßes gegen das gesellschaftlich Schickliche zurück (‚gegen die Mutter‘, ‚in diesem Alter‘ 613f., vgl. 516–518) – ein Vorwurf, gegen den eine Natur wie Elektra (eine εὐγενὴς γυνή 257, καλῶς πεφυκυῖα 989) empfindlich sein muß, zumal sie sich ihre die Konventionen durchbrechende Rolle nicht selbst ausgesucht hat. μανθάνω δ᾽ ὁθούνεκα ἔξωρα πράσσω κοὐκ ἐμοὶ προσεικότα (617f.): ‚mir nicht geziemend‘: das Recht gegen die Königsmörder zu vertreten, käme vielmehr Orestes zu, und zwar durch die Tat (305); Elektras Worte (625) sind nur ein erzwungener Ersatz, der Klytaimestras ἔργα (ebd.) nicht aufwiegen kann. Wer hier von Annäherung der Naturen spricht, verkennt den dramatischen Stellenwert der Vorwürfe in der Auseinandersetzung der beiden Frauen: als Elektra nachweist ὡς οὐ δίκηι γ᾽ ἔκτεινας, ἀλλὰ σ᾽ ἔσπασεν πειθὼ κακοῦ πρὸς ἀνδρὸς 561f., bleibt Klytaimestra in der Tat nichts Besseres als zu sagen ὦ θρέμμ᾽ ἀναιδές 622. – Elektra ist in dieser Szene weit davon entfernt, sich selbst des Mangels an εὐσέβεια zu zeihen (nicht einmal Klytaimestra wirft ihr das vor). In ganz anderer Situation sagt sie zum Chor: ἐν οὖν τοιούτοις οὔτε σωφρονεῖν, φίλαι, οὔτ᾽ εὐσεβεῖν πάρεστι (307f.). Wäh-

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ein Festhalten, wie es für die großen Gestalten des Sophokles kennzeichnend ist – verwechselt werden konnte mit der Negation von Sittlichkeit, für die Klytaimestra steht. Daß Elektra in einer anderen Sphäre lebt als Klytaimestra, zeigt auch die von allen einsichtigen Interpreten bewunderte, tiefe Menschlichkeit der Wiedererkennungsszene.23 Zu sagen, Sophokles habe Elektra ihrer Mutter angenähert, heißt überdies alle jene zahlreichen Stellen übersehen, an denen ihre adelige Natur und ihre Verpflichtung gegenüber dem καλόν und der εὔκλεια hervorgehoben werden (236ff. 257. 968ff. 1023. 1051. 1081). Ein weiteres Thema, das Sophokles in unterschiedlicher perspektivischer Beleuchtung zeigt, ist das der Freiheit. Auch hier macht es die Art der Entgegensetzungen deutlich, welche Perspektive sich der Zuschauer nach dem Willen des Dichters zu eigen machen soll. „Du streunst wieder frei umher, weil Aigisthos nicht zuhause ist“ – mit dieser Beschimpfung beginnt Klytaimestra ihren Auftritt (516). Umherstreunen ist ein negatives Bild der Freiheit – doch ist es die einzige Freiheit, die Elektra geblieben ist, und auch sie soll demnächst beendet werden durch ihre geplante Einkerkerung (379–382). Nach der Nachricht vom Tod des Orestes kann Klytaimestra frei aufatmen (773ff.). Die Verbrecherin straffrei auf immer – auch das ist ein anderes, kraß negatives Bild der Freiheit. Chrysothemis will standesgemäß leben, als Freie – daher ist sie bereit zu tun, was man von ihr verlangt (339f.). Mit dieser entlarvenden Äußerung verschiebt sich der Begriff von Freiheit vom Sozialen zum Ethischen. Solche Freiheit durch Willfährigkeit ist nicht Elektras Sache, für sie wird es Freiheit erst nach der Tat geben (970, vgl. 1256. 1300). Indes zeigte schon ihre Auseinandersetzung mit Klyrend Jebb erklärt hatte, Elektra klage hier über die Verletzung der Pietät gegen die Mutter, erkannte Kaibel: Sophokles Elektra, 116f. den dramatischen Kontext: diese Worte sind als Gegenstück zum Abschluß der Parodos (249f.) gedacht, Elektra „erklärt, daß die verhaßten Mörder ihr εὐσέβεια und σωφροσύνη unmöglich machen, d. h. Vertrauen auf Zeus (174) und Mäßigung“; „dass 308 nicht die εὐσέβεια gegen die Mutter gemeint ist, scheint sicher: die hat niemand von ihr verlangt“. Nichtsdestoweniger fährt man fort, die Aussage von 614–621 mit der von 307–309 gleichzusetzen und Elektras Tragik in ihrem Mangel an εὐσέβεια gegen die Mutter zu sehen – so als wäre es in einem Drama gleichgültig, was wann zu wem gesagt wird. – Der Deutung Kaibels kommt Alexanderson: On Sophocles’ Electra, 83 sehr nahe, ist aber weniger präzis. 23 Nichts zeigt den Abstand Segals von Sophokles klarer als seine Versicherung (Segal: The Electra of Sophocles, 543), Elektra entbehre der sanfteren Züge einer Antigone. Das Gegenteil betonten zu Recht schon Jebb xlii und Kaibel: Sophokles Elektra, 51f., neuerdings z. B. Ivan Mortimer Linforth: Electra’s Day in the Tragedy of Sophocles. In: University of California Publications in Classical Philology 19 (1963), 89–125, hier: 118.

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taimestra, daß sie, die wie eine Sklavin gehalten wird, die einzige Freie ist in diesem Haus. Wer die Bedeutung des Themas Freiheit verfolgt, wird auch die Athetese der Schlußverse, in denen der Chor von der erreichten Freiheit des Atridenhauses spricht, nicht billigen.24 Die Handlung des Stückes zeigt sich demnach als das Festhalten Elektras an εὐσέβεια und δίκη, wozu sie einzig ihre edle Natur befähigt, ihre Orientierung am καλόν und an der εὔκλεια; das Ziel dieses Festhaltens ist die Wiedergewinnung der verlorenen moralischen ἐλευθερία des Atridenhauses. Die Sinndeutung des Stückes gibt Sophokles durch die dramatische Ausdifferenzierung der Begriffe von εὐσέβεια, εὔκλεια und ἐλευθερία im Widerspiel der drei Figuren Klytaimestra, Chrysothemis und Elektra. Da in der Tat der Rache für Elektra Ruhm, Freiheit und Pietät gegen den Vater (die Ζηνὸς εὐσέβεια 1097) eins werden müßten, ist die Szene, die zu ihrem Entschluß führt, als der erste Höhepunkt des Stückes zu betrachten.25 In der Wiedererkennungsszene erfährt sie, daß Orestes in göttlichem Auftrag kommt (1264–1270); sie ordnet sich ganz dem Bruder unter, womit sie zwar auf eigenes κλέος (985, vgl. 60) durch die Tat verzichtet, zugleich aber ihre die Normen durchbrechende Führungsrolle aufgibt (damit aber auch den eigentlichen Grund ihrer bisherigen αἰσχύνη 616) und damit ihre εὐσέβεια als ihren bestimmenden Wesenszug erweist.

24 Die Begründung der Athetese bei Roger David Dawe: Studies in the Text of Sophocles, Bd. I. Leiden 1973, 203f. beansprucht selbst nicht, über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinauszukommen (auf bloßen Verdacht hin pflegt man freilich keine Athetese vorzunehmen). Segal: The Electra of Sophocles, 545 erklärt die Schlußanapäste für bedeutungslos. Er sieht nicht, daß der dreifach variierte Anspruch auf Freiheit (Klytaimestra, Chrysothemis, Elektra) in den Kern der Figurenkonstellation hineinreicht und daß das Freiheitsmotiv das ganze Stück durchzieht; die Nichtbeachtung strukturbestimmender Momente ist charakteristisch für Segals lyrizistisches Mißverständnis des Dramas als einer „meditation an waste and death“. Das Freiheitsmotiv erwähnt Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, 300 erst anläßlich der Schlußanapäste, deren Abwertung er jedoch, wie Alexanderson: On Sophocles’ Electra, 97, zurückweist. Auf die Athetese Dawes geht Erbse nicht ein. 25 Es geht nicht an, Elektras Entschluß abzuwerten (so etwa Tycho von Wilamowitz-Moellendorff: Die dramatische Technik des Sophokles. Berlin 1917, 198: „ganz unwirklich und unglaubhaft“; Gellie: Sophocles, 120: „Electra's competence to act is absurdly inadequate for the task ahead“). Gegen Antigones Entschluß ließen sich die gleichen Einwendungen erheben (vgl. z. B. Ant. 61 mit El. 997); doch sie bedeckt ihren Bruder mit Staub, ob Ismene sie für handlungskompetent hält oder nicht. Die richtige Einschätzung von Elektras Entschluß gaben z. B. Max Pohlenz: Die griechische Tragödie, 2 Bde. Göttingen 21954 [1930], Bd. I, 340f, Whitman: Sophocles, 168f., Steidle: Studien zum antiken Drama.

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Alle wesentlichen Schritte des Dramas werden von Gebeten begleitet.26 Entscheidend ist wieder der Kontrast in der Behandlung. Dabei kommt es nicht einmal primär darauf an, daß Elektras Gebet erhört wird, Klytaimestras Gebet hingegen nur scheinbar (in der Trugbotschaft); wichtiger ist, daß Sophokles eine Klytaimestra darstellt, die selbst empfindet, daß ihr Gebet um Vernichtung ihres Rächers unmoralisch ist: sie wagt es nicht, es offen auszusprechen, redet in Andeutungen zum Gott. Auch ihr Opfer am Grab Agamemnons ist οὐχ ὅσιον (433), weswegen selbst die fügsame Chrysothemis sich dazu bewegen läßt, es umzukehren und am Grab für die Verwirklichung der Rache zu beten: dieses Gebet läßt sich offenbar frei aussprechen. (Es kommt nicht darauf an, daß wir heute – vor einem geistesgeschichtlichen Hintergrund, der durch das Christentum mitbestimmt ist – beide Gebete für gleich unmoralisch zu halten geneigt sind, sondern allein darauf, wie Sophokles sie darstellt.) Vor dem Hintergrund solcher Gebete läuft die Tat ab. Schrecklich ist sie, und Sophokles hat nicht versäumt, sie schrecklich darzustellen. Aber er hat auch nicht versäumt, ihr einen eigenen Hintergrund von Schrecklichkeiten und Greueln aufseiten Klytaimestras zu geben, die über das bloße Faktum des Gattenmordes weit hinausgehen. Klytaimestra hatte beim Mord an Agamemnon auch ihren Sohn Orestes umbringen wollen, was Sophokles nicht beiläufig einmal erwähnt, sondern immer wieder in Erinnerung ruft, mit gleichmäßiger Verteilung über das Drama (11. 601. 1133. 1348–52. 1411). Man beachte das Gewicht dieser Neuerung: in Aischylos’ Agamemnon war Orestes abwesend zur Zeit des Mordes (1646. 1667). Klytaimestra will Elektra, die sie bisher schon wie eine Sklavin hielt (189–192. 814. 911f.1192 . 1196), nunmehr mundtot machen durch Einkerkerung in einem lichtlosen Verlies (379–382). Und als die Nachricht vom Tod des Orestes kommt, wünscht sie in wenig verhüllter Sprache auch Elektra den Tod (791). Die euripideische Klytaimestra hingegen hatte Elektra vor dem Tod durch Aigisthos bewahrt (Eur. El. 27f.) – sie empfindet ja auch Reue (1105–1110). Anders die sophokleische: sie feiert den Mord an Agamemnon allmonatlich, läßt dabei Reigen aufführen (275–281). Solche Hybris wäre an sich schon ein Grund für die Nemesis einzugreifen. Doch wie sah die Tat aus, die sie feiert? Es war nicht einfach Mord; der Leichnam war von Klytaimestra zerstückelt worden in dem grausigen archaischen Ritus 26 Orestes: 67–72 (vgl. 1374f.); Klytaimestra verwünscht Elektra 219f., sendet Chrysothemis ans Grab 406, betet zu Apollon 637–659; Chrysothemis’ Gebet am Grab (von Elektra formuliert) 453–458; Elektra: 110–120. 209–212. 411. 792. 1376– 1383; was der Chor über Zeus sagt (173ff. 824ff. 1063ff. 1090ff.), kommt formellen Gebeten sehr nahe.

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des μασχαλισμός, den Sophokles im Gegensatz zu Euripides ausdrücklich erwähnt (445, nach Aisch. Choeph. 439). Diese Zerstückelung war nach der Deutung von Erwin Rohde ein primitives kathartisches Opfer, mit dem zugleich der Tote, das heißt seine ψυχή, zur Rache unfähig gemacht werden sollte.27 Klytaimestra hatte also geglaubt, die Schuld abwenden und letztlich straffrei bleiben zu können.28 Wer weiß, was Elektra zu rächen hat, wird ihre leidenschaftliche Anteilnahme an der Tat gewiß immer noch schrecklich, oder vielleicht besser: erschütternd finden, wird sich aber vor einer Umkehrung des Sinnes der Szene in einer sogenannten ironischen Interpretation hüten. Die Züge der Schlußszene, die für modernes Empfinden so anstößig scheinen, ließen sich dann im einzelnen etwa wie folgt erklären: (1) Das berüchtigte παῖσον, εἰ σθένεις, διπλῆν steht, wie längst bekannt, innerhalb einer Aischylosreminiszenz: auch Agamemnon starb durch zwei Todesschläge. Daß hier die Aufforderung zum zweiten Schlag von Elektra kommt, zeigt zwar ihre entsetzliche Lage, macht sie indes nicht zu einem mordgierigen Geschöpf, sondern deutet an, daß sie an der vollen Vergeltung für Agamemnon festhält. Wenn das bisher im Stück δίκη war, so wird es nicht durch die emotionale Intensität des entscheidenden Augenblicks zum Verbrechen.29 (2) Auch die Worte des Orestes nach der Tat: es stehe gut, καλῶς, ᾽Απόλλων εἰ καλῶς ἐθέσπισεν, sind als Reminiszenz zu hören, nicht an Aischylos, sondern an den letzten Auftritt der Klytaimestra im vorliegenden Stück. Als Klytaimestra glaubte, Orestes sei tot, hatte sie gesagt, es stehe gut, καλῶς, mit ihm und gewünscht, mit Elektra solle es ebenso gut stehen (791/3). Doch ihr Traum von Freiheit durch den Tod 27 Psyche 1 (1898² = 1961) 322–326. 28 Die Bedeutung des vernichtenden Bildes vom Wesen Klytaimestras – mit dem Sophokles noch über Aischylos hinausgeht – für die Konzeption des Stückes war in der älteren Literatur nie verkannt worden (vgl. z. B. Pohlenz: Die griechische Tragödie, Bd. I, 335. 340: „Unser sittliches Urteil über den Muttermord wird hier festgelegt“). Kells hingegen glaubt, Sophokles habe Klytaimestra zu einer großen tragischen Figur machen wollen und in der Botenszene vollends unsere Sympathie für sie beanspruchen wollen (Kells (ed.): Sophocles, Electra, Introduction 7f.). Kells ist so gerührt von der kurzen (und nicht ganz eindeutigen) Trauer Klytaimestras um Orestes (766ff.), daß er hier „the very centre of the play“ ansetzt. Viel Sinn für dramatische Struktur zeigt dieses Urteil kaum. 29 Den Vers 1415 fand Albin Lesky in der 2. Auflage der Tragischen Dichtung der Hellenen „an der Grenze des Erträglichen“ (Albin Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen 31972, 125), in der dritten heißt es: „Äusserste Steigerung bringt der Vers 1415“ (236). Zweifellos drückt das erste Urteil die unreflektierte Reaktion eines Lesers des 20. Jahrhunderts gut aus. Doch δεύτεραι φροντίδες sind angebracht gegenüber unseren spontanen Impressionen.

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ihrer Kinder war Hybris, Elektra rief die Nemesis an. Die jetzt erreichte Freiheit Elektras, durch die Orestes sein Wort καλῶς im nächsten Vers erläutert, ist nicht Hybris, sondern gottgewollt. Man verfehlt den von Sophokles hergestellten Sinnzusammenhang, wenn man die Verknüpfung des jeweiligen καλῶς mit dem jeweiligen Freiheitsanspruch ignoriert.30 Aber nur in dieser dramenwidrigen Isolation lassen sich Orestes’ Worte Άπόλλων εἰ καλῶς ἐθέσπισεν als Variation des euripideischen ὦ Φοῖβε, πολλήν γ᾽ ἀμαθίαν ἐθέσπισας (El. 971) lesen. In ihrem sophokleischen Kontext – Apollon verhieß Sieg durch List; und Apollon verwarf Klytaimestras, erhörte Elektras Gebet – stellen sie sich weit eher zum aischyleischen εἰ καρπὸς ἔσται θεσφάτοισι Λοξίου (Septem 617), wo das Wissen um die Unfehlbarkeit von Apollons Spruch)31 in sprachlich gleicher Form32 zum Ausdruck gebracht ist. (3) Elektras Absicht, Aigisthos den Hunden und

30 Kirkwood: A Study of Sophoclean Drama, 241 n. 22 stellt die Stellen zu καλῶς (außer den genannten noch 816. 1340. 1345) nebeneinander, ohne auf das Thema Freiheit einzugehen, und schließt von der gegensätzlichen Verwendung dieser Stellen auf eine „atmosphere of shadow and questioning“. Der Schluß wäre zwingend, wenn ein dramatischer Text die gegnerischen Urteile wirklich nur nebeneinandersetzte, statt sie zielorientiert in ihrer Wechselwirkung zu zeigen (vgl. das oben Anm. 16 zu Gellie und Segal Bemerkte). Weitere Beispiele isolierender Behandlung sind Johansen: Die Elektra des Sophokles, 27, Segal: The Electra of Sophocles, 534 n. 79; Winnington-Ingram sieht die Verknüpfung der Motive, zieht jedoch bei seinem mangelnden Blick für die Bedeutung des Geschehens nicht die nötigen Folgerungen. 31 Amphiaraos hat dieses Wissen als Seher; die Bestätigung ist von vornherein gewiß. In der Elektra ist die Bestätigung, wie in OT, zunächst in der Schwebe gehalten. Elektra sieht im Traum Klytaimestras einen göttlichen Wink (459f.), und der Chor macht seine Erfüllung zur Probe für die Verläßlichkeit von Träumen und Orakeln in Versen, die deutlich an das zweite Stasimon in OT anklingen (El. 502 εἰ μὴ τόδε φάσμα νυκτὸς εὖ κατασχήσει ~ OT 901 εἰ μὴ τάδε χειρόδεικτα πᾶσιν ἁρμόσει βροτοῖς). Für die ‚ironische‘ Interpretation endete das Traumgesicht nicht gut, sondern in moralischem Desaster – Grund genug für subtile Leser, sophokleische Zweifel an den μαντεῖαι (499) ausgedrückt zu finden. Wäre es nicht an der Zeit für eine ‚ironische‘ Deutung auch des Orakelstückes OT? 32 εἰ-Satz mit der Bedeutung ‚wenn doch, wenn anders, so wahr doch‘. – Jebb hatte den Gegensatz zu Aisch. Choeph. 1016f. hervorgehoben und von der „calm confidence“ in Orestes’ Worten gesprochen. Kaibel wollte keinen anderen Orestes als den aischyleischen („auch sein [Soph.’] Orest hat die Erinyen gesehen“, Kaibel: Sophokles Elektra, 303) und sah „nagende Gewissenszweifel“ (ebd., 302) in 1425. Wie Kaibel urteilte Bowra: Sophoclean Tragedy, 253, der gleichfalls mehr über Orestes weiß als Sophokles (zu seiner Interpretation Waldock: Sophocles the Dramatist, 189: „This is sener reconstruction. Mr. Bowra is here not interpreting the play, he is indulging himself with rewriting it.“). Seit Bowra ist es üblich, die pessimistische Deutung als die einzig denkbare hinzustellen, obschon m. W. noch

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Geiern auszusetzen, ist schockierend, gerade beim Autor der Antigone. Doch antwortet sie auf eine gräßlichere Tat: die Zerstückelung Agamemnons. Im übrigen sollten wir nicht von der Annahme ausgehen, daß Sophokles’ Dramen ein ethisches Lehrgebäude bilden, in dem das Bestattungsmotiv stets in gleichem Sinne behandelt sein müßte.33 (4) Die Weigerung der Kinder Agamemnons, Aigisthos’ Rechtfertigung anzuhören, sollte nicht als Zeichen der moralischen Schwäche mißdeutet werden. Recht und Unrecht sind längst ausdiskutiert. Orestes als von Apollon gesandter Entsühner hat es nicht nötig, in einen euripideischen Redeagon mit dem Mörder seines Vaters und Buhlen seiner Mutter einzutreten. Er ist auch keineswegs unsicher geworden, so wenig wie Elektra gebrochen ist. Das letzte Wort des vermeintlich verunsicherten Orestes vor der Aigisthosszene ist charakteristischerweise θάρσει, τελοῦμεν (1434). (5) Das Wort des Aigisthos von den μέλλοντα Πελοπιδῶν κακά (1498) ist schwerlich geeignet, das Drama zum Ende hin offen zu halten. Daß es auf der drameninternen Kommunikationsebene (Aigisthos-Orestes) Aigisthos’ eigenen Tod meint, geht nicht nur aus Orestes’ Antwort τὰ γοῦν σά (sc. μέλλοντα κακά) hervor,34 sondern vor allem daraus, daß die κακά des Orestes, die der Mythos auf die Tat folgen ließ, nicht den Palast in Mykene zum Schauplatz hatten,

niemand bezweifelt hat, daß Jebbs Deutung sprachlich nicht anfechtbar ist. Eine Ausnahme ist Linforth: Electra’s Day in the Tragedy of Sophocles, 124, der beide Deutungen nebeneinander aufführt und auch zugibt, daß Elektra die Worte in zuversichtlichem Sinn verstehen muß (den gegenteiligen Sinn müsse der Leser ergänzen; hierzu vgl. unten Anm. 35). Auch Johansen: Die Elektra des Sophokles, 27 weiß, daß Orestes’ Antwort „in sich mehrdeutig“ ist, hält aber die pessimistische Deutung durch die Aischylosreminiszenz (in 1415f.) für gesichert. – Die Parallele Aisch. Sept. 617, die Inhalt und sprachliche Form abdeckt, gab schon Pohlenz: Die griechische Tragödie, Bd. II, 95. Während Alexanderson: On Sophocles’ Electra, 92 es für unmöglich hält, zwischen den zwei Deutungen des εἰ-Satzes zu entscheiden, bringt Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, 287f. eine überzeugende sprachliche Erklärung und Parallelen aus Sophokles, die für die zuversichtliche Deutung sprechen. 33 Die gänzlich untergeordnete Rolle, die Sophokles diesem Motiv hier zuweist, mag verständlich machen, warum er auf eine Entfaltung der ethischen Implikationen verzichten konnte. – Die Ansicht von Bowra: Sophoclean Tragedy, 255, Elektra denke bei ταφεῦσιν 1488 nicht an Hunde und Vögel, wird mit Recht allgemein abgelehnt. 34 So Bowra: Sophoclean Tragedy, 258, zustimmend Gilberte Ronnet: Sophocle poète tragique. Paris 1969, 215.

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wie es die Stelle doch verlangen würde.35 Auf der äußeren Kommunikationsebene (Autor-Publikum) mag in der Antwort τὰ γοῦν σά mitschwingen, daß auch für Orestes κακά folgten. Aber wenn wir schon auf das Wissen des Zuschauers von einer im Text nicht repräsentierten ‚Wirklichkeit‘ rekurrieren wollen – warum dann nicht auf sein volles Wissen von dieser Wirklichkeit? Zu ihr gehörte jedenfalls auch, daß die κακά des Orestes von gänzlich anderer Art waren als die Morde, die der Palast in Mykene gesehen hatte: statt neuem Mord folgte schließlich der Freispruch. Und für Elektra sah der Mythos, wie man weiß, nicht einmal die Verfolgung durch die Erinyen vor. Ein ‚offenes‘ Ende müßte jedoch vor allem auf die Zukunft der Hauptperson hindeuten. Wenn daher Sophokles die im ganzen Stück sorgfältig vorbereitete Linie des Freiheitsmotivs in den Schlußanapästen zu Ende führt, so versteht der Zuschauer, daß die vielleicht noch zu erwartenden Erinyen der Mutter – auf die Sophokles, um es abermals zu sagen, nirgends im Stück vorausweist36 – der mit der ‚heutigen Unternehmung‘ eingeleiteten Freiheit des Atridenhauses letztlich nicht hinderlich sein können. Er versteht, mit anderen Worten, daß Sophokles die anders gearteten Leiden des Orestes, die an andere Stätten gebunden waren, übergehen konnte, da ja auch seine Schuld – wenn denn Sophokles wirklich an eine Schuld des Orestes geglaubt haben sollte – eine anders geartete, von Gott veranlaßte Schuld war.

35 1497f. ἦ πᾶς᾽ ἀνάγκη τήνδε τὴν στέγην ἰδεῖν τά τ᾽ ὄντα καὶ μέλλοντα Πελοπιδῶν κακά; Vögler: Interpretationen zur Datierung und zum Zeitverhältnis der beiden Elektren, 31, Anm. 68 übersieht den Zusammenhang, wenn er dekretiert, es werde hier „allein auf die kommende Verfolgung Orests durch die Erinyen angespielt“. – Gegen die Beziehung der künftigen Leiden auf Orestes auch Alexanderson: On Sophocles’ Electra, 96f., Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles, 298 (mit Hinweis auf den Schauplatz Mykene). 36 Aufgrund dieses Mangels an Vorbereitung bleibt es zweifelhaft, ob wirklich „the spectators will perceive the ironical implication (sc. of 1498)“, wie Linforth: Electra’s Day in the Tragedy of Sophocles, 124 meint; mehr noch gilt dies für 1425, wo er gleichfalls Ironie anerkennt. Im übrigen spricht nichts dagegen, an diesen Stellen mit Linforth die ‚ironische‘ Zusatzbedeutung gelten zu lassen, solange man diese ‚Ironien‘ nicht zu einer Umkehrung der dramatisch explizit gemachten Wertungen des Stückes aufbläht (Linforth ist einer der wenigen neueren Interpreten, die diesen Irrtum vermeiden, und er ist erfreulich klar in diesem Punkt) und solange man sich ferner im klaren darüber ist, daß sie so wenig eindeutig im Text verankert sind, daß ihre Wirkung vielmehr ganz und gar von Inszenierung und Vortragsweise abhängt. Mir ist kein moderner Dramatiker bekannt, der die wesentlichen Züge der Deutung seiner Stücke von Imponderabilien des Vortrags abhängig gemacht hätte. In der Antike ist das noch weniger denkbar.

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2. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas

Die ironische Interpretation erwies sich uns – trotz ihres Auftretens als differenzierte, ‚subtile‘ Lösung – als bedingt durch eine wenig differenzierte, einseitige Art der Auswertung der vom Dichter gesetzten Bewertungssignale. In redlichem Entsetzen über den Muttermord findet man es unerträglich, daß die vertrauten Erinyen fehlen sollen. Hat man die Unentbehrlichkeit der Rachegöttinnen einmal vorausgesetzt, so grinsen sie einem allenthalben hinter ‚Ironien‘ und ‚Doppeldeutigkeiten‘ entgegen.37 Indes ist es eine naive und literaturfremde Art des Zugangs, unsere Wertungen mit der Tat selbst direkt in Beziehung zu setzen.38 Hierfür brauchte der Dichter kein kompliziertes Gefüge von gegensätzlichen Charakteren, Urteilen und Handlungsweisen aufzubauen. Vielmehr gilt es, im Durchgang durch die Figurenperspektiven die vom Autor intendierte Rezeptionsperspektive zu ermitteln. Ebenso gilt es, die Strukturgesetze sophokleischer Ironie im Auge zu behalten. Dazu gehört, daß als die gültige Wirklichkeit, gegen die sich das ironisch Umzudeutende abheben soll, die vom Dichter gestaltete und gedeutete Wirklichkeit zu nehmen ist. Ferner gehört dazu, daß dem Opfer der ironischen Täuschung die Auflösung des tragischen Scheins zu-

37 Winnington-Ingram äußert selbst den Verdacht, seine Interpretation könnte auf einer petitio principii beruhen: „To say ... that Orestes and Electra are taking over the roles which, in the earlier phase, were played by Aegisthus and Clytemnestra, may seem to beg a question“ (Winnington-Ingram: Sophocles, 244). Es scheint nicht nur so, es ist so. Wenn Winnington-Ingram etwa sagt: „No pursuit by Furies; then ... no reconciliation of the Furies (ebd., 227)“, so ist deutlich, daß die Furien für ihn ganz einfach da sind, ob sie im Text da sind oder nicht. 38 Lesenswert sind Waldocks Bemerkungen über jenen Grundfehler der Literaturbetrachtung, den er „the documentary fallacy“ nennt – die Behandlung literarischer Texte als Berichte aus der Wirklichkeit, bei denen in der Tat alles, was zur Wirklichkeit gehört, zum Zwecke besseren Verständnisses hinzuergänzt werden darf. „Electra ought, perhaps, to be riven with conflicts, but that does not give us the right to conclude that she is.“ – „We may be very grieved by these facts and be extremely sorry for Electra. But how if she is not sorry for herself?“ (Waldock: Sophocles the Dramatist, 188). – Ein weiteres Mißverständnis literarischer Grundkategorien zeigt sich bei Segal: er glaubt von der düsteren Atmosphäre (von der er ein maßlos überzogenes Bild gibt) unmittelbar auf die Aussage schließen zu können (vgl. 519. 540. passim). Gewiß ist die Atmosphäre des Stückes nicht fröhlich – wie sollte sie es sein angesichts der Leiden der Vergangenheit? Die immer wieder begegnende Antithese zwischen der langen Leidenszeit und der bevorstehenden Wende (zwischen χρόνος und καιρός 22. 75. 179. 330. 477. 782. 916–919. 1013f. 1255. 1273. 1292. 1338. 1368. 1464f.) zeigt jedoch, daß alles auf die Überwindung der finsteren Vergangenheit angelegt ist. Nach Segals Interpretation müßten wir glauben, Sophokles habe die χρόνος-καιρός-Antithese nur eingeführt, um ‚anzudeuten‘, daß Elektras lange Leidenszeit durch den καιρός der Tat in einen neuen μακρὸς χρόνος der Düsternis und der moralischen Verfinsterung überführt wird.

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teil wird. Ein ironisch offenes Dramenende, bei dem der Zuschauer das eigentlich Gemeinte erst zu ergänzen hätte, entspricht nicht dem sophokleischen Gebrauch der Ironie. Solch ein Offenhalten zum Schluß hin wäre hingegen die konsequente dramatische Lösung, wenn zweierlei gegeben wäre: einmal ein Zweifel des Dichters an der Fähigkeit des Einzelnen, das Richtige klar zu erkennen und frei zu ergreifen. Zweitens die Verlagerung des dramaturgischen Interesses von der großen individuellen Gestalt auf die unentwirrbare feindliche Verkettung partieller Interessen von gleichem Format. Beides ist, wie man weiß, charakteristisch für die Sehweise des Euripides. Und beides ist, wie wir sahen, unvereinbar mit der Konzeption des Hauptteils der sophokleischen Elektra. Es bleibt noch zu fragen, worauf die Mißdeutbarkeit der Elektra und die Verwirrung, die sie immer wieder auslösen wird, beruhen. Es ist dies, wie ich glaube, erklärlich letztlich nur aus einer Eigenheit der anthropologischen Konzeption des Sophokles, die wir stets zu vergessen geneigt sind, weil sie eine Negation unseres christlichen Erbes bedeutet: ich meine den Platz, den er im menschlichen Leben der Liebe und dem Haß zuweist. Albin Lesky spricht in seiner abschließenden Würdigung des Sophokles davon, daß seine großen Gestalten „große Liebende“ sind.39 Dem werden alle, die Sophokles kennen, gerne zustimmen. Und doch fehlt hier etwas. Denn diese Gestalten sind auch unerbittlichen, wahrhaft großen Hasses fähig. Für sie gibt es keine Vergebung und keine Minderung des Hasses: für Aias nicht gegenüber den Atriden, für Antigone nicht gegenüber Kreon, für Philoktetes gegenüber Odysseus nicht. Und Oedipus, der mit so tiefer Liebe zu seinen Töchtern spricht, verflucht seine Söhne mit der Unerbittlichkeit eines Gottes. Gewöhnlich ist nun der Umstand, daß der Haß des Helden bis zuletzt nicht aufgelöst wird, durch etwas anderes überdeckt: im Aias durch den Streit um die Bestattung, in der Antigone durch die verspätete Umkehr Kreons, im Philoktetes durch die Erscheinung des Herakles, im zweiten Oedipus-Stück durch die Entrückung. Die Elektra hat die dramaturgische Besonderheit – bedingt wohl durch die Anlehnung an den Mythenvorwurf bei Aischylos – daß der Haß der Heldin gerade in der letzten Szene bestimmend bleibt, während Elektras Liebe, ihre ergreifende und überwältigende Liebe zum Bruder, zuvor schon in der Anagnorisisszene sich ausspricht. Wenn wir nur in der Elektra dieser Szene die ‚unverdorbene Elektra‘ 40 sehen, wenn wir mit anderen Worten die Liebe zum Edlen

39 Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen, 273f. 40 So Johansen: Die Elektra des Sophokles, 31.

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vom Haß gegen das Niedrige trennen wollen, so erhalten wir lediglich einen Sophocles dimidiatus. In der christlichen Tradition stehend, sind wir gewohnt, Humanität als Überwindung des Hasses in der Vergebung zu sehen. Es ist ein seltsames Phänomen, über das sich sowohl geistesgeschichtlich als auch moralphilosophisch nachzudenken lohnen würde, daß das sophokleische Menschenbild, in dem der unauslöschliche Haß des Helden gegen alles Gemeine und Widerrechtliche bestehen bleibt und bestehen bleiben muß, daß diese gänzlich andere Wertung von Liebe und Haß trotz der 2000jährigen christlichen Tradition stets als Bild großer Humanität empfunden wurde. Und wenn das Nachdenken hierüber nichts anderes brächte, dann wenigstens eine angemessenere Einschätzung der Gestalt Elektras.

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3. Der angeklagte Ödipus: Zum Charakter des Titelhelden im Oedipus Coloneus (2007)*

1.

Sophokles’ letztes Stück ist in mancher Hinsicht ein Rätsel. Zwei Besonderheiten sind es vor allem, die die Interpretation des Oidipus auf Kolonos (OK) erschweren und unsicher machen. Einmal gilt der OK als ein Drama von eigener Art, das nicht denselben Typus von Konflikt zum Gegenstand hat wie die anderen erhaltenen Stücke des Sophokles und der anderen Tragiker, und deswegen auch nicht mit demselben Gattungsnamen ‚Tragödie‘ belegt werden sollte. Zweitens ist der OK, obwohl ein Einzelstück wie alle Dramen des Sophokles, mit einer Deutlichkeit auf ein anderes bezogen und in seinem Gehalt so eng mit diesem verknüpft, wie es selbst bei den Teilen der einzigen erhaltenen Trilogie, der Oresteia des Aischylos, kaum der Fall ist: das zweite Ödipus-Stück verweist fast noch deutlicher und intensiver auf das erste Stück als die Eumeniden auf die Choephoren. Als Drama mit einem ganz ungewöhnlichen Konflikt und daher schwer bestimmbarer Wirkungsabsicht, das zugleich ungewöhnlich eng an ein anderes, selbst schwer deutbares Stück gebunden ist, wird der OK die Interpreten auch künftig vor schwer lösbare Fragen stellen. Ich kann nicht versprechen, daß durch meinen Beitrag das Rätsel des OK geringer werden oder verschwinden wird. Ich hoffe nur, das Problem deutlicher machen zu können als es in manchen Interpretationen erscheint und zeigen zu kön-

* Geringfügig abgeänderter Text eines Vortrags, der auf Einladung der Organisatoren J. Davidson und F. Muecke im Rahmen des internationalen Kongresses „Greek Drama“ im Juli 2002 an der Universität Sidney in englischer Sprache gehalten wurde. Im November desselben Jahres konnte ich den deutschen Originaltext den Kollegen an den Universitäten Göttingen und Münster vortragen, im April 2006 eine gekürzte italienische Fassung auf Einladung von L. E. Rossi an der Sapienza in Rom. Ich danke den Diskussionsteilnehmern an allen vier Orten sehr herzlich für ihre Kritik.

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3. Der angeklagte Ödipus. Zum Charakter des Titelhelden im Oedipus Coloneus

nen, daß wir die Lösung nicht in der Herabsetzung des Charakters des Ödipus suchen sollten.1 Vorweg noch einige Hinweise zur doppelten Schwierigkeit des OK. (1) Das Einzigartige dieses Spiels besteht darin, daß der Tod der Hauptfigur von ihr selbst erstrebt wird, während seine Gegner ihn hinauszögern würden – eine paradoxe Verkehrung der Absichten der Kontrahenten, wie wir sie aus normalen Konfliktsituationen kennen. Und während der Tod sonst als Verhängnis, als Strafe oder Sühne für ein Vergehen gedeutet wird, ist er hier eine Gnade der Götter, etwas unzweifelhaft Gutes für den Sterbenden. So weit ist diese Situation entfernt von Konflikten in anderen Tragödien, daß man fragen muß, ob das Drama dieselbe Wirkungsabsicht haben kann wie die, die man gemeinhin der Tragödie zuschreibt. Wenn die Tragödie wirklich die Absicht hat, wie Aristoteles meinte, die Affekte Schrecken und Jammer (oder Furcht und Mitleid, φόβος καὶ ἔλεος) zu erregen und zugleich von ihnen zu befreien, so fällt es schwer, im OK Mitleid zu empfinden mit einem, der mit dem Segen der Götter in hohem Alter stirbt und so sein Leiden hinter sich läßt.2 Ebenso schwer fällt es, diesen Tod mit Furcht zu antizipieren.3 Die Sympathielenkung im Stück ist vielmehr so, daß wir Ödipus von Anfang an den ersehnten gottgewollten Tod

1 Unter diesem Aspekt ließe sich mein Versuch als ein Pendant zu einem Vorstoß aus den 60er-Jahren des 20. Jh.s verstehen, von dem ich mich auch zur Wahl des Titels anregen ließ: Albin Lesky warnte 1964 in seinem Beitrag „Der angeklagte Admet“ (Nachdruck in: Albin Lesky: Gesammelte Schriften. 1966, 281–294) davor, die Interpretationsprobleme der euripideischen Alkestis durch Herabsetzung des Charakters des Admetos lösen zu wollen. Gleichwohl gewann die sog. ‘ironische’ Interpretation der Alkestis, die auf die Deutung der Admetos-Figur als eines egoistischen, des Opfers seiner Frau ganz und gar unwürdigen Schwächlings angewiesen ist, noch lange nach Leskys Warnung immer neue Anhänger besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in europäischen Ländern. Selbst die definitive Widerlegung dieses verfehlten Ansatzes durch Peter Riemer, Die Alkestis des Euripides (1989) konnte die ‚ironische‘ Deutung nicht sogleich zurückdrängen. Ähnlich ist im vorliegenden Fall damit zu rechnen, daß weder meine knappe Warnung noch das umfangreiche, die Problematik der Ödipus-Deutung tief durchdringende Buch von Michael Lurje (s.u. Anm. 13) die weitere Verbreitung der jetzt in Deutschland florierenden Fehldeutung behindern wird. 2 Daß in der ersten Phase der Handlung Mitleid (seitens des Chores 255, 461, seitens des Theseus 556) eine große Rolle spielt für die Gewährung des von Ödipus verlangten Asyls, ist nicht ausschlaggebend für die Affekte, die die späteren Phasen der Handlung (Auseinandersetzung mit Kreon, mit Polyneikes, Entrückung) auslösen wollen. 3 Auch hier gilt: Furcht um die zunächst unsichere Gewährung des Asyls oder um einen möglichen Erfolg der Übergriffe Kreons berührt nicht die dem entscheidenden Schlußteil angemessene Affektlage.

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3. Der angeklagte Ödipus. Zum Charakter des Titelhelden im Oedipus Coloneus

gönnen. Was gefragt ist, ist Zustimmung zum Geschehen, freilich nicht eine Zustimmung mit fröhlichem Applaus, sondern eine staunende Zustimmung, die ein Wunder als solches anerkennt und verehrt. Denn ein Wunder ist es, daß jemand sterben will und am selben Tag auch wirklich stirbt, oder besser entschwindet, ohne getötet zu werden oder sich selbst zu töten. Wäre das gewöhnlichen Sterblichen erreichbar, gar viele würden davon Gebrauch machen wollen. Aber es ist nur Einem erreichbar: dem zuvor tief gestürzten Ödipus. Was wir also als Zuschauer akzeptieren sollen, ist die Gewährung einer außergewöhnlichen göttlichen Gunst an einen Unglücklichen. Nirgends sonst verlangt das eine Tragödie von uns. Daß hier ein „neues Genus“ vorliegt, betonte mit großem Nachdruck Vittorio Hösle.4 Er nennt das neue Genus „Versöhnungsdrama“ mit einem an Hegel orientierten Ausdruck. Die Konflikte, die die attische Tragödie darstellt, lassen sich in der Sicht Hegels als Konflikte zwischen Individuen und Institutionen lesen, wobei das Interesse des Aischylos den Institutionen gelte – seine Tragödie sei sozusagen ‚objektiv‘– während das Interesse des Euripides auf die Subjektivität der Handelnden, ihre Emotionalität und ihre Verfolgung individueller Ziele gerichtet sei. Erst in Sophokles’ letztem Stück gelinge der vollständige Ausgleich zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen des Individuums. Was Ödipus als Individuum will, wollen auch die Götter und die Stadt, die Ödipus aufgenommen hat. Ödipus ist nicht mehr im Konflikt mit den Göttern und seiner Umgebung. Er ist mit der Gemeinschaft und den Göttern ‚versöhnt‘.5 Ohne den Hintergrund hegelscher Begrifflichkeit betonte schon Erwin Rohde in seinem klassischen Werk Psyche die gattungsmäßige Sonderstellung des OK, indem er von einem „Mysterium“ sprach, das Sophokles „aufführen läßt“6 – ein normale Tragödie ist kein Mysterienspiel. Nach Rohde gab Sophokles „einem ganzen Drama diesen unbegreiflichen Vorgang [sc. die Entrückung des Oedipus aus dem Leben „ohne Tod“] zum alleinigen Ziel.“7 Da aber diese Entrückung „ohne neues und hohes Verdienst von seiner [sc. Ödipus’] Seite“ zustande kommt, also nicht als Belohnung von ἀρετή und damit Verheißung auch für andere aufgefaßt werden kann, ist das Ziel dieses Dramas auch nicht mit dem Ziel anderer Tra-

4 Vittorio Hösle: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Ästhetisch-historische Bemerkungen zur Struktur der attischen Tragödie. Stuttgart 1984, 170. 5 Ebd., 144–171, bes. 144f. 6 Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg i. B./Leipzig 21898 [1894], Bd. II, 244, Anm. 4. 7 Ebd., 243.

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gödien, den Zuschauer als Menschen über seine Bestimmung und seine Grenzen als Mensch zu belehren, kommensurabel. (2) Die enge Verflechtung der Interpretation des zweiten Ödipus-Stücks mit der des ersten betrifft zunächst die Deutung und Wertung des Geschehens. War die Tötung seines Vaters und die Heirat mit der Mutter für Ödipus ein unausweichliches Schicksal, wie man mehrheitlich stets angenommen hat und wie in letzter Zeit vor allem Jean Bollack8 argumentierte, so hat auch das Geschehen um sein Ende den Charakter der Unvermeidbarkeit, und Ödipus Auffassung, er habe seine Taten mehr erlitten als getan (OK 266f., vgl. 521f.) erscheint gerechtfertigt. Waren hingegen Vatermord und Inzest mit der Mutter für Ödipus vermeidbar, wie in letzter Zeit immer mehr deutsche Interpreten behaupten,9 dann erscheinen auch die jetzt über seinem Ende stehenden Orakel nicht mehr als absolut zwingend, und seine Versicherung, er sei dem Gesetz nach rein, weil er unwissend gehandelt habe (OK 548), erscheint als unzulässige Ausrede. Wenn das Geschehen im OT in einer unerbittlichen, moralisch hochstehenden Wahrheitssuche bestand, wie einst, mit vielen anderen, W. Schadewaldt10 erklärte, so gewinnt auch die jetzt gefundene Wahrheit über sein Tun an Glaubwürdigkeit; war es eher ein Versuch, der Wahrheit zu entrinnen, wie A. Schmitt11 glaubt, so haben wir auch im OK nur einen moralisch fragwürdigen Versuch, sich der Verantwortung zu entziehen. Diese Alternativen laufen letztlich auf die Frage nach dem Charakter des Ödipus hinaus. Ist er ein mittlerer Charakter, wie Aristoteles es für den typischen Tragödienhelden fordert (poet. 1452 b34–1453 a12), und kommt sein Unglück zustande, weil er auf Grund seiner charakterlichen Mängel Fehler begeht, die vermeidbar waren? Diese Interpretationsrichtung hat z. Zt. in Deutschland einige Vertreter. Sie sehen im Ödipus des ersten Stückes einen Charakter, der vor allem durch Unbeherrschtheit und den Hang zu voreiligen Schlüssen und Handlungen gekennzeichnet ist. Mit etwas mehr Vorsicht und Besonnenheit hätte er sowohl den Vatermord als

8 Jean Bollack: Sophokles, König Ödipus, 2 Bde. Frankfurt a. M./Leipzig 1994. 9 Z. B. Wolfgang Bernard: Das Ende des Ödipus bei Sophokles. Untersuchungen zur Interpretation des „Ödipus auf Kolonos“. München 2001; Egon Flaig: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München 1998. 10 Wolfgang Schadewaldt: Der „König Ödipus“ in neuer Deutung (1956). In: ders.: Hellas und Hesperien. Stuttgart 21970, Bd. I, 466–471; ders.: Die griechische Tragödie Frankfurt a. M. 1991 (Tübinger Vorlesungen, Bd. 4), 274–281. 11 Arbogast Schmitt: Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‚König Ödipus‘. In: Rheinisches Museum 131 (1988), 8–30.

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auch den Inzest mit der Mutter vermeiden können. Ödipus als der habituelle Schnell- und Falschdenker ist letztlich selbst verantwortlich für das, was ihm widerfuhr. Selbstverständlich ist diese Auffassung von der das Geschehen bestimmenden Verkehrtheit von Ödipus’ Charakter zugleich eine Stellungnahme gegen die Ansicht, auf dem Haus des Labdakos liege ein unentrinnbarer Fluch. Zu jedem Zeitpunkt stehe es dem Menschen frei, all das zu vermeiden, was das Orakel ihm zugedacht hat.12 2.

Die Übertragung dieses Bildes vom charakterlich fragwürdigen Ödipus vom ersten auf das zweite Stück ließ nicht lange auf sich warten – der vom Autor selbst hergestellten engen Verflechtung der beiden Dramen kann sich keine Interpretationsrichtung entziehen. Das Ergebnis ist eine neue Deutung des OK als ein Stück mit negativem Ausgang.13 Dieser negative Ausgang, bestehend in der gegenseitigen Tötung der Söhne des Ödipus sowie im Tod der Antigone, sei nicht durch den Geschlechterfluch festgelegt, also gottgewollt, sondern durch die falschen Entscheidungen bedingt, die Ödipus’ schlechter Charakter ihm aufzwingt. Die Katastrophe seines Geschlechtes, die Ödipus durchaus hätte vermeiden können, werde nicht aufgewogen durch seine Heroisierung, denn der Übergang zur Seinsweise eines Heros sei an sich nichts Positives. Ödipus ist in dieser Deutung ein Frevler und Egoist, der wie in seiner Jugend von seinem unbezähmbaren

12 Seit Abfassung dieses Beitrags (Frühjahr 2002) hat sich die Forschungslage wesentlich verändert durch das Erscheinen des bedeutenden Buches von Michael Lurje: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München/Leipzig 2004. Lurje zeigt mit seiner detaillierten Aufarbeitung der Interpretationsgeschichte des OT, daß die oben skizzierte Auffassung, die in Deutschland mit dem Anspruch des Neuen auftritt, bereits einmal vor ca. 300 Jahren weite Verbreitung hatte als Ergebnis der Bemühungen der Interpreten des 16. und 17. Jahrhunderts, Sophokles’ Konzeption des Tragischen mit der aristotelischen Tragödientheorie in Einklang zu bringen. Ebenso wertvoll wie sein Beitrag zur Forschungsgeschichte ist Lurjes Nachweis, daß die Harmonisierung der Positionen von Sophokles und Aristoteles nur unter systematischer Verdrehung beider möglich ist. 13 Bernard: Das Ende des Ödipus bei Sophokles. Recht anders als bei Bernard fällt die (gleichfalls scharfe) Kritik am Charakter des Ödipus bei Eckard Lefèvre: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Tragödien. Leiden 2001 aus. Wegen der Unterschiedlichkeit der Ansätze ziehe ich es vor, die Auseinandersetzung mit den beiden Autoren getrennt zu halten – die mit Lefèvre sei einem künftigen Beitrag vorbehalten.

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Jähzorn zu verhängnisvollen Fehlern getrieben wird: er hätte in Anbetracht des Orakels, daß er in einem Hain der Eumeniden sterben würde, wo sein Grab denen, die ihn vertrieben, zum Fluch, und zugleich denen, die ihn aufnahmen, zum Segen werden würde, den Hain der Eumeniden in Kolonos sofort verlassen müssen, um nicht den Seinen zum Fluch zu werden. Er hätte ferner die moralische Pflicht gehabt, auf das ehrliche Angebot seines Sohnes Polyneikes einzugehen, statt ihn zu verfluchen. Seine Exilierung durch seine Söhne sei kein Unrecht gewesen, daher sei Ödipus’ Verlangen, Eteokles und Polyneikes dafür zu strafen, ethisch verwerflich. Eine Folge dieser Deutung des Machtkampfes in Theben ist, daß Kreon nicht als gänzlich negative Figur gesehen werden dürfe. Umgekehrt sei auf athenischer Seite Theseus nicht als gänzlich makelloser Idealherrscher zu verstehen, sondern als Politiker, der allein den Vorteil seiner Stadt verfolge und etwa am Wohl der Töchter des Ödipus, die seinem Schutz anvertraut sind, nicht im geringsten interessiert sei. Man sieht: die Übertragung des Charakterbildes eines Schnell- und Falschdenkers Ödipus vom ersten auf das zweite Ödipus-Drama führt zu einer Neubewertung fast aller Figuren des Stückes. Ich kann hier keine detaillierte Gesamt-Interpretation des OK vorlegen; statt dessen möchte ich versuchen, den Charakter des Ödipus dieses Stückes aus den Reaktionen der Mitspieler zu beleuchten – ein Versuch, der notwendig zugleich zu einer Betrachtung der Sympathielenkung durch den Dichter werden muß. Zu den ‚Mitspielern‘ im Drama gehören selbstverständlich auch die göttlichen Mächte, die das Ende des Ödipus vorherbestimmt haben und nun auch verwirklichen. Gerade dies scheint mir von der soeben referierten Interpretation – auf deren Positionen ich in meinem Gegenentwurf nicht Punkt für Punkt polemisch antworten werde – nicht hinreichend berücksichtigt worden zu sein. 3.

Um die neue Deutung des Stückes mittels einer negativen Wertung des Ödipus richtig einordnen zu können, ist es gut, einen Blick auf einige frühere Urteile über seinen Charakter zu werfen. Auch in älteren Interpretationen wurde die Hauptfigur von Sophokles’ letztem Stück keineswegs nur mit freundlichen Augen betrachtet. Erwin Rohde war es, der wohl als erster der erbaulichen Deutung des 19. Jh.s, die gern von einer „Verklärung des frommen Dulders“ gesprochen hatte, die befremdlichen Eigenschaften entgegenhielt, mit denen der Dichter Ödipus ausgestattet hat. Ödipus ist wild, zornig, mitleidlos, er verlangt nach Rache, ist „durch sein Unglück nicht geläutert, sondern verwildert“. Rohde bestritt jedoch nicht

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den herausragenden Charakterzug, den Ödipus schon im ersten Stück hatte, nämlich seine Frömmigkeit.14 Karl Reinhardt, um einen der einflußreichsten Interpreten des 20.Jh.s zu nennen, war der Überzeugung, daß Ödipus in der Gegenüberstellung mit seinem Sohn Polyneikes als gebundener, ja innerlich beschränkter Charakter dastehe. Antigone falle die Aufgabe zu, ihm die Wahrheit über ihn selbst zu sagen, und der Dichter spreche hier selbst durch Antigone, ja er rücke am Ende ab von seinem Helden, vergleichbar der Distanzierung Goethes von seinem Faust am Ende des zweiten Teils des Dramas.15 Max Pohlenz, dessen Gesamtdarstellung der Griechischen Tragödie vor derjenigen von A. Lesky die autoritativste war, sprach von der „wilden Erregbarkeit“ des Ödipus und vom θυμός als „Grundzug seines Wesens“, der „leidenschaftlichen Reizbarkeit, die ihn ... auch im Alter nicht verläßt“. Pohlenz sah jedoch, daß dies nur die eine Seite in einem ambivalenten Charakter ist, in dessen „Doppelantlitz“ wir auch die tiefe Liebe zu den Töchtern und Milde und Dankbarkeit gegen Theseus und die Gnade der Götter erkennen. Und Pohlenz bestritt, wohl gegen Rohde, daß Ödipus „durch sein Unglück vertiert“ sei.16 Was das Verhältnis zu den Göttern betrifft, so scheint mir aus der älteren Literatur die Einschätzung von R. Jebb und H. D. F. Kitto das Richtige zu treffen: „On the part of the gods there is nothing that can properly be called tenderness for Oedipus“, hatte einst Jebb geschrieben,17 und Kitto führte verdeutlichend aus: „There is no friendly deity, like the Athena who cares for Odysseus in the Ajax“, und: „Oedipus is remote from the gods“.18 Alles in allem kann man sagen, daß schon die ältere Sophokles-Literatur klar sah, daß der Ödipus des zweiten Stückes kein einfacher Charakter ist, daß wir es nicht mit einem freundlichen Greis von netten Umgangsformen und durchschnittlicher Emotionalität zu tun haben, sondern mit einem harten, schwierigen Menschen. Jede Art von Niedlichkeit und Sentimentalität ist von dieser Gestalt fernzuhalten. Aber am Ende des Stückes steht die warme Liebe der Töchter zu diesem ungewöhnlichen Vater und die gnädige Aufnahme des Greises durch die Götter. Um zu sehen, ob das

14 Rohde: Psyche. Seelencult, 244 mit Anm. 2. 15 Karl Reinhardt: Sophokles. Frankfurt a. M. 31947 [1933], 224f. 16 Max Pohlenz: Die griechische Tragödie, 2 Bde. Göttingen 21954 [1930], Bd. I, 343. 17 Richard C. Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments, Part II: The Oedipus Coloneus (1885). Rev. ed. Cambridge 1928 [Reprint Amsterdam 1965], Introduction p. xxiv. 18 H. D. F. Kitto: Greek Tragedy. London 1939 [Reprint 1976], 394.

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als dramatischer Widerspruch zu werten ist – und vielleicht gar als ein Widerspruch, der vom Zuschauer als Reaktion eine Abwertung oder Verurteilung des Ödipus verlangt –, müssen wir die Sympathielenkung Szene für Szene verfolgen. 4.

Wichtig ist es, die Haltung zu verstehen, in der Ödipus in Attika ankommt. Kurz aber deutlich charakterisiert Sophokles den blinden Bettler noch bevor er die Erkenntnis gewinnt, das Ziel seines Lebens erreicht zu haben: seine Leiden, die lange Zeit und drittens seine edle Art (τὸ γενναῖον) haben ihn gelehrt, mit Wenigem vorlieb zu nehmen. Bescheidenheit und Resignation kennzeichnen die Haltung des Bettlers. Auffällig, daß er sich selbst τὸ γενναῖον zuschreibt. Für antikes Denken ist das wohl kaum eine Verletzung der Bescheidenheit, vielmehr der Ausdruck eines angemessenen Selbstbewußtseins, wie es einem Sproß eines Königsgeschlechtes zukommt. Jedenfalls wären wir als Zuschauer nur dann berechtigt, die edle Art des Ödipus in Frage zu stellen, wenn es innerhalb des Stückes abweichende Urteile über ihn gäbe. Doch der einzige, der Ödipus herabzusetzen versucht, ist Kreon, der zu Recht als der abstoßendste Charakter der gesamten sophokleischen Bühne gewertet wird.19 In der zweiten Szene schon wird Ödipus seine noble Art bestätigt durch den Koloneer, der dann seine Ankunft im Dorf meldet. Gewiß kann dieser Mann nach kurzer Unterhaltung nur nach dem Aussehen urteilen – ἐπείπερ εἶ γενναῖος, ὡς ἰδόντι, πλὴν τοῦ δαίμονος, sagt er 75f. – doch sollte die Einschränkung, die in ὡς ἰδόντι liegt, kein Grund für uns sein, seine Äußerung beiseite zu setzen. Denn Sophokles hätte eine Erwähnung des γενναῖον auch unterlassen können, oder dem Koloneer eine gegenteilige Meinung geben können. Daß er das nicht tat, hat Bedeutung. Die späteren Verwendungen von γενναῖος gelten alle Theseus (569, 1042, 1636). Das ist in sich schon ein Grund, Ödipus vor Anschwärzung zu bewahren.20 Theseus selbst nennt Ödipus zwar nirgends γενναῖος, doch er behandelt ihn durchwegs als solchen. Da das bedeutsame Adjektiv in diesem Stück nur von diesen beiden Männern gebraucht wird, sind Theseus und Ödipus in eine Art Gemeinschaft oder innere Verwandtschaft gestellt, die die Grund-

19 Kreons Urteil zu folgen wäre so als wollte man bei der Alkestis-Interpretation die Figur des Admetos allein mit den Augen des Pheres sehen. 20 Die noble Art des Ödipus versucht ins Negative zu verkehren Bernard: Das Ende des Ödipus bei Sophokles, 188.

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lage ist für ihr Zusammenwirken zum gegenseitigen Wohl.21 Daß Theseus’ Handeln sein Urteil über Ödipus’ Charakter enthält, zeigt sich deutlich nach Ödipus’ Verteidigungsrede gegen die Angriffe Kreons im 2. Epeisodion. Der Chorführer urteilt, ähnlich dem Koloneer der zweiten Szene, positiv über Ödipus, er nennt ihn χρηστός (1014) und setzt diesen Grundzug seines Charakters in Antithese zum schrecklichen Schicksal des Mannes (1014f.: αἱ δὲ συμφοραὶ αὐτοῦ πανώλεις, ~ 76 πλὴν τοῦ δαίμονος). Theseus nun hält sich nicht damit auf, das Urteil des Chorführers explizit zu bestätigen, wohl aber handelt er sofort so, wie es dessen Erwartungen entspricht (1014f.: αἱ συμφοραὶ ... ἄξιαι ... ἀμυναθεῖν). Doch zurück zum Anfang: entscheidend ist, daß der erste Vertreter des Demos Kolonos trotz des Tabubruchs des Fremden – er ist in den unbetretbaren Hain der Eumeniden eingedrungen – im Grunde nicht unfreundlich zu ihm ist. Die Möglichkeit des Bleibens wird trotz der Heiligkeit des Ortes nicht ausgeschlossen (79f.). Und in der Tat ist es richtig, Ödipus von Anfang an mit einer positiven Haltung zu begegnen, denn er präsentiert sich als ἱκέτης der Eumeniden (44f.). Kolonos und Athen wären unfromm, wenn sie dem Schutzflehenden nicht primär mit Wohlwollen begegneten. Die Prüfung seiner Würdigkeit ist damit freilich noch nicht vorentschieden. Auf den Abgang des Koloneers folgt das Gebet des Ödipus an die Eumeniden um die Gewährung eines gnädigen Endes seines Lebens. Bemerkenswert ist, daß Ödipus nicht allein auf sich gestellt den πότνιαι δεινῶπες (84) gegenübertritt, sondern sich auf ein Orakel des Phoibos berufen kann (86–95, 102). Der Tabubruch des Eintretens in den Hain wird also, noch bevor der Chor versucht, ihn zu ahnden, als von Apollon vorausgesagt und damit gutgeheißen dargestellt. Ödipus ist ein Mensch, um den sich der Gott der Reinheit und des Lichtes kümmert. Ist er dessen würdig? Er selbst bittet die Eumeniden um Aufnahme „sofern ich nicht etwa zu gering dafür erscheine“ (εἰ μὴ δοκῶ τι μειόνως ἔχειν 104). Die Frage der Würdigkeit des Ödipus wird sich also durch die Handlung beantworten. Wenn die Zeichen, die Apollon ihm – mit einiger Unbestimmtheit – in Aussicht gestellt hat (94f.), eintreffen, so dürfen wir sicher sein, daß Ödipus das ersehnte gnädige Lebensende erhält, und sind damit nicht mehr gehalten, mit neueren Interpreten das Verhältnis des Ödipus zu den Göttern als etwas für ihn im Grunde Ungünstiges zu verdächtigen. Interpreten, die nicht wahrhaben wollen, daß Ödipus der göttlichen Fürsorge würdig ist, müßten uns erklären, warum die von Apollon verheißenen Zeichen wirklich eintreten,

21 Vgl. auch unten S. 11–12.

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und warum es Ödipus zuteil wird, das Leben ohne Tod zu verlassen. Wer eben hierin etwas Negatives erkennen will, sollte uns erklären, aus welchem Grund und mit welchem Recht Sophokles es unternommen haben sollte, uns mit dem (vermeintlich) unschönen und unerfreulichen Lebensende eines häßlichen Charakters zu konfrontieren, einem Lebensende, das für den Schuldigen indes keine Katastrophe darstellt, sondern vielmehr seine unfrommen Wünsche befriedigt? Wenn das darzustellen die Zielsetzung des Dichters war, warum sollten wir uns dergleichen überhaupt ansehen? In der Parodos fordert der Chor Ödipus auf, den heiligen Hain zu verlassen, und sichert ihm dabei zu, daß ihm kein Unrecht geschehen wird und er vor Vertreibung gegen seinen Willen sicher sei (174–178). Doch kaum hat er seinen Namen genannt, ergeht der Befehl ἔξω πόρσω βαίνετε χώρας (226, „Hinaus! Zieht weiter! Fort aus diesem Land!“ (Übersetzung W. Schadewaldt)), gefolgt von der Versicherung, der Chor habe ein Recht, sein Wort zu brechen, da er nur Betrug mit Betrug vergelte (229–233). Doch das bloße Faktum, daß Ödipus nicht als erstes seinen Namen genannt hat, kann der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr als ‚Betrug‘ empfinden. Die Führung durch die Gottheiten des Ortes, die Ödipus in seinem Gebet geltend gemacht hatte (96–101) und die nirgends im Stück bestritten wird, macht es hier schon sicher, daß er ein Recht darauf hat, daß seine Hikesie vor den Eumeniden (44) auch von den Menschen geachtet wird. Entsprechend ist die Sympathielenkung an dieser entscheidenden Wendung des Stückes: Antigone, das schwache Mädchen, das im ganzen Stück Sympathieträger ohne Einschränkung ist, bittet um αἰδώς für den Unglücklichen (246f., vgl. 237) und klärt für die eigene Person vorneweg die Streitfrage, um die es geht, nämlich ob Ödipus’ Taten ihn als ἱκέτης disqualifizieren: sie bezeichnet diese Taten als unfreiwillig (ἔργων ἀκόντων ἀίοντες αὐδάν, 240 („ungewollte Taten“, W. Schadewaldt)). Von vornherein ist klar: der Schutzflehende ist des Schutzes würdig, der Wortbruch, der ihm widerfuhr, sichert ihm folglich unsere Sympathie. Es ist daher als das erwartete, vom Dichter umsichtig vorbereitete Ergebnis zu betrachten, daß der Chor die nun folgende Verteidigung seiner Schuldlosigkeit durch Ödipus und seine Aufforderung, die Entscheidung über sein Schicksal Theseus zu überlassen (258–291), mit großem Respekt aufnimmt (292–295). ἥκω γὰρ ἱερὸς εὐσεβής τε (287) – diese Worte des Ödipus machen Eindruck. ἱερὸς ist er, nach Jebbs Erklärung, als ἱκέτης der Eumeniden, εὐσεβής ist er, insofern er κατ᾽ ὀμφὰς τὰς ᾽Απόλλωνος (102) hier ist. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, daß der Chor, der diesen Anspruch akzeptiert, damit eben die Haltung zeigt, die auch der Zuschauer annehmen soll.

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Dennoch ist es ein Problem für den Chor, daß Ödipus durch das Betreten des Haines der Eumeniden ein Sakrileg begangen hat. Statt darauf zu beharren, daß der berühmte Frevler nun weitere Schuld auf sich geladen hat, erklärt der Chorführer Ödipus und seine Töchter für würdig seines Mitleids (461f., vgl. schon 254f.). Zugleich ist er an Ödipus’ Versprechen einer ὄνησις ἀστοῖς τοῖσδ(ε) (288) interessiert– eine Haltung, die wir nicht als Egoismus verdächtigen dürfen, vielmehr wäre die Vernachlässigung der Möglichkeit, der eigenen Stadt einen Schutz zu sichern, für jeden, der seine Stadt liebt, eine unfromme Tat. Um den ‚Retter dieses Landes‘ (τῆσδε γῆς σωτῆρα, 462f.) für seine geplante Wohltat in die richtige Verfassung zu bringen, rät ihm der Chorführer, den Eumeniden ein Reinigungsopfer darzubringen (θοῦ νῦν καθαρμὸν τῶνδε δαιμόνων, 466). Im Fall der exakten Ausführung der rituellen Anweisungen (469–490) hätte er Zuversicht für Ödipus, sagt der Chorführer, ansonsten müßte er um den Fremden bangen (490–492). Der Sinn dieser religiösen Handlung, die neuerdings als sinnlos und unnötig kritisiert wurde,22 ist offensichtlich der, daß der Dichter die Wandlung, die die Gestalt des Ödipus als ganze durchmacht, im Kleinen symbolisch nachvollzieht, womit er zugleich eine Antizipation des Endes des Dramas erreicht. Ödipus ist seit langem befleckt mit dem schrecklichen doppelten μίασμα des Vatermordes und des Inzestes mit der Mutter. Gleichwohl soll sein Grab für das Land ein dauernder Segen werden. Die rituelle Reinigung von der vergleichsweise geringen Schuld des Betretens des unbetretbaren Hains steht in Parallele zu der Entlastung des Ödipus von dem Makel, der an ihm schon haftete, als er attischen Boden betrat. Die Zuversicht des Chorführers, der nach vollzogenem καθαρμός nicht zögern würde, Ödipus beizustehen, soll auch vom Zuschauer geteilt werden – das ist offensichtlich der Sinn der Sympathielenkung in dieser Szene. Im übrigen ist es nicht sinnvoll, die Verteidigung des Ödipus, bei der er sich auf Notwehr und auf seine Unwissenheit beruft (265–274, 521–550), durch Verweis auf die Schilderung der Tötung des Laios im ersten ÖdipusStück (OT 800–813) korrigieren zu wollen. Dabei ist es nicht einmal wichtig, daß die Beschreibung der Tat im OT die Deutung als Notwehr keineswegs ausschließt, wie neuerdings behauptet wurde.23 Es ist vielmehr nicht zulässig, die Aussagen eines früheren Stückes wie ein objektives Dokument

22 Carl Werner Müller: Die thebanische Trilogie des Sophokles und ihre Aufführung im Jahre 401. Zur Frühgeschichte der antiken Sophoklesrezeption und der Überlieferung des Textes. In: Rheinisches Museum 139 (1996), 193–224. 23 So u. a. von E. Flaig: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen, 1998.

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gegen die Aussagen des Ödipus im späteren Stück zu halten. Wer das tut, macht sich der von Waldock24 vor langer Zeit schon analysierten ‚documentary fallacy‘ schuldig. Der Ödipus hier ist nicht ein realer Angeklagter, der durch von außen beigebrachte Schriftstücke zu widerlegen wäre. Trotz der gewollten Rückbeziehung auf den OT ist die Identität des Bettlers Ödipus aus dem ihm gewidmeten Stück zu konstruieren, nicht aus einer (tendenziösen) Deutung des OT. Wenn Sophokles gewollt hätte, daß wir Ödipus’ Zurückweisung einer persönlichen Schuld mißtrauen, daß wir seine Bekenntnisse ἤνεγκον κακότατ(α) und τά γ᾽ ἔργα μου πεπονθότ᾽ ἐστὶ μᾶλλον ἢ δεδρακότα (521 und 266f.) als ein unmoralisches Ausweichen vor der Verantwortung verstehen, so hätte er einer Figur dieses Stückes eine entsprechende Kritik in den Mund legen müssen. Solange niemand Ödipus im OK widerlegt, haben wir seine in sich stimmigen Äußerungen zu akzeptieren. Sophokles Intention hinsichtlich der Hauptfigur wird nicht zuletzt auch durch die Haltung deutlich, die er den Töchtern des leidenden Helden beilegt. Ismene und Antigone, die in der Antigone bitter entzweit gezeigt werden über der Frage, was sie Polyneikes schuldig sind, sind sich in diesem Stück durchwegs einig, daß sie verpflichtet sind, für den Vater alles zu tun, jede Mühe für ihn ohne Murren auf sich zu nehmen (507–509). Ödipus ist im ganzen Stück von der uneingeschränkten Liebe und Opferbereitschaft seiner Töchter getragen. Es ist auffällig, daß der Chorführer Töchter und Vater zweimal (254f., 461f.) des gleichen Mitleids für würdig hält: wenn es unmöglich ist, den unglücklichen Töchtern die Sympathie zu entziehen, so muß es nach diesen Bekundungen bei Ödipus ebenso unmöglich sein. Der mit Spannung erwartete Auftritt des Theseus stellt endgültig klar, wie wir nach dem Willen des Dichters Ödipus zu werten haben. Hier werden, nach der intensiven und in sich konsistenten Vorbereitung in den besprochenen Szenen, die Grundlagen gelegt, die für den Rest der Handlung verbindlich bleiben. In auffälligem Gegensatz zum Chor der Koloneer kennt Theseus kein Entsetzen vor dem Anblick und dem Namen des berüchtigten Fremden. Er erkennt ihn sofort, nimmt keinen Anstoß, fürchtet keine Befleckung für sein Land, sondern äußert spontan sein Mitleid (καὶ σ᾽ οἰκτίσας, 556). Er ist fähig zum menschlichen Mitempfinden, aus dem für ihn unmittelbar folgt, daß er zu helfen habe. Bedeutsam sind Theseus Worte δεινὴν γάρ τιν᾽ ἂν πρᾶξιν τύχοις / λέξας ὁποίας ἐξαφισταίμην ἐγώ („ein schreckliches Schicksal müßtest du nennen, daß ich mich davon abwenden sollte“, 560–

24 A. J. A. Waldock: Sophocles the Dramatist. Cambridge 1951.

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561). Eine vollständigere und rückhaltlosere Freisprechung des Ödipus ist nicht denkbar: Theseus kennt sein Geschick sehr wohl, und eben deswegen sagt er, um ihn von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft abzuhalten, müßte ein weit schrecklicheres Geschick πρᾶξιν, ‚fortune‘ (Jebb)) vorliegen. Und bedeutsam ist auch die Begründung, die Theseus für seinen Freispruch gibt: er versteht Ödipus’ prekäre Situation als ξένος, weil er selbst als ξένος erzogen wurde; aus dieser leidvollen Erfahrung heraus ist er bereit, jedem Fremden zu helfen (562–566). Doch ist das noch nicht die ganze Begründung. Theseus könnte ja, da er, nach schwerer Jugend in der Fremde, in seiner Heimat nunmehr eine gesicherte Position innehat, die Lage des um Asyl Bittenden als irrelevant für sich selbst betrachten. Der tiefere Grund für seine Begründung, er wolle als ehemaliger ξένος dem heutigen ξένος helfen, liegt in seinem Bewußtsein, daß er als Mensch – ἔξοιδ᾽ ἀνὴρ ὤν, 567 – für immer dem Schicksal ausgesetzt bleibt und folglich schon über den morgigen Tag nicht mehr Verfügungsgewalt hat als Ödipus. Was letztlich verbindet, ist das Bewußtsein, für alle Zeit ungesichert zu leben. Dieses Nichtverfügen über die Zukunft ist die Essenz der menschlichen Existenz. Theseus sieht in Ödipus offenbar das παράδειγμα des Menschseins, als das ihn der Chor im OT nach Entdeckung seiner Taten einstufte. 25 So tritt er Ödipus primär als Mensch gegenüber, wozu freilich gerade der gewöhnliche oder ‚normale‘ Mensch nicht fähig wäre (wie der gutmütige, aber einfältige Chor in der Parodos soeben bewiesen hat: 118–257). Die weit verbreitete Einsicht in die Nichtigkeit menschlicher Existenz auch auf die eigene Situation und das eigene Verhalten anwenden zu können zeichnet vielmehr den Außergewöhnlichen aus. Das Wort, das Sophokles dafür in diesem Stück bereit hat, ist γενναῖος: Ödipus erkennt Theseus dieses Prädikat zu (τὸ σὸν γενναῖον, 569), so wie es ihm selbst zu Beginn vom σκοπός zuerkannt worden war.26 Und da es nirgends im Stück auch nur die kleinste Spur eines Widerspruchs zu dieser Wertung gibt, müssen wir annehmen, daß sie als gültig und bleibend eingeführt ist. Theseus’ Charakter abzuwerten, wie es neuerdings versucht wird, ist interpretatorische Willkür, zu der nur das unglückliche Bedürfnis verleiten konnte, in Ödipus um jeden Preis einen negativen Charakter zu sehen. In Wirk-

25 OT 1186–1196: ἰὼ γενεαὶ βροτῶν ... τὸν σόν τοι παράδειγμ᾽ ἔχων, τὸν σὸν δαίμονα, τὸν σόν, ὦ τλᾶμον Οἰδιπόδα, βροτῶν οὐδὲν μακαρίζω („io, Geschlechter der Sterblichen …drum, da ich den deinen zum Beispiel hab, deinen Daimon, den deinen, oh unglückseliger Ödipus, kann ich von Sterblichen nichts glücklich preisen“ (Schadewaldt)). 26 Siehe oben S. 69.

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lichkeit stehen sich in diesem Stück Theseus und Ödipus als zwei γενναῖοι gleichberechtigt gegenüber. Theseus’ großherziges Verhalten ist nicht nur zum kleinmütigen Chor in einen Gegensatz gebracht. Kreons unehrliche Verurteilung des Ödipus (939–950) sagt über diesen nichts aus, hingegen viel über Kreon selbst und seinen Gegenspieler Theseus. Die Interpreten sind sich weitgehend einig, daß Kreon als abstoßender Charakter gezeichnet ist, vielleicht kann man in ihm den widerwärtigsten Menschen der attischen Bühne überhaupt sehen.27 Was er tut ist Unrecht: Unrecht gegen Ismene und Antigone ebenso wie gegen Ödipus und das Land Athen. Doch er ist ein Meister der Verstellung und der wohlklingenden Bemäntelung seines Unrechts. Seine Werberede an Ödipus (728–760) spiegelt Mitleid und verwandtschaftliches Empfinden vor und will Ödipus auf ‘gerechtes’ Verhalten festlegen (741–742 πᾶς σε Καδμείων λεὼς καλεῖ δικαίως, 759–760: ἡ δ᾽ οἴκοι (sc. πόλις) πλέον δίκῃ σέβοιτ᾽ ἄν). Ödipus durchschaut freilich seinen unredlichen Versuch sofort (vgl. 761–762 und σκληρὰ μαλθακῶς λέγων, 774). Da Kreon mit Überredung nicht weiterkommt, schreitet er zur Gewaltanwendung (814ff.), von der ihn nur der gerade noch rechtzeitig erscheinende Theseus abhalten kann (887ff.). Obwohl Kreon also bei offenem Unrecht ertappt und von Theseus hart zurechtgewiesen wurde, wagt er es, sein Verhalten zu rechtfertigen mit der Behauptung, er habe wohl gewußt, daß Athen einen Frevler und unreinen Menschen nicht würde aufnehmen wollen. Er habe darauf vertraut, daß der Areopag es nicht zulassen würde, daß ein solcher Vagabund in Athen bleibt (947–949). Indem Sophokles den Areopag mit seiner moralischen Autorität gerade durch den unehrlichen Charakter Kreon für sich in Anspruch nehmen läßt, erreicht er – ohne den Mythos ändern zu müssen – so etwas wie einen Freispruch des Ödipus durch den obersten Gerichtshof. Denn daß Kreons Berufung auf den Areopag nichtig ist, ist durch den Gang des zweiten Epeisodions und durch die gegenwärtige Szene evident. Daß Theseus, der Vertreter des gerechten und humanen Athen der frühen Zeit mit dem Areopag in Einklang steht und nicht der thebanische Frevler, ist dem Zuschauer Gewißheit, auch wenn es nicht ausgesprochen wird. Theseus aber hatte Ödipus gerade nicht als ἄναγνος und ἀνοσιώτατος (vgl. 945f.) behandelt. Das wird nun e contrario auf sehr indirekte, aber gleichwohl klare Weise als ein Verhalten hingestellt, das wohl auch der Areopag abgesegnet hätte. Die Unglaubwürdigkeit von Kreons Anklage schafft einen wirkungsvollen Hintergrund für die Verteidigung des Ödipus (960–1002). In dieser Si-

27 Vgl. Hösle: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles, 157.

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tuation nimmt ihm der Zuschauer gerne ab, daß seine Taten in Wirklichkeit Fälle von Unglück, συμφοραί, waren, ἃς ἐγὼ τάλας ἤνεγκον ἄκων (962– 964), daß er unwillentlich seine Mutter heiratete (ἄκων τ᾽ ἔγημα, 987) und daß er seinen Vater in Notwehr erschlug, weil die Götter ihn dazu führten, θεῶν ἀγόντων (998). Kein Zufall, daß der Chorführer gerade nach dieser Rhesis sagt: ὁ ξεῖνος, ὦναξ, χρηστός· αἱ δὲ συμφοραί / αὐτοῦ πανώλεις, ἄξιαι δ᾽ ἀμυναθεῖν (1014f.). Bis zu dieser Szene ist die Lenkung der Sympathie des Zuschauers so konsistent und emotional so mächtig, daß – mit den Worten des Theseus (560) – eine δεινὴ πρᾶξις nötig wäre, um sie noch umzukehren. Um es gleich zu sagen: eine solche tritt im Stück nicht ein. Immerhin gibt es eine Anfechtung unserer Sympathie für die Hauptfigur, und eben dadurch erweist sich Sophokles als weiser Dramatiker, der weiß, daß ein Übermaß an völlig unangefochtener Zuneigung das Gegenteil des Gewünschten bewirken kann. So inszeniert er eine vorübergehende Trübung unserer Zustimmung zur emotionalen Befindlichkeit des Ödipus, wobei gerade die Sympathieträgerin Antigone eine Herausforderung für den Vater darstellt. Entscheidend wichtig ist es aber, hier schon festzustellen, daß in der Schlußszene die Eintracht und Liebe zwischen Vater und Tochter wieder ungetrübt sein wird. Antigone möchte den Vater dazu bringen, daß er Polyneikes, der als Hiketes um ein Gespräch bittet, zuläßt und anhört. Polyneikes ist dein Sohn, sagt sie – selbst wenn er dir die ruchlosesten Untaten (τὰ τῶν κακίστων δυσσεβέστατα) zugefügt hätte, wäre es nicht Recht (θέμις) für dich, Schlechtes mit Schlechtem zu vergelten (1189–1191). Die Aufforderung zum Verzicht auf Vergeltung hat für den Leser, der am Ende einer zweitausendjährigen christlichen Epoche steht, etwas Zwingendes. Wir spüren unmittelbar, daß Antigone im Recht ist. Wir brauchen auch nicht zu bezweifeln, daß auch für die Zeitgenossen des Sophokles Antigones Appell eine sehr starke Wirkung gehabt haben muß. Es fragt sich freilich, ob daraus folgt, daß Ödipus’ Verfluchung seiner Söhne ein unerhörter moralischer Frevel ist. Antigone bezeichnet zwar den Verzicht auf Vergeltung als moralische Pflicht des Ödipus. Aber sie verkündet nicht als eine Art heidnischer Jesus das Gesetz der Liebe schlechthin, sondern empfiehlt als ein schwaches Mädchen und eine liebende Schwester, die durch ihren Mut und ihre Liebe unsere Herzen gewinnt, in dieser bestimmten Situation eine versöhnliche Option statt einer harten. Beachten wir auch hier die Sympathielenkung. Sie wirkt keineswegs gegen Ödipus. Er ist zunächst entsetzt durch die Vorstellung, seinen Sohn hören zu müssen (1173f.). Doch auf die Bitten von Theseus und Antigone

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gibt er nach – er überwindet sich zum εἰκαθεῖν (1178, vgl. ὕπεικε 1184, εἶκε 1201), das doch den sophokleischen Gestalten stets so schwer fällt. Ödipus geht also mit einem gewissen Vorsprung an Sympathie in die PolyneikesSzene, zumal sowohl Theseus als auch Antigone versichern, daß er zu nicht mehr verpflichtet sei als zum Zuhören, keineswegs zum Handeln gemäß Polyneikes’ Vorschlag (1175–1176, 1185–1186) – man gewinnt den Eindruck, daß beide nicht überzeugt sind von der Rechtmäßigkeit von Polyneikes’ Ansinnen, sondern nur sein Recht als Hiketes auf Anhörung verteidigen. Und dem fügt sich der störrische Ödipus. Als Polyneikes dann wirklich vor seinem Vater steht, konstruiert er eine Gleichheit seiner Situation als ξένος mit der seines Vaters (1335), was – im Gegensatz zum Verständnis des Theseus für den ξένος (562–566, s.o.) – nicht überzeugt, denn Polyneikes ist nicht ein mittelloser schwacher Greis, sondern der Anführer eines großen Heeres. Polyneikes mag ja wirkliche Reue empfinden und ehrlich versprechen, Ödipus in sein Haus zurückzuführen (1254–1270, 1342). Doch er ist dabei, seine Heimatstadt mit Hilfe eines fremden Heeres zu zerstören (1311ff.). Er scheint zu glauben, seine Rache am Bruder, der ihm Unrecht tat, rechtfertige für Ödipus einen Angriff auf Theben (1326–1334) – eine für griechisches Denken doch wohl groteske Vorstellung. Er glaubt, sich auf Aidos als Ζηνὶ σύνθακος θρόνων berufen zu können (1267), doch wir wundern uns nicht, daß ihn Ödipus daran erinnert, daß Δίκη ξύνεδρος Ζηνὸς ἀρχαίοις νόμοις ist (1382). Die Dike rechtfertigt für Ödipus seine Flüche gegen seine Söhne. Antigone mag die Vergeltung am eigenen Sohn als unvereinbar mit der θέμις hingestellt und damit eine neue Ethik anvisiert haben, die strafende Gewalt des Zeus und seiner ξύνεδρος Δίκη hat sie nicht aufgehoben.28 Ödipus verflucht ein Brüderpaar, das den Vater nicht ehrte (1377) und so gegen die Grundlagen des γένος sich versündigte und das wiederum bereit ist, um der Macht willen den Vater zu instrumentalisieren und sich gegenseitig zu vernichten. Der Fluch bestätigt nur, was die Brüder von sich aus schon wollen. Vergessen wir nicht, daß Sophokles es vermieden hat, den Fluch des Ödipus zur Ursache des Streits der Brüder zu machen, wie es bei Aischylos war (Sept. 785–791). Wesentlich für ein adäquates Verständnis von Ödipus’ Weigerung, auf Polyneikes’ Bitte einzugehen ist ferner der Umstand, daß er die Erfüllung

28 Zum richtigen Verständnis von Ödipus’ ethischer Haltung verhilft die zutreffende Bemerkung bei Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments, Part II: The Oedipus Coloneus (1885), cit. xxiii: „The Erinys has no mercy for sins against kindred; the man cannot pardon, because the Erinys acts through him“.

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des ihm gegebenen Orakels gefährden würde, wenn er seinem Sohn nach Theben folgte. Deswegen drängt ihn auch weder Theseus noch Antigone noch der Chorführer dazu, das zu tun, was Polyneikes von ihm verlangt (1175f., 1185f., 1346f.). Um dem Fluch seines Vaters zu entgehen, müßte Polyneikes die Kraft haben, mitsamt seinem Heer umzukehren, wozu ihn Antigone auffordert (1416f.). Doch er kann nicht zurück (1417f., vgl. 1403). Es ist Polyneikes, der Ödipus’ Fluch wahr macht: Antigone gibt am Ende ihm die Schuld, nicht dem Vater (1424f.). An dieser Stelle muß auch der Fluch erwähnt werden, der von alters her auf dem Geschlecht liegt. Siebenmal wird er im Stück erwähnt, außer von Theseus (596) je zweimal von Ödipus und Polyneikes, je einmal von Ismene und Antigone, (421, 965; 1299, 1434; 369; 1671f.): es sind also die Angehörigen des γένος selbst, die in dem Bewußtsein leben, qua γένος verflucht zu sein. Gegen Kreons unverschämte Vorhaltungen erinnert Ödipus daran, daß es den Göttern so beliebte, ihm die συμφοραί zu senden, die er unfreiwillig trug (ἃς ἐγὼ τάλας ἤνεγκον ἄκων 962f.), da sie „wohl von alters her schon zürnten über meinen Stamm“, τάχ᾽ ἄν τι μηνίουσιν ἐς γένος πάλαι (965, Übersetzung Schadewaldt). Den Streit der Brüder, der – wie erwähnt – bei Sophokles nicht erst durch den Fluch des Vaters ausgelöst wird, nennt Ödipus eine πεπρωμένη ἔρις (421f.). Auch Polyneikes ist überzeugt, daß das Unrecht, das ihm von Eteokles widerfuhr, sich vor allem dem Fluch auf dem Geschlecht des Ödipus verdankt.29 Dabei hatten die Brüder nach der Aussage Ismenes (367–370) anfänglich versucht, dem Fluch des Hauses zu entgehen, indem sie Kreon den Thron überließen. Doch ein Gott und ihr frevelhafter Sinn stürzte sie dennoch in die ἔρις κακή (371): es gehört offenbar nicht zu den Voraussetzungen des Stückes, daß der Mensch dem Geschick, das ihm durch Fluch oder Orakel vorbestimmt ist, durch Gebrauch seiner Vernunft (λόγῳ σκοποῦσιν, 369) leicht entgehen kann. Diese optimistische Annahme gehört vielmehr in die Gedankenwelt moderner Aufklärer und Moralisten. Daß bei deren Voraussetzungen Ödipus, der den Fluch des Geschlechts nicht abwenden kann, sondern durch

29 1298f. ὧν ἐγὼ μάλιστα μέν / τὴν σὴν ᾽Ερινὺν αἰτίαν εἶναι λέγω. Die Kommentatoren sind sich einig, daß τὴν σὴν ᾽Ερινὺν nicht den Fluch des Ödipus meint, sondern die Erinys, die „das Geschlecht des Ödipus verfolgt“ (so SchneidewinNauck-Radermacher z. St., ähnlich Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments, Part II: The Oedipus Coloneus (1885), 203, Jan C. Kamerbeek (Hg.): The Plays of Sophocles, Part VII: The Oedipus Coloneus. Leiden 1984, 181; s. auch Reginald Pepys Winnington-Ingram: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980, 266). Vgl. 1434.

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Verfluchung seiner Söhne noch verstärkt, als ein finsterer, schlechter Charakter dasteht, der keinerlei Sympathie seitens des Zuschauers verdient, ist durchaus verständlich. Um so wichtiger ist es zu betonen, daß die Annahme, ein Orakel könne vom Menschen, da er grundsätzlich frei ist, leicht abgewendet werden, mit Sophokles nichts zu tun hat. Für das richtige Verständnis des Schlusses des Dramas sind vor allem folgende drei Gesichtspunkte von Bedeutung: (1) Ödipus’ Lebensende – von Tod kann man eigentlich nicht sprechen – zeigt eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Wunsch des Helden und dem Wollen der Götter. (2) Die anderen Figuren beurteilen sein Geschick als ein gnädiges, glückliches. (3) In der Perspektive der Familie dominiert am Ende die Liebe der Töchter zum Vater, in der Perspektive Athens der Segen, den Ödipus für das Land bringt. Diese drei Gesichtspunkte bringen eine mächtige Sympathielenkung zugunsten der Hauptfigur mit sich und schließen es aus, daß der Dichter Ödipus als bösen Dämon in einem finsteren Licht zeigen wollte. Die Zeichen, die Apollon einst versprochen hatte (94f.), leiten den Prozeß der Entrückung des Ödipus ein: Donnerschläge sind zu hören (1456ff.). Ödipus weiß, daß nun sein gottverheißenes Lebensende gekommen ist (θέσφατος / βίου τελευτή, 1472f.) – die Götter kümmern sich doch um ihn, haben ὤραν τινά für ihn, was er in der Ismene-Szene resignierend für kaum mehr möglich gehalten hatte (385f.). Dergestalt von den Göttern gerufen, geht der blinde Mann nun allein voran und ist den anderen Führer (1542ff., 1589f.). Er ist so sehr Subjekt seines Hinscheidens, daß er die Riten, die sonst die Hinterbliebenen für die Verstorbenen vollziehen, selbst initiiert: die Waschung seines Körpers, die Libation und das Anlegen reiner Kleider (1597–1605). Die Töchter klagen um ihn, er aber tröstet sie mit dem Wort, daß sie von niemandem mehr Liebe empfangen hätten als von ihm (1617f.).30 Dann tritt Schweigen ein (ἦν μὲν σιωπή, 1623), gefolgt vom plötzlichen Ruf eines Gottes, Ödipus solle nicht länger zaudern

30 Selbstverständlich wurde auch die Liebe des Ödipus zu seinen Töchtern unter Verdacht gestellt. Da der blinde Mann die Berührung seiner Kinder sucht (329, 1104–1105, 1611, 1620, 1639), zog Bernard, hierin Nathaniel O.Wallace: Oedipus at Colonus. The Hero in His Collective Context. In: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 32 (1979), 39–52, hier: 45) folgend, den scheinbar evidenten Schluß: „Ödipus’ Verhältnis zu seinen Töchtern/Schwestern soll offensichtlich eine sexuelle Komponente haben“ (Bernard: Das Ende des Ödipus bei Sophokles, 77). Evident („offensichtlich“) ist dieser Schluß freilich nur für die Mentalität des späten

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(1627f.). Vertraute Nähe zwischen Gott und Mensch bringt dieser Ruf zwar nicht zum Ausdruck, wohl aber die Zugehörigkeit des Heros zum mehr-als-menschlichen Bereich. Antigone, die die leidenschaftliche Klage der Töchter vorwiegend artikuliert, weiß zugleich, daß ihr Vater seinem eigenen Wunsch gemäß starb (1704f., 1713f. ) und hält diesen Tod für das, was man ihm hätte wünschen wollen (ὡς μάλιστ᾽ ἂν ἐν πόθῳ λάβοις, 1678). Um ein leidloses Hinscheiden des Fremden hatte der Chor im vierten Stasimon gebetet (1560–1564), und der Bericht des Boten bestätigt auf seine Frage (1584), daß ihm das zuteil wurde. Das abschließende Urteil des Chors, daß Ödipus sein Ende ὀλβίως erreichte (1720), wird noch überhöht durch die Mahnung des Theseus an die Töchter, die Klage zu beenden, da die Gnade der Unterirdischen dem Ödipus und dem Land gleichermaßen zugute komme und Klagen folglich unangebracht sei (1751–1753). Theseus glaubt an den Schutz, den Ödipus’ Grab für Athen bringen soll (1764–1767), und zweifellos soll der Zuschauer diesen Glauben mit ihm teilen. Aus der Sicht Athens hat also Ödipus seine Dankespflicht, wie angekündigt (1489f., 1508ff.), vollgültig erfüllt. Aus der Sicht der Familie ist es die Liebe, die seinen Tod ertragen hilft: mit dem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Liebe zum Vater auch nach seinem Tod (1700–1703) antwortet Antigone dem (eben zitierten) letzten Wort des Ödipus zu seinen Töchtern, von niemandem sei ihnen mehr Liebe zuteil geworden als von ihm (1617f.). Dankbarkeit und Liebe, ausgedrückt von den untadeligen Gestalten Theseus und Antigone, sind also die dominierenden Affekte, die die Schlußszene dem Zuschauer vermitteln will – eingebettet in die Totenklage um einen Mann, um den sich die Götter bis in seine letzte Stunde kümmerten. Die im OK konsistent durchgeführte Sympathielenkung läßt uns zu dem Schluß kommen, daß Sophokles uns in seinem letzten Drama eine

20. und frühen 21. Jahrhunderts. In anderem kulturellem Kontext hätte man doch wohl die Möglichkeit eingeräumt, daß so, wie ein sehender Vater seine Töchter mit inniger Freude betrachten kann, ohne zugleich begehrliche Blicke auf sie zu richten, auch ein blinder Vater die Berührung seiner Töchter suchen kann, ohne sie in sinnlich-unsauberer Weise betasten zu wollen. In scheinbarer interpretatorischer Objektivität versichert Bernard gleich darauf: „Damit soll selbstverständlich nichts ‚Sensationelles‘ behauptet sein (keine Rede von einer heimlichen Fortsetzung von inzestuösen Verhältnissen)“ (ebd., 77–78). Während so die ‚Behauptung‘ „selbstverständlich“ dementiert wird, wird gleichzeitig die Insinuation umso mehr verfestigt. Selten wird so deutlich wie hier, daß die sogenannte ‚sexual revolution‘ der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die westliche Welt in manchen Punkten unfähig gemacht hat, fremde und ältere Kulturen adäquat zu verstehen.

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neue, großartige Ausprägung des von ihm geschaffenen Typus des tragischen Helden zeigen will: Ödipus ist hart, verhärtet und unnachgiebig, aber er ist zugleich groß und γενναῖος. Er ist ein würdiger Fortsetzer der Reihe der μεγάλαι ψυχαί, die uns der Dichter seit dem Aias in ihrem Scheitern gezeigt hat. Statt ihn abzuwerten als bösartigen Verderber seines Geschlechtes, der durch seine Unbeherrschtheit vermeidbares Unheil auf sich und die Seinen zog, sollten wir sehen, daß Sophokles in ihm den Mann zeigt, der sich trotz der unwiderstehlichen Wirksamkeit des Geschlechtsfluchs in seinem Unglück so gehalten hat, daß die Götter ihn am Schluß erhöhen (394, 1565–1567, vgl. 1455) – nicht wegen eines positiven Verdienstes, das er mittlerweile erworben hätte, sondern eher weil er ist, was er ist. Er kommt, wie schon Kitto gesehen hat,31 als Heros nach Attika und will als solcher anerkannt werden. Theseus und die Götter erkennen ihn an. Wenn wir als Interpreten das nicht tun, wird Ödipus dadurch nicht geringer, allenfalls unsere Interpretation wertloser.

Nachtrag Der Umstand, daß dieser Beitrag im Jahr 2002 entstand (s. Anm. oben S. 62) macht es, so hoffe ich, hinnehmbar, wenn ich auf den 2004 erschienenen wichtigen Aufsatz von Manuela Giordano-Zecharya (Edipo a Colono: la palinodia della colpa, ›SemRom‹ 7, 2004, S. 183205) nur in Form eines getrennten Nachtrags eingehe. Manuela Giordano-Zecharya nimmt die Frageweise ihres Lehrers G. Cerri (z. B. in: Legislazione orale e tragedia greca, 1979) auf, indem sie durch genaue Beobachtung der von Sophokles verwendeten Sprache die Frage der Schuld des Ödipus aus der Sicht des damals gültigen attischen Rechts zu beantworten sucht. Meine prinzipielle Zustimmung zu dieser Art der Betrachtung habe ich an anderer Stelle schon zum Ausdruck gebracht (Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers, in: Griechische Klassik, hrsg. von Egert Pöhlmann und Werner Gauer, Nürnberg 1994, S. 65–91, hier: S. 77 Anm. 54, 56). Auch hier ist das Ergebnis vollkommen überzeugend: wie vor allem deutliche Parallelen aus den Tetralogien des Antiphon zeigen (Giordano-Zecharya S. 199–201), stellt Sophokles selbst die Frage der Schuld des Ödipus in Begriffen des attischen Rechts. Und nach diesem Recht ist Ödipus schuldlos, νόμῳ καθαρός (OK 548) ist zu verstehen als „innocente per legge ateniese“ (S. 203). Den Versuch, Ödipus in jedem Fall

31 Kitto: Greek Tragedy, 395.

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für schuldig zu erklären, weil er doch in jedem älteren Mann seinen Vater hätte vermuten müssen, betrachtet Giordano-Zecharya als „speciosa … argomentazione“ (S. 196 Anm. 42, vgl. S. 193 Anm. 21: der Schluß auf die Schuld des Ödipus erfolge „in modo a mio avviso specioso“). So weit bin ich mit der Verfasserin völlig einig. Schwieriger ist es, ihrer Auffassung zu folgen, OT und OK seien „varianti in parallelo di uno stesso mito“ (S. 184). Das spätere Drama sei ein „aggiornamento“ desselben Mythos von Ödipus, „una versione volutamente attualizzata del caso del figlio di Laio“ (S 183 mit Anm. 1, S. 201). Die aktualisierte Neufassung wolle dem Publikum „un cambiamento di prospettiva da una mitico-epica a una attuale“ nahebringen (S. 194). Hier sind Zweifel angebracht. Vom Standpunt der Narratologie aus kann man die Handlung von OT und OK nicht gut als zwei „Varianten“ desselben Mythos ansehen. Es handelt sich vielmehr um zwei wenn auch komplementäre, so doch klar getrennte Teile eines übergreifenden Mythos, der von vornherein zweiteilig konzipiert ist. Das zeigt zur Genüge das von Lowell Edmunds vorgelegte narratologische Material aus vielen Zeiten und vielen Kulturen (L. Edmunds, Oedipus. The Ancient Legend and Its Later Analogues, Baltimore-London 1985; vgl. auch Vladimir Propp, Oedipus in the Light of Folklore, in: L. Edmunds (ed.), Oedipus. A Folklore Casebook, New York-London 1983, S. 117–121). In diesem Sinne hatte ich vor einigen Jahren schon Anlaß festzustellen: „Daß es nicht sinnvoll ist, die beiden Phasen des Geschehens, die thebanische und die attische, isoliert zu behandeln, setzt sich in der gräzistischen Interpretation erst allmählich durch. Aus der Sicht der Märchenforschung war die Zusammengehörigkeit beider Mythen nie strittig“ (Th. A. Szlezák, Ödipus nach Sophokles, in: Antike Mythen in europäischer Tradition, hrsg. von H. Hofmann, Tübingen 1999, S. 204 mit Anm. 10). Wenn nun GiordanoZecharya die beiden Phasen, statt ihre Komplementarität zu erkennen, zu bloßen Varianten desselben Mythos macht, so gerät die je verschiedene Funktion der Phasen aus dem Blick, wodurch die Beurteilung beider einseitig wird.32 Die Redeweise vom „aggiornamento“ und von der „attualizzazione“ könnte leicht zu der Vorstellung verleiten, als führe der intellektuelle Weg des Sophokles – bei identischem Thema – von der archaisch-finsteren the32 Hierher gehört auch, daß die Verfasserin die Bedeutung der Beziehungen zwischen den beiden Dramen herunterspielen möchte, sie seien nicht wichtiger als die Beziehungen zu „anderen Varianten“ (S. 184) – das wird der Vielzahl und dem Gewicht der motivischen Übereinstimmungen zwischen OT und OK kaum gerecht.

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banischen Sicht des Mythos zur attisch-rationalen Helle, von mythisch-epischer Perspektive zur „aktuellen“, eben zu einer „comprensione diversa, ovvero ateniese“ (S. 194). Sollen wir das am Ende gar als Fortschritt verstehen? So sagt es die Verfasserin nicht wörtlich, doch erweckt ihre Darstellung durchwegs den Eindruck, als komme die Perspektive des attischen Rechts neu hinzu, weswegen der (vermeintlich) identische Mythos zu „aktualisieren“ war. Wir finden jedoch keinen Versuch, die einschlägigen Bestimmungen des attischen Rechts zu datieren. Wurden sie in der Zeit zwischen OT und OK erlassen? Selbst wenn die Rechtshistoriker dies bestätigen würden, würde noch nicht folgen, daß Sophokles, als er den OT schrieb, über diese Sichtweise noch nicht verfügen konnte: stets geht die moralische Reflexion der staatlichen Gesetzgebung zeitlich voran, oft – wie auch in unserer Zeit – um 30 Jahre und mehr. Ein ‚Wechsel der Perspektive‘ findet ganz gewiß statt, aber anders als von Giordano-Zecharya beschrieben. Nicht von der mythisch-epischen zur heutigen Perspektive geht die Entwicklung, sondern innerhalb der religiösen Perspektive kommt Neues in den Blick. Die Götter bestimmen die Handlung in beiden Dramen von Anfang bis Ende. Die Entrückung des Ödipus ist ebenso ‚mythisch-episch‘ wie Vatermord, Inzest und Selbstblendung. Doch geht die Bewegung innerhalb des als Einheit zu begreifenden zweiteiligen Geschehens von der Sicht des Mannes, der der Befleckung (μίασμα) entgehen wollte, was der Gott ihm nicht gewährte, weswegen er sich selbst gnadenlos bestrafte, im zweiten Stück zur Sicht des Mannes, der schwer gebüßt hat und dem nun wegen des einstigen gottverfügten miasma sein gottgewolltes Grab in Attika – eine einzigartige Gnade der Gottheit – von Menschen verwehrt werden soll. Daß Ödipus gegen diesen Versuch in menschlichen Kategorien, eben in Begriffen des attischen Rechts, argumentiert, ist vollkommen konsequent, entspricht es doch der Situation. Im ersten Stück sprach Ödipus von sich und von Gott (Ἀπόλλων τάδ’ ἦν, Ἀπόλλων, ϕίλοι OT 1329), im zweiten kämpft er mit Gründen vor den Koloneern und Theseus. Der Sinn des übergreifenden Geschehens zwischen Ödipus und den Göttern ist davon nicht betroffen. Vernichtung durch die Götter und Erhöhung durch die Götter – das ist nicht wie erste Fassung und zweite Fassung, nicht wie herkömmliche Wertung und aktualisierte Wertung, vielmehr sind das die zwei Momente der einheitlichen Deutung des Verhältnisses Gott-Mensch durch den religiösen Denker Sophokles.

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Wie schwer es ist, die sophokleischen Texte in überzeugender Weise mit der Zeit, in die hinein sie wirken sollten, in Beziehung zu setzen, zeigen folgende Datierungsvorschläge für den Oidipus Tyrannos. (1) Der OT wurde datiert in das Jahr 456 vor Chr. mit folgender Begründung: Das zweite Stasimon spricht von frevelhafter Gesinnung und unlauterem Gewinn, vom Sich-Vergreifen an Unantastbarem (d. h. an religiös Geschütztem), von Hybris und ihrer Bestrafung. Auf die Hauptfigur ist all das nicht anwendbar, Oidipus kann nicht gemeint sein. Folglich muß etwas außerhalb des Dramas Liegendes angesprochen sein. Es gab aber in der Geschichte des 5. Jh. nur einen Moment, in dem solche Warnungen angebracht waren, nämlich als Athen nach der Schlacht von Oinophyta 457 mit Hilfe der Phoker das Orakel von Delphi und seine bedeutenden Finanzmittel unter seine Kontrolle gebracht hatte. Hiergegen protestiert Sophokles mit Formulierungen wie οὐδὲ δαιμόνων ἕδη σέβων 886, εἰ μὴ τὸ κέρδος κερδανεῖ δικαίως 889 und τῶν ἀθίκτων θίξεται ματᾴζων 891. Der historisch richtige Ort des Stückes ist demnach 456 oder kurz danach. So datierte Ewald Bruhn im letzten deutschsprachigen Kommentar zum OT.1 (2) Der OT ist zu datieren auf 411. Denn wir begegnen in der ersten Szene der Sentenz, daß keine Befestigung und kein Schiff etwas ist ohne die Männer, die es verteidigen (OT 56f.). Das war aber nach Thukydides 7.77.7 der Höhepunkt und Schluß von Nikias’ Ermahnungen an das athenische Heer vor der letzten Schlacht in Sizilien. Das Stück setzt also die Niederlage Athens von 413 voraus. So argumentierte Carlo Diano in einem Artikel von 1952.2 (3) Der OT ist aber, wie alle wissen, an den Anfang der 20er-Jahre des 5. Jh. zu datieren, da er ja die große Pest erwähnt, die nach Thukydides (2.47) im zweiten Jahr des Krieges Athen heimsuchte. Die Aufführung muß also bald nach 429 vor Chr. stattgefunden haben – das war die bisherige communis opinio.3 Wer aber genauer hinhören will und

1 Sophokles. Erkl. v. Friedrich Wilhelm Schneidewin/August Nauck. Zweites Bändchen: König Oedipus. Berlin 111910, Einleitung 33–40, bes. 37f. 2 Carlo Diano: Edipo figlio della τύχη. In: Dioniso 15 (1952), 56–89, bes. 81f. 3 Vgl. Albin Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen 31972, 218f.

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sich den subtilen Argumenten von Bernard Knox anvertraut, der wird bei der Seuche in Theben eher an das zweite Auftreten der Pest in Athen im Winter 427/26 denken (Thuk. 3.87), die Aufführung also auf ca. 425 legen.4 Wir haben also drei weit voneinander abweichende Datierungen, die doch eines gemeinsam haben, nämlich daß sie davon ausgehen, daß Sophokles Ereignisse in der Geschichte seiner Stadt in seiner Dichtung berücksichtigt oder ‚verarbeitet‘ hat. Es sind sehr verschiedene Ereignisse, die in Betracht gezogen wurden: einmal eine spektakuläre Machtausweitung der noch unbelasteten, noch nicht als πόλις τύραννος entlarvten Demokratie, dann ein unerklärbarer Schicksalsschlag wie die Pest, schließlich die militärische Katastrophe der sich längst imperialistisch gebärdenden, jetzt aber in einer Führungskrise befindlichen Stadt. Alle drei Ereignisse wären zweifellos bedeutsam genug, um ein unmittelbares Echo in zeitgenössischer Dichtung zu finden – jedenfalls wenn man von den Gewohnheiten eines Aischylos oder Euripides ausginge. Indes dürfte die Annahme, daß Sophokles in verschlüsselter Form auf sie Bezug nahm, in allen drei Fällen verfehlt sein – vermutlich auch im Fall der Pest, deren Spiegelung im Medium der Dichtung lange Zeit unbestreitbar schien. Es gibt jedoch einen gewichtigen Einwand: An ein so schmerzliches Ereignis, wie die Pest es für Athen war, so bald danach fast unverhüllt zu erinnern, hätte ein Maß an Realismus, ja aufdringlicher Aktualisierung bedeutet, das mit dem gattungsspezifischen Abstand zur Zeitgeschichte, den Oliver Taplin5 so treffend beschrieben hat, schwer zu vereinbaren gewesen wäre. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird der OT heute in die Zeit vor dem Peloponnesischen Krieg datiert6 und die scheinbar so historisch-aktuell wirkende Pest ist eine mythische Seuche, deren Züge im einzelnen denn auch merklich verschieden sind von der in Athen. Doch was kann man überhaupt erwarten an Reflexen der Zeitgeschichte, wenn weder die Pest, noch die Kontrolle über Delphi, noch die Niederlage in Sizilien wichtig genug waren, um in den Text Eingang zu finden? Was ist bei Sophokles eine sichere Anspielung, eine durchsichtige Deu-

4 Bernard M. W. Knox: The Date of the Oedipus Tyrannus of Sophocles. American Journal of Philology 77 (1956), 133–147 [auch in: ders.: Word and Action. Essays on the Ancient Theater. Baltimore 1979, 112–124]. 5 Oliver Taplin: Die Welt des Spiels und die Welt des Zuschauers in der Tragödie und Komödie des 5. Jahrhunderts, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 12 (1986), 57–71. 6 Carl Werner Müller: Zur Datierung des sophokleischen Ödipus. Main 1984 (Abhandlung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1984/5).

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tung im Medium des Mythos? Von πόλις ist ständig die Rede – doch wo redet der Dichter von seiner Stadt? Tut er das überhaupt jemals? Und wie können wir dessen im gegebenen Fall sicher sein? Aischylos hat es uns in dieser Hinsicht leichter gemacht. Daß die Darstellung des Areopags der mythischen Zeit in den Eumeniden mit der Neudefinition dieser Institution 462 vor Chr. zu tun hat, wurde noch von keinem sachkundigen Interpreten in Frage gestellt. In den Hiketiden finden wir eine verantwortungsvoll Politik treibende Bürgergemeinde, eine Art Vorbild für die athenische, im mythischen Argos. Die Argiver der Vorzeit kennen überdies schon die soeben im Piräus erprobte architektonische Neuerung der Reihenhäuser, wie Peter Spalm und Wolfgang Rösler gezeigt haben.7 Manche wollten in dem Stück eine konkrete Empfehlung für ein Bündnis mit Argos sehen,8 wie es bald darauf wirklich zustande kam. Wenn das zuträfe, so müßte man das mythisierende Bild des Dareios und der Bestimmung seines Volkes in den Persern fast schon als vergleichsweise politikfern und zeitenthoben bezeichnen – und doch handelt es sich um eine höchst intensive Aufarbeitung (oder, wenn man so will, ‚Bewältigung‘) von selbst erlebter Geschichte, mit einem zeitlichen Abstand von nur wenigen Jahren. Euripides ist, wie in manchen anderen Dingen, so auch hierin der Fortsetzer des Aischylos. Zwei seiner Stücke konnten nachgerade unter dem Titel The Political Plays of Euripides geführt werden,9 woraus man freilich nicht schließen sollte, die anderen Stücke seien unpolitisch. Euripides’ Deutung des Zugs der Griechen gegen Troja, in der Iphigenie in Aulis, als panhellenische Unternehmung gegen Barbaren, die von Natur Sklaven sind und den Griechen untertan sein sollten (Iphigenie in Aulis, 1378ff., 1400f.), konnte unschwer als Aufruf zur Einheit gegen den asiatischen Feind aufgefaßt werden und wirkt jedenfalls für uns aus der Retrospektive stark programmatisch. Näher am Tagesgeschehen sind die Ausfälle gegen Sparta in der Andromache (445ff., 595ff.), die die haßerfüllte Stimmung

7 Wolfgang Rösler: Typenhäuser bei Aischylos? In: Demokratie und Architektur. Hg. v. Wolfram Schuller/Wolfgang Hoepfner/Ernst-Ludwig Schwandner. München 1989, 109–114. 8 Kurt Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. I. Hg. v. Iring Fetscher/Herfried Münkler. München/Zürich 1988, 273–368 (288 zu Aisch. Hik.). 9 Günther Zuntz: The Political Plays of Euripides. Manchester 21963 [1955]. Die „politische“ Interpretation gilt den Hiketiden und den Herakliden.

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während des Archidamischen Krieges widerspiegeln,10 oder die Schilderung einer turbulenten Volksversammlung im Orestes (866ff., bes. 902ff.), die auf die Rolle der Demagogen in der athenischen Politik in den letzten Jahren des Peloponnesischen Krieges verweist. Der Bürgerkrieg in Theben, wie ihn die Phönissen schildern, weist Züge auf, die die Beziehung auf den Machtkampf in Athen zwischen Oligarchen und Demokraten wahrscheinlich machen.11 Unübertroffen an Gegenwartsnähe sind die Herakliden, das frühere der erwähnten ‚politischen Stücke‘: gegen 430 aufgeführt, behandelt es den Einfall der Peloponnesier unter Eurystheus – kurz nach dem Einfall derselben Gegner unter Archidamos. Die Rechtfertigung des athenischen Standpunktes im Sinne der perikleischen Politik ist offenkundig.12 Bei Sophokles finden wir nichts in dieser Art. „Es ist aufs schärfste zu sagen“, schrieb Ulrich von Wilamowitz vor fast 100 Jahren, „daß keine sophokleische Tragödie eine unmittelbare Beziehung auf ein Factum der Gegenwart enthält.“13 Es besteht kein Grund zur Annahme, daß der Dichter es in den nicht erhaltenen Stücken anders gehalten hätte.14 War Sophokles demnach unpolitisch? So wie man sagen konnte, er sei unphilosophisch15? In der Tat gehört die direkte Übernahme und Fortführung von Begriffen und Diskussionen der Philosophie nicht zu seinem

10 Natürlich ist auch diesen Partien zeitgeschichtliche Aktualität abgesprochen worden, u. a. von Patricia N. Boulter: Sophia and sophrosyne in Euripides’ Andromache. In: Phoenix 20 (1966), 51–58 und Hartmut Erbse: Euripides’ ‚Andromache‘. In: Hermes 94 (1966), 276–297, bes. 286f. [auch in: Euripides. Hg. v. Ernst-Richard Schwinge. Darmstadt 1968 (Wege der Forschung, Bd. 89), 275–304, bes. 288–291]; vgl. auch Paul David Kovacs: The Andromache of Euripides. An Interpretation. Atlanta 1980, 63f., 68, 75f. Doch hat A. Lesky solche Urteile wohl richtig als „Reaktion gegen frühere Übertreibungen“ eingestuft und die Angriffe auf Sparta mit „der Stimmung einer Zeit, in der Athen ... um seine Existenz kämpfte“, in Verbindung gebracht (Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen, 347). 11 Vgl. Jacqueline de Romilly: Les Pheniciennes d’Euripide ou l’actualite dans la tragedie grecque. In: Revue de Philologie de Littérature et d’Histoire Anciennes 39 (1965), 28–47; K. Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens, 348–350. 12 Vgl. Zuntz: The Political Plays of Euripides, 82ff.; Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens, 342–344. 13 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Excurse zum Oedipus des Sophokles. In: Hermes 34 (1899), 55–80, Zitat 59. 14 S. Radt ging der Frage nach, „was die Fragmente zu unserem Sophoklesbild beitragen“ (Stefan Radt: Sophokles in seinen Fragmenten. In: Entretiens sur l’antiquite classique, t. XXIX: Sophocle (1983), 185–222). Auf zeitgeschichtliche Anspielungen kommt auch er nicht zu sprechen. 15 Vgl. Donald A. Hester: Sophocles the Unphilosophical. In: Mnemosyne 24 (1971), 11–59.

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Stil. Die Bezeichnung σκηνικὸς φιλόσοφος16 gab die spätere Zeit Euripides, nicht Sophokles. Sollten wir mit dem Epitheton πολιτικός ebenso verfahren? Was das Engagement als Bürger betrifft, war es bekanntlich umgekehrt: Euripides hielt sich den Angelegenheiten der Stadt fern, von Sophokles hingegen wissen wir, daß er das wichtige Amt des Hellenotamias bekleidete, daß er mindestens einmal, möglicherweise öfter Stratege war, schließlich daß er in hohem Alter noch, bei der Einführung der oligarchischen Verfassung im Jahr 411, zu den Probuloi gehörte, dem wichtigen Kollegium, das seit 413 die Geschäfte des Rates vorweg sichtete.17 Als Bürger war Sophokles also stark integriert in das politische Leben seiner Stadt. Sollte sein Werk unbeeinflußt sein von der Geschichte, die er doch in nicht unbedeutenden Funktionen mitgestaltete? Die Möglichkeit, daß er bewußt trennte zwischen dem, was er als Bürger mitgestaltete, und dem, was er als Dichter den Mitbürgern zu bedenken gab, ist von vornherein ernst zu nehmen. Aber das würde noch nicht bedeuten, daß er sich der Prägung durch die Fragen der Zeit entziehen konnte oder daß er darauf verzichtet hätte, bewußt auf das zu antworten, was ihm im attischen und außerattischen Rahmen begegnete. Daß die attische Tragödie ein im weiteren Sinne ‚politisches‘ Phänomen war, ist nie verkannt worden. Der Agon der tragischen Dichter an den Großen Dionysien war von der Polis organisiert, schon über die Zulassung entschied die Stadt durch das Amt des Archon eponymos. Das ganze fünftägige Fest war – neben anderem – auch eine Selbstdarstellung der Stadt vor einem breiteren griechischen Publikum, das zu Beginn der Zeit der Seefahrt in Athen zusammenströmte. Insbesondere waren die wohlbekannten Zeremonien,18 die den Tragödienaufführungen voraufgingen, geeignet, das Selbstverständnis der Stadt den Bürgern wie den Gästen bewußt zu machen: Die Vorführung der Tribute der Bundesgenossen zeigte die Macht Athens, die Ehrung verdienter Männer den Einsatz und den Gemeinsinn der Bürger, die Ausstattung der mündig gewordenen Kriegswaisen mit einer Rüstung die Dankbarkeit und Fairness der Stadt, die so viel vom einzelnen verlangte.

16 Athenaios IV 158 E und XIll 561 A; weitere Belege bei Wilhelm Nestle: Euripides. Der Dichter der griechischen Aufklärung. Stuttgart 1985 [1901], 372, Anm. 10. 17 Tragicorum Graecorum Fragmenta, Bd. 4: Sophocles. Hg. v. Stefan Radt. Göttingen 1977, Test. 18–27. 18 Die Zeugnisse bei Arthur W. Pickard-Cambridge/John Gould/David M. Lewis: The Dramatic Festivals of Athens. Oxford 21968, 59 und 67.

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Der Rahmen war also zweifellos ein ‚politischer‘, oder sagen wir besser: ein staatlich-ritueller. Riten zielen letztlich auf Bestätigung und Festigung der bestehenden Ordnung. Die Affirmation wichtiger Aspekte der athenischen Polis-Ideologie wurde also zu Beginn des Wettkampfs der Dichter und der Bürgerchöre ausgespielt. Was bedeutete das aber inhaltlich für die anschließend gezeigten Stücke? Simon Goldhill hat neuerdings wieder versucht, eine bedeutsame innere Beziehung zwischen den einleitenden Zeremonien und den tragischen Dichtungen aufzuzeigen.19 Auf die Affirmation der Polis-Ideologie im Ritus folge ein beunruhigendes Infragestellen der die Polis tragenden Ordnungen und Wertbegriffe in der Dichtung. Im Verunsichernden und Aufrüttelnden dieses kritischen Hinterfragens bestehe das spezifisch Dionysische der attischen Tragödie. So schön diese Deutung auch ist, wir sollten nicht vergessen, daß auch Dionysos zur bestehenden religiösen und sozialen Ordnung gehört, die bestätigt sein will, und daß der Gott der Bewegung, der Entrückung und des Irrationalen dem, der seine Göttlichkeit anerkennt, nicht intellektuelles Umgetriebensein und stete Verunsicherung, sondern Ruhe und tiefsten Seelenfrieden schenkt (die Chorlieder der Bakchai zeigen dies mit eindringlicher Klarheit). Wir sollten zweitens auch nicht vergessen, daß die soziale Ordnung in den tragischen Spielen nicht nur infolge menschlicher Verfehlungen zusammenzubrechen droht, sondern auch durch tragische oder untragische Lösung des Konflikts regelmäßig wiederhergestellt wird, sei es auch bisweilen nur durch einen deus ex machina – doch auch da wäre zu fragen, ob die unerwartete Lösung durch einen Gott vom fünften vorchristlichen Jahrhundert – so wie vom zwanzigsten nachchristlichen Jahrhundert – wirklich nur ironisch aufgefaßt werden konnte. Diese Bemerkungen wollen indes nicht die ‚politische‘ Relevanz der tragischen Dichtung herabmindern, sondern im Gegenteil: Die Stücke verhalten sich zur Polis-Ordnung und den sie tragenden Werten letztlich nicht minder affirmativ als der Rahmen. Nur: was heißt hier Polis-Ordnung? Welche Ordnung muß gestützt und bestätigt werden? Muß die Tragödie, um ‚politische‘ Dichtung zu sein, notwendig von der eigenen Polis in ihrer jetzigen Form handeln?

19 Simon Goldhill: The Great Dionysia and Civic ldeology. In: Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context. Hg. v. John J. Winkler/Froma I. Zeitlin. Princeton 1990, 97–129. – Umsichtiger als S. Goldhill behandelt das Verhältnis von Tragödie und Polis Anton F. H. Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. Tübingen 1991 (eine Arbeit, die mir erst nach Abfassung des vorliegenden Beitrags zukam).

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Vordergründig betrachtet tut sie gerade das nicht: Der Schauplatz der alten Mythen, an die die Gattung gebunden bleibt, ist meistens nicht Athen, und wo das einmal der Fall ist, da erinnert die Existenz eines Königs in UrAthen – und mag er auch ein so demokratischer König sein wie der Euripideische Theseus in den Hiketiden – oder das Auftreten einer Gottheit vor Sterblichen an den Unterschied zwischen der πόλις auf der Bühne und der πόλις der Realität.20 In welchem vermittelteren Sinn aber eine mythische Polis für die eigene stehen könnte oder sollte, dafür gab es keine verbindlichen Vorgaben. Wichtig ist, daß auch der erwähnte staatlich-rituelle Rahmen nur die Umrisse festlegt. Es leuchtet zwar ein, daß auf diese Akte, die die Macht und den Zusammenhalt der Gemeinschaft der Bürger demonstrierten und bekräftigten, nicht gut ein plump antiathenisches, antidemokratisches Stück folgen konnte. Aber daß durch den Rahmen mehr festgelegt war – positiv etwa bestimmte Inhalte der Affirmation oder negativ der Ausschluß prinzipiellerer Kritik – kann ich nicht sehen. So hoch man auch den ‚politischen‘ Charakter der Tragödie veranschlagt, es ist nicht zu leugnen, daß durch die Entrücktheit des mythischen Raumes der Freiheit des Dichters ein erheblicher Spielraum gelassen war – ein Spielraum, der gut zu der Stadt paßte, die stolz auf ihre παρρησία war. Wie hat Sophokles diesen Spielraum genützt? Die Polis hat er, wie erwähnt, ständig thematisiert, und mit großer Intensität. Nur in einem der sieben Stücke, in den Trachiniai, fehlt sie ganz, und selbst hier bleibt sie in ihrem Fehlen wichtig als Hintergrund und Bezugspunkt.21 Die Interpretation dieser allgegenwärtigen Polis in einem dezidiert ‚politischen‘ Sinn kann sich aber auf sehr verschiedenen Ebenen bewegen, die sich in folgender Stufung vom Konkreteren zum Abstrakteren darstellen lassen: (1) Man kann nach direkten Anspielungen auf aktuelle Ereignisse Ausschau halten. Wie erwähnt, hat es damit seine Schwierigkeiten. Wie aber, wenn man statt historischer Fakten, deren Präsenz bei Sophokles Ulrich von Wilamowitz wohl zu Recht bestritt, aktuelle Themen und Probleme sucht? Wie verfährt man mit dem Landesverräter nach

20 Wenn bei Aischylos und Euripides (wie oben S. 66f. erwähnt) die mythische Polis in eine große Nähe zur gegenwärtigen gebracht wird, so geschieht dies durch ein bewußtes, im Text klar nachweisbares Überspielen des Trennenden. 21 Bernard M. W. Knox: Sophocles and the polis. In: Entretiens sur l’antiquite classique, t. XXIX: Sophocle. Hg. v. Olivier Reverdin/Bernard Grange. Genève 1983, 1–37, bes. 7–10, rechnet neben den Trachiniai auch die Elektra als unpolitisches Stück; s. dazu unten S. 74 mit Anm. 38 und S. 81 mit Anm. 73–76.

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seinem Tod? Welche Rechte soll einer haben, dessen Eltern nicht beide Athener waren? Das waren Fragen, mit denen der Zuschauer von damals nicht erst im Theater konfrontiert wurde. (2) Man kann versuchen, einzelne Figuren auf historische Persönlichkeiten zu beziehen. Nicht eben subtil war der Versuch von Le Beau im 18. Jahrhundert, in Philoktetes Alkibiades zu erkennen, dem die Heimat Unrecht getan habe und den sie nun zu ihrem eigenen Vorteil zurückholen wolle.22 Intelligenter ist schon der neuere Vorschlag, in Philoktetes Sophokles selbst zu sehen, ebenso wie im Oidipus des zweiten Ödipus-Dramas:23 Beide kehren sich ab von ihrer politischen Gemeinschaft, und das habe der Stimmung des Dichters selbst in seinen letzten Lebensjahren entsprochen. Der vorsichtigen Annäherung des Kreon aus der Antigone und des Oidipus aus dem ersten ÖdipusStück an den historischen Perikles durch Victor Ehrenberg24 haben auch Kritiker dieser These den Respekt nicht versagt. Jan C. Kamerbeek hütete sich vor einer Identifikation von Aias mit Kimon, meinte aber doch, der Tod Kimons könne Sophokles zu seiner Gestaltung des überdurchschnittlichen und schließlich isolierten Aias angeregt habe.25 (3) Man kann einzelne Figuren aber auch als Verkörperungen und Symbolgestalten der führenden Poleis oder politischer Kräfte in ihnen auffassen. Oidipus steht dann nicht mehr für einen bestimmten Athener, sondern für Athen selbst.26 Die gleiche Ausweitung der Verweisfunktion von Perikles auf die πόλις τύραννος wurde dann natürlich auch für Kreon versucht.27 Menelaos und Agamemnon wären so betrachtet nicht belanglose Theaterpotentaten, sondern Porträts der primitiven Brutalität Spartas, ähnlich Kreon im zweiten Ödipus Inbegriff

22 M. Le Beau, in: Mémoires de litterature tirés des registres de l’Academie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres, tome 35. Paris 1770, 442. 23 Kjeld Matthiessen: Philoktet oder die Resozialisierung. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 7 (1981), 11–26, bes. 25f. Vgl. unten S. 114ff. 24 Victor Ehrenberg: Sophocles and Pericles. Oxford 1954 [dt. München 1956], daraus 63–91, 196–199 abgedruckt unter dem Titel Das Herrscherbild des Sophokles. In: Sophokles. Hg. v. Hans Diller. Darmstadt 1967 (Wege der Forschung, Bd. 95), 91–125. Vgl. unten S. 80f. 25 Jan C. Kamerbeek: The Plays of Sophocles. Commentaries, Part I: The Ajax. Leiden 1953, 17. 26 Bernard M. W. Knox: Why Is Oedipus Called Tyrannos?. In: Classical journal 50 (1954) 97–102 [jetzt in: ders.: Word and Action, Baltimore 1979, 87–95, bes. 90– 93]. 27 Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens, 298 f.

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thebanischer Perfidie. Und könnte man nicht in einigen Chören – den wenig imponierenden Chören in Aias, Antigone oder Philoktetes – Darstellungen des Demos sehen? (4) Am interessantesten, freilich auch am schwierigsten, ist aber die Suche nach der Darstellung von Grundhaltungen, Werten, Tendenzen und Verhaltensweisen, die für die athenische Politik bestimmend waren. Was darf die Polis vom Bürger verlangen? Kann sie die Grenzen für ihr Tun und Lassen selbst festlegen? Wie schwer wiegt das Unrecht, das der Staat dem einzelnen zugefügt hat? Was nutzen große Worte über das rechte Verhältnis zur Gemeinschaft? Wie steht die Mehrheit zum Individuum? Zugegeben: es gibt wenig, was unter dieser Fragestellung nicht irgendwie als ‚politisch‘, als die Polis tangierend, interpretiert werden könnte. Trotz der methodischen Unsicherheit, die sich daraus ergibt, läßt sich erst in diesem Bereich die entscheidende Präzisierung der Frage gewinnen, nämlich: wie stand Sophokles zur Polis-Ideologie der radikalen Demokratie28? Wenn wir hier nicht klar sehen, haben wir keine Aussicht, zu erfassen, wie Sophokles auf seine Zeit und ihre Geschichte reagiert, wie er sie – vielleicht – ‚bewältigt‘ hat. Auf die kritische Frage, ob es eine eigentliche demokratische Polis-Ideologie im 5. Jh. gab oder ob diese sich erst in der Auseinandersetzung mit der oligarchischen und der philosophischen Kritik später formierte, ist eine zweifache Antwort möglich: Erstens wird man die politische Bewußtseinsbildung während und auch schon vor dem Peloponnesischen Krieg nach den Arbeiten von Mogens H. Hansen, Jochen Bleicken, Martin Ostwald, Kurt Raaflaub29 und anderen nicht unterschätzen; zweitens aber ist festzuhalten, daß ein Dichter, der nicht Argumente referiert und abwägt, sondern in erster Linie Konflikte erspürt, beobachtet und darstellt, nicht auf den jeweils von anderen erreichten Reflexionsgrad festgelegt werden kann.

28 Als ‚radikal‘ sei hier die Phase der Demokratie bezeichnet, in der die Volkssouveränität alles bedeutete und die Souveränität des Gesetzes erst allmählich entdeckt wurde, also grob gerechnet die Zeit von der Reform des Ephialtes (462) bis zur Krise der Demokratie in den letzten Lebensjahren des Sophokles. Zum Thema vgl. Martin Ostwald: From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Berkeley u. a. 1986. 29 Mogens Herman Hansen: The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes: Oxford u. a. 1991 (dort S. 333 fund 346f. Verzeichnisse der zahlreichen früheren Arbeiten des Autors zur Geschichte der athenischen Demokratie); Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie. Paderborn 1985; Ostwald: From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens; ders.: Die Entdeckung der Freiheit. München 1985.

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Wenn wir großer Dichtung die Fähigkeit nicht zugestehen wollten, ihre Zeit zu verstehen, bevor diese selbst sich versteht, so würden wir sie im Grunde für entbehrlich erklären. Unter den genannten Gesichtspunkten, die sich selbstverständlich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sich vielmehr auch ergänzen können, sind die Dramen nunmehr einzeln zu betrachten.

1. Aias Der Aias wurde neuerdings von Christian Meier interpretiert als „ein sehr stark politisches Stück“; es sei mit der Politik seiner Entstehungszeit „aufgeladen“.30 Für Sophokles sei „alles unsicher und im Wechsel begriffen“, und „die Demokratie schon keine Gewähr mehr dafür, daß die inneren Probleme der Stadt gelöst sind“. Doch sei damit keine Kritik an der Demokratie gemeint.31 Vielmehr sieht Meier in dem Stück den Versuch, „sich der demokratischen Ordnung zu versichern“, sie „zu erklären, zu rechtfertigen, vorzuführen“.32 Odysseus wird in dieser Perspektive zur Zentralfigur, zum Träger der „Einsichten des Stückes“, die sich für Meier „zu einer Lehre zusammenschließen“.33 Odysseus hat das Grundprinzip demokratischer Kooperation verstanden, daß alle einander brauchen, insbesondere „Hoch und Niedrig sich brauchen“,34 und daß man auch fähig sein muß zu verzeihen und gegebenenfalls auch „etwas einstecken können“ muß.35 Aias steht demgegenüber für das „Alte, Abtretende“ der vordemokratischen archaischen Epoche. In seiner großen Trugrede sei zwar mit der Rede vom Wechsel in der Natur die demokratische Gleichheit gemeint,36 aber leben könne damit eben nur der neue Typus, den Odysseus verkörpert. In Menelaos hätten die Athener den Oligarchen und Tyrannen gehört, der die Gleichheit mißachtet und Unterordnung fordert.37 Wie weit 30 Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988 (186–225 zu Sophokles, 187–208 zum Aias; Zitat 206). Meiers politische Auslegung des Aias wurde in einigen Punkten vorweggenommen von Cedric H. Whitman: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge, Mass/Oxford 1951, 78. 31 Vgl. Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 207. 32 Ebd., 205. 33 Ebd., 204. 34 Ebd., 205. 35 Ebd., 204. 36 Vgl. Ebd., 203. 37 Vgl. Ebd., 201.

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die Frage der Abstammung und des Bürgerrechts für den Aias aktuell war, will Meier offen lassen;38 daß auch die Frage der Bestattung des Leichnams eine politische Seite hatte, erwähnt er gar nicht erst. Daß der Aias stark politisch ist, dem kann man zustimmen. Den Rest kann man auch anders sehen. Als erstes ist festzuhalten, daß die Zentralfigur Aias ist. Der Sinn des Stückes, auch der mögliche politische Sinn, ist primär von ihm her zu erschließen. Zentralfigur ist Aias auch im zweiten Teil, denn die Handlung nach seinem Selbstmord dreht sich einzig um die Wiederherstellung seiner Ehre. Als die Handlung vorantreibende Hauptfigur kommt im zweiten Teil Teukros hinzu, der die Bestattung seines Halbbruders durchsetzen will, von den Befehlshabern aber als „Barbar“ (vgl. 1263) nicht respektiert wird. Die Lösung des Konflikts kann Odysseus herbeiführen, der dank seiner Nähe zu Athene – und nicht so sehr dank seiner politischen Orientierung – Aias anders sehen kann und muß. In Menelaos sah das athenische Publikum in erster Linie vermutlich nicht den Oligarchen, sondern den Vertreter Spartas: Zu deutlich ist zu Beginn von Teukros’ erster Replik die Zurückweisung des spartanischen Herrschaftsanspruchs: Σπάρτης ἀνάσσων ἦλθες, οὐχ ἡμῶν κρατῶν (1102, vgl. 1100–1104).39 Eine patriotische Note hat das Stück auch sonst, etwa wenn die salaminischen Mannen des Aias betont als Erechthiden apostrophiert werden (obschon ein Kenner Homers wie Sophokles sehen mußte, daß Aias in der Ilias nicht Athener ist, und obschon er sicher wußte, daß die Insel erst vor relativ kurzer Zeit endgültig Athen zugefallen war), oder wenn sich die Sehnsucht dieser Krieger nach der Heimat betont auf Sunion und das „heilige Athen“ richtet (1216–1222), noch deutlicher, wenn Aias sich im pathosgeladenen Sterbemonolog vom „heiligen Boden“ von Salamis und im selben Atemzug vom „berühmten Athen“ verabschiedet (859–861). Die Liebe zu Athen ist so weit die Liebe der autochthonen Erechthiden zu ihrem Land. Wo bleibt das Bekenntnis zum Staat und zur demokratischen Verfassung?

38 Vgl. Ebd., 205. 39 Mehr gedanklich als in der Formulierung ähnlich ist Eur. Telephos fr. 723 N2 Weder ist die Sophokleische Formulierung von der Euripideischen herzuleiten (s. Karl Reinhardt: Sophokles. Frankfurt a. M. 31947 [1933], 244f.), noch muß man umgekehrt den Telephos als "abhängig" vom Aias betrachten (vgl. Kamerbeek (Hg.): The Plays of Sophocles, 17): In der reichen tragischen Produktion des 5. lh. können Verse dieser Art wohl auch bei anderen Dichtern vorgekommen sein, ohne daß der eine den anderen „benutzte“.

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Ist Odysseus Demokrat? Als einer, der vermittelt und zum Kompromiß rät? Auch bei Homer ist Odysseus ausersehen, zwischen dem König und einem aufbegehrenden Unterführer zu vermitteln, ohne daß man eine Vorliebe für den Gleichheitsgedanken bei ihm erkennen könnte (vielmehr ruft gerade er den δήμου ἀνέρες das Wort zu: οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη εἷς κοίρανος ἔστω, B 204). Bekanntlich ist der Aias voll von homerischen Reminiszenzen.40 Auch die Gestalt des Odysseus ist in diesem Stück insofern gut homerisch, als er nicht etwa versucht – wie Pelasgos bei Aischylos – das Volk in die Entscheidung einzubeziehen, sondern einer der weitgehend selbständigen Großen ist. Das Verhältnis von Großen und Kleinen wird hier aber, wie wir noch sehen werden, in einer Weise bestimmt, die echten Demokraten schwerlich große Freude bereiten konnte. Worum geht es im Aias? Dem Helden wurde Unrecht getan: Die Waffen des Achilleus, auf die er als der Beste der Überlebenden Anspruch gehabt hätte, wurden in einem ungerechten Verfahren Odysseus zugesprochen. Die Verantwortung für den Betrug liegt bei den Atriden (445f., 838, 1135f.), nicht bei Odysseus. Als mitverantwortlich aber betrachtet Aias das ganze Heer, das diese absurde Fehlentscheidung mitgetragen hat – und in der Tat berufen sich beide Atriden zu ihrer Entlastung auf „Richter“ (1136 und 1243), Agamemnon sogar auf „die vielen Richter“ – wir sollen uns vermutlich eine mythische Entsprechung der attischen Volksgerichte vorstellen. In seiner letzten Rede ruft Aias die Erinyen folgerichtig gegen das ganze Heer auf: γεύεσθε, μὴ φείδεσθε πανδήμου στρατοῦ (844). Aias’ Unglück resultiert daraus, daß er das ihm angetane Unrecht nicht hinnehmen kann. Aber auch wir, die Zuschauer, sollen das Unrecht nicht akzeptieren. Die eindeutige Sympathielenkung im ganzen Stück zwingt uns, die Entscheidung über die Waffen mit Aias’ Augen zu sehen: Am Ende sagt Odysseus selbst, Aias sei der Beste der Achaier nach Achilleus gewesen (1339–1341), was sachlich einer Aufgabe seines eigenen Anspruchs auf die Waffen gleichkommt. Der Versuch, Aias’ Bestattung zu verhindern, bedeutet eine neue, unerhörte Steigerung des Unrechts seitens der Atriden. Die Empörung des Zuschauers wächst in dem Maß, in dem Menelaos und Agamemnon ihre niedrige Gesinnung zeigen41 und ihre Argumente von dem aus schwächerer Position kämpfenden Teukros vollständig widerlegt werden.

40 Das hat vor allem W. B. Stanford in seinem Kommentar (1963) deutlich herausgestellt. 41 Vgl. 1067, 1088, 1159f. (Menelaos), 1258ff. (Agamemnon)

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Halten wir einen Moment inne. Wenn die intendierte Reaktion der Zuschauermenge wirklich Empörung über die ungerechten Heerführer war – was hätte Sophokles, sofern das Publikum mitging, damit erreicht? Etwas recht Paradoxes, glaube ich: Der Demos, die Menge der Bürger, die in Athen zugleich die Menge der Richter ist, wird dazu gebracht, eine Entscheidung vehement zu verwerfen, die von den πολλοὶ κριταί (1243) gefällt worden war; und der Demos, der in Athen der Bestattung von Verrätern in heimischem Boden gnadenlos entgegentrat, soll warme Sympathie empfinden für die Bemühungen um die Bestattung des Verräters Aias; und der, dem der Demos beipflichten soll, ist Teukros, der Halbgrieche – also ein Mensch, der in Athen kein Mitspracherecht gehabt hätte, sich vielmehr einem Vollbürger als seinem Patron hätte unterstellen müssen; im Stück aber ist der, der Teukros empfiehlt, einen Freien für sich sprechen zu lassen, kein anderer als Agamemnon, der für rechtswidriges Denken und Handeln steht.42 Das Heer, der πάνδημος στρατός als Gesamtheit der Waffenfähigen, mithin Stimmberechtigten, ist nicht eben positiv gezeichnet. Der Chor nimmt es für gegeben, daß das Heer Verleumdungen gegen Aias gerne aufnimmt aus Neid gegen den außergewöhnlichen Mann (148–156). Gewiß ist Aias durch den Angriff auf die Atriden und die Tötung der Rinder zum Feind des Heeres geworden; daß er gesteinigt würde, wenn man

42 Zur athenischen Haltung in der Frage der Bestattung s. unten S. 105 mit Anm. 61. – Das von Perikles eingebrachte Staatsbürgerschaftsgesetz von 451 vor Chr. bestimmte, daß athenischer Bürger nur sein konnte, wessen beide Eltern Athener waren (Aristoteles: Athenaion politeia, 26,4; Plutarch: Perikles 37,2; vgl. Hansen: The Athenian Democracy, 52–54). – Agamemnons Aufforderung, Teukros solle einen Freien für sich sprechen lassen (1260f.), spielt auf die obligatorische Unterstellung unter einen προστάτης an (vgl. OT 411, sowie Aristoteles: Athenaion politeia, 58,3). Die Rechtsstellung eines Mannes wie Teukros wäre im Athen der zweiten Hälfte des 5. Jh. doppelt beeinträchtigt gewesen: einmal weil seine Mutter nicht Athenerin war, sodann weil sie als Kriegsgefangene unfrei war; Sophokles zeigt demgegenüber einen Teukros, der sich als frei und gleichberechtigt versteht – was er bei Homer auch unangefochten war. Die Ilias kennt auch die Möglichkeit, eine Kriegsgefangene zur Ehefrau (κουριδίην ἄλοχον, T 298, vgl. I 336) zu nehmen. Hansen: The Athenian Democracy, 53 hält es für möglich, daß Athener noch in der ersten Hälfte des 5. Jh. ihre Söhne ins Bürgerrecht aufnehmen lassen konnten, nicht nur, wenn die Mutter Ausländerin war (wie bei Kleisthenes, Themistokles, Kimon), sondern auch, wenn sie unfrei war. – Aus diesen Überlegungen folgt übrigens nicht, daß der Aias nach 451, als Reaktion auf die neuen Bestimmungen, verfaßt ist: Da einschneidende Änderungen dieser Art vermutlich auch in Athen längere Zeit vor der Inkraftsetzung diskutiert wurden, wird das Thema der Rechte von Halbathenern auch in den lahren vor 451 politisch aktuell gewesen sein.

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ihn hätte, ist verständlich (vgl. 254f.). Das Heer aber droht diese Behandlung, da Aias nicht zu greifen ist, seinem schuldlosen Bruder Teukros an (721–728). Wie diese irrationale und rechtswidrige Reaktion zu werten ist, zeigt Sophokles durch die Kontrastfigur des Kalchas: voller Freundlichkeit weist der Priester Teukros den Weg zur noch möglichen Rettung seines Bruders (749–779). Für das Volk, oder einen Teil davon, steht freilich auch der Chor. Die salaminischen Seeleute und Krieger stehen loyal zu ihrem Anführer – im übrigen aber sind sie keine sehr imponierende Schar. Für Teukros, der als Halbgrieche das Richtige tut, nämlich die göttlichen Gesetze (1129–1131, 1343f.) gegen die griechische Führung durchsetzt, bedeutet dieser Chor aus Vollbürgern keine nennenswerte Hilfe (daß tragische Chöre auch wehrhafte Bürger darstellen können, zeigte Aischylos im Agamemnon 1651ff.). Im Verhältnis zu Aias zeigt der Chor vollständige Abhängigkeit und Hilflosigkeit: Er fürchtet, mit ihm gesteinigt zu werden (254), nach seinem Tod ist die erste Reaktion, daß nun die Rückkehr unmöglich geworden sei (900–902); im letzten Stasimon wird vollends ausgesprochen, daß Aias im Leben der einzige Halt seiner Gefolgschaft war (1211–1215). Vor diesem Hintergrund ist die Äußerung des Chores in der Parodos zu sehen, daß die Kleinen die Großen brauchen und umgekehrt (158–161). Daß alle aufeinander angewiesen sind, ist zwar die Grundeinsicht, die das Zusammenleben in der Demokratie erst möglich macht. Aber der Zusammenhang, in dem hier vom gegenseitigen Angewiesensein gesprochen wird, entspricht durchaus nicht der Sicht, die die athenische Demokratie vom Verhältnis von Hoch und Niedrig propagierte. Denn hier ist vom Neid und der Mißgunst des Heeres gegen die μεγάλαι ψυχαί die Rede (154–157). Diese Haltung tadelt der Chor: Die Unvernünftigen wollen nicht verstehen, daß die Kleinen ohne die Großen keinen Halt haben;43 zweimal wird die Abhängigkeit der Kleinen von den Großen ausgedrückt (158–160), die Reziprozität des Verhältnisses wird ohne Emphase nachgeschoben (161). Athen aber hatte längst entschieden, daß man ‚große Seelen‘ im Staat von vornherein nicht brauche. Wer in den Verdacht kam, in diese Kategorie zu gehören, wurde in die Verbannung geschickt. Der Aias des Sophokles ist der Typ von μεγάλη ψυχή, der in Athen auch ohne einen Amoklauf gegen staatseigene Herden ostrakisiert worden wäre.44

43 Aias, 158f.: καίτοι σμικροὶ μεγάλων χωρὶς σφαλερὸν πύργου ῥῦμα πέλονται. 44 Dies sah auch Vittorio Hösle: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Ästhetisch-historische Bemerkungen zur Struktur der attischen Tragö-

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Ich fasse zusammen: Aias ist daran gescheitert, daß er glaubte, für sich alleine bestehen zu können. Doch das Entscheidende seines Autarkiestrebens war, daß er meinte, auch der Götter nicht zu bedürfen (760ff., bes. 767–769, 774f.). Dies sollte nicht politisch interpretiert werden als Negation des Aufeinander-Angewiesenseins der Klassen im demokratischen Staat. Es ist grundlegender, betrifft das Leben in jeder Ordnung; es definiert die ἀνθρώπου φύσις (vgl. Kalchas 760). In diesem Sinn ist der Aias in seinem Kern überpolitisch, oder politisch in dem Sinn, daß die Grundlagen der Polis, nicht diese oder jene Ausformung, im Zentrum des Interesses stehen. Was aber als politisch im engeren Sinne gelesen werden könnte, ist schwerlich eine Sympathieerklärung für den Demos und seinen politischen Stil in Athen. Das Heer, d. h. der Demos im Kriegszustand, folgt ungerechten Führern, ist voller Mißgunst gegen die ‚Großen‘, fügt dem Besten der Gemeinschaft schweres Unrecht zu. Der Haß auch über den Tod hinaus führt zur Verletzung göttlichen Rechts. Die Verteidigung des Richtigen fällt ausgerechnet einem ‚Bastard‘ zu, hingegen die für Athener attraktive, seit 451 vor Chr. zum Gesetz erhobene Diskriminierung gegen Bürger aus Mischehen den negativ gezeichneten Figuren Menelaos und Agamemnon. Und das ganze Stück ist eine Rehabilitierung des Mannes, der das Unrecht der Gemeinschaft gegen ihn nicht ertrug und sich allein gegen alle wandte. Aias steht schwerlich für das Überholte, Abgelegte oder Abzulegende. Als Heros der Aiantis, dessen Statue zusammen mit den anderen Phylenheroen auf der Agora stand, war er auch nicht zu eliminieren, geistig und emotional zu verabschieden. Denn das wäre eine seltsame Affirmation des demokratischen Staatsganzen gewesen, wenn sie zu einer solchen Abwertung der mythischen Identifikationsfigur eines Zehntels der Polis geführt hätte. Gerade ein politisches Verständnis des Stückes führt weg von der historisierenden Interpretation, in der Aias für das Alte, Odysseus für das gute Neue der Demokratie steht. Angemessener ist ein synchrones Verständnis der Hauptgestalten – und nebenbei wird das Stück so auch politisch weit interessanter. Gleichzeitig agieren in einer Gemeinschaft – einem Heer oder einer Polis – gemeine Rechtsbrecher wie Menelaos und Agamemnon – leider an

die. Stuttgart 1984, 108. Hösle meint freilich, Sophokles habe sich mit dem demokratischen Staat „identifiziert“ (108) und hält es – wenig konsequent – für unentscheidbar, ob Sophokles für Aias Partei nehme oder nicht (110). (Zur Sophokleischen Sympathielenkung s. unten S. 73f.).

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der Spitze – redliche Männer wie Teukros – leider in der Defensive – besonnene und tief humane Vermittler wie Odysseus, weise Priester wie Kalchas. Das Volk ist ein wichtiger Faktor – die Großen brauchen die Kleinen, aber mehr noch brauchen die Kleinen die Großen. Im Konfliktfall sehen wir die Vielen gewalttätig auf der Seite der ungerechten Führer. Aias ist die μεγάλη ψυχή, die der φθόνος der Menge trifft. Auch das Waffenurteil war eine Entscheidung der πολλοὶ κριταί: Volksgerichte sind nicht unfehlbar. Aias erkennt das Unrecht nicht an. Er isoliert sich, verrennt sich, kommt zu Fall. Er wird zum Feind des ganzen Heeres: Seine letzte Tat negiert seinen Wert für die Gemeinschaft. Sophokles aber bleibt unbeirrbar darin, daß der Wert und die Ehre dieses Mannes nicht aufgegeben werden können, nur weil er mit der Gemeinschaft in tödlichen Konflikt geriet. Aias ist der ἄριστος (1340). Wert für die Gemeinschaft und Wert als Mann fallen nicht zusammen bei Sophokles. Oder anders: Es ist von hohem Wert für die Gemeinschaft, daß es immer einzelne gibt, die Unrecht, das ihnen die Gemeinschaft zufügte, nie akzeptieren werden. Ob das noch ‚demokratisch‘ war im Sinne der Athener um die Jahrhundertmitte, weiß ich nicht.

2. Trachiniai Es fehlt in diesem Stück nicht nur an Anspielungen auf politische Ereignisse45 und Themen, es fehlt auch – in auffälligem Kontrast zu den übrigen sechs Stücken46 – die Polis selbst als Rahmen und Bedingung der Handlung. Das Stück ist ostentativ unpolitisch. Trachis, wo Deianeira erst seit einem Jahr als Fremde lebt, wird nicht als Polis vorgestellt, Machtstrukturen werden nicht sichtbar, der örtliche Machthaber wird nur ohne Namensnennung als ξένος ἀνήρ (40) erwähnt. Deianeira ist auch nicht mit 45 Gleichwohl glaubte man, solche finden und das Stück dementsprechend datieren zu können; vgl. die kurze Zusammenstellung und Kritik bei Sophocles: Trachiniae. Hg. v. Patricia Elizabeth Easterling. Cambridge 1982, 23. 46 Knox: Sophocles and the polis nimmt Trachiniai und Elektra zusammen als gleichermaßen unpolitische Stücke. Im Vergleich mit Aischylos’ Choephoroi, und Euripides’ Elektra wirkt Sophokles’ Elektra in der Tat stark entpolitisiert. Im Vergleich mit den Trachiniai bleibt aber festzustellen, daß Argos auch bei Sophokles eine Polis mit einer klar bezeichneten Machtstruktur ist, die im Stück vom legitimen Erben der Macht geändert wird. Vgl. auch El. 973–985: Elektra verspricht sich und Chrysothemis Ehrungen von der Polis (982), wenn sie Aigisthos töteten. S. unten S. 81 mit Anm. 73–76.

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ihm in Konflikt, sondern mit dem noch abwesenden Herakles, der seinerseits nicht in einen politischen Verband eingegliedert erscheint (obwohl er gerade eine Stadt zerstört hat, wofür er doch wohl ein Heer brauchte). Der, der Macht über ihn hatte, Eurystheus, wird gleichfalls nur anonym, als ein bloßer τις (35), eingeführt. Es fehlt weiter auch das, was die Griechen neben dem Machtgefüge als das Wichtigste an einer Polis betrachteten, nämlich Religion und Kult. Zwar verabschiedet sich Deianeira vor ihrem Selbstmord von den Altären des Hauses (904), und Herakles erhält das tödliche Gewand beim Opfer (756–758). Aber das Entscheidende am Herakles des Mythos und des Kultes, nämlich sein Wechsel von menschlicher zu göttlicher Existenz, ist nirgends angedeutet, außer – vielleicht – in dem einen Satz neun Zeilen vor Schluß, daß niemand die Zukunft voraussieht (τὰ μὲν οὖν μέλλοντ᾽ οὐδεὶς ἐφορᾷ 1270). Zur Erklärung der Relevanz der Sophokleischen Figuren für die Polis hat man die bekannte Stelle aus der Aristotelischen Politik herangezogen, wo es heißt, der zur Gemeinschaft nicht Fähige oder ihrer nicht Bedürftige sei nicht Teil der Polis, sondern entweder Tier oder Gott.47 Zwischen Tier und Gott stehend, ist der Mensch also seinem Wesen nach zur Gemeinschaft fähig und ihrer bedürftig, gehört wesentlich zur Polis. Herakles könnte in dieser Perspektive als eine Gestalt erscheinen, die den Sprung von der unter- zur übermenschlichen Daseinsweise vollzog: Seine gleichsam tierhafte Gewalttätigkeit und Egozentrik machten ihn in seinem irdischen Dasein unfähig zur Gemeinschaft (κοινωνία) in der Polis, nach dem Scheiterhaufen auf dem Oeta verfügte er über die Autarkie der Unsterblichen. Indes stellt Sophokles nicht nur diese zweite Seite von Herakles‘ Wesen nicht dar,48 sondern sieht auch die ‚menschliche‘ Seite nicht so sehr im Licht der Unfähigkeit zur Polisgemeinschaft als vielmehr zur Gemein-

47 Aristoteles, Pol. I 2, 1253 a27–29: ὁ δὲ μὴ δυνάμενος κοινωνεῖν ἢ μηδὲν δεόμενος δι᾽ αὐτάρκειαν οὐθὲν μέρος πόλεως, ὥστε ἢ θηρίον ἢ θεός. – Die Stelle zitierte schon Wolfgang Schadewaldt: Sophokles und Athen, Frankfurt a. M. 1935 [jetzt in: ders.: Hellas und Hesperien. Stuttgart 21970, Bd. I, 376]; in neuerer Zeit z. B. Bernard M. W. Knox: The Heroic Temper. Berkeley 1964, 42; Charles Segal P.: Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles. Cambridge, Mass. 1981, 13; Jean Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne. Paris 1977, 121, 126f. 48 Nicht überzeugend ist der Versuch von Cynthia P. Gardiner: The Sophoclean Chorus. Iowa City 1987, 135ff., über die (stark übertrieben gezeichnete) religiöse Atmosphäre der Chorlieder doch noch eine „dual nature of Heracles“ in den Text hineinzulesen.

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schaft der Familie bzw. des Hauses: Herakles zerstört die Ehegemeinschaft mit Deianeira, die ihn unverändert liebt, nicht etwa durch bloße Untreue, sondern indem er ihr zumutet, die viel jüngere Iole als Nebenfrau ins Haus aufzunehmen; das Verhältnis zum Sohn zerstört er, indem er von Hyllos verlangt, die Geliebte des Vaters, die zur Ursache für den Tod der Mutter wurde, nach seinem Tod zur Frau zu nehmen (1221ff.); den loyalen Herold Lichas, der das Gewand mit dem Nessosblut überbracht hat, aber selbst ganz unschuldig ist an seinem Leiden, zerschmettert er an einem Felsen (772–785). Unwillkürlich denkt man an eine andere Aristoteles-Stelle, die auf den Konflikt bei Sophokles zusätzliches Licht werfen könnte. Im 7. Buch der Eudemischen Ethik heißt es ἐν οἰκίᾳ πρῶτον ἀρχαὶ καὶ πηγαὶ φιλίας καὶ πολιτείας καὶ δικαίου (1242 a40–b1) („In der Hausgemeinschaft also werden zuerst die Anfänge und Quellen von Freundschaft, Polisordnung und Recht sichtbar“ [Übers. Franz Dirlmeier]). Hier – glaube ich – ist, wenn irgendwo, das ‚Politische‘ der Trachiniai zu fassen: Sophokles geht zurück auf die Prinzipien der Polis. Die Polis beruht auf Familien, οἰκίαι. Die Familie aber besteht aus Mann und Frau und Kindern und Dienern. Was man aus moderner Sicht der athenischen Demokratie vorwarf, nämlich daß sie undemokratisch war, insofern Frauen und Sklaven in ihr nicht zählten – ein Argument, das als irrelevant weil anachronistisch beiseite gesetzt wurde49 –, scheint für Sophokles eine grundlegende Relevanz zu haben. Herakles, der trefflichste der Männer, ist definiert durch sein Verhalten zu seiner Frau, zu seinem Sohn, zur Geliebten und zum Diener.50 Die gesellschaftliche Relevanz dieses Bildes ist evident: Manch einer ist in Gefahr, sich im Verhältnis zu seiner Frau als Herakles zu fühlen, der das Recht hat, sich zu nehmen, was er will. Sophokles ignoriert die göttliche Zukunft des Helden und zeigt seine männliche Seite in ihrer ganzen menschlichen Dürftigkeit. Damit läßt er den Zuschauer Einblick nehmen nicht in die Struktur der Polis, von der er hier bewußt abstrahiert, wohl aber in die ἀρχαὶ καὶ πηγαὶ φιλίας καὶ πολιτείας καὶ δικαίου.51

49 Bleicken: Die athenische Demokratie, 281f. 50 Zur Kritik der Sophokleischen Herakles-Gestalt s. Gilbert Murray: Heracles: The Best of Men. In: ders.: Greek Studies. Oxford 1946, 106–126 [auch in: Sophokles. Hg. v. Hans Diller. Darmstadt 1967 (Wege der Forschung, Bd. 95), 325–347], sowie Hösle: Die Vollendung der Tragödie, 115–118. 51 Bemerkenswert, wie er das tut: nicht durch direkte Belehrung über den Vorzug der Einehe, wie Euripides in einem Chorlied der Andromache (465ff.), sondern

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3. Antigone Die Antigone ist, in scharfem Gegensatz zu den Trachiniai, das offen politische Stück und wurde schon in der Antike als solches empfunden. Demosthenes konnte 343 vor Chr. eine längere Passage aus Kreons Antrittsrede seinem Gegner Aischines vorhalten als Ausdruck einer für Demokraten vorbildlichen Gesinnung.52 Politische Interpretationen des Dramas gab es in unserem Jahrhundert auf jeder Reflexionshöhe: Man machte entweder einen aktuellen Anlaß geltend, sei es in den innenpolitischen Auseinandersetzungen, sei es im samischen Krieg, oder man sah in Kreon eine Maske des Perikles oder ein Symbol der athenischen Herrschaft, in Haimon den exemplarischen Vertreter der Demokratie und in Antigone das Hervortreten eines neuen Bewußtseins von bürgerlicher Verantwortung oder in Kreon die Verkörperung des Anspruchs des Staates schlechthin, in Antigone des Individuums schlechthin, während andere sie nur für die Rechte der alten aristokratischen Geschlechter, der γένη, einstehen lassen wollten. Beginnen wir mit der innenpolitischen Aktualität. Daß Kreon seinen Erlaß, Polyneikes unbestattet liegen zu lassen, als „Gesetz“ bezeichnet (449), ist im Stück eine grundlose Anmaßung, die durch Antigones konsistenten Gebrauch des Wortes κήρυγμα korrigiert wird (8, 454, vgl. 32, 34, 461). Für Christian Meier wird hier „eine damals aktuelle Problematik ausgetragen“, es stehen „die Grenzen ... der Polis-Gesetzgebung zur Debatte“. Zum innenpolitischen Hintergrund meint Meier: „Das könnte sehr gut in den Auseinandersetzungen um Perikles’ Baupolitik seinen Anlaß gehabt haben.“53 Indes lassen die Argumente der Gegner dieser Baupolitik, wie sie Plutarch referiert (Perikles 12,1–2; 14,1), in keiner Weise erkennen, daß Perikles’ Bauprogramm für so grundsätzliche Diskussionen um die Gesetzgebungskompetenz des Demos genutzt worden wäre, und daß es sich sachlich dafür auch wenig eignete, dürfte evident sein. Die Förderung von Kunst und Handwerk, und sei es auch mit zweckentfremdeten Mitteln des Seebundes, hat wenig zu tun mit der Frage, wer über die Behandlung der Toten zu befinden habe. Interessanter ist die Frage, ob der samische Krieg Anlaß bot, die Bestattung von Feinden neu zu thematisieren. Sophokles’ Strategenamt in die-

auf distanziertere Weise durch subtile Gestaltung der ἤθη von Mann und Frau und durch eine zwingende Sympathielenkung. 52 Dem. 19,246f.; Ant. 175–190 beurteilt Demosthenes als πεποιημέν᾽ ἰαμβεῖα καλῶς καὶ συμφερόντως ὑμῖν, „schön und in eurem Interesse (d. h. im Interesse des Demos) formulierte Trimeter“. 53 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 220.

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sem Krieg wird von der antiken Überlieferung mit der Antigone in Verbindung gebracht: Der Erfolg des Stückes habe dazu geführt, daß der Dichter zum στρατηγός gewählt wurde.54 Die auf dieser Angabe beruhende Datierung auf 441 ist freilich sehr unsicher, wie man schon lange gesehen hat.55 Neuerdings hat R. G. Lewis die Chronologie jener Jahre neu behandelt, mit folgendem Ergebnis: 443/2 war Sophokles Hellenotamias, folglich habe er im Frühjahr 442 keine Tetralogie aufführen können, da ihm dafür keine Zeit geblieben sei; im Frühjahr 441 sei die Wahl zum Strategen erfolgt, aber nicht als Reaktion auf die Aufführung der Antigone, denn die Wahl der Strategen fiel vor die Großen Dionysien; im Frühjahr 439 habe Perikles nach dem Sieg über Samos die grausam getöteten Trierarchen und Matrosen der Samier – wie Duris von Samos erzählt – unbestattet liegen gelassen, was in Athen teils Zustimmung gefunden habe – denn so hätte man ja auch athenische Verräter behandelt – teils Empörung ausgelöst habe; Sophokles habe dann als Reaktion auf diese Vorfälle 438 die Antigone aufgeführt und sei danach abermals zum Strategen gewählt worde.56 Lewis’ Konstruktion hat den dreifachen Voneil, daß sowohl die Hypothesis des Aristophanes bestätigt wird als auch Duris von Samos Recht be-

54 Hypothesis des Aristophanes (= TrGF IV, Test. 25). 55 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Aristoteles und Athen, Bd. II. Berlin 1893, 298 milderte den kausalen Zusammenhang, den die Hypothesis zwischen Aufführungserfolg und Strategenamt herstellt, zu einem zeitlichen Nacheinander ab; im übrigen betonte er, „daß ein festes Datum für die Antigone nicht vorhanden ist“. Reinhardt: Sophokles, 251 betonte das Anekdotenhafte des Berichts und stellte damit auch die zeitliche Abfolge in Frage. Carl Werner Müller: Zur Datierung des sophokleischen Ödipus. Mainz 1984 (Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1984/5), 48 bestreitet mit Entschiedenheit sowohl die kausale Beziehung als auch die implizierte Abfolge und datiert auf 440: denn 441 komme nicht in Frage wegen des sicher bezeugten Sieges des Euripides in diesem Jahr (TrGF I, DID D1A 60 Snell), und 442 entfalle, weil sich so „eine chronologische Differenz von zwei Archonten-Jahren zwischen Sieg und Amtszeit“ ergebe. Dieser Berechnung wird man kaum zustimmen können: Wenn die Wahl der Strategen im attischen Amtsjahr vor den Großen Dionysien lag (so R.G. Lewis: An Alternative Date for Sophocles’ Antigone. In: Greek, Roman, and Byzantine Studies 29 (1988), 35–50, 36), so wäre Sophokles bei einem Sieg im Agon Frühjahr 442 bei der nächsten Strategenwahl gewählt worden. Daß 441 nur dann zu eliminieren ist, wenn man den Ausdruck εὐδοκιμήσαντα in der Hypothesis als Umschreibung für den Sieg im Agon auffaßt, bemerkte gegen U. von Wilamowiltz schon Gerhard Müller: Sophokles Antigone. Heidelberg 1967, 25; beim Demos εὐδοκιμεῖν konnte aber wohl auch ein Stück, das die Preisrichter auf Platz zwei gesetzt hatten. 56 R. G. Lewis: An Alternative Date for Sophocles’ Antigone, GRBS 29, 1988, 35–50.

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hält und drittens das Stück einen brandaktuellen historischen Hintergrund bekommt. Leider ist keiner dieser Voneile in sich unproblematisch. Die Hypothesis kann zwar „auf sachgemäße biographische Berichte zurückgehen“, wie Gerhard Müller57 meinte, doch ob das wirklich der Fall ist, werden wir nie wissen; der Verdacht der anekdotischen Ausschmückung ist nicht leicht zu zerstreuen. Duris von Samos kann zwar in diesem Fall die Wahrheit über Perikles’ Behandlung der Besiegten erhalten haben, doch sollte uns zu denken geben, daß Plutarch in seinem Referat (Perikles 28,3) ihn sogleich der Geschichtsfälschung bezichtigt, was angesichts der sonst bekannten Methoden des samischen Historikers nicht absurd ist.58 Und was die Aktualität betrifft, so müßte man bei Annahme von Lewis’ Chronologie Polyneikes, den Landesverräter, der seine Vaterstadt angriff und auf heimischem Boden von seinem Landsmann Kreon den Hunden und Vögeln überlassen wurde, in Analogie sehen zu den samischen Patrioten, die ihre Insel verteidigten und von dem Fremden Perikles auf ausländischem Boden in Milet liegen gelassen wurden. Man müßte dem Dichter in diesem Fall schon vorwerfen, sich in der Wahl des Mythos vergriffen zu haben: Passender wäre es – eine aktualisierende Tendenz vorausgesetzt – gewesen, etwa die Nichtbestattung der außerthebanischen Angreifer zu thematisieren, also den Stoff, den Euripides in den Hiketiden behandelt hat, oder sonst einen weniger bekannten Mythos zu wählen oder so umzuformen, daß er die Verhältnisse wenigstens nicht vollständig auf den Kopf stellte. Im übrigen besteht kein dringender Anlaß, das einigermaßen plausible Datum 442 aufzugeben und nach einer neuen Chronologie zu suchen, denn das Argument, wegen seiner Beanspruchung als Hellenotamias 443/2 habe Sophokles an den Großen Dionysien 442 nichts aufführen können, ist bekanntlich nicht durchschlagend.59 Damit soll freilich auch wiederum nicht behauptet sein, daß dieses Datum 442 große Sicherheit beanspruchen könnte. Bei nüchterner Betrachtung kann man weder 441, das Gerhard Müller60 als „das hochwahrscheinliche Datum“ betrachtet, ausschließen, noch die Jahre davor oder danach. Bei dieser Unsicherheit ist es nicht gut, nach einer neuen Art von drängender Aktualität, die wir doch nicht

57 Müller: Sophokles Antigone, 25. 58 Gegen die herkömmlichen Zweifel an Duris’ Glaubwürdigkeit argumentiert jedoch Otto Lendle: Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Darmstadt 1992, 181–189, bes. 188f. 59 Wie schon Müller: Sophokles Antigone, 25 gegen U. von Wilamowitz festgestellt hat. 60 Müller: Sophokles Antigone, 25.

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beweisen könnten, zu suchen. Hingegen haben wir allen Grund, uns auf das bleibende Interesse, das die Bestattungsfrage für Athen besaß, zu besinnen. Die Tatsachen sind bekannt. In Athen ahndete man die Verbrechen Tempelraub und Landesverrat mit der Verweigerung der Bestattung in Attika.61 Die Bestimmung konnte nicht gut in Vergessenheit geraten: Die bewegte Geschichte des 5. Jh. brachte es mit sich, daß auch prominente Gestalten von ihr betroffen sein konnten, wie Themistokles (gest. 459) in Sophokles’ jungen Jahren oder Antiphon (gest. 410) gegen Ende seiner Laufbahn. Die bleibende, nicht an die Tagespolitik gebundene Aktualität der Frage der Bestattung von Verrätern ergibt sich schon aus der Tatsache, daß Sophokles sie in zwei der sieben erhaltenen Stücke thematisiert hat. Die damit schon gegebene politische Relevanz des Themas verschärft sich noch erheblich, wenn wir bedenken, daß die athenische Rechtsauffassung, wie Giovanni Cerri62 wahrscheinlich gemacht hat, nicht einheitlich von der gesamten Bürgerschaft vertreten wurde, sondern zwischen den Parteien noch strittig und somit in die Innenpolitik verflochten war. Hans Joachim Mette63 hatte die Deutung vertreten, Antigone stehe für ein neues Sittengesetz, das bestimmt sei, die alte Moralität abzulösen. Angesichts der Berufung der Heldin auf die zeitlose Gültigkeit der von ihr befolgten ungeschriebenen Gesetze (Ant. 456f.) war das von vornherein nicht eben plausibel. Es wird vollends unglaubwürdig, wenn wir die ἄγραπτα κἀσφαλῆ θεῶν νόμιμα (454f.) nicht als bloße sittliche Forderungen auffassen, sondern mit Giovanni Cerri als einen sachlich klar abgegrenzten Komplex des alten mündlichen Rechts, dessen Auslegung die Familien der Eumolpiden und Keryken unter Hinweis auf das religiöse Herkommen für sich beanspruchten. Ihr Privileg stand in prinzipiellem Konflikt mit der Tendenz der Demokratie, alles Recht schriftlich zu fixieren und keine Berufung auf ungeschriebenes Recht zu dulden.64 Die Botschaft der Antigone, verstanden als Plädoyer für die Respektierung der bisherigen religiösen 61 Die Belege finden sich zusammengestellt bei Wilhelm Vischer: Zu Sophokles Antigone. In: Rheinisches Museum 20 (1865), 444–454; Hans Joachim Mette: Die Antigone des Sophokles. In: Hermes 84 (1956), 129–134; Vincent J. Rosivach: On Creon, Antigone and not Burying the Dead. In: Rheinisches Museum 126 (1983), 193–211. 62 Giovanni Cerri: Legislazione orale e tragedia greca. Napoli 1979; ders.: Ideologia funeraria nell’ Antigone di Sofocle. In: La mort, les morts dans les sociétes anciennes. Hg. v. Gherardo Gnoli/Jean Pierre Vernant. Cambridge/Paris 1982, 121– 131. 63 Mette: Die Antigone des Sophokles. 64 Cerri: Legislazione orale, 13ff.

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Ordnung, die Teil der Polis-Ordnung ist, durch die jeweils neuen Machthaber, wäre in dieser Perspektive innenpolitisch nicht neutral, wäre keine abstrakte Reflexion über das Verhältnis von Staat und Religion, sondern eine klare Parteinahme gegen den Anspruch der noch neuen Verfassungsform der Demokratie, alles in der Polis neu und im eigenen Interesse regeln zu können. Gegen diese Deutung könnte man auf die Figur des Haimon verweisen, der den Anspruch seines Vaters, in der Stadt allein bestimmen zu können, nicht akzeptiert. In der Auslegung von Christian Meier steht Haimon, wie Odysseus im Aias, für den neuen Menschen, den die Demokratie brauche; so wie er könne nur reden, wer „die Luft der Demokratie geatmet“ habe.65 Die Eignung eines Charakters wie Haimon für den demokratischen Diskurs sei nicht bestritten. Indes macht ihn seine Bemerkung, wer nur eine Meinung gelten lasse, erweise sich letztlich als hohl,66 noch nicht eindeutig zum Demokraten, denn diese Einsicht war auch dem nicht so demokratischen Homer nicht fremd.67 Das Volk selbst wird von Haimon zwar erwähnt und die Berücksichtigung seiner Meinung empfohlen (688–700, 733), doch enthält seine berühmte Zurückweisung des tyrannischen Verhaltens Kreons (in den Versen 734–739) nichts, was nicht auch ein gemäßigter Oligarch hätte akzeptieren können. Daß er ganz der Sohn seines Vaters ist und seinen richtigen Entscheidungen folgen will – so Haimons erste Äußerung 635f. – besagt doch, daß er als Königssohn die Herrschaft des Königs stützen will. Nur ist Haimon nicht bereit, dem Vater ins Unrecht zu folgen (743, 747, vgl. 728). Den Maßstab für Recht und Unrecht bilden die Ehren der Götter (745, 749). Sie zu wahren, ist sein oberstes Interesse; nächstdem kämpft er für die Braut, für sich – und den Vater (749). Von Polis oder gar Demos sagt er in diesem Zusammenhang nichts. Ihren Widerstand gegen Kreons Edikt praktiziert Antigone nach Christian Meier „im Grund in der Lage des einfachen Bürgers“ (223), in der sie „jene Selbständigkeit des Denkens“ zeigt, die die Demokratie braucht; in ihrem Verhalten deute sich „ein ganz neuer Begriff von bürgerlicher Verantwortung“ an. Da aber dieser Begriff „gerade in einer Frau Gestalt an-

65 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 222. 66 Ant. 705–709 (auf diese Verse bezieht sich offenbar Meiers eben zitierte Einschätzung der Figur Haimons). 67 Etwa Ilias A 22–24: Die anderen Achaier hielten es alle für richtig, Chryses seine Tochter zurückzugeben, einzig Agamemnon nicht – aus dem starrsinnigen Beharren auf dem eigenen Standpunkt folgt aber die gesamte unheilvolle Handlung der Ilias. Ähnlich steht Kreon als einziger gegen das gesamte Volk von Athen (Ant. 733).

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nimmt“, werde „die Vorbildlichkeit ihres Handelns ein gutes Stück weit eingeschränkt.“68 Doch Antigone ist nun einmal nicht Bürgerin. Frauen mit Bürgerrechten und -pflichten gibt es nur bei Aristophanes und bei Platon. Sie handelt folglich nicht aus bürgerlicher Verantwortung und schon gar nicht aus der Lage des einfachen Bürgers. Sie ist der wilde Sproß eines wilden Vaters (471), und sie handelt als Angehörige des Königshauses aus der Verantwortung einer Schwester.69 Ihre Pflicht zur Bestattung des nächsten Blutsverwandten betrachtet sie zugleich als unveräußerliches Recht (48). Und in Wahrnehmung dieser Verantwortung und dieses Rechts tut sie etwas, womit sie beim athenischen Demos ebenso Anstoß erregt hätte wie bei Kreon: sie beerdigt einen Landesverräter im heimischen Boden. Der ἀδελφός und φίλος (73) ist ihr wichtiger als die Polis (44/45f.), oder was sich dafür hält. Wer darin Antigones Unrecht sehen möchte, vergißt, daß am Ende des Stückes Kreon die Lektion lernt, daß es das Beste ist, die bestehenden Gesetze zu wahren (1113f.). Es gibt also keinen Konflikt zwischen ‚Staat‘ und ‚Familie‘ in der Bestattungsfrage,70 vielmehr ist es geltendes Recht, daß die Bestattung der Toten Pflicht und Recht der Nächstverwandten ist. Die οἰκία ist, wie wir schon an den Trachiniai sahen, das Grundlegendere gegenüber der Polis. Wer die οἰκία und ihre Rechte mißachtet, zerstört die Grundlage der Polis, macht sich zum ἄπολις. Auch die Antigone hat es mit den ἀρχαὶ καὶ πηγαὶ φιλίας καὶ πολιτείας καὶ δικαίου (EE 1242 a 40–b1) zu tun. Sophokles läßt es denn auch nicht beim Gegensatz zur Haltung des athenischen Demos, so deutlich er auch sein mag, bewenden. Ein deutli-

68 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 223. 69 Vgl. Ant. 45, sowie Antigones sog. ‚Kalkül‘ 904–920. Letztere Stelle unterlag seit dem frühen 19. Jh. nicht leicht zu nehmenden Zweifeln hinsichtlich der Echtheit; befremdlicherweise gab es aber bis vor kurzem keine ernstzunehmende Verteidigung dieser Verse aus dem Gesamtzusammenhang der Wertvorstellungen des Dramas (vgl. meine Gegenüberstellung der Argumente Pro und Comra in: Bemerkungen zur Diskussion um Sophokles, Antigone 904–920. In: Rheinisches Museum124 (1981), 108–142); eine solche versuchte kürzlich Matt Neuburg: How Like a Woman: Antigone’s ‚Inconsistency‘. In: Classical Quarterly 40 (1990), 54–76. 70 So die Interpretation Hegels in seinen Vorlesungen über die Aesthetik (in der Glocknerschen Gesamtausgabe, Bd. 13. Stuttgart 21964, 51–52); Hegel bezog sich auch sonst sehr oft auf die tragische Konstellation in der Antigone, die er für modellhaft hielt, vgl. Hösle: Die Vollendung der Tragödie, 24, Anm. 20. Hegels Deutung fand im 19. und auch noch im 20. Jh. viele Anhänger.

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ches Zeichen für den Willen des Dichters, die Thematik nicht auf die heimischen Verhältnisse und die dahinterliegenden innenpolitischen Spannungen einzuschränken, ist der Umstand, daß er die Alternative, die das athenische Recht immerhin noch offen ließ, nämlich die Bestattung außerhalb der Staatsgrenzen, nicht einmal erwähnen läßt. Es geht radikal um Bestattung oder Nichtbestattung. Dies ließ den Vertretern ‚demokratischer‘ Strenge gegen Verräter den Ausweg offen, sich nicht in Kreon wiedererkennen zu müssen.71 Daß aber die positiv gezeichnete Hauptgestalt Antigone nicht in ihrem Sinne handelte, darüber kann es schwerlich eine Diskussion gegeben haben. Die absichtsvolle Ausweitung und zugleich Radikalisierung der Thematik zeigt auch das Chorlied über den Menschen. Weit hinausgehend über die Bedeckung des Leichnams mit Staub durch einen Unbekannten, den er im Handlungszusammenhang des Dramas noch für einen Frevler halten muß, singt der Chor vom unheimlichen, ausgreifenden Wesen des Menschen, der trotz der Fähigkeit, sich alles untertan zu machen, mit seiner Erfindungsgabe orientierungslos bleibt – außer er hält sich an die Gesetze des Landes und das bei den Göttern beschworene Recht (1. Stasimon, 332– 375, bes. 365ff.). Auch hierin mußte sich in Athen niemand wiedererkennen, der nicht wollte. Doch daß der menschliche Erfindungsreichtum und Vorwärtsdrang, die Fähigkeit, zu allem Mittel und Wege zu finden (vgl. παντοπόρος 360), vor allem der grenzenlose und bedenkenlose Wagemut (τόλμα 371) von niemandem so klar verkörpert wurde wie von der rasch expandierenden Demokratie, war schwer zu übersehen. Dann ist aber auch die Warnung vor der poliszerstörenden Haltung, der τὸ μὴ καλὸν ξύνεστι τόλμας χάριν (370f.), an die eigene Stadt gerichtet, gewiß auch wegen ihrer Haltung in der Bestattungsfrage, aber vielleicht nicht nur deswegen.

4. Oidipus Tyrannos und Elektra Oidipus Tyrannos und Elektra können unter der hier verfolgten Fragestellung gemeinsam behandelt werden, auch wenn sie zunächst nicht zusammenzugehören scheinen, ist doch im einen Stück sehr viel, im anderen sehr wenig von Polis und Herrschaft die Rede. Gemeinsam ist den beiden Stücken jedoch das Thema der Sühne alter Schuld innerhalb der Familie,

71 Die Deutung Kreons als Symbolfigur für das demokratische Athen erwogen Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 222 und Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens, 298.

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die sich abermals als das Fundamentale erweist, von dem das Heil der größeren Einheit Polis abhängt. Und in beiden Stücken zeigt sich als letzter Grund des Wohlergehens von Haus und Polis die Beachtung des Willens der Götter. Im OT zerstört der Gott das Haus des Oidipus. Auf Grund des Orakels und seines eigenen Fluches verlangt er seine Tötung oder seine Vertreibung;72 seine Frau erhängt sich. Doch bestanden Ehe und Herrschaft des Oidipus von vornherein nur gegen den Willen des Gottes, weswegen durch sie auch die Polis ins Verderben gezogen wurde. Daher ist das vernichtende Eingreifen Apollons zugleich auch die Befreiung des frommen Mannes von der Befleckung, der er vergeblich hatte entrinnen wollen. Zwar kann das Haus des Labdakos nicht wiederaufgerichtet werden (es wird noch in der Generation der Oidipuskinder unter der Ate stehen), doch ist das Mitglied des Hauses, das schon immer dem Willen Apollons sich zu unterwerfen bereit war, durch die entschlossene Sühne vom Fluch befreit (was Sophokles im Oidipus auf Kolonos eigens thematisiert hat). In der Vorgeschichte der Elektra war es menschliche Verderbtheit, die zum Tod Agamemnons und zur Erstarrung seines Hauses geführt hat. Das Orakel Apollons, von Orestes ohne Zögern befolgt, richtet das Haus wieder auf: Agamemnons Nachkommen gelangen nach vielem Leid schließlich zur Freiheit, wie es in den Schlußanapästen des Chores heißt (El. 1508–1510). Im OT steht die Stadt ständig im Blickfeld: Der Mann, der trotz seines festen Willens, die vom Orakel vorhergesagten Vergehen zu vermeiden, in das verkehrteste Verhältnis zu Vater und Mutter gerät, wird auch, trotz bester Absichten für die Polis, zu ihrem Verderber. Mit den vorbildlichen

72 OT 96–101 (Apollons Antwort), 241 und 309 (Oidipus zu den Bürgern Thebens und zu Teiresias), 1382, 1410f., 1436ff. (Forderung des Oidipus nach der Blendung). Die Diskrepanz zwischen dem von Delphi verfügten, von Oidipus bejahten Ziel der Handlung und dem tatsächlichen Ende des Stückes (Kreon sendet Oidipus ins Haus zurück, 1515ff.) ist wohl am besten zu erklären als Abänderung des ursprünglichen Schlusses anläßlich einer Aufführung nach Sophokles' Tod zusammen mit anderen Stücken (OK oder OK und Ant.): so schon Paul L. W. Graffunder: Über den Ausgang des König Oedipus von Sophokles. In: Neue Jahrbücher für Philosophie und Pädagogik 132 (1885), 389–408 und neuerdings Donald A. Hester: The Banishment of Oedipus. A Neglected Theory on the End of the Oedipus Rex. In: Antichthon 18 (1984), 13–23 (vgl. auch ders.: The Banishment of Oedipus, Again. In. Prometheus 18 (1992), 97–101) sowie Jennifer R. March: The Creative Poet. Studies on the Treatment of Myths in Greek Poetry. London 1987 (Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplement 49), 148– 154.

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Intentionen des väterlichen Königs für seine Stadt beginnt das Stück. Im Verlauf der Handlung zeigt sich freilich, daß er nicht nur ein jähzorniger Herrscher ist, der bei jedem wirklichen oder auch nur vermuteten Widerstand autokratisch reagiert, sondern auch, daß er seine Herrschaft der gewaltsamen Beseitigung des früheren Herrschers verdankt. Das Heil der Stadt hängt an seiner Tötung oder Vertreibung, die Apollon fordert (95– 100). Daß eine so ambivalente Herrscherfigur politisch gedeutet wurde, ist nicht zu verwundern. Als nächste Handhabe für eine historische Parallelisierung bot sich die Befleckung durch Blutschuld an, die zur Vertreibung führen muß: In politischer Absicht hatten die Spartaner 432 vor Chr. die scheinbar religiöse Forderung gestellt, den kylonischen Frevel, der auf dem Geschlecht der Alkmeoniden lastete, zu sühnen, was letztlich zur Vertreibung des Perikles hätte führen müssen.73 Aus diesem Grunde in Oidipus Perikles zu sehen war für Richard C. Jebb eine „allegorical hypothesis (which) need not detain us“.74 In der Tat brauchten wir uns nicht dabei aufzuhalten, wenn die Exilierung wegen Blutschuld der einzige Berührungspunkt wäre. Victor Ehrenbergs75 subtile Auslegung des Herrscherbildes des Sophokles als eine dichterische Auseinandersetzung mit der Gestalt des Perikles hat die Forschung jedoch nicht ohne Grund lange beschäftigt. Für sich genommen klingt die Parallelisierung von Oidipus und Perikles nicht unattraktiv. Indes hat Oidipus, was sein Verhalten als Herrscher betrifft, eine Art Doppelgänger in der Gestalt Kreons in der Antigone. Wenn Oidipus für Perikles steht, dann auch Kreon. Kreon aber ist eine negativ gezeichnete, insgesamt ganz und gar nicht imponierende Figur, während Oidipus – ungeachtet gewisser Charakterfehler, die man neuerdings wieder als Ursache seines Untergangs ansehen will76 – eine Gestalt ist, der man Größe nicht absprechen kann. Wir hätten also zwei merklich verschiedene Wertungen desselben Mannes bei fast identischen Mitteln der li-

73 Thukydides 1.126.2–127.2. 74 Richard C. Jebb (Hg.): Sophocles, Part I: The Oedipus Tyrannus. Cambridge 21887, Introduction, p. XXX. 75 Vgl. Ehrenberg: Sophocles and Pericles (1954). 76 Eckard Lefèvre: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Unzeitgemäße Bemerkungen zu Sophokles’ Oidipus Tyrannos. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 13 (1987), 37–58; Arbogast Schmitt: Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‚König Ödipus‘. In: Rheinisches Museum 131 (1988), 8–30. Gegen Lefèvres und Schmitts Schuldzuweisung an Oidipus argumentiert überzeugend Bernd Manuwald: Oidipus und Adrastos. Bemerkungen zur neueren Diskussion um die Schuldfrage in Sophokles’ ‚König Ödipus‘. In: Rheinisches Museum 135 (1992), 1–43.

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terarischen Porträtierung. Bezeichnenderweise hat Fritz Schachermeyr, ein Bewunderer des Perikles, sein Bild in Oidipus wiedererkannt, in Kreon aber nicht anerkennen wollen.77 Gewiß ließe sich der Unterschied der Wertungen irgendwie erklären, etwa durch die Annahme einer Entwicklung: In den 40er-Jahren wäre der Dichter Perikles noch kritisch gegenübergestanden, erst später, vielleicht erst nach dessen Tod, hätte er die nötige Distanz gewonnen, um seiner Größe gerecht zu werden – oder umgekehrt: In den Jahren der gemeinsamen Tätigkeit im Strategenkollegium habe Sophokles den Politiker richtig eingeschätzt, während er ihn später im Oidipus-Drama unkritisch überhöhte. Es ist evident, daß Erklärungen dieser Art je nach dem Perikles-Bild des Interpreten verschieden ausfallen müßten – willkürlich blieben sie in jedem Fall. Fest steht, daß weder die charakterliche Enge Kreons noch die impulsive Art des Oidipus zu dem Bild passen wollen, das Plutarch, unser ausführlichster Gewährsmann, von Perikles entwirft. Sophokles’ Publikum hat, soviel wir wissen, die vermeintlich intendierte Porträtierung nicht wahrgenommen, und auch die späteren Quellen schweigen dazu. Im Grunde wissen wir zu wenig von Perikles, um Ehrenbergs ingeniöse These sicher beurteilen zu können.78 Von ganz anderer Art ist der Versuch, in den Herrscherfiguren Symbolgestalten für die Herrschaft Athens zu erkennen. Auch hier stört ein wenig die Ungleichheit der Tyrannen Kreon und Oidipus. Während Bernard Knox beachtliche Gründe für die Allegorisierung der neugewonnenen athenischen ἀρχή in der ungesuchten Königsherrschaft des Emporkömmlings Oidipus beibrachte,79 ist die analoge Einschätzung des Kreon bei Kurt Raaflaub weit weniger überzeugend.80 Ob nun Perikles gemeint ist oder Athen oder vielleicht, auf verschiedenen Ebenen, beide – der Gang der Handlung insgesamt ließe sich im OT nur unter mühsamen Verrenkungen politisch deuten. Weder die Vorgeschichte des Helden noch sein Ende laden dazu ein. Anders als der erste Mann Thebens (OT 33) richtete sich der erste Mann Athens (vgl. Thuk. 2.65.9) nicht selbst, sondern wurde schlicht Opfer der Pest. Athen kam zwar durch die eigenen Fehler zu Fall, doch der konsequenten Selbstbe-

77 Fritz Schachermeyr: Sophokles und die perikleische Politik. In: Wiener Studien 79 (1966), 45–63. 78 Auffällig bleibt freilich der von Ehrenberg: Sophocles and Pericles, 105ff., 173ff. ausführlich behandelte Titel στρατηγός (Ant. 8), der für Kreon im Stück nicht so recht erklärbar ist. 79 Vgl. Knox: Why Is Oedipus Called Tyrannos?. 80 Vgl. Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens, 298f.

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strafung des Oidipus auf Grund seiner Erkenntnis der eigenen Geschichte konnte in der Geschichte Athens selbstverständlich nichts entsprechen, noch ist anzunehmen, daß Sophokles den Fall Athens voraussah oder als prophetische Mahnung in der Gestalt des Oidipus seinen Mitbürgern vor Augen stellte. Mögen die genannten politischen Deutungen der Oidipusgestalt auch etwas Richtiges treffen (und besonders im Fall der Deutung auf die Herrschaft Athens können wir das nicht ausschließen) – an den Kern des Stückes rühren sie nicht. In der Elektra ist von der Stadt so wenig die Rede, daß ein Kenner wie Bernard Knox dem Stück eine politische Dimension absprechen konnte.81 In der Tat kann man, wenn gleich in den ersten Versen Argos und Mykene genannt werden (4, 9), den Eindruck bekommen, es gehe um diese Städte mehr als Orte denn als Poleis. Indes ist es der Sohn des getöteten Königs, der diese Orte stets sehen wollte (3) – ein solches Verlangen kann nicht gänzlich unpolitisch sein. Als wenige Verse vor dem Ende des Stückes die beiden Namen wieder zusammen ausgesprochen werden, ist die politische Dimension inzwischen klar: Aigisthos spricht nicht von Mykene und Argos, sondern von „allen Mykenern und Argeiern“ (1459): So wie Orestes sich immer nach Hause sehnte, so hofften dort, nach Ansicht des Usurpators, die Bürger auf den Sohn Agamemnons – eine Hoffnung, die nun, da Aigisthos Orestes tot glaubt, vorbei sei. Die Tötung des Aigisthos läßt Sophokles also durch diesen selbst in einen eindeutig politischen Rahmen rücken. Die Tötung Klytaimestras ist davon aber nicht zu trennen. Daß sie eine Sache sowohl des Geschlechts als auch der Stadt ist, signalisiert der Ausruf des Chors, als Orestes im Haus die Mutter tötet und Elektra ihn von außen anfeuert: ὦ πόλις, ὦ γενεὰ τάλαινα (1413) – für Polis und Geschlecht schwindet durch die Tat der bisher Tag für Tag wirksame Fluch des Atridenhauses.82 Wenn kurz nach diesem Ausruf des Chores und den Worten des Aigisthos, der die endgültige Knechtschaft der Mykener und Argeier verkündet (1458–1463), in den Schlußanapästen von der endlich erreichten Freiheit des Atridengeschlechtes gesprochen wird (ohne daß die Polis erwähnt wird), so dürfen wir diese Freiheit nicht als bloß private Freiheit der Geschwister verstehen. Daß es eine bloß private Freiheit nicht gibt, hatte der Dichter bereits an der Figur der Chrysothemis deutlich ge-

81 Knox: Sophocles and the polis. 82 Zur Interpretation der Stelle vgl. Georg Kaibel: Sophokles Elektra. Erkl. v. Georg Kaibel. Leipzig 1896, 289. Richtig bemerkt Kaibel, daß der Chor die Ermordung Klytaimestras “als ein δημόσιον empfinden muß“, und daß der Ausruf ὦ πόλις mit Recht sogar vor ὦ γενεά steht, „da am Geschick der Herrscherfamilie der Staat und seine Verfassung, sein Friede und sein Wohlstand mitbeteiligt ist“.

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macht: Diese gibt von sich aus zu, daß die Frage des Rechts so zu beurteilen ist, wie Elektra sie sieht – doch um ‚frei‘ zu leben, müsse sie alles tun, was die Machthaber verlangen (338–340).83 Vor allem aber rückt die Hauptfigur selbst ihren Entschluß, Aigisthos nach dem vermeintlichen Tod des Orestes selbst zu töten, in einen deutlich politischen Zusammenhang: Sie erhofft sich, wenn sie zusammen mit ihrer Schwester das väterliche Haus (πατρῷον οἶκον 978) gerettet habe, höchste Ehren von der gesamten Bürgerschaft (ἐν πανδήμῳ πόλει 982).84 Die Ermordung des Aigisthos ist eine Tat der Frömmigkeit (εὐσέβεια) gegen Vater und Bruder und bringt den Schwestern Freiheit, sozialen Status durch standesgemäße Heirat und schließlich öffentliche Ehrungen (976– 985). Man beachte die Abfolge der Bereiche, die angesprochen sind: Religion (εὐσέβεια), Haus (γάμος 971, οἶκος 978), Polis. Politisch auszulegen ist diese Geschichte allenfalls in dem Sinn, daß sie hinter die Polis zurückgeht auf den οἶκος. Wenn die Dinge ἐν δόμοισι (1424) gut bestellt sind, kann die bisherige unheilvolle Moira auch für die Polis schwinden (1413f.). Die Familie freilich muß durch schreckliche Dinge hindurchgehen (1508f.) – woher soll sie die Orientierung nehmen? Die Tötung der Mutter durch die Kinder ist dem Mord am Ehemann durch die eigene Frau zum Verwechseln ähnlich: löst nicht lediglich ein Verbrechen das andere ab? Der Unterschied liegt darin, daß die eine Tat von Apollon angeordnet war, die andere nicht. Deswegen darf auch die von Elektra geplante Befreiungstat der Schwestern nicht zustande kommen: Apollon gab den Auftrag Orestes, nicht den Töchtern Agamemnons.85 83 Elektra hingegen sieht ihre (Rede-)Freiheit erst durch die Rückkehr des Orestes wiederhergestellt: μόλις γὰρ ἔσχον νῦν ἐλεύθερον στόμα (1256). 84 Mit Recht bemerkt Diane M. Juffras: Sophocles’ ‚Electra‘ 973–85 and Tyrannicide. In: Transactions an Proceedings of the American Philological Association 121 (1991), 99–108, hier: 107f., daß diese Verse den athenischen Zuschauern ihre eigene Verehrung der Tyrannenmörder Harrnodios und Aristogeiton in Erinnerung bringen mußten. – Levi Arnold Post: From Homer to Menander. Forces in Greek Poetic Fiction. Berkeley 1951, 178 sah es als „almost certain“ an, daß Elektras Befreiungstat auf die Wiederherstellung der Demokratie 410 vor Chr. weise; doch mit der „Sicherheit“ dieser Deutung (und der mit ihr verbundenen präzisen Datierung) steht es nicht gut, vgl. Walter Nicolai: Zu Sophokles’ Wirkungsabsichten. Heidelberg 1992, 79, Anm. 158. 85 Gegen die im 20. Jh. immer wieder versuchte moralische Gleichstellung von Klytaimestra einerseits, Orestes und Elektra andererseits s. Hartmut Erbse: Zur ‚Elektra‘ des Sophokles. In: Hermes 106 (1978), 284–300; vgl. auch meinen Beitrag: Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas. In: Museum Helveticum 38 (1981), 1–21. sowie Nicolai: Zu Sophokles’ Wirkungsabsichten, 67–79.

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Eben weil Elektra eine Frau ist, kann die Darstellung der Wiederherstellung der Ordnung aus ihrer Sicht mit weit weniger Erwähnungen der Polis auskommen als die Geschichte des Labdakidenhauses, gesehen aus der Sicht des Oidipus. Das Richtige, das δίκαιον (vgl. El. 338), entscheidet sich schon im Bereich des οἶκος: Auf diese ‚Ursprünge und Quellen‘ von Freundschaft, Staat, Gerechtigkeit will der Dichter den Blick lenken. Die beiden Geschichten handeln von derselben Einsicht: Ohne die Beachtung des Willens der Götter kann das Haus nicht gedeihen, ohne die Wahrung des Rechts im Haus die Polis nicht.

5. Philoktetes und Oidipus auf Kolonos Noch deutlicher schließen sich unter unserem Gesichtspunkt Philoktetes und Oidipus auf Kolonos zusammen: Beide Male versucht die Polis (bzw. das Heer) in unlauterer Gesinnung und unter Anwendung von Gewalt (bzw. Betrug) eines ihrer Bürger habhaft zu werden, dem sie zuvor schweres Unrecht zugefügt hatte; beide Male entzieht sich der Held dem Anspruch.86 Die Griechen hatten Philoktetes unter Verletzung der gebotenen Solidarität mit einem Kranken alleine auf einer Insel ausgesetzt. Jetzt aber brauchen sie ihn, ohne ihn und den Bogen des Herakles, der in seinem Besitz ist, kann Troja nicht erobert werden. Bevor Philoktetes in das gemeinsame Unternehmen integriert werden könnte, müßte das an ihm begangene Unrecht anerkannt und wiedergutgemacht werden. Statt dessen treten die Griechen mit neuem Unrecht an ihn heran: Sie mißbrauchen unter Führung des Odysseus den noch unerfahrenen Neoptolemos dazu, sich ins Vertrauen des einsamen Mannes einzuschleichen und ihm den Bogen des Herakles zu entwenden. Hinter dem Plan stehen nicht nur die Atriden, sondern auch – und das wird mehrfach betont (1226, 1243, 1250, 1257f.) – das gesamte Heer, also der Demos im Kriegszustand. Folgerichtig treibt der Chor Neoptolemos an, das betrügerische und unmenschliche Vorhaben ohne Zögern durchzuführen (833ff.). Neoptolemos fühlt sich jedoch durch sein zunächst in unehrlicher Absicht gegebenes Versprechen (524–529), Philoktetes in seine Heimat zurückzubringen, gebunden; er entscheidet sich für den einsamen Alten und gegen Odysseus, die Atriden und das Heer.

86 Die Gemeinsamkeit der beiden Stücke sah Matthiessen: Philoktet oder die Resozialisierung (wie Anm. 23).

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Ein Aufbruch des Philoktetes – der in jedem Fall, wohin er auch geht, für das Heer der Griechen von entscheidender Bedeutung ist – wird erst möglich, nachdem im scheinbar nur privaten Bereich der φιλία die Verhältnisse geklärt, Wahrhaftigkeit und Wohlwollen wiederhergestellt sind. Die φιλία, die die Griechen an Philoktetes einst verrieten, wird von Neoptolemos gegen ihren Willen neu begründet. Vor der politischen Aktionsfähigkeit liegt das δίκαιον in der Beziehung der Individuen zueinander. Die Fahrt geht freilich nicht nach Malis, sondern eben doch nach Troja: Herakles erscheint und veranlaßt den Erben seines Bogens, sich dem Willen des Zeus (1415) zu fügen. Manches an diesem Stück ist politisch-historischer Auslegung zugänglich. Zwar war es wohl kein sehr glücklicher Gedanke, hinter Philoktetes Alkibiades zu vermuten, den Athen nach früherem Unrecht heimholen wollte.87 Gleichwohl könnte das Heer der Griechen vor Troja an den athenischen Demos erinnern, zumal sich die Flotte in Samos zur Zeit der Auseinandersetzung mit den Oligarchen durchaus als der eigentliche Demos fühlte.88 Jedenfalls wird man bei einer politischen Gemeinschaft, die über ihre Mitglieder rein instrumental verfügt, sie bald aus ihrer Mitte entfernt – oder ostrakisiert – bald von ihnen den vollen Einsatz fordert, am ehesten an Athen denken. Auch muß eine Bemerkung wie die, daß die Stadt und das Heer ganz und gar unter dem Einfluß ihrer Anführer stehen, die die meiste Schuld trifft, und daß das Unrecht unter Anleitung übler „Lehrer“ zustande kommt (385–388)89 – eine Bemerkung, die die Souveränität und Urteilsfähigkeit des Demos implizit in Frage stellt – nicht unbedingt auf

87 So M. Le Beau (Lebeau), wie Anm. 22. Weit mehr historische Plausibilität (wenn auch gewiß keine Sicherheit) kann die Vermutung von M. H. Jameson: Politics and the Philoctetes. In: Classical Philology 51 (1956), 217–227, bes. 222f.) beanspruchen, hinter Neoptolemos stehe die Figur des jüngeren Perikles, der nach Xenophon (Mem. 3.5; Hell. 1.7.16–33) eine politische Hoffnung jener Jahre darstellte. Vgl. auch Carola Greengard: Theatre in Crisis. Sophocles’ Reconstruction of Genre and Politics in Philoctetes. Amsterdam 1987, 73–75. 88 Hermann Bengtson: Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit. München 41969 (Handbuch der Altertumswissenschaft, Bd. III/4), 247f. 89 Richard C. Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments: Part IV: The Philoctetes. Cambridge 1890, 69f.) deutete die διδάσκαλοι unter Hinweis auf Thuk. 8.47 und 75 auf die Führer der oligarchischen Regierung 411/410, während L. Radermacher (Sophokles. Erkl. v. Friedrich Wilhelm Schneidewin/ August Nauck. Siebentes. Bändchen: Philoktetes. Bes. v. Ludwig Radermacher. Berlin 111911, 56) das Wort auf „die Demagogen“ bezog. Hugh Lloyd-Jones/Nigel G. Wilson: Sophoclea. 1990, 187f. möchten die Verse 385–388 (nach M. D. Reeve, GRBS 14 (1973), 145ff.) athetieren; mit Jan C. Kamerbeek (Hg.): The Plays of

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fremde, außerathenische Verhältnisse zielen – vor allem nicht in Verbindung mit Klagen darüber, daß der Krieg die Besten tötet, die Schlechten übrig läßt (436f.), daß die Schlechten und Feigen mehr Einfluß haben als die Guten und Anständigen (456f.), daß einzig die Reden (die „Zunge“, 99), nicht die Taten noch von Bedeutung sind und daß schlichtweg alles gesagt und gewagt werden kann (wie von Odysseus: 633f.). All das wäre gut verständlich als Reaktion auf die politische Atmosphäre in Athen in den letzten Jahren des Peloponnesischen Krieges, als zunächst die führenden Oligarchen die Stadt zu verkehrten Beschlüssen verleiteten, dann der Einfluß von Demagogen von geringem Format die Entscheidungen der Stadt bestimmte. Oder zu bestimmen schien: Denn die Erscheinung des Herakles, die der Handlung eine unerwartete Wendung gibt, könnte wohl auch als Deutung des Gangs der Geschichte verstanden werden: Leute wie die Atriden oder auch Odysseus, durchschnittliche oder auch durchtriebene politische Macher, können zwar meinen, mit ihren Machenschaften das Entscheidende zu bewirken, so hier die Eroberung Trojas – der Dichter aber zeigt, daß nicht sie gehandelt haben, sondern die sittlich über ihnen stehenden Freunde Neoptolemos und Philoktetes einerseits, andererseits aber – und letztlich ist nur dies entscheidend – die Gottheit. Ob man nun diese Deutung akzeptiert oder nicht, die Verweigerung des Philoktetes und Neoptolemos gegenüber dem Heer mußte im kriegführenden, kriegverlierenden Athen als in höchstem Maße politisches Thema verstanden werden90 . Sophokles bringt den Zuschauer vollständig auf die Seite derer, die zum großen Unternehmen der Gemeinschaft Nein sagen.91 Das Unrecht des Staates gegen den einzelnen kann so schwer sein, daß dieser ein Recht gewinnt, sich von der politischen Gemeinschaft (κοινωνία) loszusagen. In dieser Hinsicht ist der Philoktetes die brisantere Fortsetzung des Aias. Aus dem Geist des Perikles, oder jedenfalls des thukydideischen Perikles, der da sagt, wer nicht den vollen Einsatz für die Stadt erbringe, gelte

Sophocles, Part VI: The Philoctetes. Leiden 1980, 77) lassen sie sich jedoch als „ironische“ Beleuchtung von Neoptolemos’ Position verstehen. 90 Vgl. Siegfried Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, Bd. I. Frankfurt a. M. 1974, 79f., der in dem Stück einen Appell zur Wiederherstellung der politischen Moral sah. 91 Anders Goldhill: The Great Dionysia, 122f., der Neoptolemos irgendwie als Deserteur verstehen möchte, der aber für seine Desertion doch nicht rein negativ gewertet werde, wodurch Sophokles die ‚Ideologie‘ der zeremoniellen Verpflichtung der athenischen Epheben auf Solidarität in Frage stelle.

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allein in Athen nicht für untätig (ἀπράγμων), sondern für unnütz (ἀχρεῖος) (Thuk. 2.40.2), ist dieses Stück nicht geschrieben. Im Oidipus auf Kolonos ist Athen in zweierlei Gestalt gegenwärtig. Die Geschichte vom Sterben des Oidipus in Attika ist einerseits eine offenbar sehr persönliche Hommage des Dichters an sein Land und seinen Demos Kolonos. Attika bewährt seine politisch-moralische Überlegenheit unter Führung des vorbildlichen Königs Theseus. Insofern ist das angreifende Theben, wie so oft in der attischen Tragödie,92 deutlich das Gegenmodell zum heilen Ur-Athen. Andererseits wäre es naiv, das vom Bürgerkrieg zerrissene Theben dieses Stückes von den inneren Auseinandersetzungen in Athen trennen zu wollen, die seit 415 auf einen Bürgerkrieg zusteuerten, dessen blutigen Höhepunkt 404/3 Sophokles nicht mehr erleben mußte. Beide Bürgerkriegsparteien wollen sich des Oidipus bemächtigen. Natürlich sind sie nicht an ihm selbst interessiert, sie wollen ihn haben, weil sein Grab diejenigen schützen wird, in deren Gewalt es sich befindet (408ff.). Der Versuch, nach Bekanntwerden des Orakels den alten Mann zu gewinnen, bedeutet also zugleich den Versuch, über eine göttliche Verheißung verfügen, sie den eigenen Zwecken unterordnen zu wollen. Oidipus ist gegenüber dem Anspruch beider Seiten auf seine Person gleich feindselig eingestellt. Während bei Aischylos in den Sieben Eteokles für das Recht der Stadt und gegen den Frevel des Angreifers steht, bei Euripides in den Phoinissai eine gewisse Sympathielenkung zugunsten des exilierten Polyneikes spürbar ist, verdichtet sich bei Sophokles die Bürgerkriegserfahrung zu einem unerbittlichen Nein an beide Seiten.93 Oidipus aber muß es sich erst gegen den anfänglichen Widerstand der Koloneer erkämpfen, gemäß dem Willen der Götter hier sterben zu dürfen. Der es ihm ermöglicht, ist Theseus. Er sieht weiter als die ängstlichen Vertreter des Demos: Während diese beim Namen Oidipus zurückschaudern, weil sie Befleckung fürchten, macht Theseus Oidipus zum Bürger der Stadt (637) und bietet ihm sein eigenes Haus als Bleibe an (643). Theseus ist, wie Guido Donini kürzlich gut herausgestellt hat, der einzige sophokleische Herrscher, der das Problem der Hauptfigur einer Tragödie löst und in jeder Hinsicht segensreich wirkt. Ihn zeichnen alle jene Tugenden aus, die den Herrschern bei Sophokles sonst fehlen, nämlich Beherrschung des Jähzorns (der ὀργή), Gerechtigkeit und Achtung vor dem 92 Vgl. Froma I. Zeitlin: Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama. In: Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context. Hg. v. John J. Winkler/Froma I. Zeitlin. Princeton 1990, 130–167. 93 Matthiessen: Philoktet oder die Resozialisierung; vgl. auch Greengard: Theatre in Crisis.

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Gesetz, Billigkeit (τοὐπιεικές 1127), Gewährung von Freiheit, und, vor allem, Gottesfurcht und Frömmigkeit (εὐσέβεια).94 Theseus und Athen sind in der Tat einzigartig: Die ideale Stadt unter idealer Führung stellt das Recht im menschlichen Bereich her, indem sie den Götterwillen respektiert. Leicht stellt sich eine Vermutung ein über die Absicht hinter einer solchen Sicht Athens: Sophokles habe die Moral der Bürger hochhalten wollen angesichts der drohenden Niederlage (so Donini 460). Unbestimmter klang die Deutung Siegfried Melchingers: In Theseus erscheine „die Idee der Polis“, die „noch einmal ... wenigstens auf der Bühne Wirklichkeit werden“ solle; Theseus sei „höchster Inbegriff des Politischen, wie es sein soll“.95 Aber wie soll es denn sein? Gewiß ist Theseus als Person der ideale Herrscher – aber wie sieht seine Herrschaft aus, als Verhältnis zum Demos? Was unter einem demokratischen König zu verstehen wäre, dafür hatte das athenische Publikum einen Maßstab vielleicht an Pelasgos, sicher an Theseus in den Hiketiden des Aischylos und des Euripides. Im Vergleich mit diesen Herrschern (Aisch. Hik. 368–375, 398–401, Eur. Hik. 403ff., 426ff.) fehlt dem Theseus des OK das Entscheidende: eine Erwähnung der Souveränität des Volkes. Wir brauchen uns hier nicht auf ein argumentum ex silentio zu verlassen. Denn Oidipus fragt bei seiner Ankunft nicht einfach: „Wer ist zuständig?“, sondern viel deutlicher: „Herrscht jemand über sie [sc. die Bewohner dieses Ortes], oder liegt die Entscheidung beim Volk?“ (ἄρχει τις αὐτῶν, ἢ ᾽πὶ τῷ πλήθει λόγος; 66). Die Frage lautet also: Königsherrschaft oder Demokratie96 – für athenische Ohren doch wohl eine Einladung zu einem stolzen Bekenntnis zur freiheitlichen Verfassung, wie sie bei Euripides Theseus selbst ablegt.97 Doch der Koloneer weiß nichts von der Selbstbestimmung des πλῆθος, er verweist nur auf den König in der Stadt, von dem sein Demos beherrscht wird (67). Und so wie Theseus zuerst eingeführt 94 Guido Donini: Sofocle e la città ideale. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 16 (1986), 449–460. 95 Vgl. Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, 85. 96 Richtig Richard C. Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments, Part II: The Oedipus Coloneus. Cambridge 1899, 22; aber auch wenn man mit Elmsley τίς liest (statt τις), wird lediglich die Konstruktion etwas schwieriger, der Sinn bleibt (vgl. Jan C. Kamerbeek: The Plays of Sophocles, Part VII: The Oedipus Coloneus. Leiden 1984, 33). – Ganz ähnlich der Frage des Oidipus ist Eur. Kyklops 119: τίνος κλύοντες; ἢ δεδήμευται κράτος. 97 Eur. Hiketiden, 404f.: οὐ γὰρ ἄρχεται ἑνὸς πρὸς ἀνδρὸς ἀλλ᾽ ἐλευθέρα πόλις. Vgl. auch Aisch. Persai, 241f.

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wird, so verhält er sich auch im Stück: nämlich als Herrscher, dem es nicht in den Sinn kommt, die risikoreiche Aufnahme des Schutzflehenden (vgl. 634–637, 653–667) von der Entscheidung des Volkes abhängig zu machen, wie einst Pelasgos. Das eifersüchtig gehütete attische Bürgerrecht erteilt Theseus dem Fremden aus eigener Machtvollkommenheit (637).98 Und während Oidipus einst als vorbildlicher König Thebens es ablehnte, von Kreon unter vier Augen über den Weg zur Rettung der Stadt unterrichtet zu werden, und das öffentliche Wohl öffentlich besprechen wollte (OT 91–94), erhält Theseus unter Ausschluß von Zeugen als einziger Athener Kenntnis von der Lage des Oidipus-Grabes – eine Kenntnis, die er nur am Ende seines Lebens dem ältesten Sohn weitergeben darf (1518–1534). Woran das Wohl aller hängt, ist für alle Zeit nur einem, dem jeweiligen Besten (1531), anvertraut. Bei dieser Diskrepanz zwischen dem idealen sophokleischen und einem möglichen demokratischen Urkönig verwundert es dann nicht, daß das berühmte Preislied auf Athen (668–719) an natürlichen Vorzügen des Landes sehr viel aufzählt, vom zivilisatorischen Glanz der Stadt aber nur die Reitkunst, die Seefahrt und die Musenkunst erwähnt (691–693,707–719), nicht aber das, was dem außerattischen Betrachter am meisten auffallen mußte: die freiheitliche Verfassung. Alles in allem gewinnt man den Eindruck, daß das sophokleische UrAthen als ideale Polis agiert, weil sie unter einem πρῶτος ἀνήρ steht, der an Weisheit und Integrität und folglich auch an Autorität und Machtvollkommenheit selbst einen Perikles weit hinter sich läßt. Wie Thukydides von Athen in seiner Glanzzeit sagte: ἐγίγνετο λόγῳ μὲν δημοκρατία... (2.65.9). Versuchen wir Bilanz zu ziehen. Wie steht Sophokles zur demokratischen Mentalität, wie bewältigt er das große politisch-moralische Abenteuer der neuen Verfassungs- und Lebensform, in das sich der athenische Demos unter adliger Führung eingelassen hatte? Sophokles hält sich frei von demokratisch-patriotischem Chauvinismus: keine Ausfälle gegen Sparta im Stil des Euripides (das feindliche Theben wird sogar gepriesen: OK 919–923, 929); keine Verweigerung des Bürger-

98 OK 637 χώρᾳ δ᾽ ἔμπολιν κατοικιῶ beruht allerdings auf einer Konjektur von Musgrave: überliefert ist ἔμπαλιν, was Kamerbeek (Hg.): The Plays of Sophocles, Part VII: The Oedipus Coloneus, 101 verteidigt, während die Mehrzahl der Herausgeber Musgrave folgt, darunter Jebb (Hg.): Sophocles. The Plays and Fragments, Part II: The Oedipus Coloneus, 108 und Hugh Lloyd-Jones/Nigel G. Wilson (OCT 1990).

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rechts für Halbathener (der Bastard Teukros ist den ‚reinen‘ Griechen moralisch überlegen, Aias behandelt seinen Bastard Eurysakes als vollbürtigen Erben). Er hält sich zweitens frei von jeder Glorifizierung des Demos. Die Menge und das gesunde Volksempfinden entscheiden wiederholt falsch (das Heer will Teukros steinigen, Philoktetes zwingen; das Volk kuscht, während Antigone aufsteht; die Koloneer wollen Oidipus anfänglich vertreiben). Das Volk ist nie mutig, nie moralisch entschieden. Konsequenterweise hält sich Sophokles – drittens – auch frei von demokratischem Staatsabsolutismus: Nicht alles kann die Polis souverän entscheiden (z. B. nicht, wer einer Bestattung würdig ist), und sie hat kein unbeschränktes Recht auf ihre Bürger (Philoktetes, Oidipus). Viertens hält sich Sophokles frei vom Fortschrittsglauben: Der περιφραδὴς ἀνήρ ist zwar ein παντοπόρος (Ant. 347, 360), kann alles meistern, alles machen, aber echter Fortschritt liegt doch nur in der Wahrung des Rechts und der Beachtung des Götterwillens – ohne das droht τὸ μαίνεσθαι (OK 1537), das „Rasen“, der Wahnsinn. Selbstverständlich hält er sich dann – fünftens – auch frei von fortschrittlicher Religionskritik:99 Der Kult und die Kunst würden sinnlos – τί δεῖ με χορεύειν (OT 896) – wenn man die Religion nicht mehr achtete. Der Priester behält Recht im Konflikt mit der Macht (Antigone, OT, vgl. Kalchas im Aias), die Orakel behalten Recht gegen Zweifler (nur in der Antigone findet sich kein handlungsbestimmendes Orakel). Vor allem aber hält sich Sophokles – sechstens – fern von demokratischer Gleichmacherei. Mehrere seiner Figuren wären sichere Kandidaten für den Ostrakismos (am deutlichsten Aias und Philoktetes). Sein Leitbild ist die μεγάλη ψυχή. Diese ist nicht fehlerfrei, also kein idealisierendes Konstrukt (außer vielleicht Theseus), aber gleichwohl in ihrem Positiven, an dem sie unbeirrbar festhält, ein Beispiel des Menschen, wie er sein soll. Ich jedenfalls zweifle nicht, daß Sophokles’ Diktum, er schaffe Menschen οἵους δεῖ (Ar. poet. 1460 b33f. = TrGF IV, T 53 a), primär auf Antigone und Aias und Philoktetes zu beziehen ist und doch wohl nur sekundär auf Haimon oder Odysseus oder Neoptolemos. Die tragischen Figuren des Sophokles mögen der Polis und speziell der demokratischen Polis wenig zuträg-

99 Überzogen ist andrerseits die Interpretation des Oidipus als eines ‚Aufklärers‘ und seines Schöpfers Sophokles folglich als eines ‚Gegenaufklärers‘ bei Jochen Schmidt: Sophokles, König Ödipus. Das Scheitern des Aufklärers an der alten Religion. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, 33–55).

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lich sein – der Dichter bringt uns kraft seiner meisterhaften Sympathielenkung stets auf ihre Seite. Die eigentliche Schöpfung des Sophokles ist der nichtintegrierbare Held, der seinen mittelmäßigen Gegnern bis zum Ende unverständlich bleibt. War Sophokles Demokrat? Tyrannische Kleingeister (Menelaos, Kreon) hat er vernichtender porträtiert als andere. Aber sein Theseus hat die Stadt weit besser in der Hand als selbst ein Perikles. Ein Demokrat vom Schlag derer, die alles sagen, alles können, alles machen, die die ἀπράγμονες für ἀχρεῖοι halten100 und sich und anderen keine Ruhe gönnen,101 war Sophokles gewiß nicht. Politisch ist seine Dichtung durch und durch. Nur schuf er keine Konstellationen, die bestimmte politische Situationen abbilden würden oder sich für bestimmte Positionen und Ziele verwerten ließen. An Perikles Kritik zu üben mit Sophokles᾽ Oidipus-Bild im Hinterkopf wäre offensichtlich widersinnig. Wenn der Dichter wirklich Perikles im Sinn hatte, so war Perikles mit Sicherheit der einzige, der aus solcher Kritik hätte Nutzen ziehen können. Die Polis ist immer mit im Blick, gewöhnlich ganz explizit, aber doch nie im Zentrum der Problematik. Die Konflikte liegen im Bereich vor dem Politischen. Nicht im Staatlichen, sondern in dem, was Staat ermöglicht: in den Beziehungen von Blutsverwandten und Freunden zueinander, und zuvor noch in ihrem Verhältnis zur Gottheit. In dieser Konzentration auf die ἀρχαὶ καὶ πηγαί ist Sophokles auf seine Art philosophisch. Er wahrt sich die Freiheit, die Konflikte immer wieder konsequent auf ihren Kern zu reduzieren. Das erfordert die Fähigkeit, die Dinge aus großem Abstand zu sehen. Daß Sophokles selbst überzeitlich und für die Ewigkeit schreiben wollte, ist nicht wahrscheinlich. Er gehörte voll und ganz in seine Zeit. Aber frei wollte er offenbar sein vom Diktat des Zufälligen und Peripheren, des nur heute und nur in Athen Gültigen.

100 Dies in Anlehnung an Perikles’ Wort bei Thuk. 2.40.2. 101 Auch dies nach Thukydides, bei dem der korinthische Gesandte die Athener wie folgt charakterisiert: ὥστε εἴ τις αὐτοὺς ξυνελὼν φαίη πεφυκέναι ἐπὶ τῷ μήτε αὐτοὺς ἔχειν ἡσυχίαν μήτε τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους ἐᾶν, ὀρθῶς ἂν εἴποι (1.70.9). Thukydides vergaß freilich auch nicht die heimischen Kritiker der athenischen Betriebsamkeit und Hektik, man denke nur an sein Nikias-Portrait (5.16.1, sowie Buch 6–7 passim, bes. 6.8–14). Zu diesem faszinierenden Kapitel der athenischen Mentalitätsgeschichte vgl. L.B. Carter: The Quiet Athenian. Oxford 1986.

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Diese Fähigkeit zur Distanznahme und dieser Wille zur Freiheit ist zwar kaum die hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung dafür, daß ein Dichter späteren Zeiten als Klassiker erscheinen kann.

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5. Mania und Aidos. Bemerkungen zur Ethik und Anthropologie des Euripides (1986)*

Als der Chor in Euripides’ Hippolytos erfährt, daß Phaidra seit drei Tagen nichts zu sich genommen hat und in einer unerklärlichen Verfinsterung ihres Gemüts entschlossen ist zu sterben, vermutet er einen gottgesandten Wahnsinn als Ursache. Bald darauf sieht der Zuschauer Phaidra in einem Zustand der Trance, hört sie wirre Dinge reden: sie möchte im Gebirge jagen, auf der Rennbahn junge Pferde bändigen. Ihre alte Amme spricht von Wahnsinn, wie zuvor der Chor, und vermutet gleichfalls einen Gott als Verursacher. Und drittens hören wir aus Phaidras eigenem Mund die gleiche Diagnose: ἐμάνην ‚ich verfiel in Raserei‘, ἔπεσον δαίμονος ἄτῃ ‚ich fiel verblendet durch einen Daimon‘. Nur der Zuschauer kennt die wahre Bedeutung von Phaidras Träumen: sie sind Ausdruck ihrer Liebe zu Hippolytos, die sie unterdrücken möchte, derentwegen sie sterben möchte. Obschon sie von Chor und Amme nicht durchschaut wird, empfindet Phaidra Scham über ihre Äußerungen: αἰδούμεθα γὰρ τὰ λελεγμένα μοι. Die Zurechtweisung ihres verkehrten Denkens tut weh; die Raserei ist ein Unheil; besser, so sagt sie, sie würde ohne Erkenntnis ihres Zustandes zugrunde gehen.1 Drei Dinge machen also zusammen Phaidras Unglück aus: die Raserei (das μαίνεσθαι oder die Mania), die Aidos (die ‚Scham‘, wenn sie sich auf Vergangenes richtet, ‚Scheu, Rücksicht, Hemmung‘, wenn sie Zukünftiges und Mögliches betrifft) und drittens die Einsicht und das rechte Denken (die γνώμη ἀγαθή). Die Raserei kommt von einem Gott; die Einsicht wäre eine menschliche Angelegenheit. Nehmen wir eine andere Situation. In der Iphigeneia in Aulis singen die Frauen des Chors zu Beginn des ersten Stasimons vom rasenden Stachel übermäßiger Liebe und bitten Aphrodite, sie davon verschont zu lassen; am Ende des Liedes heißt es von Paris, das Urteil über die Schönheit der Göttinnen – also der Beginn allen Unheils im trojanischen Krieg – habe ihn in Wahnsinn versetzt; dazwischen steht eine Reflexion auf die Bedin-

* Vortrag, gehalten am 31. 8. 1984 im Rahmen des 8. Internationalen Kongresses der FIEC in Dublin. 1 Hippolytos, 141–144 (Chor), 214, 237 (Amme), 241–249 (Phaidra).

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gungen der ἀρετή (der Tugend), und wieder ist von αἰδεῖσθαι (Scheu, Rücksicht) und von richtiger Einsicht die Rede.2 Und nehmen wir drittens König Pentheus in den Bakchai. Er stellt sich denen entgegen, die den Kult des rasenden Gottes Dionysos übernehmen wollen, und gilt eben deswegen selbst als ‚rasend‘ und wahnsinnig (Ba. 326). Sein Verhalten ist aber zugleich ein Mangel an Aidos gegen die Götter und gegen sein eigenes Geschlecht, dem sowohl Angehörige des neuen Kultes wie auch der neue Gott selbst entstammen. Seine Auseinandersetzung mit dem Seher Teiresias und dem Chor der Bakchantinnen ist ein Streit um das richtige Urteil und die bessere Einsicht, um φρένες und τὸ σοφόν.3 Daß die Begriffe Einsicht, Raserei, Rücksichtnahme nicht zufällig zusammen auftreten, sondern irgendwie auf einander bezogen sind, wird aus den genannten Beispielen deutlich. Andererseits ist die Zusammengehörigkeit dieser Begriffe doch nicht von der Art, daß sie sich als das einzig Denkbare aufdrängte. Wollte der Dichter mit der Zusammenstellung von Mania und Aidos und ihrer gemeinsamen Beziehung auf das Problem der Einsicht nur einzelne Konflikte mehr nebenher in einem interessanten Detailaspekt beleuchten – oder führen uns diese Begriffe ins Zentrum seiner ethischen und anthropologischen Anschauungen? Vielleicht ist es gut, an einer ganz anderen Stelle einzusetzen. Platon hat in dem späten Dialog Politikos, geschrieben um die Mitte des 4. Jh. v. Chr., etwa 50 Jahre nach dem Tod des Euripides, Überlegungen angestellt über die Möglichkeit, sittliches Verhalten in einem Staatswesen zu sichern. Er sieht das Problem hier als eine Frage der Vererbung. Die zwei Tugenden der Tapferkeit und der Besonnenheit seien einander entgegengesetzt, ja feindlich (306 b). Erstrebenswert sei die richtige Mischung der draufgängerischen und der zurückhaltenden Anlagen – sonst ende die erbbedingte Konzentration des tapferen Temperaments in μανία, während Trägheit und Verkümmerung das Ergebnis ist, wenn allein die αἰδώς vorherrscht (310 d8/10). Hier haben wir in einem Text, dem es nicht primär um eine Tugendlehre geht, sondern – im Rahmen einer philosophischen Staatslehre – um die anthropologischen Grundlagen der Verwirklichung der Tugenden, die Begriffe Mania und Aidos nebeneinander, und sie sind – wie bei Platon, dem Erben des sokratischen Intellektualismus, nicht anders zu 2 Iphigenie in Aulis, 543–589 (1. Stasimon), μανιάδων οἴστρων, 547, ὅτε σε (= Πάρις) κρίσις ἔμηνε θεᾶν 580, τό τε γὰρ αἰδεῖσθαι σοφία 563, γνώμη 565. 3 Bakchen, 326 μαίνῃ (von Pentheus), 263 οὐκ αἰδῇ θεούς; 265 καταισχύνεις γένος, vgl. δι᾿ αἰδοῦς 441 (der Diener hat die Eigenschaft, die dem König abgeht); Streit um das ‚vernünftige‘ Verhalten 251ff., 266ff.

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erwarten – bezogen auf das Problem der Vermittlung richtiger Einsicht durch Erziehung (παιδεία 309 b1, d3). Hinter dem Politikos steht freilich eine systematische Tugendlehre.4 Bei Euripides ist dergleichen nicht erkennbar, und man pflegt ihn auch nicht im Licht der philosophischen Systematik des 4. Jh. zu erklären. Zur Deutung der Ethik der Tragiker bietet sich vor der Philosophie, die sich auf diesem Gebiet erst wesentlich später entfaltete, vor allem die poetische Tradition seit Homer an, der die Tragödie ja auch vom Stofflichen her überdeutlich verpflichtet ist. Was den ethischen und anthropologischen Aspekt dieser Tradition betrifft, so ist es üblich, nach dem verdienstvollen Bemühen des Historismus, Wandlungen aufzuzeigen und Entwicklungslinien zu verfolgen, heute wieder die Kontinuität, ja Homogenität zu betonen. Gewisse Vorstellungen haben sich in der Tat trotz allem historischen Wandel über lange Zeiträume hinweg unverändert erhalten; für die griechische Vorstellung von der Gerechtigkeit des Zeus versuchte dies H. Lloyd-Jones zu zeigen, dessen These freilich nicht unwidersprochen blieb.5 Von der Seite der Moralphilosophie legte Arthur W. H. Adkins in „Merit and Responsibility“ eine historische Analyse griechischer Wertbegriffe vor, die gleichfalls in der Zeit von Homer bis ins 5. Jh. mehr Kontinuität als Wandel feststellt.6 Die wohlbekannte These dieses einflußreichen Buches ist, daß die griechischen Wertbegriffe nur sehr spät eine Verschiebung erfahren haben, nämlich weg von dem ursprünglich – wie Adkins meint – unumschränkten Vorrang der Tugenden der Durchsetzungsfähigkeit, der Leistung, des Kampfes und des Erfolgs hin zu einer vollen Anerkennung der Tugenden der Zurückhaltung und Beherrschung, wozu auch die Gerechtigkeit als Berücksichtigung des Anspruchs des Anderen gehört. Was Platon im Politikos als den grundlegenden charakterologischen Gegensatz zwischen ‚tapferer‘ und ‚besonnener‘ Gemütsverfassung bezeichnete, erscheint bei Adkins als der Antagonismus der ‚competitive virtues‘ gegen die ‚cooperative‘ oder ‚quieter virtues‘. So ausschließlich sei die Wertschätzung des ungestümen Kämpfers, der sich durchzusetzen und dank seinem Erfolg die Seinen zu schützen vermag, ursprünglich gewesen, daß das

4 Vgl. Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959)), 148–177. 5 Hugh Lloyd-Jones: The Justice of Zeus. Berkeley/Los Angeles/London 1971. Widerspruch z. B. in der Rezension von Walther Kraus, in: Gnomon 49 (1977), 241– 249. 6 Arthur W. H. Adkins: Merit and Responsibility. A Study in Greek Values. Oxford 1960.

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Wort ἀγαθός (tüchtig, gut) allein ihm vorbehalten war, unabhängig davon, wie er es mit den ‚ruhigeren‘ Tugenden hielt. Rücksichtsvoll oder auch nur gerecht zu sein, gehöre nicht zur altgriechischen Umschreibung des ἀγαθός.7 Mehr noch: die Griechen hätten Schwierigkeiten gehabt, den Gerechten qua Gerechten als ἀγαθός anzuerkennen. Das sei endgültig erst bei Platon erreicht.8 Bis dahin habe die Vorherrschaft der nichtkooperativen oder ‚competitive virtues‘ gegolten. Das Fortbestehen der traditionellen homerischen Wertbegriffe zeigte Adkins gerade auch mit Beispielen aus Euripides;9 hierbei legte er Wert auf die Feststellung, daß Euripides im erhaltenen Werk das Prädikat ἀγαθός nur einmal einem männlichen Charakter beilegt, dessen Vorzüge im Bereich der kooperativen Tugenden liegen.10 Die Anerkennung des δίκαιος als ἀγαθός ist aufs engste verknüpft mit der Überwindung der altgriechischen Anschauung, daß der Tüchtige seinen Freunden nützen und seinen Feinden schaden kann und soll. Anderen Schaden zufügen – was auch als ‚Unrechttun‘, ἀδικεῖν bezeichnet werden konnte – galt mithin unter bestimmten Voraussetzungen als legitim. Die Bekenntnisse zu dieser Freund-Feind-Ethik, wie ich sie der Kürze halber nennen möchte, reichen von Archilochos und Solon bis in späte Zeit.11 Erst der platonische Sokrates setzte dem die radikale Forderung entgegen, daß Unrechttun unter allen Umständen zu ächten sei, auch wenn es bloße Vergeltung fremden Unrechts wäre.12 Aber hiermit, der Vergeltung erlittener Kränkungen, sehen wir bei Euripides Götter und Menschen glei-

7 Ebd., 31–40, 48–57. Die Brauchbarkeit von Adkins’ Unterscheidung von ‚competitive‘ und ‚cooperative virtues‘ wurde angezweifelt von A. A. Long: Morals and Values in Homer. In: Journal of Hellenic Studies 90 (1970), 121–139 (bes. 123– 126) und J. L. Creed: Moral Values in the Age of Thucydides. In: Classical Quarterly 23 (1973), 213–231 (bes. 214f.). Prinzipielle Einwände gegen Adkins’ Art, literarische Quellen für die Geschichte der griechischen Ethik auszuwerten, erhob Kenneth J. Dover: The Portrayal of Moral Evaluation in Greek Poetry. In: Journal of Hellenic Studies 103 (1983), 35–48. Sehr wertvoll auch die umsichtige Erörterung der von Adkins aufgeworfenen Probleme bei Christopher J. Rowe: The Nature of Homeric Morality. In: Approaches to Homer. Ed. Carl A. Rubino and Cynthia W. Shelmerdine. Austin 1983, 248–275. 8 Adkins: Merit and Responsibility, 295. 9 Ebd., 153–171: „The Persistence of Traditional Values“; zu Euripides bes. 157f. 10 Ebd., 176 zu Eur. Elektra, 382. Adkins übersah freilich nicht, daß die Fragmente manches mehr enthalten, was für Euripides’ Wertung der ‚ruhigen‘ Tugenden aufschlußreich ist. Vgl. auch unten Anm. 81. 11 Kenneth J. Dover: Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle. Berkeley/Los Angeles 1974, 180ff. 12 Platon, Kriton 49 b, Gorg. 469 cff., Politeia 335 e usw.

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chermaßen befaßt. So konnte Godfrey W. Bond in seinem kenntnisreichen Kommentar zum Herakles erst neuerdings die bekannte Ansicht bekräftigen, zur Überwindung der alten Freund-Feind-Ethik habe Euripides nicht viel beigetragen.13 Wieder scheint Euripides vor der entscheidenden Wende in der griechischen Ethik zu liegen. Ist er am Ende doch weit getrennt von Platon, mit dem wir ihn anfangs, als es um Mania und Aidos ging, versuchsweise zusammenstellten? Einige Formulierungen der Freund-Feind-Ethik bei Euripides klingen ganz so, als wären wir noch in der Welt des uneingeschränkten Rechts zur Rache. Der alte Diener Kreusas im Ion macht sich Mut zu seinem Mordplan mit der Sentenz, daß man Frömmigkeit (εὐσέβεια) hochhalten soll, wenn es einem gut geht, daß aber kein νόμος – und das muß hier heißen: kein νομιζόμενον, keine gültige Maxime – im Wege steht, wenn einer seine Feinde schädigen will.14 Wohlwollend den Freunden, aber gefährlich den Feinden will auch Medea sein, und auch sie weiß die Maxime ihres Handelns auf allgemein Anerkanntes abzustützen: wer so ist, dessen Leben steht im herrlichsten Ruhm.15 Die Reaktion der Öffentlichkeit ist also zu bedenken: sie kann Anerkennung und Ruhm verleihen, oder man kann vor ihr zum Gespött der Feinde werden, und dies wäre für Medea das Schlimmste16 – aber nicht nur für sie, die ein wild auffahrender Charakter ist, sondern auch für die vornehm beherrschte Megara im Herakles und die lange um Beherrschung ringende Phaidra im Hippolytos.17 Die Angst vor der öffentlichen Meinung bestimmt auch sonst in mannigfachen Formen das Denken und Verhalten der euripideischen Gestalten,18 und auch dies scheint auf eine frühe Stufe der Ethik zurückzuweisen, auf der nicht absolute Werte, die der Mensch autonom und notfalls auch gegen die Gemeinschaft erkennen und verwirklichen kann, den Maßstab bilden, sondern die Anerkennung durch die Anderen, letztlich das κλέος, der bleibende Ruhm.

13 Euripides: Heracles. With Introduction and Commentary by Godfrey W. Bond. Oxford 1981, 212 (zu Herakles, 585f.); aus der älteren Literatur vergleiche man z. B. Wilhelm Schmid/Otto Stählin: Geschichte der griechischen Literatur, Bd. I, 3.1. München 1940, 746f. 14 Ion, 1045–1047. 15 Medea, 809f. 16 Ebd., 383, 395ff., 1049 u. ö. 17 Herakles, 285f., Hippolytos, 729, vgl. Herakliden, 444, Bakchen, 854, fr. 460 N2. 18 Herakles in Herakles, 1151f.

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Doch Vorsicht ist am Platz: die Maximen der handelnden Figuren eines Dramas sind sehr selten, wenn überhaupt jemals, zugleich abstrakte Formulierungen der Einsichten des Dichters.19 Sie sind eher der Stoff, den er uns zur Gewinnung von neuen Einsichten anbietet. Die ethische Aussage eines Dramas oder gar eines dramatischen Gesamtwerkes verstehen wollen erfordert mehr als die Zusammenstellung von zitierfähigen Sätzen. Der Dichter kennt auch andere Mittel, eine Maxime zu korrigieren, als die bessere Maxime dagegen zu stellen. Das zitierfähig Ausformulierte muß stets im Licht der Figurenperspektive gesehen werden, aus der heraus es formuliert ist, und darüber hinaus im Licht der dramatischen Bewegung des Stücks, in dem es begegnet. Daher müssen wir genauer fragen: wer schadet seinen Feinden auf der tragischen Bühne des Euripides, und wie endet das Unterfangen? Zunächst einmal sind es die Götter, die grausam gegen ihre Feinde vorgehen. Als Feind betrachtet der Gott den Menschen, der ihm die Ehre verweigert. Pentheus will Dionysos nicht als Gott anerkennen, Hippolytos will Aphrodite nicht dienen; beide sterben nach dem Willen der herausgeforderten Gottheiten durch die Hand oder doch auf Veranlassung ihrer nächsten Verwandten. Doch Herakles hat Hera nicht herausgefordert; seine bloße Existenz ist der Göttin ein Anstoß, und so wird er als Feind gnadenlos vernichtet, nicht physisch, sondern indem er zum Wahnsinn getrieben wird, in dem er seine eigenen Kinder tötet. Die Götter also vernichten ihre Gegner – ist das Prinzip demnach gut? Das würde folgen, wenn es feststünde, daß die Götter gut sind. Die Idee ist zwar da: ein Sprecher des verlorenen Dramas Bellerophontes dekretierte: „wenn Götter Schlechtes tun, so sind sie keine Götter“.20 Doch der Satz ist deutlich ein Protest gegen die Wirklichkeit, nicht ihre Beschreibung. Stücke wie Elektra, Bakchai und Ion zeigen, daß für Euripides weder gilt, was im Thyestes des Sophokles zu lesen war, nämlich daß nicht verkehrt sein kann, wozu Götter den Weg weisen,21 noch daß sie selbst nichts Schlechtes tun. Wenn Götter ihre Feinde vernichten, so zeigt das nur ihre Machtfülle und die Machtlosigkeit des Menschen – eine Wertung des Prinzips ist damit noch nicht gegeben. Es ist der Erfolg, der die Rache der mächtigen Götter von der versuchten Rache der Menschen an ihren Feinden unterscheidet. Medea gelingt es

19 Vgl. Platon, Nomoi 719 c: der Dichter sei wie eine Quelle, die nur das Wasser, das ihr von anderswo zufließt, weitergibt. (Platon verbindet damit die Enthusiasmos-Theorie, die dem Dichter ein Wissen um die Wahrheit der dargestellten Meinungen abspricht.) 20 fr. 292. 7 N² εἰ θεοί τι δρῶσιν αἰσχρόν, οὐκ εἰσὶν θεοί. 21 Soph. fr. 226.4 N2 = fr. 247.4 Radt αἰσχρὸν γὰρ οὐδέν, ὧν ὑφηγοῦνται θεοί.

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zwar, den untreuen Jason zu strafen, indem sie seine Kinder tötet – aber es sind eben auch ihre Kinder, und indem sie Jason Leid zufügen will, fügt sie sich selbst, wie sie sehr wohl weiß, doppeltes Leid zu.22 Die Brüder Eteokles und Polyneikes brennen ein jeder darauf, den anderen zu töten – und es gelingt beiden zugleich: man kann den Feind nicht schädigen, ohne selbst zu Schaden zu kommen. Das muß auch Theseus erfahren, der des vermeintlichen Ehebrechers Hippolytos Tod verursacht, um bald zu erkennen, daß sein Sohn der reinste und frömmste Mensch war, den die Erde gesehen hat. Selbst wenn die gerechte Bestrafung verbrecherischer Gegner gelingt, wie im Fall des Herakles, der Lykos tötet, und der Hekabe, die Polymestor die Augen aussticht, bleibt es nicht bei solch erbaulichem Ende: Herakles trifft gleich darauf, und sei es auch ohne kausalen Nexus, der von Hera gesandte Wahnsinn, Hekabe aber wird von ihrem Opfer prophezeit, daß sie in einen Hund verwandelt werden wird: gelungene Rache und Bewahrung der menschlichen Identität gehen auch hier nicht zusammen.23 Auffällig ist, wie viele derer, die dem Feind zu schaden gedenken, ‚rasend‘ heißen. Was bedeutet μανία und μαίνεσθαι für Euripides? Natürlich kann das Wort in einem fast umgangssprachlichen Sinn verwendet werden als ‚verrückt sein‘, ‚nicht bei Trost sein‘. So meint Silenos im Kyklops, verrückt sei, wer nicht Freude hat am Trinken.24 Gewichtiger klingt es, wenn Agamemnon sagt, er wäre verrückt, wenn er seine Kinder nicht liebte25 – aber das sagt der Agamemnon, der drauf und dran ist, seine Tochter Iphigenie zu opfern. Bedeutsamer noch, wenn Iphigenie ihrerseits sagt, verrückt sei, wer den Tod wünsche, besser elend am Leben bleiben als edel sterben26 – doch kurz darauf sehen wir sie in eben dieser Form des edlen Wahnsinns, wenn sie freiwillig und in heiterer Stimmung zum Opferaltar schreitet. Ganz nach Umgangssprache und common sense klingt es auch, wenn Medea in der Trugrede, in der sie Jason beschwichtigen will, sich vorwurfsvoll fragt „was rase ich gegen die, die mir guten Rat geben“.27 Doch unmittelbar nach ihrer entsetzlichen Tat, der Ermordung der eigenen Kinder, weiß der Chor nur einen vergleichbaren Fall zu nennen: Ἰνὼ

22 Medea, 1047. 23 Hekabe, 1265. – Odysseus gelingt im Kyklops die Rache – doch das Stück ist ein Satyrspiel, keine Tragödie, und der Gegner ein Kannibale. 24 Kyklops, 168. 25 Iphigenie in Aulis, 1256. 26 Ebd., 1251f. 27 Medea 873f.

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μανεῖσαν ἐκ θεῶν, „Ino, rasend gemacht durch die Götter“.28 Gilt diese Deutung dann auch für Medea? Kann dieselbe Tat, die in einem banalen Sinn als Verrücktheit eingestuft wird, in anderer Sicht als gottverhängter Wahn erscheinen? Oder ist das nur eine traditionelle, im Grunde überholte Redeweise, für die Betroffenen eine bequeme Ausrede? Vergegenwärtigen wir uns einige weitere Beispiele. Im Herakles läßt Euripides die Raserei als Person auf die Bühne treten; Lyssa erscheint in Begleitung von Iris, der Botin der höchsten Göttin Hera, die danach sieht, daß Lyssa den Befehl Heras ausführt und Herakles wahnsinnig macht. Die außermenschliche Verursachung wahnsinnigen Tuns ist hier in szenische Handlung umgesetzt. Herakles ist Opfer göttlichen Hasses, selbst von jeder Schuld entlastet. Pentheus in den Bakchai ist als θεομάχος durchaus nicht schuldlos, und der Gott straft ihn, indem er ihn zu einem Verhalten zwingt, zu dem er selbst schon eine starke Neigung hat. Aber dies Hineinzwingen in die eigene Verkehrtheit ist in den Bakchai so breit und so faszinierend ausgespielt, daß die außermenschliche Kausalität auch hier als ein wesentliches Anliegen des Dichters erkennbar wird. Desgleichen zwingt Aphrodite im Hippolytos Phaidra zur Liebe, die sie und ihre Umgebung als Wahnsinn empfinden – Phaidras innerstes Selbst offenbart sich gerade im entschlossenen Widerstand gegen das Gebot der Göttin29 In diesen Fällen ist es ganz eindeutig, daß dem Dichter eine billige Exkulpierung seiner tragischen Gestalten durch Rückgriff auf den Götterapparat der alten epischen Dichtung ganz fern liegt. Vielmehr ist er hier hinsichtlich der Kausalität der Erscheinung des Wahns durchaus in Übereinstimmung mit der archaischen Sehweise, in der das psychopathische Verhalten ebenso wie die Verblendung, die ἄτη, von den Olympiern gesandt war.30 Aber mit der Benennung der außermenschlichen Ursache ist das Phänomen für Euripides noch lange nicht erklärt. War im alten Mythos der gottgesandte Wahn, gerade auch in Fällen erotischen Fehlverhaltens, die Strafe für menschlichen Frevel und somit erklärbar und akzeptierbar, so ist etwa im Falle Phaidras ihre Schuldlosigkeit auch von der Göttin zugegeben, die sie vernichtet.31 Und das Auftreten des Wahns ist nicht einfach ein Faktum, das nicht hinterfragt werden kann. Euripides kann es als

28 Ebd., 1284. Vgl. 1013f.: Medea nennt die Götter als Mitursache. Schon Medeas erste ‚Tat‘, ihre Flucht mit Jason, war unfrei und wahnhaft: σὺ δ᾿ ἐκ μἐν οἴκων πατρίων ἔπλευσας μαινομένᾳ κραδίᾳ 431f. 29 Vgl. bes. Hippolytos, 130–140, 391ff. 30 Vgl. Josef Mattes: Der Wahnsinn im griechischen Mythos und in der Dichtung bis zum Drama des fünften Jahrhunderts. Heidelberg 1970. 31 Hippolytos, 47–50.

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Prozeß zeigen, so im Hippolytos und in den Bakchai. Neben dem Erweis der Macht der Gottheit sind hier die menschliche Deutung des Wahns und der Versuch des Menschen, sich dagegen zu behaupten, wichtige Darstellungsziele. Pentheus hat keine Möglichkeit, frei von Schuld zu bleiben; denn womit ihn Dionysos zwingt, ist das Schlechte in ihm selbst. Es kommt in seinem Fall auch nicht zur reflektierenden Erhellung seiner Lage. Anders bei Phaidra. Sie weiß, was das Leben der Menschen zugrunde richtet: daß wir unser Wissen vom sittlich Guten nicht in die Tat umsetzen können. Da sie erkannt hat, wo der Fehler liegt, glaubt sie ihm entgehen zu können. Doch das ist optimistisches menschliches Raisonnement; der Zuschauer weiß seit dem Prolog, daß auch Phaidra nicht ihrer Einsicht gemäß handeln kann, denn die Göttin will es anders. Euripides hält nicht viel von der Willensfreiheit des Menschen. Er kann die Niederlage der Einsicht und des Guten als rein innerseelischen Konflikt zeigen: dann zwingt der θυμός (die ungestüme Leidenschaft), wie bei Medea,32 oder die αἰδώς, wie bei Kreon und Phaidra, das Falsche zu tun gegen bessere Einsicht. Das ist äußerstes Unglück für den Menschen, dieses Bewußtsein, tun zu müssen was man nicht soll und nicht will.33 Es gibt Figuren bei Euripides, die den inneren Zwang zu einer Tat durch das Wirken einer Gottheit erklären in der Absicht, eigene Schuld oder fremdes Verdienst zu leugnen. Bekannt sind die Worte Helenas, die ihre Flucht mit Paris als Zwang Aphrodites von sich wegschieben möchte. Doch Hekabe, die Symbolfigur für all das Leid, das Helenas Tat auslöste, verwehrt ihr die Ausflucht: Helenas eigenes Denken wurde beim Anblick des Paris zur Kypris; liebestoll war sie nach ihm – und das ist alles. So Hekabe in den

32 Albrecht Dihle: Euripides’ Medea Heidelberg 1977 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse (1977/5)), deutet θυμός in Medea, 1079 θυμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων als Bezeichnung der milden Gefühle des Mutterherzens. Gewiß lassen sich Stellen bei Euripides finden, an denen v in diesem Sinne verstanden werden kann (z. B. Erechtheus fr. 362. 33f. N2), sie bleiben indes die Ausnahme. Dihles Versuch (ebd., 30) zu zeigen, daß die Verwendung des Wortes in Medea, 8, 108, 635ff., 865, 1056f. sich seiner neuen Deutung fügt, hat mich nicht überzeugt; insbesondere scheinen mir die so zahlreich begegnenden Synonyma und Ableitungen von (bzw. Zusammensetzungen mit) θυμός in Dihles Erörterung nicht hinreichend berücksichtigt. – Auch die immer wieder unternommenen Versuche, die Unechtheit von Medea, 1078f. und der vorangehenden Verse zu erweisen (zuletzt Bernd Manuwald: Der Mord an den Kindern. Bemerkungen zu den Medea-Tragödien des Euripides und des Neophron. Wiener Studien 17 (1983), 27–61, bes. 46–50, 55–61), haben noch nicht zu überzeugenden Ergebnissen geführt. 33 Vgl. Medea, 1250 δυστυχὴς δ᾽ ἐγώ.

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Troerinnen.34 Das klingt so aufgeklärt und unwiderleglich, daß auch der neueste Kommentator des Stückes, K. H. Lee, erklärte, das sei alles und die Ansicht der Hekabe sei die Ansicht des Euripides.35 Doch der Disput zwischen Hekabe und Helena kann nur soviel zeigen, daß der Mensch, der unter innerem Zwang verkehrt handelte, nicht glaubwürdig die Verantwortung dafür von sich wegschieben kann. Und nicht einmal das gilt für alle Schicksale: in einem langen Fragment der Kreter erklärt Pasiphae, daß ihre widernatürliche Verbindung mit dem Stier, aus der Minotauros entsprang, eine Strafe Poseidons war; aus der Zustimmung des Chores und der negativen Zeichnung des Gegenspielers Minos ergibt sich aber, daß Euripides dieselbe Art von Erklärung, die Helena nicht abgenommen wird, hier als glaubhaft einführte.36 Selbst wenn ein Mensch den Widerstreit zwischen Einsicht in das Gute und Verlangen nach dem Schlechten als innerseelischen Konflikt erlebt, heißt das noch nicht, daß die Kausalität des Konfliktes rein menschlicher Natur wäre. Die ‚Krankheiten‘, νόσοι – und das ist ein ganz üblicher Ausdruck für das sittliche Fehlverhalten – sind teils selbstgewählt, so hieß es im Bellerophontes,37 teils von den Göttern gesandt. Nur: wie soll der Mensch, der gegen den Drang zum Schlechten in sich ankämpft, der also glaubt, selbst wählen zu können, wirklich wissen, was die letzte Ursache seines Unheils ist? Eben dies, daß im innerseelischen Konflikt das Gute unterliegt, kann und muß oft als gottgesandt verstanden werden: „Wehe, das ist für die Menschen ein göttliches Übel, wenn einer das Gute weiß, aber nicht Gebrauch davon macht“, hieß es im Chrysippos; im selben Stück wurde das Zwingende aber auch als φύσις gedeutet;38 es ist nicht wichtig, ob die überwältigende Kraft personell oder in naturphilosophischer Abstraktion gedacht wird: ihre Göttlichkeit liegt in ihrer überlegenen Macht. Es sind also nicht verschiedene Vorgänge, wenn Medea ihrem θυμός Laios seiner φύσις und Phaidra dem Zwang Aphrodites erliegt, sondern verschiedene, sich ergänzende Deutungen analoger Vorgänge.39

34 Troerinnen, 987–992. 35 Euripides. Troades. Ed. Kevin Hargreaves Lee. London 1976, Introduktion p. xxiii. Lee hätte mit Gewinn die Ausführungen von Lloyd-Jones: The Justice of Zeus, 150f. einbeziehen können. 36 Nova fragmenta Euripidea in papyris reperta. Ed. Colin Austin. Berlin 1968, pp. 55–58 (fr. 82 Austin = fr. 4 Cantarella). 37 fr. 292.4 N2. 38 fr. 841 u. 840 N2. 39 Dover: The Portrayal of Moral Evaluation, 46 u. 26: welche Deutung ein Sprecher bevorzugt, wird von seiner Situation abhängen.

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Ungeachtet der singulären Fähigkeit des Dichters, die gängigen Vorstellungen und Begriffe in nachgerade aufklärerischer Weise zu durchleuchten und das Bewußtsein der eigenen Verantwortung des Menschen zu schärfen, bleibt es dabei, daß für ihn die Götter das Unheil herbeiführen, in dem dann die Schwäche des Menschen sichtbar wird. Die Reaktion des Menschen auf die Zwangssituation, in die er gestellt ist, beschreibt Euripides gerne als ein ‚Rasen‘. Das μαίνεσθαι hat aber einen zweifachen Aspekt: überrannt wird nicht nur das gesunde Urteil, sondern auch die αἰδώς, die nicht Einsicht, sondern Gefühl und instinktive Reaktion ist. Worin besteht diese schwer faßbare αἰδώς? In der homerischen Gesellschaft war Aidos „die einzige sittliche Kraft im Menschen“,40 sie wirkte als Rücksicht auf die öffentliche Meinung, Angst vor Tadel und Ehrverlust. Euripides kennt auch diese Aidos,41 doch ist deutlich, daß bei ihm ein anderer Begriffsinhalt sich in den Vordergrund schiebt: die Achtung vor der Sphäre des anderen, die Scheu oder Hemmung, sich dem anderen aufzudrängen und den natürlichen Drang zur Domination auszuleben. Die Mythen um die Geschehnisse im Haus der Atriden zeigen eine kontinuierliche Verletzung der Rücksichtnahme auf elementare Bindungen – eben deswegen hat Euripides in seiner Elektra eine Figur neu eingeführt, die einzig zeigen soll, was αἰδώς ist: ein einfacher Mann, dem Elektra zu ihrer Erniedrigung in die Ehe gegeben wurde, übt seine Rechte als Ehemann nicht aus, weil er sich scheut, Vorteil aus dem unverdienten Schicksal der Königstochter zu ziehen.42 Und selbst Klytaimestra, die im Lauf der Ereignisse zum Inbegriff der Rücksichtslosigkeit wurde, zeigte anfänglich scheue Zurückhaltung: in der Iphigenie in Aulis zögert sie zunächst, Achilleus von ihrer und ihrer Tochter Not überhaupt zu erzählen.43 Rücksicht auf den anderen leitet insbesondere das Verhalten des Admetos, der es nicht fertig bringt, sein eigenes schweres Leid zur Sprache zu bringen, wenn er damit einen Gastfreund abweisen müßte.44 Eine prominente Rolle im Werk des Euripides spielt auch jene Form der Aidos, die seit Homer das Verhältnis 40 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen. Berlin 1931, I 347. 41 S. oben S. 127 mit Anm. 18. Zur Aidos allgemein vgl. Carl Eduard von Erffa: ΑΙΔΩΣ und verwandte Begriffe in ihrer Entwicklung von Homer bis Demokrit. Leipzig 1937 (Philologus Suppl., Bd. 30/2). Sehr wertvoll auch John Gould: Hiketeia, Journal of Hellenic Studies 93 (1973), 74–103 (zur Tragödie 85ff.). 42 Elektra, 43ff., 253ff.. 43 Iphigenie in Aulis, 981f. 44 Admetos’ Verhalten ist freilich, wie man längst bemerkt hat, nicht frei von Eigennutz: er wollte Herakles nicht an einen anderen Gastgeber verlieren (1040). Es ist eine schwierige Frage, ob man wegen dieser und anderer Ambiguitäten Admetos

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zwischen dem Bittflehenden und dem überlegenen Gegner oder mächtigen Herrn der Lage bestimmt: das Zurückschrecken vor der äußersten Härte, die Hemmung, Gewalt gegen den Wehrlosen zu üben.45 Wenn die Aidos so wichtig ist, wäre es auch wichtig zu wissen, was die Bedingungen ihres Auftretens sind. Wie es scheint, war die Aidos für die Griechen nie eine Gabe der Götter. Zwar konnte sie selbst als Göttin bezeichnet werden: es gab einen Altar der Rücksicht in Athen, in Sparta hatte sie eine Statue;46 Hesiod sah sie zusammen mit Nemesis die Erde verlassen, und bei Euripides wird sie zweimal als ‚erhabene Aidos‘ angerufen, so wie man sonst Götter anruft;47 doch sah schon Wilamowitz, daß dies nur sekundäre Versuche einer Personifikation sind.48 Bemerkenswert, daß beim Bauern, der Achtung vor der Person Elektras hatte, religiöse Motive ausgeschlossen werden:49 die Scheu und Rücksicht muß von innen kommen. Die Götter ihrerseits können zwar ein Gefühl der Scham über eigene Taten oder Unterlassungen zeigen50 – aber sie üben keine Aidos im Sinne von Rücksichtnahme, Nachsicht oder Schonung. Bitten um Milde der Götter verhallen ungehört im Hippolytos und in den Bakchai, und Neoptolemos, der zu Apollon nach Delphi ging, um Abbitte zu leisten für frühere μανία gegen den Gott, kommt in seiner heiligen Stadt grausam zu Tod.51 Euripides hat die Götterwelt nur ausnahms-

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als eine negativ gezeichnete Figur betrachten muß. Im ganzen scheint mir die Interpretation von A. Lesky (Der angeklagte Admet [1964]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze und Reden zu antiker und deutscher Dicchtung und Kultur. Hg. v. Walther Kraus. Bern/München 1966, 281–294; Die tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen 31972, 297f.), derzufolge Euripides bestrebt ist, Admetos trotz der Schwierigkeiten seiner Lage als liebenswürdige Gestalt zu zeichnen, am überzeugendsten. Die ‚tragikomische‘ Auslegung (vgl. etwa Hazel E. Barnes: Greek Tragicomedy. In: Twentieth Century Interpretations of Euripides’ Alcestis. A Collection of Critical Essays. Ed. J. R. Wilson. Englewood Cliffs 1968, 22–30, bes. 27f.) wird jetzt mit Nachdruck vertreten von Bernd Seidensticker: Palintonos Harmonia. Studien zu den komischen Elementen in der griechischen Tragödie. Göttingen 1982, 129–152. Vgl. Erffa: ΑΙΔΩΣ und verwandte Begriffe, 135ff. Hesych. s. v. Αἰδοῦς βωμός; Paus. 1.17.1 u. 3.20.10. Hesiod, Erga 200f.; Eur. Iphigenie in Aulis, 821, fr. 436 N2. Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen, 1347f. Auch Herakles, 557 und Ion, 336f. zeigen nur, daß im Griechischen des 5. Jh. jede starke seelische Regung θεός heißen konnte, vgl. Wilamowitz zu Herakles, 557 und Kannicht zu Hel. 559f. Elektra, 258. Ion, 1557 und 895, Hippolytos, 1332. Hippolytos, 117–120, Bakchen, 360, 1344–1348, Andromache, 52 (μανία gegen Apollon, vgl. 1106 ἁμαρτία), 1153 (Tötung des Neoptolemos).

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weise (wie in der Alkestis) teilhaben lassen an Rücksichtnahme und verstehender Milde: was die Götter verfügt haben, ist notwendig,52 die Ananke aber kennt keine Hemmung und keine Scheu53. Von den Göttern also kommt die Aidos nicht.53 „Edle Art hat eine Neigung zur Rücksicht“ sagt der Chor in der Alkestis von Admetos, ebenso sieht sich Agamemnon zur Mäßigung und Zurückhaltung gegen seinen Bruder genötigt, weil er sich als χρηστός (anständig) sieht.54 Edle Art zeigt auch der Gemahl Elektras durch seine Aidos: die angeborene Vornehmheit ist unabhängig von hoher Abstammung.55 Doch die φύσεις der Menschen sind eine Sache – sie sind schwer zu beurteilen und sehr unterschiedlich56 – ihre Erziehung eine andere. Die richtige Erziehung bringe Aidos, so sagt Adrastos in den Hiketiden,57 womit er freilich nur die in der traditionellen Ethik wurzelnde Angst meint, sich vor dem Urteil der anderen eine Blöße zu geben. Bedeutsamer ist jenes Stasimon in der Iphigenie in Aulis; der Beitrag der Erziehung zur Arete wird hier als „groß“ bezeichnet; als erste Frucht der Erziehung erscheint aber das αἰδεῖσθαι – dies ist, dem Zusammenhang des Stückes nach, nicht mehr die Angst vor Bloßstellung, sondern die Achtung und die Scheu vor dem Recht des anderen, vorab des Schwächeren. Und dieses Scheuhaben nennt der Dichter σοφία, Weisheit.58 In der Tat liebt er die Verbindung von Weisheit und Scheu: wiederholt drückte er den Gedanken aus, daß es gut ist, einen weisen Gegner zu haben, denn dieser werde Rücksicht und Rechtlichkeit zeigen, und im An-

52 Vgl. Bakchen, 1349–1351 (von Zeus’ und Dionysos’ Willen): . . . ἅπρ ἀναγκαίως ἔχει. 53 Alkestis, 981 (im Chorlied auf die Ananka): οὐδέ τις ἀποτόμου λήματός ἐστιν αἰδώς. 53 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen, 1350. 54 Alkestis, 600f., Iphigenie in Aulis, 380. 55 Elektra, 367ff., vgl. fr. 495.40–43 und fr. 336 N2. 56 El. 367ff., Iphigenie in Aulis, 558ff. 57 Hiketiden, 911 τὸ γὰρ τραφῆναι μὴ κακῶς αἰδῶ φέρει. Siegfried Jäkel zieht μὴ κακῶς zu αἰδῶ und gewinnt so als euripideischen Begriff „diese Art der μὴ κακῶς αἰδώς oder der οὐ κακὴ αἰδώς, wie sie im Hippolytos 385 und in den Hiketiden 911 begegnet" (ΦΟΒΟΣ, ΣΕΒΑΣ und ΑΙΔΩΣ in den Dramen des Euripides. In: Arctos 14 (1980), 15–30 [Zitat 26]). Indes gehört μὴ κακῶς zweifellos zu τραφῆναι, und Adrastos ist – im Gegensatz zu Phaidra in Hippolytos, 385 – nicht auf Unterscheidung zweier Aspekte der αἰδώς aus. – Der in manchem nützliche Beitrag von Jäkel kam mir – durch die Freundlichkeit des Verfassers – zu, nachdem ich meinen Beitrag auf dem Dubliner FIEC-Kongreß zur Diskussion gestellt hatte. 58 Iphigenie in Aulis, 561–563.

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schluß an das Lob von Admetos’ vornehmer Rücksicht heißt es, bei den trefflichen Charakteren liege alle Weisheit.59 Indes ist Euripides weit entfernt von einer sentimentalen oder auch nur naiven Verherrlichung der sanften Tugend der Rücksicht, als wäre sie der Schlüssel zu allem Glück. Aidos ist keineswegs nur positiven Gestalten wie Hippolytos oder Admetos zugeordnet; auch gemischte Charaktere wie Agamemnon in der Iphigenie in Aulis oder Kreon in der Medea kennen diese Regung.60 Im Ion ist die aufs äußerste verbitterte Kreusa zu einem Mord bereit, gleichzeitig aber bewahrt sie so viel Aidos in sich, daß sie ihren Mann Xuthos, von dem sie sich verraten glaubt, um seiner früheren Anständigkeit willen nicht zum Opfer machen will; Xuthos seinerseits will Kreusa rücksichtsvoll behandeln und wird eben dadurch unehrlich zu ihr.61 Vor einer naiven Einschätzung warnt Euripides auch dadurch, daß er die homerisch-hesiodeische Gnome, Aidos könne sowohl nützlich als auch schädlich sein,62 gerade in ihrem negativen Aspekt illustriert: Kreon weiß, daß er durch Schonung schon viel verdorben hat und daß er auch jetzt wieder einen Fehler begeht, indem er Medea nachgibt63 – am selben Tag wird er tot sein. Phaidra vollends erklärt die Aidos in voller Allgemeinheit zu einem der Übel, die die Verwirklichung der Einsicht behindern und das Menschenleben zugrunde richten.64 Dies ist freilich seltsam: wenn Aidos Weisheit ist, wie das Chorlied in der Iphigenie in Aulis sagte, wie kann sie dann der Einsicht entgegengesetzt sein? Nun, Aidos ist nicht identisch mit σοφία. Sie ist etwas, das auch σοφία genannt werden kann, d. h. so etwas wie Weisheit liegt schon in der Zurückhaltung; im übrigen ist sie zu unterscheiden von der Erkenntnis dessen, was sittlich nötig ist, durch die γνώμη: das erst hat den höchsten Vorzug.65 Was Erziehung wirkt, ist insgesamt ‚Weisheit‘, und diese beginnt schon bei der Fähigkeit, Scheu zu empfinden und Rücksicht zu nehmen.

59 Herakliden, 458–460, Herakles, 299–301; Alkestis, 602. Vgl. Elektra, 294f.: die σοφοί kennen Mitleid, der ‚Unbildung‘ fehlt sie. 60 Iphigenie in Aulis, 380, Medea, 348f. 61 Ion, 977 und 657f. 62 Ilias, 24.44f., Hes. Erga, 318. 63 Medea, 348–351. 64 Hippolytos, 385f. 65 Iphigenie in Aulis, 563–567: τό τε γὰρ αἰδεῖσθαι σοφία, τάν τ᾽ ἐξαλλάσσουσαν ἔχει χάριν ὑπὸ γνώμας ἐσορᾶν τό δέον, ἔνθα δόξα φέρει κλέος ἀγήρατον βιοτᾷ.

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Diese Fähigkeit ist selbst aber noch nicht als rationale Kraft zu sehen; sie kann zum Gegenspieler der rationalen Einsicht in das Gute werden, weswegen Phaidra gar von zwei verschiedenen Aidos, der guten und der schlechten, reden möchte.66 Ohne Trennung zweier Wesenheiten gleichen Namens drückte Erechtheus die homerisch-hesiodeische Ambivalenz der Aidos aus: schwer ist sie zu werten, man braucht sie, und doch ist sie ein großes Übel.67 Die Wirkung, die Einsicht zu behindern, hat die Rücksichtnahme seltsamerweise mit ihrem Gegenteil gemein, der ungehemmten Leidenschaft des θυμός und des aufbrausenden Zornes. Im selben Stück, in dem Kreon sagt, er sehe wohl, wie die Aidos vor der Bittflehenden ihn zu einem Fehler treibt, sagt Medea, sie wisse wohl, welches Unheil sie mit der Ermordung ihrer Kinder anrichte, doch sei ihr θυμός stärker als ihr Überlegen.68 Der θυμός wofür auch ὀργή oder χόλος stehen könnte,69 gilt ihr als größtes Übel – jetzt, da sie auf sich selbst blickt. In ihren erbitterten Worten gegen Jason schien ihr noch der Verlust der αἰδώς (die ἀναίδεια) das Schlimmste.70 Wir können ruhig Medeas letztem Urteil beipflichten, daß der θυμός, der sie beherrscht, das Entsetzlichste wirkt – der Dichter hat gleichwohl das Drama so gestaltet, daß unsere Sympathie bei Medea ist.71 Es ist die Verletzung der Achtung vor der Person Medeas durch Jason, die der Zuschauer nicht hinnehmen soll. Jason hat die Schwäche Medeas, ihre gänzliche Abhängigkeit von ihm, zum Anlaß genommen, sich über ihre Rechte hinwegzusetzen und ihre Gefühle zu mißachten. Die Abkehr vom Mitmenschen in seiner Schwäche löst Empörung aus. Daß der Schwache dem, der helfen könnte, nahe steht, wie Medea dem Jason nahe steht, ist dabei nicht einmal entscheidend: Klytaimestra spricht es aus, daß der treffliche

66 67 68 69 70

71

In der Erklärung dieser Stelle folge ich Henri Weil: Sept Tragedies d’Euripide. Paris 1868, 358; vgl. auch von Erffa: ΑΙΔΩΣ und verwandte Begriffe, 161f. Hippolytos, 385f.. fr. 365 N2. Medea, 1078–1080. Vgl. oben Anm. 32. Vgl. Medea, 104–108, 176, 271, 447, 590 usw. Man halte Medea, 471f. ἀλλ᾽ ἡ μεγίστη τῶν ἐν ἀνθρώποις νόσων / πασῶν, ἀναίδει(α) gegen 1079f. θυμός ... ὅσπερ μεγίστων αἴτιος κακῶν βροτοῖς. Iasons Schamlosigkeit und Medeas Leidenschaftlichkeit verletzen beide, wenn auch in je verschiedener Weise, die Aidos. Zumindest bis zu ihrem großen Monolog 1021–1080; nach der Tat wird man kaum noch Sympathie, wohl aber noch Verständnis für Medea haben.

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Mann auch dem Fernerstehenden im Unglück helfen wird.72 Daß Euripides dies als ein spezifisch menschliches Verhalten verstanden wissen wollte, zeigt ein Vergleich mit seinen Göttern: Apollon ist Admetos zwar gewogen, doch verläßt er sein Haus, als der Tod naht; die Hilfe muß der Mitmensch bringen, hier Herakles. Artemis schützt ihren Liebling Hippolytos nicht vor dem Zorn Aphrodites, Zeus seinen Sohn Herakles nicht vor Hera. Die Befleckung, die den reinen Gott Apollon fernhält von der sterbenden Alkestis, könnte in anderer Weise auch Theseus treffen, der in den Hiketiden keine Verpflichtung hat, die vor Theben Gefallenen zu begraben: er tut es dennoch, trägt selbst die Leichen vom Schlachtfeld, was ihm in den Augen anderer αἰσχύνη, Schande einbringen müßte – wogegen Euripides ihn den großartigen Satz sagen läßt τί δ᾽ αἰσχρὸν ἀνθρώποισι τἀλλήλων κακά; „Wie kann Menschen das Unglück der anderen schmachvoll sein?“73 Wenn Aidos in der alten, am Urteil der Mitwelt orientierten Ethik jene Sensibilität war, die den Einzelnen das αἰσχρὸν und den Tadel der anderen fürchten hieß, so läßt hier Euripides Theseus aus Parteinahme für die Schwachen und Gedemütigten eben diese Furcht vor dem αἰσχρὸν des durchschnittlichen Verständnisses mißachten: deutlich ersetzt eine tiefer gefaßte, menschliche Aidos, die sich unmittelbar dem Leid des anderen zuwendet, die alte gesellschaftlich regulierte und damit fremdbestimmte Aidos. Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist, daß diese Wendung im Werk des Euripides nicht vereinzelt bleibt: ähnlich läßt Iphigenie die Aidos, die sie als schutzflehendes Mädchen vor Achilleus hatte, weit hinter sich zurück, als sie, um den Helfer Achilleus nicht in Gefahr zu bringen und um das eigene Interesse nicht höher zu stellen als das Griechenlands, freiwillig zum Opferaltar geht;74 ähnlich setzt sich Antigone in den Phönikierinnen über die mädchenhafte Angst vor unschicklichem Benehmen hinweg, als es gilt, aus elementarer Verbundenheit mit den unglücklichen Brüdern

72 Iphigenie in Aulis, 983f. ἀλλ᾽ οὖν ἔχει τοι σχῆμα κἂν ἄπωθεν ᾖ / ἀνὴρ ὁ χρηστός, δυστυχοῦντας ὠφελϵῖν. Zunächst kann man zweifeln, ob wir diese Ansicht als gültige moralische Regel betrachten sollen, denn Klytaimestra spricht ja im eigenen Interesse. Indes zeigt Achilleus’ Antwort 998ff., daß auch er die Maxime anerkennt. Vgl. Elektra, 290f. αἴσθησις γὰρ οὖν / καὶ τῶν θυραίων πημάτων δάκνει βροτούς. Ähnlich Andromache, 421f. 73 Hiketiden, 762–767, 768. 74 Iphigenie in Aulis, 1341ff., dann 1372f., 1392. Die Wahrung der αἰδώς bzw. das Hinfinden zur angemessenen Rücksichtnahme auf den Anderen ist das ethische Zentralproblem der Iphigenie in Aulis (vgl. oben Anm. 2, 43, 59, 61, 66). Euripides thematisiert in seinem letzten Stück mit neuer Intensität eine Frage, die ihn seit der Alkestis (vermutlich aber schon seit seinen Anfängen) unablässig beschäftigt hatte.

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und dem unseligen Vater Oidipus zu handeln.75 Und noch einmal ist an Theseus zu erinnern, der im Herakles die Berührung mit dem blutbesudelten Herakles, somit die herkömmliche Angst vor dem religiösen Miasma und vor der sozialen Schande der Assoziation mit dem Geschlagenen nicht scheut, weil er kam, mit ihm sein Leid zu teilen.76 Was ist dann letztlich Aidos, diese merkwürdige Fessel,77 für Euripides? Was trägt die Betrachtung seiner Behandlung dieses Phänomens bei zur Bestimmung seiner Stellung in der griechischen Ethik? Nicht von den Göttern vorgelebt und nicht von ihnen gegeben, erscheint sie als spezifisch menschliche Reaktion. Nicht daß sie dem Menschen mitgegeben wäre wie Sprache und Denken: sie ist ihm aufgegeben, daher gibt ihr der Dichter Appellcharakter in Gestalten wie Admetos, Antigone, Iphigenie und vor allem Theseus. Mit Weisheit ist sie aufs engste assoziiert, ohne identisch zu sein mit der γνώμη der sie als affektive Regung auch entgegenstehen kann – doch der σοφός kommt nicht aus ohne Aidos. Ist Aidos Tugend, ἀρετή? Ihre Assoziation mit σοφία bringt sie im Rahmen des ethischen Intellektualismus der Griechen, der nicht erst auf Sokrates zurückgeht, in unmittelbare Nähe zur Arete. Aristoteles freilich sprach später der Aidos den Status einer Arete ab: sie ist πάθος, nicht ἕξις, Affekt, nicht dauerhafte Haltung.78 Dies scheint Wilamowitz’ Urteil zu bestätigen, daß die Zeiten nach Homer die Aidos nicht mehr in gleicher Weise als sittliche Kraft verstanden.79 Doch an Euripides geht das vorbei. Er ist nicht an begrifflichen Unterscheidungen wie der zwischen πάθος und ἕξις interessiert, auch nicht an einer Neugestaltung des Tugendkanons unter Dominanz der sanften Tugenden (was Adkins zurecht bei ihm vermißte), auch nicht an der Formulierung eines neuen Sittengesetzes, das die Normen der alten Freund-Feind-Ethik hinter sich ließe. Nichtsdestoweniger

75 Phoinissen, 88ff., 193ff., 1276, 1489, 1691f. 76 Herakes, 1202 ἀλλ᾽ εἰ συναλγῶν γ᾽ ἦλθον; vgl. 1220, 1234, 1400. 77 Nach Plutarch, amator. 18, 763 F wäre Euripides der Dichter des Verses αἰδοῦς ἀχαλκεύτοισιν ἔζευκται πέδαις (= Eur. fr. 595 N2) gewesen. B. Snell weist, nach anderen, den Vers dem Kritias zu (Tr G F 43 F 6 Snell); die Unsicherheit dieser Zuweisung betonte (nach Page) Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen, 525, Anm. 9. – Die Formulierung gibt der aischyleischen Wendung πέδαις ἀχαλκεύτοις (Choeph. 493, dort vom Netz gebraucht, das zur Tötung Agamemnons diente) neuen Sinn. 78 EN 1128 b10–33. 79 Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen, 1347. Vgl. auch Gilbert Murray: The Rise of the Greek Epic. Oxford 41934, 89–92.

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gibt es ein klares Band zwischen Arete und Aidos.80 Euripides zeigt die Freund-Feind-Ethik immer wieder in ihrer als Wahnsinn apostrophierten Verhärtung und Destruktivität, zeigt sie beim Übertreten von Grenzen, die die Aidos achten würde. Er zeigt die Rücksichtnahme, Achtung und Scheu vor dem anderen als die einzige Überbrückung der Gräben, die der blinde Wahn aufreißt, und als den einzigen Trost, der bleibt, wenn das Leben zerstört ist. Illusionäre Glorifizierung dieses Trostes wäre nicht euripideisch: Kadmos, der seine von Dionysos gestrafte Tochter Agaue stützt, spricht es aus: „eine geringe Hilfe ist dir der Vater“.81 Gering und schwach, ist doch der Mensch dem Mitmenschen die einzige Hilfe in einer Welt, in der die Götter nicht hilfreich sind, in der gottgesandter Wahn die Vernunft unterliegen ließ. Die Rolle der Aidos und der sanften Tugenden bei Euripides entspringt nicht einem unbestimmten humanitären Gefühl, sondern der grundlegenden Einsicht des Tragikers, daß menschliche σοφία allein das Leben vor Unheil nicht bewahren kann, der Einsicht also in die Ausgesetztheit des menschlichen Glückes und der Resignation über die Schwäche der Vernunft. Aidos (und was mit ihr zusammenhängt) bezeichnet also den Rückgang auf die elementaren affektiven Grundlagen der Sittlichkeit, wo die 80 Besonders deutlich wird dieses Band in der Gestalt des Iolaos: obwohl er Mühen und Gefahren hätte aus dem Weg gehen können, blieb er an Herakles’ Seite αἰδοῖ καὶ τὸ συγγενὲς σέβων (Herakliden, 6); nach Herakles’ Tod schützt er dessen Kinder, um sich nicht Vorwürfen auszusetzen (29f.). Mag diese Äußerung noch ganz an die homerische Aidos (als bloße Rücksicht auf die öffentliche Meinung) anklingen, so zeigen doch lolaos’ erste Worte (1–11), daß Aidos für ihn zu einem altruistisch verstandenen ‚Gerechtsein‘ führt. – In weniger direkter, aber gleichwohl eindeutiger Weise zeigt den Zusammenhang auch die Wertung der Vergewaltigung Kreusas durch Apollon im Ion. Es ist scheinbar Kreusa, die auf Arete verzichtet (863), das Gefühl der Scham hinter sich läßt αἰδοῦς ἀπολειφθῶ 861) und erzählt, was ihr durch den Gott widerfuhr: er genoß die Liebe ἀναιδείᾳ (895). Deutlich wird hier das αἰσχρόν, das zunächst das Mädchen Kreusa betrifft (als „Schande“, zu einem αἰσχρόν für den Täter. Daher vermeidet es Apollon auch aus Angst vor Tadel (1557f. – das Wort αἰδώς fällt nicht, der Sachverhalt ist auch so deutlich), am Ende des Dramas selbst aufzutreten. Ion hatte zuvor am Verhalten Apollons Anstoß genommen (436ff.) und vom Mächtigen Arete gefordert (ἐπεὶ κρατεῖς, ἀρετὰς δίωκε), was hier gleichbedeutend ist mit Achtung vor dem Schwächeren. – Es wäre eine lohnende Aufgabe, den Anteil der ἀναίδεια an den mannigfachen Formen moralischen Fehlverhaltens aufzuzeigen, die in den euripideischen Dramen begegnen, ebenso die Rolle der Aidos in den Motivationen der Figuren, die sich bewähren oder die unsere Bewunderung erregen sollen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags konnten nur erste Hinweise gegeben werden. 81 Bakchen, 1367.

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Vernunft in einer kompliziert und bösartig gewordenen Welt zuschanden wird. Zurückblickend auf Platons abwägendes Vergleichen der Vorzüge der Scheu und des Ungestüms (das letztlich in Raserei ausartet) können wir sagen, daß solch distanzierte, ‚neutrale‘ Ausgewogenheit nicht im Sinne des tragischen Dichters wäre. Vielleicht drückte ein Fragment – über dessen Stellung und Bedeutung im verlorenen Stück Temenos wir leider nichts wissen – eine mehr als nur situationsgebundene Gnome aus: die Aidos, so hieß es da, nützt den Menschen mehr als der Zorn.82 Sie nützt mehr, weil sie vor der Ausuferung der Leidenschaft zur Mania, die die Vernunft zerstört, bewahren kann. Das ist zwar nur die alte Einsicht, die schon der Dichter der Ilias gestaltete. Aber durch die neue Intensität, die Euripides seinen Schilderungen von Rücksichtnahme und Raserei gab, ließ er seine Zuschauer verstehen, daß in der Aidos die mögliche Überwindung der heillosen Freund-Feind-Ethik liegt, die die Verweigerung der Rücksichtnahme glaubte einplanen zu können. Und damit war, wie ich glaube, Euripides der Ethik seiner Zeit voraus, auch wenn die Sprache, die er seine Figuren sprechen läßt, noch weitgehend den Wertvorstellungen der Tradition verpflichtet ist.

82 fr. 746 N2.

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Vorbemerkung

Der Vortrag erscheint in der Form, in der er am 13. 2. 1998 in der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft gehalten wurde. In den Jahren davor hatte ich Gelegenheit, ihn an verschiedenen Universitäten zu testen, zuerst im Rahmen der 13. Metageitnia in Zürich am 10. Januar 1992, danach zwischen 1994 und 1998 in Urbino, Ioannina, Rom, Budapest und Warschau. Ich danke den Diskussionsteilnehmern an allen diesen Orten, besonders denen in Rom und in Braunschweig, denen ich die meisten Anregungen für eine spätere umfangreichere Fassung verdanke. Daß der Beitrag von vornherein als Skizze einer Monographie über die Auseinandersetzung der athenischen Dichtung, Geschichtsschreibung und Philosophie mit der Staatsform des eigenen Gemeinwesens gedacht war, entging schon den ersten Hörern in Zürich nicht, wo ich, ohne vorerst meine Absicht angedeutet zu haben, von Freunden aufgefordert wurde, meine Gedanken ausführlicher in Buchform vorzulegen. Der freundlichen Aufforderung konnte ich bis heute nicht nachkommen, und auch in nächster Zeit stehen der Verwirklichung noch andere Aufgaben im Wege. Daher lege ich jetzt die Skizze im Druck vor, wobei ich die Quellennachweise, die Angaben zur Sekundärliteratur und die Auseinandersetzung mit ihr im Hinblick auf die geplante vollere Darstellung auf ein Minimum beschränke. – In welche Richtung meine Vorstellungen zur weiteren Ausarbeitung des Themas gehen, habe ich in zwei Veröffentlichungen angedeutet: Platone politico. (Roma, Istituto della Enciclopedia Italiana, 1993, 84 S. (Le radici del pensiero filosofico, 1: La filosofia greca dai presocratici ad Aristotele, vol. VIII)) und Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers. In: Griechische Klassik. Vorträge bei der interdisziplinären Tagung des Deutschen Archäologenverbandes und der Mommsengesellschaft vom 24.–27.10.1991 in Blaubeuren. Hg. v. Egert Pöhlmann und Werner Gauer. Nürnberg 1994, 65–92. 1.

Tragodia, Demokratia, Philosophia – diese griechischen Begriffe stehen für drei kulturgeschichtliche Phänomene, deren prägende Bedeutung für die

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heutige Weltkultur schwerlich überschätzt werden kann. Sie bezeichnen den Teil des griechischen Erbes, der aufs engste mit der Kultur der Stadt Athen verbunden war. Diese Stadt, in der so neuartige und folgenreiche Dinge aufkamen, wurde sich früh ihrer Besonderheit bewußt. Athen war von Anfang an sich selbst das lohnendste Thema. „Sie spendeten sich selbst viel Lob“ bemerkt trocken der spartanische Ephoros Sthenelaidas bei Thukydides (1.86.1) über die Athener. Man hat im Zusammenhang der athenischen Athen-Literatur von der „Erfindung Athens“ gesprochen.1 Ich würde lieber von der Entdeckung Athens als von seiner Erfindung sprechen. Die athenische Demokratie war mit der Reform des Ephialtes (462/1 v. Chr.) in den Grundzügen ausgebildet, bevor um die Jahrhundertmitte so etwas wie eine demokratische Ideologie zu wachsen begann. Die athenische Demokratie war, im Gegensatz etwa zum modernen Kommunismus, nicht ideologisch geplant und dann zielstrebig verwirklicht worden; sie ergab sich ohne Revolution aus der besonderen innen- und außenpolitischen Situation Athens nach der Beendigung der Tyrannis und nach dem Sieg über die Perser. Niemand hatte die Demokratie, so wie sie schließlich herauskam, antizipiert. Als sie aber da war, gab sie viel Stoff zum Reflektieren. Die genannten drei Bereiche der Tragödie, der Demokratie und der Philosophie als Glieder einer Einheit zu sehen, fällt uns schwer auf Grund der abendländischen Tradition, in der sie auf getrennten Wegen weiterwirkten. Ihre sachliche Zusammengehörigkeit an ihrem Ursprungsort ist indes evident; ich will das hier nicht weiter explizieren, sondern als bekannt voraussetzen. Es genüge daran zu erinnern, daß die Tragödie als staatlich organisiertes religiöses Fest in einem mehr als nur abstrakten Sinn politisch war, und daß die sokratisch-platonische Art des Philosophierens die attische Rede- und Meinungsfreiheit zu ihrer Voraussetzung hatte, auch und gerade wenn sie diese kritisierte. Die Politik ihrerseits betrachtete die Blüte der Kunst und der Weisheit als Leistungsausweis der Demokratie (so jedenfalls der thukydideische Perikles in der Rede für die Gefallenen (Thuk. 2.40.1)). Ich will versuchen, die enge Verflechtung der drei Bereiche Dichtung, Politik und Philosophie darzustellen anhand dreier herausragender Vertreter, die schon durch ihr Niveau vor dem Verdacht sicher sind, propagandistische Erfinder eines bloß imaginären Athens zu sein. Für die Tragödie wähle ich Sophokles (nicht Aischylos, der nur die hoffnungsfrohen Tage der Demokratie bis Ephialtes und bis zum frühen Perikles erlebte, und nicht Euripides, der im Gegensatz zu Sophokles persönlich auf Distanz zur

1 Nicole Loraux: L’invention d’Athènes. Paris 1981.

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Polis lebte), für die politisch-historische Analyse Thukydides (und nicht Xenophon, der sich von seiner Vaterstadt auch innerlich entfernt hatte und der auch nicht die analytische Schärfe seines Vorgängers erreichte, und nicht die Redner, die zwar viel Interessantes bieten, dabei aber immer partikulare Ziele verfolgen), für die Philosophie Platon (und nicht Aristoteles, für den die Zeit der Krise der Demokratie ab 415 ferne Vergangenheit war und der den Staat der Athener mit der kühlen Distanz des politisch rechtlosen Metöken betrachtete). 2.

Sophokles spricht in dem schönen Chorlied auf Attika in seinem letzten Werk, dem Oidipus auf Kolonos (vv. 668–719), von der natürlichen Schönheit des Landes, von der Huld der Götter Dionysos und Aphrodite und von den Reigen der Musen; dann von zivilisatorischen Gütern, von Ölbaumpflanzungen, von Reitkunst und Seefahrt. Hier nun könnte man erwarten, die Menschen, die diese Gaben von Poseidon empfingen, als Autochthonen, die in Freiheit leben, gepriesen zu finden: denn Seemacht, Freiheit und Demokratie gehörten für die Athener zusammen. Doch Sophokles gedenkt der Freiheit der Athener hier nicht. Sehen wir uns das Stück selbst an. Wir sind im Athen des Königs Theseus. Theseus unterscheidet sich von allen anderen Herrscherfiguren bei Sophokles dadurch, daß er als einziger segensreich wirkt, daß er das berechtigte Anliegen der Hauptperson – hier des exilierten und verfolgten Oidipus, der in Attika sein gottbestimmtes Grab sucht – nicht durchkreuzt und nicht behindert. Theseus besitzt alle Tugenden, die den Herrschern bei Sophokles sonst abgehen; insbesondere Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Gottesfurcht. Sophokles hat hier einmal den idealen König porträtieren wollen. Doch welche Art von Herrschaft übt er aus? Die Frage wird explizit gestellt: „Herrscht jemand über sie [sc. die Koloneer] oder liegt die Entscheidung beim Volk?“ fragt Oidipus (66). Also Monarchie oder Demokratie. Da die attische Bühne spätestens seit Euripides’ Hiketiden (ca. 424–420 v.Chr.) mit dem demokratischen Urkönig Theseus vertraut war, der gerade als König die Ausübung der Macht durch das Volk verteidigt (Eur. Hik. 403ff.), wäre hier der Ort gewesen, die Frage des Oidipus als falsch gestellt zu entlarven und damit die Einzigartigkeit Athens aufzuzeigen. Statt dessen hören wir die schlichte Auskunft, daß der König in der Stadt über diesen Bezirk hier herrscht (67). Die Handlung des Stückes bestätigt es: anders als Pelasgos in Aischylos’ Hiketiden (vv. 368–375, 398– 401) und Theseus bei Euripides erwähnt dieser Theseus die Souveränität

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des Volkes nirgends und entscheidet über die risikoreiche Aufnahme des Schutzflehenden aus eigener Verantwortung (vgl. 634–637, 653–667). Das ideale Ur-Athen, das sich uneigennützig für die Bedrängten einsetzte, hat sich der greise Sophokles nicht als Demokratie vorgestellt. Die selbsterlebte Zeit ist in dem Stück anders gegenwärtig, nämlich als der Bürgerkrieg, in dem sich beide Seiten des sterbenden Oidipus bemächtigen wollen. Daß der unversöhnliche Haß der sich bekämpfenden Parteien im feindlichen Theben lokalisiert ist, gegen das das strahlende UrAthen steht, kann ja nicht bedeuten, daß nach Ansicht des Dichters innerer Zwist stets nur zu den anderen gehöre. Seit dem Hermenfrevel 415 v. Chr. schwelte der Bürgerkrieg in Athen, 411 kam es zu einem ersten Ausbruch. Während bei Aischylos in den Sieben gegen Theben Eteokles für das Recht der Stadt und gegen den Frevel des Angreifers steht, bei Euripides in den Phoinissai umgekehrt eine gewisse Sympathielenkung zugunsten des exilierten Polyneikes spürbar ist, verdichtet sich bei Sophokles die Bürgerkriegserfahrung zu einem unerbittlichen Nein an beide Seiten. Oidipus, der von den Göttern nach dem Sturz erhöhte und ausgezeichnete Sohn Thebens, wendet sich am Ende seines Lebens im Zorn von seiner Stadt ab, ohne Parteinahme für die eine oder die andere Seite. Wie Oidipus zuvor durch Theben schweres Unrecht widerfahren war, so Philoktetes durch das Heer der Griechen. Auch in diesem Stück ist der Held nicht bereit, zu vergessen und zu verzeihen. Daß Philoktetes sich dem gemeingriechischen Unternehmen, dem Krieg gegen Troia, verweigert und überdies den jungen Neoptolemos zu solcher Verweigerung überreden kann, mußte im kriegführenden und den Krieg schon verlierenden Athen als ein Thema von höchster politischer Brisanz verstanden werden. Zweifellos fühlten sich die Bürger Athens dirket angesprochen, nicht nur durch das Motiv einer letzten Anstrengung für den Sieg in einem langen, zähen Ringen, sondern vor allem durch das Bild einer politischen Gemeinschaft, die über ihre Mitglieder rein instrumental verfügt, sie bald aus ihrer Mitte entfernt, bald von ihnen den vollen Einsatz fordert. Athen scheint auch gemeint zu sein in Bemerkungen wie der, daß die Stadt und das Heer ganz und gar unter dem Einfluß ihrer Anführer stehen, die die meiste Schuld trifft, und daß das Unrecht unter Anleitung durch die Reden übler ‚Lehrer‘ zustande kommt (385–388) – eine Bemerkung, die die Souveränität und Urteilsfähigkeit des Demos implizit in Frage stellt. Auf Eingreifen des Herakles gibt Philoktetes schließlich nach und zieht mit nach Troia. Oidipus hingegen kann mit Hilfe des Theseus seinen Weg zu Ende gehen: er findet sein Grab in Attika, zum bleibenden Segen für Athen. Gemeinsam ist aber den beiden späten Dramen, daß die verbitterten alten Männer Philoktetes und Oidipus auf der menschlichen Ebene je-

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denfalls moralisch im Recht sind, wenn sie sich ihrer politischen Gemeinschaft verweigern. Auch hierin hat man durch die drameninternen Positionen hindurch die Stimme des Dichters hören wollen2 – vielleicht nicht zu Unrecht. Glauben an ein wahres, besseres Athen, wie es vielleicht einmal unter Theseus war, bei gleichzeitiger verbitterter Abwendung vom wirklichen Athen – ist das denkbar als die Summe eines glanzvollen Lebens in der Öffentlichkeit? Nach einem Bericht des Aristoteles3 gehörte Sophokles zu den Probuloi, einem vorberatenden Gremium, das der Einführung der Oligarchie im Jahr 411 v. Chr. zugestimmt hatten. Später zur Rede gestellt, verteidigte sich der Dichter, es habe damals nichts Besseres gegeben. Ein begeisterter Oligarch war Sophokles offenbar nicht. Vermutlich kam er sich mißbraucht vor, zumal die Oligarchen ihr Versprechen, den Staat bald auf eine breitere Basis abzustützen, nicht hielten. Die inneren Wirren, die auf den von ihm mitverantworteten Wechsel folgten, könnten in Sophokles jene Haltung der Bitterkeit und der Verweigerung hervorgerufen haben, die er seinen Figuren Philoktetes und Oidipus mitgab. Wie kam Sophokles unter die Probuloi? Das neue Amt war nach Thukydides (8.1.3) ein Versuch, nach dem Untergang von Heer und Flotte in Sizilien 413 v. Chr. den Staat künftig vor ähnlichen Katastrophen zu bewahren. Es war eine Temperierung der radikalen Demokratie durch ein oligarchisches Element.4 Wenn Sophokles zum Probulos gewählt wurde, so mußte er erstens das Vertrauen weiter Teile der Bürgerschaft besitzen und zweitens im Ruf stehen, sich von der radikalen demokratischen Politik, deren katastrophale Folgen man zu sehen begann, deutlich abzuheben. Die vor 413 geschrieben Dramen bestätigen diese Erwartung einer deutlichen Distanz zur radikaldemokratischen Mentalität. Ich muß mich mit wenigen Andeutungen begnügen.5 Die Antigone wurde erklärt als ein Stück von dezidiert demokratischer Tendenz: Kreon erweist sich als bornierter Autokrat und nimmt ein schlimmes Ende. Das ‚Demokratische‘ der Figurenkonstellation und Handlungsführung liege darin, daß der athenische Zuschauer die Gewßheit gewinnen mußte, ein Fehlverhalten wie das Kreons sei nur in

2 Kjeld Matthiessen: Philoktet oder die Resozialisierung. Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 7 (1981), 11–26. 3 Arist., Rhet. III 18, 1419 a25ff. = TrGF IV, T 27 Radt. 4 Vgl. Arist., Pol. 1299 b31–36, 1323 a6–9. 5 Vgl. meinen Beitrag Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers (zitiert in der Vorbemerkung).

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nichtdemokratischen Gesellschaften denkbar, womit die Überlegenheit der Demokratie indirekt erwiesen sei.6 Da aber Antigone die tragische Zentralgestalt ist und nicht Kreon, ist primär nach ihrer Tat zu fragen. Sie betreibt genau das, was der athenische Demos nicht zulassen wollte: die Bestattung des Landesverräters im heimischen Boden.7 Sie beruft sich auf ungeschriebene Gesetze, während es das Prinzip der Demokratie war, nur geschriebenes Recht gelten zu lassen. Die Auslegung des alten ungeschriebenen Rechts war Privileg des aristokratischen Geschlechts der Eumolpiden. Diesen Komplex an prominenter Stelle einzuführen, war nicht eben Demos-freundlich. Auch der Aias wurde als ein Stück zur Propagierung modern-fortschrittlicher demokratischer Gesinnung interpretiert.8 Odysseus verkörpere den neuen Menschen der Demokratie, Aias den aristokratischen Einzelgänger, Sinnbild der überwundenen archaischen Welt. Aber ist es glaubhaft, daß Sophokles den Heros einer ganzen Phyle, also eines Zehntels der Bürgerschaft, als Sinnbild des Überholten darstellen wollte? Vergessen wir nicht: die Heroen der zehn Phylen hatten ihre Statuen auf der Agora. Unter ihnen wird Aias, wie man auf Grund seiner Rolle im homerischen Epos wie in der attischen Vasenmalerei vermuten darf, im Bewußtsein der Bürger nicht den letzten Platz eingenommen haben. Ihn radikal abzuwerten, wäre ein schlechter Dienst an der Demokratie gewesen. Sophokles bietet Besseres. Die Großen und die Kleinen, so sagt der Chor, brauchen sich gegenseitig (158–161). Aber der Nachdruck liegt in diesem Stück eindeutig auf dem Vorrang der μεγάλη ψυχή (154), der großen Seele, deren Verkörperung Aias ist. Aias kommt zu Fall, weil er die Grenzen der ἀνθρώπου φύσις (760: gesprochen vom Seher Kalchas) im Verhältnis zur Gottheit verkannte. Nach menschlichem Maß aber ist er unzweifelhaft der Beste. Das Heer – d. h. der Demos im Kriegszustand – hat ihm schweres Unrecht getan in der Entscheidung über die Waffen des Achilleus. Sophokles zeigt also den Demos im Konflikt mit dem einen herausragenden Mann, und lenkt die Sympathie zugunsten des Einen, der sich dem Unrecht der Gemeinschaft nicht beugt. Auch Aias soll die Bestattung verweigert werden, gegen die Gesetze der Götter (1343). Derjenige, der das Recht zunächst alleine gegen die Griechen verteidigt, ist Teukros – ein Halbgrieche, der nach atheni-

6 Wolfgang Rösler: Polis und Tragödie. Betrachtungen zu einer antiken Literaturgattung. Konstanz 1980. 7 Vgl. Giovanni Cerri: Legislazione orale e tragedia greca. Neapel 1979. 8 Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988 (zum Aias: 187–208).

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schem Recht nicht einmal ein Mitspracherecht gehabt hätte (vgl. Ai. 1259– 1263). Wir sehen also den isolierten Einzelnen, die μεγάλη ψυχή, den die anderen nicht verstehen, seit dem frühesten uns erhaltenen Stück im Konflikt mit der Menge, die auf die Führung durch die Großen angewiesen ist und faktisch unter dem Einfluß schlechter Anführer steht. Dasselbe Bild zeigte der späte Philoktetes. Man wird wohl sagen dürfen, daß Sophokles’ eigenste Schöpfung, der von allen verlassene, ganz auf sich gestellte tragische Held, nicht eine Schöpfung aus dem Geist der athenischen Demokratie ist, die die Großen auch ohne greifbare Verfehlung durch Ostrakismos aus ihrer Mitte entfernen konnte und generell die Verweigerung gegenüber dem Standpunkt der Polis nicht hinnahm. Die Polis ist immer mit im Blick, gewöhnlich ganz explizit, steht aber doch nie im Zentrum der Problematik. Die Konflikte liegen bei Sophokles im Bereich vor dem Politischen. Nicht im Staatlichen, sondern in dem, was Staat ermöglicht: in den Beziehungen von Blutsverwandten und Freunden zueinander, und zuvor noch in ihrem Verhältnis zur Gottheit. Für Antigone fällt beides zusammen: ihre Verpflichtung gegen den Bruder ist nichts anders als ihre Verpflichtung gegen die ‚ungeschriebenen und nicht wankenden göttlichen Gesetze‘, die ἄγραπτα κἀσφαλῆ θεῶν νόμιμα (Ant. 454f.). Es gibt einen Bereich des ewig gültigen Rechts, von dem auch im Oidipus Tyrannos (865) und in der Elektra (1095) die Rede ist, den die Polis sich nicht unterwerfen wollen soll, – sie ist im Gegenteil nur wirkliche Polis, wenn sie sich diesem Recht (der θεῶν ἔνορκος δίκα, Ant. 369) unterwirft. Hiergegen stand der Anspruch des athenischen Demos, alles souverän durch Mehrheitsbeschluß zu regeln. Aber Urteilsfähigkeit, Freiheit und Selbständigkeit der Menge sind bei Sophokles nicht nur nirgends betont, sondern teils implizit, teils explizit negiert in Aias, Antigone, Oidipus Tyrannos, Philoktetes und Oidipus auf Kolonos. Athen freilich funktionierte durch das Zusammenspiel der σμικροί und der μεγάλοι, und es entfaltete eine großartige Dynamik. Wenn es eine Verkörperung der progressiven Mentalität des alles Könnens, alles Machens, alles Wagens gab, dann in der demokratischen Polis Athen. Sophokles ließ sich nicht berauschen vom Kraftgefühl dieser Dynamik. Im Hinblick auf sie, glaube ich, dichtete er von der Größe und vor allem von der moralischen Gefährdung des Menschen im Chorlied πολλὰ τὰ δεινά (Ant. 332–383), gleichsam als War-

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nung vor dem allzu Athenischen, als Rückruf vom allzu schnellen Aufbruch zu allzu vielen unbekannten Ufern. 3.

Die faszinierende Dynamik Athens hat Thukydides thematisiert. Der Gesandte der Korinther bei den Verhandlungen in Sparta unmittelbar vor dem großen Krieg sieht die Athener als Neuerer aus Leidenschaft, voller Ideen und Tatkraft, von atemberaubender Effizienz. Untätiges Stillehalten ist für die Athener ein Greuel; es ist ihr Naturell, weder sich noch anderen Ruhe zu gönnen. Am meisten zu fürchten hätten die Peloponnesier neben dem Aktivismus und dem Einfallsreichtum der Athener ihre Bereitschaft zu bedingungslosem Einsatz für die Stadt (1.70–71). Als halb neurotische Hektiker und Unruhestifter sehen sich die Athener selbst natürlich nicht. Im positiven Bild Athens, das Thukydides Perikles in der Rede für die Gefallenen entwerfen läßt, beherrscht nicht blinder Aktionismus die Stadt – im Gegenteil, nur hier findet sich ein ausgewogenes Verhältnis von vernünftiger Überlegung und verantwortungsvoller Durchführung (2.40.2–3). Die Voraussetzung hierfür ist die freiheitliche Verfassung der Demokratie (2.37.1), die die gleichberechtigte Kooperation von Arm und Reich, Hoch und Niedrig ermöglicht (2.37.1–2). Nur in Athen findet sich das richtige Verhältnis von entspanntem Lebensstil und energischer Pflichterfüllung (2.38.1). Es entsteht so in Perikles’ Rede das Bild von Athen als dem Ort, wo edles, harmonisches Menschentum sich entfalten kann. Jeder gönnt dem anderen den Freiraum, den er selbst genießt (2.37.2). So kann sich die Stadt stolz als ‚Schule Griechenlands‘ (Ελλάδος παίδευσις 2.41.1) fühlen. So strahlend steht das Bild Athens vor dem Auge des Lesers, daß es in unserem kritischen Jahrhundert folgerichtig als gezielte Verzeichnung gedeutet wurde, die den Effekt desillusionierender Ironie anstrebe.9 Diese Interpretation ist zunächst attraktiv – aber nur bis man sich klarmacht, daß der Maßstab, an dem diese Verherrlichung des liberalen Athen zu messen ist, nicht die modernen westlichen Gesellschaften sein können, sondern nur die damaligen, wenig liberalen Oligarchien. An ihnen gemessen erscheinen die meisten Punkte des Epitaphios gar nicht so idealisierend. Allerdings ist der Epitaphios auch nicht einfach eine Zustandsschilderung, sondern eine Rede, die im Kontext einen bestimmten Zweck ver-

9 Hellmut Flashar: Der Epitaphios des Perikles. Heidelberg 1969 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse (1969)), bes. 29– 34.

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folgt. Perikles will den totalen Einsatz für die Stadt rechtfertigen und für die Zukunft sichern. Nur wir in Athen, sagt er (2.40.2), nennen den, der am politischen Leben keinerlei Anteil hat, nicht ἀπράγμων, untätig, sondern ἀχρεῖος, unnütz, unbrauchbar. L. B. Carter hat in seinem Buch über den stillen Athener10 überzeugend nachgewiesen, daß Perikles’ scharfe Abwertung der ἀπραγμοσύνη in eine Situation hinein gesprochen ist, in der der Verzicht auf immer neue Machtausweitung als Programm bereits klar formuliert war, insbesondere von konservativen Aristokraten, die sich von der imperialistischen Seemachtspolitik des Demos nichts versprachen. Die ἀπραγμοσύνη, das Stillhalten, hatte neben diesem innenpolitischen Aspekt vor allem auch einen außenpolitischen: konnte es die Stadt sich überhaupt leisten, sich aus ihrer exponierten Vormachtstellung zurückzuziehen? Das ist Perikles’ stärkstes Argument gegen die Friedenspartei: ώς τυραννίδα γὰρ ἤδη ἔχετε αὐτήν (sc: τὴν ἀρχήν) (2.63.2). Die Athener, die einstigen Befreier der ionischen Städte, verstehen selbst den Seebund als Knechtung der Bundesgenossen, als Tyrannis. Diese Stellung auch nur zu lockern, wäre einfach gefährlich. Der Herr ist nicht mehr frei in seinem Umgang mit dem Knecht. Das wird vollends deutlich im Melierdialog, in dem die Vertreter Athens mit ganz unnötiger Klarheit aussprechen, daß sie ihre eigenen Untertanen mehr fürchten als Sparta (5.91), und daß sie Melos unterwerfen müssen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie unterließen es aus Schwäche (5.97). Im übrigen gelte das Recht nur zwischen gleich Starken, bei Ungleichheit muß der Schwache hinnehmen, was der Starke durchsetzt (5.89). Die rücksichtslose Herrschaft über den Schwächeren sei eine in der Natur begründete Notwendigkeit, der vermutlich die Götter selbst unterliegen, mit Sicherheit aber die Menschen von jeher unterlagen und immer unterliegen werden (5.105). Kurz gesagt: durch ihre Arché im Seebund ist die Polis Athen aus dem Bereich, in dem das Recht (τὸ δίκαιον) gilt, herausgehoben, aber dadurch um nichts freier: was zu tun ist, ist vorgeschrieben ὑπὸ φύσεως ἀνγκαίας (ebd.). Dies gilt für die Außenpolitik. Wie steht es aber um Freiheit und Gerechtigkeit im Inneren? Auf die Nachricht von der vollständigen Vernichtung von Flotte und Heer in Sizilien zürnten die Athener den Politikern, die zur Expedition geraten hatten – so als hätten sie den Zug nicht selbst beschlossen, ὥσπερ οὐκ αὐτοὶ ψηφισάμενοι (8.1.1). Am Ende steht also verantwortungsloses Sich-Herauswinden, die Suche nach Sündenböcken. Am Anfang aber

10 L. B. Carter: The Quiet Athenian, Oxford 1986.

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stand blanke Unwissenheit über die Größe der Insel (6.1.1) und über die finanziellen Mittel der Verbündeten. Ohne Wissen ist freilich keine verantwortliche Beschlußfassung möglich. Thukydides’ Schilderung der Beschlußfassung ist bemerkenswert. Nikias, der die Gefahren des sizilischen Unternehmens realistisch einschätzt und der die Stadt von Abenteuern abhalten möchte, war gegen seinen Wunsch zum Strategen gewählt worden (6.8.4). In der Versammlung wird er dann genötigt, gegen seinen Willen aus dem Stegreif zu sagen, wie groß das Heer sein müßte – für ihn wäre das eine Sache ruhiger Beratung unter Fachleuten gewesen (6.25.2). Die Warnung vor den jugendlichen Fans des Alkibiades, die versuchten, ihre Nachbarn in der Versammlung einzuschüchtern (6.13.1), nützte nichts, nach Thukydides´ Überzeugung stimmten viele aus Angst vor der Kriegspartei gegen ihre wirkliche Meinung ab (6.24.4). Überdies aber war die Mehrheit von einem irrationalen Verlangen befallen, man wollte einfach in den Krieg ziehen, Verlangen, Sehnsucht, Begierde (ἔρως, πόθος, ἐπιθυμία) trieben die Menge. Wir sehen hier, wie die Beschlußfassungsmodalitäten der direkten Demokratie sich auf die Freiheit der Entscheidung auswirken. Thukydides sieht dreifachen Zwang wirksam: gegen den aktiven Politiker (Nikias wird genötigt), gegen die Abstimmenden (die Zögernden werden eingeschüchtert), und drittens ist da die irrationale Begeisterung, die eine unstrukturierte Menge ergreift. Selbst so hätte es noch gut gehen können, wenn das Volk bei seinem Entschluß geblieben wäre. Ein unerhörtes Ereignis warf alles aus der Bahn, die nächtliche Verstümmelung der Hermen. Eine politische Verschwörung war offenbar im Gang; man fürchtete nichts Geringeres als einen Anschlag auf die Demokratie. Das attische Rechtswesen in seiner unlösbaren Verflechtung mit der politischen Struktur stand plötzlich in einem Test. Thukydides macht kein Hehl daraus, daß seiner Meinung nach das System den Test nicht bestand. Nachdem die Gefängnisse sich füllten auf Grund bloßer Vermutungen und eine Stimmung des innenpolitischen Terrors entstanden war, akzeptierte das Volk die Aussage eines höchst dubiosen Mannes, der sich durch Nennung angeblicher Mittäter selbst Straffreiheit verschaffte. In dieser Atmosphäre wurde Alkibiades für schuldig befunden und seines Strategenamtes enthoben – also der Mann, der das an sich verkehrte Sizilienunternehmen vielleicht doch zu einem Erfolg hätte führen können. Die Wahrheit kannte zwar niemand (6.60.2), das Volk aber nahm gerne auf, was es für die Wahrheit hielt, da nur so die zuvor leichtfertig herbeigeführte Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen beendet werden konnte (6.60.4–5).

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Nach der Katastrophe von 413 sollte erst die Eindämmung der radikalen Demokratie durch die Probuloi Athen aus der Not herausführen, dann die Oligarchie. Zur zweiten, gemäßigten Form der Oligarchie, die sich auf 5000 Bürger stützte, sagt Thukydides unter Preisgabe seiner üblichen Zurückhaltung, das erste Mal zu seinen Lebzeiten habe Athen damals eine gute Verfassung gehabt (8.97.2). Er sah in ihr offenbar nicht einfach eine Oligarchie, sondern eine Mischverfassung (eine μετρία ... ἐς τοὺς ὀλίγους καὶ τοὺς πολλοὺς ξύγκρασις). Es war wohl diese Verfassung, die Sophokles als Probulos befürwortet hatte, weil es damals nichts Besseres gab. Die Staatsform unter Perikles hingegen, der nach dem berühmten Urteil des Thukydides die Menge durch sein Ansehen und seine Einsicht in Freiheit bändigte (κατεĩχε τὸ πλῆθος ἐλευθέρως 2.65.8), und sie mehr führte als von ihr geführt wurde, so daß Athen zwar Demokratie hieß, in Wahrheit aber unter der Herrschaft des ersten Mannes stand (2.65.9) – dieses Regiment entsprach mehr dem des Theseus im Oidipus auf Kolonos, der selbst klar genug sieht, wie man die Stadt unter Wahrung des menschlichen und des göttlichen Rechts (des δίκαιον und des ὅσιον) vor Unheil bewahren kann. 4.

Etwa eine Generation nach Thukydides begann Platon die Polis zu beobachten und zu deuten. Er sieht die Lage einerseits weit düsterer, andererseits erweckt er weit größere Hoffnungen für die Zukunft. Denn Thukydides glaubte, das schonungslose Machtstreben liege in der Natur des Menschen, die sich nicht ändert (3.82.2), weswegen sich die Ereignisse immer wieder ungefähr gleich zutragen werden, so daß seine Analyse des Gewesenen einen dauerhaften Besitz für spätere Generationen darstellen werde (ein κτῆμα ἐς αἰεί 1.22.4). Platon denkt nicht an solch einen Gewinn für künftige Politiker und Geschichtsschreiber, sondern an nichts Geringeres als an das Ende der Geschichte. Das wird die Zeit sein, in der die wahre Natur des Menschen das Geschehen bestimmen wird. Vorderhand sind die Staaten beherrscht von der niederen, depravierten Menschennatur. Deswegen hat Platon für die Kette der Ereignisse auch nicht so ein nobles Wort wie ‚Geschichte‘, sondern er sieht darin nur nicht abreißende Übel, κακά. Es gibt aber eine κακῶν παῦλα (Politeia 473 d5–6), ein Ende der Übel (und damit der Geschichte im bisherigen Sinn) für die Städte und die ganze Menschheit, nämlich dann, wenn die Philosophie die Herrschaft übernehmen kann (Politeia 473 cd, u. ö.). Doch das ist Zukunftsmusik. Noch ist es so, daß die wirklichen Philosophen nicht die mindeste Lust verspüren, sich am politischen Geschäft zu

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beteiligen. Sie sind dazu auch nicht verpflichtet, denn sie wurden ohne Mithilfe ihres jeweiligen Staates zu dem, was sie sind (520 b2). Erst im idealen Staat wird sich das ändern: wenn die Polis selbst für die Bildung der Philosophen gesorgt hat, kann sie auch verlangen, daß sie in ihren Dienst treten (519 c–520 d). Politisch tätig werden will der Philosoph nur in seiner eigenen Stadt – das ist die in Gedanken erbaute ideale Stadt – nicht aber in seiner realen πατρίς (592 a7–8). Dies sagt der platonische Sokrates. Der wirkliche Sokrates wußte nicht einmal, wie man eine Abstimmung leitet (Gorg. 474 a1); hingegen konnte er im Gebrüll der Menge darauf beharren, daß das Abstimmungsergebnis nichts Gesetzwidriges enthalten dürfe (Apol. 32 b6). So spricht er in der Apologie unzweideutig aus – und das ist nun ebenso sokratisch wie platonisch – daß er längst umgekommen wäre, wenn er in Athen an der Politik teilgenommen hätte, und daß es grundsätzlich jedem, der ernsthaft für das Recht einzutreten bereit ist, bei einer Volksherrschaft so ergehen muß (Apol. 31 d–32 a). Recht und Demokratie sind nicht vereinbar – eine radikalere Verurteilung Athens ist nicht denkbar. Sokrates’ Entscheidung, als Privatmann zu leben, war gleichwohl kein unpolitischer Schritt. In der Apologie fällt sogar das kühne Wort, daß Sokrates mit seinen Fragen seinen Mitbürgern die größte Wohltat erweise (36 c4), daß andere ihnen den Schein des Glücks verschaffen, Sokrates sie hingegen tatsächlich glücklich mache (36 d9–e1). Im Gorgias entspricht dem der provokative Anspruch, Sokrates sei der einzige wahre Politiker (521 aff.). Hierbei wird ausdrücklich auch Perikles abgewertet, ja verurteilt (515 dff.; 519 a), dessen besonderen Rang Thukydides mit solchem Nachdruck hervorhob. Politik, die dem Anspruch der Philosophie genügen will, darf sich also nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Stadt und des Einzelnen beschränken: sie muß die Bürger besser machen (Gorg. 513 cff.). Diese Forderung mag in der Antike Gemeingut gewesen sein. Die Begründung bei Platon ist freilich eine sehr eigene. Der Mensch ist nicht das, wofür er sich für gewöhnlich hält, ein Bündel von Bedürfnissen und Begierden, deren möglichst vollständige Befriedigung oberster Lebenszweck ist. Der Mensch ist seine Seele, genauer die Denkseele, das λογιστικόν. Das ist seine alte, wahre Natur (ἀληθεστάτη φύσις Politeia 611 b1, ἀρχαία φύσις 611 d2, Tim. 90 d5). Sie wiederentdecken heißt, die naturgemäße Herrschaft der Vernunft über die anderen Seelenteile wiederherstellen: hierin gründet der Optimismus Platons, sein Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen, der ihn von Thukydides unterscheidet, für den die φύσις ἀνθρώπων festliegt: in seiner Überzeugung, daß das richtige Erkennen unmittelbar das richtige Handeln nach sich zieht. Die Erkenntnis des natürli-

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chen Vorrangs der Vernunft, der die Einheit der Person und die Identität des Selbst verbürgt, bedeutet daher auch die Zurückweisung der ungerechtfertigten Ansprüche der Begierden. Allein diese aber verursachen Kriege und Bürgerkriege und Kämpfe, πολέμους καὶ στάσεις καὶ μάχας (Phd. 66 c6). Das metaphysische Theorem von der unsterblichen reinen Denkseele als dem erst noch zu erreichenden eigentlichen Selbst des Menschen hat also in Platons Denken unmittelbar politische Relevanz: das Leben gemäß diesem Theorem würde Bürgerkrieg und Krieg von der Wurzel her unmöglich machen. Das Ende der Geschichte ist in Sicht – sofern dem Menschen seine wahre Natur erreichbar ist. Natürlich ist sie prinzipiell erreichbar, sonst wäre die Bezeichnung in ihrem beiden Teilen – als ‚wahre Natur‘ und als ‚wahre Natur‘ – sinnlos. Aber ist sie jedem erreichbar? Hierin ist Platon pessimistisch. Die Herrschaft des vernünftigen Seelenteils, die in wirklicher Freiheit resultiert, erreicht man durch Philosophieren, wozu, wie er glaubt, nur wenige geeignet sind (Politeia 491 b, 494 a, 503 d, vgl. 428 e). Die Gesamtheit des δῆμος aber ist dem Vernunftgebrauch und damit der Freiheit sogar in zweifacher Weise feindlich: er ist nicht geneigt, das Wissen eines Fachmannes oder Sachverständigen, eines ἐπιστήμων anzuerkennen, außer in rein technischen Belangen: in der Politik und auch im Rechtswesen sollte keiner mehr wissen und dadurch mehr sein wollen als der andere. Zweitens ist aber auch die Kommunikationsform der Demokratie, das Redenhalten vor großen Menschenansammlungen, der Freiheit nicht zuträglich: denn in der Masse reagiert der Mensch weniger frei, weniger vernunftbestimmt. Platons Kampf gegen die Rhetorik ist Teil seines politischen Denkens, Teil seiner Reaktion auf Athen: im Namen der Freiheit wurde hier die wirklich freie Entscheidung von den Entscheidungsbedingungen her unmöglich gemacht. Rhetorische Psychagogie und Gleichheitsideologie zusammen bedeuten, daß der Demos nicht frei sein kann, aber auch gar nicht frei sein will. Indes haßt Platon die Vielen nicht. Er hält sie für irregeführt, aber gutmütig (500 a) und glaubt, daß letztlich auch der ideale Staat mit Zustimmung der Vielen Wirklichkeit werden könnte (499 d–502 c). Es wäre also eine friedliche Umgestaltung der Gesellschaft möglich, mit einer prinzipiellen Trennung von Reichtum, der ganz beim gewerbetreibenden dritten Stand wäre, und Macht, die ganz bei den besitzlosen Philosophen wäre. Die zwei oberen Klassen würden auf privates Eigentum verzichten, jeder erhielte was er braucht von der Gemeinschaft; sie würden die Familien auflösen, bildeten eine große Familie. Die Frauen erhielten dieselbe Erziehung wie die Männer, und hätten dieselben Rechte und Funktionen. Mit solchen Vorstellungen führte Platon das utopische Denken in die politische Philosophie ein. Die Utopie antizipiert das bislang unmöglich

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Scheinende; das politische Denken wirft so seine Anker in die Zukunft, eine ungeheure Dynamik wächst ihm dadurch zu. Die Fruchtbarkeit des platonischen Anstoßes ist hierin sicher noch nicht an ein Ende gekommen. Platon selbst hat neben der Politeia noch zwei weitere Utopien vorgelegt, die beide mit Athen zu tun haben. Nach dem Atlantis-Mythos wehrte ein ideales Athen vor 9000 Jahren einen überlegenen Gegner erfolgreich ab. Aber auch die in die eigene Zeit weisende Utopie der Nomoi kann als eine utopische Umformung Athens gesehen werden, soviel spezifisch Athenisches ist in die neue Konstruktion aufgenommen. Zwar ist alles so abgeändert, daß das Ganze nicht mehr eine Demokratie, sondern eine Mischverfassung ist, aber die Berücksichtigung von Institutionen wie Dokimasie, Euthynai, sogar Volksgerichten für bestimmte Vergehen zeigt doch, daß Platon das rechtliche und politische Instrumentarium seiner Vaterstadt mit gutem Realitätssinn positiv zu würdigen wußte. Vorbereitet war diese Sicht Athens durch die Feststellung im Politikos, von den Staatsformen, in denen das Gesetz nichts gilt, sei die gesetzlose Demokratie noch die relativ beste (Pltk. 303 a). Setzen wir den Fall, daß die Monarchien und Oligarchien um die Mitte des 4. Jhs. nach Meinung Platons allesamt das Gesetz gering achteten, so würde aus dem zitierten Satz immerhin folgen,daß der greise Platon die Demokratie Athens für den besten damals existierenden Staat hielt. Die Herrschaft der Philosophie ohne geschriebene Gesetze wäre aber auch für den späten Platon das unzweifelhaft Beste. Es bleibt noch zu sagen, wie eine solche Herrschaft nach seiner Vorstellung zustandekommen soll. Durch göttliche Fügung – niemals durch Gewalt. Der Änderung der Verfassung wegen gegen die eigene Stadt Gewalt anzuwenden, lehnt Platon kategorisch ab (Epist. 7, 331 d). Der Geist der Utopie ist nicht der Geist der Gewalt – auch wenn in unserem Jahrhundert versucht wurde, die Grenzen zu verwischen. Von Platon kann sich unsere Zeit außer der Grundforderung des Feminismus, daß Frau und Mann die gleichen Funktionen wahrnehmen sollten, auch die Einsicht holen, daß das Eigentliche des Menschen noch nicht ereicht ist, daß uns aber Gewaltanwendung auf dem Weg dorthin nicht voranbringt, sondern mit Sicherheit zurückwirft. Was den Feminismus betrifft, so ist man – nur 2400 Jahre danach – schon dabei, Platon einzuho-

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len. Was das andere betrifft, so können wir nur hoffen, daß es nicht noch einmal so lange dauern wird. 5.

Ich habe drei der Großen Athens in notwendig summarischer Synkrisis auf ihre Deutung der Polis hin befragt. Die Gemeinsamkeiten sind offenkundig. Immer geht es um die ἀνθρώπου φύσις, die bei Sophokles theologisch, bei Thukydides als Naturzwang, bei Platon eschatologisch und metaphysisch gedeutet wird. Immer geht es auch um die Freiheit: wirklich frei ist bei Sophokles nur der isolierte tragische Held, die μεγάλη ψυχή, bei Platon nur der φιλόσοφος, bei Thukydides ist es nicht ganz so klar, vielleicht war für ihn einzig Perikles frei gewesen. Der Demos jedenfalls, dessen Losungswort die Freiheit ist, ist nicht frei. Wer in Gegensatz zur Menge oder zu ihren unredlichen Anführern gerät, läuft Gefahr, sein Leben zu verlieren – Beispiele sind Aias, Philoktetes, Nikias, Sokrates. Aber Athen als Idee wird nicht aufgegeben. Der Glaube an ein besseres Athen ist stark, ob es nun vor 9000 Jahren existierte, oder unter König Theseus, oder vielleicht noch unter Perikles, der das Volk zu führen wußte. Doch jetzt ist das dahin. Durch die Seeherrschaft und den Einfluß schlechter Volksführer ist Athen ein Ort geworden, wo es das Unrecht leicht hat, die moralische Integrität schwer. Waren diese Deuter Athens Feinde der Demokratie? Mit solchen Rubrizierungen sollten wir vorsichtig sein. Sie blickten kritisch auf eine direkte Volksherrschaft, d. h. auf eine Staatsform, die es heute nirgends mehr gibt (auch nicht in der Schweiz, obschon in diesem Land durch Abstimmung über Einzelprojekte und Richtungsentscheide mehr vom Volkswillen in die Politik eingebracht wird als anderswo). Wenn Sophokles, Thukydides oder Platon gesagt bekommen hätten, daß es in späteren Jahrhunderten Demokratien geben werde, in denen es für die Ausübung des Abstimmungsrechts keine Barauszahlung gibt, andererseits aber alle Bürger, nicht nur die wenigen ganz Reichen, Steuern zahlen, in denen ferner die Prozesse durch juristisch geschulte Richter und nicht durch die aufgeregte Volksmenge entschieden werden, und in denen es schließlich Archonten gibt, die viele Jahre im Amt bleiben, sowie Bouleutai oder Parlamentarier, die 4 Jahre lang dieselben Ziele verfolgen, Gesetze geben und hierbei nur auf ihr Gewissen, nicht auf die Volksversammlung hören müssen – ich glaube, sie hätten sehr gestaunt und schließlich gesagt: das noch mit unserem griechischen Wort als demokratia zu bezeichnen, ist zwar eine bloße Homonymie, aber in solchen Staaten ließe es sich immerhin leben.

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7. Wolfgang Schadewaldt als Übersetzer (2005)

1.

Daß es ins Deutsche – eine Sprache, die von ca. 90 Millionen Menschen gesprochen wird – eine große Fülle von Übersetzungen aller Art gibt, betrachten wir im allgemeinen als eine bloße Selbstverständlichkeit, und das heißt in der Praxis, daß wir damit leben und davon profitieren, ohne etwas dabei zu finden, ja oft ohne es überhaupt zu bemerken. Das gilt auch, und besonders, für Übersetzungen aus der Antike. Die große Rolle, die die griechisch-römische Kultur für die deutsche Kultur der letzten zweieinhalb Jahrhunderte gespielt hat, scheint es wie von selbst mit sich zu bringen, daß uns eine stattliche Auswahl von Übersetzungen aller bedeutenderen Autoren zur Verfügung steht. Aber natürlich versteht sich nichts von selbst im Bereich von Sprache und Literatur. Hier walten keine naturgesetzlichen Regelmäßigkeiten. Was nicht mühsam erarbeitet wird, steht nicht zur Verfügung. Nicht einmal die Gesetze des Marktes gelten hier uneingeschränkt, insofern die Übersetzer ihre Produkte nicht direkt auf den Markt bringen können, um eine vermutete Nachfrage zu befriedigen – sie sind vielmehr von der Markteinschätzung der Buchproduzenten abhängig. Und hat ein Verlag eine Nachfrage ausgemacht – und vielleicht sogar zu Recht ausgemacht-, so heißt das noch lange nicht, daß sie auch umgehend befriedigt werden kann – zumindest so lange man an der Forderung festhält, daß die Übersetzung dem Niveau des Originals angemessen sein soll. Und damit sind wir beim Kern der Sache, bei dem, worum es Wolfgang Schadewaldt in seinem übersetzerischen Werk stets ging: wie wahrt man angesichts einer bestehenden Übersetzungskultur einerseits die lebendige Beziehung zur sich wandelnden Gegenwartssprache und andererseits das für den Literaturkundigen feststehende, unverrückbare Niveau der großen Literaturdenkmäler des Griechischen. Die Qualität der deutschen Übersetzungstradition zu steigern war Schadewaldts großes Ziel – aber nicht so sehr um dieser Tradition willen, als vielmehr um der Griechen willen, deren große Dichtung nach seiner Überzeugung in einer ursprünglichen Weise zu uns redet, die es zu bewahren oder vielmehr erst wiederzugewinnen gilt. Mit Schadewaldts Übersetzungen sind wir alle zu einem gewissen Grad vertraut. Man muß nicht Homerforscher, ja nicht einmal Philologe sein, um eine ungefähre Vorstellung von seiner Prosaübersetzung der Odyssee

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und seiner rhythmisierten Wiedergabe der Ilias zu haben. Auch seine nach und nach erschienenen Übertragungen der sophokleischen Tragödien – der Philoktetes kam als letztes Stück 1999 – gewinnen allmählich einen gewissen Bekanntheitsgrad auch außerhalb der Zunft bei Literaturliebhabern ohne Griechischkenntnisse. Die folgenden Ausführungen wollen nichts weiter als zu dieser vorhandenen, relativ weit verbreiteten Kenntnis und Wertschätzung der Schadewaldtschen Übersetzungen einen Hintergrund liefern, der zum besseren Verständnis seiner Leistung beitragen könnte, und zwar zunächst in Form eines Überblicks über die übersetzerische Gesamtleistung, verbunden mit einer notgedrungen sehr summarischen Aufzählung der Bemühungen anderer Übersetzer in diesem Jahrhundert, sodann durch eine Zusammenstellung und kurze Auswertung von Schadewaldts theoretischen und programmatischen Äußerungen zum Problem des Übersetzens – denn ein Problem hat er zeitlebens darin gesehen, nicht nur eine Aufgabe und ein leidenschaftlich betriebenes Spiel. 2.

Das Übersetzen bildete eine zentral wichtige Beschäftigung, vielleicht die wichtigste, in Schadewaldts letztem Lebensdrittel. Über den Beginn dieser Tätigkeit machte er im Artemis-Symposion über das Übersetzen antiker Dichtung von 1960 eine halbwegs genaue Angabe: „vor jetzt so ungefähr fünfzehn Jahren [ging ich] ernster an das Geschäft des Übersetzens“.1 Also ungefähr ab 1945. Der Zeitpunkt ist vielleicht signifikant. In seinem öffentlichen Habilitationsvortrag von 1927 hatte der damals 27-jährige Schadewaldt gesagt: „Das Schicksal herbeizurufen, das die Übersetzung zeitigt, ist dem einzelnen nicht gegeben“.2 War das Schicksal, das Schadewaldts Übersetzungen „zeitigte“, der verlorene Krieg? Möglich scheint mir das, und damit steht auch nicht im Widerspruch, daß es kürzere Übersetzungsproben auch aus der Zeit vor 1945 gibt. Die Legende von Homer dem fahren-

1 Wolfgang Schadewaldt: Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung. Referat und Schlußwort. In: Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (ArtemisSymposion 1960). Hg. v. Hans Joachim Störig. Zürich/Stuttgart 1963, 22–41 und 51–55; obiges Zitat: 27. 2 Ders.: Das Problem des Übersetzens. Öffentlicher Habilitationsvortrag an der Universität Berlin 1927. In: Die Antike 3 (1927), 287–303 [wieder abgedruckt in: ders.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Bd: II. Zürich/Stuttgart 1970, 608–622, Zitat 622]. (Dieser zweite Band der zweiten Ausgabe (1970) der Gesammelten Schriften von Wolfgang Schadewaldt wird im Folgenden zitiert als „HuH2, II“.).

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den Sänger. Ein altgriechisches Volksbuch war 1942 erschienen, die Rede des Perikles für die Gefallenen 1943. Die Interpretationen homerischer Szenen. jeweils mit wörtlicher Übersetzung längerer Passagen (bis zu 500 Versen) vorneweg, die in Von Homers Welt und Werk versammelt sind,3 stammen aus den Jahren 1935–43. Verglichen mit der Produktion nach dem Krieg sind das sozusagen Vorboten. Am Rande zu erwähnen sind auch zwei Parerga, die man bei Schadewaldt nicht so ohne weiteres erwarten würde und die er in den frühen 50er-Jahren für seinen Freund Carl Orff lieferte: die deutsche Fassung des Textbuchs von Trionfo di Afrodite (1951), sowie eine Übersetzung der Carmina Burana von 1953. In den 50er-Jahren beginnt nun jene „ernstere“ Beschäftigung mit dem Übersetzen Früchte zu tragen. Im Sappho-Buch von 1950 sind alle Fragmente der lesbischen Dichterin verdeutscht. 1952 wird Schadewaldts erste Sophokles-Übersetzung auf einer deutschen Bühne gespielt, der König Ödipus im Landestheater Darmstadt. Die Elektra 1956 ebendort, 1958 folgt Aristophanes' Lysistrata. Im selben Jahr erscheint die Prosa-Übersetzung der Odyssee bei Rowohlt, was damals, als es noch weit weniger Taschenbuchverlage gab, mit einer unerhörten Breitenwirkung einherging. Eine große Breitenwirkung muß man auch dem Rundfunk jener Jahre zubilligen, als das Fernsehen noch nicht alle Haushalte erreicht hatte. Im Rundfunk waren Teile der Prosa-Odyssee schon 1957 zu hören gewesen, mehr dann 1958, während der König Ödipus, die wohl am meisten gesendete Übersetzung. seit dem Jahr der Erstaufführung 1952 immer wieder im Hörfunk verschiedener deutscher Sender zu hören war. Es ging dann weiter mit den Persern und den Sieben gegen Theben (Aufführungen 1959 und 60 in Heidelberg und Tübingen), in den 60er-Jahren mit Menanders Schiedsgericht (1963). mit Aristophanes' Vögeln und Acharnern (1966 und 1969) sowie wieder mit Sophokles: Antigone, Aias und Oidipus auf Kolonos (1964, 1967, 1968). Die gedruckte Fassung der Übersetzungen folgte meist in kurzem Abstand auf die Erstaufführung. Hervorzuheben ist der vom Suhrkamp Verlag 1964 herausgebrachte stattliche Band Griechisches Theater mit acht Dramen von Aischylos, Sophokles, Aristophanes und Menander, ein Band, der übrigens die Widmung „In memoriam Peter Suhrkamp“ trägt. Von seinem Freund Peter Suhrkamp zitierte Schadewaldt gerne den Satz „In den Übersetzungen verlaufen die Einschlagfäden aus der Weltliteratur in das Gewebe der nationalen Sprachen hinüber“.4

3 Ders.: Von Homers Welt und Werk. Aufsätze und Auslegungen zur homerischen Frage. Stuttgart 31959 [1951], 205–374. 4 HuH2 II, 686.

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Veröffentlichungen einzelner pindarischer Oden gab es seit 1959 (da wurde die Zehnte Nemeische Ode Martin Heidegger zum 70. Geburtstag gewidmet). Die Olympischen Oden insgesamt wurden deutsch vorgelegt 1972 (mit Einzelerklärungen von Ingeborg Schudoma), im gleichen Jahr von Euripides – dem Tragiker. von dem Schadewaldt sagte, er „könne“ ihn „eigentlich am besten“ – die Bakchen. Zu dieser Zeit arbeitet Schadewaldt bereits an seinem letzten, größten Übersetzungswerk, an dem heute, ein Vierteljahrhundert danach, sein Rang als Übersetzer am ehesten festgemacht wird: an der Übertragung der Iias, in der er nicht mehr, wie noch in den Übersetzungsproben der Homerischen Szenen, den Hexameter durch Prosa wiedergibt, sondern, unter Wahrung der Versgrenzen und der Wortstellung, durch eine dichterische Prosa oder besser, um ein noch schlimmeres Oxymoron zu bilden, durch einen metrikfreien Hexameter. Blickt man nun auf dieses übersetzerische Gesamtwerk, so fällt auf, daß, von geringen Ausnahmen abgesehen, nur Texte von hohem und höchstem dichterischen Anspruch den Gegenstand von Schadewaldts Bemühungen bildeten. Das sagt einerseits viel über den Charakter des Mannes aus, der für sich selbst nur die strengsten Maßstäbe als gültig anerkennen wollte, selbst wenn ihn das zu der Einsicht führte, daß Übersetzen nach dem höchsten Anspruch im Grunde unmöglich ist.5 Es sagt ferner viel über Schadewaldts Auffassung von der Bedeutung hoher Dichtung für den Menschen und der Bedeutung der Griechen für unsere heutige Kultur. Man fühlt sich bei seiner Auswahl der übersetzten Werke an das Apophthegma seines Lehrers Wilamowitz über die Philologie insgesamt erinnert: wenn man das Tun des Philologen unter dem Bild der „Jägerei“ fassen wollte, so bleibe da immer noch der „Unterschied, ob man Löwen jagt oder Flöhe fängt“.6 Schadewaldt der philologische Übersetzer war definitiv Großwildjäger. Als Übersetzer von Nonnos und Quintus von Smyrna kann man ihn sich nicht vorstellen. 3.

Ein kurzer Blick auf die Übersetzungsbemühungen anderer Philologen und Freunde der Antike im 20. Jahrhunderte ist hier unerläßlich, auch wenn an dieser Stelle die bloße Aufzählung schon lückenhaft und vollends die Charakterisierung der einzelnen Leistungen schemenhaft und pauschal bleiben muß. 5 HuH2 II, 608, 616f. 6 HuH2 II, 607.

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Die Ilias wurde in unserem Jahrhundert neu übersetzt von Thassilo von Scheffer 1913, von Rudolf Alexander Schröder 1943, von Hans Rupé 1948, von Gerhard Scheibner 1972, und schließlich, nach Schadewaldts Tod, von Dietrich Ebener 1976 und von Roland Hampe 1979. Sie alle versuchten – bis auf Gerhard Scheibner, der eine rhythmische Prosa bot – das Homerische am Homer durch den deutschen Hexameter einzufangen. Die Odyssee wurde übersetzt 1910 von Rudolf Alexander Schröder, 1918 von Thassilo von Scheffer, 1976 von Dietrich Ebener, 1979 von Roland Hampe und 1981 von Friedrich Georg Jünger. All das weiter im Hexameter, wieder mit der Ausnahme von Gerhard Scheibners Prosa-Übersetzung, die 1983 erschien. Das 20. Jahrhundert brachte also, zusammen mir Schadewaldts Übersetzungen, sieben neue Iliaden und Odysseen, und sechs davon gehören jeweils zu einer Gesamtübertragung Homers. Thassilo von Scheffer ging noch einen Schritt weiter und übersetzte auch Hesiod und die homerischen Hymnen, also die gesamte archaische hexametrische Dichtung. Die Sappho-Übertragung steht in Konkurrenz zu fünf anderen: M. Hausmann 1946/49, Horst Rüdiger 1949, Karl-Wilhelm Eigenbrodt 1952, Emil Staiger 1957 und Max Treu 19684. Zu Pindar gab es gleichfalls fünf Gesamtübersetzungen: von Franz Dornseiff 1921, Ludwig Wolde 1942, Oskar Werner 1967, Eugen Dönt 1986 und 1992 von Dieter Bremer, der, einst in Tübingen promoviert, sich zum dokumentarischen Übersetzen im Sinne Schadewaldts bekennt. Auch beim Übertragen der Tragiker war das 20. Jahrhundert nicht müßig. Aischylos' Perser, die Schadewaldt 1964 herausbrachte, gab es schon von Hans Bogner (1916), Ludwig Wolde (1938), Franz Stoeßl (1952), Herbert Friedrich Waser (1952) und S. Müller (1958) im Rahmen von Gesamtübertragungen, als Einzelausgabe auch von Oskar Werner (19433), Georg Lange (19443) und Ernst Buschor (1953). Die Sieben gegen Theben, von Schadewaldt ebenfalls 1964 vorgelegt, lagen in den genannten Gesamtausgaben vor sowie einzeln von Kurt Schilling (1940). Als Verfasser von Bakchen-Übersetzungen, die Schadewaldt (1972) bekannt waren oder bekannt sein konnten, sind zu nennen Dietrich Ebener (1966) und Ernst Buschor (1957). Und Buschor ist noch ein drittes Mal als ἀντίτεχνος Schadewaldts zu vermerken durch seine Sophokles-Übersetzungen, die Schadewaldt offenbar schätzte, sonst hätte er nicht 1968, als von ihm selbst die Tragödien Trachinierinnen, Philoktetes und Oidipus auf Kolonos noch ausstanden, in der Artemis-Ausgabe seine eigenen Verdeutschungen mit denjenigen Buschors in einem Band vereinigt. Eine Gesamtübersetzung des Sophokles hatte 1944 der Germanist Emil Staiger vorgelegt, der mit Schadewaldt vieles gemeinsam hatte: beide waren profunde Kenner sowohl der deutschen

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als auch der griechischen Literatur, beide waren sie souveräne Interpreten und zugleich Meister des gesprochenen Wortes, beide hatten sie Heidegger gründlich rezipiert, und beide reflektierten über ihr philologisches und übersetzerisches Tun in philosophischer Weise. So war es kein Wunder, daß sie 1960 auf einem Symposion über das Übersetzen in Zürich zusammen und zugleich gegeneinander auftraten. Da Schadewaldt Prosa-Texte (mit zwei Ausnahmen) nicht übersetzt hat, brauche ich die z. T. bedeutenden Leistungen auf diesem Gebiet nicht Revue passieren zu lassen. An nachklassischer Dichtung wurde etwa Kallimachos übersetzt von Emil Staiger (1955), und Apollonios von Rhodos von Thassilo von Scheffer (1940), neuerdings von Reinhold Glei und Stephanie Natzel-Glei (1996). Musaios legte Hans Färber auf deutsch vor (1961), Nonnos von Panopolis Dietrich Ebener 1985, aber lange vor ihm auch schon der unermüdliche Thassilo von Scheffer 1925–1933 (19472), der natürlich auch den Froschmäusekrieg nicht ausgelassen hatte (1941) – alles, was griechischer Hexameter ist, mundete ihm offenbar. In diesem Umfeld einer sehr vielfältigen deutschen Übersetzertradition muß Schadewaldts Werk sich behaupten. Quantitativ tragen die bereits mehrfach erwähnten Thassilo von Scheffer und Dietrich Ebener den Preis davon, allein Nonnos mit 25000 Versen verschafft ihnen einen ungeheuren Vorsprung. Von Scheffer hielt sich, wie erwähnt, ganz im Bereich der Hexameterdichtung, Ebener übersetzte auch den ganzen Euripides. Nimmt man nun diesen Gesichtspunkt des Unterschieds der Gattungen hinzu, so sticht Schadewaldts Leistung auch quantitativ hervor: abgesehen davon, daß keiner der anderen Übersetzer auch als Interpret der übersetzten Autoren Bleibendes geleistet hat, hat auch niemand so viele der unverwechselbar griechischen Literarurformen für das Deutsche zurückzugewinnen versucht wie Schadewaldt, der umfangreiche Übertragungen aus der archaischen Epik, der frühgriechischen Monodie, dem spätarchaischen Chorlied, der frühen und der ‚klassischen‘ Tragödie. der Alten und der Neuen Komödie vorlegte. Aber ihn selbst interessierte mit Sicherheit nicht dieser quantitative Aspekt, sondern allein die Frage des sprachlichen Niveaus der Übersetzung. Für eine angemessene Erörterung dieser Frage. die ja auch für uns letztlich die einzig relevante ist. müssen wir uns nun Schadewaldts Theorie des Übersetzens zuwenden. 4.

Theoretische Arbeiten von Schadewaldt zur Aufgabe des Übersetzers gibt es von seiner Berliner öffentlichen Habilitationsvorlesung 1927 bis zum

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Nachwort seiner Ilias-Übersetzung 1975, also über einen Zeitraum von fast 50 Jahren. Vier der wichtigsten dieser Arbeiten sind im zweiten Band von Hellas und Hesperien abgedruckt7. Für die Skizze der schadewaldtschen Übersetzungstheorie, die ich hier versuche, stütze ich mich auf folgende sieben Arbeiten, die manche Überschneidungen und Doppelungen aufweisen – was ganz natürlich ist. wenn man bedenkt, daß Schadewaldt immer wieder eingeladen wurde, seine Auffassung darzulegen – die aber doch alle auch ein individuelles Gepräge haben: 1. Die erwähnte frühe Vorlesung „Das Problem des Übersetzens“ (1927). 2. Das Artemis-Symposion ‘“Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“ vom November 1960 (gedruckt 1963), auf dem Schadewaldt seine Ansichten im Dialog mit Emil Staiger entwickelte. unter Teilnahme einer Reihe von namhaften Philologen wie Kurt von Fritz, Karl Kerényi, Manu Leumann, Peter Von der Mühll, Ernst Zinn und vielen anderen. 3. Das Nachwort zu Griechisches Theater (1964). 4. Die Festansprache anläßlich der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1965) „Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation“ – ein Vortrag, in dem, entsprechend dem Publikum, wenig vom Griechischen die Rede ist, der statt dessen die Rolle des Übersetzens im Rahmen der allgemeinen Kulturentwicklung reflektiert. Als Kontrast dazu 1. die sehr ins einzelne gehende Studie Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), in der Schadewaldt anhand der Anrufung des Eros in Sophokles' Antigone dartut, welche Überzeugungen ihm von Zeile zu Zeile die Feder führten. Ferner 2. der Vortrag „Antikes Drama auf dem Theater heute“, der bebildert 1970 als selbständige Broschüre erschien und in dieser Form Martin Heidegger zum achtzigsten Geburtstag gewidmet ist – so wie 1959 die

7 In der Numerierung der unten folgenden Aufzählung sind das die Nummern 1, 4, 5, 6: (l) Schadewaldt: Das Problem des Übersetzens. 1927, HuH2 II, 608–622; (4) ders.: Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation. In: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Hg. v. Dieter Stolte. Tübingen 1966, 550–559 [wiederabgedruckt in: HuH2 II, 680–688]; (5) Aus der Werkstatt meines Übersetzens. Dargetan an der Anrufung des Eros in Sophokles’ „Antigone“. In: Schweizer Monatshefte 46 (1966), 851–859 [wiederabgedruckt in: HuH2 II, 671– 680]; (6) Antikes Drama auf dem Theater heute. Übersetzung und Inszenierung. Pfullingen 1970 [wiederabgedruckt in: HuH2 II, 650–671].

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Zehnte Nemeische Ode Heidegger zum 70. gewidmet war. Und schließlich 3. die Bemerkungen „Zur Übersetzung“ im Nachwort der Ilias von 1975. Vorweg eine kurze Bemerkung zur intellektuellen Eigenart dieser Arbeiten. Sie zeichnen sich – abgesehen von der gewohnten sicheren Diktion und der bisweilen sogar spannenden Darstellungsweise – vor allem durch einen sehr weiten geistigen Horizont aus. Diesem Theoretiker des Übersetzens ist offenbar die literarische Tradition der Deutschen seit der GoetheZeit bestens vertraut, ebenso auch die Theorie des Übersetzens seit Schleiermacher (1813) und wiederum Goethe.8 Die generellen hermeneutischen Probleme sind ihm geläufig, etwa wenn er über die drei Arten der Vergegenwärtigung reflektiert, ebenso wie die historische Bedingtheit des Übersetzens – er hat eine klarumrissene Auffassung vom Platz der verschiedenen Formen des Übersetzens in der geistigen Entwicklung einer Nation. Und dem Ganzen liegt eine bestimmte Auffassung von Sprache und von großer Dichtung zugrunde. in der sich überdies eine Auffassung des Menschen und seiner Aufgabe spiegelt. Und während Schadewaldt in erster Linie seine eigenen Überzeugungen positiv darlegt, erweist er sich nebenher auch noch als nicht bösartiger, eher milder, aber doch sehr wirkungsvoller Satiriker: nämlich dann, wenn er die aufgeplusterten „pseudopoetischen Rhetorisierungen“ des Übersetzungsstils. den er selbst meidet, mit Beispielen vorführt.9 Nun zur Theorie selbst. Ausgangspunkt war für Schadewaldt die Beobachtung, daß ein doppelter Maßstab für Übersetzungen allgemein rezipiert ist. Einerseits verlangt man unbedingte Genauigkeit, größtmögliche sprachliche Nähe zum Original von allen Übersetzungen, die Dokumente (im weitesten Sinne) wiedergeben wollen. Andererseits gesteht man allen Übersetzungen von Dichtung eine erstaunliche Freiheit zu, u. a. die Freiheit von Weglassungen, Hinzufügungen und Umstellungen, ferner das Recht, Begriffe des Originals durch moderne Begriffe und Bilder des Dichters durch eigene Bilder wiederzugeben. Die exakte Wiedergabe des Dokumentarischen ist das Dolmetschen. „Die Tätigkeit des Dolmetschers ist zweckbestimmt. Der Dolmetscher steht durchaus im Dienste der Information und soll Verständnis vermit-

8 Eine sehr instruktive Sammlung von 26 meist kürzeren Texten zur Theorie des Übersetzens überwiegend von deutschen Autoren (u. a. von Luther, Goethe, Jacob Grimm, Nietzsche, Heidegger, Gadamer) gab Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens, 1963. 9 Wolfgang Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater. Frankfurt a. M. 1964, z. B. 39, 497, 673, 675–676.

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teln über Sachen, Daten, Fakten, Absichten, an denen man praktisch interessiert ist. Sein Bereich ist die technische Sachwelt“. Und da der Dolmetscher „es mit der Sprache als Information zu tun hat, d. h. mit der Sprache als reinem Werkzeug der Verständigung“, wird er „auch selbst zum Werkzeug der Verständigung“.10 Um solchen Wechsel von einer Sprache zur anderen klar abzugrenzen von dem, woran ihm gelegen ist, will Schadewaldt den Ausdruck „Übersetzen“ dem Dolmetschen gar nicht zugestehen, sondern „der Wiedergabe solcher sprachlicher Werke vorbehalten wissen“, in denen es nicht so sehr auf Sachen, Daten, Fakten ankommt, „sondern wo in der auch hier notwendig mit umfaßten Sachwelt entscheidend doch der Mensch zugegen ist, ..., wo die materialen Inhalte sich also in den menschlichgeistigen Gehalt hinein integrieren“.11 Diesem nicht-dolmetschenden Übersetzen gewährte man bisher eine schier unbegrenzte Freiheit. Die Vorstellung war, daß man den fremden Dichter ins Deutsche herüberholen müsse. Der solle zu uns am besten sprechen wie er als Deutscher zu Deutschen gesprochen haben würde. Zuerst scheint der englische Dichter John Dryden im 17. Jh. für einen englischen Vergil die analoge Forderung erhoben zu haben.12 Sie wurde seit dem 18. Jahrhundert auch bei den Deutschen verbindlich. Einen extremen Vertreter dieser Auffassung sieht Schadewaldt in seinem Lehrer Wilamowitz, den er mit Formulierungen zitiert wie „eine jede Übersetzung sei Travestie, Umkleidung“ oder „es bleibe die Seele, aber sie wechsle den Leib“, oder „den Buchstaben gelte es zu verachten und den Geist zu bewahren“.13 Diese Trennung von Leib und Seele, von Kleid und Leib, die offensichtlich gegen die schon in der deutschen Klassik und Romantik erkannte notwendige Einheit von Form und Inhalt verstößt, lehnt Schadewaldt entschieden ab. Hier ein Stückchen schadewaldtscher Satire: „das ganze Kleiderbild“ bereite ihm Unbehagen „wenn ich mir mit lebendiger Phantasie vorstelle, Sophokles solle seines attischen Chitons entkleidet und in einen modernen Sakkoanzug gesteckt werden“.14 Schadewaldt nennt diese Art des Übersetzens das „transponierende“ Übersetzen. Es ist ein verfälschendes Übersetzen, denn insbesondere durch ihre Lizenz, antike Bilder und Begriffe durch moderne zu ersetzen weckt die transponierende Übersetzung falsche Assoziationen. „Ihr Glanz ist ein falscher 10 11 12 13 14

HuH2 II, 683. HuH2 II, 683. Artemis-Symposion, 26. Artemis-Symposion, 26. Artemis-Symposion, 27.

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Glanz“ (HuH2, II, 656). Solche Übersetzung lebt von klassizistischer Glätte und vom pseudopoetischen hohen Ausdruck (vgl. II, 665); sie erschließt das Original nicht, sondern verdeckt es.15 Drei Arten des transponierenden Übersetzens werden unterschieden: 1. das Transponieren in eine im Deutschen schon bestehende Konvention, eine bestimmte Dichtersprache. dergestalt daß man beim Lesen griechischer Lyrik ständig Heine, Geibel oder Mörike zu hören meint, oder bei Wilamowitz im Drama ständig Goethe und Schiller;16 2. die „kompendiarische Reduktion des Worts der alten Dichter auf die bloße Meinung“, und 3. „jenes Bedichten des alten Dichters, das willkürlich variierend das originale Wort umspielt und überspielt“.17 Die Tendenz der Kritik am Dolmetschen einerseits, am Transponieren andererseits ist klar genug: Schadewaldt fordert „dokumentarisches Übersetzen“ auch für die Dichtung. Doch wie soll das sinnvoll sein? Sind Dichtungen denn Dokumente? Die überraschende Antwort ist: Ja, große Dichtung ist „Dokumentation von etwas, das sich einmal ereignet hat“. Was die großen griechischen Dichter schreiben, hat „auch als Wort noch den Ereignischarakter“, und eben dies ist der Grund, warum „diese Dinge ja noch heute für uns leben“ .18 Diesen „eigentümlichen Dokumentationscharakter auch der Dichtung“ will Schadewaldt festhalten, und da wäre Rücksicht auf das moderne Publikum und seine Konventionen fehl am Platz. „Diesem Ereignishaften im Worte [fühle ich mich] mit Haut und Haar verpflichtet“, lesen wir im Artemis-Symposion.19 Wenn wir dann noch lesen, daß das dokumentarische Übersetzen dann unabdingbar ist, wenn „das Wort im höchsten Sinne original seinsträchtig, weltenthaltend ist“, daß es der „ursprünglichen“ Sprache angemessen ist und daß der Übersetzer in einem gegebenen Fall „nur Seiendes“ vorfand, das er „auch im deutschen Wortlaut spürbar zu machen“ versuchte, ferner daß das dichterische Wort „ganz neu und umfassend nicht bloß ‚verstanden‘, sondern innerlich ‚vernommen‘ ... werden“ will, was dann zu einem „ganz umfassenden Verstehen und Vernehmen von Dasein zu Dasein“ führt,20 so verstehen wir, warum Schadewaldt gerade Martin Heidegger zum 70. und zum 80. Geburtstag eine Übersetzung und eine Reflexion

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HuH2 II, 656 und 665. Schadewaldt fand das „schrecklich“ (Artemis-Symposion, 28f.). Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater, 495. Artemis-Symposion, 30. Artemis-Symposion, 31. Anemis-Symposion 33; HuH2 II, 672, 679, 684.

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über sein Übersetzen widmete: die Auffassung von Sprache, die in solchen Formulierungen zum Vorschein kommt, ist offensichtlich verwandt mit Heideggers Gedanken vom Seinsgeschick und vom Ereignis des Seins in der Sprache, das wir vernehmen können und das die Denker vor Platon ursprünglicher vernommen haben. Der Begriff des ‚dokumentarischen Übersetzens‘ wendet sich gegen das pseudopoetische, willkürliche und verfälschende transponierende Übersetzen und postuliert durch das Adjektiv „dokumentarisch“ eine neue Genauigkeit gerade in der Wiedergabe von Dichtung. Es dürfte aber klar sein, daß Dichtung dadurch nicht zu der Art von Dokument gemacht werden soll, für die das Dolmetschen die angemessene Art der Wiedergabe ist. Das heißt aber, daß in der Redeweise von der „dokumentarischen Übersetzung“ und von der Dichtung als „Dokumentation von etwas, das sich einmal ereignet hat“, sich doch wohl eine doppelte Bedeutung von ‚Dokumente‘ bzw. ‚Dokumentation‘ verbirgt, die Schadewaldt, wenn ich nicht etwas übersehen habe, nirgends reflektiert hat: um die Willkür zu beenden, wird die strenge Bindung des Dolmetschens an das Dokument zum Vorbild oder gar Maßstab gemacht. Gleichzeitig hat aber gerade Schadewaldt ein überaus klares Bewußtsein davon, daß die dichterische ‚Dokumentation‘, die er als Übersetzer vor sich hat, einen völlig anderen ‚Ereignischarakter‘ hat als die Ereignisse, die in – sagen wir – juristische oder historische Dokumente eingehen können. ‚Dokumentation‘ meint im einen Fall ein möglichst eindeutiges Fixieren des Faktischen und aller Parameter in den Kategorien Ort, Zeit, Quantität, Qualität usw., im anderen ein der faktischen Fixierbarkeit gerade entzogenes Sehenlassen des Wesens und das Erschließen einer Einsicht, die im Alltag von Unwesentlichem verdeckt wird. Welche Berechtigung bleibt bei dieser Auffassung von Dichtung und vom Übersetzen den anderen beiden Formen der Wiedergabe fremdsprachlicher Texte? Das bloße Dolmetschen ist selbst für „Werke der Poesie“ „nicht ohne Nutzen“ so lange es darum geht, überhaupt nur zu erfahren, was in einem noch unbekannten Werk zur Sprache kommt. Solche Wiedergabe „mag die höchste Form des Übersetzens bezeichnen, wo immer es gilt, einer literaturarmen Nation aus der Fremde Surrogate herbeizuschaffen“. „Als geistige Erscheinung jedoch ist das Dolmetschen in Deutschland überwunden, seitdem der historische Sinn sich über das Interesse für Kuriositäten erhob und mit dem Erwachen zu eigener Nationalität und zu eigener Individualität die Andersartigkeit der Völker und der

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Zeiten begriffen wurde“.21 Diese Andersartigkeit blieb unbegriffen noch im Deutschland des 18. Jh.s, als die Meinung vorherrschte, eine exakte Übersetzung sei gleichwertig mit dem Original. Die Aufgabe des Übersetzers wird also durch die geistige Reife der nationalen Kultur definiert. Anders gesagt: seit der Goethe-Zeit unterliegt das übersetzen ins Deutsche höchsten Ansprüchen. Gleichwohl wird für Schadewaldt auch das transponierende Übersetzen, so hart er es auch kritisieren kann, nicht etwa funktionslos. „Es ist überall dort am Platz, wo die Sprache des Originals den Charakter des Redensartlichen hat“.22 Gemeine ist etwa „das literarisierte Griechisch der Kaiserzeit und der Spätantike“, etwa Plutarch. Das Transponieren in die eigene Gefühlswelt und Denkweise ist aber notwendig auch bei der Komödie, weil die Flüssigkeit des Dialogs es verlangt und weil der Witz in der Übersetzung sonst nicht als Witz wirken könnte. Schadewaldt ordnet denn auch seine eigenen Übersetzungen der Legende von Homer dem fahrenden Sänger und der Lysistrata dieser Art des Übersetzens zu, zumindest partiell.23 Und was ist nun das „dokumentarische Übersetzen“? Schadewaldt verbindet damit durchaus nicht einen Anspruch auf Vollkommenheit des Umsetzens von einer Sprache in die andere. Keine Spur von Selbstüberschätzung: über der Unmöglichkeit des Übersetzens im höchsten Sinn raisonniert schon der frühe theoretische Versuch von 1927, und nach langer und erfolgreicher Praxis weiß der Übersetzer 1970 immer noch: „Das Original läßt sich auf keine Weise erschöpfend in seiner Ganzheit übersetzen. Die Übersetzung, welcher Art sie sei, vermag nur einen Aspekt des Originals wiederzugeben“.24 Die drei Forderungen, denen sich der dokumentarische Übersetzer zu unterwerfen hat, hat Schadewaldt immer wieder aufgezählt:25 er muß erstens vollständig übersetzen, darf nichts weglassen und nichts hinzufügen; er muß zweitens .die ursprünglichen Bilder und Vorstellungen des Originals unverbogen auch im Deutschen bewahren“, und drittens soll er die Abfolge der Begriffe und Vorstellungen so weit es möglich ist einhalten, d. h. griechische Syntax und Wortfolge nach Möglichkeit im Deutschen reproduzieren.

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HuH2 II, 610 und 613. HuH2 II, 654. Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater, 497. vgl. HuH2 II, 654, 672. HuH2 II, 617 und 658. Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater, 495 (mit Verweis auf frühere Aufführungen), HuH2 II, 657, 673.

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Diese Forderungen klingen zunächst naheliegend, einleuchtend, einfach. Daß die Sache aber subtil und schwierig werden kann, ahnt man, sobald man in einer dieser Aufzählungen liest, als „höheres und umfassendes Prinzip“, das über die Anwendung der drei Forderungen entscheide, komme der Takt hinzu, „das heißt: der Instinkt für das jeweils Angemessene (prepon)“.26 In der Praxis zeigt sich dann, daß die drei scheinbar einfachen Forderungen schwer durchführbar und, falls konsequent eingehalten, mit großen Opfern verbunden sind. Am ehesten ist noch die Forderung der Vollständigkeit einzuhalten. Doch allein dies, daß man nichts unterschlägt und nichts hinzufügt, würde genügen, um die Übernahme des Metrums des Originals auszuschließen. Weit mehr Kühnheit verlangt das Beibehalten der originalen Begriffe und Bilder, die uns sehr fremd sein können, und die Bewahrung der Abfolge der Vorstellungen. Um dieser Ziele willen ist Schadewaldt bereit, „lieber der deutschen Sprache Abbruch zu tun als vom Wort zu weichen“27 – doch dieses Bekenntnis ist gar nicht seines, sondern übernommen von Martin Luther. Mit Luthers zupackender Art vor Augen, ist Schadewaldt bereit, dem heutigen Leser fremdartige Bilder vorzusetzen, ihn mit harten Fügungen und einer oft kaum noch deutsch zu nennenden Syntax zu provozieren, um seiner geliebten griechischen Vorlage nahe bleiben zu können. Gemessen an diesem bewußten Verzicht auf ein gefälliges, eingängiges Deutsch ist der Verzicht auf das Metrum und auf die genaue Einhaltung der Verszahlen (in Tragödien und Komödien) das Geringere. Der Übersetzer muß eben wissen, was er opfern kann und was nicht, dokumentarisches Übersetzen ist „eine Kunst des Opferns“. Für „die Bewahrung des Gedankens, der Vorstellungen, der Sinngestalt“ wird „die äußere Form des Originals“ geopfert.28 Sogleich stellt sich der Gedanke ein, ob nicht „damit überhaupt die Poesie verloren geht?“29 Schadewaldt bannt den gefährlichen Gedanken, indem er sich bei Goethe und Heinrich von Kleist, „denen man ... ein Wissen um das Dichterische nicht absprechen kann“, versichert, daß auch ihnen „der reine, vollkommene Gehalt“ (Goethe) oder „die reine innere Sinngestalt“ (Schadewaldt) wichtiger war als die äußere Form. Wenn Luther lieber der Sprache Gewalt antat, „als vom Wort zu weichen“, so deswegen, weil dies Wort für ihn das geoffenbarte Wort Gottes

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Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater, 494. Artemis-Symposion, 33. HuH2 II, 658. Ebd.

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war. Heidnisch-heideggerisch wird bei Schadewaldt daraus das Nicht-weichen-Wollen vom ereignishaften Wort ursprünglicher, großer Dichtung. Ein andermal kann das letzte Ziel des Übersetzers – wieder im Anschluß an Goethe – auch konkreter umschrieben werden: es gelte, in jeder Literatur als „das eigentliche Entscheidende und Wirksame“ „das allgemeine Menschliche“ herauszustellen: der Übersetzer ist so „ein Prophet des Humanen“.30 Wer sich fragt, warum Schadewaldt gerade Homer und Sophokles vollständig übersetzt hat, mag sich an dieses Wort erinnern. 5.

Wie wirkt nun die dokumentarische Übersetzung? Bei Homer ist entscheidend wichtig sein „außerordentlicher Lakonismus“ (Goethe), den sie einzufangen vermag, während er unter dem Zwang des Metrums leicht verloren geht. Bei Sophokles wird sie der Härte und dem großen Ernst seiner Lyrik gerecht. Denn sie beschönigt nicht, verniedlicht nicht, verbiegt und zähmt nicht. Sie sucht nicht die Verletzung des Deutsch der Normalsprache, scheut aber auch nicht vor ihr zurück. Denn das Deutsche ist für Schadewaldt auch Potentialität, die sich unter dem Einfluß der Griechen auch anders verwirklichen läßt als bisher üblich. Man kann auch deutsch reden, wenn man von allem üblichen abweicht. Das meint Schadewaldt mit „dem Deutschen Abbruch tun“. Keineswegs ist gesucht eine Verletzung des „Wesens des Deutschen“, wohl aber das Treffen jener „feinen Mittellinie“, „wo das Deutsche noch deutsch und doch auch schon griechisch ist“.31 Ja, Schadewaldt will als deutscher Übersetzer in gewissem Sinne griechisch schreiben, weil er überzeugt ist, daß die Übersetzung, die keine ‚Kopie‘ und kein ‚Konterfei‘ des Originals ist,32 sondern etwas Anderes, Neues, das die ursprüngliche Sinngestalt in einer anderen Sprache neu verwirklicht, eben deswegen in die griechische Literatur gehört.33 Was man ihm zum Vorwurf gemacht hat, nämlich daß er nicht den Sophokles ins Deutsche, sondern das Deutsche in den Sophokles übertrage, akzeptiert Schadewaldt voll und ganz. Eben das will er: unsere Sprache in den Homer, in Pindar, in Sophokles hinübertragen. Was er sich davon verspricht. ist eine „totale Bereicherung des eigenen Daseins der Einzelnen wie der Gesellschaft durch die Dokumentation andersartigen menschli-

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HuH2 II, 687, 688. Artemis-Symposion, 24, vgl. HuH2 II, 657. HuH2 II, 617, 673. vgl. Artemis-Symposion, 36. HuH2 II, 620, vgl. Schadewaldt (Üb.): Griechisches Theater, 496.

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chen Daseins“, oder Bereicherung durch „einen ganz umfassenden Akt der Aneignung anderer menschlicher Daseinsarten für das eigene Dasein“.34 Ob man sich nun persönlich bereichen fühlt, wenn man Schadewaldts an der Grenze zwischen dem Deutschen und dem Griechischen angesiedelte Aneignung etwa der archaischen Existenzform in der Ilias oder der tragischen bei Sophokles auf sich wirken läßt, muß jeder und jede nach längerer Beschäftigung selbst entscheiden, Daß diese Übersetzungen jedenfalls die Möglichkeit dazu eröffnen, und wohl in höherem Maß als Übersetzungen des „transponierenden“ Typs, werden nur wenige bestreiten wollen – zu groß ist die Zahl der Leser und Leserinnen, die diese Bereicherung gerade durch Schadewaldts „deutsche“ Griechen für sich persönlich bezeugen können. 6.

Zum Abschluß will ich versuchen, an zwei Beispielen zu zeigen, wie sich die drei Forderungen des dokumentarischen Übersetzens im Einzelfall auswirken. Betrachen wir zunächst die zehn ersten Zeilen der Ilias im griechischen Original, danach in Schadewaldts Übersetzung, danach in den chronologisch angeordneten fünf hexametrischen Übersetzungen, auf die dann die Prosa-Übersetzung von G. Scheibner folgen soll. Beim anschließenden Versuch eines Vergleichs der sieben Fassungen wird Schadewaldts freier Vers zunächst den hexametrischen Wiedergaben gegenübergestellt und danach erst mit der für sich stehenden Prosa-Übersetzung Scheibners verglichen werden. Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληïάδεω Ἀχιλῆος οὐλομένην, ἥ μυρί’ Ἀχαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκε, πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄïδι προΐαψεν ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε πᾶσι, Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή, ἐξ οὗ δὴ τὰ πρῶτα διαστήτην ἐρίσαντε Ἀτρεΐδης τε ἄναξ ἀνδρῶν καὶ δῖος Ἀχιλλεὺς. Τίς τ᾿ ἄρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε μάχεσθαι; Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός· ὁ γὰρ βασιλῆϊ χολωθεὶς νοῦσον ἀνὰ στρατὸν ὦρσε κακήν, ὀλέκοντο δὲ λαοί Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus, Den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte 34 HuH2 II, 684; vgl, 656, 672.

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Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden Und den Vögeln zum Mahl, und es erfüllte sich des Zeus Ratschluß – Von da beginnend, wo sich zuerst im Streit entzweiten Der Atreus-Sohn, der Herr der Männer, und der göttliche Achilleus. Wer von den Göttern brachte sie aneinander, im Streit zu kämpfen? Der Sohn der Leto und des Zeus. Denn der, dem Könige zürnend, Erregte eine Krankheit im Heer, eine schlimme, und es starben die Völker, ... Wolfgang Schadewaldt 1975 Singe, o Göttin, den Groll des Peleïaden Achilleus, Wie unselig er schuf ein endlos Leid den Achaiern, Viel starkmütige Seelen der Helden zum Hades entsandte, Helden, die er nun ließ zum Raube liegen den Hunden Und den Geiern zum Fraß – so ward Zeus’ Wille vollendet – Seit dem Tage, da einst in streitendem Hader sich trennten Artreus’ Sohn, der Gebieter des Volks, und der hehre Achilleus. Wer denn nur unter den Göttern verhetzte die beiden zum Streite? Zeus’ und Letos Sohn. Denn, über den König erbittert, Sandte er greuliche Seuche ins Lager, nun starben die Mannen ... Thassilo von Scheffer 1913/1947 Sing, o Muse, den Zorn des Peleussohnes Achilleus, Unheilszorn, der Leiden, unzählige, schuf den Achaiern, Tapfere Seelen viel, gar viel dem Aïdes hinwarf, Heldenvolk, und ließ ihren Leib den Hunden zum Raube, Gab ihn den Vögeln zum Fraß; und ward Zeus’ Wille vollendet Seit dem Tag, da hadernd die zween voneinander getreten, Atreus’ Sohn, der Heger des Heers, und der starke Peleide. Welcher Unsterbliche brachte die zween mit Streit aneinander? Leto’s Sohn, der Sprosse des Zeus. Der zürnte dem König, Sandte die Sucht das Lager entlang: da starben die Völker. – ... Rudolf Alexander Schröder 1943 Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus, Der zum Verhängnis unendliche Leiden schuf den Achaiern Und die Seelen so vieler gewaltiger Helden zum Hades Sandte, aber sie selbst zum Raub den Hunden gewährte Und den Vögeln zum Fraß – so wurde der Wille Kronions Endlich erfüllt – , nachdem sich einmal im Zwiste geschieden

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Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks und der edle Achilleus. Wer von den Göttern reizte sie auf zu feindlichem Hader? Zeus’ und Letos Sohn. Denn dieser zürnte dem König, Sandte verderbliche Seuche durchs Heer, und es sanken die Völker, ... Hans Rupé 1948 Göttin, besinge die tödliche Wut des Peliden Achilleus, die den Achaiern tausendfältige Leiden bescherte, zahlreiche tapfere Heldenseelen zum Hades entsandte und die Leiber zur Beute den Hunden, zum Fraße den Vögeln vorwarf – derart mußte der Wille des Zeus sich erfüllen – , seit einmal der Atride, der oberste Feldherr des Heeres, sich überworfen hatte im Streit mit dem edlen Achilleus. Wer von den Göttern verfeindete sie? Der Sprößling der Leto und des Zeus. Er hegte Erbitterung gegen den König, ließ deshalb im Heere die Seuche wüten: die Männer starben – ... Dietrich Ebener 1976 Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus Unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß Der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden Und den Vögeln zum Fraß – Zeus’ Ratschluß ging in Erfüllung – , Seit die beiden zuerst sich in Streit und Hader entzweiten, Atreus’ Sohn, der Gebieter im Heer, und der edle Achilleus. Welcher der Götter brachte die beiden im Streit aneinander? Letos und Zeus’ Sohn; denn der, dem Könige zürnend, Ließ im Heer eine Seuche entstehn; es starben die Mannen, ... Roland Hampe 1979

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Den Zorn des Peliden Achilleus besinge, Göttin, den verfluchten Zorn! Er brachte den Achaiern eine Unzahl von Qualen, viele tapfere Heldenseelen warf er dem Hades vor, ihre Leiber machte er den Hunden zur Beute und den Raubvögeln zum Fraße; so erfüllte sich der Wille des Zeus. Beginne das Lied mit dem Ursprung des Zorns, als es im Streite erstmals zum Bruch kam zwischen dem Atriden, dem Feldherrn des Heeres, und dem göttlichen Achilleus! Wer von den Göttern hetzte die beiden im Streit aufeinander zum Kampfe? Der Sohn der Leto und des Zeus. Denn er grollte dem König Agamemnon und ließ eine schlimme Seuche auf das Heerlager los; da kamen die Männer um, ... Gerhard Scheibner 1972 μῆνις, der Zorn des Achilleus als der eigentliche Gegenstand der Ilias, ist im ersten Wort benannt. ‚Zorn‘ für μῆνις haben vier der Übersetzer (ohne Scheibner, der, wie angedeutet, getrennt behandelt werden wird), nur Thassilo von Scheffer hat das etwas poetischere ‚Groll‘, während Ebener das hier sicher unpassende Wort ‚Wut‘ wählte. Den Zorn aber auch wirklich wie Homer an die erste Stelle zu setzen, hat nur Schadewaldt gewagt – er vertauscht ungern und selten die Abfolge der Vorstellungen. θεὰ: die Göttin, die durch den Aoiden singen soll, wird zur „o Göttin“ und „o Muse“ bei Thassilo von Scheffer und Rudolf Alexander Schröder, wobei das undeutsche, aber typisch griechische „o“ beim Vokativ im Original gerade fehlt. Alle anderen haben „Göttin“, in der Mitte des Verses aber, wie Homer, wieder nur Schadewaldt. Πηληïάδεω Ἀχιλῆος: zwei Übersetzer (Thassilo von Scheffer, Hans Rupé) wagten es, die griechische Bezeichnung der Abstammung in der Form „des Peleïaden Achilleus“ dem deutschen Leser zuzumuten, was 1913 (Thassilo von Scheffer) vielleicht noch ging (während es später, bei Scheibner und Ebener, zu „des Peliden Achilleus“ vereinfacht wurde). Doch schon Rudolf Alexander Schröder schrieb „des Peleussohnes Achilleus“, gefolgt von Hampe. Schadewaldt aber macht eine winzige Änderung: „des PeleusSohns Achilleus“ – so ist im ersten Vers programmatisch das hexametrische Ende vermieden (obwohl auch Schadewaldt etwa in Vers 9 schreiben kann „dem Könige zürnend“, wo auch die nicht-daktylische Form „dem König zürnend“ möglich gewesen wäre). Weiter mit dem Namen des Haupthelden: καὶ δῖος Ἀχιλλεὺς am Versende (7) wird zu „der hehre Achilleus“ (Thassilo von Scheffer) und „der edle Achilleus“ (Rupé und Hampe, ähnlich Ebener), was beides angeht, wäh-

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rend Rudolf Alexander Schröders „der starke Peleide“ unnötigerweise doppelt vom Griechischen abweicht. Aber alle fünf wahren den Klauselrhythmus – ◡ ◡ – –. Schadewaldt opfert den hexametrischen Klang der wörtlichen Übersetzung „der göttliche Achilleus“. πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄïδι προΐαψεν ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε δαῖτα – alle sieben Übersetzungen gehen von Zenodotos' Text δαῖτα aus, bei sechsen wird daraus „zum Fraß(e)“. Aber δαῖς ist auch das ‚Mahl‘ der Menschen – nur Schadewaldt vermeidet die pseudopoetische Verstärkung, die in ‚Fraß‘ statt ‚Mahl‘ liegt. Und was wird ‚gefressen‘? Nach Rudolf Alexander Schröder der ‚Leib‘ des ‚Heldenvolkes‘, was wieder ein sehr selbständiges „Bedichten“ (Schadewaldt) des alten Dichters ist. Wohl nach Schröder schrieben Scheibner und Ebener ‚Leiber‘. Die anderen haben richtig „sie selbst“, also die Helden als Mahlzeit der Hunde und Vögel. Der Gegenbegriff zu αὐτοὺς, die ἰφθίμοι ψυχαί sind „starkmütige Seelen“ (Thassilo von Scheffer), „tapfere Seelen“ (Rudolf Alexander Schröder, nach ihm wieder Scheibner und Ebener „tapfere Heldenseelen“) oder gar „stattliche Seelen“ (Hampe), während Hans Rupé ἰφθίμους per Übersetzungsenallage zu den „gewaltigen Helden“ zieht. Einfacher und Homer näher als all das ist Schadewaldts unprätentiöses „viele kraftvolle Seelen“. ᾽Εξ οὗ δὴ (Vers 6) – „von da beginnend“ übersetzt Schadewaldt, was eine Interpretation darstellt, aber eine zweifellos richtige, und sogar nötige. weil ohne sie die Beziehung zu ἄειδε (Vers 1) nicht mehr spürbar ist. Und eben dies ist meines Erachtens allen anderen Übersetzungen passiert, denn wer verbindet schon „Seit dem Tag(e)“ oder „Seit die beiden“ (Hampe) oder „seit einmal“ (Ebener) mit „Singe, Göttin“? Dieser einzige Verstoß Schadewaldts in diesen zehn Versen gegen sein Prinzip, nichts hinzuzufügen, scheint also wohlüberlegt zu sein. Die Duale in διαστήτην ἐρίσαντε und σφωε gab Rudolf Alexander Schröder durch „die zween“ wieder, was im Deutschen aber nicht rezipiert ist, allenfalls in norddeutschen Dialekten. Hampe schreibt „die beiden“, was eine gute Lösung ist, während alle anderen, auch Schadewaldt, auf die Wiedergabe der Duale verzichten. νοῦσον ἀνὰ στρατὸν ὦρσε κακήν, ὀλέκοντο δὲ λαοί (Vers 10): die ‚Mannen‘, die da starben bei Thassilo von Scheffer und wieder bei Hampe, sind zwar die richtigere Übersetzung gegenüber ‚Völker‘, das Schröder, Rupé und Schadewaldt haben, aber für heutiges Deutsch allzu offensichtlich archaisierend. Es ist mir unklar, warum Schadewaldt nicht (wie Scheibner und Ebener) einfach ‚Männer‘ schrieb (denn der ἄναξ ἀνδρῶν (7) meint ja

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klarerweise dasselbe wie der sprichwörtliche ποιμὴν λαῶν). – Was machte Apollon in seinem Zorn gegen Agamemnon? „Sandte er greuliche Seuche ins Lager“ (Thassilo von Scheffer), „Sandte verderbliche Seuche durchs Heer“ (Hans Rupé). Eine „Seuche“ ist es auch bei Hampe, Apollon „läßt“ sie – etwas verwaschen – „entstehen“, bei Ebener läßt er sie pseudopoetisch „wüten“. Farbig aber ganz abwegig Rudolf Alexander Schröders „sandte die Sucht das Lager entlang“. „Sucht“ war immer schon ungenau und ist heute vollends mit anderen Assoziationen belastet. Aber ist die „Seuche“ der anderen Übersetzer viel besser? Es muß halt ‚poetisch‘ hergehen beim Homer, und dafür ist „Seuche“ wie es scheint besser geeignet. Aber die Sprache des Epos kennt auch den λοιμός (noch im 1. Buch: Vers 61, 97), und wenn dieses Wort die Seuche bezeichnet, dann ist es nachgerade falsch, hier für νοῦσον „Seuche“ zu übersetzen: die schlimme Krankheit, νοῦσον κακήν, wird erst später als λοιμός spezifiziert. Auch „erregte“ für ὦρσε ist prägnanter als „sandte“, so daß insgesamt Schadewaldts Vers 10 (bis auf die „Völker“) den anderen Übersetzungen doch wohl vorzuziehen ist wegen seiner Prägnanz und Textnähe. Nun noch ein Wort zu Scheibners Prosa-Übersetzung. „Den Zorn des Peliden Achilleus besinge, Göttin, den verfluchten Zorn!“, lautet der Anfang. Der Prosaübersetzer muß sich eben nicht an die Abfolge der Vorstellungen halten, er kann den ‚Zorn‘, den er richtig als erstes Wort setzt, sofort mit seinem Subjekt Achilleus verbinden. Das von Homer in den nächsten Vers hinübergezogene schwerwiegende Beiwort οὐλομένην mochte Scheibner offenbar nicht alleine stehen lassen – das hätte wohl irgendwie unprosaisch, ‚poetisch‘, geklungen – daher ist der ‚Zorn‘ noch einmal gesetzt und rahmt so den ersten Satz. Ausdrucksstark ist das, es führt aber auch weit weg von der Syntax des Originals. Und ein drittes Mal bemüht Scheibner den von Homer nur einmal benannten ‚Zorn‘: „Beginne das Lied mit dem Ursprung des Zorns“ (Vers 6). Der Sinn von ἐξ οὗ δὴ τὰ πρῶτα ist damit genau getroffen, doch der deutsche Text gerät so mehr zu einer kommentierenden Paraphrase als zu einer wirklichen Übersetzung. Die schwer erkennbare Anknüpfung an ἄειδε hatte Schadewaldt mit sparsameren Mitteln erreicht. Was die Wortwahl Scheibners betrifft, so sind einzelne Übereinstimmungen mit den hexametrischen Übersetzungen schon erwähnt worden. Wendungen, die ihm eigen sind und bei anderen Übersetzern kaum denkbar wären, sind „eine Unzahl von Qualen“ (V. 2), „als es im Streite zum Bruch kam“ (V. 6, für διαστήτην ἐρίσαντε), „hetzte ... aufeinander“ (V. 8) oder „er ... ließ eine schlimme Seuche auf das Heerlager los“ (V. 10). Man kann nicht gut am Prosaischen dieser Wendungen Anstoß nehmen, denn eine Prosa-Übersetzung war ja gewollt. Aber vielleicht darf man doch fra-

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gen, ob sie nicht zu prosaisch sind. Die Prosa als solche zwingt doch keinen Übersetzer, eine Seuche „loszulassen“. Der Vergleich mit Scheibner läßt uns die übersetzerische Weisheit und den sprachlichen Takt Schadewaldts erkennen: die Odyssee, die so randvoll ist mit Unheroischem und ‚Biotischem‘, übertrug er in deutsche Prosa (ohne freilich jemals etwa eine Seuche „loszulassen“), für die strengere und härtere Ilias aber wählte er mit gutem Grund eine andere Weise der Übertragung. Wo zeigt sich also in den ersten zehn Versen der Ilias die Befolgung der drei Forderungen des dokumentarischen Übersetzens durch Schadewaldt? 1. ‚Nichts weglassen, nichts hinzufügen‘: Hinzugefügt hat Schadewaldt das Wort „beginnend“ in Vers 7, wohl im Interesse der Klarheit. Er vermied aber Dinge wie „mir nun“ (Vers 1, Hampe) oder „im Streit und Hader entzweiten“ (Vers 6, Hampe). Er vermied es auch, das δὲ in Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή zu verschlucken, wodurch bei Hampe ein Asyndeton in Parenthese, also eine dem Original nicht entsprechende Syntax entsteht. Hampe hatte in seinem Nachwort (S. 565) gegen Schadewaldt stolz verkündet, er kenne das nicht, daß der deutsche Hexameter schneller fertig sei, er habe nirgends strecken müssen – schon seine ersten Verse zeigen, daß er den Mund zu voll genommen hat. 2. ‚Die Bilder und Vorstellungen des Originals nicht übermalen‘: also keine ‚greuliche Seuche‘ bei Schadewaldt, sondern ‚nur‘ die ‚schlimme Krankheit‘, keine ‚starkmütigen‘ oder ‚tapferen‘ oder ‚stattlichen‘ Seelen, wo doch Homer von kraftvollen Seelen spricht. Die Krankheit wird ‚erregt‘, statt ‚gesandt‘ (geschweige denn ‚losgelassen‘). Wir dürfen auch dankbar sein, daß es keinen „streitenden Hader“ mehr gibt, keinen „feindlichen Hader“, keinen „Streit und Hader“, und vor allem keinen „Fraß“ mehr. 3. ‚Die Abfolge der Vorstellungen wahren‘: von dieser Forderung wird ganz leicht abgewichen in Vers 5, 9 und 10 – aber stets um die Lesbarkeit bzw. ein vertretbares Deutsch zu erhalten (die ‚Krankheit‘ etwa an den Anfang des Verses zu stellen, würde ihn nicht mehr deutsch klingen lassen). Ansonsten ist die griechische Wortfolge erstaunlich genau befolgt, und stets zum Vorteil des Verses. Schadewaldt hatte mit einem provokativen Oxymoron verkündet, er wolle eine „poetische Interlinearversion“ schaffen. Wie kann man bei hoher Dichtung etwas so Banales wie eine Interlinearversion anbieten wollen? Doch genau die hat Schadewaldt gewagt, und dennoch kommt bei ihm die nüchterne Klarheit, die plastische Kraft und der hohe Ernst der homerischen Dichtung besser zum Ausdruck als bei Übersetzern, die höhere Ambitionen verfolgten als die, eine Interlinearversion zu liefern.

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Als zweites Beispiel sei Sophokles OK 668–680 gewählt. εὐίππου, ξένε, τᾶσδε χώρας ἵκου τὰ κράτιστα γᾶς ἔπαυλα, τὸν ἀργῆτα Κολωνόν, ἔνθ᾽ ἁ λίγεια μινύρεται θαμίζουσα μάλιστ᾽ ἀηδὼν χλωραῖς ὑπὸ βάσσαις, τὸν οἰνωπὸν ἔχουσα κισσὸν καὶ τὰν ἄβατον θεοῦ φυλλάδα μυριόκαρπον ἀνάλιον ἀνήνεμόν τε πάντων χειμώνων· ἵν᾽ ὁ βακχιώτας ἀεὶ Διόνυσος ἐμβατεύει θείαις ἀμφιπολῶν τιθήναις. Zu dieses rosseguten Landes, Fremder, Herrlichstem Platz auf Erden Bist du gekommen: Zum schimmernden Kolonos, wo Am häufigsten verweilend Die hellstimmige Nachtigall schluchzt In grünenden Tälern Und den weinfarbenen Efeu bewohnt Und das unzugängliche, des Gottes Laub Mit tausendfaltigen Früchten, Geschützt vor der Sonne, geschützt vor dem Wehn Aller Stürme, dort wo der trunkene immer, Dionysos, einhergeht, Schwärmend mit seinen Göttlichen Ammen. Wolfgang Schadewaldt 1968 (1996) Zu pferdereichen Landes Gehöft, Dem trefflichen, bist du kommen, auf Kolonos’ weiße Erde, da Mit hellen Tönen je und je Die Nachtigall schluchzt, verborgen tief Im grünen Tal, und gerne bewohnt Weindunklen Efeu und, entrückt, Des Gottes lichtlos Blätterwek,

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Das hüllet tausendfältige Frucht, Von allen Winden beschützt, wo im Geleit der Göttlichen, die ihn einst Gesäugt, Dionysos immerdar Mit seinen Scharen schwärmet. Emil Staiger 1944 Rossetummelnden Lands Lieblichste Hütten, Kolonos’ schimmernde Hügel, Nahmen, Fremder, dich auf. Nachtigall liebt dieses Tals Dunkelschattend Gebüsch, Singt die klagenden Lieder, Unter dem Weinlaub des Efeus versteckt, Im strenge verwehrten Hochheiligen Garten, Wo im ewigen Schatten, Im Frieden der Lüfte, Tausend Früchte gedeihen. Dionysos der Tänzer Kommt selbst mit dem Chor der Göttlichen Ammen. Ernst Buschor 1959 Freund, zur prangensten Siedlung hier dieses Landes der schönen Pferde kamst du: Zum kalkhellen Kolonos, wo schluchze und flötet die Nachtigall, wo allzeit sie am liebsten weilt, in der grünenden Waldschlucht, im weinfarbenen Efeu wohnt, im unnahbaren Gotteshain, der in der Fülle des Laubs und der Früchte doch vor Sonnenglut und Stürmen bleibt geschützt, wo der immerdar freudetrunkne Dionysos einherzieht, mit den göttlichen Mägden schwärmend. Wilhelm Willige 1966

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Die äolischen Maße dieser ersten Strophe des ersten Stasimons des Oidipus bei Kolonos auch im deutschen Text beizubehalten versuchte nur Willige. Staiger behielt wenigstens die Zahl der Verse bei, während Schadewaldt und Buschor sie von 13 auf 15 bzw. 16 vermehrten. Dagegen ist nichts einzuwenden – wenn der ursprüngliche Rhythmus geopfert wird, kann auch der Umfang der neuen rhythmischen Einheiten neu bestimmt werden und somit die Zahl der Verse vom Original abweichen. Der griechische Text bietet zwei scheinbare Redundanzen: in 668/9 ist es beim ersten Lesen nicht leicht zu erkennen, wie sich τᾶσδε χώρας und γᾶς zueinander verhalten, und in 679/80 scheinen ἐμβατεύει und ἀμφιπολῶν mehr oder weniger für dieselbe Vorstellung zu stehen. Die Schwierigkeit zu Beginn der Strophe hat nur Schadewaldt gemeistert (die anderen Übersetzer geben nur χώρας wieder und lassen γᾶς fallen),35 die geringere Schwierigkeit am Ende auch Willige. Gegen die von Sophokles gewählte Abfolge der Vorstellungen konnte man bei der reihenden Schilderung der numinosen Landschaft und Vegetation von Kolonos nicht leicht verstoßen, aber da, wo es doch möglich war, nämlich am Anfang, gelang es zwei Übersetzern: der angeredete „Fremde“ (ξένε, 668), also die Hauptfigur Oidipus, steht bei Buschor hinter ‚Kolonos‘ (670), bei Willige hingegen als „Freund“ (φίλε würde der Chor zu Oidipus wohl nicht sagen) an erster Stelle, während Staiger die Anrede überhaupt unterschlägt. Nur Schadewaldt hat den „Fremden“ wie Sophokles als zweite Vorstellung hinter dem „rosseguten Land“ (wobei die im Griechischen problemlose Trennung von εὐίππου τᾶσδε χώρας durch ξένε im Deutschen nicht nachzubilden war). Die kühnsten Abweichungen von der Vorstellungswelt des sophokleischen Liedes finden sich bei Buschor. Gewiß „klagt“ oder „schluchzt“ (Staiger, Schadewaldt) die Nachtigall im Griechischen (μινύρεται, 671), aber sie „singt“ nicht „die klagenden Lieder“. Der ständige Aufenthalt der Nachtigall in den grünen Tälern von Kolonos wird zur ‚Liebe‘ des Vogels zum ‚dunkelschattenden Gebüsch‘ ‚dieses Tals‘, der schwärmende Dionysos wird zum ‚Tänzer‘ (678f.), der ‚selbst mit dem Chor der Ammen‘ kommt – weder ‚selbst‘ noch der ‚Chor‘ stehen im Text. Der ‚strenge verwehrte hochheilige Garten‘ ist eine eher irreführende Überinterpretation von ἄβατον θεοῦ φυλλάδα (675f.), ebenso der ‚ewige Schatten‘ und der ‚Frieden der Lüfte‘ für ἀνάλιον und ἀνήνεμόν. Hier wird der griechische

35 Wenn Staigers „Kolonos’ weiße Erde“ (670) vom Wort γᾶς in 669 inspiriert sein sollte, so wäre das eine befremdliche Verkennung der Syntax dieser Strophe.

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Tragiker großzügig „bedichtet“, ohne daß dabei Lyrik von eigenem ästhetischem Reiz entstünde. Durch mangelnden Respekt vor der Sprache des Originals kann man große Dichtung nicht ‚verbessern‘. Weit seriöser wirkt Staigers Verdeutschung. Doch ist die schon erwähnte Weglassung der Anrede des Fremden ebenso unnötig und unverständlich wie die paraphrasierende Erklärung der „göttlichen Ammen“ (680) durch „der Göttlichen, die ihn einst gesäugt“ und die unmotivierte Umstellung am Strophenende. „Verborgen tief im grünen Tal“ ist ebenfalls eine doch wohl unnötige Verdeutlichung von χλωραῖς ὑπὸ βάσσαις (673). Weit störender aber sind die gutgemeinten pseudopoetischen Formen „bist du kommen“, „je und je“, „hüllet“, „immerdar“ und „schwärmet“. Williges ‚metrisch getreue‘ Umsetzung ist nicht direkt vergleichbar mit den anderen (ähnlich, in dieser einen Hinsicht, der Prosa-Übersetzung der Ilias durch Scheibner). Das Ziel, deutsche äolische Rhythmen zu schreiben, die gut verständlich und irgendwie auch gefällig sind, ist nicht schlecht verwirklicht. Der Preis, der dafür zu zahlen wat, ist indes ziemlich hoch. Der „unnahbare Gotteshain“ (675) trifft nicht das hier Gemeinte, während „schluchzt und flötet die Nachtigall“ (671) und „der immerdar freudetrunkne Dionysos“ (679) etwas viel ‚poetische‘ Farbe auflegen – wobei die Form „freudetrunkne“ statt „freudetrunkene“ noch hinzunehmen wäre, nicht aber das metrisch erzwungene Dionysos mit langer zweiter Silbe. Die ‚metrische Treue‘ kommt so an ihre Grenzen. Wie bei Scheibner ist auch hier zu fragen, ob die auf den ersten Blick sehr einleuchtende Zielsetzung wirklich sinnvoll ist. Ich bin mir bewußt, daß die Analyse von 10 Versen Homer und 12 Versen Sophokles keine hinreichende Grundlage für ein abschließendes Urteil bilden können. Ich wage es trotzdem, meine Beobachtungen und Wertungen mitzuteilen, da die zwei mitgeteilten Proben stellvertretend für zahlreiche andere stehen, die ich durchgeführt habe, und da ich überzeugt bin, daß Leser von ganz unterschiedlicher ästhetischer Orientierung gleichwohl meistenteils zu ähnlichen Ergebnissen kommen werden, sofern sie nur gewillt sind, sich dem Kosmos der Vorstellungen, der in der großen Dichtung der Griechen für uns aufbewahrt ist, anzuvertrauen. Schadewaldt hat nicht nur als Theoretiker des Übersetzens die ältere Reflexion seit der Goethezeit über diese für jede Kulturnation zentral wichtige geistig-künstlerische Leistung auf den Punkt gebracht. Er hat auch den Mut und vor allem das sprachliche Vermögen besessen, die Prinzipien des dokumentarischen Übersetzens in großem Stil zu verwirklichen. Er hat damit der deutschen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts einen Dienst erwiesen, der seine übrigen – wahrhaft nicht geringen – Leistungen noch übertrifft.

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8. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik (1983)

Non deesse artes, quibus hunc etiam disputandi ordinem vel laudes vel defendas, probe scio. H. Bonitz über Alpha elatton Der kurze Text, der unter dem Namen ‚kleineres Erstes Buch’ (der Metaphysik) überliefert ist, der jedoch in der Antike nicht immer als ‚Buch‘ gezählt wurde,1 stellt im wesentlichen vier Probleme: umstritten sind die Echtheit, die Datierung, die Einheit und die Einordnung in die Metaphysik (bzw. die Zugehörigkeit zu ihr). Diese Fragen sind für den Interpreten von ungleicher Dringlichkeit. Die Echtheit wurde zwar schon im Altertum bestritten, wie man aus dem Umstand schließen kann, daß Alexander und Asklepios ihre Ausführungen damit beginnen, die Autorschaft des Aristoteles zu betonen.2 In der neueren Kritik nährten sich die Zweifel vor allem aus der Angabe in einem Scholion, Pasikles von Rhodos habe das Buch verfaßt.3 Doch neigte man seit Ravaisson und Jaeger4 dazu, diese Nachricht abzuschwächen zu einem Hinweis auf den Übermittler des Textes; die Authentizität zumindest des Inhalts wird nur noch gelegentlich angezweifelt. In Fragen der Datierung 1 Asklepios: In Aristotelis Metaphysicorum libros A–Z (CAG VI 2), 4, 17–22. 2 Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria (CAG 1), 137, 2–3. Asklepios: In Aristotelis Metaphysicorum, 113, 5–8. – Zur Diskussion um die Echtheit im Altertum s. Paul Moraux: La critique d’authenticité chez les commentateurs grecs d’Aristote. In: Melanges Mansel. Ankara 1974, 265–288 (zu Alpha elatton 283– 285). 3 Schol. cod. E. (Parisinus gr. 1853): τοῦτο τὸ βιβλίον οἱ πλείους φασὶν εἶναι Πασικλέους τοῦ ῾Ροδίου, ὃς ἦν ἀκροατὴς ᾽Αριστοτέλους, υἱὸς δὲ Βοηθοῦ τοῦ Εὐδήμου ἀδελφοῦ. Zu Überlieferung und Aussagewert des Scholions vgl. jetzt den Beitrag von G. Vuillemin-Diem, oben S. 157ff. in diesem Band [sc. Moraux– Wiesner (Hrsgg.), Zweifelhaftes im Corpus Aristotelicum, 1983]; dort S. 164 die Datierung derjenigen Fassung der Nachricht, die hinsichtlich der Zuweisung von Alpha elatton an Pasikles eindeutig ist, ins 13. Jh. 4 Jean Gaspard Félix L. Ravaisson: Essai sur la Métaphysique d’Aristote, Bd. I. Paris 1837, 78f. Werner Wilhelm Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. Berlin 1912, 116.

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wird heute niemand mehr dogmatisch sein wollen; doch ist es nicht unwahrscheinlich, daß die von P. Wilpert5 u. a. vorgeschlagene Frühdatierung auf einen verhältnismäßig breiten consensus treffen wird. Die anderen beiden Fragen sind nicht von der Art, daß man einen consensus erwarten könnte. Ob man in der Überlieferung vorgegebene Einheiten (die Einheit des zweiten ‚Ersten Buches‘ und die Einheit der Einleitungsbücher insgesamt) auch als gedankliche Einheiten anzuerkennen bereit ist, hängt offenbar nicht allein von der inhaltlichen Analyse ab, sondern ebenso vom Vertrauen des Interpreten in die Überlieferung, von seinem Verlangen nach bzw. seiner Skepsis gegen Systemeinheit, von seinem Stilempfinden, von seiner Gewöhnung an vergleichendes Lesen, und wenn diese gegeben ist, von seiner Einschätzung anderer Einheiten, die zum Vergleich herangezogen werden könnten. Fast gewinnt man aus der vorliegenden Literatur den Eindruck, die Entscheidung in solchen Fragen sei eher Sache der Temperamente als der Argumente. Wenn aber Argumente im Vordergrund stehen sollen, so sollte wenigstens so viel anerkannt sein, daß das Kriterium für die Beurteilung von Einheit oder Zusammenhangslosigkeit nicht das Mögliche und Denkbare, sondern das wirklich Ausgesprochene und Belegbare sein müssen. Oft ist es nicht schwer, einen gedanklichen Zusammenhang dort zu konstruieren, wo andere nur unverbundene Bruchstücke sehen; nur genügt es in einem solchen Fall nicht, zu versichern, anders Urteilende hätten den Zusammenhang ‚nicht verstanden‘. Vielmehr muß man sich auch die Frage gefallen lassen, wieviel zu ergänzen (oder zu überspringen) war, um die gesuchte Einheit zu erzielen, ferner ob diese dem literarischen Charakter der verknüpften Stücke gerecht wird und ob sie alle Einzelheiten des Textes zu erklären vermag. Daher wird es im Folgenden hauptsächlich darum gehen, welche Art (oder welche Arten) von philosophischem Text im kleineren Ersten Buch vorliegt (oder vorliegen). Von hier aus ergeben sich unmittelbar Folgerungen für die Einordnung in die Abfolge der Einleitungsbücher, nebenbei auch einige Gesichtspunkte für die Datierung und die Echtheit. Das Wort von Hermann Bonitz, das als Motto vorangestellt wurde, soll keineswegs eine Vorentscheidung für eine ‚analytische‘ Position suggerieren, sondern lediglich daran erinnern, daß der Nachweis der bloßen Möglichkeit gewisser Verknüpfungen nicht unmittelbar identisch sein kann mit ihrer Anerkennung als das von Aristoteles wirklich Intendierte. Zwischen beide

5 Paul Wilpert: Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff. In: Philosophisches Jahrbuch 53 (1940), 3–16, hier: 5.

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Schritte muß vielmehr eine Phase des kritischen Abwägens treten. Angesichts einiger neuerer Behandlungen unseres Problems scheint eine solche Erinnerung nicht überflüssig. Was stellt also Alpha elatton dar? „Daß es ein προοίμιον, ist klar“ schrieb Werner Jaeger im Jahr 1912.6 Aber ist es für das ganze ‚Buch‘ gleichermaßen klar? A. Lasson hatte wenige Jahre zuvor Ernst gemacht mit dem Prooimion-Charakter des Buches und es in seiner Übersetzung (Jena 1907) als ‚Vorbemerkung‘ vor Buch A abgedruckt. Jaeger beanstandete nur, daß es als Vorbemerkung zur Metaphysik gelten sollte, während er selbst an ein Prooimion zur Physik dachte. Aus dem Experiment von Lasson wäre aber zunächst etwas anderes zu lernen gewesen: daß das voraussetzungsreiche zweite Kapitel (das die Endlichkeit der Ursachenarten und der Ursachenketten in den einzelnen Ursachenarten beweist, hierbei aber die aristotelische Lehre von den vier Ursachen selbst als bekannt betrachtet) die Funktion eines Prooimions, den Leser möglichst voraussetzungsfrei zum Thema hinzuführen, schon auf der zweiten Seite der ‚Vorbemerkung‘ empfindlich stört. Neben der Auffassung als Prooimion, die schon auf die Antike zurückgeht,7 steht die gleichfalls schon von den alten Kommentatoren vertretene Ansicht, das kleine Alpha sei ein Nachtrag, eine Ergänzung oder gar eine direkte Fortführung von Buch A.8 Die Befürworter machen sich selten klar, daß diese Ansicht mit dem Prooimion-Charakter, den sie gewöhnlich nicht in Abrede stellen, streng genommen nicht vereinbar ist: denn wenn A mit seiner überdurchschnittlichen Länge und seinen z. T. sehr anspruchsvollen Argumentationen selbst nicht lediglich als προοίμιον zu wer-

6 Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 117. 7 Prooimion zur Physik: Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 137, 13. Schol. 589 b 1 Brandis; Prolegomena zur theoretischen Philosophie allgemein: Alexander 138, 8. – Auch die Stellung von Alpha elatton vor Alpha meizon wurde nicht von Lasson als erstem erwogen, s. Schol. 589 b 6–7 Brandis. – Eine materialreiche und gründliche Aufzählung der Ansichten über Alpha elatton von Alexander bis Tricot gab William Humbert Crilly: The Role of Alpha Minor in Aristotle’s Metaphysics. A Study in Aristotelian Methodology, Diss. Fribourg 1962, 6–27. 8 ‚Nachtrag’, ἔλλειμμα Schol. 589 b 12 Brandis; Ergänzung: u. a. Aristote: La Métaphysique. Nouvelle Edition entièrement refondue, avec commentaire par Jules Tricot. Paris 1974, I p. XXI. Giovanni Reale: Il concetto di filosofia prima e l’unitä della Metafisica di Aristotele. Milano 31967, 51. Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz neu bearb., mit Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl. 2 Bde. Hamburg 1978/1980, Bd. I, 306. Geradlinige Fortführung: Crilly: The Role of Alpha Minor, 69.

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ten ist (vielmehr als ‚Einleitungsbuch‘ mit einem eigenen, klar abgesetzten προοίμιον: A 1–2),9 so kann auch dessen Ergänzung oder Fortführung nicht seinerseits wieder bloß Eröffnung sein. Es kommt hinzu, daß die ergänzende Funktion von Alpha elatton vor allem aus dem zweiten Kapitel abgeleitet wird, das inhaltlich zu A 3ff., also nicht zum Prooimion, sondern zum Hauptteil von A in Beziehung steht. Beide Ansätze legen es mithin nahe, den Einleitungscharakter unseres Textes nicht pauschal hinzunehmen, sondern wenn möglich präziser zu bestimmen, unter Berücksichtigung der Eigenheiten der drei Kapitel und ihrer Beziehungen zu Buch A einerseits und zu anderen aristotelischen Einleitungsstücken andererseits. 1.

Im ersten Kapitel wird dargelegt, daß ‚die Betrachtung der Wahrheit‘ in einer Hinsicht schwer, in einer anderen leicht ist. Schwer, weil niemand sie angemessen treffen kann, leicht, weil niemand sie ganz verfehlen kann; vielmehr sagt jeder etwas ‚über die Natur‘ (der Dinge), und mag das auch je für sich unbedeutend sein, zusammen ergibt sich doch eine nennenswerte Summe. Leicht ist die Wahrheit im Ganzen zu treffen, schwer das Detail (993 a30–b7). Die Schwierigkeit liegt nicht in den Sachen, sondern bei uns: die Vernunft unserer Seele verhält sich zu den Dingen, die ihrer Natur nach die offenbarsten sind, wie die Augen der Fledermaus zum Tageslicht (b7–11). Dank schulden wir nicht nur denjenigen, deren Ansichten wir teilen können, sondern auch den Oberflächlicheren: sie schulten die Fähigkeiten und schufen so eine notwendige Voraussetzung für die Einsichten ihrer Nachfolger (b11–19). Die Bezeichnung der Philosophie als ‚Wissenschaft der Wahrheit‘ hat ihre Richtigkeit. Denn der Zweck des theoretischen Wissens ist die Wahrheit, des praktischen das Werk – die Praktiker untersuchen die Ursachen nicht an sich, sondern nur im Hinblick auf etwas (ihr Ziel) (b19–23). Die Wahrheit kennen wir aber nicht ohne die Ursache. Es hat aber immer dasjenige eine Eigenschaft in höchstem Maße, durch das auch den anderen Dingen diese nämliche Eigenschaft zukommt (so ist Feuer das Wärmste, denn dieses ist auch für ande-

9 Es soll uns hierbei nicht stören, daß Aristoteles selbst das Vorangehende in B 1, 995 b5 als τὰ πεφροιμιασμένα bezeichnet. προοίμιον kann natürlich in einem engeren oder einem weiteren Sinn verwendet werden. Im weiteren Sinn wäre selbst das ganze B zur Hinführung zu zählen; aber ein Text von insgesamt 60 Druckseiten (A, α, B) ist nicht das, was die Griechen gewöhnlich unter Prooimion verstanden – wir gehen hier also von der engeren Bedeutung aus.

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res Grund ihres Warmseins), so daß auch das, was für Späteres Grund des Wahrseins ist, selbst das Wahrste ist. Daher müssen die Prinzipien der Dinge, die immer sind, die wahrsten sein; denn sie sind nicht bald wahr (bald unwahr), und sie haben keine Ursache ihres Seins, sondern sind selbst Ursache für die anderen Dinge. So daß sich jedes Ding, wie es sich hinsichtlich des Seins verhält, so auch hinsichtlich der Wahrheit verhält (b23–31). Das erste, was an diesem Text auffällt, ist eine gewisse Unbestimmtheit. Es geht um das ‚Wissen der Wahrheit‘ – allgemeiner kann man das Erkenntnisziel des Menschen nicht umschreiben. Es geht um Schwierigkeit oder Leichtigkeit solcher Forschung, und die Frage wird zunächst beantwortet durch Hinweis auf den Unterschied von pauschaler und detaillierter Kenntnis – viel klüger wird man dadurch nicht. Vorgänger in der Wahrheitsforschung werden erwähnt, aber nur nach ‚Oberflächlicheren‘ und Besseren differenziert; das Gemeinte wird veranschaulicht, aber nicht durch ein Beispiel aus der Geschichte der σοφία, sondern aus der Geschichte der Musik, von der wohl jeder Gebildete eine gewisse Kenntnis hatte. Die summierten Anstrengungen der Oberflächlichen und der Besseren führen zu ‚einem gewissen Quantum (an Wahrheit)‘ – worin das bestehen könnte, wird nicht einmal angedeutet. Die Theoretiker werden von den ‚Praktikern‘ (b23) abgehoben, aber welche Typen von Wissen damit konkret ausgeschlossen sein sollen, wird durch kein Beispiel erläutert. Es ist offensichtlich, daß der Text ‚ganz von vorne‘ beginnen möchte. Die Wirkung der (vorläufigen) Unverbindlichkeit und Allgemeinheit wird erzielt durch Verwendung einer Anzahl von Gedanken und Gesichtspunkten, die uns auch aus anderen aristotelischen Texten als typische Einleitungstopoi bekannt sind: 1. Die Erkenntnis der Wahrheit ist schwer. Als Ausgangspunkt eignet sich diese Feststellung, weil sie Teil der gängigen Anschauungen über σοφία ist. Nach der Darstellung von A 2 (982 a8ff.) ist es das zweite Merkmal des σοφός (nach seiner Fähigkeit, in gewissem Sinne alles zu erkennen), daß er das schwer zu Erkennende erkennt (b10); das Schwerste aber sind die allgemeinsten Begriffe (b24). – Der Topos eignet sich auch für die Empfehlung spezieller Zweige des Wissens; so heißt es in der Einleitung zu De anima, gleich nach der Hervorhebung des hohen Ranges des Wissens von der Seele auf Grund seiner Genauigkeit und der Würde des Gegenstandes, daß solches Wissen zum Schwierigsten gehöre (I 1, 402 a11).10

10 Vgl. EE I 5, 1215 b15: es ist nicht leicht zu sagen, was im Leben erstrebenswert ist (um diese Frage bemüht sich die Ethik).

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In α 1 ist freilich nicht nur von der Schwierigkeit der Wahrheitsforschung die Rede. Sie soll auch in gewisser Hinsicht leicht sein. Ein seltsamer Gedanke. Er wäre schlecht geeignet, einen, der schon für die Philosophie gewonnen wäre, zu hohen Leistungen anzuspornen. Aber einen, der noch schwankt, könnte man mit diesem Gedanken zur Philosophie ‚hinwenden‘. In der Tat ist sonst nur in den Fragmenten des Protreptikos von der ‚Leichtigkeit‘ der Philosophie die Rede. Sie wird dort allerdings aus anderen Überlegungen gefolgert, nämlich erstens aus dem Umstand, daß die Philosophie in kurzer Zeit die anderen ‚Künste‘ überholt hat, sodann aus dem Eifer der Philosophierenden, der auf die Annehmlichkeit dieser Betätigung schließen läßt, was wiederum ihre Leichtigkeit voraussetzt, und drittens daraus, daß das Philosophieren keinerlei besondere Vorrichtungen nötig hat. „So ist also gezeigt worden, daß die Philosophie möglich und daß sie das größte der Güter und leicht zu erwerben ist, so daß es sich all dieser Gründe wegen lohnt, sie begierig in Angriff zu nehmen11“. Ob im Protreptikos auch von der Schwierigkeit der Philosophie die Rede war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Zwar begegnen χαλεπότης und χαλεπόν wie im kleineren Alpha so auch in Iamblichos’ Protreptikos: die Schwierigkeit des Erwerbs ist geringer als die Größe des Nutzens (= Ar. Protr. fr. 5 b, p. 32, 9–10 Ross); und die Schwierigkeit liegt lediglich an dem für die Seele widernatürlichen Zustand der Existenz im Diesseits, nach ihrer Rückkehr an ihren Ursprung würde das Lernen und Forschen für die Seele lustvoller und leichter (fr. 15, p. 52, 2–7 Ross). Läßt man die eschatologische Aussage der zuletzt genannten Stelle beiseite, so besagt sie nichts anderes, als daß die Schwierigkeit bei uns liegt und nicht an den Dingen, die es zu erkennen gilt – womit wir wieder beim kleineren Alpha wären (993 b8). Da mit dem eindeutig protreptischen Gedanken der Leichtigkeit der Philosophie eine klare Verbindung zu Aristoteles’ Werbeschrift bereits hergestellt ist, läge es nahe, auch den in α 1 komplementär gebrauchten Gedanken der mit der Natur des Subjekts gegebenen Schwierigkeit auf den Protreptikos zurückzuführen. Indes könnte ein Bruch in der Gedankenführung darauf hinweisen, daß Iamblichos in den zuvor verfolgten protreptischen Zusammenhang hier möglicherweise etwas aus einer anderen Quelle einfügt. So hat man vermutet, daß er den Gedanken der Widernatürlichkeit der Existenz der Seele im Körper (hier und in fr. 10 b Ross) eher aus Aristoteles’ Eudemos als aus dem Protreptikos genommen

11 Aristoteles, Protreptikos fr. 5 b Ross, Zitat p. 34, 12–15 Ross. Im einzelnen heißt es πολλῷ ῥᾴστη τῶν ἄλλων ἀγαθῶν ἡ κτῆσις αὐτῆς 33, 31; ἡ περὶ τὴν φιλοσοφίαν ῥᾳστώνη 34, 5; κτήσασθαι ῥᾳδιον ἡ φιλοσοφία 34, 13.

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haben könnte, oder daß der Passus fr. 15, p. 52, 2–7 Ross Aristoteles überhaupt abzusprechen sei.12 Die andere Stelle (p. 32, 7–11 Ross) ist nicht sehr spezifisch, sie setzt lediglich die Schwierigkeit des Erwerbs in Beziehung zum Nutzen der Philosophie, sagt aber weder, worin sich die Schwierigkeit zeigt noch was ihre Ursache ist. Der Passus wurde von I. Düring als ein Resümee von Iamblichos ausgeklammert13 (womit der Zeugniswert für den Protreptikos nur abgeschwächt, aber nicht ganz eliminiert wäre, da ein ‚Resümee‘ sich doch auf die Vorlage stützen müßte). Die ‚Leichtigkeit‘ der Wahrheitsforschung kann freilich für Aristoteles nur eine relative sein. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, daß dieser Gedanke auch im Protreptikos ergänzt war durch einen Hinweis auf die Schwierigkeit (zumal in der Frage der unterschiedlichen Erkennbarkeit der Objekte der Ausdruck γαλεπώτερα γνῶναι fällt, wozu s. u. S. 230). Indes sind die referierten Bedenken gegen die zwei Stellen bei Iamblichos gewiß ernst zu nehmen, weswegen die Frage hier offen bleiben mag. Bei einem Vergleich von A 2, a1 und dem Protreptikos unter dem Gesichtspunkt des hier behandelten Topos ergeben sich dann zwei Möglichkeiten: entweder sprach die Werbeschrift von Leichtigkeit und Schwierigkeit der Philosophie und ging somit zusammen mit Alpha elatton, gegen A, wo nur das Schwere dieser Aufgabe betont ist. Oder der Protreptikos erwähnte nur die (relative) Leichtigkeit; in diesem Fall bildete α 1 mit der Erwähnung beider Aspekte sozusagen die Brücke zwischen der veröffentlichten Werbeschrift und dem Prooimion von A. In beiden Fällen stünde also das Prooimion im kleineren Alpha dem Protreptikos näher als das Prooimion in A. 2. Die Schwierigkeit der Philosophie liegt nicht an ihren Gegenständen, sondern an uns (993 b8). Offenbar liegt hier, in leichter Abwandlung, der bekannte Einleitungstopos vom Unterschied des für uns Erkennbaren und des an sich Erkennbaren vor. οὐ γὰρ ταὐτὰ ἡμῖν τε γνώριμα καὶ ἁπλῶς, hören wir zu Beginn der Physikvorlesung (I 1, 184 a18). Der Unterschied

12 Die Zuweisung des Schlusses von fr. 15 Ross an den Eudemos schlug Ingemar Düring: Problems in Aristotle’s Protrepticus. In: Eranos 52 (1954), 139–171, hier: 168 vor; in seiner Ausgabe des Protreptikos (Aristotle’s Protrepticus. An Attempt at Reconstruction. Göteborg 1961, 257) spricht er die Stelle Aristoteles ab. Argumente für die Herkunft aus dem Eudemos gab Hellmut Flashar: Platon und Aristoteles im Protreptikos des Iamblichos. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 71–73. Zu fr. 10 b Ross vgl. auch Olof Gigon: Prolegomena to an edition of the Eudemus. In: Aristotle and Plato in the mid-fourth century. Ed. I. Düring and G. E. L. Owen. Göteborg 1960, 19–33, hier: 27. 13 Düring: Aristotle’s Protrepticus, 198 (zu B 31).

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wird auch im Prooimion der EN in Erinnerung gerufen (I 2, 1095 b2–4), ebenso im Methodenkapitel der EE (I 6, 1216 b32–35) und im 2. Kapitel von An. Po. I (71 b33).14 Schließlich steht die gleiche Vorstellung hinter dem Schluß des Prooimions von A: Der Erwerb der σοφία muß uns zum Gegenteil unseres anfänglichen Zustandes führen (A 2, 983 a11–21). Im Gegensatz zu den übrigen Stellen ist in A 2 und α 1 der Unterschied zwischen dem an sich Erkennbaren und dem für uns Erkennbaren mehr vorausgesetzt als ausgesprochen. In α 1 ist zudem das für uns Erkennbare auch nicht andeutungsweise näher bestimmt (als das der Wahrnehmung Zugängliche), und es wird auch nicht eigens gesagt, daß der Weg von dem für uns Erkennbaren zu dem an sich Erkennbaren führen muß. Es liegt also eine etwas untypische Verwendung des Topos vor. Indes ist die Ausformulierung der methodischen Anweisung an dieser Stelle nicht unentbehrlich: sie steckt bereits im Gleichnis von der Tür als einem großen Ziel, das jeder Schütze trifft (993 b5) und im Unterschied zwischen der leichten gesamthaften Erkenntnis und der schwierigeren präzisen (b6) – der Leser weiß bereits, daß es auf den Fortschritt von dem, was alle können, zum selten geleisteten sicheren Treffen des Ziels im engeren Sinne ankommt. Die Vorstellung des Fortschreitens bestimmt überdies auch die anschließende Erwähnung der Vorgänger (993 b11–19) und steht unausgesprochen auch hinter dem Schlußabschnitt über das Ziel theoretischer Erkenntnis, das im Auffinden der Ursachen besteht (b20–31). Es ist daher keine Gewaltsamkeit, auch den Vergleich mit den Augen der Fledermaus, die sich zum Licht des Tages so verhalten wie der Nus unserer Seele zu dem seiner Natur nach Offenbarsten (b9–11), unter dem Aspekt des Fortschreitens vom Unklaren zum Klareren zu sehen. Zwar ist dieser Aspekt auch hier nicht wörtlich ausgesprochen, und die Erwähnung eines Faktums aus dem Bereich der Natur könnte die Unveränderlichkeit des im Vergleich bezeichneten Zustandes suggerieren.15 Aber gegen eine solche Auslegung spricht nicht nur der angedeutete Duktus des Gedankens (vom Vergleich mit dem Bogenschießen über die allmähliche Höherentwick-

14 Z 3, 1029 b3–12 und An. II 2, 413 a11 bestätigen die einleitende Funktion dieses Topos, auch wenn sie weit vom Anfang zu stehen scheinen. In Wirklichkeit ist auch Z eine Art Anfang (das Buch beginnt mit der Mehrfachbedeutung von ὄν, ohne einen Hinweis darauf, daß diese Frage bereits in Γ 2 und E 2 zur Sprache kam), und Z 1–3 kann als Hinführung zum Hauptthema, dem τί ἦν εἶναι (ab Z 4), gelten. An. II 1 bezeichnet sich selbst als zweiten Anfang nach der Kritik der Vorgänger (412 a4), was nach der Einführung unseres Topos in II 2 noch einmal deutlicher gesagt wird: 413 a20. 15 So Enrico Berti: L’unità del sapere in Aristotele. Padova 1965, 115f.

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lung bis zum Auffinden der letzten Ursachen), sondern auch das allbekannte literarische Vorbild des Fledermaus-Vergleichs: auch im platonischen Höhlengleichnis ist die Blendung durch das Licht der oberen Welt nur ein vorübergehender Zustand,16 am Ende kann der Hinaufgeführte sogar die Sonne selbst betrachten (Politeia 516 ab).17

16 Vgl. Pierre Aubenque: Le probléme de l’etre chez Aristote. Paris 1962, 61 n. 1. 17 Carl Mitcham: A Non-Aristotelian Simile in Metaphysics 2. 1. In: Classical Philology 65 (1970), 44–46 äußerte Zweifel an der Echtheit von Alpha elatton wegen des Fledermaus-Vergleichs: er gebe kein gutes Bild von der aristotelischen Epistemologie (die Beschäftigung mit νοητά blendet den νοῦς nicht, sondern macht ihn fähiger: An. III 4, 429 b2–3), entspreche nicht den Tatsachen (die Fledermaus ist nicht tagblind, und Aristoteles sagt ihr das in den biologischen Schriften auch nicht nach), und sei überhaupt mehr platonisch im Charakter als aristotelisch. – Am platonischen Ursprung des Vergleichs kann man natürlich nicht zweifeln, und hiervon sollte die Kritik ausgehen. Eine Anspielung an Politeia 509 b liegt wohl im einzigen Fragment aus Περὶ εὐχῆς (p. 57, 6–9 Ross = Simpl. In Cael. 485, 19–22) vor. Einen ‚unaristotelischen‘, platonisch-leibfeindlichen Eindruck macht auch der Vergleich der leiblichen Existenz der Seele mit dem Aneinanderfesseln von Lebendigen und Toten, der entweder dem Protreptikos (fr. 10 b Ross) oder dem Eudemos zuzuschreiben ist (s. oben Anm. 12). An unserer Stelle klingt τὸ φέγγος τὸ μεθ᾽ ἡμέραν gewiß recht unprosaisch (vgl. Politeia 508 c6 νυκτερινὰ φέγγη); man muß deswegen nicht gleich an Unechtheit denken, vielmehr kann die Formulierung und der Vergleich auch eine Reminiszenz an eine literarische Schrift des Aristoteles sein, so wie ja Spuren des Protreptikos in A 1–2 (Werner Jaeger: Contemporary evidence on the text of the first chapters of Aristoteles Metaphysics. In: Scripta minora II. Roma 1960, 483–489) und von Peri philosophias in De caelo teils nachgewiesen, teils mit Wahrscheinlichkeit vermutet worden sind (auch im folgenden wird noch öfters an den Protreptikos zu erinnern sein). Die suggestive Kraft des Vergleichs hat gerade in einem Text mit Prooimioncharakter eine treffliche Wirkung; für die Kenner kam noch der Reiz der variierenden Anspielung auf ein berühmtes Vorbild wie das Höhlengleichnis dazu. Aristoteles der Schriftsteller wußte diese Wirkung zu nutzen. Die Berufung auf Aristoteles den Naturwissenschaftler, der die Fakten der Natur nicht ignorieren könne (Mitcham: A Non-Aristotelian Simile, 46), vergißt den Charakter unseres Abschnitts. Auch sollte man den Unterschied zu Platon nicht übersehen: die Blendung ist nicht betont, nicht einmal wörtlich ausgesprochen. Zur Erklärung der Stelle brauchen wir also keineswegs anzunehmen, daß das Licht der Wahrheit die Sehkraft schwächt (vgl. Mitcham, 44 n. 6), es genügt die Vorstellung der vorwiegenden Gewöhnung an schlecht Erkennbares. Daher sollte auch das Fortschreiten vom uns Bekannten zum an sich Erkennbaren nach Z 3, 1029 b5–9 nicht als Gegeninstanz angeführt werden (Mitcham, 45): dieser Gedanke ist, wie oben zu zeigen war, im ganzen Kapitel präsent. – Von der „Schwäche“ unseres Erkenntnisvermögens angesichts der „lichtvollsten“ Erkenntnisobjekte spricht Theophrast, Metaph. 9 b11–13. G. Reale, Aristotele: La Metafisica. Traduzione, introduzione e commento di G. R. Napoli 21968, Bd. I, 224 betrachtet das als Zitat un-

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Was es eigentlich zu erkennen gilt, das sind τὰ τῇ φύσει φανερώτατα πάντων (993 b11). Das entscheidende Erkenntnisobjekt heißt im Höhlengleichnis τοῦ ὄντος τὸ φανότατον (518 c9, vgl. 479 d1). Vielleicht geht die Verwendung des Wortes φανερόν und der Superlativform auf diese Platonstelle zurück: sonst ist meist von den γνώριμα im Positiv oder Komparativ die Rede.18 Die ‚ihrer eigenen Natur nach offenbarsten von allen Dingen‘ können nichts anderes sein als die gegen Ende des Kapitels erwähnten ‚früheren‘ Dinge, die Ursache des Wahrseins und Seins der ‚späteren‘ sind (993 b26, 30). Höhere Erkennbarkeit und ontologische ‚Priorität‘ bringt in diesem platonischen Sinn auch der Protreptikos zusammen: ἀεὶ γὰρ γνωριμώτερα τὰ πρότερα τῶν ὑστέρων (fr. 5 b, p. 32, 14 Ross). Daher können auch die abgeleiteten und ‚späteren‘ Dinge, von denen wir wohlgemerkt bereits ein Wissen haben, als die γνῶναι χαλεπώτερα bezeichnet werden (ebd., p. 32, 29). Das für uns leicht Erkennbare ist seiner Natur nach ‚schwerer erkennbar‘, hat es doch – im Gegensatz zu τὰ τῇ φύσει γνώριμα – ‚wenig oder nichts vom Seienden‘ (Z 3, 1029 b8, 10), oder, mit dem Protreptikos zu reden, wenig oder nichts von Begrenztheit und Geordnetheit (fr. 5 b, p. 32, 15–18). α 1 geht wiederum mit dem Protreptikos zusammen, insofern nur diese beiden Texte – ohne am üblichen Inhalt des Topos etwas zu ändern – die ‚Leichtigkeit‘ und die ‚an-sich-Erkennbarkeit‘ bzw. die

serer Stelle und somit als Beweis der Echtheit von Alpha elatton. Eine signifikante sprachliche Ähnlichkeit liegt indes nicht vor (Ross spricht im Kommentar z. St. [Theophrastus: Metaphysics. Ed. William David Ross and Franciscus Howard Fobes. With translation, commentary and introduction. Oxford 1929, 69] nur von „reminiscence“); Theophrast kann auch direkt vom Höhlengleichnis inspiriert sein. Wie Aubenque l. c. feststellt, denkt Theophrast an prinzipielle Erkenntnisschranken, Platon und Aristoteles nur an vorübergehende Unvertrautheit. – Zum zweiten „Zitat“ bei Theophrast s. unten Anm. 80. 18 An. II 2, 413 a11 gebraucht Aristoteles φανερώτερα zur Bezeichnung des für uns Offenkundigen. – Die Übereinstimmung zwischen α 1 und (Sonnen- und) Höhlengleichnis wurde schon im Altertum vermerkt, so von Syrianus: In Aristotelis Metaphysica commentaria, 98, 4–10 Kroll; es ist daher kein Zufall, wenn in spätantiken Paraphrasen und Anspielungen auf α 1 das aristotelische φανερώτερα durch das platonische φανότατα ersetzt wird, etwa bei Philoponos, In Nicom. Isag. 1. 1, p. 1, 10–12 Hoche (= Ross, Ar. fragm. sel., p. 76, 5) oder in der anonymen Einleitung zur Metaphysik aus dem codex Coislinianus gr. 161 (publiziert von Paul Moraux: Anecdota Graeca minora I. Anonyme Einleitung zu Aristoteles' Metaphysik. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 40 (1980), 59–75; φανότατα p. 69 Zeile 105; Parallelen gibt Moraux 62f.). – Die Nachwirkung unserer Stelle in der Spätantike untersuchte Wolfgang Haase: Ein vermeintliches Aristoteles-Fragment bei Johannes Philoponos. In: Synusia. Festschrift W. Schadewaldt. Hg. v. Hellmut Flashar u. Konrad Gaiser. Pfullingen 1965, 332–344.

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‚Schwierigkeit‘ und die ‚Erkennbarkeit-für-uns‘ auch im sprachlichen Ausdruck19 zueinander in Beziehung setzen.20 3. Die Vereinigung der Ergebnisse Früherer ergibt eine gewisse Summe an Erkenntnis (993 b3). – Aristoteles hat es sich wohl als erster zur Gewohnheit gemacht, die Ergebnisse früherer Denker systematisch zu berücksichtigen. Der Grund dafür liegt in seiner Überzeugung vom allmählichen Wachstum der menschlichen Erkenntnis, wie wir sie in Metaph. A 1– 2 (981 b13–25, 982 b11–24) ausgedrückt finden, wonach sich die Entwicklung im wesentlichen in drei Stufen vollzog. Die fünf Stufen in der Geschichte der σοφία, von denen Philoponos einmal redet, hat man hingegen wohl zu Unrecht auf Aristoteles’ Dialog Über die Philosophie zurückführen wollen.21 Daß dieser Dialog jedoch einen positiven Rückblick auf die Entwicklung des Denkens enthielt, ist gleichwohl sicher.22 Dieselben Erkenntnisse, so glaubte Aristoteles, kamen oft, ja unendlich viele Male, zu uns, gingen freilich auch wieder verloren (Cael. I 3, 270 b19; Meteor. I 3, 339 b27–29; Pol. VII 10, 1329 b25–31). So kann er selbst mythische Anschauungen als Reste früherer Einsichten anerkennen, wie Metaph. A 8, 1074 b1–14, und in Περὶ φιλοσοφίας wurde auch die Weisheit der Sprichwörter in diesem Sinn gewürdigt (fr. 8 Ross = Synesios, Calv. enc. 22, 85 c). Aber wichtiger als diese anonymen Spuren ehemaliger Weisheit sind ihm die Ergebnisse der namentlich bekannten Denker seit Hesiod und Thales. Metaphysik und De anima bieten nach dem Prooimion ausführliche Darstellungen der Problemgeschichte; im ersten Buch der Physikvorlesung und in der Nikomachischen Ethik hat die Auseinandersetzung mit den Ansichten der Eleaten bzw. der Platoniker die gleiche Funktion. Diese Hinwendung zu den Vorgängern entspricht natürlich nicht einem lediglich historischen Interesse, sondern verfolgt einen methodischen Zweck: das Richtige bei den Früheren kann übernommen werden (De an. I 2, 404 a23) oder wenigstens zur Bestätigung der unabhängig gewonnenen eigenen Ergebnisse dienen (Metaph. A 3, 983 b4–6, vgl. A 7, 988 a21, A 10, 993 a11–13), das Fal-

19 Sachlich verdienen die Kennzeichnungen ἧττον γνώριμα und φαύλως γνωστά (Z 3, 1029 b4, 10) den Vorzug. Nur das protreptische Interesse rechtfertigt den etwas mißverständlichen Ausdruck χαλεπώτερα γνῶναι. Die notwendig ungenaue Erkenntnis, die wir von solchen Dingen haben, ist nicht eben schwer zu erwerben. 20 Zum Zusammenhang von an-sich-Erkennbarkeit und Ursachenforschung s. unten 239f. 21 Vgl. Haase: Ein vermeintliches Aristoteles-Fragment. 22 Es mag hier ein Hinweis auf die Interpretationen von Werner Jaeger: Aristoteles: Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. Berlin 21955 [1923], 130ff. genügen.

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sche dient zur Warnung, gewisse Fehler zu vermeiden (De an. 1. c., Metaph. M 1, 1076 a13). Aufs Ganze gesehen soll die Prüfung fremder Meinungen helfen, den richtigen Ansatzpunkt zu finden (so deutlich auch in Phys. und EN). Daher gehört sie primär an den Anfang einer Untersuchung (auch wenn der Vergleich mit anderen Lösungen natürlich auch zu jedem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden kann). Im übrigen überwiegt bei der Betrachtung der Vorgänger stets die Kritik, die strenge Durchsicht ihrer Ansichten im einzelnen läßt die großzügige und optimistische Absicht, sich auch im Positiven belehren zu lassen, oft vergessen. Sich selbst reiht Aristoteles nicht als ein beliebiges, vorläufig letztes Glied im allmählichen Prozeß des kumulativen Erkenntnisgewinns ein, vielmehr setzt er die Errungenschaften des eigenen Denkens als Maßstab an. Die Zielsetzung von M 1, 1076 a15f.: ἀγαπητὸν γὰρ εἴ τις τὰ μὲν κάλλιον λέγοι τὰ δὲ μὴ χεῖρον verspricht eine Bescheidenheit und Milde, die Aristoteles wohl nie ganz durchgehalten hat. Aber auch dort geht er nicht so weit, auch jenen Oberflächlicheren zu danken, deren Ansichten man nicht beipflichten kann und deren Funktion nur darin bestand, besseren Nachfolgern den Weg zu bereiten. So verständnisvoll und entgegenkommend gegen Schwächere wie hier im kleineren Alpha (993 b11–19) hat sich Aristoteles sonst nicht gezeigt, insbesondere nicht in A, wo schon zu Beginn feststeht, daß die eigene Behandlung der ἀρχαί in der Physik ‚hinreichend‘ war (A 3, 983 a33), die Befragung der Vorgänger somit bestenfalls eine Bestätigung bringen kann, und wo die Durchführung im einzelnen oft nur sehr wenig Respekt selbst für die Großen der philosophischen Vorgeschichte erkennen läßt, geschweige denn Dank für die minder Wichtigen.23

23 Hippon, Xenophanes und Melissos werden verächtlich beiseite geschoben (A 3, 984 a3–5; 5, 986 b27); die Bemerkung über die alte und ‚volksnahe‘ Ansicht Hesiods, die Erde sei eine ἀρχή (A 8, 989 a10–11), klingt nicht eben freundlich. Aber selbst bedeutende Männer wie Empedokles und Anaxagoras sprechen nur stammelnd, was sie meinen, muß gegen ihren Wortlaut erraten werden (A 4, 985 a5; 8, 989 a32 u. ö.). Die Kritik der bisher bedeutendsten Theorie, der Ideenlehre, wird mit dem abschätzigen Vergleich eröffnet, sie verfahre wie einer, der eine geringere Menge nicht zählen kann und sie dann vermehrt, um sie besser zählen zu können (A 9, 990 b2–4). Der Vergleich mit dem Stammeln eines Kindes gilt überhaupt für alle früheren Philosophen (A 10, 993 a15f.), keiner brachte es weiter als bis zur ‚dunklen‘ Ahnung des Richtigen (A 7, 988 a23; 10, 993 a13). Ich kann daher nicht finden, daß diese Sicht der Vorsokratiker den richtigen Hintergrund abgibt für 993 b11–19 oder daß diese Stelle A 3ff. ‚voraussetze‘ oder sich gar auf sie ‚beziehe‘ (so Crilly, Seidl). Vgl. unten Anm. 83.

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Wenn unsere Beobachtung richtig war, daß Aristoteles milder zu beginnen pflegt als er endet, so wäre das ein zusätzlicher Hinweis – neben der Verwandtschaft mit dem Entwicklungsgedanken in A 1–2 – daß die vorliegende singulär kulante Ausgestaltung dieses Topos am ehesten am Anfang einer Vorlesung oder Abhandlung vorstellbar ist. 4. Es ist richtig, die Philosophie Wissenschaft der Wahrheit zu nennen. Denn das Ziel des theoretischen Wissens ist die Wahrheit, das des praktischen ein ‚Werk‘ (993 b20–21). Ziel und Zweck einer Untersuchung gleich zu Beginn anzugeben, sei es auch vorderhand in sehr allgemeinen Begriffen, war eine methodische Forderung des Aristoteles, die er anhand von Platons Vorlesung Über das Gute, in der diese Forderung vernachlässigt worden war, zu erläutern pflegte.24 In seinen Lehrschriften wird sich schwerlich ein Beispiel dafür finden lassen, daß er die eigene Maxime vernachlässigt hätte. Sehr deutlich ist sie dort befolgt, wo Aristoteles seinerseits vom Guten handelt, in den Ethiken. Die EN bestimmt in ihrem ersten Kapitel den Gegenstand der Untersuchung als τἀγαθὸν καὶ τὸ ἄριστον, verstanden als dasjenige Ziel unter den handelnd zu verwirklichenden Zielen, das wir um seiner selbst willen wollen; die Untersuchung gehört in den Bereich der ‚Politik‘ (I 1, 1094 a18–22; b11). Mit der ersten, noch sehr allgemein gehaltenen Bestimmung des Ziels der Untersuchung ist also auch eine erste Einordnung unter die Formen des Wissens gegeben: sie will als Teil der ‚Politik‘ praktisches Wissen vermitteln. (Platon hatte in der Vorlesung Über das Gute offenbar nicht einmal so viel vorweg gesagt, um welche Art von Erkenntnis es ihm zu tun war: das Publikum erwartete praktische Philosophie, die Erörterung des Guten führte in den Bereich der Ontologie). Nach der allgemeinen Bestimmung von Ziel und Art der Untersuchung folgen in der EN methodische Reflexionen, die ihre Entsprechung in α 3 haben.25 Näher steht unserer Stelle der Anfang der EE: nach der Bestimmung des Gegenstandes, der Eudaimonie – eine Angabe, die ‚der Wahrheit‘ als Ziel ‚der Philosophie‘ an Vagheit nicht nachsteht – führt Aristoteles die allgemeinste Dihaerese der Formen des Wissens nach theoretischen und praktischen ein (I 1, 1214 a10–12),26 die er auch in der EN meint, ohne sie dort noch als formelle Dihaerese vorzuführen. Es folgen Aporien (I 3, 1215 a3), die der geplanten Untersuchung nun schon mehr Kontur geben (I 1–4, 24 Aristoxenos, Elem. harmon. II, p. 30f. Meibom. 25 Vgl. unten 243f. 26 Der Gegenbegriff zu θεωρητική ist zwar erläutert, aber hier noch nicht mit einem Namen belegt; er müßte nach dem Wortlaut von I 1, 1214 a12 πρακτική heißen. Weiter unten wird er dann als ποιητική gegeben (I 5, 1216 b17).

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1214 a15–1215 a25), sodann kommt Aristoteles nach einer Skizze der drei Lebensformen (1215 a26ff.) schließlich auf Sokrates zu sprechen, der als τέλος das Wissen von der ἀρετή ansah (1216 b3), die Ethik mithin als theoretische Wissenschaft betrieben wissen wollte; denn deren Ziel ist in der Tat nichts anderes als das Wissen, während die hervorbringenden Wissensformen noch ein anderes Ziel neben dem bloßen Wissen verfolgen (1216 b17). An diese abermalige Klarstellung zur Natur der Ethik als praktischer Philosophie schließen sich, wie in der EN, jene methodischen Reflexionen an, die uns im Zusammenhang mit α 3 beschäftigen werden. Mit der Zweiteilung θεωρητική – ποιητική arbeitete auch der Protreptikos. In fr. 6, p. 35, 12–36, 20 Ross wird eigens nachgewiesen, daß die höchste ἐπιστήμη nicht ein ‚hervorbringendes‘ Wissen sein kann; in α 1 ist dies vorausgesetzt, gezeigt ist es in A 1–2 (981 a12ff.., 982 b11ff.). ‚Die Wahrheit‘ als Funktion oder ‚Leistung‘ (ἔργον) des besten Teils in uns (fr. 6, p. 35, 25–27 Ross) führt jedoch wieder näher an α 1 (993 b20f.) heran27 als an die Formulierungen im Prooimion von A. Die Benennung der (theoretischen) Philosophie als ‚Wissenschaft der Wahrheit‘ hat ihre nächste Parallele gleichfalls im Protreptikos: nachdem in fr. 5 b, p. 32, 11–33, 5 Ross die Möglichkeit des Wissens in beiden Teilen der Philosophie, der Ethik und der ‚Naturphilosophie‘ (die auch die Erforschung der letzten Ursachen und Elemente umfaßt: 32, 30f.),28 gezeigt worden ist, folgt die Zusammenfassung: ὅτι μὲν οὖν τῆς ἀληθείας καὶ

27 Es liegt keine strikte Identität der Ausdrucksweise vor. In Protr. fr. 6 ist die Wahrheit selbst das ἔργον des obersten Seelenteils (zu τὸ διανοούμενον τῆς ψυχῆς ἡμῶν 35, 26 vgl. τῆς ἡμετέρας ψυχῆς ὁ νοῦς 993 6 10–11), in α 1 vertritt sie als Ziel des theoretischen Wissens die Stelle, die das ἔργον beim praktischen hat. 28 Das Fehlen einer Unterscheidung zwischen physikalischer und nicht mehr physikalischer Ursachenforschung läßt sich kaum entwicklungsgeschichtlich auswerten im Sinne von Berti: L’unitá del sapere, 275, der hier eine „physique au sens large“ findet, die, als eine frühe Stufe des aristotelischen Denkens, Physik und Metaphysik zugleich umfaßt habe. H. G. Gadamers Warnung gegen eine Festlegung des Protreptikos auf einen klar umrissenen Philosophiebegriff (Der aristotelische Protreptikos und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik. In: Hermes 63 (1928), 138–164, bes. 145f.) ist durchaus nicht veraltet. Der Protreptikos richtete sich nicht an Fachphilosophen, sondern wollte geistig Interessierte für die Philosophie gewinnen; hierfür war es nicht nötig, die volle ‚Akribologie‘ der Pragmatien zu entfalten, und in der Tat legt sich Aristoteles hier nicht fest, wie die ersten Ursachen zu bestimmen seien, sei es als πῦρ εἴτ᾽ ἀὴρ εἴτε ἀριθμὸς εἴτε ἄλλαι τινὲς φύσεις (p. 33, 2 Ross). Die ‚physikalischen‘ Stoffursachen stehen hier wohlgemerkt zur Auswahl neben der Zahl und „gewissen anderen Wesenheiten“, die Erforschung der ἄκρα καὶ πρῶτα wird auf diesen oder auf jenen Typ von Erklärung führen. Es scheint also, als spreche Aristoteles vom Wis-

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τῆς περὶ ψυχὴν ἀρετῆς ἐστιν ἐπιστήμη ... (32, 6–7). Die Formulierung in α 1 ὀρθῶς δ᾽ἔχει καὶ τὸ καλεῖσθαι τὴν φιλοσοφίαν ἐπιστήμην τῆς ἀληθείας (993 b19) hat einen apologetischen Klang. Vielleicht wollte Aristoteles eine von ihm schon früher gebrauchte Formulierung rechtfertigen; in α 1 war bis hierher jedenfalls weder von ἐπιστήμη noch von φιλοσοφία die Rede.29 Indes kommt auf diese mögliche Beziehung wenig an, zumal die Natur der Exzerpte bei Iamblichos einen allen Ansprüchen genügenden Nachweis doch nicht zuließe. Jedenfalls bewegen wir uns auch hier im Bereich aristotelischer Einleitungstopik: eine erste, noch pauschale Bestimmung des Ziels der Untersuchung, verbunden mit einer Zuweisung entweder zum praktischen oder zum theoretischen Wissen, gehört ganz an den Anfang.30 Der Aufweis des praktischen bzw. theoretischen Charakters führt

sen von der ‚Natur‘ (d. h. vom Wesen der Dinge), weil er vom bekanntesten Typ theoretischer Forschung, der vorsokratischen Naturspekulation (Feuer als ‚Prinzip‘ bei Herakleitos, Luft bei Anaximenes und Diogenes von Apollonia) ausgeht; ohne einen neuen Oberbegriff zu geben fügt er als weiteres Erklärungsprinzip ‚die Zahl‘ an; mag die Zahlenphilosophie der Pythagoreer in manchem noch der ionischen Naturspekulation nahe gestanden haben, ihre Fortführung bei Platon und Speusippos konnte nicht mehr als ein Teil einer (wie weit auch immer gefaßten) φυσική aufgefaßt werden (das Wort kommt denn auch in den Fragmenten des Protreptikos nicht vor). Wenn aber die mit dem Zahlbegriff operierende Prinzipientheorie nicht mehr ‚Physik‘ ist, so braucht es auch die Theorie jener „anderen Wesenheiten“ nicht zu sein, die als weitere Alternative erwähnt ist und mit der, wie man vermuten kann (vgl. unten 240), die Theorie der unbewegten Beweger gemeint ist. – Vgl. auch unten Anm. 47 und 89. 29 Man könnte natürlich darauf hinweisen, daß ἐπιστήμη τῆς ἀληθείας durch τῆς ἀληθείας θεωρία 993 a30 vorbereitet ist und schon in A durch die Bezeichnung der Vorgänger als „die über die Wahrheit philosophierten“ und „die über die Prinzipien und die Wahrheit sprachen“ (A 3, 983 b2 und A 7, 988 a19f.). Die rechtfertigende Wendung ὀρθῶς δ᾽ ἔχει kommt aber doch etwas überraschend, denn an keiner dieser Stellen war eine formelle Definition von φιλοσοφία gegeben worden, noch war die vage Bestimmung ἀληθείας θεωρία in irgend einer Weise problematisiert worden. (Die Stellen in A setzten übrigens die Bestimmung der Philosophie als theoretische Wissenschaft und ihre Zurückführung auf Ursachenforschung bereits voraus, während unsere Stelle diese Gedanken neu einführt zur Begründung des Ausdrucks ‚Wissenschaft der Wahrheit‘; von einer Rückbeziehung auf A kann also keine Rede sein). Vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund des Protreptikos erklärt sich die Wendung sehr einfach: es ging u. a. um die Zurückweisung des φιλοσοφία-Begriffs des Isokrates, der eine ἐπιστήμη von den für den Menschen entscheidenden Dingen ausschloß und an ihre Stelle die δόξα setzte (Antidosis 271). 30 Der Protreptikos war nicht eine Untersuchung wie die Ethiken oder die Metaphysik, sondern hatte als Ganzes hinführenden Charakter; hier wird unser Topos

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in beiden Ethiken wie auch in A und α weiter zu einer spezifischeren Bestimmung des Gegenstandes. 5. Wir kennen die Wahrheit nicht ohne die Ursache (993 b23). – Es ist dies eine einfache, aber grundlegende Einsicht: das eigentlich Philosophische einer Untersuchung besteht darin, daß sie nicht nur das Was, sondern auch das Warum offenbar macht (φιλόσοφον γὰρ τὸ τοιοῦτον περὶ ἑκάστην μέθοδον, EE I 6, 1216 b39).31 Wo es um Ursachen und Prinzipien geht, weist Aristoteles gerne einleitend darauf hin, daß die Forderung nach Wissen erst mit dem Rückgang auf die Ursachen erfüllt wird: so im ersten Satz der Physik (I 1, 184 a10–16), so im Prooimion von Metaph. A (A 1, 981 a24ff., wiederholt unmittelbar vor der Einführung der vier Ursachen A 3, 983 a25), ebenso auch dort, wo das Wissen selbst und seine Prinzipien untersucht werden (An. Po. 12, 71 b9–11). Zum fünften Mal zeigt uns ein wohlbekannter aristotelischer Einleitungstopos, daß α 1 an den Anfang einer Untersuchung gehört.32 2.

An den Anfang welcher Untersuchung? Statt die Antwort aus α 3 zu entnehmen (und damit die Einheit von Alpha elatton schon vorauszusetzen), müssen wir zunächst die Angaben des Schlußteils von α 1 auswerten. Es bleibt ja nicht bei der pauschalen Bestimmung der Philosophie als ‚Wissenschaft der Wahrheit‘, vielmehr führt der Topos von der Notwendigkeit des Rückgangs auf die Ursachen wie an den erwähnten Parallelstellen so auch hier zu einer näheren Charakterisierung der gesuchten αἴτια. ‚Das Wahre‘ kennen wir nur mittels der Ursache; der Gedanke ist, wie die Fortsetzung zeigt, so zu verstehen, daß die Ursachen selbst ‚das Wahre‘ sind, und zwar in unterschiedlichem Maße: die letzten ἀρχαί die die Ursachen für alles Übrige sind, sind ‚die wahrsten‘, denn sie sind unveränderlich wahr und haben selbst keine Ursache ihres Seins; die letzten Ursachen sind

nicht am Anfang gestanden haben. – In E 1 ist der theoretische Charakter der Wissenschaft vom ὂν ᾗ ὄν schon vorausgesetzt; daher werden Physik und Mathematik, die gleichfalls theoretische Wissenschaften sind, daraufhin befragt, ob sie Anspruch auf den Titel einer höchsten Wissenschaft erheben können (1025 b21ff.; 1026 a6–8). 31 Ein Hinweis auf den Unterschied des Fragens nach dem Daß und dem Warum findet sich auch EN I 2, 1095 b6–9 im Zusammenhang der Erkenntnis der sittlichen ἀρχαί allerdings ist hier im Hinblick auf das ethische Handeln der Primat des ὅτι betont. 32 Zu dem Versuch von Crilly, α 1 als Fortsetzung von A zu lesen, s. unten 254–257.

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‚die Prinzipien der ewigen Dinge‘ (993 b26–31, τὰς τῶν ἀεὶ ὄντων ἀρχάς b28). Was sind die ἀεὶ ὄντα? Man verstand darunter gewöhnlich den Bereich der unvergänglichen wahrnehmbaren οὐσίαι von A 1, 1069 a31, also die Himmelskörper, unter deren ἀρχαί folglich die οὐσία ἀκίνητος die unbewegten Beweger von Λ 8.33 K. Bärthlein nahm Anstoß daran, daß bei dieser Interpretation ‚Wahrheit‘ „eine seiende Qualität am Einzelseienden (wird) und der Wahrheitsgrund ebenfalls etwas Seiendes“. Doch Wahrheit ist nicht eine Eigenschaft der Sachen, und die Prinzipien des Immerseienden müßten als die ‚wahrsten‘ „doch als Beweisprinzipien, d. h. als Grundsätze“ verstanden werden.34 Dies will nach Bärthlein der Autor von α 1 auch wirklich ausdrücken, hat er doch schon in 993 b12–13, b18 (anläßlich der δόξαι der Vorgänger) gezeigt, daß für ihn „die Wahrheit auf die Ebene der Meinungen gehört“. Dieser Auffassung füge sich auch der Schlußteil, wenn man unter dem „Immerseienden“ mathematische Gegenstände versteht. Für seine Interpretation macht Bärthlein geltend: (1) Das Sich-nie-anders-verhalten-Können und das Beweisbarsein sind nach EN VI 3, 1139 b20–24; VI 6, 1140 b31–35 Definitionsstücke des ἐπιστητόν; darüber hinaus sind mathematische Gegenstände wie das Gerade, das Gekrümmte, das Konkave in MM I 35, 1197 a33 als ἀεὶ ὡσαύτως ὄντα bezeichnet. (2) Es ergebe sich eine einleuchtende Parallelität zwischen α 1 und der platonischen Konzeption der Wissensstufen und Wissensobjekte: dem σκευαστὸν γένος von Politeia 510 a6 entsprechen die ‚Objekte des Tuns‘ 993 b20–23, den mathematischen Gegenständen wie dem περιττόν usw. (510 cff.) die ἀεὶ ὄντα 993 b28, der ἀρχὴ ἀνυπόθετος (510 b7) schließlich die Prinzipien des Immerseienden. (3) Das εἶναι in 993 b30 – οὐδ᾽ ἐκείναις αἴτιόν τί ἐστι τοῦ εἶναι, ἀλλ᾽ ἐκεῖναι τοῖς ἄλλοις, und aus diesem Grund sind die Prinzipien des Immerseienden die wahrsten – brauche man nicht als Sein im Sinne von Existieren zu verstehen, da ‘Wahrsein’ nach Δ 7, 1017 a31ff. eine der Bedeutungen von εἶναι ist, und das sei die

33 Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 148, 24f. Thomas von Aquin: In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Ed. Cathala-Spiazzi. Rom/Turin 1964, 85 (no. 295), Aristotele: La Metafisica. Traduzione di Reale, I, 225. Vgl. auch Vianney Décarie: L’objet de la métaphysique selon Aristote. Paris 21972, 92 n. 6, der Metaph. E 1, 1026 a16–18 vergleicht, wo die selbständigen unbewegten Substanzen als Ursache der „sichtbaren unter den göttlichen Dingen“ bezeichnet werden. 34 Karl Bärthlein: Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie. I. Teil: Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum. Berlin/New York 1972, 25–33, Zitat 27.

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hier geforderte Bedeutung. Der Abschnitt sei also nicht so zu verstehen, „daß das höchste Seiende, sofern es höchstes, erstes ist, auch Grund für die Wahrheit sein könnte“ (29). ‚Immer sein‘ meine vielmehr das unzeitliche Gelten von Sätzen, das seinen Grund in der unbedingten Geltung der obersten Beweisprinzipien hat.35 Indes würde der Schlußsatz des Kapitels – ὥσθ᾽ ἓκαστον ὡς ἔχει τοῦ εἶναι, οὕτω καὶ τῆς ἀληθείας – zu einer tautologischen Aussage, wenn wir ‚Wahrsein‘ als die hier geforderte Bedeutung von εἶναι einsetzen wollten: die Ineinssetzung des ‚Verhaltens‘ einer Sache hinsichtlich Sein und Wahrheit setzt voraus, daß beides nicht von vornherein dasselbe meinte. Was die Parallelität mit der Konzeption von Politeia VI–VII betrifft, so wäre sie – sofern sie überhaupt zutrifft36 – Bärthleins Beweisziel eher abträglich: wenn die ἀρχὴ ἀνυπόθετος nichts anderes meint als das ἀγαθόν so wäre auch sie etwas, das – wenigstens zufolge der Platonauslegung des Aristoteles – als οὐσία verstanden wurde, und die Wahrheit haftete wiederum an einem πρᾶγμα und nicht an einem Satz. überhaupt ist es eines der wichtigsten Anliegen der aristotelischen Ontologie, die vermeintlichen Substanzen der Platoniker durch die wirklichen unvergänglichen und unbewegten Substanzen zu ersetzen.37 In diesem Sinne müßte auch hier an die Stelle der platonischen Idee des Guten, die der Ursprung von ‚Wahrheit‘ ist (Politeia 508 e–509 a), als wahrheitgebender Ursprung die οὐσία ἀκίνητος der unbewegten Beweger treten. In Bärthleins Auslegung würden hingegen die Beweisprinzipien zum zentralen Gegenstand der Metaphysik, was entschieden unaristotelisch ist: deren Erörterung wird von der Wissenschaft vom Seienden als Seienden lediglich mitversehen (Γ 3ff.), und die Existenz der unbewegten Substanzen verbürgt die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch, nicht umgekehrt (1009 a36–38, 1010 a32–35, 1012 b29– 31). Schließlich ist auch der Beleg aus den MM – ganz abgesehen von der fraglichen Echtheit dieser Schrift – nicht geeignet, die ‚immerseienden‘ Dinge unserer Stelle zu erläutern: denn die mathematischen Gegenstände sind dort als ἀεὶ ὡσαύτως ὄντα bezeichnet, was nicht mehr zu sein braucht als die übliche Kennzeichnung als ἀίδια καὶ ἀκίνητα (A 6, 987 b16, vgl. E 1, 1026 a15). Es müßte gezeigt werden, daß sie auch ἀεὶ ὄντα (ohne weiteren Zusatz) heißen können – bekanntlich hält Aristoteles dafür, daß die ma-

35 Bärthlein: Die Transzendentalienlehre I, 28–31. Die gleiche Auffassung war bereits skizziert bei Hans Wagner, in: Philos. Rundschau 7 (1959) 133 Anm. 1. 36 S. unten Anm. 38. 37 Z. B. Λ 1, 1069 a33–36, Λ 8, 1073 a14–23; vgl. Γ 2, 1004 b9, Z 11, 1037 a12 usw.

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thematischen Gegenstände ἢ ὅλως οὐκ ἔστιν ἢ τρόπον τινὰ ἔστι καὶ διὰ τοῦτο οὐχ ἁπλῶς ἔστιν (M 2, 1077 b15f.). Die platonische Korrelation von Seins- und Wahrheitsgrad38 wirft gewiß viel Licht auf unseren Abschnitt – nicht weniger wichtig ist jedoch das bereits mehrfach erwähnte fr. 5 b des Protreptikos. πολὺ γὰρ πρότερον ἀναγκαῖον τῶν αἰτίων καὶ τῶν στοιχείων εἶναι φρόνησιν ἢ τῶν ὑστέρων. οὐ γὰρ ταῦτα τῶν ἄκρων οὐδ᾽ ἐκ τούτων τὰ πρῶτα πέφυκεν, ἀλλ᾽ ἐξ ἐκείνων καὶ δι᾽ ἐκείνων τἆλλα γίγνεται καὶ συνίσταται φανερῶς. εἴτε γὰρ πῦρ εἴτ᾽ ἀὴρ εἴτε ἀριθμὸς εἴτε ἄλλαι τινὲς φύσεις αἰτίαι καὶ πρῶται τῶν ἄλλων, ἀδύνατον τῶν ἄλλων τι γιγνώσκειν ἐκείνας ἀγνοοῦντας (p. 32, 30–33, 4 Ross). Hier finden wir die Entgegensetzung τὰ πρῶτα – τὰ ὕστερα (τἆλλα), die das Argument auch in α 1 bestimmt (auch wenn nur das zweite Glied benannt ist: 993 b27, 30). Die ‚früheren‘ Dinge sind Ursache der ‚späteren‘, und zwar zunächst Ursache ihres Seins (ἐξ ἐκείνων καὶ δι᾽ ἐκείνων τἆλλα γίγνεται καὶ συνίσταται ~ 993 b30 ἀλλ᾽ ἐκεῖναι [αἴτια] τοῖς ἀλλοις)39 Da aber Erkenntnis letztlich Erkenntnis der Ursachen ist, sind die früheren Dinge qua Ursachen auch Grund der Erkennbarkeit der späteren. An einer früheren Stelle desselben Fragments war dieser Gedanke in Verbindung mit dem platonischen Gedanken der Erkennbarkeit von Bestimmtheit und Ordnung aufgetreten: ἀεὶ γὰρ γνωριμώτερα τὰ πρότερα τῶν ὑστέρων καὶ τὰ βελτίω τὴν φύσιν τῶν χειρόνων. τῶν γὰρ ὡρισμένων καὶ τεταγμένων ἐπιστήμη μᾶλλόν ἐστι ἢ τῶν ἐναντίων, ἔτι δὲ τῶν αἰτίων ἢ τῶν ἀποβαινόντων

38 Zu 993 b30f. vergleiche man den Schluß von Politeia VI (bes. 511 c3–e4), ferner z. B. IX, 585 b–d, bes. c12: et 8’ εἰ δ᾽ ἀληθείας ἧττον (sc. μετέχει), οὐ καὶ οὐσίας; – ἀνάγκη. Entsprechend ist das Gute, das in irgend einem Sinne ‚jenseits‘ des Seins steht, auch über die Wahrheit hinausgehoben, die es verleiht (509 a4 mit 508 e1 und 509 b9). Das Gute verleiht aber nicht nur Wahrheit, sondern auch Sein: 509 b6–8; ebenso sind die Prinzipien des Immerseienden in α 1 für die übrigen Dinge nicht nur αἴτιον τοῦ ἀληθέσιν εἶναι, sondern auch αἴτιον τοῦ εἶναι (993 b27, 29f.). – Diese Übereinstimmungen weisen zusammen mit den oben S. 229 (mit Anm. 17) besprochenen darauf hin, daß es Aristoteles in diesem Kapitel, ganz wie Platon im Sonnen- und Höhlengleichnis, um den höchsten Punkt im System (sit venia verbo) geht. Weiter geht die Entsprechung nicht; abzulehnen ist nicht nur Bärthleins Gleichsetzung der ἀεὶ ὄντα mit den mathematischen Gegenständen, sondern auch (worauf D. Rees in der Diskussion hinwies) seine Parallelisierung der ‚Objekte des Tuns‘ (993 b20–23) mit dem σκευαστὸν γένος von Politeia 510 a6. 39 Zur Nähe von fr. 5 b Ross zum akademischen Derivationsgedanken s. Paul Wilpert: Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre. Regensburg 1949, 129ff.; Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959)), 259.

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(p. 32, 14–17 Ross). Bedenkt man, daß die ‚ontologische‘ Wahrheit von α 1, die den Dingen (und nicht primär dem Urteil über sie) zukommt, nichts anderes ist als ihre Erkennbarkeit,40 so sieht man, daß die Bindung der Erkennbarkeit an die Ursächlichkeit im Protreptikos nichts anderes meint als 993 b27 ἀληθέστατον τὸ τοῖς ὑστέροις αἴτιον τοῦ ἀληθέσιν εἶναι, denn mit dem Sein (εἶναι, 993 b29f.) erhält das Spätere auch Ordnung und Bestimmtheit, somit Erkennbarkeit (,Wahrheit‘) vom Früheren. Die seinsmäßigen Ursachen sind die γνωριμώτερα (32, 14), oder, als letzte Ursachen, τὰ τῇ φύσει φανερώτατα πάντων (993 b11). Unmittelbar auf die Erläuterung der höheren Erkennbarkeit der Ursachen folgt im Protreptikos jenes Wort von der ἀληθείας ἐπιστήμη (33, 6–7), das in α 1 als richtig erwiesen werden soll. Diese vage Umschreibung von Philosophie ist im Zusammenhang der Protreptikos-Stelle angemessen, denn hier wird nicht entschieden, worin die an sich erkennbareren Ursachen bestehen, ob es sich um Feuer oder Luft handelt, oder um die Zahl, oder gewisse andere Wesenheiten (b33, 2). In α 1 bleibt es nicht bei der allgemeinsten Definition von Philosophie, auch wenn sie durch die Betonung des Zusammenhangs von Wahrheit und Ursächlichkeit gestützt wird. Indem ‚das Wahrste‘ oder die unverursachten Ursachen als ‚die Prinzipien des Immerseienden‘ bestimmt werden, ist jene dritte Alternative der ἄλλαι τινὲς φύσεις wenigstens andeutungsweise mit Inhalt gefüllt. Daß aber jene unbestimmt gelassenen anderen φύσεις auch im Protreptikos nichts anderes meinen als die nicht wahrnehmbaren unvergänglichen Substanzen, läßt sich durch Vergleich mit zwei Stellen des Z wahrscheinlich machen: es soll später untersucht werden, sagt Aristoteles Z 11, 1037 a12, ob es neben der Materie der zusammengesetzten Substanzen noch eine andere gibt, und ob man nach einer anderen οὐσία forschen müsse, „etwa Zahlen oder etwas dergleichen“. Der Materie des Zusammengesetzten entsprechen im Protreptikos Feuer und Luft, darauf folgt in beiden Texten der pythagoreisch-platonische Substanzbegriff (,Zahl‘), dann eine vage Andeutung einer dritten Ansicht. Aus Z 17, 1041 a7–9 wird klar, daß diese unbestimmt gelassene dritte Möglichkeit in Z 11 die eigene Theorie der unbewegten Beweger als nicht wahrnehmbarer Substanzen meint. Diese sind, wie man weiß, ἀρχαί auch der sichtbaren ἀεὶ ὄντα. Es dürfte klar geworden sein, daß das erste Kapitel von Alpha elatton, das eine Anzahl von Einleitungstopoi mit A 1–2 teilt und das die Philoso-

40 Lambertus Marie de Rijk: The Place of the Categories of Being in Aristotle’s Philosophy. Assen 1952, 8ff. „Ontological truth turns out to be nothing else than ,knowability’“ (13).

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phie schließlich als ein Wissen von den Prinzipien des Immerseienden bestimmt, ein Prooimion zu einer Abhandlung aus dem Bereich der πρώτη φιλοσοφία sein will. Auf die Physik als die einzuleitende Wissenschaft könnte man allenfalls 993 b1–2 beziehen: ἀλλ᾽ ἕκαστον λέγειν τι περὶ τῆς φύσεως. Doch selbst ohne die Klarstellung, die der Schlußteil bringt, wäre auch hier eher an eine der Tendenz nach umfassende Wahrheitsforschung zu denken: der Ausdruck meint ja nichts anderes als die ἀληθείας θεωρία von 993 a30 – eine Wendung, die gewöhnlich die philosophischen Bemühungen (meist der Vorgänger) in voller Allgemeinheit bezeichnet.41 φύσις meint folglich hier die ὅλη φύσις, die einige der φυσικοί irrtümlich glaubten im Blick zu haben, die φύσις insofern sie identisch ist mit dem ὄν (Γ 3, 1005 a31–33), oder die ἀλήθεια insofern sie identisch ist mit der φύσις τῶν ὄντων (Phys. I 8, 191 a24). Aber auch die Auffassung, Alpha elatton sei eine Einleitung zur theoretischen Philosophie allgemein,42 wird durch den Text des 1. Kapitel nicht gestützt: ‚das Wahrste‘ und ‚das seiner Natur nach Offenbarste‘ bezeichnen eindeutig den Bereich der höchsten Ursachen, also den Gegenstand der Ersten Philosophie. 3.

Mit gleicher Deutlichkeit leitet nun aber das 3. Kapitel hin zu einer Untersuchung der φύσις im engeren Sinn. „Die mathematische Genauigkeit soll man aber nicht bei allen Gegenständen fordern, sondern (nur) bei solchen, die keine Materie haben. Daher ist sie nicht die naturwissenschaftliche Verfahrensweise; denn die gesamte Natur hat wohl Materie. Daher ist zuerst zu untersuchen, was die Natur ist; denn so wird es auch klar werden, worauf sich die Naturwissenschaft richtet und ob es Aufgabe einer oder mehrerer Wissenschaften ist, die Ursachen und Prinzipien zu betrachten (995 a14–20)“. Die hier gemeinte φύσις ist unbestreitbar die bewegte und wahrnehmbare Natur, die den Gegenstand der Naturwissenschaft bildet. Um diesen Gegenstand und die Aussage über die ihm angemessene Unter suchungsart zur Evidenz zu bringen, muß als erstes gesagt werden, was die φύσις ist (a18). Da die erhaltene Metaphysik die damit geweckte Erwartung nicht erfüllt,43 hat man versucht, der Stelle einen anderen Sinn zu unterschieben: der Fall der Naturwissenschaft sei nur beispielshalber angeführt, eine

41 Vgl. Cael. I 5, 271 b6f.; ähnlich III 1, 298 b12; Gener. Corr. I 8, 325 a17; ἀλήθεια und φύσις auch An. I 1, 402 a5; s. auch oben Anm. 29. 42 Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 138, 8. 43 Δ 4 kommt natürlich nicht in Frage.

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Begriffsbestimmung der φύσις brauche man nicht zu erwarten.44 Dazu genügt es zu sagen, daß Aristoteles Beispiele und Analogien als solche zu kennzeichnen pflegt, was auch hier mit geringem sprachlichen Aufwand möglich gewesen wäre; doch lesen wir nichts davon im Text. Die Formulierung διὸ σκεπτέον πρῶτον τί έστιν ἡ φύσις ist im übrigen eindeutig und läßt keinen Raum für Zweifel.45 Die methodischen Überlegungen, die zur Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung der ‚Natur‘ führen, haben ihrerseits deutlich einleitenden Charakter. Zum Vergleich bieten sich die Anfänge der beiden Ethiken an. Die EN beginnt, wie wir sahen, mit einer ersten, noch wenig spezifischen Bestimmung des Gegenstandes: es geht um den obersten Zweck des Handelns (I 1, 1094 a1–b11). Hier folgen bereits Fragen der Methode: sie muß sich jeweils nach dem Gegenstand richten; Genauigkeit ist nicht gleichermaßen in allen Argumenten zu suchen (1094 b13 ~ 995 a15). In der Ethik sind nur Aussagen möglich, die meistenteils (also nicht notwendig und nicht immer) gelten (b14–22). Dann wendet sich der Gedanke von der Art der Untersuchung zu deren Hörer, also zu dem Thema, mit dem α 3 beginnt. Man muß eine Erörterung so aufnehmen, wie es der Methode entspricht, die der Gegenstand zuläßt; wer die richtige methodische Vorbildung hat, wird die (mathematische) Genauigkeit nur dort verlangen, wo sie der Natur des Gegenstandes entspricht. Jeder beurteilt das richtig, was er kennt, worin er vorgebildet (πεπαιδεύμένος) ist, Schlichtweg richtig urteilt der in allen Dingen (methodisch) Vorgebildete (1094 b22–1095 a2). Die Abfolge und die Gewichtung der einzelnen Punkte ist zwar in α 3 nicht ganz dieselbe: der Text beginnt mit der in der EN nur kurz berührten Gewöhnung der Hörer an bestimmte Verfahren, von der ihre Fähigkeit, etwas richtig aufzunehmen, abhängt; im Vordergrund steht auch hier das mathematisch genaue Verfahren (994 b32–995 a12); es folgt die Forderung nach Vorbildung (in Fragen der Methode), die einen befähigt, alles

44 Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 169, 26ff. erwog diese Lösung als eine Möglichkeit, den Ausschluß von Alpha elatton aus der Metaphysik zu vermeiden; er wußte allerdings, daß der Wortlaut gegen diese Deutung spricht (170, 5 – trotz der Lücke ist der Sinn des Satzes klar). Zur einzig vertretbaren Auffassung wurde sie bei Paul Gohlke: Die Entstehung der aristotelischen Prinzipienlehre. Tübingen 1954, 94. Die Ansicht Gohlkes übernahmen Reale: Il concetto di filosofia prima, 52 und Aristotele: La Metafisica. Traduzione di Reale, Bd. I, 231; Crilly: The Role of Alpha Minor, 57, 60; Aristoteles: Metaphysik. Hg. v. Horst Seidl, Bd. I, 312f. (S. auch unten 216 mit Anm. 80.). 45 Vgl. auch W. Jaegers Richtigstellung des Versuchs von Lasson, die ‚Physis‘ zur Bedeutung ‚reale Welt‘ (= Gesamtheit der Dinge) auszuweiten (Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 117f.).

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richtig aufzunehmen, schließlich die bereits zitierte Einschränkung des Geltungsbereichs der mathematischen ‚Akribologie‘. Doch ist die Übereinstimmung ungeachtet der anderen Anordnung so eng – sie betrifft die Themen der Gewöhnung, der Art der Aufnahme, der Angemessenheit an den Gegenstand, der Zurückweisung des mathematischen Verfahrens und der Notwendigkeit des πεπαιδεῦσθαι–, daß man die nachträglich dem Ethik-Abschnitt gegebene Überschrift: περὶ ἀκροατοῦ καὶ πῶς ἀποδεκτέον (I 1, 1095 a12) auch über α 3 (bis 995 a17) setzen könnte. Aristoteles setzt nun zu einer genaueren Bestimmung des Gegenstandes der Ethik an (I 2, 1095 a14ff.), die jedoch sogleich wieder zu Methodenfragen führt (a30ff.): entscheidend ist, ob man von den Prinzipien her oder auf sie hin argumentiert; dies führt zum Topos vom Unterschied des uns Bekannten und des an sich Erkennbaren (b2–4), der uns anläßlich von α 1 beschäftigt hat; er wird hier mit dem Thema der Gewöhnung verbunden (1095 b4–13, vgl. 1094 a28 ~ α 3, 994 b32ff.). Diese zweiten methodischen Reflexionen bezeichnet Aristoteles dann als Exkurs (1095 b14), was für unsere Fragestellung nicht belanglos ist: solche Fragen gehören für ihn eigentlich an den Anfang, vor den Beginn der genaueren Bestimmung des Gegenstandes. Auch in der EE stehen die methodischen Reflexionen vor dem neuen Ansatz zu einer ‚klaren‘ Eingrenzung des Gegenstandes. Wie in der EN stehen hier Motive neben einander, die in Alpha elatton auf das 1. und 3. Kapitel verteilt sind. Anhand der Ansicht des Sokrates, Tugend sei Wissen, wird der Unterschied der theoretischen zur praktischen Philosophie, die ein τέλος außerhalb ihrer selbst hat, erläutert (I 5, 1216 b3–25; zu b11–19 vgl. α 1, 993 b20–23). Die Methode der Ethik verlangt logische Argumente, aber unter Berücksichtigung der Tatsachen der Erfahrung (I 6, 1216 b26ff.). Man muß von den verworrenen vorherrschenden Ansichten, die aber etwas Wahres enthalten, zu den γνωριμώτερα fortschreiten (1216 b32ff. – in etwa vergleichbar 993 b6–11). Die philosophische Untersuchung nennt auch den Grund (1216 b35–39 – dies entspricht dem Topos vom Wissen als Ursachenwissen, 993 b23). In der Ethik ist freilich Vorsicht nötig: aus der überzeugung, ein Philosoph müsse alles begründen, werden oft sachfremde Argumente vorgebracht (I 6, 1216 b40–1217 a7); doch die Unfähigkeit zu beurteilen, welche Art von Argumenten einer Sache angemessen ist, ist ἀπαιδευσία (a7–10). In der Ethik ist oft auf die φαινόμενα mehr zu geben als auf λόγοι (a10–17). – Der Ausdruck ‚mathematische Genauigkeit‘ fehlt hier, doch ist auch so deutlich, daß wie in EN und α 3 das Ideal des ‚exakten Beweisens‘ abgelehnt wird. Beachten wir, daß in beiden Ethiken die unangebrachte (mathematische) Genauigkeit gegen die Methode desjenigen Gebiets abgehoben wird,

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um das es in dem ganzen Werk gehen wird, und daß nach Ablehnung des Genauigkeitsideals die τί ἐστιν-Frage für die Eudaimonie als den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung gestellt wird (EN I 2, 1095 a15ff., EE I 7, 1217 a20ff.). So wird in α 3 das mathematische Verfahren gegen das physikalische gesetzt, und dann gefragt τί ἐστιν ἡ φύσις: die Physis ist mithin der Gegenstand, und nicht ein ‚Beispiel‘. Das Nebeneinander von Themen aus α 1 und α 3 in den Prooimien der Ethiken macht zusätzlich deutlich, was in sich schon klar genug ist, nämlich daß α 3 einleitend verfährt und nicht gut nach α 2 kommen kann.46 Denn der dort erbrachte Erweis der Existenz von Ursachen und Prinzipien wäre zweifellos schon Gegenstand der Hauptuntersuchung (gehe sie nun über die Physis oder über die letzten Prinzipien aller Dinge). Die Wiederkehr von Gedanken mit Einleitungscharakter in Alpha elatton ist auch nicht vergleichbar mit dem Fall von EN I 1 –2, denn erstens tritt dort zwischen die zwei Methodenabschnitte (I 1, 1094 b11–1095 a13, I 2, 1095 a30–b13) kein wesentlicher Teil der Hauptuntersuchung (sondern nur der erste Ansatz zu ihr), zweitens ist der zweite Abschnitt deutlich als ‚Exkurs‘ bezeichnet, die intendierte Einheit der Erörterung also vom Autor selbst deutlich gemacht, und drittens ist in beiden Abschnitten klar gesagt, daß sie die Ethik betreffen. α 1 und α 3 machen hingegen ihrerseits deutlich, daß es das eine Mal um die Prinzipien des Immerseienden geht, das andere Mal um die Physis. Es handelt sich mithin um die Einleitung zu einer ‚metaphysischen‘ Abhandlung und um das Bruchstück einer Einleitung zu einer ‚physikalischen‘.47 4.

Man findet in unserem Zusammenhang Hermann Bonitz mitunter nur als Leugner der Verbindung zwischen dem 1. und dem 2. Kapitel von Alpha

46 Es genügt nicht festzustellen, daß Aristoteles irgendwo in der Nähe des Anfangs auf Methode zu sprechen zu kommen pflegt (Crilly: The Role of Alpha Minor, 55). Die ‘Genauigkeit’ der höchsten Wissenschaft erwähnt Aristoteles A 2, 982 a25; wenn ein einheitlicher Zusammenhang vorläge, wäre hier der Ort für die Überlegungen von α 3 gewesen. Wenn wenigstens Alpha elatton eine Einheit bildete, wäre die Frage der ‚Genauigkeit‘ (entsprechend dem Modell von A 1–2) besser im Rahmen der Hinführung zum Gegenstand, also in α 1, berührt worden. Aber es geht hier eben nicht um die ‚metaphysische Methode‘ (wie Crilly 65, 69, Reale, Ar. Met. I 73, Seidl I 312f., glauben), sondern um den φυσικὸς τρόπος. Vgl. unten 255 mit Anm. 80. 47 E. Berti sieht im ganzen Alpha elatton eine einheitliche Zielsetzung: es gehe um „une physique au sens large“, in der die seit Phys. I–II getrennten Disziplinen Physik und Metaphysik (Erste Philosophie) noch nicht geschieden seien, also um

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elatton zitiert.48 In Wirklichkeit hat gerade er den Zusammenhang mit besonderer Klarheit formuliert: „Philosophiam utpote veritatis scientiam quum suspensam esse a principiorum summorum cognitione demonstratum sit, ut possit omnino esse philosophia, principia oportet cognosci posse. Non possent autem cognosci, si in infinitum progrederentur“ (Ar. Met. II, 1849, 130). Leider sprach Bonitz nicht mit der nötigen Deutlichkeit aus, daß diese Verbindung, die er als „tenue admodum et exile sententiarum vinculum“ (ebd. 17) einstufte, vom Leser erst hinzuzudenken ist, da der Text keinerlei Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel formuliert. Ein solcher Übergang müßte festhalten, daß die Endlichkeit der Ursachen die Möglichkeit der Philosophie sichert. Aber das erste Kapitel hatte, im Gegensatz zu Protr. fr. 5 b Ross, die grundlegende Alternative möglichunmöglich übersprungen und war gleich von der Alternative leicht-schwer ausgegangen, bei der die Möglichkeit der Philosophie schon vorausgesetzt ist. Vor allem aber müßte ein Übergang zwischen dem undifferenzierten Gebrauch von αἴτιον und ἀρχή in α 1 und der getrennten Behandlung von

eine frühe Stufe der Theorie der ersten Ursachen, die auch in Met. Λ vorliege (Berti: L’unità del sapere, 277 mit Anm. 46, 280, 286, 289f. mit Anm. 87, 290f.). Mit dieser Auffassung schwer auszugleichen (und, soweit ich sehe, nirgends ausgeglichen) ist die zutreffende Feststellung, daß Physik, Astronomie und Theorie der unbewegten Substanzen in Met. Λ „objets des sciences differentes“ sind (ebd., 281). Es nützt auch nichts, diese Feststellung abschwächen zu wollen mit dem Hinweis, die Trennung sei in Λ 1, 1069 a36f. nur „en forme dubitative“ (Berti: L’unità del sapere, 281) gegeben, denn das betrifft nur die wie so oft behutsame Formulierung zu Beginn der Untersuchung – der Sache nach ist die Festlegung der φυσική auf den Bereich der Bewegung und die Existenz einer nicht der Physik unterstellten Substanz vollkommen eindeutig, nicht nur hier, sondern vor allem auch zu Beginn des zweiten Teils, der auf 1069 a30–b2 zurückgreift: ἐπεὶ δ᾽ ἦσαν τρεῖς οὐσίαι, δύο μὲν αἱ φυσικαί, μία δ᾽ἡ ἀκίνητος Λ 6, 1071 b3–4 (vgl. auch die Abhebung der Astronomie von der ‚Philosophie’ Λ 8, 1073 b3–6). Man sollte sich von dem Umstand, daß die bewegten und die unbewegten Substanzen im Rahmen ein und derselben Skizze behandelt werden, nicht zu der Annahme verleiten lassen, sie gehörten auch im Sinne der aristotelischen Einteilung der Wissenschaften in ein und dieselbe Disziplin. – Ebenso eindeutig ist in α 3, 995 a17 ἅπασα γὰρ ἴσως ἡ φύσις ὕλην ἔχει die Physis auf das beschränkt, was Materie hat („ἴσως non dubitantis est, sed modeste asseverantis“ Bonitz II 86, mit Parallelen), und auf diese Physis richtet sich die φυσική (a18). Es scheint mir bedenklich, diesen klar ausgegrenzten Begriff von φυσική (es ist der übliche aristotelische PhysikBegriff) mit dem unterminologischen Gebrauch von φύσις (nicht φυσική) in α 1, 993 b2 (Parallelen zu diesem Gebrauch s. o. 241) zu sammenzuaddieren zu einer „physique au sens très large“. Vgl. auch oben Anm. 28, unten Anm. 89. 48 Ross, Ar. Metaph. I 216. Reale: Il concetto di filosofia prima, 46 n. 109.

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vier Ursachenarten in α 2 vermitteln. Wie eine minimale Vermittlung aussehen müßte, zeigt der Anfang von A 3: nachdem im Prooimion A 1–2 ähnlich wie in α 1 in sehr allgemeiner Weise von der Erkenntnis der ersten Prinzipien die Rede war, weist Aristoteles nun auf die vier Bedeutungen von αἴτιον hin, stellt sie kurz vor und gibt an, woher er das fertige Theorem nimmt: aus der Physik (A 3, 983 a24–33). Es kommt hinzu, daß die Beweisführung in α 2 nirgends auf das Ergebnis von α 1 Rücksicht nimmt. Wenn die ‚Prinzipien des Immerseienden‘ richtig gedeutet werden als die unbewegten Beweger – und wir sahen, daß die alternative Auslegung auf die Beweisprinzipien nicht überzeugt – und wenn die Möglichkeit von philosophischer Erkenntnis solcher Prinzipien etabliert werden soll, so wäre eine besondere Berücsichtigung der letzten Bewegursache angebracht. Zum Vergleich eignet sich wieder A, das im Prooimion auf Gott als eine ἀρχή τις hinweist (2, 983 a9, vgl. 982 b10 über ‚das Gute und das Worumwillen‘), um dann im doxographischen Teil dem Verfehlen der letzten Beweg- und Zielursache durch die Vorgänger besondere Aufmerksamkeit zu schenken. In α 2 scheint diese Ausrichtung der Philosophie auf die transzendenten Prinzipien vergessen: beim Nachweis der Endlichkeit der Ursachenketten in den einzelnen Ursachenarten ist gerade die Bewegursache übergangen,49 während die Behandlung der Zielursache ganz auf die Zweckhaftigkeit im Bereich des menschlichen Handelns ausgerichtet ist.50 Hingegen nimmt die Stoffursache, an die man

49 Seidl (Aristoteles: Metaphysik. Hg. v. Horst Seidl, Bd. I, 310) wollte 994 a11–19 speziell auf die Bewegursache beziehen. Indes handelt es sich um ein allgemeines Argument, das für den Begriff ‚Ursache‘ überhaupt gilt, vgl. Bonitz 313; „ad omnia causarum genera simul pertinet“. – Die Beispiele in 994 a6–7 führen die Bewegursachen allerdings bis zur Sonne, was ein Fortschreiten zu den unbewegten Bewegern in die Nähe rückt, vgl. Λ 5, 1071 a15. 50 Als Beispiele sind Spazierengehen, Gesundheit, Eudaimonie genannt (994 a8– 10). In 994 b15 ist wegen des nachfolgenden πράττει doch wohl ἐν τοιούτοις (Π) zu lesen; die Lesung ἐν τοῖς οὖσιν (Ab) will offenbar die fehlende Beziehung auf ‚das Seiende‘ insgesamt wettmachen.

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doch bei den Prinzipien des Immerseienden nicht primär denken würde,51 einen überproportional breiten Raum ein.52 Zuletzt sei noch auf den technisch-trockenen Argumentationsstil des zweiten Kapitels hingewiesen, der sich vom lockeren Einleitungsstil des 1. und 3. Kapitels spürbar unterscheidet,53 sowie auf den erheblichen, kaum durch Zufall erklärbaren Unterschied in der Hiatvermeidung.54 Über den Aufweis von Stilunterschieden bemerkte einst G. Ramsauer: „Neque inuti-

51 Vgl. Metaph. H 4, 1044 a32ff.: bei den natürlichen und dem Werden unterworfenen Substanzen sind alle vier Ursachenarten zu berücksichtigen; „bei den natürlichen, aber ewigen Substanzen ist es eine andere Sache; denn manche Dinge haben wohl keine Materie, oder keine solche [sc. wie die Stoffursache der vergänglichen Substanzen], sondern nur eine Materie der Ortsbewegung“ (1044 b6–8). Die ‚Ortsmaterie‘ (ὕλη τοπική H 1, 1042 b6, vgl. ὕλη ποθὲν ποί Λ 2, 1069 b26) der Gestirne ist also von den üblichen Stoffursachen (die in α 2 allein vorkommen) so weit entfernt, daß Aristoteles sagen kann, die ewigen Substanzen haben keine ὕλη. 52 Es ist daher (vorsichtig gesagt) harmonisierend, wenn Crilly zu Kap. 2 schreibt: „The author next attempts to show the existence of such causes as described in the first chapter“ (50). α 1 redet nicht von verschiedenen Ursachenarten, α 2 nicht von τῶν ἀεὶ ὄντων ἀρχαί. Nach Enrico Berti: Aristotele: dalla dialettica alla filosofia prima. Padua 1977, 339 gibt α 2, nach dem Begriff der ersten Ursachen in α 1, die Präzisierung der ersten Ursachen in den „zuvor unterschiedenen“ Ursachenarten. Doch während Aristoteles einen Hinweis darauf, daß und wo die Ursachenarten zuvor unterschieden wurden, in A immer wieder für nützlich hielt (A 3, 983 a33; A 7, 988 a22; A 10, 993 a11), fehlt hier eine solche Angabe, die doch nach α 1 mit seinem Prooimioncharakter nötiger gewesen wäre als nach A 6 oder A 9. Auch dies ist ein Indiz, daß nicht eine durchgehende Darstellung gemeinsam konzipierter Argumente vorliegt. – Décarie: L’objet de la métaphysique, 93 n. 3 erwog die Einordnung von α 1–2 vor A 3. Für α 1 wäre dies wegen der Überschneidungen mit A 1–2 nicht sinnvoll, α 2 hingegen wäre als sachliche Ergänzung zwar nicht vor A 3, aber nach A 3, 983 a33 gut denkbar. Vgl. unten Anm. 84. 53 In α 3 erinnert vor allem 995 a3–5, 9–12 (Stützung der Gesetze durch Fabeln; Verachtung der Genauigkeit wegen ihrer vermeintlichen Kleinlichkeit) an die wenig strenge Darstellungsweise von α 1, in der ein Sprichwort, ein Gleichnis, ein Exempel aus der Musikgeschichte (993 b5, 9, 15) den Ton setzen. In α 2 ist schon im ersten Satz οὔτ᾽ εἰς εὐθυωρίαν οὔτε κατ᾽ εἶδος nur für den verständlich, der den Unterschied zwischen Ursachenarten und Ursachenketten in derselben Art, mithin die ganze Theorie, schon kennt. Das ganze Kapitel ist anspruchsvoller, die Erklärung an mehreren Stellen umstritten. 54 Den Hinweis auf diesen Befund verdanke ich P. Huby. Nach meiner Zählung kommen im 1. Kapitel 0,54 Hiate pro Bekkerzeile, im 2. Kapitel hingegen 1,92, also fast das Vierfache. Kapitel 3 steht mit 0,85 Hiaten deutlich näher bei Kapitel 1 als bei Kapitel 2.

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le est talia observasse; persaepe enim inde locorum naturam et ipsam scribentis sententiam melius cognosces55“. Die Erkenntnis, die sich hier daraus (und aus den vorangehenden Beobachtungen) ergibt, ist, daß Alpha elatton weder ein ‚Buch‘ darstellt noch eine geschlossene Abfolge aus einem Buch. Die Brüche zwischen den drei Abschnitten sind selbst für eine aristotelische Pragmatie allzu harsch. Das zweite Kapitel ließe sich zwar mit dem ersten in einen übergreifenden Zusammenhang integrieren, doch fehlt im überlieferten Text jeder Ansatz dazu.56 Das dritte Kapitel ist Teil eines Prooimions zu einer anderen Untersuchung als α 1. 5.

Eine Erklärung für die mangelnde Einheit glaubte W. Jaeger in der Nachricht über Pasikles von Rhodos gefunden zu haben. Der Neffe des Eudemos war nach Jaeger nicht der Verfasser von Alpha elatton, wie das Scholion57 sagt, sondern hat lediglich eine Niederschrift angefertigt. „Bei unserer

55 Aristoteles: Ethica Nicomachea. Ed. et comm. instr. Georg Ramsauer. Leipzig 1878, 14 (zu 1095 b9ff.). 56 J. Barnes gab zu bedenken, ob hier nicht zu strenge Anforderungen an die Verknüpfung der einzelnen Teile untereinander gestellt seien. In 993 b19 sei, mitten im 1. Kapitel, ebenfalls ein Einschnitt, und vielleicht ein stärkerer als zwischen Kap. 1 und 2; ob nicht die Zerlegung von Alpha elatton in drei Teile weitgehend von der herkömmlichen Kapiteleinteilung determiniert sei. – Ich leugne nicht, daß in 993 b19 und schon in b11 starke Einschnitte vorliegen; doch kommt der Abschnitt über ‚Wissenschaft der Wahrheit‘ (b19–31) auf eine Formulierung des Anfangs (,Betrachtung der Wahrheit’ 993 a30) zurück, und ebenso führen die Gedanken über den Dank auch an die Oberflächlicheren die Bemerkung über den geringen Beitrag der einzelnen Denker zur Wahrheitsfindung (b1–2) fort; die Einheit des Kapitels besteht also darin, daß seine drei Teile (,leicht/schwer’ 993 a30–b11, Vorgänger b11–19, Wissenschaft der Wahrheit b19–31) Motive der beiden Anfangssätze weiterentwickeln. Der Gedanke der Endlichkeit der Ursachen zu Beginn des 2. Kapitels ist demgegenüber doch ein ganz neuer Einsatz; das Ende dieses Kapitels kehrt ähnlich wie beim 1. Kapitel zum Anfang zurück. Die herkömmliche Kapiteleinteilung trennt also doch einigermaßen in sich geschlossene Einheiten ab (die Behandlung des Hiates kann dieses Ergebnis von einer ganz anderen Seite her stützen). Wie man den Übergang von Kap. 1 zu Kap. 2 einschätzt, hängt wesentlich davon ab, ob man Kapitel 1 als einen Anfang betrachtet oder nicht. Im Inneren eines Werkes, dessen Ziel, Methode und allgemeiner Aufriß schon angegeben wurden, sind lockere Übergänge gewiß nicht anstößig; zu Beginn einer Abhandlung – noch dazu einer, die in ihrem ersten Abschnitt mit recht allgemein gehaltenen Gedanken aufwartet – ist der Gebrauch der Vier-Ursachenlehre ohne jede Erläuterung erstaunlich; A 3 verfährt da jedenfalls anders. 57 Vgl. oben Anm. 3.

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Voraussetzung erklären sich sogleich die unvermittelten Übergänge, an denen Bonitz Anstoß nahm. Beim Nachschreiben während der Vorlesung blieb dem Schüler keine Zeit, elegante Überleitungen festzuhalten, ihm kam es auf die leitenden Gedanken an58“. Indes sind es gerade die leitenden Gedanken von α 1 und 3, die die ungleiche Zielsetzung dieser Texte erweisen. Auch die fehlende Überleitung von α 1 zu α 2 ist nicht lediglich eine Frage der sprachlichen Ausarbeitung: wer etwa eine Nachschrift zu A 2–3 liefern wollte, müßte, auch wenn er noch so sehr verdichten wollte, den Satz τὰ δ᾽ αἴτια λέγεται τετραχῶς (983 a26), der zugleich unentbehrliche Brücke und leitender Gesichtspunkt für das Folgende ist, aufnehmen. Für anderes als das Fehlen von Überleitungen macht auch Jaeger Pasikles nicht verantwortlich: Wortschatz, Argumentationsweise und Stil sind, wenn auch ungleich in den drei Teilen, so doch überall gut aristotelisch.59 Jaegers Hypothese einer Nachschrift verdiente eine kurze Überprüfung: sie war einerseits die einzige Möglichkeit, das Scholion ernst zu nehmen, ohne die Echtheit von Alpha elatton zu leugnen; andererseits versprach sie die literarische Gestalt des ‚Buches‘ besser verständlich zu machen, was auch ohne die scheinbar präzise Angabe über Pasikles – d. h. bei einer Nachschrift durch einen Anonymus – von Interesse gewesen wäre. Nun ergeben sich von beiden Seiten Argumente gegen die Nachschrifthypothese: sie vermag die Textgestalt, wie wir sahen, nicht wirklich zu erklären, und was Pasikles betrifft, so hat G. Vuillemin-Diem überzeugend nachgewiesen, daß die Zuweisung von Alpha elatton an ihn nicht als antike Überlieferung gelten kann, sondern durch den Irrtum eines mittelalterlichen

58 Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 116. 59 Auch der nicht ganz befriedigende Aufbau von Kap. 2 (die Endlichkeit der Ursachenketten und die der Ursachenarten sind quantitativ sehr ungleich behandelt; die Erörterung der Ursachen in absteigender Linie (994 a19ff.) wird ohne Notiz zugunsten der umgekehrten Blickrichtung verlassen (b4); eine Behandlung der Bewegursache fehlt) ist nicht plausibler erklärt, wenn man ihn dem „Schüler“ zuschreibt: wer im einzelnen so aristotelisch schreiben kann, dem wird man kaum zutrauen, daß er eine der vier Ursachen aus Unfähigkeit übergeht; wenn die Darlegung aber aus anderen Gründen unausgeglichen ist, so kann sie auch von Aristoteles in diesem Zustand gelassen worden sein. – Sprachliche Spuren einer Bearbeitung sind nicht zu finden, abgesehen von dem ὅτι zu Beginn des Buches (zitiert von Alexander und Asklepios; nicht in den Hss.); ὅτι kann auch wortgetreue Auszüge einleiten.

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Scholiasten zustande kam.60 Das Scholion und die Überlegungen, die es auslöste, sind somit aus der Diskussion um Alpha elatton zu eliminieren. 6.

Nach der Verbindung der Teile von Alpha elatton untereinander ist die Verbindung des ‚Buches‘ mit den anderen Büchern der Metaphysik zu untersuchen. „Wir werden nun den Versuch aufgeben, dieses Stück als organisches Glied der Metaphysik zu begreifen“ – mit diesen Worten schloß Jaeger seine Ausführungen zu α ab (Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 118). Die Einfügung zwischen A und B hatte nach Jaeger vor allem den Zweck, die Rolle, auf der A geschrieben war, auf den üblichen Umfang zu bringen (ebd., 182). Doch daß verlegerische Gesichtspunkte auf die Formung des folgenreichsten Werkes der abendländischen Philosophiegeschichte Einfluß gehabt haben könnten, scheint manchen ein frevlerischer Gedanke. Die Versuche, α „als organisches Glied der Metaphysik zu begreifen“, werden auch nach Jaeger fortgesetzt. Zwei Fragen sind getrennt zu prüfen: (a) ob in Aristoteles’ Andeutungen zum Fortgang der Untersuchung für α ein Platz vorgesehen ist, und (b) ob sich in der Abfolge der Themen von A über α zu B ein philosophischer oder didaktischer Sinn erkennen läßt. (a) Am Ende von A faßt Aristoteles zusammen: der Überblick über die Ansichten der Vorgänger hat gezeigt, daß keiner eine andere Ursache außer den vier in der Physik genannten namhaft gemacht hat, und daß man bisher nur eine sehr unzureichende Erkenntnis dieser Ursachen hatte (993 a11–24). Über diese Dinge sei auch vorher Klarheit geschaffen worden (a24f.). ὅσα δὲ περὶ αὐτῶν τούτων ἀπορήσειεν ἄν τις, ἐπανέλθωμεν πάλιν. τάχα γὰρ ἐξ αὐτῶν εὐπορήσαιμέν τι πρὸς τὰς ὕστερον ἀπορίας (a25–27). Deutlich sind hier zwei Komplexe von Aporien unterschieden. Alexander versuchte die ‚späteren‘ Aporien auf B, die unmittelbar folgenden auf α zu beziehen: die überlieferte Abfolge der Metaphysikbücher wäre

60 Vgl. G. Vuillemin-Diem: loc cit. (oben Anm. 3), 188–191.

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also durch den Text selbst geschützt.61 Tricot, Reale und Seidl übernahmen diese Auslegung.62 Gegen sie sprechen mehrere Gründe. Die Aporien περὶ αὐτῶν τούτων (993 a25) sind dem Zusammenhang nach am einfachsten auf die Ansichten der Vorgänger und ihre mangelnde Klarheit zu beziehen.63 Aber auch wenn man diese Worte etwas gewaltsam auf die 4-Ursachenlehre selbst beziehen wollte, könnte man die Ankündigung der Wiederaufnahme von Aporien zu diesem Thema allenfalls mit α 2 verbinden. Daß α 1 dazwischen tritt, wird von dieser ‚Erklärung‘ ignoriert – dabei war es ihr Zweck, gerade den überlieferten Zusammenhang zu schützen. Und selbst auf α 2 läßt sich die Ankündigung von 993 a25 nur mit einiger Gewaltsamkeit beziehen: ὅσα ... ἀπορήσειεν ἄν τις läßt eine Mehrzahl von Fragen erwarten, α 2 hingegen behandelt nur die eine Frage, ob die Ursachen unendlich sind oder nicht. Schwerer wiegt aber der Umstand, daß die Argumentationsweise dieses Kapitels mit dem Aufstellen und Durchbesprechen von Aporien nichts zu tun hat: geradlinige Beweise für eine anfangs klipp und klar verkündete These (994 a1) sind nun einmal etwas anderes als aporematische Erörterungen.64 Wenn diese Lösung wegfällt, bleibt entweder die von Ross65 – die unmittelbar folgenden Aporien meinen B, die ‚späteren‘ nicht spezifizierte Probleme der Hauptuntersuchung – oder die von Jaeger66 – A 10 war ursprünglich anstelle von A 7 gedacht: zunächst sollte die kritische Erörterung der Ansichten der Vorgänger (A 8–9) folgen, dann das Buch B als die ‚späteren‘ Aporien. Zwischen diesen beiden Auffassungen hier zu entschei-

61 Alexander 136, 14–17; 137, 5–9. Alexander versucht hier – wie es der Kommentator zunächst auch tun muß – der überlieferten Abfolge Sinn abzugewinnen. Er weiß aber auch, daß B besser anschließt als α: διὸ δόξει τῷ μείζονι A τὸ B μᾶλλον ἀκολουθεῖν (138, 3). Zugunsten von α läßt sich allenfalls sagen, daß es dem vorliegenden Werk „nicht gänzlich fremd“ ist (138, 6f.). 62 Aristote: La Métaphysique. Ed. Tricot,. I, p. XXI und 105 n. 4; Reale: Il concetto di filosofia prima, 52 und Aristotele: La Metafisica. Traduzione di Reale, Bd. I, 212f.; Aristoteles: Metaphysik. Hg. v. Horst Seidl, Bd. I, 305. 63 Mit Alexander bezieht Jaeger (im kritischen Apparat z. St.) περὶ μὲν οὖν τούτων δεδήλωται καὶ πρότερον 993 a24 auf A 8, 989 a30ff.; das ist sicher zu eng, wie die Fortführung in der folgenden Zeile zeigt (vgl. Ross I 213). 64 Vgl. ferner Ross I 213 zu A 10, 993 a26: „the topics there discussed (sc. in a) can hardly be described as arising out of Book A“. 65 Ar. Metaph. I 212. 66 Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 14–21.

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den, erübrigt sich,67 da sie in unserer Frage zum selben Ergebnis führen, nämlich daß a nicht die angekündigten Aporien bringt, mithin den intendierten Zusammenhang A–B unterbricht. Zum Schluß von α 3 – die Wesensbestimmung der Physis werde Klarheit darüber bringen, „ob es Aufgabe einer oder mehrerer Wissenschaften ist die Ursachen und Prinzipien zu betrachten“ (995 a19–20) – bemerkt Alexander (174, 25–27 H.), er sei hier von einigen angefügt worden, damit die erste Aporie von B sich auf etwas im vorangehenden Text zurückbeziehen könne. Alexanders Ansicht (174, 7–25), daß der Wortlaut von 995 b5 keineswegs impliziert, daß die erste Aporie schon zuvor formuliert worden ist, ist sicher zutreffend. Allerdings folgt daraus noch nicht notwendig, daß die Frage am Ende von α 3 fehl am Platz ist (Alex. 174, 26). V. Décarie wies auf die Übereinstimmung des hier entworfenen Programms mit der Themenfolge im zweiten Buch der Physik hin: die in 995 a18 geforderte Definition der Physis liegt in Phys. II 1 vor, die mittels ihrer zu lösende erste Frage, auf Gegenstände welcher Art sich die Physik richte, ist in II 2 behandelt, während die zweite, ob die Ursachen und Prinzipien unter eine oder mehrere Wissenschaften fallen, in Phys. II 3, 194 b20–22 und II 7, 198 a22 zur Sprache komme.68 Die Übereinstimmung ist unbestreitbar hinsichtlich der ersten beiden Punkte,69 weniger evident hinsichtlich des in Frage ste67 Beide haben ihre Schwierigkeiten: gegen Ross spricht, daß die direkt folgenden Aporien sich mit den Ansichten der Vorgänger oder andernfalls mit der Vier-Ursachenlehre selbst befassen müßten, was auf B nur zum kleineren Teil zutrifft (vgl. Alexander 174, 22f.). Ferner ist es eine Notlösung, die recht bestimmt klingende Wendung τὰς ὕστερον ἀπορίας auf unbestimmte spätere Probleme zu beziehen. Bei Jaegers Lösung bleibt πρότερον (A 10, 993 a13, 25), das man am ehesten auf A 7 beziehen würde, unerklärt; insofern aber die Besprechung der Vorgänger (A 3–6) schon zeigte, daß sie keine neuen Ursachen brachten und die aristotelischen nur unklar begriffen, ließe sich die Beziehung auf A 7 vermeiden. Jaeger erklärt den Anschluß von B an A auch ohne A 10 für problemlos (Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik, 20), erklärt jedoch περὶ αὐτῶν 995 a26 nicht, das Ross auf 993 a25 und die 4 Ursachen bezieht. W. Theiler eliminierte die Schwierigkeit, die die zwei Sätze von Aporien bieten, indem er πρὸς τὰς ὕστερον ἀπορίας 993 a27 als Zusatz eines Lesers verstand, der die in 993 a25 erwähnten Aporien irrtümlich auf Alpha elatton bezog (Die Entstehung der Metaphysik des Aristoteles. Mit einem Anhang über Theophrasts Metaphysik. In: Museum Helveticum 15 (1958), 85–105, wieder gedruckt in: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hg. v. Fritz-Peter Hager. Darmstadt 1969 (= Wege der Forschung, Bd. 206), 266–298, zu Alpha elatton 268 und 280). 68 Décarie: L’objet de la métaphysique, 93 n. 3–6. 69 Schon dies ist genug, die Auffassung von α 3 – aber nur dieses Kapitels – als Prooimion zu einer Physikvorlesung zu bestätigen; vgl. Décarie l. c. Anm. 3 und oben Anm. 52 (Ende).

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henden dritten Punktes. Denn 194 b21f. enthält keinen Verweis auf eine andere Wissenschaft,70 während die leitende Frage in II 7 die ist, ob sich die Physik mit allen vier Ursachenarten befassen müsse (198 a22). Dies ist zunächst eine andere Frage als die von 995 a19f., denn es könnte ja sein, daß zwar die Physik alle vier Ursachen zu behandeln hat, daß aber die Erforschung der Ursachen dennoch Aufgabe mehrerer Wissenschaften ist, da auch andere Wissenschaften unter je anderen Aspekten entweder alle vier oder einige oder eine der Ursachenarten erforschen. Die Beantwortung der Frage, ob es eine oder mehrere Wissenschaften von den Ursachen und Prinzipien gibt, folgt auch nicht unmittelbar, wie es nach α 3 scheinen könnte, aus der Wesensbestimmung der Physis, sondern erst aus dem Nachweis, daß es keine Selbstbewegung gibt, weswegen die ewigen Bewegungen des Himmels auf unbewegte erste Beweger zurückzuführen sind.71 Andererseits erwähnt Aristoteles auch in II 7, 198 a27ff. die Notwendigkeit dieses Nachweises nicht und zieht bei seiner Unterscheidung der drei Pragmatien (über das Unbewegte, über das unvergängliche Bewegte, über das Vergängliche, a29–31) in der Tat den Begriff der Physis als Ursprung der Bewegung heran (a 28f.). Dies spricht für die von Décarie gemeinte Parallele; die von Alexander nahegelegte Athetese von 995 a19–20 wird man also aufgeben dürfen. Der Schlußsatz von α 3 dient, in seinem Kontext betrachtet, nicht der Integration in die Metaphysik, sondern sichert nur die ohnehin nicht zweifelhafte Zuweisung des Kapitels zu einer Physik-Einleitung. Ebenso zeigt aber der Anfang von Buch B, daß es nicht Alpha elatton – ob nun mit oder ohne Schlußsatz – aufnimmt. Nicht nur fehlt die angekündigte Definition der Physis72 und die daraus sich ergebende Klärung der Frage, welche Gegenstände die Physik umfaßt. Das Buch beginnt mit der Feststellung, daß man bei dem einsetzen muß, was zuerst Gegenstand von Aporien sein muß (995 a24–27), und mit einer Erläuterung der Bedeutung des διαπορῆσαι καλῶς (a27–b4). Beides zusammen macht unmißver70 Natürlich kann man bei „die Ursachen aller natürlichen Veränderung“ auch an die Ortsveränderung der Gestirne denken, deren Ursachen nichtphysikalische Substanzen sind. Da aber der Text diese Beziehung nicht explizit macht, wird man eher allgemein an die anderen Formen von μεταβολή neben Entstehen und Vergehen denken. 71 Vgl. E 1, 1026 a27–30: die Wesensbestimmung der Physis, die in 1025 b20 kurz in Erinnerung gerufen worden war, entscheidet noch in keiner Weise, ob die Physik die Erste Philosophie sein kann (in welchem Fall es keine weitere Wissenschaft gäbe, die die Prinzipien untersucht); die Antwort hängt vielmehr davon ab, ob es unbewegte selbständig existierende Substanzen gibt oder nicht. 72 Hierzu vgl. oben 241ff.

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ständlich den Eindruck eines systematischen Neuanfangs, vor dem nicht gut ein Abschnitt wie α 2 gestanden haben kann: denn bringt man dieses Kapitel mit den in A 10 angekündigten Aporien in Verbindung, so ist nicht einzusehen, warum die Bedeutung des richtigen διαπορῆσαι erst in B 1 und nicht schon vor α 2 gegeben wird;73 ist das Kapitel hingegen richtiger beschrieben als Teil nicht einer Einleitung, sondern der Durchführung einer Abhandlung über die Prinzipien,74 So gehört es gleichfalls nicht in ein und denselben Zusammenhang wie B, denn hier wird der Beginn mit Aporien als Vorbereitung der Lösung, nicht mit Beweisen, wie sie in α 2 geboten werden, gefordert. P. Gohlke war hierin wenigstens konsequent, daß er den Anfang von B 1 eliminierte und erklärte, daß „Buch I in letzter Fassung75“, d. h. Alpha elatton, direkt zur Aufzählung der Aporien in 995 b6 hinführen sollte.76 Gohlkes Lösung wird heute kaum noch jemand akzeptieren wollen; sie zeigt jedoch, welche Gewaltsamkeit notwendig ist, um Alpha elatton mit B bruchlos zusammenzuschließen. (b) W. H. Crilly77 unterließ es zwar, die Andeutungen des Textes über den Fortgang der Untersuchung zu interpretieren,78 fand jedoch einen methodisch-didaktischen Sinn in der Abfolge der Themen in A, α und B. Die Aufgabe einer Einleitung sei es, das Wohlwollen, die Aufnahmebereitschaft und die Aufmerksamkeit des Lesers zu sichern.79 Eben diese Funktionen seien in den ersten drei Büchern nacheinander erfüllt: A gewinne

73 Man wird vielleicht einwenden, daß auch die kritischen Erörterungen über die Ansichten der Vorgänger in A 8–9 als Aporien angekündigt sind (988 b21 bzw. 993 a25, falls Jaegers Hypothese zutrifft, s. oben 251f. mit Anm. 67). Aber diese Erörterungen ergeben sich unmittelbar aus dem Referat A 3–6; eine Rückbesinnung auf die Funktion des διαπορῆσαι ist hier daher nicht zu postulieren; sie ist hingegen angebracht beim systematischen Neuansatz in B 1. Es dürfte klar sein, daß α 2 (trotz dem kurzen Verweis auf die Vertreter des Unendlichen 994 b12) nicht doxographischen, sondern systematischen Charakter hat und daher seinen natürlichen Platz nach der Einleitung von B 1 hätte. 74 S. oben 246f. 75 Überschrift zu α in Gohlkes Übersetzung (Aristoteles: Metaphsik. In: Die Lehrschriften. Hg., übertragen u. in ihrer Entstehung erläutert v. Paul Gohlke. Paderborn 1951). 76 Der Schluß von α 3 sei „nichts anderes als ein Hinweis darauf, daß nunmehr Buch B von der Stelle 995 b5 an folgen solle, also unter Ausschluß des Anfangs“ (Gohlke: Die Entstehung der aristotelischen Prinzipienlehre, 1954, 94). 77 S. oben Anm. 7. 78 Und dies obschon er sie offenbar für wichtig hält: s. 4f. 79 Offenbar soll hier eine Regel der antiken Rhetorik für die Anlage philosophischer Abhandlungen nutzbar gemacht werden: Aufgabe des Prooemiums einer (Gerichts-)Rede war es, iudicem (oder auditorem) benevolum, docilem, attentum

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8. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik

unser Wohlwollen durch Nachweis des hohen Wertes der ‚Weisheit‘, α versichere sich unserer Aufnahmebereitschaft durch den Nachweis der Möglichkeit solchen Wissens, und B wecke unsere Aufmerksamkeit durch Darlegung der zu behandelnden Probleme. Im einzelnen löse α drei Einwände gegen die Möglichkeit von Metaphysik: (1) daß erste Ursachen unerkennbar sind, wie die Verschiedenheit der Ansichten über sie zeige, (2) daß sie nicht existieren und (3) daß sie nicht mit mathematischer Genauigkeit erkannt werden können (69f.). Das ist gewiß geistreich ausgedacht, beruht aber doch wohl auf Mißverständnissen und Fehleinschätzungen des Charakters und der Wirkung aller drei ‚Bücher‘. Schon die vorausgesetzte Einheitlichkeit der Thematik von Alpha elatton – Nachweis der Möglichkeit von Metaphysik – ist nur dank massiver Interpolation zu erreichen: das 3. Kapitel handle von der Methode der Metaphysik und sei „a caution to the student not to expect mathematical accuracy in metaphysics“ (61).80 In Wirklichkeit wird die mathematische Methode gegen die physikalische abgehoben, und οὐ φυσικὸς ὁ τρόπος (995 a16) ist hinlänglich klar in der Frage, auf welchem Gebiet man mathematische Genauigkeit nicht erwarten soll. Doch Crilly ignoriert dies und erklärt die Forderung nach vorgängiger Klärung des Begriffs Physis im Sinne von Gohlke als bloßes Beispiel.81 Crilly glaubt, daß parare (Belege bei Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960, I, 151, § 266). Die Problematik der Übertragung dieser Regel, die für „den (kurzen) Anfangsteil der Rede“ (Lausberg) galt, auf die drei Einleitungsbücher der Metaphysik scheint sich Crilly nirgends klar gemacht zu haben. 80 Auch Reale (Aristotele: La Metafisica. Traduzione di Reale, Bd. I, 73) glaubt, α 3 handle von der „metodo dell’indagine speculativa“. (Als Bestätigung nimmt er I 74 Theophr. Metaph. 10 a8: ὁ τρόπος οὐ φυσικός, ἢ οὐ πᾶς. Die Übereinstimmung ist jedoch eine rein verbale: der jeweilige Zusammenhang macht es eindeutig klar, daß bei Theophrast die physikalische Methode für die Prinzipienforschung, in α 3 die mathematische Methode für die Naturforschung abgelehnt wird. Ross z. St. stuft den Wortlaut Theophrasts zwar als „reminiscence“ an 995 a16f. ein, fügt aber hinzu: „but the meaning is different“. Die Formulierung ist jedoch kaum so spezifisch, daß man hinsichtlich der Reminiszenz sicher sein könnte). – Seidl (Aristoteles: Metaphysik. Hg. v. Horst Seidl, Bd. I, 312) löst das Problem vorweg durch die Überschrift „Schlußbemerkung an den Hörer der MetaphysikVorlesung“; von einem Schluß irgend einer Art kann keine Rede sein, das Kapitel ist unzweifelhaft ein Fragment. Seidls Paraphrase zeigt mit ihren Klammern gut das Ausmaß der nötigen Interpolation. – Die Auslegung geht im Ansatz auf Alexander zurück, der sie freilich noch mit einem „vielleicht“ versah (169, 7) und nur als zweite Möglichkeit erwähnte nach der unvoreingenommenen Auslegung auf die physikalische Methode (169, 15). Ross I 221 entschied sich zu Recht gegen Alexanders zweite Lösung. 81 S. oben 242f. mit Anm. 44.

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die Möglichkeit der Philosophie gerade an dieser Stelle, d. h. nach A 10, nachgewiesen werden müsse, weil der Leser (oder Hörer) durch die Schilderung der Ansichten früherer Philosophen verwirrt sei; A habe die Möglichkeit der Ersten Philosophie sogar verdunkelt (70). Eine gewisse Naivität ist dieser Erklärung schwer abzusprechen: ein Leser, der über 30 Seiten lang durchgehalten hat, sich auch durch die diffizilen Argumentationen von A 9 nicht abhalten ließ, bis zum Beginn von α weiterzulesen, sollte nun einen Trost von der Art nötig haben, daß die Philosophie irgendwie auch leicht ist, weil niemand sie gänzlich verfehlt? Ein solches protreptisch-exoterisches Motiv wäre nur annehmbar in einer Einleitung, die betont beim Nullpunkt beginnen möchte. Wichtiger ist aber folgendes: Crilly verliert kein Wort darüber, daß A in α nirgends erwähnt, das zurückzuweisende skeptische Argument nirgends formuliert wird.82 Vor allem aber steht die angeblich verwirrende Wirkung von A in seltsamem Widerspruch zur erklärten Zielsetzung: Aristoteles will nicht Verunsicherung, sondern Bestätigung des anderweitig ‚hinreichend‘ Erkannten (A 3, 983 a33) und bescheinigt sich selbst, daß sein Überblick dieses Ziel erreicht hat (A 7, 988 a20–23; A 10, 993 a11–13). Aber auch wir sollten ihm dies nicht bestreiten: da A nicht lediglich Meinungen in verwirrender Vielfalt aneinanderreiht, sondern die nötigen Korrekturen vom Standpunkt der Vier-Ursachenlehre dazugibt, schafft es in der Tat echt aristotelische Klarheit und Sicherheit. Wenn es irgendwo nötig wäre, der sinkenden Moral des Lesers oder Hörers gegen das skeptische Argument zu Hilfe zu kommen, so am ehesten nach dem Buch B, in dem sich ausschließende Ansichten weithin so behandelt werden, als hätten sie den gleichen Wahrheitsanspruch. Die Zielsetzung des ‚lectorem docilem parare‘ wäre eher geeignet, aus Alpha elatton ein Beta elatton zu machen. Im übrigen ist es durchaus nicht so, daß die Frage der Möglichkeit von ‚Weisheit‘ in A schlichtweg übergangen wäre (Crilly, 70), vielmehr ist es umgekehrt: ein Einwand – nämlich der, des Menschen Natur reiche nicht hin für solche Erkenntnis – ist nicht in a, sondern nur in A ausgesprochen und ausdrücklich widerlegt (A 2, 982 b 28ff.). Alpha elatton als ‘Fortsetzung’ (Crilly, 69) von A zu betrachten, ist nur möglich, solange man der Überschneidungen nicht gewahr wird; hat man sich einmal bewußt gemacht, daß eine Anzahl von typischen Prooimion-Topoi beiden Texten gemeinsam ist, und daß beide auf das Ziel der Erkenntnis letzter Ursachen

82 Die Auslegung von A 9, 993 a3f. in diesem Sinn (Crilly 62, vgl. 69) tut dem Text Gewalt an: sie behandelt ein Argument gegen die Platoniker, als wäre es ein Kommentar zum ganzen A.

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hinführen, so wird man α 1 eher als alternative Fassung von A 1–2 bezeichnen.83 Zur sachlichen Vervollständigung von A könnte α 2 dienen, würde diese Funktion aber besser zu Beginn von A 3, nach der Vorstellung der Ursachenarten, erfüllen.84 α 3 ist weder Fortsetzung noch Ergänzung noch konkurrierende Version, sondern gehört anderswo hin. 7.

Die Datierung des kleineren ‚Ersten Buches‘ müßte für seine drei Teile getrennt versucht werden. Wegen der geringen Sicherheit der zur Verfügung stehenden Kriterien stand diese Frage hier nicht im Mittelpunkt, doch ergaben sich nebenbei einige Anhaltspunkte, die die auch bisher schon vertretene Frühdatierung85 weiterhin wahrscheinlich machen. Dies gilt insbesondere für das erste Kapitel: es hat einerseits einen gewissen platonischen Anflug,86 andererseits eine deutliche Nähe zum Protreptikos; die Einzelerklärung führte häufig auf Parallelen aus Schriften, die ih-

83 Crilly nimmt auch nicht Anstoß daran, daß α 1, das doch angeblich auf die durch A 3–10 geschaffenen Verwirrungen antworten will, die vorbereitende Funktion der Vorgänger mit einem Beispiel aus dem Bereich der Musik, nicht aus der Philosophie belegt; sehr anders A 10, wo wirklich die Quintessenz aus A 3–9 gezogen wird: als Beispiel dient Empedokles. Wollte man die Unterschiede in der Behandlung der Topoi ‚leicht/schwer‘ und ‚Bedeutung der Vorgänger‘ – Unterschiede, die Crilly gleichfalls nicht kommentiert – als nachträglich abmildernde Korrekturen auffassen, so wäre erst recht irgend ein Rückverweis zu erwarten. Doch α „refers to no other book, and is referred to by none“ (Ross I, p. xxiv). 84 S. oben Anm. 52 (Ende). – Nebenbei sei erwähnt, daß der Nachweis der Endlichkeit (und somit der Existenz) von Ursachen im Rahmen der metaphysischen Bücher nützlich und wichtig, für die Konzeption von A aber vielleicht nicht unentbehrlich ist. Die Vier-Ursachenlehre wird A 3, 983 a33 der Physik zugewiesen, wo sie ‚hinreichend‘ behandelt wurde. In der Tat finden wir in Phys. I 4, 187 b7ff. und I 6, 189 a12–17 die Feststellung, daß unendlich viele Prinzipien nicht erkennbar wären, und zu Beginn von II 7 die nachdrückliche Versicherung, daß es ἀρχαί gibt. Das war für Aristoteles offenbar genügend, als er A schrieb, und wir würden α 2 wahrscheinlich nicht vermissen, wenn es zufällig nicht erhalten wäre. 85 S. oben Anm. 5. Für die Spätdatierung war Gohlke (Aristoteles: Metaphsik. In: Die Lehrschriften. Hg. v. Gohlke). 86 Der ‚ontologische‘ Wahrheitsbegriff mit der Entsprechung von Seinsgrad und Wahrheitsgrad und der Vergleich mit den Augen der Fledermaus sind ohne den Einfluß des Sonnen- bzw. Höhlengleichnisses kaum vorstellbar. Vgl. Wilpert: Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff, 5. Daß ‚platonische‘ Grundideen bei Aristoteles nicht notwendig auf ein frühes Datum schließen lassen, betonte immer wieder I. Düring, sicher zu Recht. Hier geht es nicht so sehr um die Platonizität des Gedankens, sondern mehr um die literarische Beeinflussung, die in der ersten Schaffensperiode vielleicht doch stärker gewesen sein wird als später. Im übrigen

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8. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik

rerseits allgemein als früh gelten.87 Der Eindruck, daß das Prooimion in A die weitaus reifere, methodisch behutsamere – und dann doch wohl spätere – Hinführung zum Gegenstand der Metaphysik ist, mag zu subjektiv sein, um als Argument zu gelten; gleichwohl kann man auf Urteile dieser Art beim Umgang mit den Pragmatien nicht ganz verzichten. Bei den anderen Kapiteln ist die Unsicherheit größer, doch könnte man das kurze dritte Kapitel wegen seiner Nähe zu EE I 6 und zur Fragstellung von Phys. II in eine relativ frühe Epoche datieren.88 Auch der Nachweis der Endlichkeit der Ursachen muß nicht weit von der Konzeption der aristotelischen Ursachentheorie (Phys. II) bzw. ihrer Nutzbarmachung für die Erste Philosophie (Metaph. A, auch Λ) getrennt sein, auch wenn er wie eine Art Nachtrag dazu wirkt. Der trocken-sachliche Argumentationsstil des 2. Kapitels ist freilich in jeder Phase des aristotelischen Schaffens denkbar.89 8.

Ich fasse zusammen. Die neuerdings wieder zunehmende Tendenz, Alpha elatton als „Ergänzung“ zu A aufzufassen und die überlieferte Einordnung für sachlich gerechtfertigt zu halten, nimmt keine Rücksicht auf Stil und

erhält der Hinweis auf das Platonische dieses Kapitels erst in Verbindung mit dem folgenden Gewicht. 87 Vgl. oben 225ff. Es sei nicht verschwiegen, daß daneben auch Parallelen aus späteren Schriften begegneten. Als weitere Parallele aus einer allgemein als früh eingestuften Schrift wäre nachzutragen Anal. Post. I 2, 72 a25–37 ~ α 1, 993 b23–31 (Hinweis von J. Barnes und G. Striker). 88 Vgl. oben 243f. (wo freilich auch auf die späte EN zu verweisen war) und 252. Nach I. Dürings hypothetischer Chronologie (Aristoteles, 1966, 48ff.) wären Phys. II und EE in die Zeit um 350 zu datieren. 89 Gegen die von E. Berti behauptete besondere Affinität von Alpha elatton zu Met. Λ (vgl. oben Anm. 47) spricht neben anderem, daß die vier Ursachen von Λ 2–5 bekanntlich nicht diejenigen der üblichen aristotelischen Vier-Ursachenlehre sind, die auch in α 2 vorliegt. Aus dem Umstand, daß α 2 die ersten Ursachen in den einzelnen Ursachenarten nicht angibt, folgert Berti: L’unitá del sapere, 286, die hier vorliegende Form der Ursachenlehre sei „logiquement antérieure“ im Verhältnis zu den physikalischen Schriften. Schwerlich dürfte daraus für die chronologische Einordnung etwas zu gewinnen sein. – Auch daß die Endlichkeit der Ursachen in den gleichfalls frühen Anal. Post. eine Rolle spielt (wie J. Barnes und G. Striker in der Diskussion bemerkten), ist für die Datierung nicht sehr aussagekräftig. Als grundlegende Voraussetzung aristotelischen Philosophierens konnte der Gedanke in allen Schaffensperioden formuliert oder neu formuliert werden, und die Art der Durchführung in Anal. Post. I 3, 72 b7–25 und I 19–22 zeigt keine signifikante Nähe zu derjenigen in α 2.

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8. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik

Charakter der Teile des ‚Buches‘ und der angrenzenden Bücher sowie auf deren Andeutungen über den Fortgang der Erörterung. Lasson und Gohlke hatten wenigstens den selbständigen Einleitungscharakter erfaßt; sie scheiterten freilich an dem Versuch, den Schluß des ‚Buches‘ mit seiner Hinführung zu einer Physis-Untersuchung überzeugend mit den Texten zur Ersten Philosophie zu verknüpfen. Auch zeigt die von Lasson verwirklichte Anfangsstellung die sonst nur zu leicht übersehene Uneinheitlichkeit von Alpha elatton mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. Wir haben drei Bruchstücke vor uns; die Verbindung der ersten beiden innerhalb einer größeren Einheit wäre denkbar, ist aber in der vorliegenden Fassung nicht verwirklicht. Auf der anderen Seite erwiesen sich Mitchams Zweifel an der Echtheit als nicht durchschlagend, Jaegers Erklärung der Unverbundenheit der Teile mittels der Nachschrifthypothese als nicht sehr hilfreich. Fremde Einflüsse auf α sind nicht nachweisbar. Man wird Alpha elatton am besten dort belassen, wo es überliefert ist, aber nicht als Zeugnis der tiefen didaktischen Weisheit des Meisters, sondern als Begleitmaterial aus seinem Nachlaß, das vermutlich unverändert zu unbekannter Zeit an das Ende der Rolle von A angefügt wurde, wozu außer dem editorischen Interesse sicher auch die Überschneidung mit (nicht Ergänzung zu) A 1–2 in α 1 und die Wichtigkeit des Argumentes von α 2 (das als sachliche Ergänzung zu A 3 geeignet, aber nicht unentbehrlich ist) Anlaß gegeben haben.

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9. Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N (1987)

Unter unseren Quellen über die Theorien der ἀρχαί, die von Aristoteles’ älteren Zeitgenossen vertreten wurden, kommt den Büchern M und N der Metaphysik ein besonderer Platz zu: sie sind die längste und an Einzelheiten reichste Darstellung der um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Athen diskutierten Ansichten über die ‚Prinzipien‘ der Wirklichkeit. Das Vorhandensein eines mehr oder minder homogenen1 Textstückes von etwa 50 Druckseiten Umfang behebt allerdings nicht die bekannten hermeneutischen Schwierigkeiten, die einer Rekonstruktion der Philosophie der Akademie im Wege stehen. Denn Aristoteles nimmt sich zwar vor, die Ansichten der Denker, die andere Substanzen als die wahrnehmbaren ansetzen, zu „betrachten“,2 und in der Tat macht er in diesen Büchern reichen Gebrauch von Wendungen wie λέγουσιν, φασιν, ποιοῦσιν u. ä., die uns zunächst einen Bericht als Grundlage der ‚Betrachtung‘ erwarten lassen. Indes kommt in der Durchführung selten einmal etwas Zusammenhängendes und Ganzes zur Sprache, vielmehr ist, wie so oft bei Aristoteles, der Bericht fragmentarisch und auf die geplante ‚Widerlegung‘ zugeschnitten und in sie integriert. Unklar ist u. a., bis zu welchem Grad die Theorien, die Aristoteles untersucht, ausgearbeitet und zu Ende gedacht waren. Insofern Platon offensichtlich das wichtigste Ziel der Kritik in M und N ist, die hier analysierten Aussagen jedoch wenig oder nichts mit den Dialogen zu tun haben, schien die Vermutung nahe zu liegen, daß es sich bei dem, was Platon zugeschrieben wird –sofern man überhaupt geneigt ist, solche Zuschreibungen als historisch glaubhaft zu betrachten –nur um letzte, skizzenhafte Versuche einer ‚Altersphilosophie‘ gehandelt haben kann, um eine Phase seiner langen Entwicklung, die prinzipiell zwar gleichberechtigt neben den Phasen, die die einzelnen Dialoge bezeichnen, steht, deren Ergebnisse aber nicht

1 Homogen nur hinsichtlich der Frageweise; daß M N eine literarische Einheit bilden, soll natürlich nicht behauptet werden. 2 M 1, 1076 a12f. πρῶτον τὰ παρὰ τῶν ἄλλων λεγόμενα θεωρητέον. M 9, 1086 a24–26 ὅσα δὲ (λέγουσιν) οἱ φάσκοντες εἶναι παρὰ τὰς αἰσθητὰς ἑτέρας οὐσίας, ἐχόμενον ἔστι θεωρῆσαι τῶν εἰρημένων.

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9. Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles

hinreichend durchdacht waren, um schriftlicher Fixierung gewürdigt zu werden.3 Bei dem hingegen, was den Nachfolgern Platons zugeschrieben wird, bleibt zunächst unklar, was davon bloße Platonexegese ist und somit wenigstens indirekt ebenfalls vom unfertigen Charakter der platonischen Skizze bestimmt. Es ist indes keineswegs nur die nach einzelnen Aporien sezierende Darstellungsweise des Aristoteles, auch nicht die Schwierigkeit, die Verbindung zu den platonischen Dialogen herzustellen, was die Frage nach dem Grad der Ausarbeitung der fraglichen Theorien aufkommen läßt. Vielmehr begegnen wir im Verlauf von M und N immer wieder Klagen des Aristoteles, daß in den Darlegungen der Gegner dieses und jenes fehle. Wenn all diese Klagen als Tatsachenfeststellungen über bestimmte Texte der zeitgenössischen Philosophen zu nehmen wären, so hätten wir bereits einen ersten Eindruck von der Form, in der die akademischen Entwürfe vorlagen und in Aristoteles’ kritische Erwägungen eingingen. Nun kann freilich die Feststellung eines Autors, daß ein anderer zu einer bestimmten Frage ‚nichts sagt‘, sehr Verschiedenes bedeuten: daß der Vorgänger diese Frage überhaupt nicht sah (wobei dann zu fragen wäre, ob sie bei seinem Ausgangspunkt überhaupt von Belang war), oder daß er sie unzureichend behandelte (weswegen seine Erklärung letztlich doch ‚nichts sagt‘), oder daß er sie unbearbeitet ließ (obwohl er sie sah und auch mit seinen Denkmitteln durchaus hätte angehen können und sollen). Eine erste, vorbereitende Aufgabe ist es daher, die in M und N begegnenden Rügen der Lückenhaftigkeit und Unvollständigkeit der Erklärungen der akademischen Philosophen näher zu betrachten, jede in ihrem Zusam3 Die zuversichtliche Festlegung der Prinzipientheorie auf eine zeitlich eng begrenzte Phase des späten Platon geht zurück auf K. F. Hermann und E. Zeller und wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts häufig wiederholt, so z. B. auch im Metaphysikkommentar von W. D. Ross (Aristoteles: Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary by William D. Ross. Oxford 1924, I lxvii). Sie ist weiterhin sehr beliebt, obschon H. J. Krämer gezeigt hat, daß sie nicht auf verläßlichen historischen Nachrichten beruht (Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959, 20ff.). Zur Behandlung der Frage in der Platonliteratur seit Schleiermacher vgl. H. J. Krämer. Platone e i fondamenti della metafisica. Milano 31989 [1982], 76ff. – Die Ansicht, philosophische Gedanken Platons könnten allenfalls wegen ihrer Unfertigkeit unpubliziert geblieben sein – weil Platon sie nicht für „worthy of publication“ erachtete – vertrat G. Vlastos, in: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959). In: Gnomon 35 (1963), 641– 655, hier: 654. Daß diese Ansicht auf einem Mißverständnis von Phdr. 278 cd beruht, versuchte ich an anderer Stelle zu zeigen (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 68 und 70f.).

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menhang, und ihren Aussagewert einzeln und in ihrer Gesamtheit zu ermitteln. In der Behandlung der einzelnen Stellen übernehme ich nicht die Abfolge der Argumente in M und N, sondern stelle zunächst die relevanten Äußerungen des Aristoteles zu den ἀρχαί zusammen, dann die Aussagen über das, was die kritisierten Philosophen aus den Prinzipien ‚erzeugten‘, und zwar nach der Abfolge, die durch Aristoteles’ Darstellung zugleich nahegelegt und problematisiert wird, nämlich ideale Zahlen – Ideen – ideale ‚Größen‘ – Gegenstände der Mathematik.4 1.

N 1, 1087 b9–12. Zum zweiten Prinzip sagt Aristoteles, daß derjenige Denker, der das Eine und das Ungleiche als Elemente nennt, das Ungleiche aber als Zweiheit aus dem Großen-und-Kleinen, vom Ungleichen und dem Großen und dem Kleinen so redet als wären sie Eines; dabei mache er nicht klar, daß sie dem Begriff nach (Eines sind), nicht aber der Zahl nach.5 – Daß mit dem ungenannten Philosophen Platon gemeint ist, ist nicht zweifelhaft.6 Platons Konzeption seines zweiten Prinzips wird also gerügt, weil ihr eine nötige Unterscheidung fehle. Die Feststellung, die Aristoteles der Vollständigkeit halber gerne getroffen sähe, wäre aber: das Ungleiche bzw. das Große-und-Kleine ist nicht eine Sache, sondern zwei, nämlich das Große und das Kleine. Das ergibt sich aus seiner Zählung von drei Elementen (τρία ταῦτα στοιχεῖα) im folgenden Satz: das Eine, das Große, das Kleine. Die Klarstellung, deren Fehlen gerügt wird, wäre aber keine Vervollständigung einer unvollständigen Darlegung, sondern die Aufhebung des fraglichen Begriffs: Platon hat mit Sicherheit nicht an zwei trennbare Komponenten des ‚Großen-und-Kleinen‘ gedacht, sondern an die un-

4 Die Abfolge ergibt sich aus Stellen wie A 9, 992 b13–18, M 6, 1080 b23–25, M9, 1085 a7–9, vgl. auch Z 2, 1028 b19–27. Diesen Stellen ist freilich auch zu entnehmen, daß wenigstens Speusippos und Xenokrates die Substanzarten (οὐσίαι) anders anordneten; daß aber auch Platons Intention mit dieser Abfolge wohl nur ungenau wiedergegeben ist, wurde schon lange gesehen, vgl. Léon Robin: La théorie platonicienne des Idees et des Nombres d’après Aristote. Paris 1908 [Nachdruck Hildesheim 1963], 453ff., 468ff.; Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, lxvif. Siehe auch unten, S. 59f. 5 Die leichter verständliche Lesart ἀριθμῷ, λόγῳ δ᾽ οὔ (statt λόγῳ, ἀριθμῷ δ᾽ οὔ), die der Paraphrase Ps.-Alexanders zugrundeliegt (In Aristotelis metaphysica commentaria, 797.17 Hayd.), verwirft Ross (Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 470) mit guten Gründen. 6 Dies ergibt der Vergleich von 1087 b9 mit 1081 a24. Vgl. Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 470 zu 1087 b5.

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getrennte Potentialität des negativen Prinzips zum unbegrenzten Fortschreiten in beide Richtungen.7 Aristoteles versucht hier und an anderen Stellen, wie schon Bonitz8 bemerkte, aus der Benennung des Prinzips der Unbestimmtheit ein Argument gegen die darin enthaltene Konzeption zu gewinnen. N 2, 1089 b8–15. Die akademischen Philosophen hätten nicht nur fragen sollen, wie die Vielheit der οὐσίαι zu erklären ist, sondern auch, wieso die Relativa viele sind und nicht nur Eines; sie fragen zwar nach der Möglichkeit vieler Einheiten außer dem ersten Einen, aber nicht mehr nach der Möglichkeit vieler (Formen des) Ungleichen außer dem (ersten) Ungleichen. Dabei reden sie aber und machen Gebrauch von folgenden (und noch weiteren) Formen des Relativen: Groß-Klein, Viel-Wenig, Lang-Kurz, Breit-Schmal, Tief-Flach (wobei aus den letzten vier Formen die Zahl, die Länge, die Fläche und die Körper entstehen) – was ist die Ursache ihrer Vielheit? Die interpretatio Aristotelica zeigt sich hier in der Subsumierung des Materialprinzips unter die Kategorie der Relation: indem Aristoteles das Groß-Kleine als zwei Dinge auslegt, die – als Teile eines Ganzen – aufeinander bezogen sind, kann er in ihnen Relativa sehen. Lassen wir diese Charakterisierung beiseite, so präsentiert sich die Stelle weniger als Zeugnis der Lückenhaftigkeit der akademischen Theorien als vielmehr ihrer (relativen) Vollständigkeit: das Materialprinzip wurde von den Akademikern offenbar nicht einheitlich und summarisch als ‚Ursache‘ jeweils neuer οὐσίαι bemüht, vielmehr versuchte man, seine Funktion bei jedem neuen Schritt

7 Man vergleiche nur Aristoteles’ eigene Erklärung des platonischen Begriffs des ἄπειρον Phys. III 6, 206 b27–29. Zwar redet Aristoteles auch hier so, als kenne Platon zwei getrennte Formen des Unendlichen (vgl. III 4, 203 a15f. Πλάτων δὲ δύο τὰ ἄπειρα, τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν) doch macht er zugleich ihre innere Verknüpfung in der Vorstellung der unbegrenzten Zu- bzw. Abnahme deutlich; inwiefern unbegrenzte Zunahme und unbegrenzte Abnahme zwei Aspekte ein und derselben ungetrennten Potentialität sein können, zeigt das von Porphyrios zur Erklärung des platonischen zweiten Prinzips herangezogene Beispiel der Ellenteilung (bei Simplikios, In Arist. Phys., 453f. D. = TP 23 B Gaiser [Konrad Gaiser (Hg.): „Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons“. In: ders.: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], 441–557, hier: 482]). Von „one thing with opposite potentialities“ sprach schon Ross, Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, I lx. Vgl. jetzt Krämer: Platone (oben Anm. 3), 154f. 8 Hermann Bonitz: Aristotelis Metaphysica. Commentarius. Bonn 1849 [Nachdruck Hildesheim 1960], 556, zu 1083 b23–36: „Ar. vero hoc loco in ipsis verbis haeret, quae cum ambiguitatem aliquam contineant, inde Platonicis negotia facessere studet.“

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der γένεσις präziser zu fassen: es bietet die jeweils unbestimmte Möglichkeit zu dem, was (offenbar durch einen Vorgang der Bestimmung und Begrenzung) schließlich als ‚Produkt‘ entsteht. In anderem Zusammenhang kann Aristoteles dieselben Erzeugungsvorgänge, die hier als unzureichend expliziert erscheinen, als Beispiel der Wahrung des Zusammenhangs von Stufe zu Stufe darstellen: im Gegensatz zu Speusippos, dem er eine ‚episodenhafte‘ Auffassung von der Struktur der Gesamtheit der Dinge vorwirft, konstruieren die Vertreter der Ideenlehre die ‚Größen‘ Schritt für Schritt aus der ‚Materie‘ und der Zahl (ποιοῦσι γὰρ τὰ μεγέθη ἐκ τῆς ὕλης καὶ ἀριθμοῦ 1090 b21–22). Hier sind also die verschiedenen εἴδη τοῦ μεγάλου καὶ μικροῦ (1085 a9,12) unter den einen Begriff ὕλη gebracht, während der Nachdruck auf der Differenziertheit des korrelierten Formprinzips liegt.9 Es scheint aber, daß gerade das von Aristoteles selbst hervorgehobene sukzessive Vorschreiten der Bestimmung der unbestimmten Hyle verständlich macht, warum die getrennte Herleitung des Vielen-und-Wenigen, Langen-

9 Es kommt für unsere Überlegung nicht so sehr darauf an, ob in 1089 b8–15 und 1090 b21–24 präzise dieselbe akademische Position anvisiert ist, sondern darauf, daß die schrittweise Ausdifferenzierung sei es des Form – sei es des Materialprinzips je nach dem Argumentationsziel negativ oder positiv gewertet werden kann. – Im übrigen ist naheliegend, die (nicht weiter zerlegte) ὕλη von 1090 b22 und das in seine εἴδη aufgespaltene μέγα καὶ μικρόν von 1089 b11–14 als Bezeichnungen ein und derselben Fassung des zweiten Prinzips, nämlich der platonischen, zu betrachten: (a) die Erwähnung der Arten des Groß-Kleinen als gemeinakademisches Denkmittel in 992 a10–24 macht es schwierig, Platon von dieser Position auszuschließen. (Namentlich wird Platon hier nur für ein Detail der Theorie aufgeführt, 992 a19–22, doch wird er hierbei durchaus nicht in Gegensatz gebracht zur kritisierten Theorie als ganzer.) – Wenn in B 4, 1001 b19–25 die Materie der Zahlen und die der ‚Größen‘ als dieselbe Wesenheit (ἡ αὐτὴ φύσις b23) bezeichnet wird, so greift Aristoteles – vermutlich – auf eine Äußerung Platons zurück, die komplementär zur Differenzierung des zweiten Prinzips im generativen Prozeß die Identität der zugrundeliegenden φύσις der Unbestimmtheit betonte. In N 3, 1090 b37f. ist für Platon die Erzeugung der ‚Größen‘ „aus einem anderen Großen-undKleinen“, d. h. aus einer irgendwie spezifizierten Form der Unbestimmten Zweiheit, bezeugt (sofern man die Bemerkung nicht mit Jaeger in eine Frage umwandelt, wofür kaum ein zwingender Grund zu nennen wäre). (b) Daß der Gegner in 1090 b21–32 nicht Xenokrates ist, wie Cherniss wollte, sondern doch wohl Platon, wird unten in Anm. 41 zu erörtern sein. – Jede Differenziertheit des platonischen Materialprinzips leugnete Harold Cherniss: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, vol. I. Baltimore 1944, 479ff.; ihm folgt Leonardo Tarán: Speusippus of Athens. A Critical Study with a Collection of the Related Texts and Commentary. Leiden 1981, 322 und 328. Nicht akzeptiert wurde Cherniss’ Auslegung u.a. von Heinz Happ: Hyle. Studien zum aristotelischen Materiebegriff. Berlin/New York 1971, 155–163.

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und-Kurzen usw. für die Vertreter jener Prinzipientheorie keine Aufgabe sein konnte: wenn aus jener (einheitlichen, noch undifferenzierten) Hyle etwa durch die Zahl Zwei (bzw. durch zwei Punkte) eine Strecke ausgegrenzt ist, so ist die Hyle hinsichtlich Länge-und-Kürze nicht mehr unbestimmt, wohl aber noch hinsichtlich Breite-und-Schmalheit usw. Das heißt, die εἴδη, die Aristoteles als ‚Arten des Relativen‘ (1089 b9) jeweils getrennt konstruiert sehen möchte, sind gar nicht neue Arten oder Formen des Groß-Kleinen, sondern jeweils das am Prinzip der Unbestimmtheit, was im Erzeugungsprozeß noch nicht bestimmt und begrenzt wurde.10 Daß das Prinzip der Vielheit sich vielfältig zeigt, ist nicht Zeichen einer unerlaubten Vervielfältigung der Prinzipien, sondern ist mit den Begriffen, die die akademischen Prinzipienentwürfe bestimmen, und mit dem von ihnen versuchten Modell der ‚Erzeugung‘ unvermeidbar vorgegeben. 2.

Bei der Behandlung der Theorie der Ideenzahlen hat Aristoteles eine Reihe von Lücken und nicht erkannten Problemen zu monieren. M 9, 1085 b4–12 und N 5, 1092 a21–b8. An zwei Stellen, die die Theorien von Platon und Speusippos gemeinsam in den Blick nehmen,11 kritisiert Aristoteles, daß nicht erklärt wird, wie die Zahl aus den Prinzipien „ist“. Die Kritik betrifft nicht den Vorgang der Konstruktion aus Prinzipien, sondern den Sinn der Redeweise, daß die Zahl selbst (sozusagen nach der Erzeugung) „aus den Prinzipien“ als ihren Elementen besteht. Aristoteles meint, die Vertreter dieser Theorien hätten anders vorgehen müssen; zuerst hätten sie die verschiedenen Bedeutungen von „aus etwas“ trennen sollen, um dann anzugeben, welche dieser Bedeutungen auf die Erzeugung der Zahl aus den Prinzipien zutrifft. Das Versäumnis der kritisierten Philosophen holt Aristoteles an ihrer Stelle nach: ein Ding ist aus anderen entweder durch Mischung oder durch Zusammensetzung oder durch Zeugung aus dem Samen oder aus seinem Gegenteil in der Weise, daß das Ge-

10 Mit Gewinn liest man zu diesem Problem die Ausführungen von Robin: La théorie platonicienne des Idees, 469. 11 Ross (Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 490) meint, 1092 a21ff. gelte primär Speusippos; indes ist zweimal, a29 und b1, die platonische Terminologie (τὸ ἓν καὶ ἄνισον) neben die speusippeische gesetzt; ferner sagt Ar. bei Erörterung des gleichen Problems 1085 b11, daß sein Einwand beide Positionen gleichermaßen trifft; und drittens steht der Passus 1082 a20–22, wo gleichfalls die Begriffe μίξις und θέσις begegnen, in einem Abschnitt, der gegen Platon gerichtet ist (s. unten Anm. 14). Vgl. auch Tarán: Speusippus of Athens, 323 Anm. 126.

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genteil verschwindet, etwas anderes aber, das Zugrundeliegende, bleibt.12 Mischung und Zusammengesetztheit, die Lage im Raum voraussetzt (1092 a26f.), sind klarerweise nur auf wahrnehmbare Substanzen anwendbar; da die akademischen Philosophen in diesem Teil ihrer Theorien, in der Zahlenerzeugung, von vornherein nur mit den Elementen der ἀκίνητος οὐσία befaßt waren, ist schwer zu sehen, was ihre Theorie gewonnen hätte, hätten sie sich vorweg mit μίξις und (σύν-)θεσις als Bedeutungen von ἔκ τινος εἶναι aufgehalten. Beim Versuch, das ἔκ τινος εἶναι der Zahlen zu deuten als Entstehung aus Faktoren, die nicht in das Produkt eingehen (1092 a32– b3),13 scheint Aristoteles gleichfalls am Modell des zeitlichen Werdens wahrnehmbarer Dinge orientiert zu sein. Offenbar rechnet er bei beiden Formen solchen Entstehens – Entstehen ‚wie aus einem Samen‘ und wie aus einem entweichenden Gegensatz – mit einer (räumlich) vom Produkt getrennten ‚Ursache‘, die entweder etwas (wie einen Samen) abgibt, was beim Einen, weil unteilbar, unmöglich ist, oder aus einem zusätzlich anzusetzenden Substrat entweicht, indem sie dieses seinem Gegensatz überläßt. Damit ist der Hyle-Begriff hereingebracht (auch wenn das Wort nicht fällt) und die fragliche Konstruktion ‚aus‘ Elementen gegen die Prämissen der Gegner in Begriffe der Entstehung im wahrnehmbaren Bereich umgegossen. Die Berücksichtigung des aristotelischen Modells des μεταβάλλειν, das. allerdings eine bleibende Materie voraussetzt, hätte nur so erfolgen können, daß die Vertreter jener Theorien vorweg erklärten, daß sie nicht raum-zeitliche Vorgänge schilderten, sondern begriffliche Analyse des Außerzeitlichen betrieben. In der Tat liegt dem Vorwurf der Unterlassung einer wesentlichen semantischen Unterscheidung letztlich eine Meinungsverschiedenheit über Zielsetzung und Natur der akademischen Frageweise zugrunde. Die Akademiker verstehen ihre Redeweise von der ‚Entstehung‘ und ‚Erzeugung‘ von außerzeitlichen Dingen wie Zahlen, Raumgrößen und Ideen als Metaphorik zum Zwecke theoretischer Klärung der Sachverhalte (τοῦ θεωρῆσαι ἕνεκεν 1091 a28f.), Aristoteles will sie darauf festlegen, daß die von ihnen verwendeten Begriffe – nicht nur das ‚Entstehen‘ und ‚Zeugen‘, sondern schon der Begriff der Konstruktion aus Elementen – nur von Vorgängen

12 1085 b11f. μίξις ἢ θέσις ἢ κρᾶσις ἢ γένεσις καὶ ὅσα ἄλλα. In 1092 a24ff. folgt auf die μίξις die σύνθεσις, welche θέσις voraussetzt, sodann die Unterscheidung von Bestehen bzw. Entstehen ‚aus‘ Dingen, die im Produkt enthalten sind (ὡς ἐνυπαρχόντων a30) und solchen, die es nicht sind. 13 In der Erklärung der Stelle folge ich Ross (Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 491), der gegen Bonitz gezeigt hat, daß „ὡς ἀπὸ σπέρματος is one form of ὡς ἐκ μὴ ἐνυπαρχόντων“.

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zeitlicher Natur sinnvoll gebraucht werden können. Im vorliegenden Argument über die Bedeutung von ἔκ τινος εἶναι (1092 a21–b8) kommt dieser Hintergrund zweimal zum Vorschein, einmal in der Feststellung, daß aus Elementen, die im Produkt enthalten sind, nur das sein kann, was eine (zeitliche) Entstehung hat (a31f.), sodann in der Feststellung einer weiteren bedauerlichen Lücke in den Darlegungen der akademischen Denker: von ihnen wird nichts darüber gesagt, warum alles andere, das aus Entgegengesetztem ist oder ein Entgegengesetztes hat, zugrunde geht, die Zahl aber nicht (N 5, 1092b3–5). Da das aus Entgegengesetztem Entstehende Materie hat, die Materie aber zusammen mit εἰδος und στέρησις (die zusammen die ἐναντία ausmachen: Λ 1, 1069 b3–7) zu den drei στοιχεῖα der Entstehung (im aristotelischen Sinne: Λ 2, 1069 b32–34 und Λ 4,1070 b25–26) gehört, fällt dieser Einwand sachlich mit dem zuvor genannten zusammen, daß alles, was ἐνυπάρχοντα (~ στοιχεῖα) besitzt, auch geworden ist. Der hier (1092 a31–32) nur knapp erwähnte Gedanke ist deutlicher ausgeführt zu Beginn von N 2: was aus Elementen ist, ist zusammengesetzt, und notwendig muß alles, woraus es ist, aus diesem auch werden, ob es nun immer ist oder ob es (zu einer Zeit) wurde (1088 b14–17) ... – wir brauchen den weiteren Verlauf des Argumentes (das vom Werden über die Potentialität zur Leugnung der Unvergänglichkeit führt, 1088 b17–28) nicht zu verfolgen, da die entscheidende Differenz zur kritisierten Theorie schon in den Prämissen liegt: daß die hier gefragte ‚Zusammengesetztheit‘ von der Art ist, daß sie auf ein zeitliches Werden zurückgeführt werden muß. Diese Prämisse scheint nichts anderes zu sein als ein Bestreiten der Berechtigung begrifflicher Analyse außerzeitlicher Objekte wie der Zahlen. Letztlich dürfte sich der Streit auf einen Streit um die Bedeutung von στοιχεῖον reduzieren. Als lückenhaft kann die angegriffene Theorie nur erscheinen, solange man sich nicht verständigt hat, wie man das Wort verwenden will. In der Politeia schildert Platon die ausdrückliche Verständigung zwischen Sokrates und dem philosophischen Laien Glaukon über die Bedeutung der in der Geometrie üblichen Zeitwörter, die ein aktives Tun suggerieren, wo es um die Beschreibung außerzeitlicher Sachverhalte geht (VII, 527 a1–b8). Es ist anzunehmen, daß Platon in der Darlegung der Theorie der Prinzipien solche präliminarische Vorverständigung als längst erledigt und von allen akzeptiert vorausgesetzt hat. M 7, 1081 a35–37. Aristoteles stellt fest, daß niemand eine Theorie der idealen Zahlen vertreten hat, in der auch die Einheiten innerhalb einer Zahl unvereinbar (unvergleichbar, ἀσύμβλητοι) wären. Die Feststellung hatte er schon zuvor in 1080 b9 getroffen; hier fügt er hinzu, daß aufgrund der Prinzipien jener Zahlenphilosophen auch diese Version mit guten Gründen zu vertreten wäre. – Aristoteles moniert hier einmal nicht, daß

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etwas, was er selbst für wünschenswert halten würde, unterlassen wurde, sondern wundert sich, daß die Verkehrtheiten der Gegner nicht systematisch genug durchgeprobt wurden; so entwirft er für sie eine neue abwegige Variante. Inhaltlich ist die Bemerkung belanglos, sie wirft jedoch etwas zusätzliches Licht auf die Art von Polemik, die Aristoteles hier pflegt: es ist nicht die sachlichste Art von Polemik innerhalb der Metaphysik. Denn es will nicht so recht zusammenpassen, wenn Aristoteles einerseits der idealen Zahl Platons, deren Einheiten wenigstens innerhalb derselben Zahl gleich sind, eine gewisse Berechtigung einräumt (1082 b24–26) – offenbar weil die verbleibende Ungleichheit unter den Einheiten verschiedener Zahlen bei der Grundannahme der Platoniker, daß die Idee Zahl ist, unvermeidbar wird – andererseits aber eine von ihm selbst ausgedachte Variante, die außer mit der mathematischen Zahl auch noch mit der halbwegs verständlichen Idealzahl aufräumt (1081 a17–21), für ebenso gut begründet ausgibt. Inkonsequenz der Platoniker sieht Aristoteles in dem Umstand, daß sie eine erste Eins, eine erste Zweiheit, eine erste Dreiheit usw. ansetzen, nicht aber eine zweite, dritte usw. Eins, eine zweite, dritte usw. Zwei (1081 b1– 10). Anders als in 1082 b24–26 ist Aristoteles hier nicht gewillt, eine einfache Folge aus der Grundannahme der Platoniker als Folge zu akzeptieren. Wenn die „erste Zweiheit“ nichts anderes ist als die Idee der Zwei, so ist auch ihre Einzigkeit in ihrem Begriff gegeben. M 8, 1083 a1–17. Eine sehr grundlegende Kritik formuliert Aristoteles im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit der platonischen14 Ideenzahl, deren Einheiten, sofern sie verschiedenen Zahlen (Ideen) angehören, nach seiner Darstellung nicht miteinander vereinbar (bzw. nicht vergleichbar, folglich nicht operabel) sind. Richtig wäre es gewesen, gleich zu Beginn (ἐν ἀρχῇ) darzulegen, aus welchem Grund eine Verschiedenheit zwischen Monaden statthaben soll, oder wenigstens doch so viel, welche Verschiedenheit sie meinen. Merkwürdig ist, daß diese grundlegende Kritik eingerahmt ist von zwei Passagen, die Platons Konzeption von Zahlen mit unterschiedlichen Einheiten gerade für folgerichtig und aus seinen Voraussetzungen heraus verständlich bezeichnen. Es ist richtig, unterschiedliche Einheiten zu fordern,

14 Daß von M 7, 1080 b37 bis M 8, 1083 a20 Platon der Gegner ist (außer in 1081 a17–b33, wo Aristoteles eine von niemandem vertretene Auffassung ‚widerlegt‘), ergibt sich aus 1083 a31–36, wo im Rückblick auf M 7/8 Platon namentlich genannt ist.

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wenn es die Ideen geben soll,15 denn diese können nur als Zahlen existieren, Zahlen können aber nur dann die Einzigkeit der Idee wahren, wenn schon die Einheiten, aus denen sie bestehen, Unterschiede aufweisen (1082 b24–26). Und nicht nur vom Ideencharakter der ersten Wesenheiten her ist diese Auffassung „richtig“, sondern auch von der Annahme aus, daß τὸ ἕν Prinzip ist; auch das verlange eine erste Zweiheit und eine erste Dreiheit usw., also nicht operable Ideenzahlen (1083 a31–36). „Richtig“ ist die fragliche Theorie natürlich nur πρὸς τὴν ὑπόθεσιν – nicht etwa richtig ohne Einschränkung (1082 b32f.). Aber die zweimalige Anerkennung der Stimmigkeit der Theorie in sich zeigt auch, daß das Fehlen einer vorgängigen Erklärung über die bei Zahlen und deren Einheiten überhaupt mögliche Verschiedenheit, wie sie Aristoteles fordert, im Rahmen der Theorie schwerlich als Lücke erscheinen konnte: eine solche Klarstellung ist von der Gleichheit des μοναδικὸς ἀριθμός her gedacht, der in der Zahlen-‚Erzeugung‘ erst später auftrat. Zu erklären wäre für die Akademiker eher die Ununterschiedenheit der unbegrenzt vielen arithmetischen μονάδες als die Einzigkeit der ersten Produkte. Wie die Information, daß sie – die Vertreter inoperabler Zahlen – „sagen, die Qualität komme den Zahlen (erst) nach der Quantität zu“ (1083 a10–11), in akademische Begriffe zurückzuübersetzen wäre, ist nicht leicht zu sagen.16 Für Aristoteles ergibt sich da-

15 εἴπερ ἰδέαι ἔσονται 1082 b25 wird übersetzt mit „sofern sie [sc. die Einheiten] Ideen sein sollen“ von Bonitz (Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz neu bearb., mit Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl. 2 Bde. Hamburg 1978/1980, Bd. II 311), ähnlich von Franz F. Schwarz (Aristoteles: Metaphysik. Üb. u. hg. v. Franz F. Schwarz. Stuttgart 1978, 346), mit „dal momento che esse (sc. le unità) devono essere Idee“ von Reale (Aristotele: La Metafisica. Traduzione, introduzione e commento di Giovanni Reale. Napoli 1968, II 332). Dagegen hat schon Rolfes (Aristoteles: Metaphysik. Üb. u. erläutert v. Eugen Rolfes, Leipzig 31928, II 420) in einer Anmerkung zur Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß nach 1082 a35 auszuschließen ist, daß die Platoniker die einzelne Monade als Idee betrachteten. Die richtige Übersetzung ergibt sich aus dem Rückverweis (1082 b26) auf 1081 a5ff.: dort ist ausgeführt, daß die Ideen selbst wegfielen, wenn sie nicht Zahlen wären (1081 a12f.). Hiervon aber, unter welchen Bedingungen die Ideen Zahlen sein können, handelt auch unsere Stelle: οὐδὲ ἔσονται αἱ ἰδέαι ἀριθμοί 1082 b23f. Tricot (Aristote: La Métaphysique. Nouvelle Edition entièrement refondue, avec commentaire par Jules Tricot. Paris 1974, II 760) übersetzt b25f. mit „si l’on veut que les Nombres soient des Idées“, womit zwar der Fehler von Bonitz, Schwarz und Reale vermieden, der Text aber gleichwohl nicht präzis wiedergegeben ist. 16 Was sachlich gemeint ist, wird aus Δ 14, 1020 b2–8 deutlich: die Zerlegbarkeit der Zahlen in zwei oder mehr ungleiche oder gleiche Faktoren charakterisiert sie als Rechteck-, Quadrat-, oder Kubik-Zahlen.

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raus, daß die Gegner auf einen quantitativen Unterschied festgelegt sind, was zuvor als widersinnige Vorstellung zurückgewiesen wurde (a4–8). Immerhin legt der Umstand, daß Aristoteles auf eine Aussage der akademischen Zahlentheorie zurückgreift (φασίν a11), die Vermutung nahe, daß diese für die Beantwortung der von ihm gestellten Fragen vielleicht doch besser gerüstet war als man nach seiner Polemik zunächst annehmen würde.17 M 8, 1084 a10–12. Wenn die (Ideen-)Zahl begrenzt ist, so fragt sich, wie weit sie geht. Hierzu muß man nicht nur sagen, daß (man die Zahl begrenzt, bzw. auf wie viel), sondern auch warum. Nach dieser Formulierung könnte es so scheinen, als habe bei den Philosophen der Akademie Unklarheit bestanden, wie weit man die (Ideen-)Zahlen führen wolle. Das wäre freilich noch nicht so schlimm wie die Unklarheit in diesen Fragen, die an einer Stelle des Λ suggeriert wird: dort gewinnt man den Eindruck, als behandelten dieselben Denker dieselbe Art von Zahl bald als unendlich, bald als endlich, und zwar begrenzt auf 10.18 Hier dagegen soll nicht das Ob der Begrenzung unklar sein,19 nur die Höhe.20 In Wirklichkeit gibt es wohl kein Anzeichen dafür, daß jemand in der Akademie eine andere ‚Grenze‘ vorschlug als die der Zehnzahl –auch in der Fortsetzung unserer Stelle ist die Dekas offensichtlich fester Bestandteil der kritisierten Theorie, die in Phys. III 6, 206 b27–33 Platon namentlich zugeschrieben wird. Aber eine Begründung für die seltsame Auffassung

17 Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 115–123 gab eine Konstruktion der Zahlen 2–9 (ohne die Primzahlen 5 und 7, was er mit ἔξω τῶν πρώτων 987 b34 begründete) als Teilungsverhältnisse, die an den sich schneidenden seitenhalbierenden Linien bzw. Höhenlinien des (gleichseitigen und gleichschenkeligen) Dreiecks bzw. Tetraeders auftreten. Bei diesem Modell läßt sich die ‚Unvereinbarkeit‘ der ersten Zahlen als Inkommensurabilität der Teilstrecken, zwischen denen ein dimensionaler Übergang stattfindet, verstehen (Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 123). Mit der hier besprochenen Metaphysikstelle läßt sich diese geometrische Konstruktion der Zahlen jedoch so weit ich sehe nicht direkt in Beziehung setzen. 18 Λ 8, 1073 a19–21 περὶ δὲ τῶν ἀριθμῶν ὁτὲ μὲν ὡς περὶ ἀπείρων λέγουσιν ὁτὲ δὲ ὡς μέχρι τῆς δεκάδος ὡρισμένων. 19 In 1083 b36ff. ist zwar auch das als offene Frage gestellt, aber Aristoteles formuliert nicht so, als wären bestimmte Denker unentschieden. 20 Darauf führt auch der Beginn des nächsten Satzes 1084 a12f.: ἀλλὰ μὴν μέχρι τῆς δεκάδος ὁ ἀριθμός, ὥσπερ τινές φασιν, ... – der unbefangene Leser wird hier die Begrenzung auf 10 als eine von verschiedenen möglichen Antworten auf die Frage μέχρι πόσου (a11) verstehen, die von „einigen“ – also wohl nicht von allen, die eine Begrenzung annehmen – vertreten wird.

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kann jedenfalls mit Recht verlangt werden; mag die Unsicherheit über den Inhalt der Theorie auch eine polemische Fiktion sein, mit dem Ruf nach dem διότι scheint Aristoteles eine wirkliche Lücke im Argumentationszusammenhang der Gegner aufzudecken. Nun weiß man, daß die Zehnzahl als Summe der ersten vier Zahlen in der Zahlenlehre der Pythagoreer eine besondere Rolle spielte, und daß in der Akademie die Anknüpfung an pythagoreisches Gedankengut verschiedentlich versucht wurde. Eben hiervon scheint ein Reflex auch in den aristotelischen Text eingegangen zu sein: πειρῶνται δ’ ὡς τοῦ μέχρι τῆς δεκάδος τελείου ὄντος ἀριθμοῦ 1084 a31f. – sie versuchen (eine Begründung) in der Meinung, die Zahl bis zur Zehn sei vollendet (‚vollkommen‘, τελείου) Eine Sonderstellung der Zehnzahl wäre im Dezimalsystem wohl auch abgesehen von pythagoreischen Überzeugungen begründbar. Es scheint demnach an Überlegungen über das διότι der Begrenzung der (Ideen-)Zahlen auf 10 nicht gefehlt zu haben;21 es war wohl das Mißfallen des Aristoteles an diesen Überlegungen, das ihn veranlaßte, zunächst so über die Theorie zu reden, als wäre sie unvollständig. N 4, 1091 a23–25. Die Platoniker sagen, es gebe keine Entstehung des Ungeraden – offenbar in der Überzeugung, daß es eine Entstehung des Geraden gebe; die erste gerade Zahl konstruieren manche aus Ungleichem, indem das Große und Kleine ausgeglichen (gleichgemacht) wird. Es hat die Erklärer von jeher gewundert, wie die Platoniker die Entstehung der Hälfte der Zahlen hätten leugnen sollen, nachdem sie das Eine und das Große-und-Kleine als Prinzipien der Zahlenerzeugung eingeführt hatten.22 Angesichts von Aristoteles’ eigenem Bericht über die Erzeugung

21 In K. Gaisers geometrischer Erzeugung der ersten Zahlen (Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 115–123, vgl. oben Anm. 17) ergibt sich die (für uns Heutige) befremdliche „Begrenzung“ der Zahlen auf 10 auf ganz einfache Weise unter der Annahme, daß „eine im Dimensionszusammenhang sich auswirkende Zweiteilung methodisch maßgebend“ war (ebd., 122). Die Dimensionenfolge spielt auch bei Speusippos – der freilich von der mathematischen Zahl, nicht von (Ideenzahlen) spricht – in seiner Beschreibung der Eigenschaft der „vollkommenen“ Zahl 10 eine bedeutende Rolle (fr. 4 Lang = fr.11 Isnardi Parente = F28 Tarán). Zur pythagoreisierenden Tendenz der Alten Akademie, die eindeutig bei Platon selbst in den Dialogen beginnt, s. Walter Burkert: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Cambridge, Mass. 1972, 53ff., 83ff. 22 Vgl. Bonitz: Aristotelis Metaphysica, 584, Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 484 und I 174, Aristote: La Métaphysique, avec commentaire par Jules Tricot, II 822 n. 2; L. Robin: La théorie platonicienne des Idees, 661.

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von geraden und ungeraden Ideenzahlen bei Platon (1083 b36–1084 a7)23 hätte die hier getroffene Feststellung keinerlei Glaubwürdigkeit: denn faßt man οὔ φασιν in τοῦ μὲν οὖν περιττοῦ γένεσιν οὔ φασιν als Behauptung einer Unterlassung oder einer Lücke bei den Platonikern auf, wie es Tricot (II 822 n.2, im Anschluß an Robin 661) tut, so hieße das nur, daß Aristoteles sich hier nicht mehr an das erinnert, was ihm in 1083 b36ff. gegenwärtig ist; faßt man οὔ φασιν als Bestreitung der ‚Entstehung‘ der ungeraden Zahl durch die Gegner auf (wie es hier geschieht, im Anschluß an Ross 11 483), so hätten wir einen Widerspruch bei Platon, ohne daß der nach Fehlern suchende Aristoteles anmerkte, daß Platon sich hier widerspricht.24 Keine wirkliche Lösung bringt die auf Zeller25 zurückgehende, von Bonitz, Robin, und Tricot akzeptierte Erklärung, daß es sich nicht um die ungeraden Zahlen insgesamt, sondern um die erste ungerade Zahl, die Eins,26 handelt. Doch ist mit Ross zu erwägen, ob nicht mit ‚unentstanden‘ etwas anderes gemeint sein könnte als ‚ohne Erklärung gelassen innerhalb 23 Der Abschnitt wird als Bericht über Platon gewertet (z. B. von Bonitz: Aristotelis Metaphysica, 584), da die δυάς erwähnt ist (1084 a5) und da im Vorangehenden mit ἰσασθέντων (1083 b24) Platons Zahlentheorie angesprochen ist (vgl. 1081 a24f.). 24 Tarán: Speusippus of Athens, 333 versuchte wahrscheinlich zu machen, daß nicht Platon, sondern Xenokrates gemeint sei. Die zuletzt bezeichnete akademische Position ist jedoch eindeutig die platonische (1090 b32ff.,1091 a9–12); von hier aus setzt Aristoteles zu einem grundsätzlichen Angriff an: die Vorstellung der ‚Erzeugung‘ unvergänglicher Wesenheiten sei insgesamt abwegig (1091 a12–13 – Platon kann hiervon unmöglich ausgeschlossen sein); es folgt ein Hinweis auf die Pythagoreer, die jedoch nach kurzem wieder aus der Prüfung entlassen werden (a13– 22); in a23 geht es mit dem Thema von a12f. weiter, das Subjekt von οὔ φασιν müssen weiterhin ‚die Platoniker‘ sein, voran der zuletzt anvisierte Platon; daß τινές in a24 „must refer to Plato or to Plato and others“ (wie Tarán richtig anmerkt), heißt keineswegs, daß er in οὔ φασιν nicht (mit)gemeint ist, denn das δέ in τὸν δ᾽ ἄρτιον ... τινὲς κατασκευάζουσιν bezeichnet nicht den Gegensatz zweier Positionen, sondern eine Ungereimtheit (wie Aristoteles glaubt) innerhalb ein und derselben Theorie (mag diese auch Varianten aufweisen, auf deren eine τινές weist). 25 Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Theil, erste Abtheilung: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die Alte Akademie. Leipzig 51922, 11 15, Leipzig 1922, 707 A. 2. 26 Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, II 484 gibt die Erklärung Zellers unrichtig wieder, wenn er die Drei als die – nach Zeller – erste ungerade Zahl bezeichnet: das war für ihn vielmehr die (bzw. das) Eins. Gerade hierin liegt die Schwierigkeit dieser Erklärung: Zeller sagt selbst, daß nach M 7 die Dreizahl bei den Platonikern als entstanden galt. Da aber die Zwei als die erste Zahl betrachtet wurde (Belege aus Platon, Aristoteles, Euklid gibt Tarán: Speusippus of Athens, 276, der auch zeigt, daß Speusippos wohl der erste Grieche war, für den

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der Zahlenerzeugung‘. Syrianos’ Erklärung27 über den symbolischen Gebrauch von ‚unentstanden‘ (die Ross und Tricot übernehmen) mag unsicher sein. Jedoch verknüpft Aristoteles das Ungerade mit dem Einen: διὸ τὸ ἓν τὸ περιττόν 1084 a36, was zwar eine ‚Erzeugung‘ ungerader Zahlen nicht aufhebt, sie aber in direkter Weise mit dem ἓν verbindet. Spezifischer klingt die Angabe, die Platoniker wiesen dem Einen selbst in der ungeraden Zahl den mittleren Platz zu (1083 b29f.). Vielleicht ist mit der angeblichen Leugnung der ‚Entstehung‘ des Ungeraden diese unmittelbare Beziehung zum Prinzip gemeint. – Die Sache mag noch so dunkel bleiben,28 so viel steht fest, daß auch dieser Stelle schwerlich ein Hinweis auf eine Unvollständigkeit der platonischen Theorie zu entnehmen ist. 3.

M 7, 1081 a12–17. Wenn die Ideen nicht Zahlen sind, so können sie überhaupt nicht sein – denn aus welchen Prinzipien könnten sie dann sein? Das Eine und die Unbestimmte Zweiheit sind schon vergeben, sie sind die Prinzipien der Zahl, man kann aber die Ideen weder vor noch nach der Zahl anordnen. Der Eindruck, der aus diesen Zeilen unweigerlich entsteht, ist der, daß die ersten οὐσίαι der Platoniker zwar in zweierlei Weise charakterisiert werden, als Zahl und als Idee, daß aber im Prozeß der Erzeugung ausschließlich ihr Zahlcharakter berücksichtigt ist: als Idee sind sie weder aus den Prinzipien zu konstruieren noch in die Abfolge nach dem ‚Früher‘ und ‚Später‘ einzuordnen. Zugleich scheint Aristoteles aber auch zu implizieren, daß man für die Ideen auch Prinzipien benennen könnte, wenn man nur wüßte, wohin sie in der Abfolge gehören: denn Einheit und Un-

die Eins die erste Zahl war), wäre weiterhin die erste ungerade Zahl, eben die Drei, ‚erzeugt‘, und der Widerspruch nicht behoben. 27 Syrianus: In Aristotelis Metaphysica commentaria, 181, 20–24 Kr. 28 Offenbar von Zellers Ansatz ausgehend kommt Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 118 (mit 365 Anm. 95) zu folgender modifizierter Erklärung: da nicht alle ungeraden Zahlen von der Erzeugung ausgeschlossen sein können, müsse „die Ungeradheit generell und folglich das Eine als Prinzip der Ungeradheit gemeint sein“, wofür eben auch 1084 a36 spreche. Wenn das die Lösung ist, wäre Aristoteles’ Entgegensetzung von Gerade und Ungerade in 1091 a23–24 um so merkwürdiger: daß das so verstandene Ungerade = Eine nicht entstanden ist, wäre wirklich kein Problem mehr, die Schwierigkeit läge vielmehr in der unterschiedlichen Anknüpfung der geraden und der ungeraden Zahlen an die Prinzipien. – Aristoteles: Metaphysics. Ed. by William D. Ross, I lxiii erinnerte in diesem Zusammenhang an den Vorwurf des Aristoteles, die Platoniker verwendeten das Eine sowohl als Form – als auch als Materialprinzip (1084 b18).

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bestimmte Zweiheit scheiden aus, weil sie als Prinzipien der Zahlen gelten – daß andere Wesenheiten andere Prinzipien hatten in den akademischen Theorien, ist ihm sonst wohlbekannt,29 und es ist nicht anzunehmen, daß er es hier vergessen haben sollte. Nimmt man die in M 8, 1084 a12–25 geäußerten Bedenken hinzu, daß die Ideen die auf die Zehnzahl beschränkten idealen Zahlen bei weitem überschreiten werden, womit eine Zuordnung von Zahlen und Ideen im einzelnen unmöglich sei, so wird das Urteil unvermeidlich, daß die Idee – das Kernstück der Metaphysik der Dialoge – durch die Theorie der idealen Zahlen heimatlos und funktionslos geworden ist. Von den hier angedeuteten Schwierigkeiten scheint das Kapitel M 10 nichts zu wissen: von Zahlen ist dort überhaupt nicht die Rede, gleichwohl heißt es lapidar, daß die Platoniker ἐκ στοιχείων (ποιοῦσι) τὰς ἰδέας 1087 a5. Allerdings kann die Stelle nicht als sicherer Beleg dafür gelten, daß Aristoteles die Erzeugung der Ideen für konsequent und plausibel (im Rahmen der fremden Theorie, versteht sich) hielt: es könnte sein, daß er hier lediglich der Kürze halber darauf verzichtet, den Zahlcharakter der Idee zu nennen. Es scheint auch sonst in den erhaltenen Pragmatien keine Stelle zu geben, die sowohl von Zahlen als auch von Ideen spricht und hierbei eine befriedigende Herleitung und Konstruktion der Ideen anerkennt.30 Hingegen ist in dem, was Alexander aus der verlorenen aristotelischen Nachschrift von Περὶ τἀγαθοῦ mitteilt, eine wie es scheint nicht zahlenhafte Verknüpfung oberster kategorialer Bestimmungen mit denselben Prinzipien, zu denen auch die Analyse der Raumgrößen führt, erhalten.31 Sollte 29 Zu den εἴδη τοῦ μεγάλου καὶ μικροῦ vgl. A 9, 992 a10–13, M 9, 1085 a9–12, N1,1087615–17, N 2, 1089 b11–15, N 3, 1090 b37f. Es gibt freilich auch Stellen, an denen Aristoteles das platonische zweite Prinzip als undifferenzierte Einheit hinstellt (A 6, 988 a10–14, B 4, 1001 b20–24). Vgl. Anm. 9. 30 Met. A 6, 988 a10–14 bringt zwar die Ideen in direkte Beziehung zu den Prinzipien ἕν und δυάς, vernachlässigt aber die zuvor (987 b21–25) nur kurz angedeutete Beziehung von Ideen und Zahlen; so daß auch hier wohl eine abgekürzte Darstellung vorliegen dürfte. 31 Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 56, 13–20 Hayd. (= TP 22 B Gaiser); was Sextus Empiricus: Adv. math. 10.263–276 über die Ansicht der „Pythagoreer“ schreibt, ist offensichtlich eine ausführlichere Fassung desselben Gedankengutes. Eine ausführliche Analyse des ganzen Sextus-Berichtes (Adv. math. 10.248–284) mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Herkunft gab Konrad Gaiser: Quellenkritische Probleme der indirekten Platonüberlieferung: In: Hans-Georg Gadamer/Wolfgang Schadewaldt (Hg.): Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2/1968), 63–81.

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dies die nach M 7 fehlende Zuordnung von Ideen und Prinzipien sein, wiederum aus Aristoteles selbst ergänzt? Vielleicht wäre es angemessen gewesen, in 1081 a12–17 nebenbei auf diesen Teil der bekämpften Theorie hinzuweisen; aber die präzise Frage dieser Stelle, auf welcher Stufe der Konstruktion von Wesenheiten aus den Prinzipien die Idee anzusiedeln ist, beantwortet der Bericht aus Περὶ τἀγαθοῦ auch nicht. Hingegen findet sich hierzu, wie bekannt, eine sehr deutliche Äußerung im sog. metaphysischen Fragment des Theophrastos: Platon habe in der Reduktion zu den Prinzipien die ‚anderen‘ Dinge mit den Ideen verknüpft, diese mit den Zahlen, diese mit den Prinzipien, sodann im Sinne der ‚Entstehung‘ bis zu den genannten Dingen.32 Ich habe nicht die Absicht, an dieser Stelle die lange Diskussion um die Auslegung dieser Stelle aufzunehmen; es ist bekannt, daß Léon Robin aufgrund der bestimmten Aussage Theophrasts die aristotelische Darstellung, derzufolge Zahlen und Ideen von Platon gleichgesetzt wurden,33 verwarf und für die Zahlen in der platonischen Theorie einen Platz ‚näher‘ bei den Prinzipien annahm als für die Ideen.34 Doch schon W. D. Ross versuchte in seinem Kommentar zur Metaphysik Theophrasts eine Deutung, die die Aussagen der beiden Berichterstatter miteinander zu vereinen trachtete.35 Auf dem von Ross begangenen Weg bewegte sich auch die Deutung von P. Wilpert.36 Mit diesen Interpreten haben wir anzunehmen, daß die scheinbar kontradiktorischen Berichte doch nur denselben Sachverhalt unter verschiedenen Aspekten aussprechen: die Idee war für Platon durch die Zahl strukturiert, insofern „sind“ die Ideen Zahlen; die Zahl bezeichnet aber die höchste Abstraktionsstufe im Ideenbereich, und die ersten Produkte, die die γένεσις aus den Prinzipien hervorbringt, sind die Ideen der ersten Zahlen, insofern kann auch von einer Zurückführung der Ideen auf die Zahlen ge-

32 Theophr., Met. 6 b11–15 (=TP 30 Gaiser, s.f.) Πλάτων μὲν οὖν ἐν τῷ ἀνάγειν τὰς ἀρχὰς δόξειεν ἂν ἅπτεσθαι τῶν ἄλλων εἰς τὰς ἰδέας ἀνάπτων, ταύτας δ᾽ εἰς τοὺς ἀριθμούς, ἐκ δὲ τούτων εἰς τὰς ἀρχάς, εἶτα κατὰ τὴν γένεσιν μέχρι τῶν εἰρημένων. 33 A 6, 987 b18–25, A 9, 991 b9 und 992 b15–16, Λ 8, 1073 a18–19, M 7, 1081 a7 und 1082 b23–26, M 8, 1083 a18, M 9, 1086 a11–12, N 3, 1090 a16, N 4, 1091 b26 und 1092 a8. 34 Robin: La théorie platonicienne des Idees, 454–468. 35 Theophrastus: Metaphysics. Ed. William David Ross and Franciscus Howard Fobes. With translation, commentary and introduction. Oxford 1929, 58f. Ross näherte sich später (Plato's Theory of Ideas. Oxford 1951, 218 n.1) der Ansicht von Robin, hielt aber gleichwohl an der Vereinbarkeit der beiden Berichte fest. 36 Paul Wilpert: Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre. Regensburg 1949,167–172.

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sprochen werden.37 – Bemerkenswert ist, daß Theophrastos’ Äußerung gerade im Zusammenhang der Frage fällt, inwieweit die zeitgenössischen Denker eine folgerichtige Herleitung der Wirklichkeit aus den Prinzipien verwirklichten oder nicht. Da Platons Theorie gerade unter diesem Aspekt als vollständiger erscheint als die anderer,38 ist Theophrastos’ Zeugnis jedenfalls geeignet, den aus 1081 a12–17 entstehenden Eindruck einer schwerwiegenden Lückenhaftigkeit dieser Theorie zumindest zu relativieren. Ein Beispiel für die Art gedanklicher Kohärenz, die die Platoniker in ihrer Konstruktion der οὐσίαι zu verwirklichen suchten, gibt Aristoteles selbst in N 3: die Produkte einer früheren Stufe der γένεσις die Zahlen, dienen als Formursache zur Hervorbringung auf der nächsten Stufe, der der Raumgrößen (μεγέθη) Aus der ‚Materie‘ und der Zweiheit ‚machen‘ die Vertreter der Ideenlehre die Längen, aus (der Materie und) der Dreiheit „vielleicht“ die Flächen, aus (der Materie und) der Vierheit – „oder auch aus anderen Zahlen, denn das macht keinen Unterschied“ – die Körper (1090 b20–24). Der kurze Bericht, der noch mit der Anerkennung der Kohärenz der Deduktion begann (dies in Abhebung gegen die „episodenhafte“ Konstruktion des Speusippos, b13–20), endet also mit der Verdächtigung, daß es einigermaßen unsicher sei, aus welchen Zahlen welche der μεγέθη entstehen. H. Cherniss erklärte allerdings die Bedeutung von ἴσως als ein ironisches „I dare say“, und die Worte „ἢ καὶ ἐξ ἄλλων ἀριθμῶν· διαφέρει γὰρ οὐθέν“ als Hinweis, daß es auf bestimmte Zahlen nicht ankomme, nur auf die Ableitung aus Materie und Zahl als solche – ein Zweifel über den Inhalt des Theorems liege nicht vor.39 Demgegenüber konnte K. Gaiser zeigen, daß neben der Ableitung der ‚Größen‘ aus der Reihe 1– 2–3–4 auch die aus der Reihe 1–2–4–8 erwogen wurde, für uns belegt in Epinomis 991a.40 Aristoteles hat also zwei verschiedene Varianten der Theorie im Blick, unterscheidet sie aber nicht durch οἱ μὲν ..., οἱ δὲ ..., drückt sich vielmehr – ähnlich wie anläßlich der Begrenzung der Zahlen 37 Zur Frage der ‚Widersprüche‘ in den Berichten über Platons Theorie der Prinzipien vgl. Krämer: Platone e i fondamenti della metafisica, 114–117 (zu Theophrast 6b 13ff.: 115 Anm. 9). 38 οἱ δὲ τῶν ἀρχῶν μόνον „die (anderen) aber handeln nur von den Prinzipien“ – so lautet die Fortsetzung der oben Anm. 32 zitierten Skizze der platonischen ‚Reduktion‘. 39 Harold Cherniss: Gnomon 31 (1959), 46 mit Anm. 2. „The ἴσως in B23 implies no doubt about the doctrine.“ Aristoteles selbst hatte schwerlich Zweifel – aber der Leser kann (und soll vielleicht) Zweifel bekommen. Ähnlich wie Cherniss urteilte schon Richard Heinze: Xenokrates. Leipzig 1892, 57. 40 Gaiser: Quellenkritische Probleme, 43.

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auf 10 – so aus, als wäre es nicht ganz klar, was die Gegner eigentlich behaupten. Doch die angebliche Unsicherheit ist nur Vorbereitung für einen weit wichtigeren Einwand: werden diese μεγέθη Ideen sein, oder wie soll man sie auffassen, und was leisten sie für die Dinge (1090 b24–26)? Die Schwierigkeit, die Aristoteles hier sieht, ist genauer expliziert in A 9, 992 b13–18: die fraglichen Wesenheiten können nicht Ideen sein, denn sie sind nicht Zahlen, sie können auch nicht die in einer mittleren Position befindlichen mathematischen Gegenstände sein, noch die vergänglichen Dinge – es scheint sich um eine vierte Gattung von Dingen zu handeln.41 Hier ist es ganz unzweideutig, daß die Gegenstände der fraglichen Gattung nach Auffassung des Aristoteles nicht Ideen sein können, denn Ideen sind Zahlen, die μεγέθη aber werden aus den Zahlen erzeugt, wie wir aus N 3 wissen, bzw. aus den Formen des Groß-und-Kleinen, wie in A 9 zuvor berichtet worden war (992 a10–13) – konsequenterweise heißen diese Größen hier τὰ μετὰ τοὺς ἀριθμοὺς μήκη τε καὶ ἐπίπεδα καὶ στερεά (992 b13f.). Ähnlich nennt er sie einmal τὰ ὕστερον γένη τοῦ ἀριθμοῦ (1085 a7), ein andermal gar τὰ μετὰ τὰς ἰδέας (sc. μήκη καὶ ἐπίπεδα καὶ στερεά (1080 b25). Wohin diese Dinge gehören, wo sie einzuordnen sind im Erzeugungsprozeß, war den Äußerungen der Gegner offenbar ganz eindeutig zu entnehmen: nach den ersten Zahlen, aber vor den μεγέθη, mit denen die Mathematik arbeitet. Für den, der Ideen und Zahlen (im Rahmen jener Theorien) gleichsetzt, wie Aristoteles es tut, kann es daher auch keine Frage sein, ob es sich hier um Ideen handelt. Wenn er die Frage in N 3 dennoch in dieser Form stellt, so wohl deswegen, weil – wie man vermuten darf – sei-

41 Daß hier die gleiche Aporie, nur in etwas präziserer Form, erhoben wird wie in 1090 b20ff., ist nicht gut zu bestreiten. Da hier aber τὰ μεαξύ (b16) eindeutig auf Platons Theorie weist, bleibt für die Auffassung von Heinze, in 1090 b21–24 habe Aristoteles „vornehmlich den Xenokrates im Auge“ (Heinze: Xenokrates, 57), nicht viel Wahrscheinlichkeit. Mit Ross: Plato's Theory of Ideas, 209 und Henri Dominique Saffrey: Le Περὶ φιλοσοφίας d’Aristote et la théorie platonicienne des Idées Nombres. Leiden 21971, 30–32, ist vielmehr anzunehmen, daß mit οἱ τὰς ἰδέας τιθέμενοι 1090 b20 in erster Linie Platon selbst, daneben wohl auch andere Platoniker wie Xenokrates, angesprochen sind, während Xenokrates allein nur in der parenthetischen Erwägung b28–32 das Ziel der Polemik ist. Cherniss in seiner Besprechung von Saffrey ([oben Anm. 39], 45–48) ging über Heinzes Position noch hinaus mit der Behauptung, Xenokrates sei nicht vornehmlich, sondern ausschließlich gemeint schon ab 1090 b20, Platon erst ab b32; in einer ausführlichen Analyse des ganzen Abschnittes 1090 b13–1091 a5 zeigte Gaiser: Quellenkritische Probleme, 39–49), daß die Interpretation von Ross und Saffrey dem Text weit besser gerecht wird. Ähnlich urteilt Burkert: Lore and Science, 24 Anm. 45.

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ne strikte Gleichsetzung von Idee und Zahl nicht den Intentionen und dem Wortgebrauch der Gegner entsprach. Wenn sich die idealen Raumgrößen zu den mathematischen verhalten wie die idealen Zahlen zu den Zahlen der Arithmetik, so wird man sie wohl auch als ‚Ideen‘ bezeichnet haben – als Ideen eben der geometrischen μεγέθη – auch wenn sie nach den Ideen der ersten vier Zahlen kamen. Und solange es keinen Anhaltspunkt gibt, daß τὰ μεταξύ sich in zwei Bereiche (Gegenstände der Arithmetik und der Geometrie, nach ontologischen Bestimmungen getrennt) spalteten, so lange ist auch nicht anzunehmen, daß Platon aus den idealen Größen ein τέταρτον γένος machen wollte.42 4.

M 9, 1085 a19–20. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Erzeugung der idealen Raumgrößen durch die Platoniker formuliert Aristoteles als zusätzliches Argument (zusätzlich zu den Schwierigkeiten hinsichtlich völliger ontologischer Getrenntheit und völliger Verschmelzung der ‚Größen‘): „Ferner, wie werden Winkel und Figuren und dergleichen erklärt werden?“ Da der Abschnitt 1085 a7–b4 mit der Frage befaßt ist, wie sich die μεγέθη als grundlegendste Gegebenheiten der Geometrie und Stereometrie zum Materialprinzip und dessen Formen verhalten, ist die nächstliegende Erklärung, daß auch hier danach gefragt wird, wie sich Winkel und Figuren (als komplexere Gebilde) zu demselben Prinzip verhalten bzw. wie sie aus ihm ‚hergestellt‘ werden können. Die futurische Form der Frage suggeriert dabei, daß es schwer fallen dürfte, eine Verbindung auch nur herzustellen (und damit wohl auch, daß eine solche Verbindung jedenfalls nicht hergestellt war). Der unter Alexanders Namen überlieferte Kommentar expliziert den Einwand als die Frage, was bei Winkeln das Übertreffende und das Übertroffene sei; den geraden Winkel hätten die Platoniker der Einheit (der μονάς) zugeordnet, den spitzen und den stumpfen der Unbestimmten Zweiheit, von der ihnen das Übertreffen und Übertroffenwerden zukomme; ferner hätten sie gewisse Figuren, die durch Gleichheit und Selbigkeit bestimmt seien, als Produkte der Einheit bezeichnet, andere, die von Ungleichheit und Andersheit bestimmt sind, als

42 Ross: Plato’s Theory of Ideas, 207 macht aus dem kritischen Einwand des Aristoteles „the recognition of a fourth class“, zu verstehen als „a later development in Plato's thought“. Aus Z 2, 1028 b19–27 ergibt sich indes mit Sicherheit, daß bei Platon die mathematischen Gegenstände eine οὐσία blieben, denn gerade durch ihre Zerlegung in zwei Bereiche unterscheiden sich nach diesem Bericht Speusippos (b21–23) und Xenokrates (b24–27) von Platon.

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Produkte der (Unbestimmten) Zweiheit.43 Auf die zweimal verwendete berichtende Vergangenheitsform ἔλεγον wird man vielleicht nicht viel geben. Aber so viel zeigt die Stelle, daß es nicht schwer fallen konnte, auch in komplexeren Gebilden die Prinzipien aufzuspüren, und daß man auf die Frage, wie sie entstünden, von akademischer Seite wohl auch hier gesagt hätte „durch Begrenzung des Unbestimmten“. Wenn aber Aristoteles, worauf der Zusammenhang weisen könnte, präziser fragen wollte, wie jene Form der Unbestimmtheit, die durch den rechten Winkel ‚bestimmt‘ wird, umschrieben werden sollte (etwa als „das Spitze-und-Stumpfe“?), so beträfe der Einwand eher ein Detail der Terminologie. Natürlich wäre Aristoteles sachlich unzufrieden gewesen mit der ‚Begrenzung‘ des ‚unbestimmten‘ Winkels durch eine Form des Einen. Es ist aber kaum anzunehmen, daß seine ungeduldige Frage die Gegner in große Verwirrung gestürzt hätte; schwerlich weist sie auf etwas, was nach ihren eigenen Prämissen als Lücke empfunden werden mußte. N 5, 1092 a17–21. Abwegig ist es, den Ort zusammen mit den stereometrischen Körpern entstehen zu lassen (denn der Ort gehört zu den Einzeldingen, die daher auch räumlich getrennt existieren, während die Gegenstände der Mathematik nicht an einem Ort (nicht ‚irgendwo‘) sind), und zu sagen, daß die stereometrischen Körper irgendwo sein müssen, aber nicht zu sagen, was der Ort ist. – Von Platon sagt Aristoteles in der Physik, daß er als einziger es unternahm zu sagen, was der τόπος ist;44 Platon kann in N 5 also nicht gemeint sein, dann aber wohl auch nicht ‚die Akademie‘45 allgemein, denn der wichtigste Gegner ist ihm immer Platon, weswegen er akademische Positionen, die von der platonischen verschieden sind, als solche kenntlich zu machen pflegt. So ist es am einfachsten, die Kritik als gegen Speusippos gerichtet zu betrachten.46 Schwieriger ist zu entscheiden, ob die Kritik aus

43 Ps.-Alexander: In Aristotelis metaphysica commentaria, 778. 7–15 Hayd. 44 Phys. IV 2, 209 b16–17 λέγουσι μὲν γὰρ πάντες εἶναί τι τὸν τόπον, τί δ᾽ ἐστίν, οὗτος μόνος ἐπεχείρησεν εἰπεῖν. 45 Auf die Akademie (ohne Spezifizierung) bezieht die Stelle J. Annas (Aristotle's Metaphysics, Books M and N. Translated with Introduction and Notes. Oxford 1976, 216), nachdem schon Bonitz: Aristotelis Metaphysica, 589 festgestellt hatte, daß ein Zusammenhang mit der vorangehenden Stelle, die gegen Speusippos gerichtet ist, fehlt. 46 So schon Zeller: Die Philosophie der Griechen, II 1,1007 Anm. 3 (mit Berufung auf Ravaisson und Brandis); so nahm auch P. Lang die Stelle, wenn auch mit Zögern, unter die ‚Fragmente‘ des Speusippos auf (fr.52, in: De Speusippi Academici scriptis. Accedunt fragmenta. Bonn 1911), ebenso die neueren Herausgeber M.

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einem oder zwei Einwänden besteht.47 Da die selbständige Konstruktion des τόπος im Rahmen der ‚Entstehung‘ der οὐσίαι aus den Prinzipien einer impliziten Definition gleichkäme, könnte man sich fragen, wie ein solches Konstruieren mit der Feststellung zusammengeht, daß von Speusippos (und, nach der Physikstelle, auch von den anderen außer Platon) nicht gesagt wird, was der Ort ist. Vielleicht meint das τόπον ποιῆσαι zu Beginn des Satzes (a17f.) nichts anderes als das εἰπεῖν ὅτι ποὺ ἔσται in der zweiten Hälfte (a20), was seinerseits nicht mehr bezeichnen muß als den Gebrauch lokaler Wendungen im Zusammenhang mit stereometrischen Körpern; bevor man aber so redet, sollte man sagen, was ‚Ort‘ (bzw. ‚irgendwo‘, που wozu τόπος nur das nominale Äquivalent ist) eigentlich meint – und wenn man das täte, käme man darauf, daß ‚Ort‘ nur als Ort raumzeitlicher Körper verstanden werden kann (entsprechend Aristoteles' eigener Definition des Ortes).48 So betrachtet würden der erste Teil des Satzes und die Parenthese (a17–20) und der zweite Teil (a21–22) den gleichen Einwand in verschiedener Form ausdrücken: daß die Kategorie des Ortes, wie Aristoteles sie versteht, erst an späterer Stelle in der Konstruktion der οὐσίαι gebraucht werden sollte. Einen irreführenden oder ungeklärten Gebrauch von τόπος (bzw. räumlicher Sprache) durch Speusippos kann der Einwand nicht wahrscheinlich machen. Seine ‚Unterlassung‘ ist eine solche nur aus der Sicht der aristotelischen Auffassung, auch wenn zuzugeben ist, daß Platon mit seiner expliziten Erörterung des Wesens der χώρα mehr Klarheit geschaffen haben mochte als Speusippos.49 – Im Anschluß an die Schwierigkeiten, die er bei den idealen Raumgrößen findet (N 3, 1090 b20–29), wendet sich Aristoteles einer weit fun-

Isnardi Patente (fr. 92, in: Speusippo, Frammenti. Edizione. Traduzione e commento a cura di Margherita Isnardi Parente. Napoli 1980) und L. Tarán (F 53, in: Speusippus of Athens). 47 Ross: Plato's Theory of Ideas, II 489, Annas: Aristotle’s Metaphysics, 216f. und Tarán: Speusippus of Athens, 364 erkennen hier zwei getrennte Argumente. 48 Phys. IV 4, 212 a5f.: ἀνάγκη εἶναι τὸν τόπον ... τὸ πέρας τοῦ περιέχοντος σώματος. 49 Der τόπος der Raumgrößen wird mit aller Klarheit eingeführt in dem von Philipp Merlan: From Platonism to Neoplatonism. Den Haag 31968 [1953], 96–140, als Fragment von Speusippos beanspruchten 4. Kapitel von Iamblichos, De communi mathematica scientia (p. 17. 16ff. Festa = Speusippos fr. 88 Isnardi Parente). Merlans Zuweisung wurde überwiegend akzeptiert, fand jedoch scharfe Kritik bei W. Gerson Rabinowitz: Aristotle’s Protrepticus and the Sources of its Reconstruction. Berkeley 1957, 87f. und Tarán: Speusippus of Athens, 86–107.

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damentaleren Schwierigkeit der platonischen Zahlentheorie zu:50 ‚sie‘ haben weder gesagt noch könnten sie sagen, wie und woraus die mathematische Zahl entstehen soll (N 3, 1090 b32–35). Da Aristoteles Platons Entwurf der Wirklichkeit stets als mit drei οὐσίαι rechnend darstellt,51 wovon die mittlere von den Gegenständen der Mathematik eingenommen wird, bedeutet der Vorwurf, daß schon bei der zweiten von drei οὐσίαι die Erklärung aus Prinzipien aussetzt (und somit die Theorie als ganze nicht sehr weit kommt). Genauer gesagt, die Erklärung aus einem Materialprinzip, denn Aristoteles erwägt sogleich selbst, ob die mathematische Zahl aus dem Großen-und-Kleinen erzeugt werden könnte (1090 b36f.) – das wäre seiner Meinung nach zwar keine Lösung, denn so wären sie identisch mit den Ideenzahlen; doch veranlaßt ihn der Gedanke immerhin, eine andere Form des Großen-und-Kleinen zu erwähnen, aus der Platon die Raumgrößen konstruiert52 – das legt natürlich den nicht ausgesprochenen Gedanken nahe, daß die kritisierte Theorie auch für die mathematischen Zahlen so etwas wie eine analoge Modifikation des negativen Prinzips ersinnen könnte (wie ja auch die wahrnehmbare οὐσίαι in der χώρα so etwas wie ein ‚eigenes‘ Materialprinzip hatte).53 Damit ist aber auch schon gesagt, was von der Versicherung des Aristoteles zu halten ist, Platon könnte

50 Zwischen die beiden Einwände tritt nur der Seitenhieb auf Xenokrates (ἐὰν μή τις ... διαμαρτάνουσιν 1090 b28–32). Wenn man die Beziehung von 1090 b20ff. auf Platon leugnet, muß man freilich den Übergang mit Annas: Aristotle’s Metaphysics, 211 „careless“ finden. Faktisch ist er sehr einfach: nachdem Speusippos getadelt war wegen seiner „episodenhaften“ Abfolge (1090 b16–20), die Ideenvertreter in dieser Hinsicht anerkannt wurden (b20–21, mit Erläuterung b21–24 und Ansatz zur Kritik b24–28), die xenokratische Sonderform der Ideenlehre parenthetisch als unsinnig beiseite geschoben ist (b28–32), wird zum Schluß gezeigt, daß auch die soeben gelobte wichtigste Form der Ideenlehre, die des Gründers (οἱ πρῶτοι) an anderer Stelle doch auch in analoge Schwierigkeiten gerät. – Zur Frage der Zuweisung an Platon bzw. Xenokrates vgl. oben Anm. 41. 51 A 6, 987 b14–16, Z 2, 1028 b19–21 sowie zahlreiche Parallelen, an denen der Name nicht genannt, die Theorie aber deutlich von Speusippos und Xenokrates abgehoben ist. 52 In 1090 b37f. lese ich ἐξ ἄλλου δέ τινος μικροῦ καὶ μεγάλου τά γε (Bonitz: γάρ codd., secl. Ross, Jaeger) μεγέθη ποιεῖ (zu τινος μικροῦ κ.μ. Vgl. 992 a11f.... ἐκ βραχέος καὶ μακροῦ, ἔκ τινος μικροῦ καὶ μεγάλου. Doch auch wenn man die Parenthese mit Jaeger als Frage liest, bringt sie unweigerlich die Vorstellung von anderen möglichen εἴδη τοῦ μεγάλου καὶ μικροῦ mit sich. 53 Zur Verknüpfung von χώρα und zweitem Prinzip s. Phys. IV 2, 209 b11–16 und 633–210 a2. Daß aus Aristoteles’ Mitteilung, Platon fasse das μεταληπτικόν im Timaios „anders“ als in den sogenannten ungeschriebenen Lehren (209 b13– 15), nicht auf einen ‚Widerspruch‘ bei Platon zu schließen ist, sondern doch wohl auf sinngemäße Abwandlung bzw. Anwendung der Grundthesen entspre-

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sicher auch nichts vorbringen, um die Entstehung der mathematischen Zahlen zu erklären. Indes ist aus der Fragwürdigkeit der polemischen Wendung οὔτ᾽ ἔχοιεν ἂν εἰπεῖν selbstverständlich kein Schluß möglich auf die Qualität der vorangehenden Feststellung οὔτ᾽ εἰρήκασιν (1090 b33). Vielmehr erweckt die klare Aufgliederung der Aussage in die Behauptung einer faktischen Unterlassung und die Behauptung der Unmöglichkeit für die Gegner, die Lücke zu schließen, durchaus den Eindruck, daß Aristoteles sich hier genau bewußt ist, was er sagt. Möglicherweise fassen wir hier wirklich – das erste Mal im Verlauf unserer Befragung der Texte – eine fundierte Aussage über das Fehlen gewisser Ausführungen in der platonischen Prinzipientheorie, die auch nach den eigenen Voraussetzungen dieser Theorie nicht fehlen dürften. Vielleicht darf man eine Stütze für diese Vermutung in der kombinierten Aussage folgender zwei Stellen sehen. Theophrastos erwähnt, wo er von der relativen Vollständigkeit des platonischen ἀνάγειν εἰς τὰς ἀρχάς spricht (Met. 6 b11–15), zwar die ἀριθμούς, worunter wohl die idealen Zahlen zu verstehen sind (da sie zwischen Prinzipien und Ideen treten), nicht aber die von Aristoteles für so wichtig gehaltenen μαθηματικά. Das wird man kaum als bloße Nachlässigkeit Theophrastos' erklären wollen. Eher ist anzunehmen, daß in τὰ ἄλλα (6 b12) sowohl die αἰσθητά als auch die zuvor (bei Erwähnung des Xenokrates, 6 b9) zusammen mit den αἰσθητά genannten μαθηματικά enthalten sind.54 Wie konnte aber Theophrastos die mathematischen Gegenstände – immerhin den ganzen mittleren Seinsbereich – so pauschal mit den Dingen der wahrnehmbaren Welt zusammenfassen? Vielleicht deswegen, weil er unter dem hier verfolgten Aspekt des ἀνάγειν εἰς τὰς ἀρχάς und der gegenläufigen Denkbewegung κατά γένεσιν (6 b11, 15) keine markanten Aussagen vorfand, die er hätte berichten können. – Zweitens darf in diesem Zusammenhang auch an eine Bemerkung des Aristoteles über den Ursprung der von ihm stets mit Verachtung behandelten Position des Xenokrates erinnert werden: einige wollten (wie Platon) die Ideen zugleich Zahlen sein lassen, doch da sie nicht sahen, wie bei diesen Prinzipien (d. h. denen der idealen Zahlen, dem Einen und der Unbestimmten Zweiheit) die mathematische Zahl neben der idealen existieren soll, setzten sie beide Arten von Zahlen gleich chend dem gewählten Thema, dürfte heute kaum noch angezweifelt werden. Den wahrscheinlichen und möglichen Differenzierungen des platonischen zweiten Prinzips ging Happ: Hyle,155–163 nach. 54 Daß Platons und Xenokrates’ Auffassung der μαθηματικά differierten, wäre kaum ein Einwand dagegen.

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(M 9 1086 a5–9). Was immer diese „Gleichsetzung“ von mathematischer und idealer Zahl bedeutet haben mag,55 Aristoteles behandelt sie durchwegs als das eigentliche Charakteristikum der xenokratischen Ontologie der ἀκίνητος οὐσία und dieses unterscheidende Merkmal seines Entwurfs wird hier erklärt als Folge einer Lücke des platonischen Entwurfs. Ob damit wirklich das zentrale Motiv des Xenokrates für seine Abweichung von platonischen Annahmen getroffen ist, muß dahingestellt bleiben; schwerlich hätte Aristoteles aber so formulieren können, wenn ihm eine wohlbekannte platonische Äußerung zur ‚getrennten‘ Konstitution der μαθηματικά vorgelegen hätte. 5.

Aber dies führt nur auf die weitere Frage: was lag Aristoteles vor bzw. was war ihm in welcher Form zugänglich an Ausführungen Platons über die Prinzipien und die ‚Zurückführung‘ der Dinge auf sie? Platons Vorlesung Über das Gute hatte er vermutlich selbst gehört und eine Nachschrift davon gefertigt.56 Ansonsten wissen wir über die philosophische Kommunikation 55 Hans Joachim Krämer: Die Ältere Akademie. In: Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie – Aristoteles – Peripatos. Hg. v. Hellmut Flashar. Basel/Stuttgart 1983, 1–174, hier: 52 spricht von Xenokrates’ „vermeintlicher Sonderlehre, daß ideale und mathematische Zahlen und Größen jeweils zusammenfallen“. Auszuschließen ist nach Krämer die Leugnung der "für mathematische Operationen unerläßlichen Pluralität gleichartiger Zahlen oder Figuren". 56 Die Anwesenheit des Aristoteles bei der Vorlesung berichtet nur Simplikios (In Arist. Phys. 453, 27–30D. , vgl. 151, 8–10), der die aristotelische Nachschrift nicht mehr zur Verfügung hatte (vgl. Cherniss: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, 119 Anm. 77). H. J. Krämer zog die Folgerung, daß „kein zwingender Grund zu der Annahme (besteht), daß Aristoteles an jener öffentlichen Vorlesung teilgenommen ... hätte“ (Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung. In: Hans-Georg Gadamer/Wolfgang Schadewaldt (Hg.): Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2/1968), 106–150, hier: 113 Anm. 30). Diese Annahme bleibt freilich angesichts des Berichtes des Aristoxenos, daß Aristoteles immer wieder vom didaktischen Mißerfolg der platonischen Vorlesung erzählte (Aristoxenos, Harm. elem. II, 30f. Meibom = TP 7 Gaiser), doch noch die wahrscheinlichste. Allerdings behält Krämer insofern Recht, als aus der wahrscheinlichen Anwesenheit des Aristoteles selbstverständlich nicht folgt, daß dieser eine öffentliche Anlaß, von dem wir durch Aristoxenos wissen, die einzige oder die wichtigste Quelle seiner „Nachschrift“ von Περὶ τἀγαθοῦ gewesen ist. Vgl. auch Konrad Gaiser: Plato’s enigmatic lecture ‚On the Good‘. In: Phronesis 25 (1980), 5–37 [wiederabgedruckt in: Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák. Sankt Augustin 2004, S. 265–294], hier: 9.

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in der Akademie nicht eben viel.57 Immerhin erfahren wir Met. A 9, 992 a22, daß Platon als Prinzip der Linie die unteilbaren Linien bezeichnete, und dies „oft“. Da kaum anzunehmen ist, daß Platon diese Ansicht in der einen Vorlesung Über das Gute „oft“ wiederholte, müssen wir davon ausgehen, daß Aristoteles oft zugegen war,58 wenn Platon über Probleme der idealen Zahlen und Raumgrößen sprach. Wenn einer, der oft bei solchen Erörterungen zugegen war, notwendig alles kennen muß, was zur entsprechenden Theorie gehört, so müssen wir Aristoteles’ Feststellung, daß die mathematische Zahl von Platon nicht aus den Prinzipien hergeleitet wurde, als schlichten historischen Bericht hinnehmen. Wenn die genannte Prämisse nicht zutrifft – und es ist offenkundig, daß sie es nicht tut – so bleibt hier eine Unsicherheit. Denn die übrigen Bezugnahmen des Aristoteles auf Lücken in den Erklärungsversuchen seiner Gegner erwiesen sich als wenig begründet. Sie resultieren aus der Nichtanerkennung ihrer Frageweisen und Denkmodelle sowie aus der Anwendung eigener Begriffe und Unterscheidungen, deren andersartige Herkunft die Anwendung auf die Probleme der Platoniker fragwürdig macht. Gerade das Unvermögen von M und N, dem ständig bereitgehaltenen Vorwurf der Unvollständigkeit wirklich Substanz zu geben, scheint diese Bücher eher zu indirekten Zeugen zu machen für die Bemühung der Akademiker um gedankliche Kohärenz bei ihrem ἀνάγειν τὰς οὐσίας εἰς τὰς ἀρχάς. Im übrigen geht aus der Bemerkung über die ‚Erzeugung‘ der ἐπόμενα (M 8, 1084 a32–36) klar genug hervor, daß M und N nur einen Teil dessen abdecken, was beim akademischen γεννᾶν bzw. ἀνάγειν zur Sprache kam.59 Wie das Bemühen um Kohärenz bei der Erklärung aus Prinzipien auch in

57 Das von Cherniss entworfene Bild totaler akademischer Kommunikationslosigkeit (The Riddle of the Early Academy: Berkeley 1945) wird zu Recht allgemein als Zerrbild empfunden. Die von K.Gaiser gesammelten Testimonien über die Schule Platons (TP 1–21) bestätigen Cherniss' Platonbild ganz und gar nicht. Auch der 7. Brief (der auch dann als Zeugnis von Wert bleibt, wenn Platon nicht der Verfasser sein sollte) setzt überall die Möglichkeit mündlicher Kommunikation mit Platon voraus (vgl. Thomas Alexander Szlezák: The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato’s Seventh Letter. In: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. C. J. Putnam (Hg.): Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 354–363). 58 Dies ist zwar nicht wörtlich ausgedrückt in τοῦτο δὲ πολλάκις ἐτίθει, bleibt aber die wahrscheinlichste Auslegung: denn hätte Aristoteles nur vom Hörensagen davon gewußt, hätte er wohl geschrieben τοῦτο δὲ λέγεται πολλάκις εἰρηκέναι. 59 γεννῶσι γοῦν τὰ ἑπόμενα, οἷον τὸ κενόν, ἀναλογίαν, τὸ περιττόν, τὰ ἄλλα τὰ τοιαῦτα, ἐντὸς τῆς δεκάδος· τὰ μὲν γὰρ ταῖς ἀρχαῖς ἀποδιδόασιν, οἷον κίνησιν

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anderen Bereichen wirksam war, mag der Hinweis Platons auf nicht weiter erörterte ἀρχὰς ἄνωθεν (Tim. 53 d6, nach der Beschreibung der Elementardreiecke als πυρὸς ἀρχὴν καὶ τῶν ἄλλων σωμάτων) verdeutlichen. Auf den Gedanken, daß auch das Feuer und die übrigen Elemente im Sinne einer Reduktion mit den Prinzipien verknüpft wurden, würde man von M und N aus nicht so leicht kommen. Es wäre demnach verfehlt, wollte man wegen der Klagen dieser Bücher über vermeintliche Lücken die akademischen Prinzipientheorien, voran die platonische, für etwas nur Tentatives oder Unfertiges halten. Was ein ‚Beleg‘ ist und was eine bloße Folgerung, weiß Aristoteles sehr wohl, gerade in M N zeigt sich das deutlich: wenn er unterscheidet zwischen οὔτ᾽ εἰρήκασιν und οὔτ᾽ ἔχοιεν ἃν εἰπεῖν (1090 b33f.), oder wenn er Überlegungen über den Sinn der γένεσις bei den Pythagoreern zurückweist, weil ihre Ausdrucksweise ganz eindeutig sei (1091 a13–20), so zeigt sich darin eine gleichsam. ‚philologische‘ Genauigkeit. Gleichwohl hängt es auch bei ihm nicht nur vom Textbefund ab, sondern ebensosehr (oder mehr) von der Einstellung, die er zu einer Frage hat, ob er einen sachlich zu fordernden Beitrag als erbracht anerkennt oder nicht. Am Ende von M 3 wendet er sich gegen die Auffassung, die mathematischen Wissenschaften handelten nicht vom καλόν daß sie dieses Thema nicht benennen (εἰ μὴ ὀνομάζουσιν) sei noch kein Grund zu meinen, daß sie nicht davon handelten (οὐ λέγουσιν περί αὐτῶν); insofern sie von τάξις und συμμετρία reden, reden sie auch vom καλόν und von dieser Art von Ursache – τρόπον τινά jedenfalls (1078 a33–b5). Es ist klar, daß Aristoteles etwa auch in Met. A6 von dieser Art der wohlwollenden Anerkennung der Berücksichtigung einer Sache „in gewisser Weise“ hätte Gebrauch machen können: dann hätte er schwerlich gesagt, daß Platon nur zwei Ursachentypen gebrauchte, die Form- und die Materialursache (988 a8–10), und das heißt: das ἀγαθόν als Zweckursache nicht. Generell kann er von den Vorgängern sagen, daß bei ihnen die Ursachen „in gewissem Sinne alle früher behandelt wurden, in gewissem Sinne aber durchaus nicht“ (A 10, 993 a14). In M und N wollte Aristoteles offenbar zeigen, daß Folgerichtigkeit, Vollständigkeit und gedankliche Kohärenz bei den Akademikern „in gewissem Sinne durchaus nicht“ erreicht wurden; damit zeigte er freilich, daß dies „in gewissem Sinne“ doch auch der Fall war.

στάσιν, ἀγαθὸν κακόν, τὰ δ᾽ ἄλλα τοῖς ἀριθμοῖς – Die ‚Arten‘ des Großen-und-Kleinen sind mehrfach genannt, doch nur einmal, 1089 b14, fügt Aristoteles hinzu καὶ ἔτι δὴ πλείω εἴδη λέγουσι τοῦ πρός τι.

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10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele* (1993)

1. La spaccatura fra Aristotele e Platone Chi si rivolge alla Metafisica aristotelica proveniendo dai dialoghi di Platone crede di essersi spostato in un altro mondo. Del resto, il sussistere di una profonda spaccatura fra il pensiero metafisico del «maestro» e quello del suo «allievo», è stato oggetto di esperienza unanime da parte dei lettori di ogni epoca. E non è solo la forma espositiva, scelta dai due filosofi, a rivelarsi contraria e non unificabile: un dialogo non è affatto un trattato, e — a quanto risulta — i punti di vista assunti per omologia da certi interlocutori, in certe situazioni, sono già nelle loro pretese qualcosa di diverso dalle proposizioni fondamentali, indipendenti dalla situazione, che Aristotele presenta al lettore come guadagni universalmente validi per evidenza logica. Inoltre, è chiaro che a ciascuna di queste forme espositive così diverse appartenga un'ermeneutica diversa, che a sua volta riporta a modi diversi di porre i problemi, oppure a specie diverse di approccio alla filosofia. In misura non minore, colpisce il contrasto inerente l'adozione dei concetti filosofici: Platone cerca di trarre i suoi concetti-guida dalla riflessione critica sull'esperienza quotidiana, accostandosi con attenzione e flessibilità al modo comune di parlare; Aristotele invece non si spaventa, né si tira indietro, davanti ad una costruzione terminologica che spesso, dal punto di vista linguistico, fa violenza. Ma soprattutto, si ha una spaccatura a livello «dogmatico», che non può non essere notata. In effetti, non c'è luogo in cui non sia possibile ricevere l'impressione, non tanto di confrontarsi con due teorie fra loro distinte, bensì di trovarsi di fronte a due mondi filosofici diversi, ai quali è necessario che appartengano due concetti di filosofia fondamentalmente diversi. A questo si aggiunga che lo stesso Aristotele, senza tregua, pone l'accento sulla differenza a livello «dogmatico» fra sé e Platone. La critica alla dottrina platonica delle Idee costituisce — per così dire — il basso continuo della Metafisica: secondo Aristotele, è errato il tentativo di conferire carattere sostanziale a ciò che ha natura concettuale ed universale. Aristotele ha

* Per la traduzione italiana di questo contributo, ringrazio la dott. Elisabetta Cattanei dell'Università Cattolica del Sacro Cuore di Milano.

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10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele

dedicato al concetto di uno (ἓν) un intero libro (il libro Iota), e ciò si spiega — in maniera forse non esclusiva, ma certo preponderante — a partire dallo sforzo di eliminare i fraintendimenti relativi a questo concetto, che a suo avviso sono sorti dall'uso che Platone ha fatto dell'uno. Platone avrebbe munito di una falsa ontologia, ugualmente all'uno, anche il concetto di numero: la correzione della filosofia platonico-accademica del numero riempie per intero due libri (M e N), ove Aristotele, allo stesso tempo, mette in discussione la dottrina dei principi dei suoi contemporanei, e soprattutto di Platone. Questa stessa dottrina risulta costituire l'autentico punto di riferimento di Aristotele, dovunque egli esponga le proprie vedute in materia di principi, e quindi, nella maniera più completa, nel libro Λ. Visto il modo di procedere della Metafisica, non stupisce inoltre che la menzionata spaccatura fra le filosofie dei due pensatori sia divenuta molto presto un tema centrale nella storia della filosofia. Nell'antichità, a partire da Antioco di Ascalona, si è compiuto il tentativo di indicare l'unità a livello «dogmatico» dei grandi sistemi filosofici, e in tal senso si è cercato di porre l'accento sull'appartenenza di Aristotele all'Accademia antica, più che sulla sua eterodossia.1 Peraltro, questa tendenza all'armonizzazione presente nel Medioplatonismo riuscì a farsi strada solo in misura molto parziale: la corrente contraria, che si teneva ferma alla basilare differenza fra Platone e Aristotele nell'orientamento metafisico di fondo, fu rappresentata durante il secondo secolo dopo Cristo da insigni Platonici, il più radicale dei quali, Attico, sintetizzò la propria posizione nella domanda retorica: «ma che cos'ha in comune Aristotele con Platone?» (τίνα πρὸς Πλάτωνα ἔχει κοινωνίαν).2 Il rifiuto di un'armonizzazione dogmatica fra Aristotele e Platone si può chiaramente avvertire anche in Plotino,3 mentre il Neoplatonismo a lui successivo guadagnò la possibilità di unificare le loro due posizioni solo al prezzo di una coerente subordinazione dei teoremi aristotelici ai rispettivi teoremi platonici. Il modello di questa subordinazione era offerto dal modo tradizionale in cui veniva armonicamente risolto il problema delle categorie: si chiariva che la dottrina delle categorie di Aristotele, e quindi il suo concetto di οὐσία, erano sì validi, ma solo per gli ambiti inferiori della realtà, cioè per il mondo sensibile.4

1 Cicerone, Acad. 1, 17 s.; De finibus 5, 7. 2 Attico in Eusebio, Praep. ev. 15, 6, 3 (= fr. 3, 29 s. des Places). 3 Cfr. T. A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Berlin 1979, p. 42 s. 4 Com'è noto, questo schema di spiegazione sta già a fondamento della trattazione plotiniana delle categorie (Enn. VI, 1-3) e lo si può riportare all'indietro, ben prima Plotino, fino al Medioplatonismo.

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Anche dopo la fine dell'epoca antica, il contrasto fra l'orientamento di fondo aristotelico e quello platonico non ha perduto sin dall'inizio nulla del suo significato; anzi, al termine del Medioevo, in seguito alla rinascita del platonismo nell'Accademia fiorentina di Marsilio Ficino, si è fatto ancora più forte. Solo il mutamento nel modo di porre i problemi, prodotto dai sistemi filosofici del XVI e XVII secolo, ha lasciato che questo contrasto venisse progressivamente meno — anche se per Leibniz era ancora di un certo significato. A partire da Hegel, con l'imporsi della ricerca strettamente storica conseguente alla nuova concezione di storia dello spirito, era necessario che crescesse anche la tendenza a ridurre le differenze fra due filosofie così vicine nel tempo. Nel nostro secolo, Werner Jaeger, per mezzo della sua rivoluzionaria applicazione del metodo storico-evolutivo ad Aristotele,5 ha tentato di interpretarne il cammino filosofico come quello di un pensatore accademico, sia pure dissidente. Jaeger ha visto con chiarezza che Aristotele, quando nella Metafisica critica Platone, tiene d'occhio non tanto i dialoghi, quanto piuttosto la filosofia orale del suo maestro. Per molti aspetti, la correttezza dello spunto jaegeriano è stata confermata dai progressi compiuti dalla ricerca intorno alla dottrina non scritta di Platone sui principi.6 Certo, tutto ciò non ha portato alla scomparsa dell'impressione dalla quale sono partite le nostre riflessioni — l'impressione, cioè, di una profonda spaccatura fra Platone e Aristotele — né d'altronde potevamo aspettarci questo in seguito a quanto abbiamo osservato finora: fra Platone e il suo più grande allievo domina una παλίντονος ἁρμονία, dotata di radici

5 W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923 (traduzione italiana di G. Calogero: Aristotele. Prime linee di una storia della sua evoluzione spirituale, Firenze 1935, più volte ristampata). 6 Dopo i lavori preparatori ed indicativi di direzione di L. Robin (La théorie platonicienne des idées et des nombres d'après Aristote, Paris 1908), è da ricordare soprattutto il nuovo energico impulso da parte di H. J. Krämer (Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959) e K. Gaiser (Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963). Tuttavia, anche nel tempo intercorso fra i grandi lavori di Robin e Krämer, lo sfondo intra-accademico del pensiero aristotelico non è stato interamente trascurato: si pensi solo a P. Wilpert (Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, Regensburg 1949) e a Ph. Merlan (From Platonism to Neoplatonism, The Hague 1952, 19683). Notevole è la dimostrazione da parte di H. Happ (Hyle. Studien zum aristotelischen Materiebegriff, Berlin 1971) della continuità fra la concezione aristotelica di hyle e la filosofia accademica dei principi. Una bibliografia completa relativamente a questo ambito degli studi platonici, aggiornata al 1981, si trova in: H. J. Krämer, Platone e i fondamenti della metafisica, Milano 1982, pp. 418-432 (proseguita fino al 1990 nella Select Bibliography in: Id., Platon and the Foundations of Metaphysics, Albany 1990, pp. 287-300).

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così profonde, che agli studiosi successivi sembra rimanere solo la scelta di accentuarne, con maggiore intensità, ora la concordanza, ora la tensione contraria. Qui di seguito, intendiamo richiamare alcuni modi di porre i problemi, alcuni spunti o soluzioni, fra loro imparentati o quanto meno confrontabili, nel tentativo di cercare concordanze più nell'ambito dei motivi di fondo e dei metodi, che in quello delle «dottrine». Anche se Aristotele ha preso molto dal suo maestro, tuttavia non ha preso quasi nulla senza apportarvi mutamenti, sicché alla fine, dopo ogni somiglianza — per non dire vicinanza interiore — fra gli spunti presi in esame, sarà di nuovo la differenza ad avere la parola.

2. La scienza «ricercata» Per cogliere in Aristotele la prosecuzione di spunti platonici, è già di per sé illuminante il modo in cui egli conduce alla scienza filosofica suprema. In apertura al libro A, il lettore viene avvedutamente coinvolto nella delineazione dei contorni di una disciplina, che elegge a proprio oggetto «i principi e le cause» della realtà; all'inizio del secondo capitolo, Aristotele è già in grado di esprimersi nella forma seguente: «poiché cerchiamo questa scienza …» (A 2, 982 a 4): il lettore, dunque, è parte di una «ricerca» che dà per intero l'impressione di essere una ricerca aperta, vale a dire un'avventura intellettuale, il cui esito è ancora ignoto a chi vi prende parte, ma è destinato a ricevere definizione solo e comunque dalla cosa non ancora sottoposta ad indagine. Si consideri, inoltre, la sicurezza con cui Aristotele raggiunge — sulla mera base delle opinioni correnti relative alla «sapienza» (σοφία) — il punto finale di una scienza di Dio, inteso sia come oggetto, sia come soggetto, del sapere più alto: una simile sicurezza permette di sospettare che l'esito della ricerca — presentata anche in seguito, in una riflessione di metodo (983 a 8-10), come ricerca futura — non possa essere così aperto come sembrava. Successivamente, Aristotele illustra con maggiore ampiezza i contorni della scienza «ricercata» tendendo ad uno scopo ben preciso, misurando, cioè, in rapporto alla sua dottrina delle quattro cause (A 3-10), che è introdotta nella ricerca in forma definitiva, i primi passi compiuti dai propri predecessori in direzione analoga. Nondimeno, all'inizio del libro delle aporie (B, 995 a 24), ci imbattiamo ancora una volta nella «scienza ricercata», anziché — come sarebbe lecito aspettarsi — nel catalogo dei problemi di una disciplina oramai definita in modo soddisfacente. L'atteggiamento per cui un autore — che per altro verso risulta avere un'idea chiarissima del proprio scopo — pone l'accento sulla ricerca di una

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«sapienza suprema», si trova anche nell'Epinomide (974 B 1, C 3, 989 A 1, 5).7 Chi l'ha composto — con ogni verosimiglianza Filippo di Opunte — fu, come Aristotele, allievo di Platone. E in realtà, entrambi questi filosofi più giovani di Platone, sul punto specifico che ci interessa, si riallacciano volutamente al loro maestro. Nel Politico, ad esempio, che è un dialogo tardo, Platone parla dell'«arte politica che stiamo ora cercando» (284 A 6-7: «τὴν ζητουμένην νῦν πολιτικήν»),8 ma anche decenni prima, nel Fedone, parlava già di una «ricerca della causa» (99 D 1: «τὴν τῆς αἰτίας ζήτησιν»). Nel Fedone, tale ricerca indica chiaramente il tentativo, da parte di Platone, di sostituire la spiegazione causale del mondo propria dei Presocratici con sua personale concezione dell'origine del divenire, che sia più adeguata.9 Si tratta dunque di una ricerca che, con ogni evidenza, costituisce il modello dell'analogo tentativo avente luogo in Metafisica A. Probabilmente, ancora prima del Fedone occorre datare l'Eutidemo, ove Socrate utilizza la seguente formula espressiva: «la scienza di cui siamo in cerca da tempo» (289 E 1). Senza dubbio, Socrate intende la forma più alta di sapere, che rende l'uomo felice (289 C 8). Anche qui, il sapere di più proprio di chi conduce la ricerca — un sapere di più che non può non essere risconosciuto — appartiene alla particolare accentuazione cui è soggetta la ricerca stessa (che peraltro è comune): per mezzo di alcune brevi allusioni (290 B-D), Platone istituisce un nesso con il concetto di dialettica, intesa come scienza suprema nel senso che sarà articolato nella Repubblica , e chiarisce subito, in una vistosa interruzione del dialogo narrato, che solo Socrate poteva essere la persona in grado di fornire il sapere sulla scienza «ricercata».10 A questo proposito, val la pena di notare una circostanza particolare, e cioè che la formula espressiva, che introduce la «ricerca» della scienza, si trovi nella prosecuzione (288 D ss.) del logos protreptikos di Socrate (278 E-282 D). In effetti, entro un contesto protrettico, è sensato che chi intende «convertire» alla filosofia, non dispieghi fin dall'inizio tutto il suo sapere sullo scopo da raggiungere, bensì presenti con delicatezza i tratti seducenti 7 Cfr. H. J. Krämer, Die ältere Akademie, in: Überweg-Flashar, Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Akademie-Aristoteles-Peripatos, Basel-Stuttgart 1983, p. 114. 8 [La traduzione italiana dei dialoghi di Platone di cui si fa uso qui e in seguito è quella contenuta in: Platone, Tutti gli scritti, a cura di G. Reale, Rusconi, Milano 1991, n. d. t.]. 9 Sul significato, nel Fedone (96 A -102 A), della ricerca della causa procedente per gradi, entro la cornice del pensiero metafisico di Platone, cfr. G. Reale, Per una nuova interpretazione di Platone, Milano 199110, pp. 137-227. 10 Cfr. il mio contributo Sokrates' Spott über Geheimhaltung. Zum Bild des «philosophos» in Platons «Euthydemos», «Antike und Abendland», 26, 1980, pp. 75-89, spec. 82-86.

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del sapere supremo, di modo che chi lo ascolta non possa fare a meno di avvertire che questo sapere è il suo scopo proprio ed originario. Ora, in un certo senso, l'intera opera scritta di Platone è orientata protretticamente: essa ritrae il tipo «esoterico» di comunicazione del sapere, che si adegua rigorosamente al livello di sapere proprio del destinatario, e di cui è parte essenziale che chi conduce la ricerca sappia di più di quanto egli dia a riconoscere.11 Il fatto che Aristotele ponga l'accento sulla «ricerca» della scienza suprema, e — anziché sfoderare prematuramente il sapere che ha già ottenuto — si sforzi di condurre con delicatezza, sulla via che passa per le opinioni correnti, da essa e, attraverso nuove aporie, ad essa, è dunque da interpretarsi come un'eco del filosofare «protrettico» proprio dei dialoghi platonici.

3. L'«aporia» come mezzo per raggiungere l'«euporia» Al concetto di protrettica filosofica appartiene il carattere per cui chi «converte» alla filosofia non può esortare ad un'attività che egli stesso ritenga senza prospettive: non sarebbe etico incitare con vigore ad un'impresa, che fosse necessariamente destinata al naufragio. A fondamento della tensione conoscitiva della Metafisica aristotelica — come della protrettica platonica — sta la convinzione che lo scopo supremo sia anche raggiungibile. L'ideale di una ricerca infinita, senza la prospettiva di trovarne un risultato, si accorda al gusto di tempi più recenti (nel diciottesimo secolo, ad esempio, l'illuminista Gotthold Ephraim Lessing dichiarò la propria fede in questo ideale con una passionalità già quasi romantica); per Aristotele, viceversa, è semplicemente un'assunzione «razionale» che chi sa viva in una situazione più piacevole e più gioiosa (ἡδίω) rispetto a chi ricerca (Eth. Nic. X 7, 1177 a 26-27). Ma poiché la filosofia è connessa a «meravigliose sensazioni di piacere» (ibid. a 25: «δοκεῖ γοῦν ἡ φιλοσοφία θαυμαστὰς ἡδονὰς ἔχειν»), non può limitarsi a mero ricercare. Di fatto, anche nella Metafisica, Aristotele dimostra di sapere qualcosa sui momenti culminanti del pensiero (anche se sono di breve durata), e si arrischia a considerarli in analogia con la vita sempiterna di Dio, che è caratterizzata dal piacere più alto e più puro (Λ 7, 1072 b 14-16). Allo stesso modo, il «viaggio» della dialettica platonica —

11 Cfr. T. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin 1985 (edizione italiana: Platone e la scrittura della filosofia, introduzione e traduzione di G. Reale, Milano 1988, 19923).

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un viaggio lungo ed impegnativo — viene intrapreso alla condizione che al suo termine si trovino «riposo del cammino e fine del viaggio» (Rep. 532 E 3). Lo scopo non è ostinarsi nella mancanza di una via di uscita, ostinarsi nell'aporia; e Aristotele non pone in prospettiva una simile eventualità, ma piuttosto la soluzione dell'aporia nella «euporia». Dobbiamo considerare parte costitutiva dell'eredità platonica anche il procedimento, il cui significato metodico viene evidenziato in maniera chiara e sintetica all'inizio del libro B (995 a 24-b 4), ossia l'impiego — diretto ad uno scopo — dell'aporia, intesa quale passo di grande importanza sul cammino che porta alla sua soluzione. In buona parte, i problemi del libro delle aporie sono problemi costruiti ad arte, che mai possono aver creato ad Aristotele effettive difficoltà. Ma pure la parte delle aporie, per la quale questa osservazione sicuramente non vale, è con ogni evidenza formulata già in vista della soluzione che si è ormai raggiunta. Certo, solo chi conosce di già la soluzione presente nei libri successivi ha la capacità di riconoscere questo fatto. Senza dubbio, Aristotele è riuscito a presentare le aporie come aporie serie, cioè come aporie effettivamente aperte, nel proprio contenuto, anche per il loro autore. Con ciò, egli ha conservato — pur senza imitare la forma dialogica ed il contesto esplicitamente protrettico — un importante tratto di fondo dei cosiddetti dialoghi aporetici di Platone sulla virtù, che com'è noto non trattano solamente le questioni relative alla definizione delle virtù, ma — come capita ad esempio nel Carmide e nel Lisia — affrontano anche le domande metafisiche di fondo. Ora, in Platone la funzione didattica dell'aporia è nascosta in maniera così perfetta dalla mimesis letterariamente magistrale della «ricerca» in comune, che per lungo tempo — soprattutto a partire dal XIX secolo, per via del suo orientamento storico-evolutivo — ha potuto predominare la credenza che — al tempo della stesura di tali dialoghi — il loro stesso autore si trovasse impigliato nell'aporia. Ad un attento esame della funzione drammatica del conduttore del dialogo, alla luce della critica allo scritto, questa credenza si rivela tuttavia un'illusione.12 Probabilmente, anche l'esegesi aristotelica sarebbe caduta in un'analoga illusione, se il titolo di testa del libro delle aporie — da noi citato — non ci parlasse con estrema chiarezza di un operare metodicamente cosciente per mezzo di aporie, costruite in vista dell'«euporia». La somiglianza nel proce-

12 Cfr. ibid.; inoltre, la prefazione di R. Merkelbach alla sua edizione del Menone (Frankfurt a. M. 1988, pp. 5-13), e M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, Berlin 1987 (edizione italiana: Il senso delle aporie nei dialoghi di Platone, traduzione di C. Mazzarelli, introduzione di G. Reale, Milano 1991).

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dimento è così palese, che quasi si potrebbe essere indotti a considerare l'uso aristotelico dell'aporia come testimonianza (sussidiaria) sulla natura delle aporie platoniche.

4. L'interrogazione della tradizione Al metodo con cui Aristotele conduce ai problemi metafisici di fondo appartiene fra l'altro l'interrogazione della tradizione. Come si sa, le panoramiche di tipo dossografico, che Aristotele — nella Metafisica come in taluni altri luoghi della sua opera — espone prima di illustrare le proprie idee, non scaturiscono da un vago interesse per quella che Nietzsche ha chiamato «storia antiquaria». E' piuttosto una riflessione metodologica fondamentale ciò che sta a monte del pensiero per cui — negli ambiti inadatti alla precisione matematica oppure a cogenti processi dimostrativi — occorre assumere come punto di partenza gli ἔνδοξα, intendendo per ἔνδοξα ciò che «sembra giusto a tutti o ai più o ai sapienti, e fra questi ultimi o a tutti, o ai più, o ai più noti ed insigni» (Topici, 100 b 21-23). Secondo Aristotele, nessuno non può cogliere per nulla la verità (a 1, 993 b 1); anche se il contributo di ciascun singolo a trovare la verità può essere modesto, tuttavia dalla somma dei contributi risulta una grandezza considerevole (ibid. b 1-3). Rinunciare ai risultati altrui sarebbe sconsigliabile non per altro se non per il motivo che, viceversa, nessuno può cogliere la verità con completa precisione (993 a 31 s.). Il valore del sapere tramandato è però inestimabile come pietra di paragone per i risultati personalmente conseguiti. In questo senso, l'indicazione del fatto che i pensatori antichi non poterono ritenere valida nessuna ulteriore specie di causa oltre alle quattro specie aristoteliche, produce, dal punto di vista di Aristotele, un grado elevato di fiducia nella sua teoria (A 3, 983 b 5-6, insieme ad A 7, 988 b 16-19 e ad A 10, 993 a 11-13). Il confronto con i predecessori non produce però solo una conferma per chi ricerca, ma contemporaneamente produce correzione e chiarimento per i risultati ottenuti dai pensatori antichi. Riallacciarsi alla tradizione, quindi, significa fra l'altro portare la tradizione alla sua autenticità (cfr. A 10, 993 a 13-24). E questo è possibile perché la tradizione, per parte sua, non rappresenta un andirivieni disorientato di opinioni, ma piuttosto un avvicinarsi per tentativi alla piena verità, regolato dagli stessi fenomeni: la verità, in passato, fu spesso conosciuta e spesso, nuovamente, perduta (Λ 8, 1074 b 10-13, cfr. De caelo, 270 b 19 s., Meteor. 339 b 27-30, Rhet. 1329 b 25). Così, il prendere in attento esame la tradizione, e lo spiegarla approfonditamente, ricevono anche una loro dimensione storica: tutti noi lavoriamo ad un progressivo svelamento della verità, cui peraltro, do-

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po future catastrofi, si dovranno di nuovo impegnare le generazioni a venire. Lo sfondo platonico di questo complesso di idee non va cercato solo in ambito storico (ad esempio nella teoria mitica delle catastrofi che si trova nel Politico, 268 E ss.), oppure nell'idea, ugualmente mitica, per cui lo stato ideale della Repubblica sarebbe già stato realizzato, una volta, nell'Atene delle origini, senza che gli Ateniesi ne abbiano conservato il minimo ricordo (Tim. 23 b ss., Crizia 109 D ss.); in misura non minore, questo sfondo va cercato anche in ambito metodologico: il pensiero per cui nessuno non può cogliere per nulla la verità, storicamente, non sarebbe stato possibile senza la convinzione platonica per cui ciascun uomo, in quanto uomo, dispone di un'anima, la quale, nella sua esistenza precedente, abbia contemplato il mondo delle Idee — o in ogni caso porzioni di questo mondo — e possa perciò essere condotta, nell'aldiqua, a «ricordare» la verità. Per quanto concerne l'uso concreto, da parte di Platone, della tradizione filosofica, il suo richiamo all'eraclitismo nel Cratilo, all'Eleatismo nel Parmenide, e al Pitagorismo nel Timeo, indicano in maniera sufficientemente chiara che il suo «metodo» di appropriazione della storia era quello di superare per approfondimento gli spunti precedenti. Aristotele dunque, quando vuole tradurre il «balbettio» dei Presocratici in un discorso filosoficamente rilevante per i suoi tempi, svelando il vero senso delle loro affermazioni — che essi stessi, spesso, non hanno interamente capito (cfr. A 10, 993 a 15, De gen. et corr. 314 a 13) — altro non fa se non riformulare ciò che Platone aveva efficacemente anticipato.

5. La scienza «di tutto» Per Aristotele, dunque, il contenuto della scienza «ricercata» è in linea di principio lo stesso dei suoi predecessori, anche se si impone ancora il compito di precisare ulteriormente il senso della ricerca diretta ai «principi primi» e alle «cause prime». Per quanto riguarda, però, il perimetro della ricerca e il livello di rendimento che le viene richiesto, Aristotele sembra volersi distaccare in modo risoluto specialmente da Platone e dagli Accademici. Il primo requisito necessario di chi è «sapiente» (σοφός) sta nel capire «tutto», o nell'essere in grado di conoscere tutto. Aristotele, per circoscrivere il sapere filosofico risolutivo della sua ricerca, muove da questa intuizione universalmente accettata — muove quindi da un ἔνδοξον — però si affretta ad aggiungere, a titolo limitativo, che il sapiente deve conoscere tutto nella misura in cui è possibile, senza possedere nel dettaglio scienza di «tut-

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to» (A 2, 982 a 8-10). L'idea ingenua e prefilosofica, secondo la quale vi può essere un uomo sapiente che conosca assolutamente tutto, era già stata sottoposta ad una precisazione filosofica all'interno del concetto platonico di dialettica. La capacità di sussumere in una forma (o εἶδος) ciò che è disperso nel mondo sensibile appartiene all'uomo in quanto uomo (Fedro, 249 B 6-C 1). Questa attività intellettuale di «unificazione» (συναγωγή) e l'attività complementare di «divisione» (διαίρεσις), sono fondamento e presupposto del parlare e del pensare in quanto tali (Fedro, 266 B 3-5); chi, riflettendo su questo punto fondamentale, elabora l'«arte» del vero unificare e dividere è, per Platone, «dialettico» (ibid. B 7-C 1). Al metodo di definizione, che passa per l'arte della diairesis, non può sfuggire assolutamente nulla (Sof. 235 C 4-6). La dialettica, però, porta alla luce solo ciò che di fatto è già presente nella realtà, anche se per noi non è sempre evidente (cfr. Fil. 16 D 2). Senza riferimento al metodo della diairesis, o alla dialettica dell'uno e dei molti, questo modo di vedere le cose significa quanto segue: chi conosce, può «ricordarsi di tutto il resto» a procedere da un singolo punto di partenza guadagnato per anamnesi, «poiché la natura è tutta congenere e poiché l'anima ha imparato tutto quanto» (Menone, 81 C 9-D 3). Il dialettico conosce inoltre l'idea del Bene come principio di tutto (Rep. 511 B) ed ha il potere di esplicitare il nesso fra il principio e ciò che ne viene dedotto (ibid. e 517 C). La conoscenza del Bene in sé si ottiene per distinzione «da tutte le altre cose» (Repubblica 534 B 9), come del resto il raggiungimento dell'intelligenza (νοῦν σχεῖν) dialettica può essere ottenuto solo tramite una «esplorazione» — infinitamente impegnativa — «di tutte le possibilità e in tutti i sensi» (Parm. 136 E 1, ove si parla delle distinzioni concettuali di ogni cosa in opposizione a tutte le altre cose). Contro l'idea di una «scienza di tutto» (ἐπιστήμη τῶν πάντων) Aristotele dispone di pesanti obiezioni, che presenta, fra l'altro, alla fine di Met. A 9 (992 b 18 — 993 a 2). «Scienza» è qui intesa come «scienza dimostrativa», nel senso proprio della teoria della scienza articolata negli Analitici posteriori. Ne segue che una scienza non possa procedere per dimostrazioni nella sua totalità, ma debba muovere a partire da «principi» propri del suo campo, che non siano dimostrati. Inoltre, se chi affronta una scienza, all'inizio, non sa nulla del suo contenuto, allo stesso modo, chi avesse da imparare una «scienza di tutto», non dovrebbe sapere assolutamente niente (ibid. b 26-30); tuttavia, ogni insegnare ed imparare comincia con un sapere che è già alla mano (An. post. I 1, 71 a 1-2). Per cogliere gli «elementi di tutte le cose», è d'ostacolo soprattutto la situazione per cui le cose che «sono» non vengono denotate come «esseri» nello stesso medesimo significato (992 b 18-22): la conoscenza onnicomprensiva degli elementi dovrebbe dunque lavorare su di un'omonimia, e quindi non coglierebbe nulla di reale.

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Com'è noto, appunto con questo argomento, Aristotele esclude, nell'Etica Eudemia, che si dia una scienza unitaria dell'essere: da qui si è concluso ad un mutamento fondamentale nella sua idea di ontologia scientifica, entro cui il riconoscimento, nel libro Γ, di una scienza dell'essere in quanto essere costituirebbe una deviazione rispetto alla critica — inizialmente radicale — contro gli scopi conoscitivi della dialettica platonico-accademica.13 Peraltro, la nuova teoria della scienza dimostrativa, alla quale in Met. A 9 si fa implicitamente riferimento, è adatta a definire in modo nuovo il carattere di un'eventuale «scienza di tutto l'essere», in contrasto all'impostazione platonica; non fu invece concepita per superare la pretesa di conoscere «tutto», ereditata da Platone. J. D. Evans, in un'analisi puntuale di tutti i passi rilevanti in merito, ha indicato che l'idea di una «scienza di tutto» poteva avere un triplice contenuto: (1) lo studio di determinati aspetti universali, che trovano applicazione a tutte le cose; oppure (2) lo studio di tutti gli aspetti di un determinato ambito oggettuale; o, (3) in terzo luogo, lo studio di tutti gli aspetti di tutte le cose.14 Solo la terza specie di scienza è in piena contraddizione con il concetto di scienza di Aristotele. La dialettica platonica ricade — certo — entro questo tipo di «scienza di tutto», e viene condannata sotto l'accusa di rimanere un'abilità peirastica, che prova e che mette alla prova, senza potersi elevare ad ἐπιστήμη (cfr. Γ 2, 1004 b 25 s. sulla dialettica come tale). La seconda specie di ricerca su tutto corrisponde allo scopo conoscitivo delle scienze particolari, mentre la prima ridà esattamente ciò a cui lo stesso Aristotele aspira nella sua «scienza dell'essere in quanto essere»: in tutte le cose, ricercare l'aspetto della loro essenzialità — ma appunto solo questo aspetto, senza cioè cadere nell'errore, compiuto da Platone, di voler cogliere (o dedurre) i contenuti ben determinati di tutti i settori dell'essere, e di tutti gli ambiti oggettuali, per mezzo di una scienza onnicomprensiva, unitariamente concepita, ove i principi siano gli stessi per tutte le cose.

6. La scienza «più vera» La pretesa della «filosofia» (intesa terminologicamente nel senso di una disciplina suprema) ad avere competenza su «tutto» viene dunque mantenuta 13 G. E. L. Owen, Logic and Metaphysics in some earlier works of Aristotle, in: I. Düring — G. E. L. Owen (eds.), Aristotle in the Mid-Fourth Century, Göteborg 1960, pp. 163-190. 14 J. D. Evans, Aristotle's Concept of Dialectic, London-New York 1977, spec. pp. 41-52.

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con enfasi (Γ 2, 1004 a 34 s.), anche se solo nel senso modificato per cui essa tratta il «tutto» come «qualcosa», cioè come essere (ibid. b 10-17). E come in Platone la dialettica che tutto conosce esprime la conoscenza più «vera» e sicura, così anche in Aristotele la scienza del'essere contiene la sua peculiare pretesa di verità. Al Socrate platonico, nel Filebo (58 A), sembra evidente che tutti — possiedano anche solo un poco di ragione — non possano non cosiderare come «di gran lunga la più vera» la conoscenza (γνῶσις) che si dirige all'essere vero ed immutabile. Ciò corrisponde in pieno al pensiero di fondo della dottrina delle Idee, che Platone ha svolto per esteso alla fine del V libro della Repubblica, ossia al pensiero per cui, fondamentalmente, il grado di conoscibilità di una cosa corrisponde al suo grado di essere, dalla piena oscurità dell'inconoscibilità del non essere, al sicuro sapere dell'essere che sempre è. La serie dei tre paragoni al centro della Repubblica illustra questo pensiero con grande chiarezza: così come il sole è la cosa più visibile nell'ambito sensibile, e come la sezione della linea che è associata alle Idee rappresenta la conoscenza più chiara e sicura, così chi risale fuori dalla caverna termina col conoscere il culmine del mondo delle Idee, ossia il Bene in sé, come «fulgore supremo degli esseri» (τοῦ ὄντος τὸ φανότατον): la sua luce, all'inizio, può accecare; alla fine, però, chi conosce le resiste (Repubblica 518 C 9-D 1). Al primo impatto, non ci si aspetterebbe di trovare nulla di corrispondente a ciò nella Metafisica, il cui concetto di verità localizza la verità non nelle cose, bensì nel pensiero (E 2, 1027 b 25-27). Tuttavia, la chiusura del primo capitolo di Alfa elatton si può comprendere solo su tale sfondo: «ogni cosa possiede tanto di verità quanto possiede di essere» (993 b 30-31: «ἕκαστον ὡς ἔχει τοῦ εἶναι, οὕτω καὶ τῆς ἀληθείας»).15 Questa frase è preceduta dal pensiero, per cui i principi delle cose che sono sempre, quali cause del loro essere vere, sono necessariamente le entità più vere (b 26-30). Ora, sia che per «cose che sono sempre» si intendano (con H. Wagner e K. Bärthlein )16 i fenomeni matematici, e per i loro principi si intendano i principi più alti del dimostrare, quali la legge di contraddizione, o sia che si intendano (con Alessandro di Afrodisia e la maggioranza degli esegeti a partire da lui) gli eterni corpi celesti e i motori immobili — soluzione che

15 [La traduzione italiana della Metafisica alla quale si fa riferimento, qui e in seguito, è quella di G. Reale, Loffredo, Napoli 1968; Rusconi, Milano 1978, 19924; Vita e Pensiero, Milano 1993; n. d. t.]. 16 H. Wagner, Zum Problem der aristotelischen Metaphysik, «Philosophische Rundschau», 7, 1959, pp. 133 s.; K. Bärthlein, Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie, 1972, p. 27.

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può ben essere la migliore17 — in entrambi i casi troviamo che Aristotele esige per la ricerca filosofica il grado più alto di verità. Ma il parallelismo «platonico» fra grado di conoscenza e grado di essere non può venire espresso con maggiore chiarezza e concentrazione che nella citata chiusura di Met. a 1. Del resto, trasferire la verità — come si è ricordato — dalle cose nel pensiero, non costituisce l'ultima parola di Aristotele in merito al problema. Per quanto riguarda la conoscenza delle «cose semplici», tale determinazione non vale (E 4, 1027 b 27-28); per queste cose, l'essere vero consiste piuttosto nel «venire in contatto» («θιγεῖν») con l'oggetto (Θ 10, 1051 b 24). Ma le cose semplici o «non composte» indicano «τὰ τί ἐστι» (1027 b 28, cfr. 1051 b 26), e a loro riguardo non è possibile cadere in errore. La conoscenza del motore immobile, quale «τί ἦν εἶναι τὸ πρῶτον» (Λ 8, 1074 a 35-36), dovrebbe appunto costituire il caso paradigmatico di un «venire in contatto» — scevro da errore — con una sostanza incomposta attualmente esistente (1051 b 27-28). In corrispondenza del rango ontologico dell'oggetto, anche il grado di verità di questo «venire in contatto» non dovrebbe essere raggiunto da nient'altro. Certo, Aristotele non si esprime così a tal proposito. Al contrario, là dove discute la legge di contraddizione, pone l'accento sul fatto che abbiamo a che vedere con il «principio più sicuro di tutti», «intorno al quale è impossibile cadere in errore» (Γ 3, 1005 b 8-23). Ma se al primo impatto queste affermazioni possono suonare come un'implicita negazione di quanto si era stabilito, cioè dell'evidenza suprema e della «verità» proprie della conoscenza del motore immobile, occorre ricordare che, per Aristotele, l'esistenza della sostanza immobile e la validità della legge di contraddizione sono strettissimamente connesse (cfr. 1009 a 36-38, 1010 a 32-35, 1012 b 29-31).18

17 Cfr. il mio contributo: Alpha elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik, in: P. Moraux — J. Wiesner (Hrsg.), Zweifelhaftes im Corpus aristotelicum. Studien zu einigen Dubia, pp. 221-259, spec. 237-239. E. Berti ha conseguito lo stesso risultato nel suo contributo: La fonction de Métaph. Alpha elatton dans la philosophie d'Aristote, nella stessa miscellanea, pp. 260-294, spec. 277-279. 18 J. H. Königshausen (Parallelen zwischen Platons «Sophistes» und Aristoteles «Met.» Γ?, «Perspektiven der Philosophie» 18, 1992, pp. 21-42, spec. 35-37 e n. 6; cfr. Ursprung und Thema von erster Wissenschaft. Die aristotelische Entwicklung des Problems, Amsterdam 1989, passim) pone giustamente l'accento sul fatto che fissare la legge di contraddizione come principio dimostrativo (ἀποδεικτικὴ ἀρχή, cfr. 996 b 26), che nel modo più generale permette di pensare e parlare con sensatezza, si colloca su un livello problematico diverso e sistematicamente sovraordinato rispetto all'indicare la sostanza immobile come «principio» teologico-cosmologico.

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7. La superiorità della «οὐσία» La filosofia prima, finisce col provvedere, in un certo qual modo, anche alla trattazione dei principi dimostrativi (ἀποδεικτικαὶ ἀρχαί): per via della loro validità universale, non possono essere assegnati a nessuna delle discipline scientifiche particolari (Γ 3, 1005 a 22 ss.). Lo stesso vale anche a proposito dei più alti concetti dialettici dell'Accademia: chi, se non «il filosofo», dovrebbe trattare di essi (Γ 2, 1004 a 31 — b 4)? Ciò nonostante, la scienza filosofica fondamentale, in se stessa, non è definita né come scienza degli assiomi, né come scienza dei concetti ontologici (o dialettici) fondamentali, bensì come scienza della prima «οὐσία».19 Certo — a quanto sembra — nella concezione aristotelica della «οὐσία» si mostra chiarissimamente la spaccattura rispetto alla metafisica platonica. La «οὐσία» come «τόδε τι» viene ripetutamente20 distinta dall'Idea platonica, che, in quanto «καθόλου», non ha nessun diritto al titolo di «οὐσία». Peraltro, anche qui, l'accentuazione polemica della differenza a livello di soluzione conclusiva nasconde l'affinità immanente al modo di porre i problemi, su cui si fonda la soluzione. Prima di tutto, va tenuto fermo che procedere a partire dalla sostanza sensibile — cosa che sembra diametralmente contraria all'impostazione platonica — non vuol essere un'opzione ontologica, ma ha un significato primariamente metodologico: in primo luogo, procedendo così, è possibile riallaciarsi a ciò su cui tutti sono d'accordo — ossia ad un «ἔνδοξον» —; in secondo luogo, è opportuno iniziare con ciò che si ha, vale a dire con la conoscenza di ciò che in sè è mal conoscibile, ma per noi noto prima di tutto il resto (Z 3, 1029 a 33 — b 12). L'ontologia della sostanza sensibile contenuta nel libro Z — che oggi rappresenta, per i filosofi di una certa linea di pensiero, la parte della Metafisica più significativa, oppure l'unica che meriti una discussione — per Aristotele era solo una ricerca preparatoria, intrapresa in vista di un'ontologia della sostanza non sensibile (Z 11, 1037 a 10-17 e Z 17, 1041 a 7-9). Questo tentativo mira ad includere la presentazione e la precisa determina-

19 E' guadagno di A. Mansion (Philosophie première, philosophie seconde et métaphisique chez Aristote, «Revue philosophique de Louvain», 56, 1958, pp. 165-221; tradotto in tedesco in: F. P. Hager (Hrsg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969 [= «Wege der Forschung», Bd. 206], pp. 299-366) l'aver indicato che in ogni luogo dove compare il termine «πρώτη φιλοσοφία» il contesto richiama alla conoscenza della «πρώτη οὐσία» (intesa nel senso di sostanza divina). 20 Nella maniera più chiara in Z 13-14.

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zione ontologica della sostanza non sensibile21 — un programma che, a prescindere dalla sua formulazione particolare, sarebbe pienamente adatto a descrivere anche ciò che sta a cuore a Platone. Al punto di partenza aristotelico, sul piano delle cose sensibili, corrisponderebbe quindi la parte della dialettica platonica che era concepita come riduzione o come «via verso i principi»; ovviamente, alla riduzione era poi coordinata la deduzione, cioè la «via a partire dai principi».22 Può ben darsi che, su questa «via», l'entità intellegibile suprema venga definita, da parte dei due filosofi, in maniere anche del tutto diverse — e in effetti, il motore immobile sembra avere ben poco in comune con l'Idea del Bene. Tuttavia, si è fatto giustamente presente23 che la superiorità della «οὐσία» rispetto a tutti gli altri «ὄντα», e la superiorità della «οὐσία» divina rispetto a tutte le altre «οὐσίαι», sono concepite secondo la matrice di pensiero platonica: entro una serie di cose che hanno lo stesso nome, una di esse viene distinta come «prima», perché realizza nella maniera più autentica il senso della denotazione comune; e questo «primo» paradigmatico non è sovraordinato solo da un punto di vista semantico, ma, non di meno, anche da un punto di vista ontologico, quale fondamento dell'essere delle cose subordinate che portano il suo stesso nome. Così come l'Idea costituisce il soggetto primario di un predicato, oppure ciò che è in sé il contenuto di questo predicato (le cose singole, invece, possiedono il medesimo predicato solo secondariamente, per partecipazione all'Idea), allo stesso modo il senso dell'«essere» è leggibile in ultima istanza solo nell' «οὐσία», e trova corpo nel modo più puro nell'immobile «οὐσία» divina, che in un senso ben preciso — anche se essenzialmente diverso da quello dell'Idea del Bene — è «principio di tutto»: l'immobile «οὐσία» divina è «ciò che tutto muove come causa prima di tutto», e ciò «da cui dipendono il cielo e la natura».24 Ora, svolgere ricerche su questa natura è, per Aristotele, ugualmente scienza e filosofia, e persino «sapienza». Si considerino, insieme, la prima formulazione della terza aporia e la sua risposta: si riceve l'impressione che

21 «Poiché la nostra ricerca riguarda il problema se oltre le sostanze sensibili esista o no una sostanza immobile ed eterna, e, nell'ipotesi che esista, quale ne sia la natura…» (M 1, 1076 a 10-12. Cfr. ad es. B 1, 995 b 13-18, insieme a B 2, 997 a 34 — 998 a 19; Z 2, 1028 b 30-31; Z 11, 1037 a 10 17, e altrove). 22 Arist. Eth. Nic. I 4, 1095 a 30 — b 3 = Testimonium platonicum 10 Gaiser. Cfr. anche le brevi note a questo testimonium in K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, cit., p. 454 s. 23 D. Devereux, The Primacy of ΟΥΣΙΑ: Aristotle's Debt to Plato, in: D. J. O'Meara (ed.), Platonic Investigations, Washington 1985, pp. 219-246. 24 Λ 4, 1070 b 34-35 e Λ 7, 1072 b 14.

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Aristotele voglia riservare il nome di «sapienza» alle discipline che si rivolgono alle sostanze esistenti per sé. Come Aristotele assicura in G 3, 1005 b 1-2, anche la «fisica» è sapienza, evidentemente quale risposta al problema se sia possibile — posto che vi siano molte scienze della sostanza — applicare a tutte il carattere denotativo di «σοφία» (B 1, 995 b 10-13). Ma poco prima (1004 a 2-6), era stato già chiaramente stabilito che vi sono molte «parti della filosofia» o «scienze», e che il loro numero si regola sul numero delle specie delle sostanze (che in questo passo sono dette «οὐσίαι» o «γένη» dello «ὄν» ).25 Non sembra che, in questo contesto, si pensi alla matematica, i cui oggetti non possiedono il rango ontologico di sostanze esistenti per sé. La matematica può essere chiamata una «filosofia teoretica» (E 1, 1026 a 18-19), ma non — a quanto risulta — una «sapienza» (σοφία). La fisica ha diritto a questo titolo insigne, ma non come disciplina prima (1005 b 2). Dato che il suo oggetto riveste, da un punto di vista ontologico, il secondo rango (E 1, 1026 a 13-19; L 1, 1069 a 30 — b 2; 6, 1071 b 3-4), essa rimane «filosofia seconda» (Z 11, 1037 a 15: «δευτέρα φιλοσοφία»). Ora, questa concezione è, allo stesso tempo, in buona misura platonica e decisamente antiplatonica. La determinazione del rango di una scienza in rapporto al rango ontologico del suo oggetto (cfr. De anima I 1, 402 a 1-3;Met. E 1, 1026 a 21-22, e altrove) è all'unisono con il pensiero di fondo della dottrina delle Idee. Rivestire di un nome particolare lo studio del tipo ontologicamente eccellente di essere, oppure lo studio del vero essere, e sovraordinarlo a quello della matematica, corrisponde anche alle intenzioni di Platone, sebbene Platone evitasse di dare alla forma più alta di sapere il nome di «σοφία», e parlasse, anziché di «σοφία», di «νοῦς» e di «νόησις» (Repubblica 511 C-D, 534 A; Tim. 37 C). Che, per contro, il mondo visibile, soggetto a divenire, debba avere un rango più alto rispetto ai «μαθηματικά», alieni da mutamento, e che occuparsi di esso debba chiamarsi «scienza» («ἐπιστήμη»), anziché — ad esempio — «εἰκὼς λόγος», mostra la direzione d'urto antiplatonica di una nuova ontologia, che non misura più la perseità e la priorità di un essere sulla priorità concettuale: «non tutto ciò che ha anteriorità nell'ordine della nozione ha anche anteriorità nell'ordine della sostanza» (M 2, 1077 b 1-2: «οὐ πάντα ὅσα τῷ λόγῳ πρότερα καὶ τῇ οὐσία πρότερα»).

25 Cfr. anche 1005 a 34: «ἓν γάρ τι γένος τοῦ ὄντος ἡ φύσις».

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10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele

8. La felicità della conoscenza suprema La svalutazione ontologica degli oggetti della matematica, e quindi, indirettamente, anche di questa stessa scienza, così come la determinazione del principio supremo come principio di movimento del cosmo, permettono a fisica e metafisica di accostarsi l'una all'altra di più di quanto non fosse possibile entro la concezione platonica della struttura della scienza, qual'è delineata nel VII libro della Repubblica. Per Aristotele, nella scienza della natura, il piacere (ἡδονή) di ricercare si dà in misura così grande, che quasi si è tentati di credere che, per lui, dedicarsi interamente a tale ricerca non sarebbe stata una scelta impossibile. Nel primo libro del De partibus animalium, Aristotele valuta i pregi della scienza della sostanza indiveniente e immutabile, opponendola alla scienza delle sostanze divenienti e mutevoli. Quest'ultima scienza permette di conoscere più precisamente un numero molto maggiore di cose: basta avere voglia di lavorare, perché non manchino i risultati. Inoltre, gli oggetti di questa scienza sono più affini alla nostra propria natura. A chi è «filosofo per natura» e ha la capacità di conoscere le cause, la natura riserva gioie indescrivibili (De part. an. I 5, 644 b 25-32, 645 a 1-10). Il confronto, che qui inerisce le due specie della sostanza sensibile — cioè i corpi celesti eterni e le cose sublunari soggette a mutamento — potrebbe essere analogamente istituito anche fra la scienza delle entità immobili non sensibili e la «fisica» nel suo complesso (quale scienza del supra– e del sub– lunare). Il detto di Eraclito, che Aristotele cita a raccomandazione dello studio delle specie viventi di rango inferiore («τῶν ἀτιμοτέρων ζῴων ἐπίσκεψις»), e cioè che «anche qui ci sono dei» (ibid. 645 a 21), vale per tutto quello che «dipende» dal principio divino (cfr. Λ 7, 1072 b 14). Peraltro, Aristotele non dimentica le proprie radici platoniche neppure qui, ossia nel luogo in cui fa professione del suo nuovo tipo di ricerca scientifico-naturale. Il pensiero di fondo platonico che abbiamo ricordato, secondo cui il rango dell'oggetto determina il rango del sapere che vi si rivolge, percorre l'intero passo, ove salta all'occhio l'uso frequente, in senso platonico, del termine «τίμιον» e dei suoi derivati.26 Quel poco che ci è concesso di conoscere della «filosofia diretta al divino» (645 a 4) procura più gioia — per via del rango di questo sapere — rispetto a tutto ciò che si trova nel nostro ambito del cosmo (644 b 33: «ἤδιον ἢ τὰ παρ᾽ ἡμῖν

26 Sul senso platonico di τίμιον, cfr. Szlezák, Come leggere Platone, Milano 19922, pp. 80-84.

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10. La prosecuzione di spunti platonici nella Metafisica di Aristotele

ἅπαντα»). E' come se si vedesse una parte di ciò che si ama (ibid.); e noi, per avere una simile conoscenza, «ci struggiamo» (b 27: «ποθοῦμεν»). Il linguaggio «erotico» mostra come l'anelito scientifico di Aristotele sia pervaso dello spirito del suo maestro. Anche nella Metafisica si incontra un linguaggio erotico: il motore immobile «muove come oggetto d'amore» (Λ 7, 1072 b 3: «κινεῖ ὡς ἐρώμενον»). Quale principio da cui tutto dipende e che tutto pone in movimento, quale principio che rappresenta il culmine della serie positiva degli opposti (systoichia), e quindi il fine ultimo, suscita anche l'amore più alto. Ma questo amore di conoscere non è nient'altro se non la natura dell'uomo: l'introduzione alla Metafisca (A 1-2) comincia con il desiderio naturale di conoscere proprio dell'uomo, e lo porta senza salti alla conoscenza suprema, che è «divina» in duplice senso. Questa conoscenza non è più «umana» (A 2, 982 b 28-29) e, purtuttavia, appartiene alla natura umana: l'uomo, per Aristotele, è l'essenza che si trascende verso il Principio. Poiché in questo anelito la sua parte più divina, che allo stesso tempo è il suo più autentico sé, incontra l'attività che gli è più propria (Eth. Nic. X 7; 1077 a 16 s.; 1078 a 1-8), egli trova solo qui, in misura piena, l'anelato «piacere», o l'anelata «gioia», che già accompagnano anche le forme inferiori di conoscenza (cfr. A 1, 980 a 22-27). Si potrebbe dire, insieme a Diotima, nel Simposio : «E' questo il momento nella vita che più di ogni altro è degno di essere vissuto da un uomo» (211 D 1-2). Questa forma di inserimento dell'anelito conoscitivo in un nesso vitale — si potrebbe certo dire anche al contrario: questa forma di inserimento della vita nell'ordine metafisico della conoscenza — mostra forse nel modo più efficace come Aristotele, con diversa concettualità e con una visione ontologica di fondo altrimenti orientata, tuttavia conservi la concezione di filosofia del suo maestro, ed esorti, di conseguenza, a tendere verso il medesimo scopo.

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11. Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte (1998)

Die frühe Dichtung der Griechen war immer auch ein Reden von den Göttern, θεολογία im frühesten bezeugten Wortsinn.1 Die ersten Philosophen knüpften an die Denkformen, manchmal auch an die Darstellungsformen solcher θεολογία an,2 wollten die in ihr enthaltene Weltdeutung korrigieren und schließlich ersetzen. Wie eng und gleichzeitig wie gespannt das Verhältnis von Dichtung und Philosophie vom 6. bis noch ins 4. Jh. v. Chr. war, zeigt die Kritik an Homer und Hesiod von Xenophanes über Herakleitos bis Platon,3 oder auch die Erwägung des Aristoteles, die philosophische Spekulation statt bei Thales bei den θεόλογοι beginnen zu lassen, von denen er indes nicht viel hält.4 „Alles ist voll von Göttern“ – dieser Satz, der Thales zugeschrieben wurde,5 trifft nicht nur auf die archaisch verstandene Welt selbst zu, sondern auch auf ihre Spiegelung in der frühen Dichtung. Von den Dichtern wird der Mensch als in allen Dingen abhängig von der Gottheit gezeigt. Das Ge-

1 Platon, Politeia 379 a5: οἱ τύποι περὶ θεολογίας (das Wort nur hier bei Platon; bei Aristoteles ebenfalls nur einmal, im Plural: οἱ διατρίβοντες περὶ τὰς θεολογίας, Meteor. 353 a35; nächster Beleg bei Philodemos, Piet. 72; im Neuplatonismus öfter). 2 Zur engen Beziehung etwa des parmenideischen Lehrgedichts zur Theogonie des Hesiodos vgl. Walter Burkert: Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras. In: Phronesis 14 (1969), 1–30, bes. 8–16. 3 Xenophanes DK 21 B 11 (mit B 12–16, 23–26), Herakleitos DK 22 B 42, 57, Platon, Politeia 377 dff., 598 dff. Zur Kontinuität der Kritik an der Dichtung (vgl. Politeia 607 b5 παλαιά τις διαφορὰ φιλοσοφίᾳ τε καὶ ποιητικῇ) vgl. Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart 1977, 456ff.; Giovanni Cerri: Platone sociologo della comunicazione, Milano 1991, 39–52. 4 Ar. Met. 983 b27–984 a3: nachdem Thales zuvor (983 b20) als Archeget der vorsokratischen Arche-Spekulation genannt war, erwähnt Aristoteles die Ansicht, schon die πρῶτοι θεολογήσαντες (983 b28f.) hätten sich für das Wasser als Ursprung ausgesprochen; ob das wirklich als alte naturphilosophische Anschauung zu werten ist, läßt Aristoteles hierbei offen. Mit unverhohlener Geringschätzung erwähnt er Met. 1000 a 9–19 „Hesiodos und alle θεολόγοι“, welche die Götter als ἀρχαί ansetzten, aber nicht erklären konnten, worauf ihre Unsterblichkeit beruht. Als unzureichende Erklärung des Ursprungs und der Ordnung der Welt wird die Ansicht der θεολόγοι noch erwähnt Met. 1071 b27, 1075 b26 und 1091 a34–b8. 5 Aristoteles, De anima 411 a8 = Thales DK 11 A 22.

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11. Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips

fühl der Passivität, das daraus resultiert, ist vor allem durch ein Mittel in den Griff zu bekommen: die Götter sind gnädig zu stimmen durch Gebet und Opfer. Das Opfer ist der wichtigste, weil aktive und Effekte zeitigende Bezug zum Göttlichen. Der Mensch gewinnt die Initiative zurück, indem er, der sich faktisch abhängig weiß, auch bewußt unterordnet: durch das rituelle Tun erkennt er die höhere τιμή der Götter an und erzwingt als Gegenleistung die Abwendung von Schaden.6 Die Ehrenbezeigung durch das Opfer ist unerläßlich, die schlimmen Folgen der Unterlassung werden im Mythos immer wieder in Erinnerung gerufen. Eine Welt ohne Opfer wäre eine heillose, sinnentleerte Welt. Unter dem Gesichtspunkt der τιμή betrachtet, ist das Bild von den Göttern, wie sie zu einander und zu den Menschen stehen, für die archaische Zeit klar und einfach. Kronos hatte einst die βασιληίδα τιμήν, die Ehrenund Machtstellung des Königs (Hesiodos, Theogonie 462), Zeus gelang es, ihn daraus zu vertreiben, τιμῆς ἐξελάαν (Theog. 491). So ist Zeus der Größte und hat die größte Macht und Ehrenstellung, μέγιστός τ᾽ ἐστί, μέγιστης τ ´ ἔμμορε τιμῆς (Hymn. Aphr. 37). Er kann nun an dem, worüber er letztlich allein verfügt, andere teilhaben lassen: τιμὴ δ᾽ ἐκ Διός ἐστι, das ist in der Ilias von Königswürde und Königsamt bei den Menschen gesagt (B 197, vgl. P 251), gilt aber zuvor noch von der Zuteilung der Funktionen und Machtbereiche bei den Göttern selbst. Die von Zeus festgesetzte Ordnung ist eine gelungene: εὐ δὲ ἕκαστα ἀθανάτοις διέταξε νόμους καὶ ἐπέφραδε τιμάς, heißt es vorweg zusammenfassend im Prooimion der Theogonie (74), und ganz ähnlich abschließend am Ende des Titanenkampfes (885). Zuteilung von bestimmten τιμαί, d. h. Privilegien und Machtbereichen, an einzelne Götter durch den Göttervater spielen sowohl in der Theogonie7 eine wichtige Rolle als auch in den Hymnen.8 Durch dieses Ordnungswerk des Zeus sind die Götter insgesamt diejenigen geworden, deren Tüchtigkeit, Ehre und Kraft die größere ist: τῶν περ καὶ μείζων ἀρετὴ τιμή τε βίη τε (Ilias, 1.498). ‚Größer‘ natürlich im Vergleich mit dem schwächeren Menschengeschlecht. Die Menschen müssen die Götter durch Abgaben anerkennen. Das silberne Geschlecht wollte den Olympiern nicht opfern, so ließ Zeus es verschwinden, οὕνεκα τιμὰς οὐκ ἔδιδον μακάρεσσι θεοῖς (Erga 138f.). Hier sind die τιμαί konkret die darzubringenden Opfer.

6 Zum Prinzip des do ut des in der Religion vgl. Walter Burkert: Creation of the Sacred. Tracks of Biology in Early Religions. Cambridge, Mass./London 1996, 129– 155: The Reciprocity of Giving. 7 Theog. 203: Aphrodite, 412ff.: Hekate, 904: Moiren. 8 Hermes-Hymnos 516: Hermes, Demeter-Hymnos 366: Persophone, Demeter-Hymnos 327f., 461f.: Demeter.

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Unzweifelhaft würde es auch dem jetzigen Geschlecht so ergehen, wollte es Gleiches wagen. Es gab aber noch eine andere Gefährdung der Opfer: Demeter war dabei, die Menschen durch Entzug der Feldfrüchte zu vernichten, dadurch zugleich καταφθινύτουσα δὲ τιμάς ἀθανάτων (Hymn. Dem. 353). Hätte Zeus nicht eingegriffen, sie hätte den Olympiern die γεράων τ᾽ ἐρικυδέα τιμὴν καὶ θυσιῶν (311f.) genommen. Dies nennt Hermes zu Recht ein μέγα ἔργον (351). Die Götter, die leicht lebenden und autarken, scheinen doch auf die Gaben der von ihnen Abhängigen angewiesen zu sein. Das ist im Mythos des Aristophanes in Platons Symposion klar vorausgesetzt (190 c4–5) und in Aristophanes’ Vögeln ein unverzichtbares Element für die Konstruktion der Handlung. Den altorientalischen Ursprung dieser Vorstellung im Atrahasis-Epos hat neuerdings Chr. Auffahrt behandelt.9 Zusammenfassend können wir sagen: Ehre ist durch Kampf gewonnen; der Größte besitzt die größte Ehre, weil er dank seiner ἀρετή Sieger im Kampf ist. Die Ehre, die er eigentlich allein besitzt, kann er gestuft weitergeben. τιμή ist von der Wurzel her agonal verstanden, stets einbezogen in Auseinandersetzung und Vergleich im Rahmen personaler Beziehungen. Der entscheidende Vergleich ist der zwischen der Schwäche der Menschen und der Macht der Götter. Dennoch wollen die Höheren nicht nur die Anerkennung durch die Niedrigeren, sie brauchen sie auch. τιμή hat Teil an der Reziprozität archaischer ethischer Begriffe (wie χάρις oder αἰδώς): der Abhängige erkennt den Rang des Höheren an, dieser respektiert ihn als den, der allein ihm die τιμή, die ihm gebührt, auch erweisen kann. Wenn aber für die spätere Zeit die Gottheit, wie die Philosophen sie verstehen lehren, nicht mehr beeinflußbar ist – sie ist (wie bei Platon) ethisch rigoroser gefaßt, läßt sich den Groll über die Missetat nicht mehr durch Opfer abkaufen, und ist überhaupt ihrem Wesen nach unwandelbar und keiner Manipulation zugänglich, oder sie ist (wie bei Aristoteles und Epikuros) als glückseliges Wesen jenseits unseres Kosmos der Menschenwelt zu weit entrückt, um sich ihr zuwenden zu wollen oder zu können – so müßte das recht eigentlich das Ende des Kultes bedeuten. Aber bekanntlich hat sich nicht nur die religiöse Praxis um diese theoretische Konsequenz aus den Konzeptionen der Philosophen nicht gekümmert; die Philosophen selbst zogen mehrheitlich diese Konsequenz nicht, sondern ent-

9 Christoph Auffahrt: Der Opferstreik: Ein altorientalisches „Motiv“ bei Aristophanes und im homerischen Hymnus. In: Grazer Beiträge 20 (1994), 59–86, bes. 76– 83.

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schieden sich (mit der bemerkenswerten Ausnahme des Empedokles) für eine ausgesprochen konservative Haltung zur tradierten Religion.10 Das mag schwer nachvollziehbar sein für eine Zeit, die sich an den Gedanken gewöhnt hat, Veränderungen im Bereich der politisch-sozialen Ordnung wie in dem des öffentlichen Bewußtseins und der durchschnittlichen Mentalität seien durch Vordenker zu planen und aktiv herbeizuführen.11 Denken wir aber an die archaische Konzeption der Beziehung von Menschen und Göttern, so bietet sich vielleicht ein Anhaltspunkt, von dem aus sich der seltsame Mangel an revolutionärem Elan bei den griechischen Philosophen mit erklären ließe.12 Der Kern dieser Konzeption war, daß der Mensch die Götter ehren muß, ihre τιμή nicht verletzen darf.13 Die Philosophie hat die τιμή, die eine Beziehung zwischen dem Ehrenden und dem Geehrten ist, abstrakter gefaßt und umgeformt zum τίμιον, einer Eigenschaft, die sich allein vom Wesen des Ranghohen her bestimmt. Damit ist die erwähnte Reziprozität aufgegeben. Das Höhere braucht das Niedrigere nicht mehr. Das erlaubt es, das Göttliche weiterhin als das Ranghöchste oder τιμιώτατον zu denken, ohne daß dieser Rang unmittelbar eine Forderung an das Verhalten des Einzelnen implizieren würde. Das Höchste wirkt als letzte Ursache gestuft in alle Bereiche hinein, und kann demnach auf den verschiedenen Stufen verschieden erfaßt werden. Ob man das Göttliche seiner Geistnatur gemäß geistig erfaßt im θεωρεῖν, oder es in abgeleiteten, von alters her tradierten bildhaften Vorstellungen findet, die nicht ein θεωρεῖν, sondern ein πράττειν – eben den Kult – verlangen, ist dann lediglich eine Frage des Niveaus, zu dem sich der Einzelne in seiner Reaktion auf das τίμιον erheben kann. Zu ändern ist jedenfalls we-

10 Vgl. das Schlußkapitel „Philosophische Religion“ bei Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 452–495 (zu Empedokles 450, 469f.). 11 Auf das hierbei entstehende neuartige Problem der Ethikfolgenabschätzung macht mit Nachdruck aufmerksam Herbert Keuth: Sozialwissenschaften, Werturteile und Verantwortung. In: Mensch und Gesellschaft aus der Sicht des kritischen Rationalismus. Hg. v. Hans Albert u. Kurt Salamun. Amsterdam/Atlanta, GA 1993 (= Schriftenreihe zur Philosophie Karl R. Poppers und des kritischen Rationalismus, Bd. 4), 271–287. 12 „mit erklären“ – es mag dafür auch pragmatische Gründe gegeben haben, denen hier nicht nachgespürt werden soll. Aber auch die inhaltliche Erklärung, wie sie hier versucht wird, erhebt nicht den Anspruch, alles Relevante erfaßt zu haben. 13 „Diese Götter sind vor allem auf ihre ‚Ehre‘ bedacht, ..., sie insistieren auf ihrem Vorrang“ (Walter Burkert: ‚Vergeltung‘ zwischen Ethologie und Ethik. München 1994 (= Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Reihe „Themen“, Bd. 55), 34; vgl. auch ebd. 32: „... wie selbstverständlich in der Antike und anderwärts die Ehre des Gottes darin besteht, daß ‚für den Gott‘ getötet wird, im blutigen Opfer.“).

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gen des reineren, vergeistigten Gottesbegriffs nichts – oder man müßte schon die Menschen selbst ändern (worüber sich die Alten weniger Illusionen hingaben als die Neuzeit, seit sie sich aufgeklärt nennt). Beginnen wir mit Aristoteles: bei ihm ist die Loslösung des Göttlichen aus dem Bezug zum Menschlichen besonders deutlich. In der Nikomachischen Ethik lesen wir, es gebe keine ἀρετή eines Gottes (EN VII 1, 1145 a26). Das könnte zunächst klingen wie eine Korrektur des schon zitierten homerischen Verses über die Götter τῶν περ καὶ μείζων ἀρετή, ist aber nicht so gemeint, vielmehr versucht Aristoteles auf den Spuren Homers – er zitiert Priamos’ hyperbolische Worte über die Arete seines Sohnes Hektor aus dem letzten Buch der Ilias (Ω 258f.) – die Vorzüglichkeit des Gottes von der menschlichen abzuheben: sie ist für ihn τιμιώτερον ἀρετῆς (ebd.), von höherem Rang als die menschliche sittliche Trefflichkeit. Dieser höhere Rang, der das Wort ἀρετή (anders als bei Homer) als nicht mehr angemessen erscheinen läßt, hebt die Götter auch über menschliches Lob hinaus. Es hat für Aristoteles etwas Komisches, wenn im Lob der Götter diese in Beziehung zu uns gesetzt werden (γελοῖοι γὰρ φαίνονται πρὸς ἡμᾶς ἀναφερόμενοι, EN I 12, 1101 b19). Jedes Loben impliziert solch ein In-Beziehung-Setzen. Für die besten Dinge bzw. die vollkommensten Wesen gibt es kein Lob (τῶν ἀρίστων οὐκ ἔστιν ἔπαινος, b22). Auch hier will Aristoteles gewiß nicht etwa die homerischen Hymnen, die die Götter preisen, abschaffen, sondern den Rang des Besten bzw. der Besten verdeutlichen: was ihnen zukommmt, ist nicht Lob, ἀλλὰ μεῖζόν τι καὶ βέλτιον (b22–23), nämlich das μακαρίζειν. Welche Konzeption von Würde, Ehre, Rang liegt hier zugrunde, wenn Aristoteles die Götter von Lob und Arete abtrennen will? Betrachten wir zunächst die gesellschaftliche und politische Ehre, die das Ziel des πολιτικὸς βίος ist (EN I 3, 1095 b23). In der Rhetorik definiert Aristoteles die τιμή als „Zeichen des Ansehens des Wohltäters“ (οημεῖον εὐεργετικῆς εὐδοξίας, 1361 a28); geehrt werden vor allem Wohltäter (im weitesten Sinn) und solche, die es werden können (b28–30). Die Asymmetrie des Verhältnisses, die Aristoteles hier nicht weiter erläutert,14 liegt in der Natur der Sache und wird aus den beigegebenen Beispielen (1361 a30ff.) deutlich. Die Definition als σημεῖον εὐεργετικῆς εὐδοξίας faßt die Ehre ganz von der Seite der Ehrenden in den Blick. Die Bestimmung ihrer gesellschaftlichen Funktion in der Nikomachischen Ethik als „Preis der sittlichen Trefflichkeit“ hingegen berücksichtigt die Auszeichnung und den

14 Vgl. jedoch die Erörterung EN IX 7, 1167 b17ff., warum der Wohltäter für den Empfänger der Wohltat mehr Freundschaft empfindet als umgekehrt.

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Ausgzeichneten gleichermaßen: τῆς ἀρετῆς ἆθλον ἡ τιμή, καὶ ἀπονέμεται τοῖς ἀγαθοῖς (EN IV 7, 1123 b35). Auch hier ist das Gefälle zwischen denen, die Ehre zuteilen, und denen, die sie empfangen, evident: es können nicht alle gleichermaßen ajgaqoiv sein. Mögen die Menschen faktisch auch vornehme Abkunft, Macht und Reichtum ehren, so gilt doch: κατ᾽ ἀλήθειαν ὁ ἀγαθὸς μόνος τιμητός (EN IV 8, 1124 a20–25). Wenn die τιμή in einem so eindeutigen Verhältnis zur ἀρετή steht, warum genügt sie dann nicht als das in der Ethik gesuchte eigentliche Ziel des Menschen? Sie ist zu äußerlich oder ‚oberflächlich‘ (ἐπιπολαιότερον), hängt sie doch mehr von denen ab, die sie geben, als von dem, der sie empfängt; sie ist also nichts Eigenes und Beständiges, schwer zu Verlierendes (1095 b23–26). Ferner wird sie selbst von denen, die sie erstreben, der Arete untergeordnet, wollen sie doch auf Grund ihrer Arete geehrt werden (b26– 30). Die gesellschaftlich-politische Ehre ist also der symbolhafte Ausdruck des Verhältnisses zwischen Ungleichen, wobei der Geehrte der objektiv Überlegene und Ranghöhere ist, die Vergabe der Ehre aber bei den Geringeren liegt. Dies macht die Ehre zu etwas dem Trefflichen Äußerlichen. Sie bleibt ein hohes Gut, aber doch nur das größte der äußerlichen Güter (μέγιστον ... τῶν ἐκτὸς ἀγαθῶν, EN 1123 b20). Wenn schon der ἀγαθός in seinem Wesen nicht über die τιμή erfaßt werden kann, um wieviel weniger dann der Gott, für den die Ehre, die wir ihm zollen (1123 b18), noch weit unwesentlicher und äußerlicher sein muß. Die Arete hingegen gehört unzweifelhaft in die höchste Güterklasse, zu den Gütern der Seele (vgl. EN I 8, 1098 b12–15). Doch unter den ἀγαθά der Seele ist sie nicht das höchste. Dreifach sind die ἀγαθά unterteilt: sie sind potentiell gut (bloße δυνάμεις) oder lobenswert (ἐπαινετά), oder τίμια. In dieser Einteilung, die in den Magna Moralia (1183 b20–21) explizit getroffen, in der Nikomachischen Ethik klar vorausgesetzt wird, fallen die Tugenden unter die lobenswerten Dinge (ὁ μὲν γὰρ ἔπαινος τῆς ἀρετῆς, 1101 b31; τὰ δ᾽ ἐπαινετά, οἷον ἀρεταί, 1183 b27). Ihre Wertschätzung resultiert aus ihrem Bezogensein (πρός τί πως ἔχειν, 1101 b13) auf anderes, hier die Handlungen, die wir durch sie zu vollbringen imstande sind – eben dieser Zug war aber, wie wir sahen, der Anlaß, die Begriffe Lob und Tugend von den Göttern fernzuhalten. ‚Lobenswerte Grundhaltung‘ ist nachgerade eine Definition von Arete (τῶν ἕξεων δὲ τὰς ἐπαινετὰς ἀρετὰς λέγομεν, 1103 a9–10). Über den lobenswerten Dingen stehen τὰ τίμια καὶ τέλεια (1102 a1), um derentwillen alles andere unternommen wird. Niemand lobt Dinge dieser Art, denn dergleichen ist κρεῖττον τῶν ἐπαινετῶν. Das hatte Eudoxos gut verstanden, der die Tatsache, daß die Hedone nicht gelobt wird, als Indiz

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für ihren Rang als das Gute schlechthin wertete (1101 b27–31). Die Bezogenheit der ἀρετή auf ein von ihr verschiedenes höchstes Ziel formulierte auch Epikuros in seiner Schrift Περὶ τέλους: τιμητέον τὸ καλὸν καὶ τὰς ἀρετὰς ... ἐὰν ἡδονὴν παρασκευάζῃ (fr. 22.4 Arrighetti). Sein später Anhänger Diogenes von Oinoanda spricht von der τῷ ὄντι τιμία χαρά (fr. i, III 8 Smith): wahrhaft τίμιον ist für alle diese Denker nur das Ziel, die Eudaimonie (die von Aristoteles inhaltlich als Tätigsein der Seele gemäß der vollendeten ἀρετή, von Eudoxos, Epikuros und Diogenes als ‚Lust‘ oder ‚Freude‘ ausgelegt wird); was auf diese bezogen ist, ist nur ἐπαινετόν bzw. nur bedingt τιμητέον. In den Magna Moralia freilich lesen wir, auch die Tugend sei ein τίμιον (οὐκοῦν καὶ ἡ ἀρετὴ τίμιον, 1183 b25). Fr. Dirlmeier in seinem Kommentar15 versuchte das zu rechtfertigen, wozu er freilich erst den Text ändern mußte; es bleibt die auch von ihm anerkannte Tatsache, daß die anderen beiden Ethiken die Arete nur als ἐπαινετόν kennen. Andernfalls spräche ja auch nichts dagegen, sie den Göttern zuzusprechen. So aber bleiben die Tugenden bezogen auf τὰ καλά, die wir durch sie zu tun vermögen, und auf das Glück als letztes Ziel. Das Höchste aber ist, wie in De motu animalium in anderem Zusammenhang formuliert wird, zu göttlich und zu ranghoch als daß es auf etwas bezogen sein könnte (θειότερον καὶ τιμιώτερον ἢ ὥστ᾽ εἶναι πρὸς ἕτερον, 700 b34–35). Oder – wieder im Bereich des menschlichen Handelns gesehen – das an sich Wertvolle ist das, was um seiner selbst willen gewählt wird, auch wenn nichts anderes daraus folgt (Top. 118 b25–26). Im übrigen finden sich τίμιον und seine komparativischen und superlativischen Formen immer wieder im Corpus Aristotelicum, um Rangunterschiede in einem bestimmten Bereich zu bezeichnen. τιμιώτερον und τιμιώτατον können in allen erdenklichen Zusammenhängen auftreten. So sind für Aristoteles die Kehle und die Luftröhre τιμιώτερα als die Speiseröhre (De part. an. 665 a22–26), Lebewesen mit größerer Körperwärme sind insgesamt τιμιώτερα als solche mit geringerer (De resp. 477 a16), die Formen von Seele bzw. die Seelenteile sind τιμιότητι unterschieden (De gen. an. 736 b31), oben ist τιμιώτερον als unten (De inc. an. 706 b13), Reichtum ist ein τίμιον im Staat (Pol. 1273 a39), ebenso Vornehmheit (1283 a36). Das Adjektiv charakterisiert aber auch das fünfte Element (De caelo I 2, 269 b16), die Wissenschaft und die Theorie (De part. an. 639 a2), den Nus (Met. Λ 9, 1074 b26, EN X 7, 1178 a1), die φύσις der μουσική (Pol. 1340 a1) und die vordere Seite des Körpers (De part. an. 658 a20–23).

15 2. Auflage Berlin 1966, 189.

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Wie soll man Ordnung bringen in diese unendliche Fülle des Wertvollen und Ranghohen? Aristoteles selbst schafft gerne Ordnung mittels der von ihm entdeckten Kategorien. So wie es das ἀγαθόν in allen Kategorien als ein je verschiedenes gibt – das versichert er mit Nachdruck gegen Platon, der ein einheitliches Gutes als Prinzip für alles, was ist, ansetzte (EN I 4, 1096 a23–34, vgl. EE I 8, 1217 b25–1218 a1) – so könnte man auch erwarten, die τίμια nach diesem Schema geordnet zu sehen; einen Ansatz dazu oder gar eine durchgeführte Aufzählung scheint es aber im Corpus nicht zu geben. Man könnte beginnen bei den Bewegungsrichtungen. Die Rotation des Himmels steht für Aristoteles fest – aber in welcher Richtung dreht er sich? Im Bereich des Ewigen kann nichts zufällig und beliebig sein; also muß die Rotation des Himmels in die ranghöhere Richtung, ἐπὶ τὸ τιμιώτερον, erfolgen, d. h. rechts herum, so lesen wir in De caelo (II 5, 288 a12). Doch Aristoteles weiß, daß dies eine bloße Meinung ist, kann er doch offenbar das Prinzip,16 das hinter der behaupteten Überlegenheit von rechts über links steht, nicht zur Evidenz bringen;17 so hofft er, daß eines Tages jemand τὰς ἀκριβεστέρας ἀνάγκας auffinden wird (287 b34f.). Eindeutig höherrangig (τιμιωτέρα) ist die Bewegung nach oben, denn der Ort oben ist göttlicher als der unten (θειότερος γὰρ ὁ τόπος ὁ ἄνω τοῦ κάτω, 288 a4–5). Der obere Bereich des Kosmos ist unvergänglich und unwandelbar. Was sich dort befindet, ist zwar nicht unkörperlich – wir können ja den Himmmel und seine Teile wahrnehmen – wohl aber frei von Materie, wenn unter Materie das zu verstehen ist, was bald in diese formende Substanz, bald in jene eingehen kann. Da die dortigen ewigen Substanzen ihr Substrat nicht ändern, können sie nicht aus den hier unten bekannten Elementen bestehen. Aristoteles erschließt für sie ein Analogon zu den hiesigen Stoffen, den Aither. Dessen natürliche Bewegung ist die Kreisbewegung, die eine vollkommene ist, und seine Natur ist von höherem Rang (τιμιωτέρα) als die der σώματα der sublunaren Welt (269 a18ff., b15–17). τίμια heißen ferner die Gestirne, die an diesem göttlichen oberen Ort kreisen (290 a32). Die Herkunft der wertenden Auszeichnung eines ranghöchsten Ortes im Kosmos, an dem sich das ranghöchste Element befinden muß, zeigt das Kapitel De caelo II 13, wo mitten im Bericht über die Pythagoreer auf gewisse andere Denker verwiesen wird, die gleichfalls

16 Vgl. 287 b 27f. ἀνάγκη γὰρ καὶ τοῦτο (sc. die Bewegungsrichtung) ἢ ἀρχὴν εἶναι ἢ εἶναι αὐτοῦ ἀρχήν. 17 Daß auch ‚rechts‘ und ‚links‘ nach dem Kriterium von ‚früher‘ und ‚später‘ gestuft sind, wird 288 a8 nur versichert.

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die Erde nicht in der Mitte als der τιμιωτέρα χώρα haben wollten (293 a27– b1).18 Dies läßt an Platons Atlantis-Mythos denken, wo Zeus die Götter versammelt εἰς τὴν τιμιωτάτην αὐτῶν οἴκησιν, die in der Mitte des gesamten Kosmos liegt (Kritias 121 c2–3). In diesem Kosmos nun, dessen oberem Teil Aristoteles den Vorrang zuteilt, gibt es Lebewesen vielfacher Art. Die wertmäßige Stufung der ζῷα als Teil der scala naturae gehört zu den Dingen, die von Aristoteles’ Naturauffassung mit am längsten Bestand hatten. In allen Lebewesen ist der Nus zugegen, καὶ τιμίοις καὶ ἀτιμοτέροις, so lesen wir in De anima – doch hier ist Anaxagoras zitiert, und Aristoteles widerspricht denn auch (404 b3–6). Keineswegs bei allen ist der Nus das Bestimmende, ja selbst bei den Menschen kommt er nicht allen gleichermaßen zu (De an. 404 b6). Ob eine Gattung τιμιώτερον oder ἀτιμότερον ist, hängt nach seiner Ansicht (bei der spontanen Entstehung) von der Art ab, wie die in ihr wirksame ἀρχὴ ἡ ψυχική aufgenommen wird (De gen. an. 762 a24–26). Nach Maßgabe ihrer Teilhabe am jeweiligen bestimmenden seelischen Prinzip sind selbst die Teile des Lebewesens ranghöher oder rangniedriger (De gen. an 744 b12). Daß das Feuer höheren Ranges ist als die Erde, ist der Grund dafür, daß ein Lebewesen um so höher auf der scala naturae steht, je mehr Wärme es in sich hat (De resp. 477 a16f.).19 Als τιμιώτατον ζῷον gilt im Protreptikos der Mensch (fr. 11 Ross = Iambl. Protr. p. 51.4 Pistelli). Dies ist freilich zu ergänzen durch die Feststellung in De anima, das Denkvermögen finde sich beim Menschen, καὶ εἴ τι τοιοῦτόν ἕτερον ἔστιν ἢ τιμιώτερον (414 b19), was man wohl mit Ross20 als Anspielung auf die Unbewegten Beweger lesen muß. Teile haben nicht nur die Körper der Lebewesen, auch deren Entelechie, die Seele, ist strukturiert, hat Seelenteile (auch wenn Aristoteles die Vorstellung von ‚Teilen‘ der Seele problematisiert und durch die von ‚Vermögen‘, δυνάμεις, ersetzen will: De an. III 9, 432 a22ff., vgl. auch NE I 13, 1102 a28–32). Das Ranggefälle dieser seelischen δυνάμεις ist das bestimmende Prinzip der scala naturae. διαφέρουσιν τιμιότητι αἱ ψυχαὶ καὶ ἀτιμίᾳ – mit diesen Worten in De gen. an. (736 b31) sind natürlich nicht ungleiche Einzelseelen gemeint, sondern die Formen von Seele vom θρεπτικόν über

18 Vgl. hierzu W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Nürnberg 1962, 306, Anm. 17 (= ders.: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Cambridge, Mass 1972, 327 n. 16). 19 Vgl. Heinz Happ: Hyle. Studien zum Aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York 1971, 768f. 20 Aristotle: De anima. Ed. with Introduction and Commentary by Sir D. Ross. Oxford 1961, 223.

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das αἰσθητικόν, ὀρεκτικόν und κινητικόν bis zum διανοητικόν, das – in diesem Zusammenhang jedenfalls – auch Nus heißt.21 Der Nus aber ist das, was auch nach der Nikomachischen Ethik τιμιότητι πάντων ὑπερέχει (1178 a1). Ein angeborenes Vermögen der Unterscheidung (eine δύναμις σύμφυτος κριτική, An. Po. II 19, 99 b35) gehört bereits zum αἰσθητικόν; alle Lebewesen haben Wahrnehmung. Auch für den Menschen ist sie der Ausgangspunkt aller Erkenntnis (99 b36–100 b5). Wozu sie selbst aber nicht ausreicht, ist das ἐπίστασθαι (An. Po. II 31), verstanden als Erkenntnis des Grundes und der Notwendigkeit einer Sache (An Po. I 2, 71 b9–12). Was notwendig ist, ist immer und überall so, es ist also allgemein, καθόλου (vgl. 87 b32f.). Das Allgemeine aber ist wertvoll, weil es die Ursache klarmacht (τὸ δὲ καθόλου τίμιον, ὅτι δηλοῖ τὸ αἴτιον, 88 a5). Die allgemeine Erklärung ist τιμιωτέρα nicht nur als die Wahrnehmung, die beim Einzelnen stehen bleibt, sondern auch als das intuitive Erfassen, die νόησις, jedenfalls bei Dingen, die eine Ursache außerhalb ihrer selbst haben (88 a5–8). Erst bei den ersten Prinzipien des Erkennens ist die νόησις bzw. der νοῦς die überlegene ἕξις (An. Po. II 19, bes. 100 b5–17). Die ἐπιστήμη als ἕξις ἀποδεικτική (EN VI 3, 1139 b31) manifestiert sich in vielen Disziplinen. Sogleich stellt sich die Rangfrage. τιμιωτέρα καἰ βελτίων ἡ πολιτικὴ τής ἰατρικής, sagt Aristoteles zu Beginn der Arete-Abhandlung in der Nikomachischen Ethik (EN I 13, 1102 a20–21), natürlich weil der Arzt es mit dem Körper, der nur ein Teil des Menschen (und nicht der ranghöchste) ist, zu tun hat, während der Politiker die Voraussetzungen für die εὐδαιμονία ἀνθρωπίνη (1102 a15) sicherzustellen hat. Mit spürbarer innerer Beteiligung verteidigt Aristoteles als Zoologe die Erforschung der rangniedrigeren Tiere (τὴν περὶ τῶν ἀτιμοτέρων ζῴων ἐπίσκεψιν, 645 a16) in dem berühmten Kapitel I 5 von De partibus animalium (644 b22–645 a23). Von den unvergänglichen Substanzen können wir leider nur wenig wissen, von den Lebewesen hier unten hingegen vieles, und das genau (644 b25–645 a1). Darin liegt eine Art Kompensation zugunsten der Zoologie im Vergleich mit der περὶ τὰ θεῖα φιλοσοφία (645 a3). Vorausgesetzt ist bei dieser Erwägung die (höhere) τιμιότης τοῦ γνωρίζειν (644 b32), der höhere Rang des Wissens vom Unvergänglichen. Was macht nun, allgemein gesprochen, den Rang einer Wissenschaft aus? Drei Stellen geben darüber übereinstimmende Auskunft, zwei frühe

21 De anima B 3, 414 a31–32, b18. (Nur vier Seelenarten zählt Aristoteles in De part. an. 641 b4–10; als eigene Seelen-‚Teile‘ bzw. ‚Arten‘) werden erwogen das φανταστικόν De an. 432 a31–b3 und das βουλευτικόν 433 b3).

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und eine späte. Nach der Topik und dem Protreptikos ist eine Wissenschaft höher zu werten als eine andere ἢ διὰ τὴν αὐτῆς ἀκρίβειαν ἢ διὰ τὸ βελτιόνων καὶ τιμιωτέρων εἶναι θεωρητικήν.22 Nach eben diesen beiden Kriterien beansprucht der erste Satz von De anima für die Seelenkunde einen herausragenden Platz (402 a1–4). Der Protreptikos verwies auch noch auf die Nützlichkeit der Philosophie (fr. 5b Ross, p. 33.30), doch ist dies ein Gesichtspunkt, der deutlich nur an die noch nicht für die Philosophie Gewonnenen gerichtet ist. Denn in Aristotles’ eigener Theorie der Eudaimonie und der θεωρία ist letztere καθ᾽ αὑτὴν τιμία (EN X 8, 1178 b31), ein Wert an sich (und sogar der höchste) und daher um ihrer selbst willen erstrebenswert. Anderes mag für sie nützlich sein, nicht aber sie für anderes. Von den beiden anderen Kriterien tritt das eine, die Genauigkeit, zurück, es bleibt letztlich nur das des ontologischen Status des Objekts. Ausgesprochen ist das im K der Metaphysik: βελτίων δὲ καὶ χείρων (sc. ἐπιστήμη) λέγεται κατὰ τὸ οἰκεῖον ἐπιστητόν (1064 b5–6). Das K ist schwerlich von Aristoteles selbst, doch was hier gesagt ist, ist auch in E 1 beim Vergleich der drei ‚theoretischen Philosophien‘ (1026 a18f.) Mathematik, Physik, Theologik vorausgesetzt, wo es heißt: τὴν τιμιωτάτην (1026 a21). Ebenso hatte schon die einleitende Charakterisierung der metaphysischen Untersuchung in Met. A diese als σοφία bestimmt, und diese wiederum als θειοτάτη καὶ τιμιωτάτη (sc. ἐπιστήμη) (982 a1–6, 983 a5–7), übrigens mit Verweis (981 b25) auf EN VI 7, wo die σοφία bereits als ἐπιστήμη καὶ νοῦς τῶν τιμιωτάτων τῇ φύσει definiert war (1141 b3, vgl. 20). Die Genauigkeit als Kriterium wird also dem ontologischen Kriterium der selbständigen Existenz untergeordnet.23 Denn hinsichtlich des anderen ontologischen Kriteriums, der Unveränderlichkeit (E 1, 1026 a8–16), wären die Objekte der Mathematik denen der Physik überlegen. Aber sie existieren nicht für sich, sind nicht οὐσίαι χωρισταί, daher erscheint die Mathematik trotz ihres Vorsprungs an ἀκρίβεια als die unterste theoretische Wissenschaft in der Klimax Mathematik – Physik – Theologik. Eine besondere

22 Der oben zitierte Wortlaut ist Iamblichos, De communi mathematica scientia entnommen (p. 72.8–10 Festa), dessen 23. Kapitel (p.70.1–74.6 Festa) von Philip Merlan: From Platonism to Neoplatonism. Den Haag 31968 [1953], 141–153 dem Protreptikos zugewiesen wurde (zustimmend André-Jean Festugière: Un fragment nouveau du ‚Protreptique‘ d’Aristote. In: Revue philosophique 81 (1956), 117–127 und Willy Theiler (Üb.): Aristoteles: Über die Seele. Darmstadt 31969, 87; vorsichtiger Burkert: Weisheit und Wissenschaft, 387f. (= ders.: Lore and Science, 411)). Die Parallele aus der Topik ist 157 a9–10. 23 Die Genauigkeit ist allerdings in A 2, 982 a13, 25–28 noch genannt unter den allgemein angenommenen Merkmalen des σοφός.

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Genauigkeit der Theologik wird in E 1 nicht mehr geltend gemacht, und aus L 8, wo die genaue Zahl der unbewegten Beweger Thema ist, wird klar, daß sie über solch eine Genauigkeit auch nicht verfügt. Die Astronomie hingegen gilt als die der Philosophie am nächsten verwandte (οἰκειοτάτη φιλοσοφίᾳ), und dann wohl auch ranghöchste, unter den mathematischen Wissenschaften, nicht weil sie größere Exaktheit bewiese als Arithmetik und Geometrie,24 sondern weil nur sie von οὐσίαι handelt (1073 b3–8). Der Grund für die Zurückdrängung der Exaktheit als Rangkriterium liegt in der ontologischen Konzeption des Aristoteles. Wissenschaft sucht Gründe und Ursachen, letzte Begründung von Sachverhalten muß aber immer auf Substanzen rekurrieren, auf die alle anderen Bestimmungen bezogen sind. Erste Wissenschaft muß Wissenschaft der ersten Substanz sein. Kann sie dann aber noch καθόλου sein, eine allgemeine Seinswissenschaft, die das Seiende als Seiendes erkennt? In dieser Form stellt Aristoteles die Frage am Ende von Met. E 1, anschließend an die Rangbestimmmung der Theologik durch den Rang ihres Objektes. Dies ist die Kernfrage der aristotelischen Metaphysik geblieben: ist sie allgemeine Metaphysik, d. h. Ontologie, oder Theorie eines höchsten Seienden, spezielle Metaphysik als Theologik? Aristoteles’ Antwort ist, daß sie beides ist, aber primär Wissenschaft vom τιμιώτατον γένος: dadurch ist sie erste Philosophie, und erst dadurch wird sie auch allgemein: καθόλου οὕτως ὅτι πρώτη (1026 a30). Nicht „allgemein“ ohne weitere Bestimmung – so wie der Gattungsbegriff καθόλου ist, weil er auf alle Artbegriffe, die er umfaßt, gleichermaßen zutriff, sondern „allgemein in dem Sinne, daß sie die erste ist“. Ihr Objekt, das θεῖον (1026 a20), ist nicht Gattungsbegriff der anderen ὄντα, wohl aber erste in einer gestuften Reihe von Substanzen und die ἀρχή, von der die anderen abhängen (Λ 7, 1072 b13–14, vgl. De caelo 279 a28–30) und von deren Seinsweise her auch die Seinsweise der nachgeordneten Substanzen zu verstehen ist. Von diesem Ersten her läßt sich überhaupt erst verstehen, was „seiend“, rein als solches gedacht, was ὂν ᾗ ὄν bedeutet, und was zu diesem Begriff gehört. Die Untersuchung dieser Substanz ist ‚allgemein‘ nur in dem Sinn daß alles, was sonst über die ὄντα gesagt werden kann, auf den so gewonnenen Seinsbegriff bezogen bleibt. Die ranghöchste Wissenschaft ist mithin ‚allgemein‘, aber nicht höchste weil allgemein, sondern umgekehrt ‚allgemein‘ (in einem bestimmten Sinn) weil höchste und erste.

24 Das ist nach Met. 982 a26–28 vielmehr auszuschließen.

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Der höchste Rang eignet also dem ersten Prinzip.25 Daß das τίμιον zur ἀρχή gehört, stand auch schon hinter den zuvor besprochenen Beispielen und wird von Aristoteles in unterschiedlichsten Zusammenhängen ausgesprochen. Öfters wird τίμιον mit Begriffen assoziiert, die auf die ἀρχή weisen, so wenn es in der Kategorienschrift heißt, τὸ βέλτιον καὶ τὸ τιμιώτερον πρότερον εἶναι τῇ φύσει δοκεῖ (14 b4 – das seiner Natur nach Erste ist ja das Prinzip), oder wenn im Zusammenhang der tierischen Zeugung gesagt wird τὰ τιμιώτερα καὶ αὐταρκέστερα τὴν φύσιν ἐστίν (De gen. an. 732 a17). Zweifellos könnte dieser Satz auch als generelle ontologische Aussage stehen, denn völlige Autarkie besitzt ja nur das Prinzip. Der Rang der spontan entstehenden Lebewesen bestimmt sich, wie wir sahen, nach der Art der Aufnahme der ἀρχὴ ἡ ψυχική (De gen. 762 a24–26), wie überhaupt die Seele ein τίμιον ist, weil sie οἷον ἀρχὴ τῶν ζῴων ist (De an. 402 a6). Der schlichte Satz ἡ γὰρ ἀρχὴ τίμιον in De incessu animalium (706 b12) verrät noch nicht die sachliche Beziehung der beiden Begriffe, ebenso wenig wie die Nennung der ἀρχή in einer Liste von τίμια in den (unechten) Magna Moralia (1183 b 23). Wenn hingegen die Eudaimonie in der Nikomachischen Ethik als letztes Ziel allen Handelns unter die τίμια καὶ τέλεια eingeordnet wird, und dies διὰ τὸ εἶναι ἀρχή, so wird klar, daß Rang und Wert allemal nur vom Prinzip kommen kann. Das steckt auch im Begriff des Nus als θειότατον καὶ τιμιώτατον (Λ 9, 1074 b26), als Spitze der positiven Systoichie (Λ 7, 1072 a30–32) und damit Prinzip, von dem alles abhängt (1072 b14). Aristoteles’ Äußerungen zu Rang und Prinzip sind zu einem Teil ganz von der ihm eigenen Begrifflichkeit geprägt. So gilt ihm in der Metaphysik die ἐνέργεια als βελτίων καὶ τιμιωτέρα τῆς δυνάμεως (Θ 9, 1051 a4–5), ähnlich sagt er in De anima 430 a18–19 ἀεὶ γὰρ τιμιώτερον τὸ ποιοῦν τοῦ πάσχοντος und fügt epexegetisch hinzu: καὶ ἡ ἀρχὴ τῆς ὕλης, „d. h. das Prinzip (ist ranghöher) als die Materie“. An anderen Stellen scheint er seine Überzeugungen als ἔνδοξα, d. h. als allgemein akzeptierte Ansichten präsentieren zu wollen, so an der erwähnten Stelle der Kategorienschrift, wo das δοκεῖ auf die generelle Akzeptanz weist, oder an der Stelle über die Eudaimonie als Prinzip, wo die Fortsetzung lautet: τὴν ἀρχὴν δὲ καὶ τὸ

25 Daß dies auch für griechisches Denken keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt die ‚evolutionistische‘ Ontologie einiger Pythagoreer und des Speusippos, die Aristoteles Met. Λ 7, 1072 b30–1073 a3 und N 4, 1091 a29–b6 referiert. Es ist Aristoteles nicht entgangen, daß die pythagoreisch-speusippeische Sicht als philosophische Umsetzung des mythischen Denkens gelesen werden kann, in dem ja auch „nicht die ersten (Wesenheiten), wie Nacht und Himmel oder Chaos oder Okeanos“ die Macht haben, „sondern Zeus“ (1091 b5–6).

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αἴτιον τῶν ἀγαθῶν τίμιόν τι καὶ θεῖον τίθεμεν (1102 a3–4). „Wir“ urteilen so – wer ist „wir“? Alle Griechen, die doch die θεοὺς τιμῇσι φερίστους (vgl. Emp. DK 31 B 23.8) schon immer als (θεοί) δωτῆρες ἐάων (Od. 8.325) auffaßten? Vielleicht. Beim höchsten Rang des Prinzips als Ursache des Guten (αἴτιον τῶν ἀγαθῶν) könnte man freilich auch an ein ἔνδοξον denken, das die σοφοί teilen.26 Sehen wir uns bei anderen σοφοί um: wo finden wir dieselbe enge Verknüpfung von τίμιον mit den drei Begriffen θεῖον, ἀρχή, ἀγαθόν wie bei Aristoteles? Theophrastos in seinem kurzen metaphysischen Fragment verwendet sechs mal Formen von τίμιον, dazu einmal die Form ἐντιμότατα.27 Dabei zitiert er u. a. den aristotelischen Vorrang der Luftröhre vor der Speiseröhre (11 a10) und verwendet zweimal die Wortverbindung πρότερον καὶ τιμιώτερον, einmal in Anwendung auf die ἐνέργεια (7 b14). So weit ist also alles ganz aristotelisch. Willy Theiler bemerkte zu Theophrastos’ Gebrauch des Wortes: „τίμιον ist Schulausdruck“.28 Welcher Schule Terminologie fassen wir hier? Theiler dachte offenbar an die peripatetische, und so versteht es auch M. van Raalte in ihrem neuen Kommentar zu Theophrastos’ Metaphysik.29 Nun beziehen sich aber von Theophrastos’ sechs Stellen zwei auf die Akademie: eine auf Speusippos, eine auf Platons Timaios.30 Es besteht also Anlaß, nach der Verwendung des Wortes bei Aristoteles’ und Speusippos’ gemeinsamem Lehrer zu fragen, zumal noch ein weiterer Schüler Platons, Philippos von Opus, die in seinem Weltbild höchsten Wesenheiten, die Gestirngötter, θεοὺς ... μεγίστους καὶ τιμιωτάτους preist (Epinomis 984 d5–6) und einen staatlichen Kult für sie fordert (985 dff.), damit auch diese θεῖα endlich als die τίμια, die sie sind (987 a7–8), Anerkennung finden.

26 Vgl. Top. 100 b21–22 ἔνδοξα δὲ τὰ δοκοῦντα πᾶσιν ἢ τοῖς πλείστοις ἢ τοῖς σοφοῖς, καὶ τούτοις ἢ τοῖς μάλιστα γνωρίμοις καὶ ἐνδόξοις. 27 Theophr. Met. 6 b28, 7 b14, 10 b26, 11 a10, a12, 11 a23, τῶν ἐντιμοτάτων 5 b22. 28 Willy Theiler: Die Entstehung der Metaphysik des Aristoteles. Mit einem Anhang über Theophrasts Metaphysik. In: Museum Helveticum 15 (1958), 85–105, hier: 103, Anm. 63 (auch in: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hg. v. Fritz-Peter Hager. Darmstadt 1969 (= Wege der Forschung, Bd. 206), 266–298, hier: 294, Anm. 63). 29 Marlein van Raalte: Theophrastus Metaphysics. With an Introduction, Translation and Commentary by M. v. R. Leiden 1993 (= Mnemosyne Supplements, Bd. 125), 288. 30 Theophr. Met. 11 a23 = Speus. fr. 41 Lang = fr. 83 Tarán; Met. 6 b28 hat keine exakte Entsprechung im Timaios, drückt aber den Grundgedanken dieses Dialogs (Vorrang von Struktur und Ordnung) in gut platonischer Weise aus. Zur Verbindung von τιμιώτατα und τάξις könnte man ferner auf Pltk. 285 e4 (τιμιώτατα) und Politeia 500 c2 (τεταγμένα) verweisen (beides von den Ideen gesagt).

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Nach menschlicher und göttlicher Einschätzung, sagt Sokrates im Phaidros, gibt es nichts Wertvolleres (τιμιώτερον) als die Bildung der Seele (ψυχῆς παίδευσις).31 Dieses höchste Gut wird in der Eros-Rede dann inhaltlich erklärt als Entwicklung der angeborenen Fähigkeit zur Erinnerung an die vorgeburtlich geschauten Ideen, was bildlich auch als ‚Leichtwerden‘ und als ‚Beflügelung‘ der Seele dargestellt wird, als Wiedergewinnung der Fähigkeit des Aufschwungs zum göttlichen Ideenbereich. 32 Mit einer anderen lokalen Metapher beschreibt Platon im Anschluß an das Höhlengleichnis, das ja ebenfalls von der παιδεία (514 a1–2) handelt, diese als Kunst der ‚Umwendung‘ der ganzen Seele, weg vom nachtartigen Tag der Werdewelt, hin zur wahren Tageshelle des Lichts der Idee des Guten.33 ‚Das Wertvollste‘ für den Menschen ist solche παιδεία, weil die Dinge, zu denen die Umwendung bzw. der Aufschwung führt, die Ideen selbst, τίμια sind (Phdr. 250 b2). Wenn in der aufsteigenden Reihe der Formen des Schönen im Symposion die seelische Schönheit τιμιώτερον ist als die körperliche (Symp. 210 b7), so folgt daraus, daß das Schöne selbst für Platon notwendig τιμιώτατον sein muß. Und mit diesem Ausdruck belegt denn auch die unkörperlichen Dinge, die die ‚schönsten‘ und ‚bedeutendsten‘ sind, d. h. eben die Ideen, eine Stelle des Politikos: sie sind μέγιστα καὶ τιμιώτατα.34 Daß das Ranghöchste ‚göttlich‘ ist, versteht sich gleichsam von selbst, wir finden daher die Ideen immer wieder als θειότατα benannt (Politikos 269 d6) oder als θεία (Politeia 500 c9) oder, mit kollektivem Singular, als τὸ θεῖον καὶ ἀθάνατον καὶ τὸ ἀεὶ ὄν (Politeia 611 e2–3).35 Kann diese göttliche Ideenwelt, wie die homerische Götterwelt, rangmäßig abgestuft sein? Das Zögern des noch ganz jungen Sokrates, von gänzlich Wertlosem (ἀτιμότατον) eine Idee anzusetzen, wird vom alten Parmenides sanft korrigiert: es werde die Zeit kommen, ὅτε οὐδὲν αὐτῶν ἀτιμάσεις (Parm. 130 c5–e4). Also postuliert er Ideen von allem, was ist. Heißt das auch: ranggleiche Ideen von allem? Das scheint die Stelle nicht zu implizieren. Vielmehr heißen die dialektischen Grundbegriffe, die im 31 Phdr. 241 c5–6. Die Fortführung der sokratischen ‚Sorge für die Seele‘ (vgl. Apol. 29 e–30 b) ist offensichtlich. 32 Wiedererinnerung Phdr. 249 b5–250 c6, ὑπόπτεροι καὶ ἐλαφροὶ γεγονότες 256 b4; Wesen der πτεροῦ δύναμις 246 d6–e4, vorgeburtlicher Besitz von ‚Flügeln‘ 251 b7, Beginn des erneuten Wachstums der Flügel 249 c4, 251 b1ff. 33 Politeia 518 b7–d5, τέχνη ... τῆς περιαγωγῆς d3–4, und 521 c6, ψυχῆς περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, was Platon zugleich als Umschreibung der ‚wahren Philosophie‘ versteht. 34 Was mit den ‚größten und ranghöchsten Dingen‘ in 285 e4 gemeint ist, wird in 286 a5–6 deutlich: τὰ γὰρ ἀσώματα, κάλλιστα ὄντα καὶ μέγιστα. 35 Vgl. Phdn. 81 a5, Tim. 90 c1, Tht. 176 e4.

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Sophistes erörtert werden, mit gutem Grund μέγιστα γένη,36 und dies bestätigt die klare Aussage der Politeia, daß es auch beim wahren Sein ranghöhere und rangniedrigere Teile gibt.37 Dieser Rang im Intelligiblen kommt vom Guten selbst. Die Idee des Guten als „Ursache alles Richtigen und Schönen“ (Politeia 517 c2) verleiht den Ideen nicht nur ihr Erkanntwerden, sondern auch ihr Sein und ihr Wesen (509 b6–8) – überzeitliches Sein und vollkommene Erkennbarkeit machen aber den Rang der Ideen aus. Daß es im Sonnengleichnis (auch) um Rangbestimmung im Reich der Intelligibilia geht, wird mehrfach klar. Das Licht ist οὐκ ἄτιμον, es verbindet das Sehvermögen des Subjekts mit der Sichtbarkeit des Objekts als ein „Joch“, das τιμιώτερον ist als das anderer Sinnesvermögen (507 e6–508 a2). Gleiches gilt von den intelligiblen Entsprechungen von Sehvermögen und Licht: Wissenschaft und Wahrheit sind οὕτω καλά (508 e4). Doch an den Rang ihrer Ursache kommmen sie nicht heran, ἀλλ᾽ ἔτι μειζόνως τιμητέον τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἕξιν (509 a4–5). Nach dieser Hinführung kommt die entscheidende Aussage nicht mehr überraschend: ... οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ´ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος (509 b8–10). Aristoteles hatte offenbar den Wortlaut dieser Stelle im Sinn, als er von dem, was in seinem ontologischen Entwurf die höchste Stelle einnimmt, dem Nus, schrieb: δυνάμει καὶ τιμιότητι τολὺ μᾶλλον πάντων ὑπερέχει (EN X 7, 1178 a1–2). Bei Platon freilich ist dieses Höchste zugleich zeugender Vater,38 wie der Zeus der homerischen Religion, der folglich – wen könnte es verwundern – im Reich der Intelligibilia als ‚König‘ herrscht, βασιλεύει.39 Dieser König und Vater, die Idee des Guten, ist „Ursache von Wissenschaft“, αἰτία ἐπιστήμης (508 e3, vgl. 509 b6–7). ἐπιστήμη ist allgemein ein τιμιώτερον als die richtige Meinung, weil sie das Richtige an der Meinung

36 Genauer: μέγιστα τῶν γενῶν ἃ νυνδὴ διῇμεν 254 d4, vgl. προελόμενοι τῶν μεγίστων λεγομένων (sc. εἰδῶν) ἄττα 254 c2–4: die Liste der fünf ‘obersten Gattungen’ ist also nicht vollständig. Weitere Grundbegriffe der akademischen Dialektik finden sich im Parmenides sowie bei Aristoteles, Met. Γ 2, 1003 b35f., 1004 a18, 1005 a11–18. 37 Politeia 485 b6 τιμιώτερον – ἀτιμότερον μέρος (nämlich des immerseienden Seins, b2). 38 Politeia 506 e6 πατήρ, 508 b12–13 die Sonne als τὸν τοῦ ἀγαθοῦ ἔκγονον (vgl. 506 e3), ὃν τἀγαθὸν ἐγέννησεν, 517 c3 die Idee des Guten φῶς καὶ τὸν τούτου κύριον τεκοῦσα. 39 Politeia 509 d2; vgl. Heinrich Dörrie: Der König. Ein platonisches Schlüsselwort, von Plotin mit neuem Sinn erfüllt (1970). In: ders.: Platonica minora. München 1976, 390–405 (392: „Somit ist wahrscheinlich ein von Platon herrührender, altakademischer Sprachgebrauch nachzuweisen“).

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durch Argument ‚festzubinden‘ weiß (Men. 98 a7). Im besonderen sind die Darlegungen (λόγοι) einer Wissenschaft nach einer Stelle im Timaios dem Gegenstand verwandt, den sie auslegen (29 bc): die das Unwandelbare der Ideenwelt auslegenden Logoi sind – so weit möglich – unwandelbar (Tim. 29 b5–c1). Nach Maßgabe ihrer Unwiderlegbarkeit (29 b7) müßten sie dann auch am ontologischen Rang ihres Objektes teilhaben. Und je näher sie an die Darlegung des Prinzips als des μέγιστον μάθημα und der Quelle von allem Rang herankommen, desto τιμώτερα sind die Darlegungen des Philosophen (vgl. Phdr. 278 d).40 Für die Dialektik als Weg zur ἀρχή beansprucht Platon Genauigkeit, ἀκρίβεια. Dem Mangel an Genauigkeit, der den hier und jetzt im geschriebenen Dialog geführten Gesprächen anhaftet (Politeia 435 d1, 504 b5), müßte auf einem anderen, längeren Weg abgeholfen werden.41 Es wäre dies der Weg der Dialektik, von dem eben deswegen, weil er sich auf die größten Dinge richtet, auch die größte Genauigkeit zu fordern ist (504 d8– e3). Die philosophischen Regenten müssen, um den Staat erhalten und richtig lenken zu können, mit größtmöglicher Genauigkeit auf das intelligible Paradigma blicken können.42 Da nur wenige herausragend Begabte die hohen Anforderungen, die der Weg der Philosophie stellt, erfüllen können, muß man im besten Staat denen, die die entsprechenden Anlagen nicht mitbringen, von vornherein „keinen Anteil geben an der genauesten Erziehung“, d. h. der Dialektik.43 Für die dazu Geeigneten aber erfolgt die Hinführung zur dialektischen Genauigkeit über die mathematischen Disziplinen. Bei Schilderung dieser propädeutischen Studien entwirft Platon eine rein mathematische Astro40 Die oben angedeutete Auslegung der vieldiskutierten τιμιώτερα der platonischen Mündlichkeit ergibt sich aus dem im Phaidros überall gegenwärtigen Aufstiegsgedanken in Verbindung mit der platonischen Bedeutung von βοηθεῖν τῷ λόγῳ. Vgl. hierzu meine Beiträge: Mündliche Dialektik und schriftliches „Spiel“: Phaidros. In: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Hg. v. Theo Kobusch u. Burkhard Mojsisch. Darmstadt 1996, 115–130 und: Was heißt „dem Logos zu Hilfe kommen“? Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Understanding the Phaedrus. Proceedings of the II Symposium Platonicum. Hg. v. Livio Rossetti. Sankt Augustin 1992, 93–107. 41 Politeia 435 d3, 504 b2, c9, vgl. 611 a10–612 a6 (mit dem Gegensatz νῦν 611 b6 – τότε 612 a3). 42 484 c6–d7 (θεώμενοι ὡς οἷόν τε ἀκριβέστατα, d1), vgl. 505 d2–506 b1. 43 Politeia 503 d8–9 μήτε παιδείας τῆς ἀκριβεστάτης ... μεταδιδόναι μήτε ἀρχῆς, vgl. 474 c2, 539 d5 – Die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen (εὐλάβεια 539 b1, vgl. a9, d3) zur Sicherung des richtigen Philosophierens, d. h. die esoterische Organisation des Studiums der Dialektik, wird dieses Geschäft τιμιώτερον ἀντὶ ἀτιμωτέρου machen (539 d1).

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nomie, deren Himmelsbewegungen diejenigen der empirischen Astronomie an Schönheit und Genauigkeit bei weitem übertreffen werden (529 c7–530 d5, bes. 529 c8–d2). Im Blick auf dieses Beispiel nun läßt sich die von Platon intendierte größere Genauigkeit der Erkenntnis der μέγιστα καὶ τιμιώτατα sehr klar in aristotelischen Begriffen erklären: je mehr sich eine Wissenschaft auf begrifflich Früheres und Einfacheres richtet, umso mehr hat sie Genauigkeit, sagt Aristoteles in Met. M 3.44 Platons reine Astronomie wäre zwar nicht ohne Bewegung, aber ihre Himmels-‚körper‘ wären, als nichtempirische, ohne Masse, und so beträfe diese Astronomie Gegenstände πρότερα τῷ λόγῳ und wäre deshalb genauer. Insofern nun bei Platon das, was dem Begriff nach früher ist, auch dem Sein nach früher ist – dies ist ja der Grundgedanke der Ideenhypothese – ist bei ihm die Identität der genauesten Wissenschaft mit der Wissenschaft vom seinsmäßig Ranghöchsten in den ersten Prämissen seines ganzen Entwurfs angelegt. Die höchste Idee, das Gute selbst, ist nichts anderes als das Eine selbst (Met. N 4, 1091 b14–15). Das Eine aber ist der allgemeinste und absolut einfachste Begriff – die ἐπιστήμη hiervon hat, dank der Abwesenheit verunklarender Relationen, höchste ‚Genauigkeit‘ und Sicherheit.45 Und insofern Aristoteles gegen Platon nachweist, daß nicht alles, was dem Begriff nach früher ist, auch dem Sein nach früher ist – οὐ πάντα ὅσα τῷ λόγῳ πρότερα καὶ τῇ οὐσίᾳ πρότερα, Met. M 2, 1077 a36–b2 – ist bei ihm das Auseinanderfallen der beiden Erfordernisse an die ranghöchste Wissenschaft vorprogrammiert. Ontologische Priorität beruht auf selbständiger Existenz, begriffliche auf dem Vorausgesetztsein eines Begriffs durch einen anderen – „das aber liegt nicht zugleich vor“ (ταῦτα δὲ οὐχ ἅμα ὑπάρχει, 1077 b4). Daher wird größere Genauigkeit nur für das begrifflich

44 Met. M 3, 1078 a9–13 καὶ ὅσῳ δὴ ἂν περὶ προτέρων τῷ λόγῳ καὶ ἁπλουστέρων, τοσούτῳ μᾶλλον ἔχει τὸ ἀκριβές (τοῦτο δὲ τὸ ἁπλοῦν ἐστιν), ὥστε ἄνευ γε μεγέθους μᾶλλον ἢ μετὰ μεγέθους, καὶ μάλιστα ἄνευ κινήσεως, ἐὰν δὲ κίνησιν, μάλιστα τὴν πρώτην. ἁπλουστάτη γάρ, καὶ ταύτης ἡ ὁμαλή. 45 Die Genauigkeit und Sicherheit der philosophischen Dialektik ist freilich nicht die der mathematischen Disziplinen. Noetische Einsicht ist nicht erzwingbar; ihr Zustandekommen gleicht eher dem ‚Aufleuchten‘ eines Lichtes (Epist. 341 c6– d2, 344 b7, vgl. Politeia 435 a2), das denen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, nicht verständlich zu machen ist (ebd. 343 d2–344 b1). Sie ist ferner durch die Schrift nicht übertragbar (Phdr. 277 d7–8). Diese Unterschiede zur Erkenntnisweise der ἄλλα μαθήματα (Epist. 7, 341 c6) liegen an der Wurzel platonischer Esoterik, die z. B. auch an der unter diesem Aspekt kaum gewürdigten Stelle Politeia 539 d3–6 zum Ausdruck kommt.

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Frühere, nicht für das ontologisch Frühere postuliert (1078 a9, vgl. Anm. 44). Der Erste Beweger ist, als reine Energeia, erste und einfache Substanz (οὐσία πρώτη und ἁπλῆ, 1072 a31–32), hat also seinsmäßige Priorität. Als Spitze der intelligiblen Systoichie (ebd.) hat er gewiß auch begriffliche Priorität. Doch welche Art von Genauigkeit kommt der Erkenntnis dieses Ersten zu? Die von Platon intendierte Genauigkeit der Erkenntnis des Einen als absoluten Maßes und Bedingung der Möglichkeit aller ‚späteren‘, letztlich auf es zu beziehenden ‚genauen‘ Erkenntnis,46 sei sie Ideenerkenntnis oder mathematischer Art, kann es nicht sein. Denn die Reihe der zunehmend einfachen Dinge, deren Erkenntnis zunehmend genauer werden müßte, führt über Astronomie, Stereometrie, Geometrie und Arithmetik nicht zum ersten Beweger, sondern zum ἕν. Dieses ist zwar auch für Aristoteles noch das Prinzip der Zahl,47 hat sonst aber als allgemeinster und damit leerster Begriff48 durchaus nicht den Charakter eines Prinzips. Nur in der Sicht seiner akademischen Gegner können die obersten Gattungen (πρῶτα γένη) ἕν und ὄν der gleichsam natürliche Gegenstand der gesuchten höchsten Wissenschaft sein. Denn gäbe es sie nicht, so wäre auch alles andere aufgehoben, und da Prinzip das ist, was die anderen Dinge mit sich aufhebt (ἀρχὴ τὸ συναναιροῦν, Met. K 1, 1060 a1), machen sie ganz den Eindruck, Prinzipien zu sein und gelten den Akademikern als πρῶτα τῇ φύσει (1059 b30)49 – eine Einschätzung, die Aristoteles wie erwähnt durch die Trennung von τῷ λόγῳ πρότερον und τῇ οὐσίᾳ πρότερον unterläuft. Größte Allgemeinheit kommt auch der Erkenntnis der ἀξιώματα zu (Met. B 2, 997 a13). Der Nus, der sie erfaßt, ist als Erkenntnisweise ‚genauer‘ als die beweisende Wissenschaft, mithin das genaueste unserer Vermögen (An. Po. 100 b8). Die Axiome sind zwar die sichersten Prinzipien der Erkenntnis (Met. Γ 3, 1005 b11–23), doch haben sie nicht die Seinsart der Substanz. Die Beschäftigung sowohl mit den allgemeinsten Bestimmungen ἕν und ὄν als auch mit den Axiomen gehört in den Aufgabenbeich des (‚ersten‘) Philosophen (Γ 2, 1004 a31–b10; Γ 3, 1005 b5–8); doch diese Aufgaben sind, weil anderswo nicht unterzubrin-

46 Vgl. hierzu Dietrich Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. Das Ideal der Exaktheit bei den Griechen bis Aristoteles, Diss. Tübingen 1970, 96–108. 47 Met. I 1, 1052 b23–24 τὸ ἕν ἀριθμοῦ ἀρχὴ ᾗ ἀριθμός, vgl. Δ 6, 1016 b18, Δ 15, 1021 a12–13, N 1,1088 a7–8. 48 Met. I 2, 1053 b20 τὸ γὰρ ὂν καὶ τὸ ἓν καθόλου κατηγορεῖται μάλιστα πάντων, ähnlich B 3, 998 b21, B 4, 1001 a22 (vgl. K 1, 1059 b24–30). 49 Das Problem der 7. Aporie (Met. B 3, 998 b14ff.) wird im obigen Text in der kürzeren Fassung aus K 1, 1059 b24–1060 a1 zitiert, die sachlich nichts Unaristotelisches enthält.

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gen, von der ‚ersten Philosophie‘ als der Wissenschaft der Substanz lediglich mitzuversehen, wobei diese ihren Rang nicht etwa aus der Allgemeinheit, Genauigkeit und Sicherheit dieses Teils ihrer Aufgaben bezieht, sondern vom göttlichen Rang ihres ersten und vorzüglichsten Objekts (E 1, 1026 a21). So dürfte also der platonische Entwurf mit dem Guten an der Spitze die auch bei Aristoteles anzutreffende enge Verbindung der Begriffe ἀγαθόν, θεῖον, ἀρχή und τίμιον erklären. τίμιον ist „Schulausdruck“, wie Theiler sah, aber doch wohl der Akademie, nicht erst des Peripatos. Der gleichsam homerisch-theologisch gedachte ‚Vater‘ und ‚König‘ der Ideenwelt ist die Quelle aller τιμιότης der τίμια und zugleich Bedingung der Möglichkeit wie auch Objekt des genauesten Wissens. Der Zerfall dieser ursprüglichen Einheit bei Aristoteles ist deutlich.50 Das programmatische Nebeneinander der beiden Kriterien des ontologischen Ranges und der Genauigkeit zeigt seine Platonnähe, das faktische Auseinanderfallen der Kriterien ist Gradmesser seiner Entfernung von seinem Lehrer. Die Desintegration des einheitlichen Weltverständnisses ging nach Aristoteles weiter, wenn auch zunächst weder schnell noch geradlinig. Gegenbewegungen wie der Neuplatonismus in der Spätantike oder der Hegelianismus in der Neuzeit konnten den Zug erst zur Pluralität der Prinzipien, schließlich zur Negation des Begriffs Prinzip überhaupt im 20. Jh. nicht aufhalten. Was bleibt, ist eine gewisse Wertschätzung der Wissenschaften: τῶν καλῶν καὶ τιμίων τὴν εἴδησιν ὑπολαμβάνοντες .... Und hier wiederum hat immer noch Rang und Ansehen das Wissen, das mehr umfaßt als anderes. τίμιον τὸ καθόλου gilt weiterhin, sofern das καθόλου nicht einen generischen Allgemeinheitsanspruch anzeigen soll, sondern ein Wissen, das sich auf vieles, möglichst auf alles andere irgendwie – nicht notwendig auf alles in der gleichen Weise – auswirkt. So wird man verstehen, daß diese Studie dem Gelehrten gewidmet ist, dessen Forschungen und Ergebnisse sich auf sozusagen alle Bereiche des weiten Feldes der Altertumswissenschaften befruchtend ausgewirkt haben.

50 Zur ‚Pragmatientrennung‘ als Auflösung der von Platon intendierten Einheit der Seins- und Erkenntnisordnung vgl. Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959, 552–571, bes. 564–567.

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Die vollständige Mitteilung und schnelle Verbreitung von neu gewonnenen Erkenntnissen ist eine Forderung aus dem Geist der Aufklärung: fundiertes Wissen gleich welcher Art ist ein Gut, auf das alle Menschen Anspruch haben. Das Zurückhalten von Wissen und Einsichten wäre so betrachtet ein aktives Handeln gegen das Wohl der Menschheit, dem sich der Philosoph als Philosoph verpflichtet fühlen muß. Eventuelle Nachteile und Risiken der Schrift als Kommunikationsmittel können demgegenüber – bei dieser Grundhaltung – kein großes Gewicht haben. Die geschilderte Einstellung zur philosophischen Kommunikation ist uns so selbstverständlich, daß sie weiterer Begründung nicht zu bedürfen scheint. Im Folgenden sollen einige Texte besprochen werden, die zeigen, daß auch nach dem Sieg der Aufklärung noch über die prinzipielle Möglichkeit, die philosophische Kommunikation bewußt zu beschränken, reflektiert wurde. Dies geschah meist, aber nicht ausschließlich, im Zusammenhang der Beschäftigung mit Platon. Deshalb muß die Haltung des Stifters des abendländischen Philosophiebegriffs auch hier mitbedacht werden. Trotz des Abstands der Zeiten ist seine Stellungnahme auch heute noch die wohl wichtigste. Jedenfalls aber ist sie die differenzierteste.

1. Wittgenstein Philosophische Schriften sind nicht notwendig unterschiedslos an alle Menschen gerichtet, nicht einmal an alle Gebildeten oder an alle intellektuell Neugierigen. Ludwig Wittgenstein dachte für seine Philosophischen Bemerkungen (erschienen 1964) an eine anders definierte Leserschaft. In einer früheren Fassung des Vorwortes aus dem Jahr 1930 lesen wir:

* Geringfügig veränderter Text eines Vortrags, der zuerst am 27.7.1998 auf der Tübinger Tagung der International Society for the Classical Tradition (ISCT) gehalten wurde.

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12. Sechs Philosophen über philosophische Esoterik

T1

Dieses Buch ist für diejenigen geschrieben, die dem Geist, in dem es geschrieben ist, freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist, glaube ich, ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation. [...] Ich schreibe also eigentlich für Freunde, welche in Winkeln der Welt verstreut sind.1

Der Geist der europäisch-amerikanischen Zivilisation des 20. Jh. war Wittgenstein „fremd und unsympathisch“.2 Die, die gemäß diesem Geist leben und denken, waren und sind nicht die Adressaten seines Buches. Wittgenstein hat eine klare Vorstellung von denen, für die er nicht schreibt: T2

Ob ich von dem typischen westlichen Wissenschaftler verstanden oder geschätzt werde, ist mir gleichgültig, weil er den Geist, in dem ich schreibe, doch nicht versteht.3

Der „typische westliche Wissenschaftler“ war für den Philosophen schwerlich ein bloßer Ignorant, auch nicht ein Mensch mit unterdurchschnittlichem Intelligenzquotienten. Bildung und Intelligenz sind nicht die Kriterien, nach denen er so scharf trennt zwischen den (vielen) Gesinnungsfremden, und den (wenigen) „Freunden“, die er erreichen will. Nun scheint Wittgenstein diese ‚Freunde‘ nicht (alle) zu kennen, sind sie doch „in Winkeln der Welt verstreut“. So erhebt sich die Frage: wie erreicht man die unbekannten ‚Freunde‘, wie vermeidet man die ungeliebten Sympathisanten des Geistes der europäisch-amerikanischen Zivilisation? Auch dazu hat Wittgenstein sehr klare Vorstellungen: T3

[...] ist ein Buch nur für wenige geschrieben, so wird sich das eben dadurch zeigen, daß nur wenige es verstehen. Das Buch muß automatisch die Scheidung derer bewirken, die es verstehen, und die es nicht verstehen. [...] Es hat keinen Sinn jemandem etwas zu sagen, was er nicht versteht, auch wenn man hinzusetzt, daß er es nicht verstehen kann. [...]

1 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. v. Georg Henrik von Wright. Frankfurt a. M. 1977, 20–21. 2 Ebd., 20. 3 Ebd., 21–22.

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12. Sechs Philosophen über philosophische Esoterik

Willst Du nicht, daß gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloß vor, wozu sie keinen Schlüssel haben. Aber es ist sinnlos, darüber mit ihnen zu reden, außer Du willst doch, daß sie das Zimmer von außen bewundern! Anständigerweise, hänge ein Schloß vor die Türe, das nur denen auffällt, die es öffnen können, und den andern nicht.4 Der Wille zum Ausschluß bestimmter Leser ist für Wittgenstein offenbar legitim. Kein Wort davon, daß das Für-sich-bleiben-Wollen des Autors und seiner ‚Freunde‘ in irgendeiner Weise unphilosophisch oder gar unethisch wäre. Es hätte ja „keinen Sinn“, den Verständnislosen „etwas zu sagen, was (sie) nicht versteh(en)“. Statt Skrupel zu nähren wegen des gewollten Ausschlusses, gibt Wittgenstein im Gegenteil sogar ein Mittel an, durch das der Ausschluß erreicht werden kann. Er glaubt an die Möglichkeit einer automatischen Scheidung der ‚Freunde‘ und der Gesinnungsfremden durch das Buch selbst. Von direkter zu metaphorischer Sprache wechselnd, empfiehlt Wittgenstein ein „Schloß“ vorzuhängen, das die einen sehen können, die anderen aber nicht. Bei Wittgensteins Mittel, den Ausschluß der Verständnislosen zu erreichen, kann es sich nicht um das Phänomen des persönlichen Stils handeln, der sich den Äußerungen eines Autors ohne dessen bewußtes Zutun aufprägt, weil er zur Form seines Denkens gehört. Der Imperativ „hänge ein Schloß vor die Türe“ weist eher darauf, daß hier etwas bewußt zu vollbringen ist, zumal an das „Schloß“ ganz bestimmte Anforderungen gestellt sind. Auch sonst werden ja mit dem Imperativ nicht Dinge verlangt, die sich von selbst ergeben, sondern solche, die auch unterbleiben können. Mit seiner Metapher vom „Schloß“ an der „Türe“ des „Zimmers“ verlangt Wittgenstein vom philosophischen Autor, daß er seinen (berechtigten) Willen zum Ausschluß bestimmter Leser unter bewußter Nutzung nicht näher genannter darstellischer Möglichkeiten verwirklicht. Auch wenn der Ausschluß der Gesinnungsfremden für Wittgenstein moralisch offenbar in Ordnung ist, unterliegen die Gründe des Ausschlusses doch der moralischen Wertung: „anständigerweise“ solle der Autor ein „Schloß“ anbringen, das die Ausgeschlossenen gar nicht erst wahrnehmen. An den „Anstand“ appelliert Wittgenstein, weil er offenbar der Ansicht ist, der einzige Grund, mit den Ausgeschlossenen über das „Schloß“ (und das Verschlossene) zu reden, könne nur der Wunsch nach Bewunderung sein.

4 Ebd., 23.

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Der Ruf nach „anständigem“ Verschweigen der Tatsache des Ausschlusses will also dem moralischen Fehler der Eitelkeit wehren. Es dürfte klar sein: wenn es andere, respektable Gründe für das Reden über das „Schloß“ geben sollte, dann wäre auch Wittgensteins Urteil über die vermeintliche „Unanständigkeit“ solchen Redens hinfällig. Diese bisher an Wittgenstein beschriebene Haltung, die bestimmt ist durch – die Überzeugung, daß bestimmte Einsichten nur von bestimmten Menschen erfaßt werden können, die dem selben Geist verpflichtet sind wie der Autor und daher als „Freunde“ eingeschätzt werden, ferner durch – den Willen, andere Rezipienten als die „Freunde“ auszuschließen, sowie – den Glauben, daß der Autor Mittel und Wege zur Verfügung hat, diesen Willen zu verwirklichen, schließlich auch durch – das Postulat, daß die Motive dessen, der bestimmte Rezipienten ausschließen will, moralisch „anständig“ zu sein haben, wollen wir im Folgenden als die „esoterische“ Haltung bezeichnen. Wollte man die einzelnen Punkte, die diese Haltung ausmachen, inhaltlich anders fassen, so würde das auf andere Formen von Esoterik führen. Würde man sie radikal anders beurteilen als Wittgenstein es tut, so würde das zu einer anderen Wertung, unter Umständen zu einer völligen Ablehnung von Esoterik führen.

2. Kant Wittgensteins Überlegungen sind frei von politischen Obertönen.5 Das ist nicht selbstverständlich: Immanuel Kants späte Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie zeigt, daß es von jeher nahe lag, philosophische Esoterik auch im politischen Kontext zu sehen. Gleich zu Beginn der Schrift erwähnt Kant „die Logen alter und neuer Zeit“ unter den Gruppen, bei denen „der Namen der Philosophie [...] in Nachfrage gekommen“ sei; von ihrem Geheimnis wollen uns die Logen

5 Abgesehen von der Bemerkung, daß zum unsympathischen Geist der europäischen und amerikanischen Zivilisation auch „der Faschismus und der Sozialismus unserer Zeit“ gehören. Doch haben diese Erscheinungen des 20. Jh.s nicht direkt mit Wittgensteins Problem der „Scheidung“ von Freunden und Außenstehenden zu tun.

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„mißgünstigerweise nichts aussagen“.6 Im weiteren Fortgang seiner Abwehr der „Schwärmerei“ in der Philosophie polemisiert Kant dann gegen „Plato den Briefsteller“, den er jedoch mit „Plato dem Akademiker“ „nicht gern vermengen“ möchte7 – was doch wohl bedeuten soll, daß er den 7. Brief nicht für echt hielt. Kant zitiert eine zeitgenössische Auslegung von Epist. 7, 342 a–e, wo die vier Erkenntnismittel und das jeweils zu erkennende ‚Seiende‘ (τῶν ὄντων ἕκαστον) in eine Reihe gebracht werden; dann erwähnt er – immer noch zitierend – den Anspruch, „den Gegenstand selbst und sein wahres Sein“ – also das, was der Brief ‚das Fünfte‘ (τὸ πέμπτον, 342 d2, e2) nennt – erkennend zu erfassen; der letzte Teil des Zitats und Kants Kommentar dazu lautet: T5

[...]; von welchem man gleichwohl nicht reden könne, weil man sofort seiner Unwissenheit überführt werden würde, am wenigsten zum Volk: weil jeder Versuch dieser Art schon gefährlich sein würde, teils dadurch, daß diese hohen Wahrheiten einer plumpen Verachtung ausgesetzt, teils [was hier das einzige Vernünftige ist], daß die Seele zu leeren Hoffnungen und zum eiteln Wahn der Kenntnis großer Geheimnisse gespannt werden dürfte.« Wer sieht hier nicht den Mystagogen, der nicht bloß für sich schwärmt, sondern zugleich Klubbist ist und, indem er zu seinen Adepten, im Gegensatz von dem Volke (worunter alle Uneingeweihete verstanden werden) spricht, mit seiner vorgeblichen Philosophie vornehm tut!8

Die Sprache Kants verrät deutlich, was ihm hier mißfällt. „Mißgünstigerweise“ verbergen die „Logen“ ihr „Geheimnis“ vor uns, der schwärmerische „Mystagoge“ ist zugleich „Klubbist“, hat also politische Absichten bei verschwörerischer Gesinnung, die ihn das Volk insgesamt als „uneingeweiht“ geringschätzen läßt, weswegen ein Sprechen zum Volk für ihn nicht in Frage kommt. Statt dessen wendet er sich an seine „Adepten“, je-

6 T 4: Der Namen der Philosophie ist, [...], in Nachfrage gekommen [...]. Die Logen alter und neuer Zeiten sind Adepten eines Geheimnisses durch Tradition, von welchem sie uns mißgünstigerweise nichts aussagen wollen (philosophus per initiationem). – Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796). In: Kants gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1, Bd. VIII. Berlin 1912, 387–406, hier: 387. 7 Ebd., 408. 8 Ebd., 408–409.

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doch nur, um vor ihnen „mit seiner vorgeblichen Philosophie vornehm (zu) tun“. Die Haltung, die Kant dem 7. Brief beilegt, ist also – in heutiger Sprache – undemokratisch, aufklärungsfeindlich und der Arbeit des Begriffs abhold. Den Brief selbst analysiert Kant nicht. So fragt er z. B. nicht, was die „Adepten“ (die den „Freunden“ Wittgensteins entsprechen) nach Ansicht des Autors vom „Volk“ unterscheidet, ob es nur die Vorbildung und die Intelligenz ist, oder ob noch etwas anderes in Frage kommen könnte. Auch mit den Motiven für philosophisches Zurückhalten ist Kant schnell fertig: Mißgunst und Eitelkeit („vornehm tun“) erklären alles. Bei solch knapper Exegese, oder besser: bei solchem Mangel an Exegese, ist es nicht verwunderlich, daß die Haltung des Briefes pauschal verworfen wird. Und ist die Haltung verworfen, so muß der Text selbst Platon abgesprochen werden, denn dieser ist für Kant „ohne seine Schuld“ zum „Vater aller Schwärmerei mit der Philosophie“ geworden.9 Ein großer Denker kann nun einmal nicht „Klubbist“ sein. Mit der Verwerfung der Haltung des 7. Briefes, noch bevor sie mit der Haltung der Dialoge verglichen worden wäre, und mit der aus diesem Urteil resultierenden Athetese hat Kant künftigen Generationen vorgegriffen. Doch ob „Klubbist“ wirklich die angemessene Charaktrisierung des Verfassers des 7. Briefes ist, muß angesichts der am originalen Text nicht ausgewiesenen Aburteilung offen bleiben.

3. Schleiermacher Gänzlich unpolitisch wirken wiederum – jedenfalls auf den ersten Blick – die Gedanken Friedrich Schleiermachers zu platonischer Esoterik. Doch dieser erste Eindruck könnte täuschen: es ist denkbar, daß Schleiermacher seine politische Tendenz dezent verschweigt – oder sollte sie ihm (qua Tendenz) gar nicht bewußt geworden sein? Auffällig ist jedenfalls, daß Schleiermachers Platonbild durchaus dem mit Kants Kritik des 7. Briefes implizit gegebenen Programm entspricht: „Plato der Briefsteller“ hatte Anstoß erregt – bei Schleiermacher wird der 7. Brief gar nicht erst erwähnt; eine radikale damnatio memoriae trifft den vermeintlichen „Klubbisten“, den Kant nicht mit „Plato dem Akademiker“ vermengen wollte. Und das Anstößige am „Klubbisten“ war, daß er nicht

9 Ebd., 407–408.

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zum Volk sprechen wollte – Schleiermacher entwirft eine Hermeneutik der Dialoge, derzufolge „es dem Platon fast mit Jedem gelingt“, sein Ziel zu erreichen (T 11). Ob es nun Kants Schrift von 1796 war, die auf Schleiermacher direkt wirkte, oder allgemein der Geist der europäischen Zivilisation um 1800 (der Schleiermacher gewiß nicht so „fremd und unsympathisch“ war wie Wittgenstein der Geist des 20. Jahrhunderts) sei dahingstellt. Unverkennbar ist jedoch, daß Schleiermacher einen modernen Platon bietet, mit dem der von der Französischen Revolution geprägte feinsinnige Romantiker sich leicht identifizieren mochte.10 Gegen Wilhelm Gottlieb Tennemann, der Platons Selbstbeschränkung in der Schrift und seine Sicht des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit aus den Texten heraus im wesentlichen korrekt interpretiert hatte,11 verspricht Schleiermacher eine „kritische Sichtung“ der Begriffe ‚esoterisch‘ und ‚exoterisch‘. T6

Denn jene Vorstellungen von einem esoterischen und exoterischen bedürfen einer kritischen Sichtung, indem sie zu verschiedenen Zeiten auch in ganz verschiedenen Bedeutungen vorkommen.12

Doch von kritischer Begriffsklärung ist bei dieser ‚Sichtung‘ nichts zu finden, sie bleibt in oberflächlicher Polemik stecken13 und bringt es noch nicht einmal zu einem korrekten Referat der von Tennemann aufgeführten Motive für Platons Esoterik.14 Das Seltsamste aber ist, das Schleiermacher ausgerechnet Aristoteles zum Zeugen des Fehlens einer mündlichen Philosophie Platons machen möchte: wo dieser sich auf andere Quellen als die Dialoge berufe, da komme nichts Neues zum Vorschein.

10 Daß Schleiermacher einen Platon für seine Zeit schuf, betonte (unter anderen Gesichtspunkten) schon Nietzsche, s.u. T 14. 11 Vgl. meinen Beitrag Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann. In: Antike und Abendland 43 (1997), 46–62. 12 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36, hier: 11. 13 Vgl. meine Kritik in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 364– 370. (Im Folgenden zitiert als PSP I.). 14 Vgl. Szlezák: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804, 58.

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T7

Vielmehr beruft er (sc. Aristoteles) sich überall ganz unbefangen und einfach auf die uns vorliegenden Schriften, und wo auch hie und da andere verlorene oder vielleicht mündliche Belehrungen angeführt werden, da enthalten diese Anführungen keineswegs etwas in unseren Schriften unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes.15

In Wirklichkeit finden sich in Aristoteles’ Metaphysik, Physik, De anima und an weiteren Stellen viele wichtige Angaben, die dem Leser der Dialoge „unerhört“ sind, u. a. Platons Bezeichnungen für seine beiden letzten Prinzipien, das Eine und die Unbestimmte Zweiheit, ferner die Art ihres Zusammenwirkens (fortschreitende Begrenzung des Unbegrenzten) und die Beschaffenheit der ersten Produkte der intelligiblen ‚Zeugung‘, nicht zu vergessen die ontologische Mittelstellung der mathematischen Gegenstände, und anderes mehr. Wer wie Schleiermacher die erhebliche Mehrinformation, die wir diesen Testimonien16 verdanken, nicht anerkennen will, erregt den Verdacht, entweder extrem befangen zu sein, oder aber die fraglichen Texte, die Tennenmann zitiert hatte, vielleicht gar nicht nachgelesen zu haben. Von unschätzbarem Wert ist hingegen Schleiermachers Einsicht in die Einheit von Form und Inhalt bei Platon: T8

[...] denn wenn irgendwo, so ist in ihr (sc. der Philosophie des Platon) Form und Inhalt unzertrennlich, und jeder Saz nur an seinem Orte und in den Verbindungen und Begränzungen, wie ihn Platon aufgestellt hat, recht zu verstehen.17

Dieser Satz ließe eigentlich vermuten, daß Schleiermacher sich nun daran machen würde, eine Morphologie des platonischen Dialogs zu erarbeiten, die die Form inhaltsbezogen erklären würde, und daß er die „Begränzungen“, mit denen Platon manche seiner Sätze und Argumentationsfolgen versah, vorführen und interpretieren würde. Mit letzterem hatte Tennemann einen Anfang gemacht, worin ihm Schleiermacher indes nur sehr

15 Schleiermacher: „Einleitung“, 13. 16 Zusammengestellt als „Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons“. In: Konrad Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], 441–557. 17 Schleiermacher: „Einleitung“, 14.

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zögerlich folgte.18 Jedenfalls erkannte er nicht, daß die von Platon immer wieder mit Bedacht an entscheidenden Wendepunkten seiner Werke angebrachten „Aussparungsstellen“ der wichtigste Typus einer platonischen „Begrenzung“ ist, und daß diese Stellen in ihrer Gesamtheit einen unüberhörbaren Verweis auf Platons Prinzipienlehre darstellen.19 Und statt der zu erwartenden Morphologie des Dialogs bringt Schleiermacher nur eine Liste von „Künsten“ der indirekten Mitteilung, d. h. von darstellerischen Kunstmitteln, mit denen Platon die Absicht verfolge, den Leser zu Schlußfolgerungen zu bringen, die er selbst mit Absicht nicht direkt ausspreche.20 Dieses Nichtaussprechen der eigentlich fälligen Folgerungen diene dem Zweck, „zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens“ anzuregen.21 Diese Zwecksetzung ist nun freilich keine andere als die des mündlichen Philosophierens, und Schleiermacher ist sich dessen auch bewußt. Er spricht es aus, daß nach seiner Überzeugung Platon mit den Dialogen T9

T 10

doch auch den noch nicht wissenden Leser wollte zum Wissen bringen,22 – obschon Platon der Schrift diese Fähigkeit in der ‚Schriftkritik‘ (Phaidros 275 ab, 276 c, 277 e–278 a) eindeutig abspricht – und daß Platon den Willen gehabt habe, die schriftliche der mündlichen Belehrung anzugleichen: Da nun ungeachtet dieser Klagen Platon von der ersten Männlichkeit an bis in das späteste Alter so vieles geschrieben hat: so ist offenbar, er muss gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung jener besseren so ähnlich zu machen als möglich, und es muss ihm damit auch gelungen sein.23

18 Vgl. Szlezák: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804, 58. 19 Zu den platonischen Aussparungsstellen vgl. PSP I, 303–325 u. passim, ferner: Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Stuttgart 1993, 92–105. 20 Zweimal zählt Schleiermacher diese „Künste“ auf: S. 16 und 30 seiner „Einleitung“. 21 Schleiermacher: „Einleitung“, 16. 22 Ebd., 16. 23 Ebd., 15.

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Die von Schleiermacher angenommene Angleichung des schriftlichen Dialogs an das mündliche Philosophieren erfolgt mittels der erwähnten „Künste“ oder Kunstmittel: T 11

Dieses ungefähr sind die Künste, durch welche es dem Platon fast mit Jedem gelingt, entweder das zu erreichen, was er wünscht, oder wenigstens das zu vermeiden, was er fürchtet.24

Da die „Künste“ aber offenbar nicht bei allen die volle Einsicht auslösen, bewirken sie eine Scheidung der Leser: T 12

Und so wäre dieses die einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen reden könnte, so nämlich, dass dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht.25

Man beachte, daß Schleiermacher damit die ihm unliebsame Esoterik nicht aus der Beschäftigung mit Platon verbannt hat. Er hat sie lediglich verinnerlicht, in den Rezeptionsvorgang hineinverlegt und zu einer „Beschaffenheit“ des Lesers gemacht. An die Stelle der platonischen bewußten und persönlichen Wahl des geeigneten Gesprächspartners (λαβὼν ψυχὴν προσήκουσαν, T 20) – einer Wahl, die nach Platon das Buch gerade nicht vornehmen kann (Phdr. 275 e1–3 (T 19), 276 a6–7) – setzte Schleiermacher aus typisch neuzeitlichem Geist heraus eben doch die Wittgensteinische automatische Scheidung der Leser in zwei Klassen durch das Buch selbst. Seine Position kann daher korrekt nur als „textimmanente“ oder „hermeneutische Esoterik“ bezeichnet werden. Die „persönliche Esoterik“, d. h. die unverkürzte Mitteilung der philosophischen Einsichten nur im mündlichen Gespräch, tastet Schleiermacher nicht an:

24 Ebd., 16. 25 Ebd., 16–17.

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T 13

[...] oder soll es doch auf den Platon selbst bezogen werden, so kann man sagen, das unmittelbare Lehren sei allein sein esoterisches Handeln gewesen, das Schreiben aber nur sein exoterisches. Denn bei jenem konnte er allerdings, wenn er erst hinlänglich gewiss war, die Hörer seien ihm nach Wunsch gefolgt, auch seine Gedanken rein und vollständig aussprechen, [...]26

So bestehen bei Schleiermacher ‚hermeneutische‘ und ‚persönliche‘ Esoterik noch scheinbar friedlich nebeneinander. Doch insofern die platonwidrige „automatische“ Wahl des geeigneten Rezipienten durch die Schrift die Tendenz hat, die ‚persönliche‘ Esoterik überflüssig zu machen – die Annahme ist ja, daß sich alles, und gerade das Wichtigste, im Modus der indirekten Mitteilung zwischen den Zeilen sagen läßt – hat doch die typisch moderne Abneigung gegen jede Limitierung der philosophischen Wissensvermittlung obsiegt.

4. Nietzsche Schleiermachers textimmanente Esoterik wurde zur dominierenden Platonhermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie hat auch den angelsächsischen Bereich erobert und bildet die Grundlage aller dort gepflegten Varianten der Platonexegese, auch wenn viele Interpreten von diesem ihrem historischen Ursprung nicht wissen oder wissen wollen.27 Die einzige wirkliche Alternative zu dieser Position bildet bis heute die 1959 von Hans Joachim Krämer in seinem Werk Arete bei Platon und Aristoteles begründete, von Konrad Gaiser 1963 in Platons ungeschriebene Lehre fortgeführte und von G. Reale seit 1984 unterstützte sog. ‚Tübinger Schule‘ bzw. ‚Scuola di Tubinga-Milano‘. Italien ist inzwischen aber längst nicht mehr das einzige Land, in dem die Akzeptanz dieser Richtung rapide zunimmt. Vor Krämers Vorstoß war die wichtigste Gegenposition gegen den auf Schleiermacher zurückgehenden mainstream die positive Einschätzung der aristotelischen Berichte über Platons ungeschriebene Philosophie bei Inter-

26 Ebd., 17. 27 Ein paar vorläufige Hinweise zum nachhaltigen Einfluß Schleiermachers auf die englische und amerikanische Platonforschung habe ich (gegen D. Frede, die diesen Einfluß herunterspielen wollte) zusammengestellt in: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804, 61–62.

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preten wie L. Robin, J. Stenzel, H. Gomperz, P. Wilpert, Cornelia de Vogel und Sir David Ross.28 Lange vor diesen Gelehrten hatte ein Philosoph und Philologe von Rang Schleiermachers platonische Hermeneutik einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Daß Nietzsches Argumente zunächst unbekannt blieben, ist nicht verwunderlich: was er in Platon-Vorlesungen zwischen 1871 und 1876 vortrug, wurde erst mit seinen Philologica 1913 veröffentlicht.29 Daß sie auch danach so gut wie unbeachtet blieben, war nicht von Vorteil für das Platonverständnis. Mit der ihm eigenen Schonungslosigkeit benennt Nietzsche des Kaisers neue Kleider. Schleiermachers ‚moderner‘ Platon für das 19. Jh. ist zeitbedingt, „nur in einem litterarischen Zeitalter möglich“. Doch ist es eine „falsche Interpretation“, die zu diesem Ansatz führte. Schleiermacher verkannte die Rolle, die Platon der Schrift zugedacht hat, weil er die Existenz der Akademie nicht bedachte.

28 Léon Robin: La théorie platonicienne des Idees et des Nombres d’après Aristote. Paris 1908 [Nachdruck Hildesheim 1963]; Julius Stenzel: Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Leipzig/Berlin 21933 [1924]; Heinrich Gomperz: Platons philosophisches System. In: Proceedings of the Seventh International Congress of Philosophy. Hg. v. G. Ryle. London 1931, 426–431; Paul Wilpert: Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre. Regensburg 1949; Cornelia J. de Vogel: La dernière phase du Platonisme et l’interprétation de M. Robin (1948). In: dies.: Philosophia I. Assen 1970, 243–255; William D. Ross: Plato’s Theory of Ideas. Oxford 1951; Henri Dominique Saffrey: Le Περι φιλοσοφιας d’Aristote et la théorie platonicienne des Idées Nombres. Leiden 21971. 29 Friedrich Nietzsche: Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge. In: ders.: Werke, Band XIX, Dritte Abteilung: Philologica, Band III: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie. Hg. v. Otto Crusius u. Wilhelm Nestle. Leipzig 1913, 235–304.

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T 14

Die ganze Hypothese (sc. Schleiermachers) steht im Widerspruch zu der Erklärung im Phädrus und ist durch eine falsche Interpretation befürwortet. Plato sagt, nur für den Wissenden als Erinnerungsmittel habe die Schrift ihre Bedeutung. Deshalb solle die vollkommenste Schrift die mündliche Form der Belehrung nachahmen: um also zu erinnern, wie der Wissende wissend geworden ist. „Ein Schatz von Erinnerungsmitteln für sich und seine philosophischen Genossen“ soll die Schrift sein. Nach Schleiermacher soll sie das zweitbeste Mittel, den nicht Wissenden zum Wissen zu bringen, sein. Die Totalität habe also einen eigenen gemeinsamen Lehrund Erziehungszweck. Aber nach Plato hat die Schrift überhaupt nicht einen Lehr- und Erziehungszweck, sondern nur einen Erinnerungszweck für den bereits Erzogenen und Belehrten. Die Erklärung der Phädrusstelle setzt die Existenz der Akademie voraus, die Schriften sind Erinnerungsmittel für die Mitglieder der Akademie. [...] Die Hypothese Schleiermachers ist nur in einem litterarischen Zeitalter möglich. Während Tennemann in Plato den akademischen Professor mit dem System erkennt, sieht Schleiermacher in ihm den litterarischen Lehrer, der ein ideales Publikum von Lesenden hat und diese methodisch erziehen will: etwa wie er sich in den Reden über die Religion an die Gebildeten wendet.30

Dem klarsichtigen Kritiker Nietzsche entgeht es nicht, daß Schleiermacher Platon zu seinesgleichen macht, weil er unhistorisch denkt und im besonderen die „Existenz der Akademie“, und das heißt die historische Realität der mündlichen Lehre, nicht angemessen berücksichtigt. Ganz Philologe, legt er den Finger auf den wunden Punkt von Schleiermachers Konzeption: die von diesem angenommene Funktion der Schrift, „den nicht Wissenden zum Wissen zu bringen“, steht „im Widerspruch“ zum Text. Ohne diese Annahme hätte aber die Hermeneutik der textimmanenten Esoterik nie die Chance gehabt, im Bewußtsein der Exegeten an die Stelle der platonischen ‚persönlichen‘ Esoterik zu treten. Man darf die Vermutung wagen: wären Argumente wie die von Nietzsche vorgebrachten bald nach Schleiermachers „Einleitung“ publik geworden, sie hätten den Siegeslauf seiner Position wohl verhindert.

30 Ebd., 239–240 u. 241.

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5. Hegel Doch zu Lebzeiten erhielt Schleiermacher Unterstützung von einem der meistgelesenen Philosophen der Zeit. Hegel schloß sich seinem Kampf gegen Tennemann an, erklärte dessen Vorstellung von Esoterik für „einfältig“ und „oberflächlich“. T 15

Eine andere Schwierigkeit soll die sein: man unterscheidet exoterische und esoterische Philosophie. Tennemann sagt (Bd. II, S. 220): „Platon bediente sich desselben Rechts, welches jedem Denker zusteht, von seinen Entdeckungen nur so viel, als er für gut fand, und denen mitzuteilen, welchen er Empfänglichkeit zutraute. Auch Aristoteles hatte eine esoterische und exoterische Philosophie, nur mit dem Unterschiede, daß bei diesem der Unterschied bloß formal, bei Platon hingegen auch zugleich material war.“ Wie einfältig! Das sieht aus, als sei der Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie der äußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganz etwas anderes. Die philosophische Idee besitzt umgekehrt den Menschen. Wenn Philosophen sich über philosophische Gegenstände explizieren, so müssen sie sich nach ihren Ideen richten; sie können sie nicht in der Tasche behalten. Spricht man auch mit einigen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten, wenn die Sache nur Inhalt hat. Zur Mitteilung, Übergabe einer äußerlichen Sache gehört nicht viel, aber zur Mitteilung der Idee gehört Geschicklichkeit. Sie bleibt immer etwas Esoterisches; man hat also nicht bloß das Exoterische der Philosophen. Das sind oberflächliche Vorstellungen.31

Es ist befremdlich zu sehen, daß ein Autor, der in einer Zeit der Zensur lebte, ein „in-der-Tasche-Behalten“ von Ideen aus prinzipiellen Gründen ausschließen möchte. Man gewinnt den Eindruck, daß Hegels eigene Metapher von der ‚Tasche‘ – eine räumliche Metapher – sein Denken behindert: welchen Sinn soll es haben, die „Mitteilung der Idee“ mit der „Übergabe einer äußerlichen Sache“ zu vergleichen, statt etwa mit der Mitteilung religiösen oder politischen (z. B. konspirativen) Wissens? Daß es bei solchem Mitteilen die Möglichkeit des Zurückhaltens gibt und geben

31 Georg Wilhlem Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Frankfurt a. M. 1971 (Theorie-Werkausgabe, Bd. 19), 21–22. Das Zitat bei Hegel stammt aus Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie. Band II. Leipzig 1799, 220.

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muß, war wohl auch für Hegel selbst unstreitig. Wenn aber politisch oder religiös Verfolgte bewußt unvollständige Darstellungen von ihren Glaubensüberzeugungen und Zielsetzungen geben können, warum dann nicht auch der Philosoph von seinen Denkwegen? Ist der religiöse Mensch weniger Besitz seiner Ideen als der philosophische? Die Entlarvung der Tennemannschen Vorstellungen als „oberflächlich“ scheint selbst nicht gerade zum Profundesten bei Hegel zu gehören. Was bei Schleiermacher die Esoterik als „Beschaffenheit des Lesers“ war, formuliert Hegel folgendermaßen: T 16

Das Esoterische ist das Spekulative, das geschrieben und gedruckt ist und doch ein Verborgenes bleibt für die, die nicht das Interesse haben, sich anzustrengen.32

Der Unterschied zwischen den kompetenten Rezipienten und den verständnislosen ist hier geschrumpft auf den Willen bzw. Mangel des Willens zur Anstrengung. Vielleicht ist es noch im Sinne Hegels, wenn wir frei ergänzen: Anstrengung und Intelligenz befähigen zum Erfassen des „Spekulativen“. Wenn aber mehr und Besonderes verlangt wäre für das Verstehen des Spekulativen, so müßte Hegel es hier sagen. Während Platon nach Schleiermacher sein Ziel „fast mit Jedem“ erreichte (T 11), gelingt es nach Hegel mit jedem, der (Intelligenz und) Fleiß mitbringt. Wittgenstein stellt spezifischere Anforderungen an die „Freunde“: oben T 1. Im Gegensatz zu Schleiermacher hält Hegel die dialogische Darstellungsform nicht für die ideale.33 Seine Versicherung: „in seinen mündlichen Reden verfuhr er (sc. Platon) auch systematisch“34 deckt sich mit Schleiermachers Überzeugung, in der mündlichen Lehre habe Platon „seine Gedanken rein und vollständig aussprechen“ können (T 13). Hegel geht einen Schritt weiter, indem er die systematische oder ‚dogmatische‘ schriftliche Darstellung Platon selbst zuschreibt:

32 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 76–77. 33 Ebd., 20 und 24. Vgl. hierzu meinen Beitrag: Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“. In: Hegel e Platone. Atti del Convegno di Cagliari (20.–23. Aprile 1998). Hg. v. Giancarlo Movia. Cagliari 2002, 39–76 und 77–115. 34 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 69.

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T 17

Hätten wir noch das rein philosophische (dogmatische) Werk Platons, worüber Brandis geschrieben hat, das unter dem Titel Von der Philosophie oder Von den Ideen von Aristoteles zitiert wird und er vor sich gehabt zu haben scheint, wenn er die Platonische Philosophie beschreibt, von ihr spricht, so würden wir dann seine Philosophie in einfacherer Gestalt vor uns haben.35

In seiner Polemik gegen Tennemann (T 15) macht Hegel ein überraschendes Zugeständnis: „Spricht man auch mit einigen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten, wenn die Sache nur Inhalt hat“. Es gibt also doch unterschiedliche Arten des Sprechens, auch für den Philosophen. Unwillkürlich fragt man weiter: wer sind die „einigen“, zu denen etwa Hegel selbst „äußerlich“ sprechen könnte, wie sähe solch „äußerliches Sprechen“ aus, und vor allem: in welcher Weise wäre die Idee dennoch darin enthalten? Hegel unterließ nicht nur eigene Erklärungen hierzu, er verzichtete auch darauf, diese Fragen an Platon, dessen Haltung er doch klären möchte, zu stellen. Letzteres können wir jedoch versuchen nachzuholen. Und da zeigt sich in der Tat Erstaunliches. Platon zeigt uns in der dramatischen Mimesis seiner Dialoge den Philosophen immer wieder damit beschäftigt, „mit einigen äußerlich zu sprechen“, und das in verschiedenen Weisen. Hegel behält dabei insofern recht, als in allen Fällen „die Idee darin enthalten“ ist. Aber hier wird die Frage erst interessant: wie und in welchem Grad ist sie „enthalten“? Wenn Sokrates den Gesprächspartner im Kreis herumführt,36 obwohl ihm die Lösung zur Verfügung steht, so spricht er offenbar „äußerlich“ mit ihm, d. h. er verzichtet darauf, ihm den inneren Kern der Sache klarzumachen. Denn daß die Aporien der frühen Dialoge für den Gesprächsführer gar keine Aporien sind, ist eine gut begründete und mittlerweile allgemein akzeptierte Ansicht. Oder wenn Sokrates in der Politeia erklärt, er habe sehr wohl eine Ansicht über das Wesen (das τί ἐστιν) des Guten, doch sei es nicht aussichtsreich, sie hier und jetzt zu erörtern, weswegen er statt dessen nur ein Gleichnis über das Gute vortragen wolle (506 ef.), wobei notwendig vieles wegbleiben müsse (509 c5–10), so spricht er auch hier offen35 Ebd., 21. Hegel betrachtet die beiden verlorenen aristotelischen Werke als ein und dieselbe Schrift, die Platon selbst verfaßt habe. Der Verweis auf „Brandis“ meint Christian August Brandis: Diatribe academica de perditis Aristotelis libris de ideis et de bono sive philosophia. Bonn 1823. 36 Euthyphron 11 bc, 15 b. Vgl. hierzu meine Interpretation in PSP I, 112ff., 186f.

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bar nur „äußerlich“ – nicht ohne klarzumachen, daß er auch anders über das Thema handeln könnte.37 Oder wenn der Gesprächsführer der Nomoi, der anonyme „Athener“, zu seinen philosophisch nicht geschulten dorischen Freunden in so vagen Umschreibungen von der politischen Bildung der künftigen Staatslenker spricht, daß man bezweifeln konnte, ob Platon hier überhaupt noch die Ideenlehre „vertrete“,38 so liegt das eben daran, daß auch die letzte platonische Dialektikerfigur über viele Dinge bewußt „äußerlich“ redet. Singulär aufschlußreich ist ferner der Dialog Euthydemos, in dem Sokrates einzelne Brocken aus der Anamnesis und Ideenlehre sowie aus der Theorie der Dialektik einstreut, die aus dem Gang des Gesprächs nicht zu verstehen sind, gleichzeitig aber die philosophisch harmlosen Gesprächspartner beschuldigt, sie hätten weiterführende Einsichten bereit, die sie nur mißgünstigerweise nicht herausrücken wollten – die Ironie liegt darin, daß Sokrates den Partnern genau das vorwirft, was er selbst betreibt.39 An all diesen Stellen ist die „Idee“, d. h. der spezifisch platonische Inhalt, in der Weise im äußerlichen Sprechen der jeweiligen Dialektikerfigur enthalten, daß nur der sie erkennen kann, der sie aus anderen (platonischen) Quellen kennt. In keinem Fall wäre es möglich, das Gemeinte allein aus dem Wortlaut des betreffenden Passus zu rekonstruieren. Die Schleiermachersche textimmanente Esoterik versagt hier, denn diese Stellen wollen nur erinnern, nicht den nicht Wissenden zum Wissen bringen.

6. Platon Ausgehend von Hegels Bemerkungen über das „äußerliche“ Sprechen, sind wir nun zu einem von Hegel eigentlich nicht zugelassenen Ergebnis gekommen: der platonische Dialektiker kann sehr wohl seine Ideen „in der Tasche behalten“, und er tut es oft und macht dazu noch klar, daß er es tut. Das eben ist der Sinn der von Schleiermacher nur halb verstandenen, von Hegel nicht beachteten Aussparungsstellen.40

37 Zu den Aussparungsstellen der Politeia vgl. ebd., 303–325. 38 Nomoi 965 c d. Zur Diskussion über die Ideenlehre in diesem Dialog vgl. William Keith Chambers Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. V. Cambridge 1978, 378–381. 39 Zur Interpretation des Euthydemos vgl. PSP I, 49–65. 40 Vgl. Szlezák: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804, 58 zu Schleiermachers sowie den oben Anm. 33 genannten Beitrag zu Hegels (Nicht-)Behandlung der Aussparungsstellen.

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Dies Ergebnis war freilich zu erwarten für den, der nicht bereit ist, bestimmte Züge in Platons Bild von philosophischer Kommunikation und vom Philosophen auszublenden, nur weil sie der Moderne fremd geworden sind und so von der Mehrheit der Interpreten ignoriert oder bagatellisiert werden. Relevant für unser Thema sind u. a. folgende Punkte: 1. Zu den Eigenschaften, die Platon vom philosophos verlangt, zählen nicht nur intellektuelle Vorzüge, sondern vor allem auch charakterliche (Politeia 485 b–487 a). Philosophie ist eine Lebensweise, mithin nicht ethisch indifferent, wie es intellektuelle Höchstleistungen in Spezialdisziplinen sind. Philosophie verlangt eine „Umwendung“ der ganzen Seele (Politeia 518 c d, 521 c 6). 2. Zur Ideenerkenntnis gelangt nur der innerlich „mit der Sache Verwandte“ (der συγγενὴς τοῦ πράγματος, Epist. 7, 344 a2–3 (T 18)).41 Der Erwerb solcher Erkenntnis nimmt viel Zeit in Anspruch (μετὰ χρόνου πολλοῦ, 344 b3 – vgl. den Zeitplan der philosophischen Studien Politeia 537 bff.), dem Aufleuchten der Erkenntnis gehen neidloses Fragen und wohlwollendes Widerlegen vorauf (Epist. 344 b5–6): die menschliche Atmosphäre ist entscheidend für den Erfolg. Der Partner im philosophischen Gespräch muß Wohlwollen mitbringen und φίλος, ‚Freund‘ sein (Gorgias 487 a3, e5). 3. Dementsprechend gibt es Menschen, die die Sache der Philosophie ‚nichts angeht‘ (οὐδὲν προσήκει, Phdr. 275 e2 (T 19)). 42 Da diese die Mehrheit stellen (Politeia 494 a4 u. ö., Epist. 7, 343 e3), muß der Dialektiker die

41 T 18 Epist. 7, 344 a2-6 (Übers. nach D. Kurz 1980): Mit einem Wort: Wer der Sache nicht artverwandt ist, den kann weder Lernfähigkeit noch gutes Gedächtnis jemals dazu machen (denn bei fremdartigen Haltungen entsteht sie [sc. die ›Verwandtschaft zur Sache‹] gar nicht erst). Daher können alle, die dem Gerechten und dem, was sonst schön ist, nicht von Natur zuneigen und ihm artverwandt sind [...] ἑνὶ δὲ λόγῳ, τὸν μὴ συγγενῆ τοῦ πϱάγματος οὔτ’ ἂν εὐμάθεια ποιήσειέν ποτε οὔτε μνήμη - τήν ἀϱχὴν γὰϱ ἐν ἀλλοτϱίαις ἕξεσιν οὐϰ ἐγγίγνεται – ὥστε ὁπόσοι τῶν δικαίων τε ϰαί τῶν ἄλλων ὅσα ϰαλά μή πϱοσφυείς εἰσιν ϰαί συγγενείς... 42 Τ 19 Phaidros 275 d4–e5 (Übers. nach R. Rufener 1991): Denn dieses Mißliche, Phaidros, hat eben die Schrift an sich und ist darin in Wahrheit der Malerei ähnlich. Auch deren Erzeugnisse stehen ja da wie lebendige Wesen; wenn du sie aber etwas fragst, dann schweigen sie sehr erhaben still. Genau so die Reden: du könntest meinen, sie verständen etwas von dem, was sie sagen. Willst du aber über das Gesagte noch etwas erfahren und stellst ihnen eine Frage, so sagen sie immer nur ein und dasselbe aus. Ist sie aber einmal geschrieben, so treibt sich eine Rede überall umher, bei denen, die sie verstehen, ganz ebenso wie bei denen, die sie nichts angeht, und sie weiß nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Wird

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(seltene) ‚geeignete Seele‘ selbst suchen und ins Gespräch einbeziehen (λαβὼν ψυχὴν προσήκουσαν, Phdr. 276 e6 = T 20).43 4. Die Schrift ist unfähig, „die Wahrheit hinreichend zu lehren“ (ἱκανῶς τἀληθῆ διδάξαι, Phdr. 276 c9), denn sie kann auf neue Fragen keine neue Antworten geben, kann sich gegen Angriffe nicht verteidigen und versteht sich nicht darauf, zu reden und zu schweigen zu denen man reden oder schweigen soll (Phdr. 275 d4–e5 = T 19, vgl. 276 a6–7). 5. Der Philosoph wird die höchsten Objekte seiner Erkenntnis, da sie göttlicher Natur sind (Politeia 500 c9), mit Ehrfurcht behandeln (σέβεσθαι) – Profanierung (ἐκβάλλειν) wäre ein schwerer Fehler (Epist 7, 344 d7–8). 6. Die Konsequenz aus all dem ist, daß der Philosoph nötigenfalls – d. h. wenn es den Rezipienten an Eignung fehlt – auch schweigen wird. Er ist dazu, im Gegensatz zur Schrift, fähig (ἐπιστήμων λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, Phdr. 276 a6–7). 7. Doch selbst vor Geeigneten ist die erforderliche lange Zeit der Vorbereitung nicht zu überspringen: dies lehrt der Zeitplan für die Ausbildung der Philosophen in der Politeia, der vor dem Aufstieg zum Gipfel der Dialektik eine lange Reihe von Phasen der Ausbildung und der Bewährung vorsieht. Es gibt Dinge, die, vorzeitig mitgeteilt, nichts vom Gemeinten klarmachen würden und deswegen nicht mitgeteilt werden sollen. Platon nennt sie ἀπρόρρητα (T 21).44 Dies Wort ἀπρόρρητα ist die genuin platonische Bezeichnung für jenes Esoterische, das der Philosoph nicht in die Schrift bringen wird. Denn die Schrift kann nun einmal die hierfür not-

sie aber beleidigt und ungerecht geschmäht, so bedarf sie stets der Hilfe ihres Vaters. Denn allein vermag sie sich nicht zu wehren noch sich zu helfen. ΣΩ. Δεινὸν γάϱ που, ὦ Φαῖδϱε, τοῦτ’ ἔχει γϱαφή, ϰαί ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγϱαφίᾳ. ϰαὶ γὰϱ τὰ ἐϰείνης ἔκγονα ἕστηϰε μὲν ὡς ζῶντα, ἐὰν δ’ ἀνέϱῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. ταὐτὸν δὲ ϰαὶ οἱ λόγοι· δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φϱονοῦντας αὐτοὺς λέγειν, ἐὰν δέ τι ἔϱῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἓν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. ὅταν δὲ ἅπαξ γϱαφῇ, ϰυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παϱὰ τοῖς ἐπῒουσιν, ὡς δ’ αὕτως παϱ’ οἷς οὐδὲν πϱοσήϰει, ϰαὶ οὐϰ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε ϰαὶ μή. πλημμελούμενος δὲ ϰαὶ οὐϰ ἐν δίϰῃ λοιδοϱηθεὶς τοῦ πατϱὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ· αὐτὸς γάϱ οὔτ' ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ. 43 Τ 20 Phaidros 276 e5~6 (Übers, nach R. Rufener 1991): […] wenn sich jemand eine geeignete Seele auswählt und dann, mit Hilfe der dialektischen Kunst, in ihr Reden pflanzt […] ὅταν τις τῇ διαλεϰτιϰῇ τέχνῃ χϱώμενος, λαβὼν ψυχὴν πϱοσήϰουσαν, ϕυτεύῃ … λόγους … 44 Τ 21 Nomoi 968 e2-5 (Übers, nach O. Apelt 1916; ND 1988): So ist denn bei richtiger Darstellung des Sachverhalts alles hierher Gehörige zwar nicht als etwas überhaupt Unaussprechliches, wohl aber als etwas zu bezeichnen, das nicht ihm

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wendige Vorbereitung nicht leisten: das kann nur das persönliche philosophische Gespräch. Wir sehen nun die zwei Fehler des modernen Anti-Esoterimus: mit Schleiermacher (T 9–12) glaubt man, daß die Schrift die Aufgabe und die Kraft habe, originäre Einsicht zu erzeugen – nach Platon soll sie nur an schon Gewußtes erinnern. Zudem meint man, daß Eignung zur Philosophie allein eine Frage der intellektuellen Leistung ist (vgl. Hegel T 16) – Platons Konzeption der Philosophie als Lebensform ist hierbei vergessen. Die beiden Fehler hängen zusammen: setze ich auf eine Hermeneutik, die das Ergänzen des direkt nicht Ausgesprochenen durch intelligentes Lesen für das Entscheidende erklärt – akzeptiere ich also die Schleiermachersche textimmanente Esoterik –, so habe ich jeden Intelligenten für philosophisch geeignet erklärt und so die platonische Esoterik, die auf persönlicher Auswahl (ἐκλογή) der intellektuell und charakterlich Geeigneten und auf persönlicher Belehrung (διδαχή) beruht, schon abgeschrieben. Ob ich sie dann noch in einem reinen Lippenbekenntnis anerkenne, wie Schleiermacher es in T 13 tut, oder nicht, ist dann schon gleichgültig. Wenn alles in die Schrift gelangt, und sei es nur in der Form der indirekten Mitteilung, so kann es wirkliche ἀπρόρρητα nicht mehr geben. Platon war der Geist des 4. Jahrhunderts v. Chr. ebenso „fremd und unsympathisch“ wie Wittgenstein der Geist des 20. Jahrhunderts. Auch er schrieb für „Freunde“, denn auch er wußte, daß die entscheidenden Einsichten mehr als nur Intelligenz verlangen. Doch anders als Wittgenstein (und Schleiermacher) glaubte er nicht an die „automatische“ Scheidung der Leserschaft durch das Buch selbst (T 19).45 Und anders als Hegel (T 15) hielt er das Zurückhalten von Ideen für möglich, Schweigen unter Umständen für geboten. Daß er aber an den Aussparungsstellen klar sagt, daß es noch mehr und Schwierigeres gibt in seiner Philosophie – daß er also laut verkündet, daß ein ‚Schloß‘ an der ‚Türe‘ eines ‚Zimmers‘ hängt, in das die Unvorbereiteten nicht hineingehen sollen –, das verstößt keineswegs gegen den Wittgensteinschen „ Anstand“ (T 3), denn Platon redet nicht deshalb so „äußerlich“ (Hegel, T 15) von seiner Prinzipientheorie, weil er bewundert werden möchte, auch nicht, weil er „Klubbist“ wäre

Voraus schon ausgesprochen werden kann, weil, wenn es im Voraus ausgesprochen wird, das Gesagte unklar bleibt. οὕτω δὴ πάντα τὰ πεϱὶ ταῦτα ἀπόϱϱητα μὲν λεχθέντα οὐϰ ἂν ὀϱθῶς λέγοιτο, ἀπϱόϱϱητα δὲ διὰ τὸ μηδὲν πϱοϱϱηθέντα δηλοῦν τῶν λεγομένων. 45 Könnte die Schrift dies leisten, so wäre sie auch „fähig, die Wahrheit hinreichend zu lehren“ (δυνατὴ ἱκανῶς τἀληθῆ διδάξαι, vgl. Phdr. 276 c9). So naiv dachte indes nur die Neuzeit, nicht Platon.

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(Kant, T 5), sondern erstens aus Respekt für die Sache selbst und zweitens weil es – ganz wie Wittgenstein selbst es formulierte (T 3) – „keinen Sinn (hat) jemandem etwas zu sagen, was er nicht versteht“. Zugleich setzt er auf eine werbende (‚protreptische‘) Wirkung seines „äußerlichen“ Sprechens von den innersten Bereichen seiner Philosophie. Die Suche nach einer ‚geeigneten Seele‘ wurde für ihn so zu einer Hauptaufgabe – die Dialoge schildern das in immer neuen Variationen. Die Geeigneten sind in langer persönlicher συνουσία, in langem ουζῆν, zum Zielpunkt der Dialektik hinzuführen. Das Voraussetzungsreichste aller Erkenntnis, die Theorie der Prinzipien,46 braucht die längste Vorbereitung, ist ein wirkliches ἀπρόρρητον. Ob man mit solchem Nicht-vorzeitig-Mitzuteilendem rechnet oder nicht, macht den Unterschied zwischen platonischer Esoterik und neuzeitlicher Antiesoterik aus.

46 Der Gegenstand dieser Erkenntnis ist das Vorraussetzungslose (vgl. Politeia 511 b6–7 ... ἵνα μέχρι τοῦ ἀνυποθέτου ἐπὶ τὴν τοῦ παντὸς ἀρχὴν ἰών…). Doch wird Platon nicht müde, Zahl und Schwierigkeit der Voraussetzungen zu betonen, die zu erfüllen sind, bevor man dahin gelangt.

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13. Dialogform und Esoterik: Zur Deutung des platonischen Dialogs Phaidros (1978)*

Dialog Phaidros galt von jeher als eines der schwierigsten Werke in einem schwierigen Gesamtwerk. Die seit alters tradierten Probleme, mit denen philologische wie philosophische Interpreten sich immer wieder zu befassen hatten, betrafen so wesentliche Aspekte wie die Datierung und die Einheit des Dialogs und die Vereinbarkeit der hier enfalteten metaphysischen Psychologie mit verwandten Darlegungen in anderen Dialogen. So wichtig und schwierig diese Fragen auch sind, nicht sie haben dem Phaidros seine heutige Aktualität verschafft; seine Auslegung ist aufgerückt in den Bereich der Aufgaben von prinzipieller Bedeutung für die Platonforschung. Es gibt kaum noch ein neueres Buch über Platon, das nicht schon in der Einleitung eine ausführliche Interpretation zum Phaidros enthielte. Dieses neue Interesse entzündet sich an der Frage, wie wir zu authentischen Anleitungen für den Umgang mit den platonischen Dialogen gelangen könnten, und man orientiert sich hierfür an den Ausführungen über den Wert des Schreibens, über Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Schlussteil des Phaidros. Nur um diesen Abschnitt geht es daher in den erwähnten, fast schon obligatorisch gewordenen Einleitungen. Von hier aus sollen auch unsere Überlegungen zumindest ihren Ausgang nehmen: auch das Folgende will mithin im Rahmen von Prolegoena zur Platonlektüre gesehen werden. Die relativ neue Sitte, mit dem Phaidros zu beginnen, hat freilich eine Vorgeschichte. Das Vorbild bietet das Werk, das am Anfang der modernen geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Platon steht: Friedrich Schleiermachers „Einleitung“ zu seiner Platonübersetzung vom Jahr 1804. Diese 30 Seiten sind bis heute die einflussreichste Einzelabhandlung der Platonforschung geblieben: ihnen verdanken wir die Entdeckung der Dialogform, d. h. die Erkenntnis, dass die dialogische Form nicht „nur eine ziemlich unnüze mehr verwirrende als aufklärende Umgebung der ganz gemeinen Art seine Gedanken darzulegen“ ist, dass also Form und Inhalt,

* Antrittsrede als Privatdozent an der Universität Zürich, gehalten am 20. 12. 1976. – Der Text der Vorlesung wurde so gut wie unverändert gelassen; die Fußnoten beschränken sich im Hinblick auf die in Anm. 8 und 15 genannte Studie auf ein Minimum.

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wie Schleiermacher sagt, „unzertrennlich“ sind, die Form für den Inhalt „notwendig“. Die Gesetze der „ächt platonischen Form“ leitet Schleiermacher direkt aus dem Schlussteil des Phaidros ab, er betrachtet sie als „eine natürliche Folge von Platons Gedanken über die philosophische Mitteilung“. Seine Auslegung der Gedanken über Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf die Dialogform hin ermöglichte es Schleiermacher, gegen die damals von Wilhelm Gottlieb Tennemann vertretene Interpretation Einspruch zu erheben, derzufolge dem Phaidros zu entnehmen ist, dass der wahre Philosoph seine wichtigsten Ansichten nicht zu Papier bringen wird, sondern nur mit philosophischen Freunden erörtern wird.1 Hierin besteht die erste Gemeinsamkeit zwischen Schleiermachers „Einleitung“ und ihren modernen Gegenstücken: die Frontstellung gegen die sogenannte esoterische Platonauslegung, die ja, wie man weiß, vor etwa anderthalb Jahrzehnten wieder belebt wurde, was über die Grenzen der Platonforschung hinaus nicht geringes Aufsehen erregte. In Schleiermachers Augen stellt sich der Unterschied der eigenen Auffassung zu derjenigen Tennemanns folgendermaßen dar: „Und so wäre dieses die einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen reden könnte, so nämlich, dass dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht“.2 Der Kantianer Tennemann siedelte Esoterik im objektiven Bereich der Historie an: er glaubte an eine willentliche Entscheidung Platons zugunsten bestimmter Individuen und gegen andere, die er für Philosophie nicht geeignet hielt. Dem romantischen Denker Schleiermacher ist das gleichsam zu krude, zu ‚äußerlich‘. Er weiß zwar von einer „weit verbreiteten Überlieferung, die sich aus dem Altertum erhalten hat von einem esoterischen und exoterischen in der Philosophie“,3 aber er hält sich nicht dabei auf, prüft sie nicht. Er verlagert Esoterik in den Bereich des subjektiven Verstehensvollzugs, macht sie zu einer „Beschaffenheit des Lesers“. Was er fordert, ist sozusagen esoterisches Lesen der Dialoge. Der Leser, der das Geheimnis der Dialogform erfasst, legitimiert sich damit selbst als den wahren Esoteriker, als den eigentlichen Adressaten der verhüllenden Darstellungsweise Platons, und entlarvt zu-

1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36. Zitate 10. 14. 29; Berufung auf den Phaidros 14f.; Polemik gegen Tennemann (der nicht mit Namen genannt wird) 10ff. 2 Schleiermacher: „Einleitung“, 16f. 3 Ebd., 10.

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gleich diejenigen, die ihm nicht folgen können oder wollen, als die Profanen, denen Platon eben nur die Fassade der Dialoge zugedacht habe. Das Bestreben, die ‚innere‘ Esoterik der Dialogform gegen die ‚äußere‘ der Überlieferung zu setzen, ist seit Schleiermacher unverändert erhalten geblieben. Daneben fällt als zweite Gemeinsamkeit auf die Beschränkung auf den Schlussteil des Phaidros. Man könnte einwenden, das liege ganz einfach daran, dass eben nur die letzten acht Seiten dem Problem von Schriftlichkeit und Mündlichkeit gewidmet sind. Indes ist es gerade nach Schleiermacher eine Vorbedingung der Dekodierung der verschlüsselten philosophischen Mitteilung, dass man jeden Dialog als Ganzes betrachte.4 Es ist demnach etwas befremdlich, dass sowohl seine „Einleitung“ als auch ihre heutigen Entsprechungen den Versuch unterlassen, ihren Haupttext für das genuin platonische Verständnis der Dialoge aus dem Zusammenhang zu begreifen, in den er von Platon gestellt worden ist. Eine zweite, komplementäre Forderung Schleiermachers lautete, dass jeder Dialog zugleich auch aus seinem Verhältnis zu anderen Dialogen erklärt werden müsse.5 Auch mit dieser Forderung hat man keineswegs Ernst gemacht (allenfalls verglich man den 7. Brief). Paradoxerweise steht also die Bewährung der von Schleiermacher inaugurierten Platonauslegung im Lichte seiner eigenen Interpretationsprinzipien noch aus. In der Erwartung, dass uns die in der Schriftkritik Platons zur Frage stehende Art von Esoterik – sei es die ‚innere‘ oder die ‚äußere‘ – deutlicher entgegentreten werde, sei nunmehr die Integrierung des Schlussabschnitts in den Phaidros selbst und in den Zusammenhang anderer Dialoge versucht. An dieser Stelle wäre eine ausführliche Inhaltsanalyse des Phaidros von Nutzen. Ich muss mich damit begnügen, das Wesentlichste in Erinnerung zu rufen. Der erste Hauptteil besteht aus drei Reden; die erste wird von Phaidros verlesen, als ihr Autor wird Lysias genannt. Ihr Inhalt: ein schöner Knabe sollte seine Gunst einem Verehrer schenken, der nicht in ihn verliebt ist. Denn der Verliebte ist unvernünftig und unberechenbar, der Nichtverliebte hingegen ist seiner selbst Herr und versteht alles zur beiderseitigen Zufriedenheit zu regeln. Die zweite Rede hält Sokrates aus dem Stegreif; sie hat dasselbe Thema, doch gibt Sokrates zu Beginn eine Definition des Eros als vernunftloser Begierde, woraus dann alles übrige folgt. In der dritten Rede revoziert Sokrates: der Eros ist zwar Wahnsinn, aber nicht menschlicher und verderblicher, sondern göttlicher und heilsamer Wahn.

4 Ebd., 14. 5 Ebd.

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Sodann bringt er einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriff der Selbstbewegung. Im Anschluss daran gibt er statt einer Analyse der Gestalt (idea) der Seele den berühmten poetischen Vergleich mit einem geflügelten Gespann (Lenker und zwei Pferde), dessen Auffahrt zum überhimmlischen Ort, zur Ideenwelt, geschildert wird. Diesen Aufstieg zum Geistigen hat die Seele später, wenn sie in einen Körper eingegangen ist, unter ungünstigeren Bedingungen zu wiederholen. Die Triebkraft hierbei ist Eros, der Vollzug des Aufstiegs ist Philosophie. Nach dieser langen Rede, die Sokrates im Zustand des Enthusiasmos gehalten hat, tritt eine Ernüchterung ein: man unterhält sich sehr sachlich über Logoi im allgemeinen, über mündliche Diskussion wie über das Verfassen von Schriften welcher Art auch immer, wobei Sokrates seine eigenen zwei Reden allerdings als Paradigmen bezeichnet, aus denen man Wesentliches lernen könne. Richtiges Reden und Schreiben, so zeigt sich nun im Gespräch, beruht ausschließlich auf Kenntnis des Wesens der Dinge, über die man reden oder schreiben will; diese Kenntnis erwirbt man allein durch diejenige Form des Philosophierens, die Platon als Dialektik bezeichnet und als deren zentrales Verfahren die Wesensbestimmung durch begriffliche Zergliederung und Zusammenfassung angegeben wird. Der ideale Redner wird in diesem Sinne alles dialektisch bestimmen können, so wie Perikles einst der beste Redner war, weil er zusammen mit Anaxagoras Naturphilosophie trieb und das Wesen des Nus ergründen wollte; und so wie Hippokrates sagt, der Arzt könne den Körper nur heilen, wenn er über das All Bescheid weiß, so wird auch der Dialektiker philosophische Erkenntnis der Seele mit umfassender dialektischer Einsicht zu verbinden haben. Im Schlussabschnitt wird im Einzelnen folgendes ausgeführt: wird eine gesprochene oder geschriebene Darlegung einer fragenden Prüfung unterzogen oder angegriffen, so muss man ihr zu Hilfe kommen (βοηθεῖν τῷ λόγῳ). Dieses Helfen muss notwendig mündlich erfolgen, die Schrift ist unfähig, sich zu helfen, sie sagt stets nur dasselbe, und zwar zu allen, sie versteht nicht zu schweigen, wenn es nötig ist. Das Helfen bedient sich der Dialektik, und nur hier tritt Dialektik vollgültig in Erscheinung, im philosophischen Wechselgespräch. Durch das Helfen wird das Geschriebene geringfügig oder minderwertig (φαῦλα) erscheinen. Helfen kann, wer Höherwertiges besitzt als das, was er verfasste (ὁ ἔχων τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν). Nur wer in diesem Sinne helfen kann, ist ein φιλόσοφος. So weit die Hauptlinien des Dialogs. Die Schwierigkeiten des letzten Teils beginnen, sobald man die Frage stellt, was denn jenes Höherwertige inhaltlich sei, oder anders gewendet, wie das ‚Helfen‘ im Einzelnen vorzustellen ist, oder in welchem Verhältnis die Gedankengänge, die im Verlauf

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des ‚Helfens‘ formuliert werden, zu den ursprünglichen stehen, denen sie helfen sollen. Die heute herrschende Interpretation, die ganz auf der von Schleiermacher herkommenden Linie liegt, lautet: das Höherwertige ist, inhaltlich betrachtet, nichts anderes als das ursprünglich Dargelegte. Sonst käme man zu der Absurdität, dass der Philosoph zwei Komplexe von Philosophemen hätte, einen für den geschriebenen Logos, einen anderen für die mündliche Darlegung, und dass er beim ‚Helfen‘ die Gesprächsgegenstände wechseln müsste. Aber man braucht nicht zu anderen, etwa gar erhabeneren, Themen zu greifen. Höherwertig ist die ‚Hilfe‘ dadurch, dass sie in lebendiger Wechselrede erfolgt, denn das philosophische Sich-Unterreden ist nun einmal eine lohnendere, wertvollere Betätigung als das Verfassen von Büchern. Die fragende Überprüfung, der Elenchos, muss sich durchaus im Bereich der zu prüfenden Schrift halten, sonst würde er sinnlos. Wie G. Vlastos an prominenter Stelle6 formulierte: „if a man had been writing about politics, he would be expected to go into an elenchus concerning politics“. βοηθεῖν heißt dann im Einzelnen: „to vindicate one’s statements against stupid or malicious misunderstanding, to refute sophistical objections to them, to reinforce them by showing how they follow from strong premises or have illuminating implications“. Das ist überzeugend und klar gedacht, sollte man meinen. Es bleibt nur eine kleine Schwierigkeit: wer seinem Logos so zu Hilfe kommt, wird schwerlich „das Geschriebene als gering (oder schwach) erweisen“ (τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι 278 c6–7) – im Gegenteil, die skizzierte Verteidigung würde, wenn erfolgreich, die Vorzüglichkeit des Geschriebenen beweisen (griechisch etwa: τὰ γεγραμμένα καλῶς συγκείμενα ἀποδεῖξαι). Ferner: es ist schwer einzusehen, warum diese Art von Hilfe nicht von jedem einigermaßen intelligenten Autor soll geleistet werden können. Platon aber führt das βοηθεῖν ein als Unterscheidungsmerkmal des φιλόσοφος, das ihn von allen anderen Typen von Autoren trennt. Und schließlich: wer als Philosoph gut schreibt, im Umgang mit Sophisten und Eristikern aber nicht schlagfertig genug ist, seine Gedanken zur Geltung zu bringen, soll deswegen des Namens Philosophos verlustig gehen? Kann Platon das gemeint haben?

6 Gregory Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959) In: Gnomon 35 (1963), 641–655, hier: 653.

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Fragwürdig ist übrigens auch die Auffassung der „wertvolleren Dinge“, der τιμιώτερα, denn nach dieser Deutung würde eine Tätigkeit, das philosophische Sich-unterreden, verglichen mit dem Geschriebenen, also dem Ergebnis einer anderen Tätigkeit (so als wollte man etwa sagen: „die Tätigkeit des Klavierspielens ist von höherem Wert als die Sonaten Beethovens“); und zweitens ist der Plural τιμιώτερα nicht erklärt, so lange man ihn auf die Tätigkeit des Erörterns bezieht: man würde erwarten τιμιώτερόν τι. Vielleicht besteht doch Anlass, die Sache neu zu überdenken. Das Eigentümliche der soeben referierten Deutung war, dass das eigene Verständnis des Interpreten vom Vorgang der Verteidigung eines Werkes, seine eigene Einsicht und Erfahrung, zum Maßstab der Interpretation gemacht wurden. Demgegenüber wird es der Philologe vorziehen, sich zunächst unwissend zu stellen hinsichtlich jener „wertvolleren Dinge“ und jener „Hilfe für den Logos“ und Umschau zu halten, wo er darüber aus Platon selbst weitere Auskunft erhalten könnte – gemäss dem alten Grundsatz der Philologie, Homer gelte es aus Homer zu verdeutlichen: ῞Ομηρον ἐξ ῾Ομήρου σαφηνίζειν, so auch hier: Πλάτωνα ἐκ Πλάτωνος. Im 10. Buch der Nomoi formuliert Platon das Asebiegesetz. Der Fall ist relevant für unsere Frage; denn dass Gesetzeswerke zu den Logoi gehören, die der philosophischen Hilfe bedürfen, wird im Phaidros eigens hervorgehoben. Es verwundert daher nicht, wenn wir lesen, dass es nunmehr gelte, dem Nomos zu Hilfe zu kommen, τῷ νόμῳ ἐπίκουρον γίγνεσθαι, und dieser Ausdruck überdies noch verdeutlicht wird durch βοηθεῖν τούτοις τοῖς λόγοις (890 d/891 a). Dieses ‚Helfen‘ geschieht, indem nicht mehr von Frömmigkeit gesprochen wird, sondern von Begriff und Formen der Bewegung, von der Seele als Prinzip der Bewegung, von der Vorherrschaft des Guten oder des Bösen im Kosmos, kurzum, von rundheraus metaphysischen Fragen. Es ist, wie Platon selbst sagt, ein Heraustreten aus dem ursprünglichen Geschäft der Gesetzgebung (νομοθεσίας ἐκτὸς βαίνειν 891 d),7 wobei das Problem festgehalten, die unmittelbaren Gesprächsgegenstände jedoch durch andere ersetzt werden. Und diese neuen Inhalte füh-

7 Mit Platons ἐκτὸς βαίνειν vergleiche man Vlastos’ Formulierung, die Hilfe im Elenchos müsse bei Politik bleiben, wenn ursprünglich von Politik die Rede war (Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 653). Mit der Formulierung „... to reinforce them by showing how they follow from strong premises“ ist Vlastos hingegen auf der richtigen Spur – offenbar ohne zu sehen, dass dieser Gedanke, konsequent weiterverfolgt und vor allem an den Dialogen verifiziert, seine eigene Auffassung von βοηθεῖν widerlegt.

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ren auf die ersten Ursachen, τὰ πρῶτα πάντων bzw. τὸ πρῶτον αἴτιον ἁπάντων (891 e5, vgl. c2). Dieses Beispiel würde im Grunde schon genügen, doch greifen wir zur Verdeutlichung und Bestätigung aus einer großen Zahl weiterer Fälle8 ein zweites heraus, nämlich Platons Hauptwerk der mittleren Periode, die Politeia. Im ersten Buch erörtert Sokrates mit Thrasymachos die Frage, ob die Gerechtigkeit nur den Herrschenden diene zum Schaden der Beherrschten oder vielmehr in erster Linie im Interesse der Beherrschten sei – eine eminent politische Frage also. Sokrates kann seinen Gegner schließlich widerlegen, und das Buch endet mit der Rechtfertigung der Gerechtigkeit in scheinbar zufriedenstellender Weise. Das zweite Buch beginnt jedoch mit der Eröffnung des Glaukon und Adeimantos, das bisherige Ergebnis sei ihnen nicht genug. Sie erneuern den Angriff des Thrasymachos auf die Gerechtigkeit, formulieren die gegnerische Position mit neuer begrifflicher Schärfe. Es ist die typisch platonische Situation: ein Logos ist in Bedrängnis geraten. Für Sokrates gilt es, „der Gerechtigkeit zu helfen“, wie es mehrfach heißt (362 d9, 368 bc, 427 e, 433 bc). Nun wird man vielleicht einwenden: der Gerechtigkeit helfen, das heißt doch die an sich existierende Idee der Gerechtigkeit vor falschen Deutungen schützen. Eine Beziehung auf die frühere Darlegung sei damit nicht verbunden. Dies zu behaupten, hieße allerdings den Zusammenhang des Dialogs verkennen. Der zweite Angriff auf die Gerechtigkeit gibt sich ausdrücklich als Erneuerung des ersten, das erste Buch erweist sich als Vorspiel (προοίμιον) zu den folgenden Büchern. Obschon Thrasymachos nicht mehr mitredet, wird auf seine Präsenz mehrfach angespielt. Und dort, wo Sokrates die Aufgabe der Verteidigung der Gerechtigkeit programmatisch auf sich nimmt, verweist er ausdrücklich zurück auf das, was er Thrasymachos gegenüber ausgeführt hatte; mit Blick darauf sagt er, er müsse „helfen

8 Das Motiv der ‚Hilfe für den Logos‘ ist ein zentrales Strukturmoment des platonischen Dialogs, wie ich in einer demnächst erscheinenden Studie zeigen möchte. Es entspricht der Bedeutung dieses Motivs, dass Platon es in den prinzipiellen Ausführungen zum Wert schriftlicher Darlegungen in den Mittelpunkt stellt. – Ein Fall von ‚Hilfe‘ für einen Logos, der heute wohl den meisten Platonlesern geläufig sein dürfte, findet sich im Theaitetos. Die ergebnislose ‚Hilfe‘ für die unrichtige These des Sophisten Protagoras bestätigt im Negativen alles, was wir im Positiven aus anderen Stellen über die erfolgreiche ‚Hilfe‘ für echt platonische Überzeugungen erfahren. Es ist allerdings entscheidend zu sehen – und wird meistens übersehen – dass Protagoras, der für uns Heutige zweifellos ein ernstzunehmender Philosoph ist, im Theaitetos nicht etwa den φιλόσοφος (= Dialektiker) aus dem Phaidros repräsentiert, sondern den Typ des Sophisten, den Platon im zeitlich wie sachlich nahestehenden Dialog Sophistes zu definieren sucht.

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und den Logos nicht aufgeben“ (368 bc). Die Hilfe für die Gerechtigkeit und die Hilfe für den ersten Logos über die Gerechtigkeit lässt sich der Sache nach nicht trennen: indem Sokrates in dem mehrteiligen Gespräch die Gerechtigkeit selbst verteidigt, verteidigt er auch seine von Anfang an bezogene Position, und umgekehrt. Meine These ist also: der Gesamtaufbau des Dialogs Politeia zeigt uns einen großangelegten Fall von ‚Hilfe für den Logos‘. Hieran müssen wir uns orientieren, wenn wir den Phaidros verstehen wollen. Wie erfolgt nun diese Hilfe? Handelt es sich wirklich um begütigendes und glättendes Beheben von Missverständnissen auf demselben Gesprächsniveau? Verharrt man wirklich im Rahmen des Gegebenen, werden wirklich nur dieselben Gesprächsgegenstände weiter hin und her gewendet? Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Generalthema der Gerechtigkeit wird natürlich nie aus den Augen verloren, im Einzelnen aber bringt der Vollzug der ‚Hilfe‘ genau das, was die herrschende Auflassung für unmöglich, ja philosophiewidrig erklärt hat: einen vollständigen Wechsel der Denkmittel und der Gesprächsgegenstände. Man hört von Dingen, die gänzlich außerhalb des Gesichtskreises jenes ersten, in sich geschlossenen Logos zugunsten der Gerechtigkeit lagen: von Erziehung, Musik und Gymnastik, von Mythologie und vom Gutsein der Götter, von Dichtung und Mimesis, von Psychologie und Logik (Satz vom Widerspruch), von Mathematik und Erkenntnistheorie, von der Ideenlehre und der Idee des Guten als dem letzten Ursprung. Bei aller Bewunderung für die Meisterschaft des kleinen Dialogs Thrasymachos können wir sagen: die auf ihn folgenden Erörterungen sind wahrhaft τιμιώτερα, Theorien und Argumente von höherem philosophischem Rang. Mit ihnen lässt sich der ursprünglichen Position des Sokrates gut helfen. Die ‚Hilfe‘ erweist sich wieder als eine wohlausgebaute Theorie, die schrittweise auf immer grundlegendere Probleme führt. Nach dieser kurzen Analyse zweier Beispiele halten wir als Zwischenergebnis fest: platonisch „dem Logos zu Hilfe kommen“ heißt, einen oder mehrere zusätzliche Schritte zurücklegen auf dem Weg zur Erkenntnis der Prinzipien. Aber dürfen wir die Ergebnisse aus der Politeia auf den Phaidros übertragen? Könnte es sich nicht trotz allem um heterogene Dinge handeln? Zum Glück stellt der Phaidros die Beziehung zur Politeia selbst her, und zwar in mehrfacher Hinsicht. So bezeichnet Platon die schriftstellerische Tätigkeit dessen, „der die Wissenschaft vom Gerechten, Schönen und Guten hat“, als ein „mythenhaftes Sprechen über Gerechtigkeit“ (μυθολογεῖν δικαιοσύνης πέρι 276 e). Es gibt in der philosophischen Literatur mit Sicherheit nur ein Buch, das diese zwei Forderungen erfüllt: erstens von einem Autor zu stammen, der die platonische Dialektik (oder ‚Wissen-

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schaft‘) ‚hat‘, und zweitens ein ‚μυθολογεῖν‘ über Gerechtigkeit darzustellen. Dieses Buch ist die Politeia, die sich selbst das Prädikat ‚μυθολογεῖν‘ zulegt (376 d, 501 e).9 Statt die eigenen Dialoge auszuschließen, weist Platons Schriftkritik ganz spezifisch auf den bedeutendsten unter ihnen hin. Dies war von W. Luther bereits in einem Aufsatz von 1961 erkannt worden.10 Man beachtete den Hinweis jedoch nicht,11 sondern versuchte die Beziehung der Schriftkritik auf das Dialogwerk zu vermeiden, indem man sich folgendes zurechtlegte. Wenn Platon im Phaidros von Schriften, συγγράμματα, spricht und im 7. Brief vollends sagt, es gebe kein σύγγραμμα von ihm über das, womit ihm ernst sei (341 c), so kann er damit nur eine bestimmte Art von Schriften, nämlich systematische Lehrschriften etwa nach Art rhetorischer Handbücher (τέχναι) gemeint haben. Dieses Argument erfreut sich bis heute außerordentlicher Beliebtheit. Stellvertretend für viele zitiere ich die in Cambridge erschienene repräsentative History of Greek Philosophy von W. K. C. Guthrie: „Plato spoke the plain truth when he said that there was not, and would never be, any treatise (syngramma or techne) of his on the things which he took seriously. What he has left us is something much better, the mimesis of dialectical discussion itself“.12 Es ist evident, dass diese Sätze dann und nur dann eine sinnvolle Aussage darstellen, wenn σύγγραμμα eine Darstellungsform bezeichnet, die den Dialog eindeutig ausschließt. Versucht man dies anhand der Belege nachzuprüfen, so muss man allerdings feststellen, dass die Griechen einschließlich Platons das Wort ganz einfach nicht in der hier verlangten Bedeutung verwendet haben. Es fehlt nicht nur die Einengung auf systematische Lehrschriften, sondern insbesondere auch die Opposition zu διάλογος.13 Der Gegensatz ist vielmehr ποίημα, metrisch gebundene Dichtung, σύγγραμμα ist die

9 Der Gorgias enthält zwar außer dem Schlussmythos (523 aff.) auch den Mythos von den Wasserträgern im Hades, dessen Einführung und Auslegung im Sinne einer Parabel als μυθολογεῖν (493 d3) bezeichnet wird; doch wird diese Bezeichnung nicht auf die Auseinandersetzung mit Kallikles insgesamt ausgedehnt. 10 Wilhelm Luther: Die Schwäche des geschriebenen Logos. In: Gymnasium 68 (1961), 526–548, hier: 536f. 11 Mit Ausnahme von H. J. Krämer, Mus. Helv. 21 (1964) 148. 12 William Keith Chambers Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. IV. Cambridge 1975, 65. 13 Beweiskräftig im Sinne der heutigen communis opinio wäre nur die Aussage eines Autors des 4. Jh. v. Chr., dass ein Dialog kein σύγγραμμα ist (bzw. eine entsprechende Aussage eines späteren Autors über den Sprachgebrauch des 4. Jh.). Hingegen nützt es nichts, auf Stellen zu verweisen, an denen systematische Schriften als συγγράμματα bezeichnet werden, so lange nicht dabeisteht, dass die systematische Darlegung nicht in Dialogform gegeben werden kann. So sagt z. B.

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gänzlich unspezifische Sammelbezeichnung für alle nichtpoietischen schriftlichen Aufzeichungen, die selbstverständlich auch den Prosadialog einschliesst.14 Es ist also nichts mit dem Syngramma-Argument. Die willkürliche Festsetzung einer Wortbedeutung kann die philologische Interpretation nun einmal nicht ersetzen. Zweierlei ist indes bemerkenswert an diesem Argument: einmal, dass man blind auf die Aussagekraft eines ungeprüften Textverständnisses vertraute, und zweitens, dass man überhaupt in dieser Richtung suchen zu

der pseudoplatonische Minos 316 c–317 a, medizinische συγγράμματα stellen die νόμοι oder Grundregeln der Medizin dar, landwirtschaftliche συγγράμματα die Grundregeln der Landwirtschaft usw.; aber es ist weder gesagt, dass alles, was σύγγραμμα heißt, die analoge Funktion der Darstellung von Grundregeln haben muss – eine solche Behauptung stünde ohnehin in Konflikt mit den Stellen, die die weite Bedeutung des Wortes als ‚(Prosa-)Schrift‘ belegen (Lysis 204 d. 205 a, Nomoi 810 b. 858 c, Phdr. 258 d; Isokr. 2, 7. 42) – noch wird gar in Abrede gestellt, dass etwa auch der platonische Dialog Nomoi die νόμοι oder Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens festhält und somit als πολιτικὸν σύγγραμμα (317a) einzustufen wäre – die kaiserzeitliche Tetralogienordnung, die den Minos vor die Nomoi stellt, betrachtete das platonische Gesetzeswerk offenbar als ein solches πολιτικὸν σύγγραμμα (vgl. auch Anm. 14). – Die einzige Stelle, die LSJ für die Bedeutung „systematic work“ anführen, ist Galen 16, 532 Kühn; der Gegensatz ist hier ὑπόμνημα, ‚Kommentar‘. Auch bei Galen steht nichts davon, dass ein Dialog nicht unter den Begriff σύγγραμμα fallen könnte; dass ein Dialog kein ὑπόμνημα (im Sinne von Kommentar) ist, versteht sich wohl von selbst. (ὑπομνήματα Phdr. 276 d3 hat noch nicht die spätere terminologische Bedeutung; in Tht. 143 a1–5 sind ὑπομνήματα, ‚Aufzeichnungen‘, die Vorstufe des ausgearbeiteten literarischen Dialogs.) – Zwei Beispiele der Verwendung des Syngramma-Argumentes in neueren Platon-Arbeiten: Rainer Thurnher: Der siebte Platonbrief. Versuch einer umfassenden philosophischen Interpretation. Meisenheim am Glan 1975, 94 (σύγγραμμα = Kompendium); Nicholas P. White: Plato on Knowledge and Reality. Indianapolis 1976, 207f. (Gegensatz „dialogue – treatise“). 14 Gelehrte wie Werner Jaeger (Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. Berlin 1912, 146 A. 3) und H. J. Krämer (Mus. Helv. 21, 1964, 144) kannten natürlich die wirkliche Bedeutung von σύγγραμμα. Auch Julius Stenzel stellte bereits 1916 fest, dass die Ausführungen des Politikos (295 bff.) über die Abänderung eigener schriftlicher Bestimmungen durch den wahren Staatsmann sinngemäss auch auf Platons Politeia anzuwenden wären, d. h. aber, dass er den Dialog durchaus als ein politisches σύγγραμμα wertete (Julius Stenzel: Literarische Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialogs (1916). In: ders.: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie. Hg. v. B. Stenzel. Darmstadt 1956, 32–47, hier: 46). Stenzel hätte noch hinzufügen können, dass die Politeia die Skizze des besten Staates immer wieder als νομοθεσία (bzw. verbal als νομοθετεῖν) bezeichnet: auch was im Phaidros über die Schriftstellerei der Gesetzgeber gesagt ist, bezieht Platons Hauptwerk mit ein.

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müssen glaubte. Macht doch Platon in der ganzen zweiten Hälfte des Phaidros bis zum Überdruss klar, dass er über alle Arten von Logoi zu sprechen gedenke, dass die gerügten Mängel der Schrift schlechthin (der γραφή) anhaften und dass nur eine Art von Logoi philosophischer Ernsthaftigkeit genügt, nämlich die gesprochene Wechselrede. Indes verstößt jenes Argument nicht nur gegen eine Anzahl von Einzelstellen, sondern läuft vor allem der Gedankenbewegung des gesamten Dialogs zuwider: so wie Sokrates in seiner ersten Rede besser über den Eros reden kann als Lysias, weil er ihn in die Gesamtheit der vernunftlosen Begierden einzuordnen vermag, und in der zweiten wiederum besser als in der ersten, weil er zu noch umfassenderer Begriffsbildung fortschreitet und die Begierden in der Gesamtheit der Manien sieht, so kann er auch im zweiten Teil über partikuläre Erscheinungen wie die zeitgenössische Rhetorik nur deswegen so sicher urteilen, weil er zu generellen Aussagen über alle Logoi vorgestoßen ist; insbesondere hat der wertende Schlussabschnitt die Gesamtheit alles Geschriebenen im Blick.15 Die Aussagekraft des klaren Aufbaus ginge verloren, wollte man willkürlich eine bestimmte Art von geschriebenem Logos (etwa den Dialog) ausnehmen. Mit dem Syngramma-Argument und mit allen verwandten Versuchen, die Dialoge der Schriftkritik auf die eine oder andere Art zu entziehen, ignoriert man also die dem Phaidros eigentümliche Aufwärtsbewegung, die uns in der großen mythischen Rede des Sokrates in ihren ethisch-metaphysischen Bezügen entgegentritt, im zweiten Teil des Dialogs in ihren logischen Aspekten, wonach die Kenntnis des Partikulären von der Einsicht in das Allgemeine abhängig gemacht wird. Ein zweiter möglicher Einwand muss noch erwähnt werden. Es wurde oben festgehalten, dass nach der übereinstimmenden Ansicht aller Interpreten die ‚Hilfe‘ für das Geschriebene nur mündlich gegeben werden kann. Wir aber versuchten, sie in dem Buch Politeia nachzuweisen. Ist das nicht ein Widerspruch? Gewiss erfolgt die letzlich entscheidende philosophische Hilfe nur im dialektischen Gespräch. Aber der Phaidros sagt auch, dass die lebendige philosophische Wechselrede ein Abbild (εἴδωλον) hat im geschriebenen Logos (276 a1–b1). (Bei ‚Abbild‘ ist selbstverständlich nicht an protokollarisch exakte Wiedergabe zu denken, vielmehr an das Ranggefälle, das bei Platon das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild stets kennzeichnet.) Wenn das Helfen zum Wesen des wahrhaft philoso-

15 Das geht schon daraus hervor, dass der Schlussabschnitt die Einlösung der Forderung von 258 d7–11 ist, den Wert des Schreibens zu prüfen mit Blick auf Lysias καὶ ἄλλον ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν ἢ γράψει, εἴτε πολιτικὸν σύγγραμμα εἴτε ἰδιωτικόν, ἐν μέτρῳ ὡς ποιητὴς ἢ ἄνευ μέτρου ὡς ἰδιώτης.

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phischen Gesprächs gehört, so wird der geschriebene Dialog auch ein Abbild vom Vorgang des Helfens geben können, das seine Wesenszüge noch erkennen lässt. Ein Widerspruch liegt so lange nicht vor, als auch dieses schriftliche Abbild seinerseits einer entsprechenden Ergänzung bedarf, die das Gesagte erst letztlich gültig machen würde. Und auf solche Ergänzungen verweist gerade die Politeia an mehreren wohlbekannten, freilich nur zu oft bagatellisierten Stellen.16 Nunmehr ist der Weg frei, uns zum Phaidros zurückzuwenden und zu fragen, ob über die an der Politeia und den Nomoi beobachtete βοήθειαStruktur nicht auch aus ihm Aufschlüsse zu gewinnen sind. Da ist einmal das Beispiel des Perikles, des überragenden Redners, der Anaxagoras seinen Freund nannte. Vor dem Volk hat Perikles gewiss nicht von anaxagoreischer Naturphilosophie gesprochen, doch bestimmte diese, gleichsam aus dem Hintergrund, seine öffentliche Beredsamkeit. Heißt es doch wörtlich, Perikles habe aus der Nuslehre „das für seine Redekunst Dienliche gezogen“ (270 a). Dass Perikles und sein Hintergrundwissen als historische Präfiguration des wahren Redners oder Dialektikers und seiner gewöhnlich im Hintergrund verbleibenden, nur mündlichen βοήθεια gemeint ist, wird im Kontext unmissverständlich angedeutet. Was Perikles von Anaxagoras bezog, war „Geschwätz und Meteorologia“ (270 a1). Das ist ein Ausdruck, den Platon öfters ironisch von seiner eigenen Dialektik verwendet.17 G. Vlastos hatte formuliert,18 der Vollzug der ‚Hilfe‘ werde uns doch gewiss nicht überwechseln lassen zu „a more exalted topic, like metaphysics“. Das wurde wohlgemerkt ohne Berücksichtigung der Perikles-Stelle gesagt,19 rückübersetzt würde es aber gleichwohl just auf ἀδολεσχία καὶ μετεωρολογία führen – so jedenfalls könnte man überspannte Spekulation, ‚metaphysics‘, im Griechisch der Perikles-Zeit umschreiben. Man sieht: die sarkastische Wendung des modernen Kritikers ist durch Platons überlegene Ironie vorweggenommen und im vorhinein entkräftet worden. 16 Die Bagatellisierung der Aussparungsstellen in den Dialogen Platons kann nur so lange überzeugend wirken, als man diese Stellen jeweils isoliert betrachtet und sie selbst dann noch unvollständig übersetzt und interpretiert. Die oben Anm. 8 genannte Studie wird sie in ihrem Kontext im jeweiligen Dialog wie auch in ihrem Zusammenhang untereinander erörtern. Vgl. vorläufig Thomas Alexander Szlezák: Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia. In: Phronesis 21 (1976), 31–58. 17 Vgl. Politeia 488 e4, Tht. 195 bc, Krat. 401 b7, Politikos 299 b7, Parm. 135 d5. 18 Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 653. 19 Vlastos erörtert Phdr. 274 b–278 e, macht aber nirgends einen Versuch, die früheren Teile des Dialogs einzubeziehen.

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Nun weiter: Zu Beginn des Dialogs hatte Platon eine Rede des Lysias und eine des Sokrates zum gleichen Thema vorgeführt. Für die des Sokrates hatte Phaidros die Forderung gestellt, sie müsse, um überlegen zu sein, mehr enthalten, und zwar anderes, Dinge von höherem Wert: ἕτερα τούτων μείζω καὶ πλείω und ἄλλα πλείω καὶ πλείονος ἄξια (234 e–235 b).20 Es dürfte klar sein: πλείονος ἄξια hier heisst soviel wie τιμιώτερα am Ende des Dialogs. Wir wissen also bereits seit den ersten Seiten, dass die Überlegenheit einer Darlegung über die andere, um die es im Phaidros schließlich überall geht,21 auf einem inhaltlichen Plus beruhen muss. Dies vorzuführen, ist die schriftstellerische Absicht der ersten beiden Reden sowie des Perikles-Exempels. Nach dem Aufweis dieser vorbereitenden Hinweise Platons müssen wir nunmehr die wichtigste Frage stellen: wenn alles Geschriebene der rechtfertigenden Ergänzung durch Besseres bedarf – welche weiterreichende philosophische Theorie ergänzt dann den Phaidros? Zum Glück ist unser Dialog in dieser Hinsicht überaus deutlich. Sokrates stellt fest, dass die Erkenntnis der Seele Aufgabe des Dialektikers ist, der hierbei folgende Fragen wird beantworten müssen: 1. ob die Seele einfach ist oder in sich vielfältig, 2. wenn vielfältig, wie viele Komponenten sie aufweist, 3. was ihre δύναμις (ihr Vermögen) ist, oder was die Vermögen der Komponenten je separat betrachtet sind (270 d, 271 d). Der Anweisung Platons folgend, der ja die Reden des Sokrates als Paradigmen bezeichnet, aus denen etwas zu lernen sei, fragen wir, ob die große Rede über den Eros und die Seele dieses Drei-Punkte-Programm verwirklicht. Hierauf gibt es nur eine Antwort: sie tut es nicht, und sie sagt ausdrücklich, dass sie es nicht tut (246 a). Statt die wirkliche Gestalt der Seele begründend darzulegen, gibt uns Platon das poetische Bild eines Gespannes mit Wagenlenker und zwei ungleichen Pferden, ohne die Zahl der Komponenten zum Problem zu machen oder auch nur zu fragen, ob die geschilderten Verhaltensweisen nicht doch Manifestationen eines einheitlichen Wesens sein könnten. Indes ist das Programm der im Phaidros fehlenden Erörterungen weder etwas vage für die Zukunft Projektiertes, das in privaten Gesprächen in der

20 Natürlich ziert sich Sokrates (wie vorher Phaidros: 228 a) und versichert, er könne nichts über die Weisheit des Lysias Hinausgehendes sagen (236 b7); nur hat er zuvor schon (235 b6–9) die Ansicht des Phaidros zurückgewiesen, die Rede des Lysias könne inhaltlich nicht übertroffen werden. Sokrates’ erste Rede zeigt deutlich genug, welche der beiden Stellen zum Nennwert zu nehmen ist. 21 Hierin sehe ich die Einheit des Dialogs, die man meistenteils in Analogien zwischen Erotik und Rhetorik suchte. Solche Analogien gibt es zwar, sie sind jedoch sekundär.

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Akademie je nach Situation und Laune einmal verwirklicht werden könnte oder auch nicht, noch weist es auf jenes nicht übertragbare Etwas, das genuin philosophische Verständnis, das nach den Theoretikern der Dialogform den berufenen Leser befähigt, die im übrigen vollständig mitgeteilten Inhalte aus toten Buchstaben in lebendiges Denken zu überführen. Es ist auch nicht das ‚Unsagbare‘ Ludwig Wittgensteins, auf das sich neuere Interpreten in ähnlichem Zusammenhang berufen.22 Es ist nichts anderes als das Programm der Psychologie des Dialogs Politeia. Dort wird die Frage gestellt, ob die Seele verschiedene Komponenten aufweist oder nicht; dort wird die Zahl der Komponenten auf drei festgelegt: und dort wird drittens je separat für die drei Seelen-‚Teile‘ nach ihren Vermögen gefragt (4, 435ff. und 9, 580ff., vgl. 10, 611 b–612 a). Der Verweis des Fragenkatalogs des Phaidros auf die Psychologie der Politeia ist so offen und eindeutig, wie es nur möglich ist, solange man das direkte Buchzitat vermeiden will. Im Falle des Phaidros lässt es sich mithin nachprüfen, was das Fehlende, willentlich Ausgesparte ist: eine ausgebaute, in sich vielfältige, zu Ende gedachte Theorie (was selbstverständlich nicht ausschließt, dass Platon sie modifizieren konnte, wenn es ihm gut schien). Die Seelenlehre der Politeia mag dem Seelenmythos im Phaidros an poetischer Imagination nachstehen – an Erkenntnisleistung sind ihre präzisen Argumentationen unzweifelhaft überlegen, „wertvoller“ (τιμιώτερα). Und in eben diesem Dialog, in dem uns Platon deutlich genug zu erkennen gibt, welcher Art die explizit ausgeklammerten (246 a) Erörterungen sind, die das primär Gebotene philosophisch wohlbegründet und gültig erscheinen lassen würden, eben hier sagt er uns allgemein, dass alles Schrifttum auf mündliche Begründung durch Gewichtigeres angelegt sein muss, wenn der Autor den Namen Philosophos verdienen soll. Die Botschaft des Phaidros ist mithin entweder, dass Platon den Namen Philosophos nicht verdient, oder dass hinter seinen Dialogen wohldurchdachte, ausformulierte Theorien stehen. Doch zurück zu Schleiermacher. Seine richtige Intuition, dass die Dialogform nicht einer Unfähigkeit zu grösserer Klarheit entspringt, sondern kunstvoll und philosophisch bedeutsam die indirekte Mitteilung an die Stelle direkter Belehrung setzen kann, gerät ihm – und mehr noch seinen 22 So Wolfgang Wieland: Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1 (1976), 19–33, bes. 31–33, wo Denkmodelle Wittgensteins (der nicht genannt wird) gegen platonische Hinweise (die nicht zitiert werden) auf weiterführende Erörterungen über das Gute ausgespielt werden.

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heutigen Nachfolgern – unter der Hand zu dem unausgesprochenen Axiom, dass ein Autor, der die Vorzüge dieser verhüllenden Darstellungsform erkannt hat, damit auch schon darauf festgelegt ist, alles, was ihm wesentlich erscheint, auch wirklich mittels ihrer zur Darstellung zu bringen. Aus der Möglichkeit zum Verhüllen und Andeuten wird der Zwang zur vollständigen Präsentation des zuvor Verhüllten: nur in dieser logisch unzulässigen Umformulierung ließe sich aus der Dialogform ein Argument gegen die Annahme einer mündlichen Philosophie gewinnen. Indes besteht durchaus kein Widerspruch zwischen dem Entschluss eines Autors, sich über manche Dinge mittels der Dialogform schriftlich zu äußern, und der gleichzeitigen Entscheidung, über anderes – etwa die weitere Begründung der publizierten Werke – überhaupt nicht zu schreiben. Zudem scheint die Annahme vorzuliegen, dass Platon, indem er die Mängel der Schrift entdeckte, eo ipso das Bedürfnis hatte, diese Mängel wiederum durch die Schrift zu beheben. Das wäre einleuchtend, wenn es um die Sprache ginge: die Grenzen der Sprache können nur durch den Gebrauch der Sprache (in einem gewissen Sinn und in einem bestimmten Ausmass) überwunden werden. Für das dagegen, was die Schrift nicht zu leisten vermag, bietet sich nach dem eindeutigen Zeugnis des Phaidros nicht eine besondere Art von Schriftgebrauch an, sondern allein das mündliche Gespräch.23 Im übrigen hoffte Schleiermacher, mit seiner Entdeckung der Dialogform drei Aufgaben zumal zu lösen: die Chronologie der Dialoge zu etablieren, die strittigen Echtheitsfragen zu entscheiden und drittens die ‚esoterische‘ Platonauslegung Tennemanns zu widerlegen.24 Niemand bestreitet heute, dass ihm hinsichtlich der ersten beiden Ansprüche kein Erfolg beschieden war. Die Chronologie wurde gesichert – so weit sie überhaupt gesichert ist – durch die Sprachstatistik. Wie wenig verlässlich andererseits die aus der Beobachtung der Dialogform gewonnenen Kriterien für Echtheitsfragen sind, braucht nicht eigens dargelegt zu werden (es genügt etwa an Paul Friedländers Verteidigung des Grossen Alkibiades zu erinnern). Nur den dritten Anspruch war man allseits geneigt anzuerkennen. Wir versuchten dem Problem näher zu kommen, indem wir fragten, welche Seite sich denn zu Recht auf den Phaidros berufe. Und insofern beide Seiten – wohlgemerkt auch die Befürworter einer ungeschriebenen Prinzipientheorie –

23 Ein dritter, gleichfalls bis heute fortwirkender Vorgriff Schleiermachers, nämlich die Gleichsetzung der „echt platonischen Form“ mit der Form der aporetischen Tugenddialoge, würde eine längere Analyse erfordern und kann für den gegenwärtigen Zusammenhang auch außer Betracht bleiben. 24 Chronologie und Echtheit: Schleiermacher: „Einleitung“, 29; Dialogform als Argument gegen Tennemanns Auffassung: ebd., 10ff.

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die Schlusspartie dieses Dialogs isoliert zu betrachten pflegten, konnten wir mit dem Versuch einer Integration dieses Teils in den ganzen Dialog und der Verfolgung seiner Beziehungen zu anderen Dialogen25 einen neutralen Ausgangspunkt finden. Das Ziel war, die mittlerweile emotional stark belastete Auseinandersetzung in den Bereich ruhiger Beobachtung zurückzuführen. Ist es also nichts mit der Dialogform, wenn sie keinen ihrer drei ursprünglichen Ansprüche zu erfüllen vermag? Nun, es ging Schleiermacher ein wenig wie Johann Friedrich Böttger, der für den König von Sachsen Gold machen wollte. Was er suchte, fand er nicht, wohl aber das Porzellan, was seinem Auftraggeber großen Gewinn brachte. In diesem Sinn sei der Gewinn der Schleiermacherschen Entdeckung für ein besseres Verständnis der platonischen Kunstform nicht bestritten. Nur das erhoffte Wundermittel für Chronologie, Echtheitsprobleme und die Wegzauberung der auch anderweitig bezeugten platonischen Prinzipientheorie war sie nicht. Noch ein Wort zur sogenannten Esoterik. Schleiermacher vermutete darin Obskurantismus, er sprach polemisch vom „schwierigsten und geheimnisvollsten der Weisheit“. Aber niemand, der die Aussparungsstellen in Platons Dialogen aufmerksam liest, wird auf den Gedanken kommen, das Ausgesparte sei dunkel und geheimnisvoll. Im Gegenteil, wodurch es sich nach der wiederholten Versicherung Platons auszeichnet, ist größere σαφήνεια, Klarheit, und größere Genauigkeit, ἀκρίβεια. Dies zur platonischen Charakterisierung des Inhalts. Was die menschliche Triebfeder betrifft, so ist gleichfalls mit „Geheimnissucht“ von vorneherein nicht zu rechnen. Wohl aber lassen Platons Äußerungen ein außergewöhnliches Gefühl der Verantwortung erkennen. Unter den heutigen Bedingungen der geistigen Produktion sind drei Dinge notwendig getrennt: für den Inhalt ist der Autor verantwortlich, darüber hinaus aber für nichts; die Verantwortung für die Verbreitung trägt der Verleger, und der verkauft, wie Platon sagen würde, τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς

25 Unter einem anderen Gesichtspunkt hatte jedoch schon H. J. Krämer die isolierende Behandlung von Phdr. 274 b–278 e hinter sich gelassen, indem er die Beziehung zu den Aussparungsstellen, die in den wichtigsten Dialogen aller Schaffensperioden Platons begegnen, herausstellte und die funktionale und zum Teil auch sprachliche Gleichartigkeit dieser Stellen nachwies (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959))., 389ff., vgl. 24, 316f. 484–486; Mus. Helv. 21, 1964, 152–156; AGPh 51, 1969, 23 Anm. 67).

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δ᾽αὕτως οἷς οὐδὲν προσήκει, „denen, die etwas von der Sache verstehen, ebenso auch denen, die sie nichts angeht“ (vgl. Phdr. 275 e2), denn ein berufener Käufer ist, wer bar bezahlt; was aber der Leser anfängt mit dem Inhalt, wie er ihn bewahrt oder entstellt, dafür trägt er allein die Verantwortung. Platon lebte in einer Zeit, da die Erinnerung an eine vergleichsweise buchlose Epoche noch lebendig war, in der die drei Verantwortlichkeiten noch in einer Hand vereint sein konnten. Ein Denker verfasste ein Werk, machte es selbst seinen Freunden bekannt und konnte so die lebendige Resonanz beobachten und vor allem durch persönliches Eingreifen beeinflussen. In Platons Parmenides schildert Zenon der Eleat den Augenblick, wo ihm diese Einheit entglitt. Platon hielt dieses Entgleiten der Aufzeichnung wert. Aber konnte man wirklich im vierten Jahrhundert noch die Einheit jener drei Verantwortlichkeiten herbeisehnen? War das nicht anachronistisch? Nun, es war so anachronistisch und so utopistisch, wie der Idealstaatsentwurf der Politeia anachronistisch und utopistisch zugleich ist.

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14. Wer braucht den Siebten Brief? Methodische Überlegungen zur Diskussion um die mündliche Philosophie Platons (2012/2019)

In unserem gemeinsamen Studienjahr 1975/76 als Fellows am Center for Hellenic Studies in Washington, D.C. begannen wir, Tomás Calvo und ich, unser seitdem nicht abgerissenes freundschaftliches Gespräch über Fragen der Platon- und Aristoteles-Interpretation. Was uns damals schon auffiel, war der beklagenswerte Mangel an gesunder Methode besonders in der Diskussion um Platons mündliche Prinzipienlehre. Es wird daher dem Freund seit fast 40 Jahren, so hoffe ich, willkommen sein, wenn ich einige methodische Überlegungen aus diesem Bereich zu seiner Festschrift beisteuere. 1.

Was wir heute als den Siebten Brief bezeichnen, ist als ein Schreiben Platons überliefert. Aus Rücksicht auf diejenigen, die den Brief für unecht halten, sei die Zuschreibung an einen bestimmten Autor vorläufig suspendiert. Betrachten wir den Siebter Brief hypothetisch als ein pseudepigraphes, für uns also anonymes Dokument. Ist dieser Brief, wenn von einem Anonymus verfaßt, überhaupt von Interesse für die Geschichte der griechischen Philosophie? Unabhängig vom Problem der Echtheit würden wohl die meisten Interpreten diese Frage bejahen. Der Siebte Brief kann unsere Aufmerksamkeit beanspruchen in wenigstens fünf Hinsichten. 1. Er enthält einen Abschnitt, der unter dem Namen „Erkenntnistheoretischer Exkurs“ zu Recht eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Es handelt sich um eine sehr selbständige Reflexion über die Grenzen der Erkenntnis und der Mitteilbarkeit philosophischer Einsichten in Wort und Schrift (Epist. 7, 342 a7–344 d). 2. Im Anschluß daran und mit dem Exkurs aufs engste verwoben finden sich Gedanken über die Konsequenzen, die der Philosoph in seinem Verhalten als Verfasser von Schriften aus den Grenzen der Sprache und der schriftlichen Mitteilung ziehen soll (344 c1–d2). 3. Der Brief bezeichnet den so genannten Philosophenkönigssatz (Politeia 473 d, 499 a, Nomoi 712 a) als eine schon früh gewonnene persönliche Ansicht Platons (326 b).

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14. Wer braucht den Siebten Brief?

4. Der ‚Anonymus‘ stellt es so dar, daß Platon die Konsequenzen hinsichtlich des Gebrauchs der Schrift, deren philosophische Begründung der Exkurs gibt, in seinem eigenen Verhalten auch selbst gezogen hat (344 d7, 341 c4–5). Auch in seinem Verhalten als Lehrer neigte er zu restriktiven Maßnahmen: es war seine Gewohnheit, Anwärter auf Zulassung zu seiner mündlichen Lehre zuvor einem strengen Test zu unterziehen (340 b–341 a). 5. 5. Der Brief gibt eine Deutung der Verwicklung Platons in die Politik Siziliens. Seine Motive für die zwei Fahrten nach Syrakus 366 und 361 v. Chr., seine Ziele und seine Selbsteinschätzung in seiner Rolle zwischen Dion und Dionysios werden in einem bestimmten Licht dargestellt und so implizit gewertet. Diese fünf Punkte sind in der Darstellung unseres ‚anonymen‘ Dokumentes, das sich als autobiographischer Bericht Platons gibt, ineinander verschlungen, lassen sich aber unter sachlichen Gesichtspunkten leicht trennen. Punkt 1 und 2 bilden zusammen eine Entsprechung zu Platon Kritik der Schriftlichkeit (Phaidros 274 a–278 e). Der Text ist in seinem Wortlaut nicht erkennbar vom Phaidros abhängig. Falls er nicht von Platon stammt, stellt er die stärkste Konkurrenz innerhalb der antiken Philosophie zu dem hochbedeutsamen Abschnitt im Phaidros dar, denn daß er sich philosophisch auf gleichem Niveau bewegt, wird kein Kenner der Materie bestreiten.1 Punkt 3 ist bedeutsam sowohl für die Hermeneutik der Dialoge als auch für ihre Chronologie. Wenn die Aussage dieser Stelle authentisch platonisch ist, so wäre damit der Kerngedanke der Politeia – und dieser ist nicht abtrennbar von der Ideenlehre – in die Zeit vor der ersten Sizilienreise Platons (ca. 389/388) datiert. Und wenn die zentrale Aussage des Hauptwerkes hier schlicht und einfach als Überzeugung Platons hingestellt wird, so wäre damit – im Falle der Echtheit – der vielbeschworenen ‚Anonymität‘ Platons ein für alle Mal der Boden entzogen. Im Falle der Unechtheit hätten wir hier immerhin die vielleicht früheste implizite Leugnung der ‚Anonymität‘ (abgesehen von Aristoteles, der nie zögert, Ansichten der platonischen Gesprächsführer als Ansichten Platons zu werten).

1 Wie eng der Exkurs mit der Philosophie der späten Dialoge Platons verknüpft ist, hat Andreas Graeser gezeigt: Philosophische Erkenntnis und begriffliche Darstellung. Bemerkungen zum erkenntnistheoretischen Exkurs des VII. Briefes. Mainz 1989.

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Punkt 3–5 geben Informationen aus Platons Leben. Unser Bild vom größten Denker der Antike als Lehrer, Schriftsteller und Politiker wird ganz wesentlich von diesen Angaben modifiziert. Falls sie authentisch sind, so wäre der Philosoph Platon, der sich als Lehrer und Schriftsteller als Esoteriker verstand, d. h. gegen die größtmögliche Verbreitung seiner Lehre ohne Rücksicht auf die Eignung der Rezipienten optierte, gegen seinen Willen zur politischen Figur in Syrakus geworden. So weit das erhebliche Interesse, das der Siebte Brief für den Historiker der antiken Philosophie hat. 2.

Kommen wir nun zu den zwei hauptsächlichsten heute üblichen Arten, Platons Dialoge zu lesen, die sich vor allem hinsichtlich ihrer hermeneutischen Grundannahmen unterscheiden. 2.1

Nach der einen Auffassung ist der Dialog ein autarkes Gebilde, d. h. er enthält alles, was zu seinem Verständnis nötig ist, und zugleich alles, was der Autor zu dem Zeitpunkt, als er diesen Text niederschrieb, zu diesem Thema zu sagen hatte. Das jeweils neueste Ergebnis der Reflexion kommt sogleich in den jeweils nächsten Dialog. Die Dialoge sind zu verstehen als eine Art Protokoll des Denkweges Platons. Diese im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschende Auffassung hatte ihren Ursprung in dem Bild, das sich Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jh.s von den Dialogen machte: für ihn war zwar nicht der einzelne Dialog autark, wohl aber das Gesamtwerk. Es gehöre zum platonischen Dialog, daß das intendierte Ergebnis nicht ausgesprochen werde. Das Fehlende sei aber vom verständigen Leser sicher zu ergänzen und als Grundlage für das Verständnis des nächsten, fortgeschritteneren Dialogs zu verwenden. Die Dialoge sind also nach Schleiermacher proleptisch zu lesen, d. h. stets im Vorgriff auf die nächste Stufe des platonischen Denkens. Die didaktische Folge dieser Prolepsen komme an ihr Ziel in der Politeia als letztem Werk Platons. Hier

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stehe nichts mehr aus, das Oeuvre als Ganzes ist für Schleiermacher also autark.2 2.2

Nach der anderen Auffassung ist der platonische Dialog als geschriebenes Abbild (eidolon) der lebendigen Rede des Dialektikers zu verstehen. Das bedeutet, daß er all den Einschränkungen unterliegt, die die Schrift generell betreffen: er kann auf neue Fragen, die im Text nicht gestellt sind, nicht antworten, er kann sich seine Leser nicht selbst suchen, und er kann sich im Falle eines Angriffs nicht selbst zu Hilfe kommen. Diese drei Fähigkeiten hat, wie Platon im Phaidros unzweideutig ausführt, nur der mündlich philosophierende Dialektiker (nach der zuerst geschilderten Auffassung hätte sie auch das geschriebene Dialogbuch). Der Dialog zeigt nicht zufällig oder aus bloßer Gewohnheit stets Gespräche unter Ungleichen, vielmehr ist der Gesprächsführer dem Gesprächspartner deswegen weit voraus, weil er vom Verfasser als Dialektiker konzipiert ist, der Partner hingegen als einer, der erst zur Dialektik hingeführt werden soll (sofern sein Naturell das zuläßt). Der Dialektiker lenkt das Gespräch souverän von seinem fortgeschritteneren Standpunkt aus, auf den er deutlich verweist, ohne ihn inhaltlich voll zu entfalten. So ist der Dialog stets auf Ergänzung durch das weiterreichende Wissen des Dialektikers angelegt und insofern grundsätzlich nicht autark. Platon verweist immer wieder auf noch bedeutendere Philosopheme, die über das, was im Dialog erörtert wird, hinausreichen. Das im Dialog Fehlende ist als tiefere Fundierung des im Dialog Erreichten zu verstehen. Die Reihe dieser Prolepsen kommt im Dialogwerk nirgends zur Erfüllung. Es sind Prolepsen des Autors, die vom Leser aus Eigenem inhaltlich nicht aufzulösen sind. Ihr Horizont ist die mündliche Prinzipienphilosophie Platons, über die uns Aristoteles wichtige Informationen hinterlassen hat. Vor dieser Alternative der hermeneutischen Grundpositionen müssen wir uns fragen: wohin gehört der Siebte Brief? Ohne Zögern wird man antworten: zur zweiten Option. Denn diese kommt mit dem Brief darin über-

2 Eine detaillierte Darstellung der Dialogtheorie des 19. und 20. Jh.s und ihrer Hermeneutik sowie ihrer Ursprünge bei Schleiermacher (in der „Einleitung“ zu seiner Platon-Übersetzung in: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36) gab ich in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 (= PSP I, 331–375: Anhang I: Die moderne Theorie der Dialogform.

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ein, daß das Höchste und Ernsthafteste seiner Philosophie, das eigentlich Fundierende, bei Platon im Bereich der Mündlichkeit gehalten wurde. 3.

Folgt daraus, daß die an zweiter Stelle geschilderte Dialogauffassung den Siebten Brief als Beweismittel nötig hat? Hängt die so genannte ‚esoterische‘ Position von der Annahme der Echtheit des Briefes ab, wie ihre Gegner immer wieder behaupten? Sehen wir uns an, worauf sich diese Position stützt. 3.1

Platon rechnet mit der Existenz der „lebendigen und beseelten Rede des Wissenden“, er erwähnt τὸν τοῦ εἰδότος λόγον ζῶντα καὶ ἔμψυχον, als dessen Abbild, εἴδωλον, der geschriebene Logos mit Recht betrachtet werden kann (Phdr. 276 a8–9). ‚Der Wissende‘ (ὁ εἰδώς) kann im Rahmen des Phaidros nur den Philosophen bezeichnen, dessen Seele bei der Auffahrt zum überhimmlischen Ort am meisten gesehen hat (Phdr. 248 d) und nun auf Erden durch ihre Anamnesis bei den dort erschauten Ideen verweilt (249 c), und der durch das doppelte Verfahren der συναγωγή und διαίρεσις, also durch die Dialektik, die Präsenz der Ideen in der diesseitigen Welt aufzuzeigen in der Lage ist (265 d–266 b). Kurz, der hier genannte ‚Wissende‘ meint den platonischen Ideenphilosophen und Dialektiker. Seine ‚lebendige und beseelte Rede‘ kann ein schriftliches Abbild erhalten – was anderes kann damit gemeint sein als die Dialoge Platons selbst und all jener, die wie er Ideenphilosophie treiben? 3.2

Worin besteht nun die Abbildhaftigkeit des geschriebenen Logos – wohlgemerkt: auch und gerade des platonischen geschriebenen Logos? Einmal darin, daß beim Lesen die Seele den Gedanken nicht „von innen“ selbst erzeugt, sondern „von außen durch (ihr) fremde Zeichen“ (ἔξωθεν ὑπ’ ἀλλοτρίων τύπων, 275 a3–4) vermittelt bekommt, wobei die „fremden Zeichen“ sehr wohl tote Buchstaben bleiben können, statt „lebendiger und beseelter Logos“ zu werden. Die Umsetzung in fremde Zeichen erlaubt das Kennenlernen des Logos durch die Lektüre auch in Abwesenheit des Autors. Dabei geht aber der persönliche Kontakt zwischen dem Lernenden (dem μανθάνων, 276 a5) und dem ‚Wissenden‘ verloren, Der Autor hat keine Kontrolle mehr darüber, ob der Rezipient seinen Gedanken folgt oder nicht.

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Die Schrift hat eine unaufhebbare Schwäche: ihr fehlt jene dreifache Fähigkeit, die nach Platon dem ‚lebendigen Logos des Wissenden‘ zukommt, nämlich die Fähigkeit, erstens neue Antworten zu geben, zweitens gezielt zum richtigen Partner zu reden und zum ungeeigneten zu schweigen, und drittens sich selbst gegen Angriffe ‚Hilfe zu bringen‘. Es ist wichtig festzuhalten, daß es die Schrift ganz allgemein, die γραφή schlechthin ist, die diese drei Fähigkeiten nicht hat (275 d4–e5). Die zuerst geschilderte hermeneutische Position, die sich letztlich von Schleiermacher herleitet, verstößt aufs gröbste gegen Wortlaut und Sinn der Schriftkritik, wenn sie dem geschriebenen Dialog diese Fähigkeiten andichtet und ihr Fehlen allein einer besonderen Form der Schrift, dem systematischen Traktat, anlastet. Im Gegensatz zu seinen modernen Interpreten hat Platon für seine eigenen Werke keine Ausnahme von der prinzipiellen Schwäche der γραφή beansprucht. 3.3

Um den Abbildcharakter des geschriebenen Dialogs zu verstehen, müssen wir uns auch fragen, was abgebildet werden kann und was tatsächlich abgebildet wird. Möglich wäre ein Abbild eines Gesprächs zwischen zwei oder mehreren Dialektikern, die philosophisch dieselbe Stufe erreicht haben, also zwischen Gleichrangigen. Diese Möglichkeit hat Platon nicht verwirklicht. Wo gleichrangige Philosophen zusammenkommen, legt entweder einer der Philosophen seine Gedanken im Monolog dar, wie im Timaios, oder er wendet sich einem unerfahrenen Partner zu, während der andere Philosoph schweigend dabeisitzt, wie im Sophistes oder im Politikos. Platons Dialoge sind alle Gespräche unter Ungleichen.3 Abgebildet wird also grundsätzlich nur das Gespräch eines ‚Wissenden‘, der über einen immensen philosophischen Vorsprung verfügt, mit einem ‚Lernenden‘, einem μανθάνων, auch wenn der Partner mitunter wenig Neigung zum Lernen zeigt, wie Menon, oder sich gar dagegen sperrt, wie Kallikles – ob sie wollen oder nicht, etwas lernen auch sie. In diesem Rahmen können auch die drei Fähigkeiten, die die mündliche Aktivität des Dialektikers auszeichnen, zur Abbildung kommen. Wir sehen, oder besser: wir lesen, wie der Gesprächsführer Fragen beantworten kann (auch wenn meistenteils er es ist, der Fragen stellt), wie er zu geeigneten Partnern redet, unge-

3 Thomas Alexander Szlezak: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und zur Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Antike und Abendland 34 (1988), 99– 116 [mit einer Ergänzung nachgedruckt in: Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, 40–61].

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eigneten gegenüber aber schweigt, indem er die philosophische Mitteilung einschränkt (wobei dieselben Partner für bestimmte Dinge geeignet, für andere nicht mehr geeignet sein können: so Glaukon und Adeimantos in der Politeia). Und wir finden in den Dialogen schriftliche Schilderungen des Vorgangs, wie der Dialektiker seinem Logos ‚hilft‘. Entscheidend wichtig ist aber, daß wir verstehen, daß die Präsenz der drei Fähigkeiten im schriftlichen Abbild selbstverständlich nicht bedeutet, daß nun das Abbild seinerseits diese Fähigkeiten hat. Wenn die literarische Figur ‚Sokrates‘ die Fragen anderer literarischer Figuren wie ‚Protagoras‘ oder ‚Adeimantos‘ souverän beantworten kann, so folgt daraus nicht, daß Werke wie „Protagoras“ oder „Politeia“ unsere Fragen beantworten können. Wenn ‚Sokrates ‘ gegenüber Euthydemos und Dionysodoros über bestimmte Dinge schweigt oder gegenüber Glaukon und Adeimantos über bestimmte andere Dinge, so folgt daraus nicht, daß ein Dialog irgend etwas von dem, was er abgebildet hat, seinen Lesern mitteilen oder vorenthalten kann, je nach ihrer Eignung. Und wenn ‚Sokrates ‘ vor Glaukon und Adeimantos der Gerechtigeit erfolgreich zu Hilfe kommt (ab Politeia 368 bc), so bedeutet das natürlich nicht, daß Platons Hauptwerk gegen Angriffe des Aristoteles oder Zenon, oder von modernen Denkern wie Hans Kelsen, Karl Popper oder Ernst Bloch sich selbst zu Hilfe kommen kann. 3.4

Am wenigsten verstanden wurden in der Neuzeit Platons ‚Abbildungen‘ der zweiten und der dritten Fähigkeit des Dialektikers, Beginnen wir mit der dritten, der ‚Hilfe‘, dem βοηθεῖν τῶι λόγωι. In der Tat ist Platons Begriff des βοηθεῖν τῶι λόγωι nicht leicht zu verstehen für uns Angehörige der modernen Schriftkultur. Zum Abschluß der Schriftkritik im Phaidros erfahren wir, daß der Dialektiker nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich in der Lage sein muß, seiner Schrift zu Hilfe zu kommen, daß er die spätere mündliche ‚Hilfe‘ schon beim Schreiben parat haben muß, und daß von diesem Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Philosophie bei ihm sein Anspruch auf die Bezeichnung φιλόσοφος abhängt: wenn er als Wissender schrieb (ei men eidos hei to alethes echei synetheke tauta, εἰ μὲν εἰδὼς ἧι τὸ ἀληθὲς ἔχει συνέθηκε ταῦτα, Phdr. 278 c4–5), und dabei in der Lage war zu helfen (kai echon boethein, καὶ ἔχων βοηθεῖν), und wenn er fähig ist durch mündliche Darlegung (legon autos, λέγων αὐτός) seine Schriften als geringerwertig zu erweisen (dynatos ta gegrammena phaula apodeixai, δυνατὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι, c6–7), dann verdient er den Namen φιλόσοφος (278 c4–d6). Seltsam: warum soll der ‚Wissende‘ durch sei-

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ne mündliche Stellungnahme τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι? Die ‚Hilfe‘ sollte doch die Schrift rechtfertigen – hätte da Platon nicht schreiben müssen: kai legon autos dynatos ta gegrammena kalos echonta apodeixai, και λέγων αὐτὸς δυνατὸς τὰ γεγραμμένα καλῶς ἔχοντα ἀποδεῖξαι? Seltsam klingt auch die positive Charakterisierung dessen, was erst mündlich vorgebracht wird: durch die ‚Hilfe‘ wird der Dialektiker „Wertvolleres als das, was er verfaßte oder schrieb“ (timiotera hon synetheken e egrapsen, τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν) beitragen (278 d8–9). Warum eigentlich τιμιώτερα, ‚Dinge von höherem Rang‘? Kann er es nicht bei dem sicher schon hohen Rang seiner schriftlichen Ausführungen belassen? Und warum kommt das Wertvollere erst in einem zweiten Schritt, in der Antwort, wenn der Philosoph in einen Elenchos eintritt (eis elenchon ion, εἰς ἔλεγχον ἰών, c5–6)? Und hat der platonische Philosoph dann vielleicht zwei Philosophien, eine für die Schrift, eine andere für die Mündlichkeit? Eine Antwort auf diese Fragen ergibt sich aus der platonischen Bedeutung von βοηθεῖν τῶι λόγωι. Bei Platon meint dieser Ausdruck nicht das, was wir heute nach jedem Vortrag praktizieren: hat der Sprecher geendet, so muß er sich kritischen Fragen aus dem Publikum stellen, wobei er dann versucht, seine Formulierungen als treffend zu erweisen, vielleicht mit kleinen Modifikationen. In jedem Fall wird der Sprecher versuchen, das Niveau seines schriftlich ausgearbeiteten Vortrags mündlich zu halten, auf keinen Fall wird er das Geschriebene desavouieren wollen. So wir Heutigen. Anders bei Platon: wenn etwa Sokrates im Phaidon nach den schweren Einwänden des Simmias und Kebes seiner Theorie von der Unsterblichkeit der Seele zu Hilfe kommen muß (Phaidon 88 cff.), oder in der Politeia nach den Zweifeln von Glaukon und Adeimantos seiner Verteidigung der Gerechtigkeit gegen Thrasymachos (Politeia 368 bc), so redet er nicht auf demselben Niveau weiter, sondern greift zu weiter reichenden, philosophisch ‚ranghöheren‘ Denkmitteln: im Phaidon rekurriert er (ab 98bff.) auf die Ideenlehre, in der Politeia auf seine Auffassung von der Struktur des Staates und der Seele sowie auf das μέγιστον μάθημα. Daß Platon an diesen und ähnlichen Stellen die generelle Forderung, daß der Philosoph stets in der Lage sein muß, seinem Logos zu Hilfe zu kommen, anhand konkreter Fragen illustriert hat, wurde von der modernen Platonexegese nicht erkannt.4 D. h. es wurde nicht erkannt, daß Platon dafür gesorgt hat, daß wir den in sich klaren, aber für uns schockierenden Sinn der

4 Einen ersten Hinweis darauf gab ich in: Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs „Phaidros“. In: Museum Helveticum 35 (1978), 18–32. Der genauere Nachweis der völligen Übereinstimmung zwischen der Schriftkritik

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Schriftkritik an seiner eigenen Praxis in den Dialogen überprüfen können. So wie Sokrates nach den ersten, unzureichenden Unsterblichkeitsbeweisen zum endgültigen Beweis aus der Ideenlehre übergeht und damit seinem ersten Logos ‚hilft‘ – das Wort ‚helfen‘ kommt zweimal vor (Phd. 88e2: ἐβοήθει/ἐβοήθησεν) –, so muß der Philosoph seiner Schrift grundsätzlich mündlich (λέγων αὐτός) helfen können. Auf Platon selbst angewandt: seine Dialoge bedürfen je einzeln und als Gesamtwerk der Ergänzung durch weitere Philosopheme, die er für den Fall des Elenchos schon bereithält. In welchem Sinne diese anderen, weiterführenden Philosopheme τιμιώτερα heißen können, wird ebenfalls in den genannten Beispielen illustriert: der letzte Beweis für die Unsterblichkeit führt näher an die Prinzipien heran, gibt sogar den Blick frei auf eine künftig zu erreichende höhere, ‚hinreichende‘ Hypothesis über der Ideenhypothese (101 de, vgl. 107 b); ebenso führt die Theorie des Idealstaates hinauf zur Idee des Guten, auch wenn ihr τί ἐστιν, 509 c, 533 a). Auch hier ist es wichtig, die platonische und altakademische Bedeutung des Wortes zu kennen: τίμιον wird bei Platon, Philippos von Opus, Speusippos, Aristoteles und Theophrastos wie ein terminus technicus verwendet zur Bezeichnung des ontologischen Ranges des Prinzips und von allem, was dem Prinzip ontologisch nahe steht.5 3.5

Die mündlichen τιμιώτερα sind also Gedankengänge, die näher an die ἀρχαί heranführen. Der Gegenbegriff φαῦλα in der Wendung τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι heißt keineswegs ‚falsch, verkehrt‘, sondern so viel wie ‚unbedeutend, geringfügig, laienhaft (oder unfachmännisch)‘. G. Vlastos sah zwar, daß φαῦλα so viel wie ‚inferior‘ bedeutet, unterstellte aber seinem Gegner Krämer, daß er das Wort im Sinne von ‚false‘ verstehe – und wunderte sich dann, daß der Dialektiker in der Deutung der Tübinger zwei Philosophien haben müsse, eine angeblich falsche für die Schrift, eine richtige für die mündliche Lehre. Es gehe doch nicht an, daß der Phi-

im Phaidros und der schriftstellerischen Praxis Platons von den frühesten bis zu den spätesten Dialogen folgte dann in PSP I und II (= Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004). 5 Nachweise in: Thomas Alexander Szlezák: Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 420–439.

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losoph mit ‚two sets of objects‘ arbeite.6 Selbstverständlich ist das bei Platon nicht so gemeint, und es hat auch weder Krämer noch sonst ein Interpret so verstanden. Platon gibt gerade im Phaidros präzise an, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn ein Logos einen anderen übertreffen soll. Allerdings tut er das viele Seiten vor der Schriftkritik, so daß seine vorsorgliche KlarsteIlung Vlastos’ myopischer Lektüre verborgen bleiben mußte. Nach der ersten Rede über den Eros kommen Sokrates und Phaidros überein, daß eine Rede, die die des Lysias überbieten soll, die Grundthese mit ihr gemein haben muß, im übrigen aber „anderes, mehr und Wertvolleres“ bieten muß: ἕτερα πλείω καὶ πλείονος ἄξια (236 a8–b2, vgl. ἄλλα πλείω καὶ πλείονος ἄξια, 235 b4–5). Von ‚two sets of objects‘ wie bei Vlastos ist natürlich nicht die Rede, vielmehr muß die bessere Rede „Bedeutenderes und mehr über dieselbe Sache“ enthalten (μείζω καὶ πλείω περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος, 234 e3). Es dürfte klar sein, daß genau dieses Verhältnis besteht zwischen der Rede des Lysias und der ersten Rede des Sokrates, aber auch zwischen der ersten und der zweiten Rede des Sokrates. Wir erleben in diesem Dialog, wie der Philosoph seine eigene Rede in den Schatten stellt, indem er im zweiten Anlauf πλείονος ἄξια bringt. Das später im Dialog verwendete Wort τιμιώτερα ist nur ein Synonym für πλείονος ἄξια. Genau in dieser Weise wird der Dialektiker seine Schrift mündlich überbieten. Wer die erste und die zweite Eros-Rede des Sokrates mit einander vergleicht, kann nichts Befremdliches mehr finden an der Forderung, der Philosoph solle seinen ersten Logos anschließend in einem zweiten durch τιμιώτερα als gering erweisen. Man stelle sich nur vor, Platon hätte den Phaidros nach der ersten Rede des Sokrates enden lassen, mit einem witzigen Schluß, in dem Phaidros zugegeben hätte, daß Sokrates hundertmal besser ist als sein Lehrer Lysias. Das wäre ein hübscher kleiner Dialog geworden, und niemand würde etwas vermissen. Niemand käme auf die Idee, Sokrates habe noch mehr und Wertvolleres über die Liebe zu sagen als er in der ersten Rede sagt. 3.6

Warum soll der platonische Philosoph nicht von vornherein alles, was er zu sagen hat, in einer Schrift mitteilen? Weil die Schrift sich den richtigen Adressaten nicht selbst suchen kann, folglich zu allen spricht, auch zu denen, die die Sache (der Philosophie) nichts angeht (παρ οἷς οὐδὲν προσήκει, 275 e2); sie kann also nicht reden und schweigen zu denen man

6 Gregory Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959). In: Gnomon 35 (1963), 641–655, hier: 653.

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(reden oder schweigen) soll (λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, 276 a 6–7, ebenso οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή, 275 e3). Zwei Fragen stellen sich sofort ein: wieso gibt es Menschen, die die Philosophie nichts angeht? Ist sie nicht für alle da? Sodann: was wäre denn Schlimmes dabei, wenn ungeeignete Leser und Hörer alles über Platons Philosophie erfahren würden? Platonische Philosophie ist in erster Linie Ideendenken. Nur der Ideendenker kann mit Recht als φιλόσοφος; angesprochen werden (Politeia 476 bl–2). Obwohl jede menschliche Seele im Jenseits etwas von den Ideen erblickt hat (Phdr. 249 b5, e5), ist Platon dennoch überzeugt, daß es Menschen gibt, deren Denken für immer unfähig ist, die Natur der Idee zu sehen und zu lieben (Politeia 476 b6–8, c3–4, 479 e2). Ein solcher Mensch ist für die eigentliche Aufgabe der menschlichen Seele, die Ideenerkenntnis und die dadurch ermöglichte ὁμοίωσις θεῶι, ungeeignet, die Philosophie geht ihn nichts an, er ist der οὐδὲν προσήκων (Politeia 539 d5–6, Phaidros 275 e2). Man wird diese Ungeeigneten im besten Staat zur eigentlichen dialektischen Ausbildung von vornherein nicht zulassen (Politeia 503 d8– 9, 539 d3–6), vielmehr wird über die Zulassung generell eine strenge Auswahl, ἐκλογή, entscheiden (535 a–539 d). Im übrigen kann die Hinwendung zur Ideenwelt nur durch eine Umwendung der ganzen Seele zustande kommen (518 c8 οὺν ὅληι τῆι ψυχῆι), d. h. durch die Umorientierung auch der unteren Seelenteile. Platonisches Ideendenken setzt also sittliche Läuterung voraus, das so genannte ‚Sterben‘ als Loslösung der Seele vom Körperlichen (Phdn. 67 e u. ö.). Da die Schrift aber die moralische κάθαρσις nicht selbst bewirken kann, wäre es kontraproduktiv, ihr Dinge anzuvertrauen, die diese Reinigung voraussetzen. Aus philosophischem Unverständnis können nur falsche Ansichten über den göttlichen Bereich der Ideen entstehen, was den Seelen der Betreffenden Schaden zufügt (κακόν τι ἐμποιεῖ ταῖς ψυχαῖς, Phdn. 115 e6). Aus der Unkenntnis kann aber auch Herabsetzung der Philosophie resultieren. Während wir Heutigen sagen würden, das müsse doch einem echten Philosophen gleichgültig sein, wird aus der Politeia über jeden Zweifel hinaus klar, daß es Platon nicht gleichgültig war, man lese nur 536 c2–5: Sokrates wurde ungehalten als er sah, wie die Philosophie ungerechterweise in den Schmutz gezogen wurde (ἰδὼν προπεπηλακισμένην ἀναξίως (sc. τὴν φιλοσοφίαν)). Das Göttliche (θεῖον, 500 c9) der Ideen geschmäht zu hören, läßt ihn nicht kalt. Sein Ziel ist, das ‚Geschäft‘ der Philosophie zu Ehren zu bringen statt in Unehre (τὸ ἐπιτήδευμα τιμιώτερον ἀντὶ ἀτιμοτέρου [ποιεῖν] (539 d1)).

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Aus diesen und ähnlichen Gründen7 ergibt sich, daß die inhaltliche Zurückhaltung in der Schrift für Platon philosophisch sinnvoll und notwendig, und überdies religiös geboten ist. 3.7

So kann es auch nicht verwundern, daß solche Zurückhaltung in den Dialogen als ‚Abbildern‘ der lebendigen Rede des Wissenden immer wieder dargestellt ist. Es mag hier genügen, auf die bekannte Kette von Aussparungsstellen zu verweisen, die die Politeia durchzieht und die mit der Handlung des Dialogs aufs engste verbunden ist. Die Handlung besteht kurz gesagt darin, daß eine Gruppe von Freunden den Philosophen aufhält und ‚nicht loslassen‘ (μὴ ἀφιέναι) will, bis er seine Ansichten zu den sie interessierenden Dingen gesagt hat. Sokrates läßt sich auch festhalten und gibt auch bereitwillig Auskunft, bis er an das Wesentlichste kommt. Hier setzt er eine klare Grenze: die wirkliche Beschaffenheit der Seele, die Wesensbestimmung der Idee des Guten und die Arten und Wege der Dialektik will er nicht erörtern, obwohl er auch zu diesen Fragen, wie er klar erkennen läßt, eine eigene Ansicht (τὸ δοκοῦν ἐμοί, τὰ ἐμοὶ δοκοῦντα) besitzt (435 d mit 611 b–612 a; 506 de mit 509 c; 533 a). Viele andere Dialoge haben ähnlich klare Aussparungen, ich erinnere etwa an den Timaios, der das Wesen des Demiurgen und die Zahl und Beschaffenheit der Prinzipien der Wirklichkeit an drei strukturell herausgehobenen Stellen aus der Darstellung heraushält (28 c, 48 c, 53 d). Die Aussparungen sind natürlich im Zusammenhang der überall spürbaren, von Platon sorgfältig herausgearbeiteten Überlegenheit des Gesprächsführers zu sehen: das Bild des Dialektikers, das die Dialoge mit großer Konsistenz von den frühesten zu den spätesten Werken zeigen, ist darauf angelegt, daß der Leser versteht, daß der Gesprächsführer dem aktuell geführten Gespräch weit voraus ist und da-

7 Weiteres in: Thomas Alexander Szlezák: Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift. In: Francesca Alesse u. a. (Hg.): Anthropine sophia. Studi in memoria di Gabriele Giannantoni. Napoli 2008, 227–236.

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her auch die weiterführenden Fragen, die er hier beiseite setzt, kompetent behandeln könnte.8 3.8

Wenn aber Platons esoterische Haltung in den Dialogen so deutlich dokumentiert ist, warum gibt es dann nicht auch – so könnte man kritisch fragen – einen authentisch platonischen Ausdruck für Esoterik bzw. für esoterische Inhalte? Die Antwort ist sehr einfach: es gibt diesen platonischen Terminus, es handelt sich sogar um einen sehr auffälligen Neologismus Platons – und dennoch hat die moderne Diskussion es vorgezogen, ihn unbeachtet zu lassen (sofern sie ihn nicht gleich eskamotieren wollte). Anläßlich der letzten Aussparungsstelle in Platons Oeuvre, eine Seite vor dem Ende der Nomoi, sagt der Athener, daß bestimmte Dinge, die er jetzt nicht ausführt, nicht richtig bezeichnet wären, wenn man sie ἀπόρρητα, geheim, nennen wollte, richtiger sind sie als ἀπρόρρητα zu bezeichnen, Nicht-vorder-Zeit-Mitteilbares, διὰ τὸ μηδὲν προρρηθέντα δηλοῦν τῶν λεγομένων, „weil sie, falls vorzeitig mitgeteilt, nichts vom Gemeinten klar machen“ (Nomoi 968 e2–5). Zu diesen ἀπρόρρητα gehören nicht nur Aspekte der Organisation der künftigen Stadt Magnesia, wie manche Interpreten verstehen wollten,9 sondern auch ἃ δεῖ μανθάνειν (Nom. 968 d3), „was (die künftigen Lenker der Stadt) lernen müssen“, also die philosophischen Inhalte, in denen die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung (des νυκτερινὸς σύλλογος) unterwiesen werden müssen. Mit dem authentisch platonischen Gegensatz von ἀπρόρρητα und ἀπόρρητα verstehen wir nun auch den Unterschied zwischen Esoterik und Geheimhaltung.

8 Dem Aufweis der Aussparungen in den Dialogen, verbunden mit Strukturanalysen der einzelnen Werke und mit textnaher Beschreibung der Kommunikationsweise zwischen den jeweiligen Gesprächsführern und ihren sehr unterschiedlichen Gesprächspartnern galt meine oben Anm. 2 genannte Arbeit (PSP I) und ihre Fortführung in PSP II. 9 Zur Widerlegung der unzutreffenden Auslegung von H. Cherniss und L. Tarán vgl. meine Argumente in: Szlezák, Thomas Alexander: Probleme der Platoninterpretation. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 230 (1978), 1–37, hier: 29–31.

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Die beliebte Anschuldigung, die esoterische Position schreibe Platon eine Geheimlehre zu, ist leer und nichtig.10 3.9 Zusammenfassung 1–8

Wir haben gesehen: die hermeneutische Position der so genannten Esoteriker (Esoteristen) ist vollständig aus den Dialogen abgeleitet. Die ‚Tübinger Schule‘ bzw. die ‚Scuola di Tubinga-Milano‘ braucht den Siebten Brief nicht zur Stütze ihrer Position. Denn nicht nur der Brief sagt, daß die σπουδαιότατα des Philosophen nicht in die Schrift gehören, auch die Dialoge halten die Dialektik als die μεγίστη ἐπιστήμη (Soph. 253 c4–5) und die Idee des Guten als das μέγιστον μάθημα aus der Darstellung heraus. Nicht nur der Brief stellt es so dar, daß Dionysios II., um zu erfahren, womit es Platon philosophisch ernst war (περὶ ὧν ἐγὼ σπουδάζω, Epist. 7, 341 c1), mit Platon selbst reden mußte, auch die Dialoge machen es klar, daß sie zu ihrer eigenen Sinndeutung der ‚Hilfe‘ ihres Urhebers bedürfen (τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ, Phdr. 275 e4). Der Siebte Brief hat lediglich die Funktion einer knappen und klaren Zusammenfassung von Dingen, die mit gleicher Klarheit aus der Schriftkritik und aus der deutlich erkennbaren literarischen Technik Platons in den Dialogen gewonnen werden können. Aussagen des Briefes sind als Bestätigung der Ergebnisse, die die Auslegung der Dialoge gebracht hat, selbstverständlich willkommen. Doch beruht das Platonbild der ‚Tübinger Schule‘ in keinem einzigen Punkt ausschließlich auf dem Zeugnis des Briefes.11 Sollte er echt sein, so wäre die Diskussion um den wahren Platon ohnehin entschieden. Sollte hingegen der lange gesuchte Beweis seiner Unechtheit endlich gefunden werden, so würde sich

10 Genaueres zur Unterscheidung von Esoterik und Geheimlehre vgl. PSP I, 400– 405 und Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Stuttgart 1993, 152–155. 11 In einem amerikanischen Pamphlet (OSAP 2006) wird behauptet, die Vertreter der Tübinger Richtung versicherten einerseits, den Briefnicht zu benötigen, benützten ihn aber andererseits immer wieder, woraus dann der Vorwurf der Unredlichkeit konstruiert wird. Doch kann der Autor keine einzige Stelle nennen, wo ein wesentliches Argument der von ihm bekämpften Interpreten (Gaiser und Szlezák) ausschließlich oder auch nur vorwiegend vom Siebten Brief abhängt. Somit fällt der Vorwurf voll auf den Pamphletisten zurück: er selbst ist ‚disingenuous‘, denn er erhebt einen ehrenrührigen Vorwurf, ohne ihn belegen zu können.

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für die Tübinger Position überhaupt nichts ändern. Wir haben dieses Dokument nicht nötig für unser Platonbild. 4.

Wenden wir uns nun der anderen Position zu, die den Dialog für autark erklärt, keiner Ergänzung bedürftig durch ein βοηθεῖν τῶι λόγωι, nicht angewiesen auf die τιμιώτερα Platons, deren bloße Existenz sogar von dieser Seite bestritten wird. Sofern sie den Siebten Brief nicht einfach für unecht erklären, stehen die Antiesoteriker vor der Frage, wovon Platon hier eigentlich spricht. 4.1

Ihre Antwort lautet: gemeint sei das schlichtweg Unsagbare, worüber man nicht sprechen kann und worüber man folglich schweigen soll (im Sinne von Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 7). Diese Interpretation beruht jedoch auf einer sehr oberflächlichen, unvollständigen Lektüre. Es ist zwar richtig, daß an den zwei Stellen, an denen das Aufgehen der Erkenntnis nach langer gemeinschaftlicher Bemühung dem plötzlichen Überspringen eines Funkens, der ein Licht entzündet (ἐξαίφνης, οἷον ἀπὸ πυρὸς πηδήσαντος ἐξαφθὲν φῶς, 341 c7–d1) und dem ‚Aufleuchten‘ eines Lichtes (ἐξέλαμψεν φρόνησις περὶ ἕκαστον καὶ νοῦς, 344 b7) verglichen wird, ein mentaler Vorgang intendiert ist, der nicht von sprachlicher Natur ist. Indes ist es unzulässig, allein diese beiden Lichtvergleiche in den Mittelpunkt zu rücken und den Kontext zu vernachlässigen, in dem sie erscheinen. Die Unsagbarkeit des Überspringens des Funkens ist von vornherein eingeschränkt: es ist nicht sagbar „wie andere Lehrinhalte“ (ῥητὸν γὰρ οὐδαμῶς ἐστιν ὡς ἄλλα μαθήματα, 341 c5–6), was die Vermutung nahelegt, daß es irgendwie doch sagbar ist, wenn auch nicht wie beweisbare Sätze. Gleich darauf versichert der Autor, daß das Gemeinte mitzuteilen, wenn es ihm hinreichend für die Menge schreibbar und sagbar erschiene (εἰ δέ μοι ἐφαίνετο γραπτέα θ’ ἱκανῶς εἶναι πρὸς τοὺς πολλοὺς καὶ ῥητά, 341 d4–5), für ihn die schönste Aufgabe wäre und daß, wenn irgend jemand, dann er selbst es sagen könnte (341 d2–3). Es dürfte klar sein, daß solche Gedanken in Anwendung auf das schlichtweg Unsagbare nicht sinnvoll wären. Es geht um die ‚hinreichende‘ (ἱκανῶς) Sagbarkeit, d. h. um die intersubjektiv (πρὸς τοὺς πολλοὺς) zwingende Nachvollziehbarkeit wie bei anderen Lehrgegenständen. Diese verneint der Autor für das, womit ihm ernst ist. Daraus folgt keineswegs, daß beim philosophischen Zusammenleben (συζῆν, 341 c7) keine propositionalen Aussagen gemacht

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wurden. Evidentermaßen ist exakt das Gegenteil gemeint, wie sich aus folgenden vier Beobachtungen am Text ergibt: 1. Das Licht der Erkenntnis „leuchtet auf“ nach langem „Aneinanderreiben“ der Erkenntnismittel „in wohlwollenden Widerlegungen bzw. Prüfungen (ἐν εὐμενέσιν ἐλέγχοις)“. Das bedeutet: eine zeitlich nicht limitierte diskursive Debatte in These und Gegenthese geht der noetischen Erkenntnis voran. 2. Platon hatte nach dem Brief die Gewohnheit, Bewerber um die Zulassung zu seiner mündlichen Prinzipienphilosophie einem Test zu unterziehen (πεῖραν λαμβάνειν, 340 b5), in dessen Verlauf er das ganze Unterfangen in knapper Form darlegte. Es ging offenbar um ein strukturiertes Ganzes (πᾶν τὸ πρᾶγμα, 340 b8, vgl. τὸ ὅλον, 341 b2), das mit größerer oder geringerer Vollständigkeit behandelt werden konnte – Dionysios bekam nicht alles zu hören (341 a8–b1). 3. Aus diesen unvollständigen Darlegungen Platons machte Dionysios ein Buch, er wagte es also, die platonischen Inhalte ‚hinauszuwerfen‘ (ἐτόλμησεν ... ἐκβάλλειν, 344 d8). Wäre es in der πεῖρα allein um das schlechthin Unsagbare gegangen, so hätte es nichts zum ‚Hinauswerfen‘ gegeben. 4. Das Buch des Dionysios hat Platon nicht gesehen. Andere sagten ihm, daß es aus Inhalten seiner πεῖρα gemacht sei (341 b3–5). Es gab also aufschreibbare, auch in fremdem Kontext als platonisch identifizierbare Aussagen aus dem Bereich dessen, womit es Platon ernst war. Das Nicht-zu-Schreibende des Siebten Briefes mit einem quasi Wittgensteinschen Unsagbaren erklären zu wollen, um sich so die Illusion eines nichtesoterischen Platon erhalten zu können, zeugt von großer Oberflächlichkeit der Lektüre. Wir müssen vielmehr zugeben: der Brief kennt beides, sowohl das, was nicht gesagt werden kann, als auch das, was (in der Schrift) nicht gesagt werden soll. Weil die Erörterungen und ‚Elenchoi‘, die zum gänzlich Unsagbaren (dem Überspringen des Funkens der Erkenntnis) hinführen, selbst sprachlicher Natur sind und ausgesprochen und aufgeschrieben werden können, aber wegen der Mängel der Schrift nicht aufgeschrieben werden sollen, ist ein Appell an die Vernunft, also an den freien Willen des Philosophierenden angebracht: ein vernünftiger Mensch wird das nicht tun, so wie im Phaidros ein vernünftiger Bauer nicht sein gesamtes Saatgut in Adonisgärten säen wird (Epist. 7, 344 cd; Phdr. 276 b). In einem aristotelischen Text würden wir die klare Trennung der beiden Bedeutungen von ‚unsagbar‘ erwarten: τὸ γὰρ οὐ ῥητὸν λέγεται διχῶς. Doch das ist nicht Platons Stil. Sollen wir ihm vorwerfen, daß er in einem per-

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sönlichen Schreiben an eine politische Gruppierung in Syrakus auf semantische Belehrungen dieser Art verzichtete? Die Sache selbst ist klar genug. 4.2

Es ist evident, daß die moderne antiesoterische Position den Siebten Brief braucht aber nicht als lebendiges Testimonium des platonischen Denkens, sondern sozusagen als Leiche, als toten Text. Um diesen Text zu töten, genüge es – so glaubte man – ihm abzusprechen, daß er von Platon sei. Daß mit dem Wegfall des Briefes die esoterische Position in keiner Weise geschädigt ist, hat bis heute kaum jemand verstanden. So lange man nicht erkennt, daß die wesentlichen Punkte des Platonbildes der so genannten Tübinger Schule bzw. Scuola di Tubinga-Milano ganz und gar aus den Dialogen selbst gewonnen sind, muß man glauben, der Siebte Brief sei die Hauptstütze dieser Interpretationsrichtung. Und dann kann man hoffen, mit einer simplen Athetese das Problem lösen zu können. Aber diese Athetese ist absolut unerläßlich: das antiesoterische Platon-Bild steht und fällt mit der Unechtheit des Briefes. Die Antiesoteriker sind diejenigen, die den Brief brauchen – als unplatonisches Dokument. 4.3

Wie steht es nun mit dem Beweis der Unechtheit? Er wird seit etwa 200 Jahren eifrig gesucht. Viele tüchtige Philologen haben sich an dieser Suche beteiligt. Keiner hat etwas Überzeugendes gefunden. Die Ehrlichkeit, zuzugeben, daß die bisher gefundenen Argumente gegen den Brief für eine Athetese nicht ausreichen, haben nur wenige. Vorbildlich war der größte Gräzist der letzten 200 Jahre, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: in seiner Jugend ging er mit der Mehrheit der Philologen und hielt den Brief für unecht. Im Alter von 70 Jahren, als er sein großes Platon-Buch schrieb, sah er ein und gab öffentlich zu, daß seine frühe Athetese schlecht begründet war und nahm sie zurück. So hoffte er, die Akten über diese Frage seien nunmehr geschlossen.12 Doch rechnete Wilamowitz nicht mit der Zähigkeit der Vorurteile gegen eine mündliche Philosophie Platons. Der größte Angriff auf den Brief kam 47 Jahre nach Wilamowitz auf Englisch, verfaßt von einem deutschen Gelehrten im amerikanischen Exil: Ludwig Edelstein glaubte, in seinem Buch Plato’s Seventh Letter (Leiden 1966) den lang ersehnten Beweis der Unechtheit wirklich erbracht zu haben. Die Widerlegung kam sogleich, ebenfalls auf Englisch, von einem anderen deut-

12 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Berlin 41969 [1919], Band II, 282.

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schen Gelehrten im amerikanischen Exil: in der Rezension von Friedrich Solmsen im Gnomon 1969. Seit dieser Auseinandersetzung sind keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte mehr hinzugekommen.13 W. K. C. Guthrie glaubte noch, den Brief als platonisch halten und zugleich als unesoterisch verstehen zu können,14 konnte damit aber nicht überzeugen.15 Erwähnt sei noch der Versuch von H. Tarrant, den philosophischen Exkurs über die Grenzen der Erkenntnis, der Sprache und der Schrift als ein Produkt des Mittelplatonismus zu erweisen,16 was selbst dann nichts nützen würde, wenn der Beweis gelungen wäre, stehen doch die wichtigsten Aussagen zu Platons esoterischer Haltung kurz vor und kurz nach dem Exkurs (341 cd, 344 d–345 c). Gelegentlich liest man noch eine Leugnung der Tatsache, daß Dionysios’ Plagiat die Prinzipienlehre Platons betraf17 oder von „Verdachtsmomenten“, die der Anerkennung des Briefes angeblich im

13 Ein sehr nützlicher Überblick über den Streit um die Echtheit findet sich bei Rainer Knab: Platons Siebter Brief. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Hildesheim 2006 (Spudasmata, Bd. 110), 1–6. 14 William Keith Chambers Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. V. Cambridge 1978, 402–417. 15 Guthrie verließ sich auf das früher allgemein verbreitete Argument, ein platonischer Dialog sei kein σύγγραμμα, womit man glaubte, den (scheinbaren) Widerspruch zwischen der Existenz der Dialoge und der Versicherung des Briefes, es gebe kein σύγγραμμα Platons über das, womit ihm ernst sei (341 c1), beheben zu können (vgl. auch Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. IV. Cambridge 1975, 63–65). Doch das σύγγραμμα-Argument ist inzwischen erledigt (vgl. PSP I, 376–385: Die Bedeutung von σύγγραμμα) und wird auch von den Antiesoterikern kaum noch bemüht. Vgl. auch Thomas Alexander Szlezák: The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato’s Seventh Letter. In: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. C. J. Putnam (Hg.): Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 354–363. 16 Harold Tarrant: Middle Platonism and the Seventh Epistle. In: Phronesis 28 (1983),75–103. 17 L. Brisson versuchte die Beziehung der Schrift des Dionysios auf die mündliche Prinzipien-Philosophie aufzuheben, indem er die Angabe des Briefes, Dionysios habe „etwas vom Höchsten und Grundlegendsten hinsichtlich der Natur (gemeint ist: hinsichtlich der ontologischen Beschaffenheit der Realität) niedergeschrieben“ (ἔγραψέ τι τῶν περὶ φύσεως ἄκρων καὶ πρώτων, 344 d4–5) übersetzt als: „... a écrit l'un des meilleurs et des principaux ouvrages Sur Ja nature“ (Luc Brisson: Lectures de Platons. Paris 2000, 78–79). Abgesehen davon, daß diese Übersetzung sprachlich kaum zu halten sein dürfte, ergäbe sich bei diesem Verständnis ein völlig unmotiviertes Lob Platons für ein Buch, das er nicht gesehen hat (341 b5). Ferner ging das Buch des Dionysios über das, was er von Platon gehört hatte (341 b3–5) – war das etwa Platons Naturphilosophie? Und was hätte Dionysios ,,hinausgeworfen“ – im Gegensatz zu Platon, der es in Ehren hielt (344 d7–8) – wenn doch der Timaios, wie heute alle annehmen, zur Zeit der Abfassung des

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Wege stehen.18 Eine hilflose Rückzugsposition ist die von C. J. Rowe, der allen Ernstes meint, die Beweislast für die Echtheit des Briefes liege bei denen, die ihn akzeptieren.19 Rowe kann freilich nicht angeben, wie denn

Briefes bereits geschrieben war? Von einem Plagiat eines geschriebenen Dialogs redet der Brief gerade nicht. 18 W. Burkert nennt drei Punkte, die seiner Meinung nach gegen den Brief sprechen: "die Leere der Zeugnisse über Platons Jugend und Sokrates, die ganz von Platons publizierten Werken abhängen, die positive Wertung der ‚Isonomie‘ (326 d, vgl. 337 c1, die raffiniert indirekte Apologie und Verherrlichung Platons" (Walter Burkert: Neanthes von Kyzikos über Platon. In: Museum Helveticum 57 (2000), 76–80, hier: 80, Anm. 33). Hiervon beruhen das erste und das dritte „Verdachtsmoment“ auf unzutreffender Beschreibung des Textbefundes (die Angaben über Platons Jugend sind weder leer noch hängen sie von den Dialogen ab; die positive Wertung Platons ist weder „raffiniert indirekt“ noch eine „Verherrlichung“, sondern eine angemessene, klare und direkte Beurteilung seiner Rolle in Athen und in Syrakus), während die positive Verwendung des Begriffs Isonomie nur dann Anstoß erregen kann, wenn man vergißt, daß politische Schlagwörter von den entgegengesetztesten Lagern benützt werden können und dabei ihren Sinn ändern. Im Siebten Brief dürfte die ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ natürlich die von Platon favorisierte geometrische Gleichheit meinen. Für Weiteres zu Burkerts „Verdachtsmomenten“ vgl. meinen Beitrag: Platon in Syrakus: Politik, Philosophie, Eros. In: Perspektiven der Philosophie 36 (2010), 205–210. 19 C. J. Rowe in seiner Rezension von R. Knab (oben Anm. 13) in: Exemplaria Classica 11 (2007), 291–297, hier: 293. – Auch sonst trägt Rowes ‚Rezension‘, die diesen Namen nicht verdient, trotz ihres nicht geringen Umfangs nichts Sachhaltiges zur Erklärung des Briefes bei. Rowe scheint von der Unechtheit fest überzeugt zu sein, kann sie aber – wie alle seine Vorgänger – nicht begründen. Er glaubt, es könne künftige Argumente gegen die Echtheit auf Grund von ‚stylistic peculiarities‘ und ‚philosophical peculiarities‘ geben (ebd., 294) – doch welche das sein könnten, deutet er nicht einmal an, wie er auch keinen einzigen der früheren (in der Sekundärliteratur längst widerlegten) Einwände dieser Art verteidigt. Die alte Behauptung, der Brief leide unter einer doppelten, angeblich widersprüchlichen Zielsetzung – er wolle den Freunden Dions politischen Rat geben und zugleich Platon vor der Öffentlichkeit in Athen rechtfertigen – nimmt Rowe befremdlicherweise als Argument gegen die Echtheit (ebd., 294f.). Doch abgesehen davon, daß Knab diese Auffassung überzeugend widerlegt hat (alles im Brief ergibt sich aus der Aufgabe, die Freunde Dions in Syrakus auf die Linie zu bringen, die Platon und Dion von Anfang an vertreten hatten), ist nicht einzusehen, warum eine eventuelle doppelte Abzweckung beim historischen Platon unmöglich gewesen sein soll. Frühere Vertreter dieser Einschätzung des Briefes sahen darin überwiegend keinen Einwand gegen die Echtheit. Wenn Rowe ferner meint, das politische Engagement Platons in Sizilien stehe in unauflösbarem Widerspruch zu seiner Einschätzung jedweder Politik in seiner Zeit (ebd., 294), so übersieht er zweierlei: einmal, daß Platon noch in den Nomoi den Athener sagen läßt, die gute Einrichtung einer Stadt lasse sich erreichen mit Hilfe eines jungen, philosophisch begabten Tyrannen (Nom. 709 e), und zweitens, daß der Brief mit

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14. Wer braucht den Siebten Brief?

der positive Beweis der Echtheit eines literarischen Werkes der Vergangenheit aussehen könnte – daß aus methodischen Gründen niemals die Echtheit eines Werkes, sondern prinzipiell nur die Unechtheit bewiesen werden kann, scheint er nicht verstanden zu haben. Diese methodologisch widersinnige Forderung eines Beweises der Echtheit erhebt neuerdings auch M. Frede (bzw. sein Herausgeber D. Scott) in einem Buch, in dem er zusammen mit M. Burnyeat eine Anzahl von Vorurteilen zusammenträgt, deren Beweiskraft – auch in der Summe – gleich Null ist.20 4.4

Die Vertreter der antiesoterischen Position sind methodisch gesehen in einer sehr unangenehmen Lage. Sie haben mit ihren falschen Angaben zu den Dialogen – so als bezeugten diese eine antiesoterische Einstellung Platons – sich die ungeheure Beweis-Schuld für die Unechtheit des Siebten Briefes aufgebürdet – denn dessen Aussagen zum restriktiven Umgang des Philosophen mit der Schrift lassen sich nun einmal nicht so einfach ausblenden wie im Fall der Dialoge. So lastet also das onus probandi auf dieser Position. Wie sie ihre Schuld abtragen soll, weiß sie nicht zu sagen. Demgegenüber können die Vertreter der anderen Seite sich bequem zurücklehnen und sagen: wir warten gerne noch weitere 200 Jahre auf den Beweis der Unechtheit. Wenn er einmal kommen sollte, wird sich für uns dadurch nichts ändern. Denn wir haben den Siebten Brief nicht nötig zur Stützung unseres Platonbildes.

aller Deutlichkeit klarstellt, daß Platon nicht aus politischem Ehrgeiz nach Syrakus ging, sondern aus dem Gefühl persönlicher Verpflichtung gegen Dion, der sein Eingreifen für nötig und erfolgversprechend hielt. 20 Myles Burnyeat/Michael Frede: The Pseudo-Platonic Seventh Letter. A Seminar. Ed. by Dominic Scott. Oxford 2015. Die Forderung des Echtheitsbeweises ist bei Frede 33 impliziert, von Scott in der Einleitung XIIIf. auch ausgesprochen. Eine detaillierte Besprechung dieses neuesten ‚Beweises‘ der Unechtheit des Siebten Briefes, der weit hinter dem philologischen und philosophischen Niveau des Buches von Edelstein (1966) zurückbleibt, gebe ich in Gnomon 89 (2017), 311–323. Auf sehr viel besserem wissenschaftlichen Niveau bewegt sich die zweisprachige kommentierte Ausgabe von Paulo Butti de Lima: Platone. La utopia del potere (La settima lettera). A cura di P. B. de L. Traduzione di Maria Grazia Ciani con testo a fronte. Venezia 2015. In der Frage der Echtheit enthält sich Butti de Lima (49 n.16) des Urteils.

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15. Are There Deliberately Left Gaps in Plato’s Dialogues? (2015)*

Hans-Georg Gadamer summarized his view on the importance of the turn in Platonic studies initiated at the beginning of the nineteenth century by Friedrich Schleiermacher in the following way: ‘It was truly of historical importance that Schleiermacher construed his picture of Plato wholly from the dialogues, pushing aside both dogmatic Platonism and the indirect tradition’.1 Of the three statements contained in this judgement, the first and the last are no doubt correct: Schleiermacher had indeed a lasting impact on the history of Platonic studies, and he paid no attention to the indirect tradition concerning Plato’s theory of principles. The remaining assertion, i. e., that Schleiermacher drew his image of Plato ‘wholly from the dialogues’, is unlikely to find the assent of any critical reader of Schleiermacher. Schleiermacher’s new picture of Plato, which became the leading paradigm of Platonic interpretation in the nineteenth and twentieth centuries, was not the result of careful and patient analysis of the form and the content of the dialogues, but of an incomplete, idiosyncratic interpretation of the first part of Plato’s criticism of writing in the Phaedrus.2 The reason for Schleiermacher’s neglect of the tradition concerning Plato’s unwritten views on the principles of reality was not that he would have doubted – as did Harold Cherniss a hundred and fifty years after him – the

* I want to thank H. Ruthrof (Murdoch University, Western Australia) for correcting my English. 1 Hans Georg Gadamer: 1969, 374; similarly 379. 2 The clearest exposition of Schleiermacher’s picture of the character and intention of Plato’s dialogues is to be found in the introduction (“Einleitung”) to his translations (Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36). An English translation of all introductions to the dialogues translated by Schleiermacher (without e. g. the Ti. and the Lg.) appeared two years after his death (Schleiermacher, Introductions to the Dialogues of Plato. Transl. by William Dobson, London 1836 [Repr. New York 1973]). For a presentation and critique of Schleiermacher’s theory of the Platonic dialogue see Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 331–75, and id.: Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts, 2004.

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15. Are There Deliberately Left Gaps in Plato’s Dialogues?

historicity of Plato’s oral teaching.3 On the contrary, he acknowledged it explicitly when he wrote that ‘it can only be said that immediate instruction was his [sc. Plato’s] only esoteric activity, while writing was only his exoteric’ and that in this immediate instruction ‘he could express his thought purely and completely’,4 whereas in his writings he (allegedly) avoided doing so. Thus, for Schleiermacher the historical fact of the ‘immediate instruction’ of Plato was not in doubt. Rather, the reason for his failure to take into account the indirect transmission was, it would seem, that he never studied it thoroughly. Even a superficial acquaintance with the relevant testimonies could have prevented him from claiming that ‘even when, as is now and then the case, other lost writings or perhaps oral lectures are quoted [sc. by Aristotle], those quotations in no way contain anything unheard of in the writings we possess, or completely different from them’.5 Today, a hundred years after Léon Robin’s brilliant reconstruction of Plato’s philosophy of principles (1908), and fifty years after Konrad Gaiser’s useful collection of the relevant texts (1968),6 there is no need to point out in detail to a well-informed readership that the indirect tradition contains quite a lot of things ‘unheard of in the writings we possess and completely different from them’. But even in the time of Schleiermacher hardly any expert would have accepted the view that we cannot learn from Aristotle anything beyond the dialogues. Only a few years before Schleiermacher’s epoch-making ‘Introduction’ appeared, two historians of philosophy, Dieterich Tiedemann (1791) and Wilhelm Gottlieb Tennemann (1792–1795, 1799) had voiced the view – not without adding arguments from the ancient texts – that Plato deliberately withheld from his written oeuvre an important part of his philosophy, viz. his theory of principles. Both scholars read the criticism of writing in the Phaedrus and in the Seventh Letter as Plato’s justification for his habit of setting limits to philosophical communication in writing, both 3 As to the position of Cherniss, it might suffice to quote Jonathan Barnes, for whom Cherniss’ ‘principal claims’ are not only ‘patently false’, but also ‘uninterestingly false’ (The Classical Review 45 [1995], 178). 4 Schleiermacher („Einleitung“, 17; „Introductions“, 17, 18). (Dobson translated ‘Handeln’ by ‘process’, where ‘activity’ would be preferable, and ‘rein und vollständig’ by ‘purely and perfectly’, where in the context ‘purely and completely’ is required.). 5 „Introductions“, 12; id.: „Einleitung“, 13. 6 See also Marie-Dominique Richard: L´enseignement orale de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme. Paris 22005 [1986]. An English translation of the most important testimonies can be found in Findlay 1974.

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believing Aristotle’s information about Plato’s oral philosophy to be reliable and consistent with the dialogues. The picture of Plato drawn by these two scholars in rather similar ways cannot be summarized here in any detail.7 For our present purpose it may suffice to mention the fact that Tiedemann and Tennemann pointed out – in addition to other important arguments – that there are in Plato numerous passages where an important question is addressed and at the same time further discussion of it is excluded in the present context. These passages – in our days known under the names ‘passi d’omissione’, ‘passages de rétention’, ‘Aussparungsstellen’, ‘pasajes de silenciamiento’, ‘reträttpassager’, ‘deliberate gaps’, etc. – Tiedemann and Tennemann held to be references of Plato the writer to Plato the oral philosopher, i. e., to his own unwritten teaching which was pursued in the Academy with the aim to analyse the basic problems of philosophy in a more thorough way than written dialogues would permit. They took the recognizably purposeful limitation of the philosophical discourse in these passages as proof of Plato’s esotericism, which for them was a philosophically well-founded attitude to writing, still intelligible to us today (even if no longer an option for our own culture of literacy). Long before Tiedemann and Tennemann, another historian of philosophy, Jakob Brucker (1696–1770) – whose judgements were incorporated in the large encyclopedias of Johann Heinrich Zedler (1741) and Denis Diderot (1751–1780) and so enjoyed wide circulation in the eighteenth century – had noticed the existence of deliberate gaps in Plato. According to him, Plato not infrequently refused to speak his mind when it would have been necessary to do so.8 Contrary to Tiedemann and Tennemann, Brucker had no understanding of Plato’s motivation for his philosophical reticence.9 Thus he ascribed it to Plato’s alleged cultivation of his public image: his desire was, according to Brucker, to be admired by the multitude. * Whether valued positively or negatively, the existence in Plato’s texts of deliberately left gaps was known to readers of the late eighteenth and early nineteenth centuries. As we saw above, Schleiermacher did not deny Pla-

7 For a short characterization see Thomas Alexander Szlezák, here: 47–48 on Tiedemann, 48–51 on Tennemann; see further Szlezák, Von Brucker über Tennemann zu Schleiermacher, 2010, 416–420 on Tiedemann, 420–425 on Tennemann. 8 According to Brucker (1731, I, 628), Plato would have ‘nicht selten, wenn es ans Haupttreffen gekommen, seine Meinung heraus zu sagen, sich geweigert’. 9 On this question see Szlezák, Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift, 2008.

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15. Are There Deliberately Left Gaps in Plato’s Dialogues?

to’s oral teaching in the Academy. As his knowledge of the indirect tradition was, as shown above, rather rudimentary, and as he had no use for it in any case, given his new understanding of what he called ‘indirect communication’,10 one might expect that he simply neglected the deliberate gaps (as did – and do – all those scholars in the nineteenth, twentieth and twenty-first centuries whose hermeneutics depend in the last resort on Schleiermacher). And indeed, in most cases he did not mention the ‘gaps’ in the notes to his translation. Yet there is one remarkable exception: Schleiermacher’s commentary on the first important ‘gap’ in Plato’s Republic. At Republic 4, 435 c–d, Socrates puts the following restriction upon what he is going to say on the three ‘parts’ of the soul: But know well, Glaucon, that in my opinion, we’ll never get a precise grasp of it [sc. the question whether the soul has the same three ‘parts’ as the ideal state] on the basis of methods such as we’re using now in the discussion. There is another longer and further road leading to it. But perhaps we can do it in a way worthy of what’s been said and considered before’. (4, 435 c9–d5, tr. Bloom, slightly modified) Schleiermacher’s comment on Plato’s reference to the ‘longer way’ is as follows: Plato did not talk of this purer and more exact method as of something foreign to him. His words rather indicate that he was convinced of his firm possession of it. It would be really strange to believe that Plato had not yet developed his whole science [Wissenschaft] in his oral lectures in the time he wrote the books on the state. So his intimate disciples understood him also in this case perfectly and knew where the superior method was at home’. [my emphasis]11

10 The method of ‘indirect communication’, allegedly characteristic of Plato, was conceived by Schleiermacher (Schleiermacher: “Einleitung”) as a method by which the explicit communication of the insights intended by the author would become superfluous. I have shown elsewhere („Schleiermachers ‚Einleitung‘ zur Platon-Übersetzung von 1804“, 1997, and „Von Brucker über Tennemann zu Schleiermacher“, 2010) that Schleiermacher’s theory of the Platonic dialogue is in flat contradiction both to the letter and to the spirit of Plato’s criticism of writing. 11 Schleiermacher (Platons Werke. Dritten Theiles erster Band. Berlin 21862, 356): ‘Platon redet hier nicht von diesem reineren und genaueren Verfahren als einem das ihm fremd sei; vielmehr deuten seine Ausdrücke darauf, dass er überzeugt gewesen es wohl inne zu haben. Es ware aber höchst sonderbar glauben zu

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Schleiermacher thus acknowledges that the text of the Republic refers to a method of superior philosophical accuracy which does not belong in the published book but has its place in the oral instruction in the Academy, and that this method is not treated as a project for future research but as something available and tested and known to the disciples. Now this acknowledgement of a philosophical surplus of oral teaching – which for Schleiermacher was Plato’s ‘esoteric activity’12 – stands in an implicit tension with his theory of the Platonic dialogue, which in its entirety aims at the elimination of Platonic esotericism in the sense Tiedemann and Tennemann had conceived it. This discrepancy is not too disturbing as long as one believes with Schleiermacher that the Republic belongs, together with the Timaeus and the Critias, to the last period of Plato’s literary activity.13 With this assumption one would get to something like the position of K. F. Hermann, who recognized the philosophical relevance of Plato’s ‘unwritten doctrines’, but put them into the very last years of Plato’s life, thus marginalizing them in a different way. Acknowledgement and near-elimination would thus become coexistent. The problem looks different, however, if we respect the view of the majority of scholars who locate the Republic in Plato’s middle period. With this dating the deliberate gaps in the Republic – i. e. 4, 435 c–d and the passages connected with it14 – assume for some scholars the role of clear pointers to the fact that an oral philosophy of principles stood behind the dialogues as early as in Plato’s middle period. It does not come as much of a surprise then that those scholars who share Schleiermacher’s interest in getting rid of Plato’s Academic oral philosophy will attempt to deny that

wollen, dass Platon als er die Bucher vom Staate schrieb nicht schon seine ganze Wissenschaft sollte in seinen mündlichen Vorträgen entwickelt haben. Seine eigentlichen Schüler verstanden ihn also auch hier ganz, und wussten wo die vollkommenere Methode einheimisch sei’. 12 Schleiermacher (Schleiermacher: “Einleitung”, 17): teaching alone was Plato’s ‘esoterisches Handeln’; Dobson translates ‘his only esoteric process’ (Schleiermacher 1836, 18). 13 Schleiermacher (1836, 41): ‘Every thing coincides in assigning to these [sc. R., Tim., Criti.] the last places’; Schleiermacher (“Einleitung”, 32): ‘Alles stimmt zusammen, um diesen [sc. dem Staat, dem Timaios und Kritias] die letzte Stelle anzuweisen’. 14 That the deliberate gaps in the R. are tightly related to each other and that they are relevant for the action of the dialogue has been shown in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 303–325 (= id.: Platone e la scrittura della filosofia. Milano 31992, 390–414).

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there is anything at all like a reference from the text to something outside the text, be it in 4, 435 c–d or elsewhere. Some of these attempts will be discussed in the pages to follow. * Christopher J. Rowe15 wanted to show that Socrates does not want to withhold anything at Republic 4, 435 c–d.16 What happens in this passage is rather that by distinguishing three ‘parts’ of the soul (4, 435 e–441 c) Socrates introduces a model of the soul which is not his preferred model, but one adapted to the intellectual level of his interlocutors17 – that’s why Socrates says in 4, 435 c–d that what will follow now will be lacking in accuracy. To speak of three parts of the soul is meaningful only in certain contexts and under certain circumstances (253).18 The theory of trichotomy is being expounded only in a specific context for a specific audience (253).19 Besides the ‘model’ of the soul with its three parts – logistikon, thymoeides and epithymētikon – there is another ‘model’ in the Republic: the soul which is oriented in its entirety towards the intelligible realm, having got rid of all those hindrances which were added to it by the existence in this world. This model of the soul is put forward in Republic 7, 518 c–519 b and 10, 611 b–612 a. It represents the true and original nature of the soul and is, according to Rowe, Socrates’ and Plato’s preferred vision of the soul.20 In normal life, the soul is so strongly entangled with things exterior to it that it thereby appears to have three parts. When the soul is free of these conditions and connections, something quite different appears: besides the rational strivings only certain minimal non-rational desires belong to the soul, desires which are necessary for survival in a body,21 i. e. the natural desire for food and drink. There is sufficient information in the text, Rowe says, that this is Plato’s preferred view. It is indicated with sufficient clarity.22 And this vision of the soul is what was hinted at in 4, 435 c– d by way of the ‘longer way’. Thus there is, according to Rowe, no reference from the written text to the sphere of orality. Rather we are faced 15 Christopher J. Rowe: Plato and the Art of Philosophical Writing. Cambridge 2007. 16 Rowe’s final result: ‘In breve, ... Socrate non è reticente’. 17 Rowe: Plato and the Art of Philosophical Writing, 252. 18 ‘in rapporto a certe condizioni’. 19 ‘in un contesto specifico e per un pubblico specifico’. 20 Ibid., 250; ‘la visione dell’anima preferita da Platone’. 21 Ibid., 249–250; ‘desideri non razionali’, ... ‘il nutrirsi e il dissetarsi’, ‘motivazioni ... senza le quali non ci sarebbe sopravvivenza (in un corpo)’. 22 Ibid., 253; ‘Platone fornisce un numero sufficiente di informazioni’ (ibid., 253): ‘una prospettiva che ... è abbastanza chiaramente segnalata’ (ibid., 251).

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with a lower valuation of the tripartite ‘model’ of the soul, which is being replaced in this same dialogue by a better ‘model’. Yet serious objections to this ‘solution’ are not difficult to find. Firstly, whereas the text in 4, 435 c–d requires that the ‘more exact’ answer, which only the ‘longer way’ can reach, be acquired by different methods from those ‘we are using now in the discussion’, the two ‘models’ of Rowe are clearly arrived at by the very same methods as used before. Neither does the text indicate anywhere a shift to a more exact method, nor does Rowe claim to have found a change in method. Secondly, it is not at all clear why we should regard the allegedly preferred model of the soul as the result of a longer way (makrotera hodos, 4, 435 d3). After all, the two passages which, according to Rowe, give ‘sufficient information’ and designate that other model with ‘sufficient clarity’, together amount to less than half of the ‘shorter’ way, on which Socrates proceeds with the consent of his interlocutors (4, 435 d6–445e). These two objections of a formal kind would alone be enough to make us hesitate to accept Rowe’s ‘solution’. Yet there are more weighty objections regarding the content. According to Rowe, in the model of the true soul the ‘necessary desires’ have to be taken into account.23 But on this assumption, how could one deny the diversity and inequality which characterize the tripartite soul, and yet should be absent from the ‘true’ original soul (10, 611 b2–3, e3–612 a3)? And how could one exclude ‘parts’ of the soul, as long as the desire for knowledge and the desire for nourishment are totally different faculties (4, 439 d4–8)? The decisive objection, however, is that Rowe does not seem to realize that according to 10, 611 b–612 a the ‘truest nature’ of soul does not appear in this earthly life – not during the ‘sopravvivenza in un corpo’, as he writes – but in a state it would reach (cf. hoia an genoito ... 10, 611 e3, and tot’ an tis idoi tēn alēthē physin, 10, 612 a3) after having thrown off all those secondary accretions it gathered through its existence in this world, i. e. the two mortal parts of thymoeides and epithymētikon. Rowe believes that after all one has to eat and drink in order to be able to think, and that this is part of an ordinary human life.24 True enough, but Plato is not talking about this banal fact. He is talking about the time when the immortal soul has shaken off all that is mortal, i. e., about the time when souls did not exist in human shape, but were without bodies, and nevertheless had the

23 Ibid., 249–50 with n. 15. 24 Ibid., 249; ‘parte di una ordinaria vita mortale e umana’.

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faculty of intellection (ēsan ... hai psychai chōris sōmatōn, kai phronēsin eichon, Phaedo 76 c11–13).25 Plato does not conceive of two ‘models’ of the soul in this sensible world. He rather holds here in the Republic as in the Timaeus that by its community with the body two mortal ‘parts’ are added to the intellectual ‘part’, which alone is immortal and ontologically prior to the other parts.26 The dialectical ‘longer way’, which cannot be pursued in the written dialogue of the Republic, would have to show that two of the three ‘parts’ (as established in Republic 4) do not belong to the ‘truest’ original nature of soul. In this perspective, the answer to the question raised in 4, 435 c–d as to the ‘parts’ of the soul would be unequivocal: the soul has one eidos only, it is monoeidēs. In Timaeus 35 a–b, however, the divine thinking soul is said to be ‘mixed’ out of three elements. It could be that this is the result to which the question of Republic 10, 612 a4 points forward, as to whether the soul is many-formed or single-formed (eite polyeidēs eite monoeidēs). If that is true, would we then have to understand the ‘mixing of the soul’ in the Timaeus as the ‘longer way’ which gives a definite answer to the question of the ‘parts’ of the soul? A different method is no doubt being employed – the Timaeus does not proceed according to the method of question-and-answer, but simply presents results. But precisely this fact does not speak in favour of interpreting the concise information of the ‘mixing of the soul’ as the longer way avoided in the Republic. The Timaeus confronts us with a double result: (a) the ‘true’, i. e. immortal soul is – seen in the perspective of the theory of the tripartite soul – monoeidēs, i. e., it consists of the think25 Whereas in 10, 611 b–612 a it is absolutely clear that Plato is speaking of the mode of existence of the souls without bodies, in 7, 518 c8 the ‘turning around of the whole soul’ and in 7, 519 a9–b4 the ‘cutting off’ of the leaden weights (molybdides) akin with becoming seem to point to the possibility of a (complete) purification of the soul already in this life. The background of the discrepancy of these passages is the well-known dilemma of the theory of soul in the dialogues of the middle period: whereas according to the R. and the Smp. knowledge of the Good itself and the Beautiful itself is possible already in this life, at Phd. 66 e Socrates says that the full recognition of truth can be expected only for the time after death. The question whether (and how) these contrary positions can be reconciled, cannot be pursued here (for an interesting discussion see Ludwig C. H. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas. Stuttgart 1992, 53–58). An argument in favour of Rowe’s solution, however, cannot be drawn from this difficulty, for the ‘turning around’ of the whole soul does not imply getting rid of the mortal parts of the soul (which would occur in death), but only curbing their desires. 26 This ‘adding’ of the mortal parts to the immortal one Plato designates by the metaphors proshyphainein and prosoikodomein (Ti. 41 d1, 69 c8).

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ing soul only, and (b) this divine soul is in turn composed of three different elements. Only if this complex result were obtained step by step through well-founded arguments, could one say that the dialogue is proceeding along the ‘longer way’. Yet it is no mere accident that we don’t find such detailed argumentation on the nature of the soul in any dialogue: that would be part of Plato’s oral philosophy. On this way, not only the question ‘whether it is many-formed or single-formed’ would receive a definite answer, but also the place of soul in the architecture of all reality would be ‘developed in the context of all knowledge’ and the result would become understandable ‘in its philosophical genesis’.27 Rowe’s attempt to find the ‘longer way’, which is so clearly distinguished by Plato from the present discussion, somewhere hidden in this same dialogue, is not convincing. It is regrettable that Rowe did not try to treat the deliberate gaps of the Republic in their entirety, taking into account the connections between them and the relation they have with the action of the dialogue.28 * This method of isolating passages in order to facilitate their elimination is quite popular also with other scholars. Luc Brisson29 tried to get rid of all deliberate gaps at once, but addressed only 6,506d2–507a2 of the Republic,30 where Socrates refuses to communicate his view on the essence (the ti estin) of the Good, since that would be more than can be attained with ‘our present thrust’ (parousa hormē).31 Surprisingly enough, Brisson admits that ‘on peut effectivement penser a une retention d’information’. But then he suggests as an alternative interpretation the idea that in the framework of a dialogue on the ideal state a definition and a description of the Good would be superfluous (‘superflues’).

27 I’m using here the words of Schleiermacher (Platons Werke. Dritten Theiles erster Band, 356) expressing his understanding of the philosophical function of the dialectical ‘longer way’. 28 See Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 303–25 (= id.: Platone e la scrittura della filosofia. Milano 31992, 390–414). 29 Luc Brisson: Lectures de Platon, 2000, 59. 30 Brisson leaves aside 4, 435 c–d, 6, 504 b–d, 7, 533 a, 10, 611 b–612 a, whereas 6, 509 c1–11 is done with in one short sentence: the same is valid for it, he claims, as for 6, 506 d–507 a, viz. that what is left out would anyhow be superfluous. 31 R. 6, 506 d8–e3: (Socrates is speaking) ‘But, you blessed men, let’s leave aside for the time being what the good itself is–for it looks to me as though it’s out of range of our present thrust to attain now the opinion I hold about it’ (tr. Bloom, modified in 6, 506 e2–3, following Adam (1902, 55): ‘ta nyn should be taken with ephikesthai’).

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It is hard to see why we should see this view as an alternative to the statement that something is withheld by Socrates. Is not to leave aside something superfluous the very same as an instance of leaving aside? Thus the ‘retention’, which Brisson wants to remove, is confirmed by his ‘alternative’. The alternative he would need would rather be something like this: ‘Socrates has no answer to the question of the ti estin of the Good, therefore he cannot withhold anything’. But this would mean contradicting the text openly: Socrates claims frankly to have his own opinion (a dokoun emoi) about the essence of the Good, but thinks that it is ‘out of range of our present thrust’ (6, 506 e1 – 3, tr. Bloom). If we were to assume that there is no identifiable philosophical content behind this claim, we would make of the Socrates of Plato’s masterpiece a philosophical charlatan. For the rest, Brisson is surely the only scholar for whom an answer to the question of the essence of the Good would be superfluous. More than one passage affirms that the knowledge of the essence of the Good is the truly decisive knowledge, which will bestow on the philosopher kings the faculty and the right to govern the ideal state. Quite in tune with the importance of this knowledge both Adeimantus (6, 506 b2–c1) and Glaucon (6, 506 d2–5) show the liveliest interest in this ‘superfluous’ topic. In a similar context, Brisson32 once more returns to 6, 509 c1–11. Glaucon asks Socrates to say more on the simile of the sun, ‘if you are leaving anything out’, and gets the answer: ‘But of course’, I [sc. Socrates] said, ‘I am leaving out a throng of things’ (6, 509 c5–7). No ‘rétention d’information’? Let us see what follows. ‘Well’ he [Glaucon] said, ‘don’t leave even the slightest thing aside’. ‘I suppose I will leave out quite a bit’, I said. ‘But all the same, of that which is possible at present, I’ll not leave anything out willingly’ (6, 509 c8–10, tr. Bloom, modified). Even in the second part of Socrates’ answer (c9–10), which he declares to be unique in Plato’s work, Brisson refuses to see any withholding of information. It is for him just ‘une remarque tres banale’. Yet hosa g’en tōi paronti dynaton is neither unique nor banal. It refers back to 4, 435 c–d, where the insufficient present discussion is neatly distinguished from the longer way of oral dialectic. In short, the meaning of 6, 509 c1–11 is clearly that on the longer dialectical way many more things (sychna, poly) could be said for a further explanation of the simile of the sun. Only those things

32 „Vingt ans après“, in: J.–L. Périllié (ed.), Oralité et écriture chez Platon, 2011, 51– 62, here: 57.

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which can be treated here and now – with these interlocutors – will be communicated completely.33 * Quite remarkable is the use Wolfgang Wieland made of the passage just discussed in his much-quoted book.34 After a very one-sided interpretation of Plato’s criticism of writing,35 which – following the Schleiermacherian tradition – takes into account only the first part of the text, and makes no attempt to explain the key concepts from Plato himself;36 and after some rather superficial remarks on ‘written and unwritten teaching’,37 Wieland formulates his creed that Plato held that ‘whatever can be said at all, will be expressed’.38 As a textual basis for this view Wieland quotes precisely 6, 509 c. How is it possible to claim as a witness for the completeness of philosophical information a text in which Socrates openly declares that he leaves aside a lot of his further comments on the simile of the sun? For Wieland this is made possible by leaving aside what would be an obstacle to the hoped-for agreement between his view and that of Plato: he quotes the Greek words hekōn ouk apoleipsō (6, 509 c10) without their grammatical object hosa g’en tōi paronti dynaton (6, 509 c9–10). But these words amount to a substantial restriction of Socrates’ promise not to leave out anything. With the simple technique of curtailing a difficult text the unwelcome difference between the present discussion and the dialectical ‘longer way’ is made to disappear. Wieland obviously does not see which qualifying limitations can be omitted and which cannot without converting the sense of an assertion into its very contrary.

33 It is important to see that Socrates’ words, ‘I suppose I will leave out quite a bit’ (6, 509 c10) are nowhere taken back. The simile of the line, which follows immediately on the simile of the sun, does not pretend to give the further elucidation required by Glaucon. It is a new chapter. If it were meant as a comment on the preceding simile, it would have to explain above all the position of the Good ‘beyond’ being. It is a well-known difficulty that the second simile does not assign to the Good a place on the line. 34 Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982. 35 Ibid., 13–38. 36 What it means to apply to Phdr. 274 b–278 e the old principle ‘Homēron ex Homērou saphēnizein’, or, in our case, ‘Platōna ek Platōnos’, I have tried to show in Thomas Alexander Szlezák: Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs „Phaidros“. In: Museum Helveticum 35 (1978), 18–32. 37 Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 38–40. 38 Ibid., 48; ‘Was überhaupt gesagt werden kann, soll also auch ausgesprochen werden’.

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* It would be surprising and, given the action of the dialogue, even inconsistent, if Socrates, after having declined to follow the ‘longer way’ with Glaucon and Adeimantus in order to clarify the structure of the soul (4, 435 c–d), and after having refused both to communicate his view about the essence of the Good (6, 506 e) and to fulfil Glaucon’s desire to get more comments on the simile of the sun (6, 509 c), in the end would be willing to develop in full his concept of dialectic as the only way to obtain knowledge of the idea of the Good (7, 533 c7–d1). And indeed Socrates not only refrains from giving an exact description of his concept of dialectic, but also says with unsurpassed clarity that he is doing so: ‘You will no longer be able to follow, my dear Glaucon’, I said, ‘although there wouldn’t be any lack of eagerness on my part’ (7, 533 a1–2). This is Socrates’ reply to the proposal by Glaucon that he should give a sketch of dialectic as to its general character (tropos), its kinds or parts (eidē) and its methods (hodoi) (7, 532 d8).39 It would be surprising and somehow inconsistent, if modern postschleiermacherian exegesis had not tried to explain away also this deliberate gap, which in philosophical importance is in no way inferior to that in 6, 506 e. It was Mario Vegetti40 who published an interpretation which seemed to achieve this goal. Unfortunately, on closer inspection one finds nothing but a thorough misunderstanding of the dialogical situation. Both Glaucon’s attitude in making his suggestion to Socrates and the content of the suggestion are misrepresented by Vegetti.41 It is by no means the case that Glaucon’s wish is ‘impertinent’ and that it transgresses the limits set for the conversation on the occasions of discussing the Good. On the contrary, the question of what dialectic really is results with necessity from the topic of the long chapter 6, 502 c– 7, 541 b ‘in what way and as a result of what studies (mathēmata) and practices the saviours will take their place within our regime for us and at what ages each will take up each study’ (6, 502 c10–d2, tr. Bloom). Now, after the description of the mathematical education of the future governors, a corresponding description of their training in dialectic would only be consequent – we cannot reprimand Glaucon for putting the question which is due at this point.

39 The reason for his refusal given here by Socrates, viz. the incapacity of the interlocutors to follow, applies of course to the previous deliberate gaps as well. 40 „Glancone e i misteri della dialettica“, in: F. L. Lisi (ed.), The Ascent to the Good, 2007, 161–171. 41 Ibid., 163.

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Socrates’ refusal to tell his view on the essence of the Good does not necessarily entail a refusal to give a sketch of dialectic. Even further removed from the text is Vegetti’s rendering of the content of Glaucon’s proposal. For him that would be ‘una compiuta esecuzione del nomos della dialettica’,42 i. e., a complete performance of the ‘song’ (nomos) of dialectic (‘song’ as opposed to the ‘prelude’ of the mathematical sciences, see 7, 531 d7–8). Yet the text says unequivocally that Glaucon does not expect a complete execution or performance of the ‘song’ of dialectic, but only a sketch outlining the main points without entering the science of dialectic itself. For he proposes to go through dialectic ‘just as we went through the prelude’ (houtōs hōsper to prooimion diēlthomen, 7, 532 d7). But how had Socrates discussed the mathematical sciences? Not by way of a ‘compiuta esecuzione’, but by a sketch given from an outside perspective, i. e., without ever entering mathematics itself: although in the ‘prelude’ (7, 522 c–531 d) no mathematical problems are being solved, Glaucon nevertheless gets a picture of the planned mathematical training of the philosopher kings. Quite in tune with his misunderstanding of the attitude and the content of Glaucon’s proposal, Vegetti likewise misrepresents Socrates’ answer. According to him, it is voiced in an allegedly ‘aggressive tone’. Vegetti even finds ‘excitement’ and ‘dialogical violence’ in Socrates himself.43 The Greek text, however, breathes perfect calm: ‘You will no longer be able to follow, my dear Glaucon’ (ouket’, ō phile Glaukōn, hoios t’esēi akolouthein, 7, 533 a1). These are the words of a friend, who is a philosopher, to a friend who has a vivid interest in philosophy, but not (or not yet) the necessary training for pursuing the most difficult questions. Importantly, Glaucon accepts Socrates’ refusal. The friendly atmosphere characteristic of the entire conversation since the beginning of Republic 2 is nowhere disturbed, neither here nor later on. So it does not come entirely as a surprise that Vegetti also misrepresents the contents of Socrates’ answer; his reticence is, according to him, only an initial one.44 In reality, Vegetti argues, already before Glaucon’s proposal Socrates gave and continues to give afterwards hints which would explain sufficiently what dialectic is. In addition, Vegetti collects some well-known passages from other dialogues which, taken together, would satisfy Glaucon’s wish in the Republic to learn more about dialectic.

42 Ibid., 171, cf. 163. 43 Ibid., 162, 163; ‘tono aggressivo’, ‘concitazione’, ‘violenza dialogica’. 44 Ibid., 165 ; ‘iniziale reticenza’.

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This procedure, which has nothing to do with a sober interpretation of the text before us, ignores and conceals the fact that we find in Plato’s works, both in the Republic and elsewhere, numerous more or less informative short remarks on the essence and the procedures of dialectic, but no other passage besides Republic 7, 532 d–533 a where the reader could hope for a moment to get a detailed and coherent sketch of Plato’s highest epistēmē, i. e., an exposition in the manner of the detailed and coherent sketch of mathematics that we read in 7, 522 c–531 d. But right at the very moment when Plato has raised this hope by way of the justified and sensible question of Glaucon, he makes his ‘Socrates’ say that he is not willing to fulfil Glaucon’s wish. In principle, Socrates would be ready to fulfil it (‘there wouldn’t be any lack of eagerness on my part’, to g’emon ouden an prothymias apolipoi, 7, 533 a2), but the object of Glaucon’s proposal lies beyond our present thrust (beyond the parousa hormē, to quote again the words used by Socrates in 6, 506 e), and thus beyond the Republic. To believe that we have to supply what Glaucon does not get from Socrates by a patchwork of our own from various dialogues and to believe in addition that by this we have grasped Plato’s intention, means to misjudge the task of philosophical exegesis.45 * We have seen how Rowe, Brisson, Wieland and Vegetti – four prominent scholars from four countries, each of which boasts an impressive tradition of Plato studies – are united in their effort to explain away the deliberately left gaps which are so typical of Plato. But all this is to no avail: the gaps are firmly rooted in the text and philosophically founded in Plato’s criticism of writing. Should we now go on by giving long explanations why omitting certain welldefined central questions in Plato has nothing to do with the numerous references in the corpus Aristotelicum to future works of the Stagirite,46 and even less with the habit of modern authors to draw attention 45 I voluntarily confess that I too have taken part in the game of collecting passages on dialectic and bringing them into the order which reflects my own concept of Platonic dialectic (Szlezák, Platonische Dialektik, 2005). But I never claimed that by this effort I could possibly satisfy Glaucon’s desire. Nor did I ever want to suggest that the sense of 7, 532 d–533 a within the dramatic frame of the R. is anything else than Plato’s explicit refusal to give a detailed and coherent sketch of the nomos of dialectic in a written and published work. 46 Bonitz (1870, 95b25–27): ‘Aristoteles in iis, quos superstites habemus, libris saepissime quae antea exposita sunt in memoriam revocat aut promittit quae postea expositurus sit’. The list of Aristotelian references both to existing and to future treatises takes no less than 19 columns in Bonitz’ index.

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to their next publication by way of footnotes? For readers, whose sense of literary form is underdeveloped – i. e., for readers for whom academic treatises of our time, Aristotelian pragmateiai and the philosophical dramas of Plato are more or less the same kind of literature – such circumstantial distinctions would be necessary. But not for Holger Thesleff, to whom these pages are dedicated and who in his numerous works has always proved to have an infallible literary judgement.47

47 If someone asks for formal criteria for the unique character and function of the gaps in Plato, he or she may consult my „Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen“, Berlin/New York 2004, 220 n. 6, 232 n. 2.

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16. Struttura e finalità dei dialoghi platonici. Che cosa significa «venire in soccorso al discorso»? (1989)*

La critica di Platone alla scrittura nelle ultime pagine del Fedro (274 b-278 e) fa parte oggi dei più famosi testi filosofici dell’antichità. Meno noto è, invece, che questo testo ruota attorno ad un concetto che permette di descrivere la struttura dei dialoghi platonici come anche di qualificare lo scopo che lo stesso Platone si è prefisso nella sua attività di scrittore. Questo concetto è il βοηθεῖν τῷ λόγῳ, il «venire in soccorso al discorso».1 Per dimostrare che il «soccorso» per il logos ha veramente la funzione di un concetto chiave è necessario che ci richiamiamo alla memoria la critica alla scrittura nei suoi più importanti momenti concettuali.

1. La finalità della critica della scrittura Si tratta in Platone del «decoro» o «convenienza» della scrittura (εὐπρέπεια γραφῆς, 274 b 6). Immediatamente dopo aver nominato questo ultimo importante tema del dialogo vengono chiarite due cose (274 b9 - c3). Primo: il discorrere e l’agire riguardo ai logoi devono essere misurati sulla base di questo criterio, se essi sono «per piacere a Dio» (274 b9 - c4). Ciò significa che il decoro del rapporto con i logoi non deve essere determinato secondo le opinioni comuni (ἀνθρώπινα δοξάσματα, 274 c 3), ma deve solo orientarsi verso la cosa stessa, verso la «verità su un qualunque oggetto» (cfr. τὸ ἀληθὲς ἑϰάστων πέρι, 277 b 5). Questa realtà è infatti ciò a cui tende la filosofia; la sua aspirazione si rivolge però alle cose «divine» del

* Questo saggio è stato presentato al II Symposium Platonicum, nel settembre 1989 in Perugia. Una stesura abbreviata del tedesco originario verrà successivamente pubblicata negli «Atti» del II Symposium Platonicum (a cura di Livio Rossetti, Perugia). Per la traduzione italiana del testo integrale qui presentata, l’autore ringrazia cordialmente Bruno Centrone, dell’Università di Roma. 1 Nel Fedro compare l’espressione, impiegata per 5 volte (275 e 5, 276 a 6, c 9, 277 a 1, 278 c 5), nella forma βοηθεῖν (βοηθῆσαι, ἀμύνασθαι, ἀμῦναι) αὑτῷ ο αὑτοῖς, in cui αὑτῷ (αὑτοῖς) si riferisce sempre a λόγος (λόγοι); perciò nel testo si è scelta la forma più chiara, βοηθεῖν τῷ λόγῳ, che Platone adopera in altri dialoghi (Prot. 341 d 8 τῷ σαυτοῦ λόγῳ βοηθεῖν, Phd. 88 e ἐβοήθει τῷ λόγῳ, Leggi, 891 a 6-7 βοηθεῖν τούτοις τοῖς λόγοις).

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«luogo sopraceleste».2 Quindi il rapporto pratico e teoretico dell’uomo con il logos è «per piacere a Dio» se ciò è conforme a quelle «cose divine» alle quali Dio deve il suo esser divino (πρὸς οἷσπερ θεὸς ὢν θεῖός ἐστιν, 249 c 6). L’idea che il logos debba piacere a Dio, idea che introduce la critica della scrittura, ha una sua corrispondenza alla fine: chi conosce e realizza il giusto uso del logos deve essere chiamato con un nome mediante il quale venga distinto da Dio, che solo è saggio (σοφός), ma che, nello stesso tempo, lo connetta a lui. Questo nome è φιλό-σοφος (278 c4 - d6). Secondo: è rimarchevole che il problema riguardante il decoro della scrittura (γραφή 274 b6) debba essere affrontato nell’ambito dell’essere gradito a Dio, del parlare e dell’agire riguardo ai logoi (λόγων πέρι πράττων ἢ λέγων, 274 b 9), quindi non soltanto rispetto ai discorsi scritti. Che con ciò Platone intenda ampliare il tema (e che non si tratti soltanto di un’elissi facilmente integrabile) viene mostrato in primo luogo, come vedremo subito, dal ragionamento del paragrafo seguente come anche da una riformulazione riassuntiva del tema del «decoro» della scrittura: la domanda è, così leggiamo un po’ più avanti (277 d 1-2), a quali condizioni l’uso orale e scritto del discorso è «bello» o «vergognoso» (ϰαλὸν ἢ αἰσχρόν).3 Come finalità della critica della scrittura risulta dunque che Platone vuole qui assegnare allo scrivere inteso come un agire concernente il logos (cfr. 274 b 9-10 λόγων πέρι πράττων) il suo posto nell’ambito dei rapporti con il logos in generale; l’orientamento per questa importante definizione del posto dello scrivere è dato dalla sfera del divino e dall’ambito delle idee (da cui l’uomo riceve in generale la possibilità di parlare e pensare, 266 b 4-5).

2. Partizione e andamento concettuale della critica della scrittura Questo scopo è raggiunto da Platone in tre doppi stadi alla fine di ognuno dei quali compare l’espressione βοηθεῖν τῷ λόγῳ. In primo luogo egli presenta una storia della scoperta della scrittura (1a) e un’interpretazione della storia (1b), poi un paragone per l’uso del logos da parte del sapiente (2a) e, di nuovo, l’interpretazione del paragone (2b); segue in terzo luogo, un riassunto dei risultati in relazione alle regole d’arte e al decoro dei discorsi (3a), che alla fine sfocia nell’esortazione a Fedro 2 Il «veritiero essere», che l’anima scorge nell’ὑπερουράνιος τόπος (Phdr. 247 c ss.), si chiama anche semplicemente τὸ θεῖον 249 d 1; altri luoghi, in cui si parla della «divinità» dell’ambito delle idee, sono ad es. Repubblica 611 e, Phd. 80 a, Tht. 176 e. 3 Fedro 277 d 1-2 τί δ᾽ αὗ περὶ τοῦ ϰαλὸν ἢ αἰσχρὸν εἶναι τὸ λόγους λέγειν τε ϰαὶ γράφειν.

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di comunicare a Lisia le conoscenze ottenute, in particolare la differenza tra il filosofo e i non-filosofi a seconda del loro rapporto con la scrittura (3b). Nei ragionamenti che seguono si sviluppano in particolare i tre stadi che con l’aiuto del concetto del βοηθεῖν rivelano il carattere vivo, la fondatezza dialettica e la fecondità del contenuto, ed infine la grande importanza e l’alto rango dei logoi orali del filosofo rispetto ai suoi discorsi scritti. 1a) La storia della scoperta della scrittura da parte del dio egiziano Theuth narra delle alte aspettative che lo scopritore ripose nella scrittura e del rigetto del suo ottimismo da parte del re Thamus: la scrittura non renderà gli uomini saggi ma desterà in essi soltanto l’apparenza della saggezza (274 c 5 - 275 b 2). 1b) L’analisi conferma lo scetticismo del re; sarebbe errato aspettarsi qualcosa di chiaro e sicuro da una esposizione scritta. La scrittura non può scegliersi i propri destinatari, né tacere dove sarebbe necessario, né rispondere a domande, né difendersi da attacchi; essa non ha altra risorsa d’aiuto che il proprio autore. Tutto ciò può tuttavia farlo il logos «migliore e più abile», il «logos vivente ed animato», quel discorso che colui che è saggio scrive oralmente «nell’anima di chi impara» (275 b 3 - 276 a 9). 2a) Come un contadino di buon senso non seminerà in un giardino di Adone quei semi da cui si aspetta un prodotto, anche il dialettico non affiderà seriamente la sua semenza alla scrittura che non può aiutare se stessa (276 b 1 – c 10). 2b) Egli si può rivolgere alla scrittura come ad un gioco che può procurare a sé e agli altri dei sussidi mnemonici, ma sviluppa seriamente la sua arte dialettica soltanto in una discussione con un partner che lui stesso si è scelto e nella cui anima «pianta» il logos che sia in grado di aiutare se stesso e lui (il «piantatore») e non rimanga improduttivo (276 d 1 - 277 a 5).4 3a) Il terzo doppio stadio ritorna a un punto precedente alla critica della scrittura, ricapitolando così il risultato della precedente sezione: un logos può essere conforme alle regole d’arte soltanto se si basa sulla conoscenza dialettica, cioè delle idee delle cose di cui esso tratta, nonché sulla conoscenza dell’anima alla quale si rivolge. Dopo di che si riassumono i risultati conseguiti nella critica della scrittura: degno di grande serietà è tra i logoi sia scritti che parlati, di qualsiasi tipo essi siano, soltanto quel logos parlato che da un dialettico viene scritto

4 Il passaggio dal paragone alla spiegazione è fluttuante (si potrebbe far cominciare la sezione 2 b già a 276 c 7). E riconoscibile la stessa struttura del primo doppio stadio: ad un passo narrativo o metaforico segue l’analisi concettuale.

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nell’anima di chi impara; soltanto qui si forma qualcosa di chiaro e completo; ciò che è scritto, al contrario, serve nel migliore dei casi a colui che è saggio come aiuto per la memoria (277 a 6 - 278 b 6). 3b) Fedro deve ora comunicare a Lisia il seguente risultato: un autore deve essere chiamato φιλόσοφος soltanto se, quando ha composto il suo scritto, era a conoscenza della verità sul suo oggetto ed era anche in possesso della facoltà di aiutarsi (εἰ μὲν εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει συνέθηϰεν ταῦτα ϰαὶ ἔχων βοηθεῖν, 278 c 4-5). Un filosofo di questo genere può dimostrare, quando lui stesso interviene oralmente (λέγων αὐτός, c 6), nell’elenchos, in aiuto del suo scritto, che quanto ha scritto è di rango inferiore (δυνατὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι, c 6-7), poiché egli dispone di qualcosa di maggior valore di ciò che lui stesso ha composto. Chi non ha a disposizione qualcosa del genere (ὁ μὴ ἔχων τιμιώτερα ὧν συνέθηϰεν ἢ ἔγραψεν, d 8-9) è solo un poeta o uno scrittore di discorsi oppure un legislatore (278 b 7 - e4).

3. Alcune osservazioni sul testo Non c’è nessun dubbio sul fatto che l’incapacità di aiutarsi costituisca per Platone il difetto cardinale della scrittura. Esso si riferisce alla scrittura tout court (γραφή), cioè necessariamente a tutto ciò che viene trasmesso tramite la scrittura. Anche i logoi scritti del filosofo o del dialettico sono incapaci di soccorrersi (ἀδύνατοι αὑτοῖς λόγῳ βοηθεῖν, 276 c 8), per cui egli deve venire anche personalmente in loro aiuto (λέγων αὐτός, 278 c 6). L’uso ripetuto del motivo conduttore βοηθεῖν αὑτῷ (sc. τῷ λόγῳ) nei tre stadi 1b, 2a, b e 3b rende chiaro questo concetto secondo i seguenti punti: 1) Il soccorso può essere fornito soltanto oralmente; 2) il soccorso è collegato alla scelta personale del partner (λαβὼν ψυχὴν προσήϰουσαν, 276 c 6) e con la possibilità di tacere (276 a 6-7, ἐπιστήμων δὲ λέγειν τε ϰαὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ); 3) il soccorso è legato al «sapere»: soltanto il logos del «sapiente» si può aiutare (276 a 8), soltanto l’εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει è allo stesso tempo l’ἔχων βοηθεῖν (278 c 4-5); ciò che qui è considerato il sapere è la conoscenza articolata secondo il metodo della dihairesis (277 b 5-6), la conoscenza del dialettico, che μετ’ ἐπιστήμης «pianta», μετ’ ἐπιστήμης «scrive nell’anima», perché egli è il διϰαίων τε ϰαὶ ϰαλῶν ϰαὶ ἀγαθῶν ἐπιστήμας ἔχων (276 c 3); 4) mentre il logos soccoritore è sempre orale, il logos che viene aiutato può essere esso stesso orale (1b, 2b) o anche scritto; il sapiente che si mostra (3b) come filosofo nel terzo stadio, proprio in quanto βοηθός

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del suo scritto, è conosciuto dal lettore sin dal paragrafo precedente come colui che porta con sé, dall’ambito in cui egli filosofa seriamente,5 la capacità del βοηθεῖν; 5) i logoi soccorritori portano da ultimo alla eudaimonia possibile all’uomo (277a). In base ai punti 3, 4, 5 non c’è da meravigliarsi del fatto che il filosofo sia per Platone uno che nel corso dell’elenchos orale fa ricorso a τιμιώτερα, dunque a cose di più alto rango, e che attraverso un tale aiuto si trova nella condizione di dimostrare le sue esposizioni scritte come φαῦλα. Data infatti la forte accentuazione della differenza tra «gioco» e «serietà» e data la chiara connessione tra l’aiuto orale e la dialettica (che sola ha la capacità di rendere accessibile la verità) sarebbe strano che fosse vero il contrario, e cioè che gli scritti redatti per gioco fossero dello stesso rango dell’aiuto fondato dialetticamente, dal quale gli scritti in linea di principio restano dipendenti e dal quale soltanto c’è da aspettarsi «qualcosa di chiaro e sicuro», qualcosa di «evidente e completo».6 La crescente chiarezza nell’elaborazione del concetto di βοηθεῖν nel suo rapporto con l’oralità, la dialettica e con il concetto di τιμιώτερα culmina alla fine in ciò, che la capacità d’aiuto nell’ultimo paragrafo può servire alla definizione del filosofo. Il filosofo è tra gli uomini quello più vicino a Dio, perché la sua capacità di portare soccorso al logos lo conduce alla eudaimonia. Ogni spiegazione del βοηθεῖν τῷ λόγῳ che non ponga attenzione all’inscindibile rapporto di questo concetto con quello platonico di filosofia, deve essere considerata insufficiente.

4. La spiegazione di Gregory Vlastos La spiegazione di Gregory Vlastos7 ha avuto grande credito. Per lui il platonico βοηθεῖν τῷ λόγῳ non è altro che ciò che ogni autore anche oggi fa quando si deve confrontare, con domande critiche, con il suo lettore (o uditore). Egli prova «to vindicate [his] statements against stupid or malicious misunderstanding, to refute sophistical objections to them, to rein-

5 Il tentativo di G.J. de Vries (Helping the Writings, «Mus. Helv.», 36, 1979, p. 61) di distinguere due diverse modalità del soccorso, non ha nessun riscontro nel testo. 6 275 c 6 σαφὲς ϰαὶ βέβαιον 278 a 4 ἐναργὲς ϰαὶ τέλεον. 7 «Gnomon» 35, 1963, 652-655 (rist. in: Platonic Studies, 1973, 394-398; le successive citazioni da Vlastos danno prima la pagina in «Gnomon», 35, poi quella della ristampa).

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force them by showing how they follow from strong premises or have illuminating implications» (653/395). Questa difesa risulterebbe da una discussione ed esattamente in questa attività («activity», 654/397), il discutere dialettico, consisterebbero quei τιμιώτερα (cfr. «more valuable», ibid.) che contrassegnano il filosofo secondo Platone. τιμιώτερα non significherebbe il contenuto dell’argomento soccorritore (653/396), poiché se permettessimo ciò allora il filosofo platonico avrebbe due classi di oggetti, «two sets of objects» (654/397), l’uno per il libro, l’altro per la discussione, e ciò sarebbe assurdo. Il solo concetto del soccorso lo escluderebbe, poiché colui che aiuta cambierebbe oggetto, passerebbe a qualcosa come «a more exalted topic, like metaphysics»: «if [a man] had been writing about politics, he would be expected to go into an elenchus concerning politics» (653/396; corsivo in Vlastos). D’altronde la posizione che Vlastos trova espressa nella critica della scrittura, cioè «the vast methodological superiority of oral to written discourse claimed by Plato» è, secondo il suo personale giudizio, «probably false» (ibid.). La spiegazione di Vlastos ha il grande vantaggio di esprimere la nostra personale esperienza, il nostro «common sense». Ma già il nostro «common sense» linguistico dovrebbe chiedersi perché la succitata arte di difesa sia da Platone concepita come un τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι. Quello che Vlastos descrive, dovrebbe essere in greco espresso in modo migliore attraverso una parafrasi del contrario, all’incirca con τὰ γεγραμμένα ϰαλῶς συγϰείμενα ἀποδεῖξαι. Perché Platone dovrebbe descrivere l’attività del discutere come τιμιώτερα ὧν συνέθηϰεν ἢ ἔγραψεν e non per esempio invece come τιμιώτερόν τι τοῦ συντιθέναι ἢ γράφειν? È possibile comparare un’attività (il discutere) con il prodotto di un’altra attività (lo scritto come il prodotto dello scrivere) in maniera sensata? E se ci si è meravigliati a sufficienza delle singolarità linguistiche che questa spiegazione comporta e se ci si pone la questione di che cosa sia qui inteso, bisogna constatare con meraviglia che la difesa descritta da Vlastos, lungi dall’essere una caratteristica distintiva del dialettico platonico, in realtà può essere realizzata da qualsiasi scrittore che sia in qualche misura abile. Infine: perché dovremmo attribuire a Platone senza necessità un concetto di oralità che noi stessi riteniamo «probably false»? In questo caso sarebbe necessaria un’esegesi che si dimostrasse estremamente convincente dal punto di vista linguistico e del contenuto.

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Nonostante i palesi difetti l’ingenua spiegazione di Vlastos del «common sense» è stata di recente accettata esplicitamente da E. Heitsch.8 Fortunatamente Heitsch formula espressamente quello che in Vlastos era soltanto implicito: il βοηθεῖν τῷ λόγῳ richiesto da Platone può venir realizzato anche da autori di ogni genere (per esempio oratori, poeti, legislatori) che non conoscono la filosofia platonica delle idee, poiché è necessaria soltanto una condotta non dogmatica rispetto al proprio libro e non la conoscenza di «oggetti di un certo tipo».9 Una seconda precisazione riguarda la fondazione delle proprie opinioni nel «soccorso»: mentre Vlastos ha soltanto detto che l’autore dimostra oralmente come le sue dichiarazioni scritte «follow from strong premises», Heitsch collega non senza ragione questo ulteriore apportare spiegazioni con l’espressione τιμιώτερα: dal φιλόσοφος ci si aspetta che egli «trovi motivazioni che siano migliori di quanto egli ha scritto», egli deve saper «dire ancora qualcosa di diverso e di migliore».10 In questo modo però i τιμιώτερα sono riferiti al contenuto del soccorso e l’equiparazione compiuta da Vlastos con l’attività del discutere è abbandonata. Ma così si va incontro ad una difficoltà di cui Heitsch non è consapevole, ma che era presente già in Vlastos: l’autore che merita il nome di φιλόσοφος deve, da una parte, essere già durante lo scrivere l’εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει e l’ἔχων βοηθεῖν,11 d’altra parte il suo aiuto porta alla luce ancora qualcosa di diverso e di migliore di ciò che è scritto – a questo punto si pone inevitabile la domanda: come si rapporta la capacità di aiutare già originariamente presente rispetto a quelle cose «diverse e migliori» che più tardi verranno effettivamente alla luce? In altre parole: a quale condizione può un autore, già durante la fase dello scrivere, sapere12 che egli avrà a disposizione qualcosa di migliore dello scritto per poter dare a quest’ultimo una fondazione, quando dovrà sotto-

8 E. Heitsch, Platon über die rechte Art zu reden und zu schreiben, 1987 (Abh. Mainz 1987/4), pp. 26-50. 9 Ibid., p. 47, cfr. p. 49. Dà una valutazione analoga a quella di Heitsch su questo punto G.R.F. Ferrari, Listening to the Cicadas. A Study of Plato’s Phaedrus, 1987, pp. 205 s. 10 E. Heitsch, Platon..., cit., p. 48. 11 La struttura grammaticale di 278 c 4-7 non permette altre interpretazioni: i participi εἰδώς, ἔχων, ἰών e l’aggettivo δυνατός stanno con il predicato della ipotetica introdotta da εἰ, συνέθηϰεν, in rapporto di contemporaneità. Ciò viene bene in luce nelle traduzioni di Fr. Schleiermacher (1804), L. Robin (1933), C.J. Rowe (1986). Anche Heitsch sembra riconoscerlo (cfr. alla nota 12). 12 Ibid., p. 49: quando un autore di filosofia si esprime nello scritto, «so weiß er,... daß er als Autor... [seinen Text] verbessern muß und kann» (corsivo mio).

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porsi all’elenchos? Il non affrontare queste domande, come nel caso di Heitsch – significa in definitiva non prendere sul serio la critica della scrittura.

5. Metodi filologici al posto dell’intuizione Se adesso vogliamo procedere oltre dobbiamo abbandonare l’innocente fiducia di Vlastos all’identità fra la nostra personale esperienza e quella di Platone. Invece di insistere sulla (supposta) evidenza di ciò che è detto, dovremmo riflettere sui metodi sicuri per la determinazione del significato delle parole. Se un termine è oscuro o controverso, il metodo filologico raccomanda da sempre di procedere in tal modo: in primo luogo bisogna analizzare il termine nella sua connessione con altre espressioni che compaiono nello stesso testo; in secondo luogo bisogna cercare altre attestazioni per l’uso del termine presso lo stesso autore, dove sono da analizzare anche evidenti sinonimi, per esempio ἐπιϰουρεῖν come sinonimo di βοηθεῖν. (Soltanto se non ci sono paralleli o se essi non forniscono alcun aiuto si può provare, in terzo luogo, a conseguire un chiarimento attraverso gli usi linguistici di altri autori). Abbiamo già iniziato il primo passo (vedi sopra pp. 526-527 e indirettamente pp. 527-529, attraverso la critica a Vlastos); questo tentativo ci ha portato, tra l’altro, a stabilire che il «soccorso» nel senso platonico è qualcosa che è strettamente collegato alla conoscenza della filosofia delle idee e che perciò può riuscire soltanto al dialettico platonico come a colui che è l’εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει. A questo bisogna soltanto aggiungere che la connessione della denominazione di φιλόσοφος con la capacità di conoscere le idee e con la speranza nella eudaimonia non è, nell’ambito del Fedro, nuova, ma costituisce piuttosto un punto centrale del grande discorso sull’Eros (247 c ss., particolarmente evidente in 248 d, 249 c, 250 b-c). D’ora in avanti possiamo intraprendere il secondo passo, cioè la ricerca di paralleli e sinonimi platonici. (Poiché essi sono in numero rilevante e portano a risultati estremamente chiari, il ricorso ad altri autori non è necessario).13

13 Vlastos non ha apportato contributi degni di nota a nessuno dei due problemi. Heitsch afferra chiaramente l’importanza del primo passo, ma la sua trattazione rimane assai incompleta; sorprendentemente egli evita di compiere il secondo passo, ugualmente importante (cit. p. 4), mentre porta da altri autori paralleli, alcuni di poco conto, altri non del tutto appropriati; cfr. la mia recensione in «Gnomon», 60, 1988, pp. 390-398, part. 392 s., 396 s. Nel frattempo Heitsch ha pubbli-

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6. Tre esempi di βοήθεια platonica a) Nel Fedone, dopo le obiezioni di Simmia e Cebete all’immortalità dell’anima (84 c-88 b) segue una interruzione del dialogo narrato. Un espediente del genere ha sempre in Platone la funzione di dare grande rilievo a ciò che segue. Echecrate vuole sapere da Fedone come Socrate ha reagito alla crisi del colloquio provocata dagli amici tebani, se era arrabbiato oppure se πρᾴως ἐβοήθει τῷ λόγῳ ϰαὶ ἱϰανῶς ἐβοήθησεν ἢ ἐνδεῶς (88 d 9-e 3). Echecrate pone, quindi, una domanda riguardo all’aspetto umano e argomentativo della reazione di Socrate. Fedone riferisce ancora come Socrate in tutti e due i casi si sia comportato in modo degno di ammirazione. Il suo βοηθεῖν τῷ λόγῳ riuscì a soddisfare i critici, cosa che in una seconda interruzione del dialogo narrato – interruzione che, naturalmente, serve ad accentuare di più la prima – viene commentata con approvazione (102 a). Per la confutazione dell’argomento di Cebete Socrate tralascia per il momento (da 96 a) il tema «anima» per esporre una comprensiva teoria del fondamento della generazione e della corruzione (ὅλως γὰρ δεῖ περὶ γενέσεως ϰαὶ φθορᾶς τὴν αἰτίαν διαπραγματεύσασθαι, 95 e 9 - 96 a1); questa teoria porta, come si sa, alla esposizione dell’ipotesi delle idee (99 d ss.), a partire dalla quale può essere trattato il problema dell’anima come un suo caso speciale quasi subordinato (105 b ss.) Quali caratteristiche di questa parte del colloquio possiamo indicare le seguenti: 1. Il βοηθεῖν τῷ λόγῳ coronato da successo viene portato a termine dal conduttore del dialogo (naturalmente non da Simmia o Cebete). 2. Per poter aiutare il suo primo logos (sull’anima) Socrate parla dapprima di altro (delle idee, etc.). Egli cambia momentaneamente tema (senza per questo perdere di vista l’argomento principale: l’immortalità). 3. Questo nuovo tema riguarda un teorema di più vasta portata, che porta più vicino alla conoscenza dei primi principi. Il modo di procedere basato sull’ipotesi conosce una progressiva ascesa ad un ἱϰανόν che è

cato un ulteriore contributo (Τιμιώτερα, «Hermes», 117 [1989], pp. 278-287), che nell’interpretazione della critica dello scritto procede in maniera selettiva come il precedente scritto. Poiché Heitsch ancora una volta trascura di spiegare i concetti centrali della critica della scrittura partendo da Platone stesso, e poichè evita di entrare in discussione con le critiche da me mosse, non c’è motivo di prendere qui in considerazione questo contributo, che non contiene alcuna nuova prospettiva.

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evidentemente da intendere come principio (ἀρχή 101 de, cfr. 107 b). In quanto il logos che aiuta permette una conoscenza più ampia e meglio fondata è obiettivamente giustificato parlare di una teoria di livello superiore. a) All’inizio del secondo libro della Repubblica leggiamo di un attacco di Glaucone ed Adimanto alla giustizia, che Socrate ha difeso con successo contro Trasimaco nel primo libro. Socrate viene esortato ad aiutare la giustizia (e con essa, naturalmente, anche il suo primo logos in favore della giustizia), ciò che lui stesso riconosce come suo dovere. L’espressione βοηθεῖν compare in questo contesto non meno di cinque volte.14 L’aiuto che Socrate apporta alla giustizia comprende l’argomentazione completa che giunge fino al decimo libro. Per poter conseguire una teoria della giustizia egli modifica l’immediato oggetto del discorso e parla dello stato migliore e dell’anima; e per difendere di nuovo la sua concezione dello stato parla della differenza tra idea e cosa singola della natura ed educazione dei filosofi e, nell’ambito dell’ultimo tema, del «più grande oggetto di insegnamento» in generale (μέγιστον μάθημα), cioè dell’idea del Bene che è ‘principio di tutto’. Il «soccorso» per la giustizia è dunque una graduale ascesa15 che porta, se non fino alla conoscenza dell’ἀρχή (il cui τί ἐστιν non viene preso in considerazione: 506 d-e), almeno, però, in prossimità di quest’ultima. Il Bene stesso è il più alto in grado tout court (μειζόνως τιμητέον τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἕξιν, 509 a 4-5, cfr. b 9), cosicché le esposizioni che tendono ad esso andrebbero giustamente qualificate come τιμιώτερα rispetto a teorie ed argomenti che hanno per scopo ciò che è di rango inferiore.16 b) Notevoli somiglianze con l’aiuto di Socrate alla giustizia nella Repubblica mostra l’aiuto dell’Ateniese alla legge contro l’empietà nelle Leggi. Già il richiamo quasi identico ad un obbligo di soccorso inteso in senso religioso17 mostra a sufficienza che i due passi parlano della stessa cosa. L’Ateniese anticipa la critica di parte atea alla legge appena formulata. Questa legge, come tutte le leggi, viene resa nota per iscritto ai cittadini del nuovo stato cretese (891a); l’autore ha già preparato i suoi argomenti nei colloqui con Clinia e Megillo, e con questi argomenti deve essere difeso ciò che è stato scritto. Qui non si pensa ad una difesa giuridico-

14 15 16 17

Repubblica II 362 d 9, 368 b 4, b 7, c 1, c 5. Cfr. 445 c 5 ἐπειδὴ ἐνταῦθα ἀναβεβήϰαμεν τοῦ λόγου. Cfr. infra, nota 26. Leggi X, 891 a 5-7 ∼ Repubblica II, 368 b 7-c 1: οὐδὲ ὅσιον ἔμοιγε εἶναι φαίνεται τὸ μὴ οὐ βοηθεῖν τούτοις τοῖς λόγοις ∼ δέδοιϰα γὰρ μὴ οὐδ᾽ ὅσιον ᾖ παραγενόμενον διϰαιοσύνῃ ϰαϰηγορουμένῃ ἀπαγορεύεν ϰαὶ μὴ βοηθεῖν.

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politica che naturalmente qualsiasi legislatore, anche quello non filosofico, deve aver pronta. Piuttosto il conduttore del dialogo esita a fare inizio agli ἐπαμύνοντες λόγοι,18 poiché ciò renderebbe indispensabile trascendere la legislazione, νομοθεσίας ἐϰτὸς βαίνειν, 891 d 7. In effetti l’Ateniese abbandona, durante il suo soccorso, il normale livello ed il tema del momento e discute, per poter assicurare una base stabile alla legge contro l’empietà, il concetto di movimento, l’automovimento dell’anima, la priorità dell’anima sul corpo, il ruolo del bene e del male nel cosmo e la guida dell’universo da parte degli dei (891 b-899 c). Anche le Leggi (come la Repubblica) confermano, dunque, tutte le caratteristiche dell’aiuto che sono state già individuate nel Fedone. Inoltre questo testo esprime con esemplare chiarezza che l’aiuto platonico non si può raggiungere «in nessun altro modo»(μηδαμῇ ἑτέρως) se non attraverso un ἐϰτὸς βαίνειν, quindi attraverso un mutamento del tema (891 d-e1) e che questa procedura porta sempre più vicino ai πρῶτα τῶν πάντων (891 c 2-3 con e 5-6). La βοήθεια platonica è dunque il procedimento seguito dal conduttore del dialogo (il rappresentante del tipo «dialettico»), consistente nel difendere il suo logos sottoposto a critica, tralasciando momentaneamente il tema e procedendo sulla via della conoscenza delle ἀρχαί per potere così mostrare in teoremi «di livello superiore» la base stabile del suo originario logos.

7. La situazione sempre uguale della βοήθεια. Alcuni sinonimi per βοηθεῖν τῷ λόγῳ Come espressioni platoniche per il soccorso conosciamo fino ad ora oltre βοηθεῖν (αὑτῷ oppure λόγῳ oppure τοῖς λόγοις) anche ἀμύνειν /ἀμύνασθαι (cfr. ἐπαμύνοντες λόγοι) ed ἐπιϰουρεῖν o ἐπίϰουρον γίγνεσθαι.19 Conoscendo la nota riluttanza di Platone per ogni terminologia stereotipa,20 ci si aspetterebbe che egli avesse più volte modificato questo concetto chiave della sua critica della scrittura. Per poter trovare sinonimi bisogna partire da quella che è sempre la stessa situazione di base: viene formulato un logos («l’anima è immortale», «la

18 Come nell’ascesa nell’aiuto che ha luogo nel secondo libro della Repubblica (cfr. supra, nota 14), si trova anche qui una quantità di espressioni per indicare l’aiuto: 890 d 4 ἐπίϰουρον γίγνεσθαι (cfr. Repubblica 368 c 3 ἐπιϰουρεῖν), 891 a 5-7 (per il testo si veda la nota 17), 891 b 3-4 ἐπαμύνοντες λόγοι, b 4-6 νόμοις...βοηθεῖν. 19 Cfr. supra, note 1, 14, 17 e 18. 20 Cfr. Cha. 163 d, Men. 87 b-c, Repubblica 533 e.

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giustizia è migliore dell’ingiustizia»), si portano le prime motivazioni – ma il πατὴρ τοῦ λόγου è sottoposto all’elenchos, viene cioè invitato a dimostrare, riconducendo il suo logos ai suoi fondamenti più profondi, che è un φιλόσοφος. Importante è il fatto che, secondo Fedro 278 c-d, i filosofi ed i nonfilosofi devono essere misurati sulla base di questo tipo di elenchos. Bisogna attendersi, dunque, che nei dialoghi siano sottoposti all’elenchos tipi di persone completamente diversi, ma che solo uno di essi, il dialettico, superi la prova. Inoltre è importante il fatto che il dialettico è in grado di trasmettere la capacità di venire in soccorso (Fedro 276 s.) – un maestro che non sia stato in grado di far ciò, verrà, proprio per questo, considerato un non-filosofo. Questo è il caso di Gorgia, il cui discepolo Polo desidera «raddrizzare» il logos del maestro dopo la critica di Socrate (Gorgia 462 a 2). Il suo tentativo naufraga, come è anche il caso di Callicle dopo di lui, perché il suo maestro non è un φιλόσοφος nel senso platonico e, conseguentemente, non ha potuto insegnare l’ἐπανορθώσασθαι τὸν λόγον (= βοηθεῖν τῷ λόγῳ).21 La situazione nell’Ippia maggiore è un po’ meno chiara perché piena di vistosa ironia. Socrate, vuole presentare Ippia come un maestro superiore dal quale vuole apprendere, per poter così, dopo una sua supposta sconfitta nel colloquio con un’anonima terza persona, «riprendere il discorso» (286 d 7 ἀναμαχούμενος τὸν λόγον). Ciò che Ippia mette a disposizione per la ripresa del dialogo viene anch’esso considerato da Socrate (ironicamente) come «soccorso» (ὅτι μοι δοϰεῖς... βοηθεῖν 291 e 5). In realtà l’anonima terza persona è soltanto una trasparente maschera per la voce interiore di Socrate (cfr. soprattutto Hi.mai 304 d), che in tal modo anche in questo dialogo risulta il vincitore, non da ultimo grazie al suo trattare vasti temi nell’excursus che segue all’attacco di Ippia, 300 b ss. La più acuta ironia caratterizza anche il più breve dialogo con Ippia. Socrate, in preda ad un «attacco» (ϰατηβολή, Hi.min 372 e 1) difende una tesi immorale dalla quale desidera essere guarito da Ippia. L’esortazione μὴ φθονήσῃς ἰάσασθαι τὴν ψυχήν μου, 372 e 6-7 significa nel contesto situazionale del dialogo niente altro che βοήθησον τῷ σαυτοῦ λόγῳ, poiché Ippia ha già sostenuto la giusta concezione etica – e, se egli la potesse giustificare ancora più a fondo, allora potrebbe anche guarire Socrate dal suo «attac-

21 Allo stesso modo Protagora – per noi un pensatore importante – non era per Platone un filosofo, ragion per cui la domanda decisiva rivoltagli: εἰ οἷός τ᾽ ἔσῃ τῷ σαυτοῦ λόγῳ βοηθεῖν (Prot. 341 d 8) riceve, nel corso del dialogo, una risposta in generale negativa.

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co»; ma Ippia non è un filosofo e quindi non ha la capacità né di ‘guarire’, né di procurare un qualunque soccorso al suo logos. L’ironico innalzamento dell’avversario è portato all’estremo nell’Eutidemo. I due «eristi» Eutidemo e Dionisodoro vengono chiamati in aiuto «come i Dioscuri» (293 a 2). Il loro benefico intervento potrebbe paragonarsi all’attesa «salvezza dell’anima» da parte di Ippia. Poiché Socrate ha già innalzato sarcasticamente gli eristi al grado dei soccorritori Castore e Polluce, ora non parla più di «soccorso», ma addirittura di «salvezza»: δεόμενος τοῖν ξένοιν... σῶσαι ἡμᾶς... ἐϰ τῆς τριϰυμίας τοῦ λόγου (293 a 1-3, ≈ δεόμενος βοηθῆσαι τῷ λόγῳ ἡμῶν).22 Gli eristi vengono dunque pregati di venire in aiuto ad un logos estraneo: anche questo fa parte delle qualità del dialettico (per quanto e nella misura in cui il logos bisognoso di aiuto lo permette), come mostrano i dialoghi Cratilo e Teeteto. Qui Socrate difende sino a un certo punto la posizione di Cratilo (che è presente) o quella di Protagora (che è rappresentato dal proprio discepolo Teodoro); ma, come è tipico, è lo stesso Socrate che deve incaricarsi di portare aiuto agli altri, un aiuto che però non conduce, in ultima analisi, molto lontano. Soltanto la posizione della filosofia delle idee può resistere a qualsiasi elenchos. Il «soccorrere» non dipende per Platone dalla versatilità intellettuale, ma dal giusto punto di vista ontologico. L’idea che nell’Ippia maggiore presenta aspetti comici, secondo la quale Socrate, inferiore nel dialogo, ricerca insegnamento da parte di una persona più sapiente, è stata ribadita da Platone nel Simposio, questa volta senza tratti comici. Socrate, che asserisce di essere incorso negli stessi errori di Agatone (Symp. 201 e) si è rivolto a Diotima per imparare qualcosa sull’eros. La speranza, questa volta, non è andata delusa. Solo che la veggente di Mantinea Diotima è un personaggio altrettanto fittizio e letterario dell’anonima terza persona dell’Ippia maggiore. Di nuovo è dunque Socrate che prosegue la discussione. E inequivocabilmente va, nel suo discorso su Diotima, ben oltre il tema del dialogo sull’eros con Agatone, tratta di cose di maggiore importanza filosofica, che portano più vicino alla conoscenza dell’ἀρχή.

22 Ho cercato di mostrare le somiglianze, numerose e sorprendentemente strette, tra la caricatura del filosofo nell’Eutidemo e l’immagine del filosofo nella critica della scrittura in: Sokrates’ Spott über Geheimhaltung. Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos, «Antike und Abendland», 26, 1980, pp. 75-89. Il nascondimento del sapere, che Socrate imputa ironicamente ad Eutidemo, è praticato proprio da lui stesso, come mostrano le allusioni alla dottrina dell’anamnesi ed al concetto di dialettica.

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Basti questo riguardo alle situazioni parallele e alle espressioni sinonime.23 A questo punto dovrebbe essere diventato chiaro che il concetto βοηθεῖν τῷ λόγῳ esprime il principio strutturale del dialogo platonico, che consiste nel mirato innalzamento del livello fondativo in direzione di una fondazione ultimativa che si attua a partire dall’ἀρχή.

8. Sul significato di τίμιον τίμιον è per Platone innanzitutto l’idea del bene stesso.24 Anche la conoscenza occupa un posto di alto rango prossimo al bene,25 e ciò, naturalmente, nella misura in cui essa si dirige verso il principio. In generale la conoscenza è, secondo Men. 98 a 7, di rango superiore rispetto alla corretta opinione (τιμιώτερον ἐπιστήμη ὀρθῆς δόξης), perché essa avvince strettamente, con motivazioni esatte, ciò che l’opinione ha di giusto. L’ultima fondazione deve provenire dall’ἀρχὴ πάντων; l’ascesa verso di essa è però graduata, da un’ipotesi ad una superiore (ἄνωθεν), fino all’ἀνυπόθετον (Fedone 101 d-e, Repubblica 511 b). La fondazione in generale ‘di alto rango’ deve, da parte sua, crescere gradualmente in rango, se le riesce di collegare la conoscenza a stati di cose che sono più immediatamente vicini all’ἀρχή, immediatamente nel senso delle «cose che si ricollegano all’origine» (τῶν ἐϰείνης ἐχομένων, Rep. 511 b 8). τιμιώτερα ἔχειν significa quindi per il dialettico essere in condizione di giustificare una data esposizione in modo tale che l’avvincere con motivazioni si scelga un punto di riferimento situato più in alto nella serie delle ὑποθέσεις.26

23 Ulteriore materiale ed analisi più dettagliate si trovano in Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, BerlinNew York 1985 (versione it. Platone e la scrittura della filosofia, Milano 19892). (D’ora in poi cit. come PSP o PSF). 24 Repubblica 509 a 4-5 (testo supra, p. 367), b 9 πρεσβείᾳ ϰαὶ δυνάμει ὑπερέχοντος (sc. τοῦ ἀγαθοῦ). Nello stesso Fedro sono τίμια le idee nel loro complesso: 250 b 2; con questo luogo si confronti Politico 285 e 4, τοῖς μεγίστοις οὖσι ϰαὶ τιμιωτάτοις (con cui sono intesi τὰ ἀσώματα, ϰάλλιστα ὄντα ϰαὶ μέγιστα, 286 a 5-6). 25 Repubblica 508 e 2 - 509 a 4. 26 La concezione platonica, secondo cui il rango di un sapere è regolato da quello del suo oggetto – questa concezione è notoriamente a fondamento della dottrina delle idee, cfr. Repubblica 474 b - 480 a – viene mantenuta da Aristotele: De an. Al, 402 a 1-2 τῶν ϰαλῶν ϰαὶ τιμίων τὴν εἴδησιν ὑπολαμβάνοντες, μᾶλλον δ᾽ ἑτέραν ἑτέρας ἢ ϰατ᾽ ἀϰρίβειαν ἢ τῷ βελτιόνων τε ϰαὶ θαυμασιωτέρων εἶναι..., Met. A 2, 983 a 5-7 ἡ γὰρ θειοτάτη (sc. ἐπιστήμη) ϰαὶ τιμιωτάτη, τοιαύτη δὲ... εἴ τις τῶν θείων εἴη, Met. E 1, 1026 a 21 ϰαὶ τὴν τιμιωτάτην (sc. φιλοσοφίαν) δεῖ περὶ τὸ τιμιώτατον

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Che il comparativo τιμιώτερα indichi un confronto in relazione all’importanza del contenuto, si comprende chiaramente nell’ambito del Fedro. Sia prima che dopo la critica della scrittura vengono messi a confronto logoi in primo luogo sotto l’aspetto del contenuto. Fedro esorta Socrate a superare il discorso di Lisia con un discorso sullo stesso tema, che tuttavia contenga πλείονος ἄξια (235 b 5, 236 b 2, cfr. βελτίω 235 d 6), una richiesta che corrisponde alla superiorità di contenuto del primo discorso socratico sull’eros. (Che il secondo discorso di Socrate contenga πλείονος ἄξια rispetto a entrambi i discorsi che precedono, non ha bisogno di venir dimostrato). Nella profezia riguardante la carriera di Isocrate si dice che i suoi logoi attuali non gli saranno più, in futuro, sufficienti, egli si volgerà ἐπὶ μείζω, «a cose più grandi» (279 a 8) – a ciò corrisponde l’evoluzione di Isocrate da logografo ad autore di scritti di formazione e politici. In tutti questi luoghi avremmo potuto trovare anche il comparativo τιμιώτερα, come all’inverso a 278 d 8 potrebbe figurare anche τὸν μὴ ἔχοντα πλείονος ἄξια (o μείζω).27

9. Il dialogo scritto può aiutarsi da solo? Le teorie sul dialogo del diciannovesimo e ventesimo secolo Dopo che il significato di βοηθεῖν τῷ λόγῳ è divenuto per noi chiaro dal contesto della critica della scrittura e da alcuni esempi tratti da altri dialoghi, possiamo adesso rivolgerci alla diffusa concezione secondo la quale il dialogo scritto di Platone è in grado di aiutare se stesso e quindi è stato destinato a tale scopo dall’autore. Per prima cosa si deve constatare che non esiste un’affermazione esplicita di Platone in tal senso. Platone innanzitutto non riconosce alla scrittura (alla γραφή) la capacità di soccorrere se stessa e non fa mai – nonostante abbia avuto spazio a sufficienza nelle sette pagine a stampa in cui si svolge la critica della scrittura – neppure il benché minimo accenno al fatto che possa esistere un tipo particolare di logos scritto a cui la critica non risulti applicabile. Oggi, invece, da molte parti vengono esclusi i dialoghi dalla critica della scrittura con le seguenti motivazioni. «Il dialogo è l’unica forma del libro che sembra superare il libro stesso» (Friedländer).28 In quanto imitazione di dialoghi le opere di Platone offro-

γένος εἶναι, cfr. De part. an. 644 b 32 τιμιότης τοῦ γνωρίζειν (dalla conoscenza delle τίμιαι οὐσίαι ϰαὶ θεῖαι, b 25). 27 Cfr. PSP, pp. 28 s. (= PSF, pp. 78 s.). 28 P. Friedländer, Platon, vol. I, 19643, p. 177.

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no una comunicazione indiretta, la quale sarebbe in grado di operare simultaneamente su diversi piani di comprensione. Il lettore non esperto di filosofia riconoscerebbe soltanto un senso superficiale e non giungerebbe dunque a quel significato più profondo che è contemporaneamente dato; per questo il dialogo potrebbe tacere nei suoi confronti. Ciò significa anche che sarebbe il libro stesso a scegliersi il suo destinatario, poiché solo al lettore che comprende si potrebbe rivolgere. Ad una successiva lettura si aprono più profondi livelli del dialogo, in modo tale che esso può anche «rispondere a domande» e non dice mai, in nessun caso, la stessa cosa. Il dialogo, infine, potrebbe anche «aiutarsi» o meglio «difendersi», in parte celando il suo senso più profondo (e grazie a questo esso non diventa oggetto di un attacco), in parte in quanto offrirebbe «nuove risposte».29 Nel complesso questa teoria vuole fare del dialogo platonico una forma di scrittura che a differenza di tutte le altre può regolare attivamente il modo della ricezione in quanto stabilisce un “dialogo” tra il lettore ed il testo.

10. Origine e caratteristiche delle contemporanee teorie del dialogo Il primo sostenitore di questa teoria, Friedrich Schleiermacher, ha formulato con disarmante franchezza il suo postulato fondamentale: Platone deve «avere cercato di rendere anche l’insegnamento scritto il più possibile simile a quello superiore (cioè all’insegnamento orale) e ciò gli deve anche essere riuscito».30 Ma proprio l’idea che lo scritto possa mai contribuire alla trasmissione della conoscenza nella stessa misura del dialogo viene contestata da Platone nel Fedro con vigore. Schleiermacher non ha trovato grande difficoltà nell’interpretazione di questo dialogo: lo ha ritenuto la prima opera di Platone ed ha spiegato le riserve nei confronti della scrittura come semplice insicurezza del giovane autore, poi rapidamente superata.31 La 29 Lo schizzo qui presentato vuole fissare i punti più importanti di una concezione del dialogo, il cui nucleo viene oggi accettato dalla maggior parte degli interpreti di Platone (quando si esprimono sulla questione dello status letterario e filosofico del dialogo in generale). Non si possono qui trattare sfumature o differenti accentuazioni all’interno della comune impostazione generale. Alcuni esponenti di questa teoria del dialogo sono citati, infra, alle note 32 e 33. 30 F. Schleiermacher [Übers.], Platons Werke, vol. I 1, Berlin 1804 (18553). Cfr. la Einleitung, pp. 5-36, cit. p. 15 (rist. della Einleitung: K. Gaiser [Hrsg.], Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, 1969, pp. 1-32). 31 Platons Werke, I 1, 52 (Introduzione al Fedro): la «svalutazione» dello scrivere sarebbe da intendere «als Begeisterung von seiner (sc. Sokrates’) Lehrart, welcher in Schriften ähnlich zu werden Platon damals noch verzweifelte, es aber hernach

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cronologia di Schleiermacher è oggi abbandonata, ma la teoria che su di essa si basa si è resa autonoma e si è diffusa in diverse varianti. Questa teoria è di casa da generazioni nella letteratura platonica europea e soprattutto tedesca;32 ultimamente sembra venir riscoperta in ambiente anglosassone.33 Un’analisi dei presupposti ermeneutici, politici e filosofici che, non meditati a sufficienza, fanno parte del modello di Schleiermacher, non può qui venir condotta.34 Basti la considerazione che la moderna metamorfosi dello scritto, che per Platone è passivo e incapace di dare nuove risposte, nel libro-dialogo «attivo», che conduce un colloquio diretto con il lettore, viene resa possibile esclusivamente attraverso modi di parlare metaforici. Che infatti il dialogo «taccia» di fronte a chi è incapace di comprendere, è

noch lernte, und nicht damit endigte, an eine so weitgehende Unmittheilbarkeit der Philosophie zu glauben». 32 Esposizioni rappresentative della communis opinio sono state date da Friedländer (Platon, cit.) o da H. Gundert, Der platonische Dialog, 1968; dello stesso autore, Dialog und Dialektik. Zur Struktur des platonischen Dialogs, 1971; tra i più recenti lavori in questa linea di tradizione sono da citare Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, 1974; D. Roloff, Platonische Ironie. Das Beispel: Theaitetos, 1975; H. Meissner, Der tiefere Logos Platons, 1978; E. Heitsch, Platons Dialoge und Platons Leser. Zum Problem einer Platon-Interpretation, RhM, 131, 1988, pp. 216-238; anche la trattazione, alquanto superficiale, di W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1982, 13 ss., di una parte della critica della scrittura, non è lontana da questa direzione. 33 Un segnale ne fu la traduzione in americano dell’opera di Friedländer su Platone (1958/1969) e prima di tutto la ripresa letterale della concezione del dialogo di Gundert da parte di W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, vol. IV, 1975, pp. 64-65. Prima di Guthrie, tuttavia, già Leo Strauss e i suoi discepoli avevano sostenuto la teoria romantica del dialogo (L. Strauss, The City and Man, 1964, pp. 50 ss.; St. Rosen, Plato’s Symposium, 1969, XVIII; cfr. recentemente, dello stesso autore, Platonic Hermeneutics: On the Interpretation of a Platonic Dialogue, «Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy», 1, 1985, pp. 271-288). L’eredità di Schleiermacher viene proseguita tra gli altri da R. Burger, Plato’s Phaedrus. A Defense of a Philosophic Art of Writing, 1980; Ch. L. Griswold, Self-Knowledge in Plato’s Phaedrus, 1986. 34 Ha trattato in maniera comprensiva l’ermeneutica schleiermacheriana H. Krämer, Platone e i fondamenti della metafisica, 1982, pp. 31-149 (cfr. già, dello stesso autore, Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, pp. 17 ss., 382-385, 481 s.). Schleiermacher fu durevolmente influenzato dal suo amico Friedrich Schlegel; a questo proposito cfr. H. Krämer, Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung, «Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte», 62, 1988, pp. 583-621. Una esposizione e una critica delle moderne teorie della forma dialogica (con rassegna della letteratura secondaria moderna sino al 1980) sono state da me date in PSP, Anhang I, pp. 331-375 (= PSF, pp. 423-462).

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soltanto una metafora per il fatto banale che non ogni lettore comprende tutto; che il dialogo ad ogni nuova lettura offra «nuove risposte» è una metafora per il normale sviluppo di un’interpretazione che ha luogo durante il proseguire dello studio. Infine, che il dialogo possa aiutare se stesso, è un’espressione poetica per l’opinione dell’interprete A, secondo cui l’obiezione dell’interprete B non riguarda l’essenziale, oppure che il dialogo già contiene, in realtà, la risposta a questa obiezione. Invece queste attraenti metafore provocano due domande: a) che cosa si ottiene con l’interpretazione metaforica? b) che cosa ha provocato la fuga degli interpreti nella metafora? a) In ogni caso attraverso l’interpretazione metaforica non si ottiene ciò che ci si attendeva. L’opinione corrente è che solo il dialogo deve essere escluso dal verdetto della critica della scrittura (cfr. sopra la citazione di Friedländer). Ma una volta accettata la comprensione metaforica, è facile vedere che anche molte altre forme dell’esposizione scritta «si scelgono da sole il proprio lettore», perché esse «tacciono» nei confronti di chi è inadatto, e che esse rispondono alle domande non sempre allo stesso modo. Chi negherebbe queste qualità (metaforiche) alla lirica di Hölderlin, ai romanzi di Dostojewski o di Umberto Eco, ai drammi di Euripide ed anche alla profonda opera storica di Erodoto35? Tutti gli autori che producono questo particolare tipo di opere letterarie «attive» diventerebbero di colpo filosofi e l’intera critica della scrittura perderebbe, di conseguenza, il suo senso critico. b) Nulla nel testo prova che Platone nella critica della scrittura parli, in verità, metaforicamente. Né si presenta alcun problema reale che potrebbe costringerci ad equiparare il dialogo scritto alla parola parlata, andando in tal modo contro il senso della critica di Platone. Già in Schleiermacher la causa della equiparazione era data dalla sua paura di dover riconoscere una filosofia esoterica di Platone – anche se certamente egli ha frainteso l’esoterica, cosa che anche oggi avviene di frequente, in un modo grottesco.36 Egli pensava inoltre – e anche questa

35 A ragione interpreti di letteratura hanno descritto una serie di autori mediante concetti che la moderna interpretazione di Platone vorrebbe riservare al dialogo platonico. Ho raccolto alcuni esempi in PSP, p. 359 nota 40 (ampliata con altri esempi in PSF, p. 448 nota 40). 36 Il tentativo, completamente fallito, operato da Schleiermacher di una «kritische Sichtung» dei concetti ‘esoterico/essoterico’ (Einleitung, cit., pp. 11 ss.) è stato da me descritto in PSP, 364-370 (= PSF, pp. 452-457). L’‘esoterica’, anche oggi, viene volentieri (e spesso in mala fede) equiparata con una «dottrina segreta»; sulla differenza cfr. infra, pp. 541-542, e PSP, pp. 400-405 (= PSF, pp. 484-488).

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idea è stata ripresa più volte – che esiste una contraddizione tra la condanna della scrittura da parte di Platone e la sua attività di scrittore.37 Quindi un termine della contraddizione (la condanna) non dovrebbe essere preso sul serio e conseguentemente dovrebbe venir eliminato. Invece Platone non condanna la scrittura ma determina soltanto il suo valore come relativamente scarso.38

11. L’impostazione di Schleiermacher deve essere controllata sul testo di Platone Una volta venute a cadere le ragioni dell’interpretazione metaforica, diventa anche chiaro che i modelli del βοηθεῖν τῷ λόγῳ presentati da Platone nei dialoghi escludono, da parte loro, la fuga nelle metafore. La mimesi dialogica di Platone del βοηθεῖν dimostra chiaramente che il «soccorso» non può essere uno strato nascosto dell’originario logos, ma deve appartenere ad un secondo indipendente logos, che esamini lo stesso tema spesso attraverso altri temi, in ogni caso però sempre con nuovi, più avanzati metodi di pensiero. L’ipotesi delle idee è la nuova risposta con la quale Socrate viene in aiuto al suo logos sull’immortalità dell’anima (Fedone 88 e), per potere così superare i dubbi di Cebete. Nessuna lettura, per quanto raffinata, delle prove dell’immortalità dell’anima potrebbe, solo a partire da esse, guadagnare il contenuto di Fedone 95 b-107 b come il loro significato nascosto e più profondo. Certamente è giusto dire che la prova che si fonda sulla parentela dell’anima con il νοητόν (Fedone 78 b-80 b) presuppone la concezione di questo νοητόν come mondo delle idee. Al contrario sarebbe insensata l’affermazione che il teorema presupposto potrebbe anche essere ottenuto nella sua concretezza concettuale e nella sua fondatezza filosofica dal «lettore capace di comprendere» unicamente sulla base della prova stes-

37 Schleiermacher, Einleitung, cit., p. 15. Qui, comunque, Schleiermacher parla non tanto di una «contraddizione», quanto piuttosto di una tensione tra il giudizio ed il comportamento di Platone; poiché però egli vorrebbe risolvere la tensione tramite un’attenuazione del giudizio negativo, dalla sua posizione non distano molto quelle di M.M. Mackenzie, che ha diagnosticato una «antinomy» in Platone («Proc. Cambr. Philol. Soc.», 28, 1982, pp. 64-76) e di Ch. L. Griswold, che nella critica della scrittura ha visto un tentativo di proibire lo scrivere di filosofia, cosa che Platone non avrebbe potuto, in quanto autore, pensare (Style and Philosophy: the Case of Plato’s Dialogues, «The Monist», 63, 1980, pp. 530-546 [«prohibit», p. 532]). Cfr. E. Heitsch, RhM, 131, 1988, p. 216: il comportamento di Platone sembrerebbe «quantomeno inconseguente». 38 Cfr. C.J. Rowe, The Argument and Structure of Plato’s Phaedrus, PCPS, 32, 1986, pp. 144 s.

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sa, come sua «indiretta comunicazione» – poiché se così fosse, Platone avrebbe potuto benissimo anche rinunciare alla comunicazione dell’aiuto che Socrate ha portato al suo logos. Lo stesso vale per l’affermazione di Socrate nel primo libro della Repubblica secondo cui la giustizia è migliore per il giusto stesso e viene esercitata come giusto potere nell’interesse di chi è governato e non di chi governa (Repubblica 342 e, 346 e, 349 b-354 a); questa affermazione presuppone la teoria dello stato e dell’anima dei libri II-IV e del concetto di filosofia dei libri V-VII (poiché soltanto il filosofo platonico può esercitare il potere senza un interesse personale);39 per questo motivo questi teoremi sono stati offerti come «soccorso» per la giustizia (e per la concezione che Socrate ha di essa). Ma sarebbe impossibile per un lettore del primo libro raggiungere la pienezza concettuale dei libri ‘soccorritori’ II-VII come «profondo livello del significato», che viene dato come una «nuova risposta» ad una nuova lettura.

12. βοηθεῖν orale e i passi che si trattengono dall’esprimersi Parlando egli stesso, λέγων αὐτός (Fedro 278 c 6) il filosofo può aiutare il suo scritto nell’elenchos: non c’è alcuna ragione per non accettare letteralmente queste parole di Socrate. Il contesto della critica della scrittura rende chiaro che questa prosecuzione orale dell’argomentazione non può significare la normale continuazione del discorso allo stesso livello, cosa di cui tutti sono capaci, poiché soltanto l’εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει, quindi il filosofo delle idee o il dialettico in senso platonico è in grado di produrre questo soccorso.40 E grazie alla filosofia delle idee è in grado di introdurre τιμιώτερα per il soccorso, fatto che viene già illustrato attraverso i dialoghi: come la tesi dell’immortalità dell’anima viene sorretta e fondata per mezzo dell’ipotesi delle idee come il τιμιώτερον che le sta dietro e che è adatto al soccorso; e come anche la tesi dell’utilità della giustizia viene fondata per mezzo della teoria dello stato e dell’anima nonché per mezzo della filosofia delle idee e della teoria del bene, così il filosofo platonico deve sapere fondare ogni suo scritto per mezzo di esposizioni orali di teorie che portano più vicino all’ἀρχή (lo specifico τίμιον) di quanto non possa fare lo scritto da spiegare. La nostra tesi che i dialoghi scritti spiegano che cosa sia inteso con βοηθεῖν potrebbe essere considerata contraddittoria: il «soccorso» è ex hypo-

39 Si confronti l’anticipazione del governo dei filosofi nel libro I, 347 a-d. 40 Cfr. supra, pp. 526-527 e 529-530 (concetto di φιλόσοφος del discorso sull’eros).

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thesi orale, e non scritto. La contraddizione viene a cadere se ci si chiarisce che i dialoghi offrono unicamente modelli scritti, illustrazioni mimetiche del procedimento inteso da Platone. Il dialogo scritto come εἴδωλον, immagine (Fedro 276 a 9) del discorso vivo è esso stesso un libro che ha anche bisogno di aiuto. Ma qui non sorge la minaccia di un regressus in infinitum? Il soccorso al dialogo A porta il dialogo B, il soccorso a B porta C, e così via senza fine41? Questa obiezione trascura il fatto che secondo la critica della scrittura il filosofo è in grado ed è in condizione (δυνατός/ἔχων βοηθεῖν, 278 c) di aiutarsi, ma che non è obbligato a farlo in ogni caso; proprio lui ha la libertà del λέγειν τε ϰαὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, di parlare e di tacere nei confronti di coloro con cui si deve far ciò (276 a 6). E anche questa qualità del filosofo – che è essenziale per la concezione platonica della trasmissione della conoscenza – è nei dialoghi rappresentata regolarmente: il conduttore del dialogo limita sempre la portata filosofica del colloquio nel rimandare ad ulteriori questioni che sono essenziali per il dialogo in questione ma che però non devono essere analizzate in questo luogo. La concezione platonica della trasmissione filosofica della conoscenza è quindi esente da contraddizioni. Un giudizio «chiaro e sicuro» può essere prodotto solo dal filosofare orale con un interlocutore ricercato personalmente e adatto. Ciò nonostante il dialettico può servirsi della scrittura; solo che egli deve, già durante lo scrivere, tenere pronti, come soccorso a ciò che scrive, quei teoremi di più ampia portata che permettono una fondazione più radicale; questi teoremi, in quanto necessario soccorso, non possono far parte del logos appena messo per iscritto, ma piuttosto rendono il filosofo, quando questi sia nella necessità di portare il soccorso, capace di «mostrare lo scritto come qualcosa di minor valore». Che però in un dato caso egli voglia veramente prestare il suo aiuto, per la qual cosa è preparato, dipende dalla sua libera scelta: diversamente dal libro che anche contro il desiderio dell’autore può essere letto, non si può costringere il filosofo al λέγειν οἶς μὴ δεῖ (cfr. Fedro 275 e 3). In questo senso ogni dialogo di Platone allude, nei passi in cui Platone si trattiene dal dire tutto, a τιμιώτερα che sono già pronti. E in questo senso Socrate può amichevolmente respingere la «costrizione» dei fratelli Glaucone ed Adimanto a dire qualcosa di più riguardo al bene e alla dialettica: συχνά γε ἀπολείπω (Repubblica 509 c7), οἶμαι ϰαὶ πολύ (sc. παραλείψω, 509

41 Temeva un regresso all’infinito G.J. de Vries (Helping..., cit., p. 61).

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c 9) e soprattutto 533 a 1: οὐϰέτ᾽ ὦ φίλε Γλαύϰων, οἷος τ᾽ ἔσῃ ἀϰολουθεῖν «Non sarai più, mio caro Glaucone, in grado di seguirmi».42

13. Che cosa significa veramente la critica della scrittura Ora possiamo ritornare al punto focale della critica della scrittura (cfr. sopra, p. 364): a quale condizione può un autore sapere che egli sarà sempre in grado di superare, dal punto di vista del contenuto, il suo scritto? Soltanto a condizione che sin dall’inizio egli non lasci entrare nella scrittura tutto ciò che ha pronto per la fondazione. Si potrebbe negare che tutti gli scritti di Platone soddisfino questa condizione solo se si potessero espungere tutti i passi in cui Platone si trattiene dall’esprimersi sulle fondazioni ulteriori – passi che sono da lui usati regolarmente e consapevolmente. Ci dobbiamo ancora una volta chiedere: perché Platone ha volutamente limitato la portata filosofica dei suoi logoi scritti? Doveva nascondere una filosofia segreta? Certamente no. Ma il suo scetticismo verso le possibilità della scrittura come mezzo per l’acquisizione della conoscenza, che così chiaramente possiamo ricavare dalla critica della scrittura, lo portò alla convinzione che ci sono cose che non sono in alcun modo segrete (ἀπόρρητα), ma che sarebbe insensato comunicare prematuramente ad ascoltatori e lettori non sufficientemente preparati e che perciò devono essere tralasciate; queste cose le ha chiamate ἀπρόρρητα.

42 La continuazione del ϰαὶ πολύ citato sopra suona così: ὅμως δέ, ὅσα γ᾽ ἐν τῷ πορόντι δυνατόν, ἑϰὼν οὐϰ ἀπολείψω, 509 b 9-10. Qui l’ὅμως mostra che la constatazione appena fatta, per cui Socrate «(sc. tralascerà) anche molto», non viene eliminata dalla successiva assicurazione che non tralascerà volontariamente ciò «che al momento presente è possibile»: la promessa di completezza è sottoposta in seguito ad una limitazione radicale. Il senso di questa limitazione risulta da 435 c d in connessione con 504 b, 506 b-e e prima di tutto 533 a (per il testo vedi supra): la questione, ricca di presupposti, del bene non può essere, con i metodi che vengono impiegati nel dialogo (435 d) e innanzi tutto di fronte a quei particolari interlocutori, la cui comprensione filosofica è limitata (507 a 2 e soprattutto 533 a1), affrontata adeguatamente; per questo Socrate tace riguardo all’essenza (τί ἐστιν) del Bene (506 d e) ed all’immagine più esatta della dialettica. Cfr. PSP, pp. 303-325 (= PSF, pp. 390-414). I numerosi passi della Repubblica in cui non viene detto tutto possono essere compresi solo nel loro contesto reciproco e nella loro relazione all’azione dialogica; alla sua consueta analisi che li considera isolatamente (cfr. ad es. W. Wieland, Platon..., cit., p. 48) sfugge necessariamente il loro senso.

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La differenza tra ἀπόρρητα e ἀπρόρρητα è di fondamentale importanza per la comprensione dell’atteggiamento di Platone verso la scrittura. Nonostante che questa distinzione sia molto semplice essa è stata per lo più non compresa: dal tempo di Schleiermacher si polemizza con fervore contro gli ἀπόρρητα e ci si dimentica che Platone ha riconosciuto l’esistenza di ἀπρόρρητα in una posizione più elevata e che gli ἀπρόρρητα condividono con gli ἀπόρρητα l’esclusione da una divulgazione scritta. A conclusione dell’abbozzo della polis cretese l’ateniese dice riguardo ai destinatari, al piano cronologico e al contenuto dell’istruzione del consiglio notturno (Leggi 968 e 2-5): πάντα τὰ περὶ ταῦτα ἀπόρρητα μὲν λεχθέντα οὐϰ ἂν ὀρθῶς λέγοιτο, ἀπρόρρητα δὲ διὰ τὸ μηδὲν προρρηθέντα δηλοῦν τῶν λεγομένων. «Se si chiamano ἀπόρρητα (segrete) tutte le cose dette riguardo a questi argomenti, non ci si esprimerebbe in maniera giusta; si potrebbero invece chiamare ἀπρόρρητα (non comunicabili prematuramente) per il fatto che, se comunicate prematuramente, non rendono chiaro nulla di ciò che è stato esposto». Come le Leggi portano vicino, ma non introducono a queste cose di importanza decisiva, così l’intera opera scritta di Platone intende avvicinare alla filosofia orale dei principi, dalla cui comunicazione scritta – e ciò significa necessariamente prematura – a persone non sufficientemente preparate, Platone non si attendeva nulla di positivo.

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1.

Recht genau in der Mitte jenes Abschnitts am Ende des Phaidros, der als ‚Kritik der Schriftlichkeit‘ in letzter Zeit einige Berühmtheit erlangt hat, wird das ‚Spiel‘ des Mannes beschrieben, der ‚Wissen‘ von den ‚gerechten, schönen und guten Dingen‘ hat – das Spiel jenes besonderen Typus also, den Platon φιλόσοφος oder διαλεϰτιϰός nennt. Die Beschreibung erfolgt im Rahmen eines Vergleichs: Wie ein Bauer einen Teil seiner Saatkörner auch einmal statt in einen Acker in Körbchen oder Tonschalen säen kann, obwohl er weiß, daß das keinen Ertrag bringen wird, so kann auch der Philosoph seine ‚Saatkörner‘ (σπέρματα) in die Schrift säen. Der Bauer wird das tun „um des Spieles und des Festes willen“ (παιδιᾶς τε ϰαὶ ἑορτῆς χάριν, 276 b5) – gemeint ist ein Ritus beim Adonisfest, nach dem jene Tonschalen, von denen von vornherein kein Getreide zu erwarten war, ‚Adonisgärten‘ hießen.1 Ganz wie der Bauer wird auch der Philosoph seine schriftlichen Adonisgärten um des Spieles willen (παιδιᾶς χάριν, d2) anlegen. Während andere sich auf Trinkgelagen vergnügen, spielt er ein ungleich schöneres Spiel: Er erzählt in seinen Schriften von Gerechtigkeit, vom Schönen und vom Guten. Unmöglich kann aber der Bauer sein gesamtes Saatgut in Adonisgärten säen, denn so könnte er keinen Ertrag erzielen und wäre eo ipso nicht mehr der vernünftige Bauer (ὁ νοῦν ἔχων γεωργός, 276 b1–2), von dem Platon redet. Dasjenige Saatgut, mit dem es ihm ernst ist und von dem er Ertrag erhofft (ἐφ᾽ οἷς (sc. σπέρμασιν) ἐσπούδαϰεν 276 b6, ὧν σπερμάτων ϰήδοιτο ϰαὶ ἔγϰαρπα βούλοιτο γενέσϑαι b2–3), sät er in geeigneten Boden unter Anwendung der Regeln der Kunst des Landbaus (276 b1–8). Streng parallel dazu ist das ernste Tun des Philosophen geschildert. Es besteht darin, daß er sich eine geeignete Seele sucht und in ihr unter Anwendung der Kunst der Dialektik mit Wissen Reden und Argumente (λόγοι) pflanzt und sät, die in der Lage sind, sich selbst und dem Pflanzenden zu helfen und die nicht ertraglos bleiben, sondern ‚Körner‘ tragen, aus denen andere Reden 1 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 176). Frankfurt a. M. 1986.

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in anderen Charakteren erwachsen, die diesen Prozeß für immer in Gang halten können. Wer diese Logoi hat, den machen sie glücklich, soweit das für einen Menschen überhaupt möglich ist (276 e5–277 a4). In dieser doppelten Gegenüberstellung sind die sich entsprechenden Wendungen τῇ γεωργιϰῇ χρώμενος τέχνῃ (276 b6) und τῇ διαλεϰτιϰῇ τέχνῃ χρώμενος (e5–6) jeweils eindeutig dem ernsthaften Tun zugeordnet: Die Kunst des Landbaus kommt beim spielerischen Pflanzen im Adonisgarten nicht zur Anwendung, und die Kunst der Dialektik nicht beim Schreiben – sie ist ganz und eindeutig der Mündlichkeit zugeschlagen. Das bedeutet nicht, daß man Schrift und Dialektik in gar keiner Weise in Beziehung zueinander setzen könnte – kurz vorher hieß es ja, der geschriebene Logos sei ein Abbild (εἴδωλον, 276 a9) der lebendigen Rede des Wissenden, und Abbildhaftigkeit ist gewiß auch eine Beziehung. Aber mehr als diese Beziehung, die für die Schrift nicht sehr schmeichelhaft ist, läßt der Text nicht zu. Man sollte also nicht versuchen, die Schrift mit dem Argument aufwerten zu wollen, daß die Kunst, die das Anlegen von Adonisgärten leitet – nennen wir sie die Gärtnerkunst – sachlich doch als Unterart der Landbaukunst ausgelegt werden könnte, so daß wir dann auch analog sagen könnten, in der Schrift des Philosophen sei auch die Dialektik (anders als nur abbildhaft) präsent: Für solch einen Ausweg sind die Zuordnungen, die der Text vornimmt, zu eindeutig. Wenn wir nicht lediglich die Vorurteile des 20. Jahrhunderts zugunsten der Schrift in den Text hineinlegen wollen, müssen wir den Willen des Autors anerkennen, Landbau und Adonisgärten, Dialektik und geschriebene Philosophie getrennt zu halten. Doch mit dem Anerkennen der klar erkennbaren Intention Platons hat es seit fast zweihundert Jahren so seine Schwierigkeiten. Seit Friedrich Schleiermachers Einleitung zu seiner Platonübersetzung von 1804 reißt die Reihe der Versuche, den Unterschied von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Platon in irgendeiner Form einzuebnen, nicht ab. Es ist hier nicht der Ort, auch nur die wichtigsten dieser Versuche zu skizzieren oder gar im Detail am Text zu messen.2 Es sei nur daran erinnert, daß sie einem starken emotionalen Bedürfnis entspringen: Gegen die Vorstellung, irgend etwas Wesentliches, oder gar das Ernsthafteste (τὰ σπουδαιότατα, Epist. 7, 344 c6), könnte der Mündlichkeit und damit nur wenigen privilegierten Hörern vorbehalten gewesen sein, sträubt sich unser modernes liberales

2 Eine Kritik des Ansatzes von Schleiermacher und einiger daraus entwickelter Positionen findet sich in Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 331–375.

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und demokratisches Empfinden. Diese Vorstellung aus Platon herauszubekommen, würde ihn uns näher rücken, ihn in höherem Maße zu einem von uns machen – und das ist ein starkes und in gewissen Grenzen auch berechtigtes Bedürfnis der Interpretation. Es ist daher nicht zu erwarten, daß die Versuche zur Eliminierung jeglichen Vorrangs des mündlichen Philosophierens so bald aufhören werden. Heute ist es beliebt, entweder zu leugnen, daß es überhaupt eine Kritik der Schriftlichkeit bei Platon gibt (kritisiert werde vielmehr jedwede Fixierung des Wortes, ob nun schriftlich oder mündlich),3 oder zu bestreiten, daß der φιλόσοφος, der nach der abschließenden Erklärung der Schriftkritik allein imstande ist, seiner Schrift mündlich zu helfen und dabei das Geschriebene als ‚von geringem Wert‘ zu erweisen (278 cd), ein Philosoph im platonischen Sinne sein muß, d. h. ein Denker, dessen Erkenntnisinteresse auf die Ideen und deren Prinzipien gerichtet ist.4 Auf beide Weisen würde man in der Tat um eine mündliche Philosophie Platons herumkommen – wenn diese Auffassungen denn mit dem Text vereinbar wären. Und wenn diese Irrtümer überwunden sein werden, so werden aus dem genannten emotionalen Bedürfnis heraus andere ähnlich gerichtete Versuche nachwachsen. Statt uns um vergangene, gegenwärtige und künftige Ausflüchte zu kümmern, wollen wir den Versuch machen, Platons offenkundige Intention, den mündlichen ‚Ernst‘ der Dialektik getrennt zu halten vom schriftlichen ‚Spiel‘, zu akzeptieren und im Rahmen des Dialogs und im Blick auf das Ganze der platonischen Philosophie zu erläutern. 2.

Der Aufbau des Dialogs ist vielleicht am besten als dreiteilig zu beschreiben. Im kurzen ersten Teil (227 a–230 e) lockt der junge Phaidros Sokrates aus der Stadt heraus mit dem Versprechen, ihm eine aufregende literarische Neuigkeit, das jüngste Meisterwerk des fähigsten modernen Autors – des δεινότατος τῶν νῦν γράφειν (228 a1–2) –, nämlich des Lysias, vorzustellen. Sie lassen sich am Flüßchen Ilissos an einem idyllisch-numinosen Ort

3 Vgl. Kenneth M. Sayre: Rez. von: Krämer, H.: Plato and the Foundations of Metaphysics. In: Ancient Philosophy 13 (1993), 173–177; David L. Blank: Rez. von: Th. A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (1985); M. Erler: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons (1987). In: Ancient Philosophy 13 (1993), 423–425; Franco Trabattoni: Scrivere nell’anima. Verità, dialettica e persuasione in Platone. Firenze 1994, 63ff. 4 Vgl. Ernst Heitsch: Phaidros 277 a6–b4. Gedankenführung und Thematik im ‚Phaidros‘. In: Hermes 20 (19992), 169–180, bes. 173, Anm. 15 und 179, Anm. 43.

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im Schatten einer Platane nieder.5 Das Gespräch bei der Suche nach dem geeigneten Platz macht die unterschiedliche Einstellung der beiden Männer zu geistigen Dingen und damit auch die unterschiedlichen Erwartungen an das Werk des Lysias deutlich. Auswendig vortragen, wie er es ursprünglich wollte, darf Phaidros das Meisterwerk nicht: Sokrates zwingt ihn, es wörtlich zu verlesen. Der zweite Teil (230 e–257 b) bringt daher zunächst den Wortlaut der Rede, eines ἐρωτιϰὸς λόγος, in dem ein nichtverliebter Verehrer um die Gunst eines schönen Knaben wirbt und dabei seine Konkurrenten, die verliebten Verehrer, schlechtmacht; sodann ein kurzes Gespräch über die Rede, in dem klar wird, daß Sokrates Phaidros’ Begeisterung für das mediokre Produkt ganz und gar nicht teilt; drittens eine improvisierte konkurrierende Rede des Sokrates, in der er ganz wie Lysias die Liebe als eine Art von Verrücktheit herabsetzt; viertens ein Gespräch über diese Rede, in dem Sokrates sein Mißbehagen wegen seiner abwegigen Herabsetzung des Eros ausdrückt und den Entschluß äußert, eine Palinodie nachzureichen, und fünftens diese Palinodie selbst: eine zweite improvisierte Rede, diesmal von erheblichem Umfang und in anspruchsvollem Stil gehalten – die berühmte große Eros-Rede des Sokrates, die den Beweis der Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriff der Selbstbewegung sowie das Bild vom dreiteiligen geflügelten Seelengespann und von der Auffahrt solcher Seelenwagen zum Ideenhimmel enthält und in der der Eros immer noch als Wahnsinn (μανία) beschrieben wird, jetzt jedoch als die höchste Form unter vier Formen von gottgesandtem Wahnsinn, dem Menschen zu seinem Heil gegeben; der Schluß dieser Rede schildert das Leben des Philosophen, der den Eros als Antrieb zum Philosophieren erfährt und so das höchste dem Menschen erreichbare Glück erreicht. Es folgt der dritte Teil des Dialogs (257 b–279 c), in dem nun wieder in recht nüchternem Ton erörtert wird, ob das bloße Verfassen von schriftlichen Logoi in sich schon schimpflich sei, wie manche sagen, sodann, wie die drei Reden des mittleren Teils zu beurteilen seien, was der Wert der gängigen Rhetorik und ihrer Vorschriften und Kunstmittel sei und welchen Bedingungen eine künftige Redekunst, die diesen Namen wirklich verdiente, genügen müßte, schließlich welches Verhältnis ein Autor zu seiner Schrift haben müsse, um des Namens φιλόσοφος würdig zu sein.

5 Herwig Görgemanns: Zur Deutung der Szene am Ilissos in Platons Phaidros. In: Philanthropia kai Eusebeia. Festschrift für Albrecht Dihle zum 70. Geburtstag. Hg. v. Glenn W. Most, Hubert Petersmann, Adolf Martin Ritter. Göttingen 1993, 122– 147.

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So weit der Gang des Dialogs in groben Zügen. Der Umschlag der Stimmung beim Übergang von der stilistisch überhöhten, im Zustand des Enthusiasmos gehaltenen zweiten Eros-Rede des Sokrates zur Erörterung der Grundlagen einer wahren Kunst der Rede im letzten Teil wurde stets als hart empfunden und beeinflußte das Urteil über die Komposition des Dialogs als eines Ganzen: Darin sei der Phaidros „verfehlt“, schrieb etwa E. Norden in seinem einflußreichen Werk über die antike Kunstprosa.6 Wer so urteilt, steht ganz unter dem Einfluß der großen Eros-Rede als eines in sich geschlossenen Literaturwerkes, und aus dieser Perspektive kann man in der Tat bemängeln, daß das darauf Folgende der enthusiastischen Verzauberung dieser Rede eher entgegenwirkt. Um indes beurteilen zu können, ob Platon sich hier wirklich nicht in der Lage zeigte, „ein großes Ganzes gut zu komponieren“ (Norden), müßte man wissen, welche Einheit er in dem scheinbar schlecht komponierten Ganzen anstrebte. Daß jeder Logos eine quasi organische Einheit haben muß, über Körper, Kopf und Gliedmaßen verfügen muß, die zueinander und zum Ganzen passen, hat gerade Platon als erster ausgesprochen, und gerade hier im Phaidros (264 c, vgl. Gorg. 505 d1, Tim. 69 b1). Dennoch erzeugte die Frage der thematischen Einheit eine nicht abreißende Kette von immer neuen Versuchen, eine Antwort zu finden.7 Der Begriff Eros verbindet die drei geschlossenen Reden, der Begriff Seele ist prominent in der zweiten Rede des Sokrates, spielt aber auch im letzten Teil eine Rolle, den man am einfachsten unter den Begriff Rhetorik stellen würde. Eros – Psyche – Rhetorik: läßt sich das wirklich in eine thematische Einheit zwingen, die eine organische Einheitlichkeit der literarischen Gestaltung ermöglicht? Bedenken wir nun, daß ein platonischer Dialog in erster Linie ein Werk der Gattung Drama ist und als philosophischer Dialog ein Drama der Gedankenfindung und Gedankenführung sein muß, so werden wir die stimmungsmäßige Einheit (gegen die ja offenbar bewußt verstoßen wird) und auch die thematische Einheit zunächst zurückstellen und statt dessen nach wiederkehrenden, also einheitsstiftenden Mustern der Gedankenführung

6 Eduard Norden: Die antike Kunstprosa, Bd. 1. Leipzig 1898, 112. 7 Zuletzt Luc Brisson: L’unité du Phèdre de Platon. In: In: Understanding the Phaedrus. Proceedings of the II Symposium Platonicum. Hg. v. Livio Rossetti. Sankt Augustin 1992, 61–76.

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sowie nach der durchgehenden Handlung – sofern der Dialog eine solche aufzuweisen hat – fragen. 3.

Eine gedankliche Bewegung kehrt immer wieder, durchzieht den ganzen Dialog: Sokrates weitet den Blick immer wieder aus, lenkt die Rede vom Zufälligen und Begrenzten zum Allgemeinen und Notwendigen, vom allbekannten Phänomen zu den nicht ohne weiteres erkennbaren Ursachen. Hier die wichtigsten Beispiele dieses Bewegungsmusters. Nach der Verlesung des ἐρωτιϰὸς λόγος des Lysias läßt sich Sokrates dazu drängen, seinerseits dasselbe Thema durchzuführen. Seine Rede gerät indes nicht zur bloßen Variation der lysianischen Vorlage. Zwar legt sie bewußt den gleichen Begriff von Eros zugrunde, nämlich Eros als krankhafte menschliche Verrücktheit, zugleich aber verwandelt sie diesen Begriff, indem sie ihn tiefer fundiert: Eros ist eine Form der Begierde (ἐπιϑυμία), die ihren Platz in der Gesamtheit der menschlichen Begierden angewiesen bekommt (238 aff.). Die Herrschaft der Begierden über den Menschen wird als Hybris definiert und dieser die Besonnenheit gegenübergestellt. Lysias’ triviale Vorstellung von der Verrücktheit der Liebe ist in wenigen Schritten Teil eines wohldurchdachten ethischen und anthropologischen Gesamtbildes geworden, wonach zwei Grundkräfte im Menschen wirksam sind, die angeborene Begierde nach Lust und das hinzuerworbene Streben nach dem Besten (237 d8–9). Wir sind damit bereits im Vorhof der platonischen Seelentheorie, denn die beiden Grundkräfte sind, wie sich später zeigen wird, identisch mit den beiden unteren Seelenteilen. Eine Ausweitung des Horizontes von ganz anderer Art ist in der Schilderung der Weise, wie Sokrates seine erste Rede hält und wie er selbst – nicht sein Zuhörer – auf sie reagiert, gegeben. Die die Verliebtheit herabsetzende Rede (die aber zum Glück nicht so weit geht wie die des Lysias, die nur wenig verhüllt zur homosexuellen Prostitution auffordert) hält Sokrates mit verhülltem Haupt, denn er schämt sich zu sagen, was er des Wettstreits mit Lysias wegen sagen muß. Als er nach der Rede den Platz verlassen will, hindert ihn sein Daimonion daran (242 bc): Er hat das Gefühl, sich gegen den Gott Eros vergangen zu haben, und daher das Bedürfnis, sein Vergehen durch die Palinodie wiedergutzumachen. Mit diesen Mitteln macht Platon deutlich, daß es einen rein ästhetisch-technischen Gebrauch des Wortes, wie Phaidros ihn sich wünscht, indem er zum bloß rhetorischen Wettstreit mit Lysias antreibt, nicht geben kann: Der Gebrauch des Wortes ist ein Handeln, für das der Mensch vor dem Bereich des Göttlichen verantwortlich bleibt.

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In der zweiten Rede des Sokrates wird die in der ersten begonnenen Art der Erweiterung des Gesichtsfeldes vorangetrieben: Die Seele besteht keineswegs nur aus den dort genannten zwei Grundkräften. Diese erscheinen vielmehr jetzt in bildlicher Umwandlung als das schlechte und das edle Pferd des Seelenwagens; über ihnen steht der Lenker des Gespanns – ein durchsichtiges Bild für die Vernunft der Seele (247 c7–8). Von den Teilen des Seelenwagens ist nur dieser Lenker menschengestaltig. Nur die Vernunft (der νοῦς) ist also das eigentlich Menschliche am Menschen (vgl. Politeia 588 bff.), in Platons Sprache freilich zugleich das Göttliche in ihm (Phdr. 230 a5, Politeia 518 e2, 589 d1, e4 u. ö.). Eben dieses Element fehlte im bisherigen Bild – kein Wunder, daß auch das Bild vom Eros unvollständig war. Jetzt kommt eine neue Art des Wahnsinns in den Blick, die nicht menschliche Schwäche und Krankheit ist, sondern göttliche Gabe. Solcher Wahnsinn zerfällt in vier Arten (244 a–245 c), die vier Göttern zugeordnet sind (265 b). Die schönste dieser göttlichen Mania-Gaben ist der Eros, dem Menschen zu seinem höchsten Glück gegeben. Die Einführung der den Menschen auszeichnenden Rationalität ist also nicht getrennt vom Lobpreis der irrationalen, manischen Kraft des Eros. Platon ist ebensosehr ‚Rationalist‘ wie ‚Irrationalist‘. Beides gehört notwendig zusammen: seinen νοῦς kann nur voll entfalten, wer die Fähigkeit hat, der Mania des Eros zum Opfer zu fallen. Mit dem göttlichen Vernunft-Teil der Seele wird auch eine neue Art von Wirklichkeit sichtbar, auf die sich dieser Teil seiner Natur nach richtet: Das wahrhaft seiende Sein, farblos, formlos, dem Tastsinn nicht erreichbar, das am Ort über dem Himmel, am ὑπερουράνιος τόπος (247 c), zu finden ist. Mit der Wiedergewinnung der vorgeburtlichen Schau der Ideen im Ausgang von der Erinnerung daran, die jede Seele in sich trägt, ist das Ziel des Eros und damit auch des menschlichen Glücks- und Vollkommenheitsstrebens benannt (249 c). Ganz neu setzt die Reihe der gezielten Ausweitungen der Gesichtspunkte, der Probleme, der Denkmittel und der Zielsetzungen im dritten Teil ein. Aus der Befürchtung des Phaidros, Lysias könnte, eingeschüchtert durch die Eros-Rede des Sokrates, mit dem Schreiben von Reden aufhören, zumal ihn jüngst schon jemand als Redenschreiber (λογογράφος) beschimpft habe (257 c), entwickelt Sokrates das Thema des dritten Teils: Erst stellt er in Frage, daß ‚Redenschreiber‘ für sich genommen überhaupt ein Schimpf sein kann, denn alle schrieben doch Reden und Schriften, auch die Politiker. Zustimmung zu dieser Überlegung wird möglich durch die Ausweitung der Begriffe λόγος und σύγγραμμα: Auch Volksbeschlüsse und Gesetze fallen jetzt darunter (258 a–d) – Sokrates ist also nicht bereit, länger allein beim Bereich der literarisch-epideiktischen Reden zu verwei-

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len. Sein Fragen bezieht ausdrücklich alles Geschriebene mit ein, politische und nichtpolitische Literatur, Dichtung und Prosa, und nicht nur das schon vorhandene Schrifttum, sondern sogar alles künftige (258 d 9–11). Nachdem also gezeigt ist, daß das Redenschreiben als solches nicht zu einem Vorwurf taugt, sondern allenfalls das schlechte Schreiben, formuliert Sokrates die von jetzt an leitende Frage, worin denn das richtige Reden und Schreiben bestehe (258 d, 259 e). Unvermerkt hat er dabei den Untersuchungsbereich erneut ausgeweitet und das Reden hinzugenommen: Offenbar hält er es nicht für möglich, das Schreiben allein angemessen in den Blick zu bekommen, ohne zurückzugreifen auf seinen Ursprungsbereich, das Reden. Für dieses aber gibt es bereits eine Kunst oder τέχνη, die Leitlinien bereithält: die Rhetorik, von der Phaidros glaubt, sie erstrecke sich auf das Gestalten von Gerichts- und Volksreden (261 b). Abermals ist eine Erweiterung des Blickfeldes dringend erfordert: Sokrates macht Phaidros klar, daß für alle Rede eine Kunst zuständig sein muß (περὶ πάντα τὰ λεγόμενα μία τις τέχνη, 261 e1–2). Das wesentliche Erfordernis dieser neuen, grundlegenden Kunst der Rede ist, daß das Denken des Redners „die Wahrheit“ über seinen Gegenstand kennen muß, daß er also „hinreichend philosophieren“ muß, um zu „wissen, was ein jegliches Seiendes ist“ – die Sprache, die Platon hier verwendet, ist eindeutig die Sprache der Ideentheorie:8 εἰδέναι τὸ ἀληϑές, ἱϰανῶς φιλοσοφεῖν, γνωρίζειν ὃ ἔστιν ἕϰαστον τῶν ὄντων (259 e5, 261 a4, 262 b7–8) bezeichnen Bedingungen, die nur der Ideenphilosoph erfüllen kann, dessen Erinnerung an die vorgeburtlich geschauten Ideen stark genug ist, um seiner Seele wieder ‚Flügel‘ wachsen zu lassen (249 c4–5, vgl. 250 a5), d. h. die nach ‚oben‘, zu den Ideen tragende geistige Kraft zu entwickeln (246 d6–e 2). Die Forderung der Kenntnis der Wahrheit durch die künftige Redekunst bedeutet gegenüber der beschränkten Sehweise der gängigen Rhetorik eine Erweiterung des Gesichtsfeldes in zweifacher Hinsicht: Einmal lehrten die Rhetoren bisher, daß man nur die Meinungen der Hörer, also letztlich das durchschnittlich Wahrscheinliche, nicht aber die Wahrheit

8 Einige Parallelen habe ich zusammengestellt in: Das Wissen des Philosophen in Platons Phaidros. In: Wiener Studien 107/108 (1994/95), 259–270, hier:, 269. – Heitsch: Phaidros 277 a6–b4 erkannte nicht die Präsenz der Ideen-Terminologie und erschloß daher – wohl wegen Formulierungen wie ὅ ἔστιν ἕϰαστον τῶν ὄντων 262 b7–8 und τὸ ἀληϑὲς ἑϰάστων πέρι 277 b5 – als Erfordernis der Kunst der Rede „das jeweils einschlägige Sachwissen“, das mit Ideenerkenntnis nichts zu tun habe. Doch ein „Sachwissen“ etwa über ἀγαϑὸν ϰαὶ ϰαϰόν (260 c6), das nicht auf Ideenwissen gegründet wäre, wäre für Platon wertlos und bloße δόξα. Über die gängige Rhetorik würde dergleichen jedenfalls nicht hinausführen können.

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über die Dinge kennen müsse, um die Menge im eigenen Interesse manipulieren zu können – demgegenüber zeigt Sokrates, daß gerade dies, die Manipulation durch geschicktes Spiel mit dem Gängigen und Wahrscheinlichen, derjenige am besten beherrscht, der die Wahrheit kennt (262 ab, vgl. 273 d); sodann ist die Kenntnis des ὃ ἔστιν ἕϰαστον τῶν ὄντων als Ideenerkenntnis die Eröffnung jener der bloßen δόξα nicht erreichbaren neuen Dimension der wahrhaft seienden οὐσία (247 c7), die eben deswegen zuvor im Mythos eingeführt worden war, damit wir wissen, was es heißt, der Redner müsse „die Wahrheit“ kennen. Reden und Schreiben unterstehen also derselben Grundforderung. Wer die Wahrheit kennt (ὁ εἰδὼς τὸ ἀληϑές, 262 d7, vgl. 276 a8, 278 c4–5), vermag das vielfach Zerstreute zu einer Gestalt (εἰς μίαν ἰδέαν) zusammenzusehen, ebenso das zur Einheit Zusammengefaßte nach den von Natur vorgegebenen Einschnitten zu zerlegen (265 d3–e3): Bei dieser Beschreibung der Kunst der Dialektik versäumt es Platon nicht, darauf hinzuweisen, daß sie ein ‚göttliches‘, d. h. ‚emporführendes‘ Vermögen ist (266 b7, wozu 249 c4–6 und 246 d6–e1 hinzuzunehmen sind). Die ‚zerlegenden‘ und ‚zusammenführenden‘ Schritte der Dialektik bedingen nicht nur das (richtige) Reden (und damit implizit auch das [richtige] Schreiben), sondern davor schon das vernünftige Denken (das φρονεῖν: 266 b4–5). Sokrates ist also dabei, alles Intendieren von Inhalten einheitlich in den Blick zu fassen. Dialektik erweist sich als die eigentliche Bedingung der Möglichkeit einer Kunst der Rede, die diesen Namen verdient. Der wahre Redner muß die Wahrheit über die Dinge kennen, die er behandelt, ebenso aber auch die Seelen, die er anspricht – die Natur der Seele aber läßt sich nicht hinreichend erkennen ohne die Natur des Alls (270 c). Wir blicken also wieder auf einen neuen umfassenden Problembereich hinaus: die Kosmologie als Rahmen der Seelentheorie. Aber ist das wirklich neu? Der Unsterblichkeitsbeweis zu Beginn der Eros-Rede (245 c–e) galt der Weltseele, nicht der Einzelseele, und der Satz ψυχὴ πᾶσα παντὸς ἐπιμελεῖται τοῦ ἀψύχου (246 b6) weist auf eine Kosmologie, in der Kenntnis des Alls und Kenntnis der Seele untrennbar miteinander verbunden sind – auf die Kosmologie, die Platon im Timaios genauer ausgeführt hat. Nachdem nun der Horizont mit Dialektik und Kosmologie weit genug abgesteckt ist – soweit es im theoretischen Bereich überhaupt möglich ist –, erinnert Sokrates zum Schluß noch einmal an die seit der Erwähnung des Daimonions (242 bc) über dem ganzen Gespräch liegende ethische Dimension: Unsere Reden sollen nicht nur dank Ideen- und Seelenkenntnis ‚kunstmäßig‘ (τέχνῃ) gesprochen sein – vor allem soll, in bezug auf die Reden, unser Handeln und Reden gottgefällig sein (274 b9–10). Im Rahmen dieser Überlegung wird die Schrift des Philosophen gegenüber seinem

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mündlichen dialektischen Philosophieren als bloßes Spiel eingestuft und die Fähigkeit, bei der mündlichen Hilfe für die eigene Schrift Wertvolleres (τιμιώτερα) aufzubieten und dadurch die Schrift als gering zu erweisen, als auszeichnendes Merkmal allein des Philosophen definiert (278 cd). Blicken wir nun zurück auf das konstante Bemühen des Sokrates, der Beschränktheit des Literaten und Rhetorenschülers Phaidros entgegenzuwirken, so können wir sagen: Alles, was er tut, ist ein ‚Emporführen nach oben‘ (ein ἀνάγειν ἄνω), ein Vermeiden der schnellen pragmatischen Lösung und eine Aufforderung, den langen Umweg (μαϰρὰν περιβαλλομένους) nicht zu scheuen (vgl. 272 d mit 274 a). Das ἀνάγειν, das Emporführen zu oder Zurückführen auf den Ursprung oder das Prinzip, ist freilich auch sonst das platonische Verfahren. So heißt es emblematisch gleich nach den ersten Gedankenschritten der Nomoi: „indem du den Logos in richtiger Weise auf den Ursprung zurückführtest, machtest du ihn deutlicher“ (τὸν γὰρ λόγον ἐπ᾽ ἀρχὴν ὀρϑῶς ἀναγαγὼν σαφέστερον ἐποίησας, 626 d5–6). Der Rückgang zu den „noch höheren Prinzipien“ (τὰς ἔτι τούτων ἀρχάς ἄνωϑεν) wird im geschriebenen Werk zwar regelmäßig begrenzt – so auch im Timaios, aus dem die soeben zitierte paradigmatische Wendung stammt (53 d6) –, aber daß eben dieses Hinaufsteigen und Zurückführen die eigentliche Aufgabe des Philosophen ist, wird immer und überall klar, am einprägsamsten im Höhlengleichnis, in Diotimas Rede und hier im Phaidros in der zweiten Eros-Rede des Sokrates. Gegen diesen platonischen Hang zum Zurückführen auf die ἀρχή steht der Geist der Rhetorik. Ihre Vertreter ermahnen uns, die Sache nicht so zu überhöhen noch sie aufs Prinzipielle zurückzuführen auf langem Umweg: οὐδὲν οὕτω ταῦτα δεῖν σεμνύνειν οὐδ᾽ ἀνάγειν ἄνω μαϰρὰν περιβαλλομένους (272 d3). Gegen das platonische ἀνάγειν ἄνω und gegen das Zusammensehen des (scheinbar) Zerstreuten richtet sich aber auch der jüngste deutschsprachige Kommentar, der uns versichert, (1) daß der Philosoph, auf dessen Verhältnis zu den Logoi die ganze Erörterung hinausläuft und von dem gesagt wird, daß er mündlich seiner Schrift werde helfen können (278 c–e), kein „Anhänger“ der Ideenlehre sein und kein „Bekenntnis“ zur platonischen Ontologie ablegen müsse, auch keine Kenntnis der platonischen Prinzipienlehre haben müsse, (2) daß vom idealen Redner bei Platon keine Kenntnis der metaphysischen Seelenlehre gefordert sei, sondern nur eine pragmatisch orientierte Psychologie „im Rahmen der empirischen Welt“, (3) daß von dem, der die Seele kennen will, keine „naturphilosophische Gesamtdeutung“, also keine Kosmologie mit der Seele als Zentralbegriff, zu verlangen sei und (4) daß für die den Menschen auszeichnende Fähigkeit zur Begriffsbildung die Lehre von der Erinnerung (ἀνάμνησις) nichts bei-

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trage.9 Hier ist konsequent anhand von vier zentralen Interpretationsproblemen die Notwendigkeit geleugnet, das jeweils in Frage Stehende mit seinen Ursprüngen und Bedingungen zu verbinden, es ‚emporzuführen‘, es im größeren Kontext des umfassenden Entwurfs zu sehen, den Platon vorlegt, um die ontologische, gnoseologische und ethische Sonderstellung des Menschen, seine Verhaftung an die Sinnenwelt und seine ‚Verwandtschaft‘ mit der Ideenwelt (Politeia 611 e2, Phd. 79 dff., Tim. 90 a5, vgl. Phdr. 247 d1–3 und 252 e–253 a) einheitlich verstehen zu können. Man fragt sich freilich, wozu Platon wohl die Erinnerung an die Ideenschau eingeführt hat, wenn sie doch für die spezifisch menschliche Erkenntnisleistung überflüssig ist, wozu der φιλόσοφος im Eros-Mythos ganz durch seine Ausrichtung auf die Ideenwelt bestimmt ist (248 d2–3, 249 c4–8, 253 a1–2 und passim), wenn am Ende auch jeder andere Typ φιλόσοφος heißen kann, und wozu das Bild vom dreiteiligen Seelengespann so breit ausgeführt ist, wenn der ideale Redner, der kein anderer ist als der Dialektiker, für seine Aufgabe dieses metaphysischen Theorems am Schluß gar nicht bedarf. 4.

Vergessen wir nun diese Tendenz zur διαίρεσις ohne συναγωγή, wie sie in der Tat vergessen zu werden verdient, so öffnet sich der Blick für die Einheit des Dialogs. Es geht um den richtigen Umgang mit Logoi, zunächst mit schriftlichen und zur Verbreitung bestimmten Logoi von ästhetischem Anspruch, also mit dem, was wir ‚Literatur‘ nennen. Literatur braucht Rezipienten. Platon beginnt denn auch nicht mit dem literarischen Werk, sondern mit zwei individuellen Rezipienten, die ihr unverwechselbares Naturell und ihre sehr verschiedenen Erwartungen an Literatur mitbringen, und mit den Umständen und Bedingungen der Rezeption: Es macht offenbar einen Unterschied, ob man ein Werk in einem geschlossenen Raum (227 ab) in einem Kreis von Literaten memoriert oder ob man es an einem numinosen Ort im Freien im Schatten einer Platane einem zu philosophischem Eros fähigen Mann vorträgt, dessen zentrale Sorge das γνῶϑι σαυτόν ist (229 e5–6). Das ist der Grund, warum ich den gewöhnlich als bloße ‚Einleitung‘ geführten Gang zur Platane eher als selbständigen Teil

9 Vgl. Heitsch: Phaidros 277 a6–b4; ders.: Platon über die rechte Art zu reden und zu schreiben. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Ausg. 4) Mainz/Stuttgart 1987, 20f.; ders. (Hg.): Platon, Phaidros. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 1993, 113, 172, 217.

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betrachten möchte: Platons Text leistet der Vernachlässigung des Rezeptions-Aspektes über dem werkästhetischen Aspekt keinen Vorschub. Im zweiten Teil werden dann gleich drei literarische Werke vorgeführt – nicht isoliert für sich stehend, sondern eng aufeinander bezogen und vom Gespräch erst der zwei Rezipienten, dann eines Rezipienten und eines Produzenten begleitet, denn Sokrates wird ja im Verlauf des Gesprächs selbst zum Autor. Dazu bringt ihn der Wettstreit mit Lysias: aemulatio und imitatio sind entscheidende Triebkräfte der Literaturproduktion, das durchschnittliche Literaturwerk verdankt seine Existenz und das meiste seiner Form und seines Inhalts einem vorangegangenen Literaturwerk. Den soeben zum Autor gewordenen Sokrates weist sein Daimonion auf seine Verantwortung für das Gesagte hin: Literatur schwebt nicht im luftleeren Raum jenseits von Gut und Böse. Oder – da man ja schon längst bemerkt hat, daß ‚jenseits‘ von ‚Gut-und-Böse‘ nur noch das Böse ist – eine Literatur, die ihre Verantwortung vor dem Bereich des ϑεῖον nicht wahrhaben will, läuft Gefahr, so tief zu sinken wie die Rede des Lysias, die, wie erwähnt, nichts anderes ist als eine verkappte Aufforderung zur Prostitution. Und der neue Autor Sokrates spricht im Zustand des Enthusiasmos (238 d, 241 e, 262 d, 263 d). Damit wird die seelisch-geistige Verfassung des Autors als eigener Faktor der Literatur thematisiert, der gewiß nicht weniger wichtig ist als die Befindlichkeit des Rezipienten. Literatur läßt sich nicht ‚machen‘ (245 a5–8). Im literarischen Wettstreit des Sokrates mit Lysias wird bereits der Übergang vom Schriftlichen zum Mündlichen vollzogen. Der theoretische dritte Teil vollzieht einen analogen Übergang. Er beginnt mit der sozialen Wertung des Autors von geschriebenen Logoi und zeigt, daß seine pauschale Herabsetzung ungerechtfertigt und heuchlerisch ist (257 b–258 d). Nachdem der gesellschaftliche Dünkel gegen den Logographen abserviert ist, wendet sich das Gespräch dem einzig relevanten Kriterium zu: dem des sachlichen Ranges und der ‚Kunstmäßigkeit‘ der Gestaltung von ‚Reden‘ im weitesten Sinn. Sofort zeigt sich die Philosophie als der sachlich erforderliche Hintergrund. Es gibt keine Literatur ohne implizite Philosophie – dann ist es aber besser, das ‚Wissen‘ des Autors gleich explizit zum Kriterium seines Umgangs mit Logoi zu machen. Das angestrebte εἰδέναι τὸ ἀληϑές kann aber kein hinreichendes Philosophieren (kein ἱϰανῶς φιλοσοφεῖν, 261 a4) sein ohne Ideenerkenntnis: darauf hat uns die Eros-Rede vorbereitet. Über dem ‚Wissen der Wahrheit‘ wird aber der RezeptionsAspekt, mit dem der Dialog begann, nicht vergessen: Da die Seelen der Rezipienten so grundverschieden sind, wie der eschatologische Teil der ErosRede andeutete, muß der, der mit Logoi kunstgemäß (τέχνῃ) umgehen will, Kenntnis von Struktur und Beschaffenheit der Seelen haben, die er er-

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reichen will. Und wie für die Kenntnis der ὄντα, von denen der Logos spricht, so ist auch für die Kenntnis der Seelen, zu denen er spricht, die Eros-Rede der Bezugsrahmen, dem zu entnehmen ist, was ‚Sein‘, was ‚Wissen‘, was Struktur und Zustand der Seele bedeuten. Die Unterschiede in der Rezeption von Logoi, die von den Unterschieden der Seelen herrühren, lenken den Blick ungezwungen zurück zum Aspekt der Verantwortung: Logoi einzusetzen ist ein Handeln, ein πράττειν, nicht nur ein λέγειν (vgl. 274 b9–10). Wer die Seele kennt, von ihrem Ursprung und vom Ziel ihres Sehnens, der οὐσία ὄντως οὖσα, weiß, wird sein Handeln nicht am Applaus der Menge ausrichten, wie die gängige Rhetorik, sondern an dem, was den Göttern gefällt (273 e–274 a). Das Thema des gottgefälligen Handelns schließt daher den Dialog ab. Da Wort und Schrift radikal verschiedene Bedingungen der Rezeption bieten, muß auch das Handeln des Philosophen in beiden Bereichen völlig verschieden sein: Sein ernsthaftes Tun ist dem Mündlichen vorbehalten, sein spielerisches Vergnügen ist die Schrift. 5.

So weit wurde die Einheit des Dialogs beschrieben als die zwar facettenreiche, in ihren Teilen jedoch eng verwobene Entfaltung der Frage nach den Faktoren und Bedingungen, die die Rezeption und Produktion von Logoi bestimmen oder bestimmen sollten. Noch deutlicher zeigt sich die Einheit in Begriffen der dramatischen Handlung. Die durchgehende Handlung des ganzen Dialogs ist gespiegelt im mittleren Teil, im Vorwurf der Eros-Reden: Es gilt, eine Seele zu gewinnen durch eine Rede, und zwar zu gewinnen für die Liebe. Fragt sich nur: was für eine Seele durch was für eine Rede, und vor allem: für welche Art von Liebe. Die Seele, um die Lysias wirbt, ist notwendig unbekannt, unbestimmt: Der geschriebene Logos kann sich grundsätzlich seinen Adressaten nicht selbst suchen. Daß Sokrates die Rolle des nichtverliebten Bewerbers nicht einmal als literarische Fiktion übernimmt, sondern in seinem Sinne ‚liebend‘ zu Phaidros ganz persönlich spricht, ist schon mit der Situation und der Gestimmtheit des Gesprächs gegeben und wird auch wörtlich ausgesprochen (243 e 4–8, vgl. 237 a5 mit b3–5). Lysias kennt das Wesen des Eros nicht, Sokrates’ Reden dagegen enthalten ‚Beispiele‘ für die Art, wie der Dialektiker verfahren würde (262 d–263 d): Sie erweisen sich damit als Reden des ‚Wissenden‘ (ungeachtet seines Nichtwissens, das er wie immer vorschützt: 262 d2–6). Und die ‚Liebe‘, für die Lysias seinen nichtverliebten Liebhaber werben läßt, ist nichts als sexuelle Befriedigung; Sokrates’ Eros ist das Philosophieren als die höchste dem Menschen er-

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reichbare Lebensform, dies unter ausdrücklichem Ausschluß der widernatürlichen homosexuellen Lust (256 ab; παρὰ φύσιν ἡδονή: 251 a1). Das Bild der kalten sinnlichen Liebe, das die Rede des Lysias bietet, ist, wie man längst gesehen hat, eine Chiffre für die gängige Kunst der Rede, deren derzeit glänzendster Vertreter Lysias selbst ist. Auch diese wirbt mit Reden ohne Sach- und Seelenkenntnis um die Menschen, ohne an ihrem wirklichen Wohl interessiert zu sein. Die durchgehende Handlung des Dialogs besteht also in der konkurrierenden Werbung von Rhetorik und Philosophie, von Lysias und Sokrates, um die Seele des Phaidros, den der eine unpersönlich und schriftlich, der andere persönlich und mündlich anspricht. Die Gebete am Ende des zweiten und des dritten Teils (257 ab, 279 bc) zeigen, daß die Handlung, wie es sein muß, mit dem Sieg der Philosophie über die Rhetorik und der mündlichen Rede über die schriftliche endet. 6.

Daß Philosophie ein wesentlich in der Mündlichkeit sich vollendendes Geschäft ist, liegt also in der Handlung selbst. Die Schriftkritik stellt es mit großer Eindringlichkeit erneut heraus. An ihrem Ende steht bedeutungsvoll der Name φιλόσοφος. Wer das ist, der platonische φιλόσοφος, ist dem Leser, der bis zu diesem Punkt gelangt ist, längst nicht mehr unklar. Er ist der, der die menschenmögliche Eudaimonie findet durch Einsatz der Kunst der Dialektik im mündlichen Umgang mit einem geeigneten Partner, in dessen Seele er μετ᾽ ἐπιστήμης, mit sicherem Wissen, lebendige und sich helfen könnende Reden pflanzt (276 e–277 a). Diese Kunst der Dialektik ist natürlich identisch mit der Dialektik als höchster Form des Wissens, die nach 265 dff. sich des Dihairesis-Verfahrens zur Erarbeitung von Definitionen bedient und die nach Politeia 534 bc auch zur Erkenntnis der Idee des Guten als des höchsten Erkenntnisgegenstandes (μέγιστον μάϑημα, 504 d–505 a) vorzudringen vermag – selbstverständlich ist hier nicht, wie man es sich aus seltsamen Mißverständnissen heraus zurechtlegen wollte,10 eine andere, mindere διαλεϰτιϰή gemeint, die den Rang einer bloßen τέχνη hätte: Denn woher soll die menschenmögliche Eudaimonie kommen, wenn nicht von der höchsten Erkenntnisform? Wer nicht die Eros-Rede willkürlich von der Schriftkritik abtrennen will, wird auch das Wort einbeziehen, daß der Philosoph kraft der Intensität seiner Erinnerung an die Schau der Ideen „stets in vollkommene Mysterien eingeweiht als einziger wahrhaft vollkommen wird“ (τελέους ἀεὶ τελετὰς τελούμενος 10 Heitsch (Hg.): Platon, Phaidros, Kommentar, 202, Anm. 448.

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τέλεος ὄντως μόνος γίγνεται 249 c7–8). Daß die ‚Mysterien‘ die Ideenschau selbst meinen, wird, obschon im Kontext der Stelle nicht zweifelhaft, kurz darauf noch einmal eigens verdeutlicht (250 b5–c6); wie im Symposion (210 a–212 a) werden diese ‚Mysterien‘ als reale Möglichkeit für den philosophierenden Menschen hier im diesseitigen Leben verstanden.11 Platon hätte den für ihn so bedeutungsvollen Namen φιλόσοφος mit Sicherheit niemandem zugestanden, der diese Möglichkeit und diese Aufgabe des τέλεον γίγνεσϑαι durch Ideenerkenntnis geleugnet hätte. Das hat man auch nie verkannt. Erst der Platonexegese unserer Zeit blieb der originelle Einfall vorbehalten, Platon habe den Namen φιλόσοφος auch jedem anderen, der Ideenphilosophie gänzlich fernstehenden Autor sozusagen zum ermäßigten Tarif „anbieten“ wollen, sofern er nur eine distanzierte Haltung zu seiner Schrift einnehme.12 Von diesem φιλόσοφος – vom bekannten, überall gleich gezeichneten platonischen φιλόσοφος – ist also gesagt, er verfasse seine Schriften als Wissender (als εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληϑὲς ἔχει, 278 c) und im Besitz der Möglichkeit, ihnen mündlich zu Hilfe zu kommen und sie dabei als φαῦλα, geringwertig, zu erweisen. Wie es zugeht, wenn der Dialektiker einem Logos zu Hilfe kommt, wissen wir aus zahlreichen Beispielen aus den Dialogen: Es handelt sich gerade nicht um das glättende und zurechtrückende Weiterdiskutieren auf gehabtem Niveau, sondern um den Rückgriff auf grundlegendere Zusammenhänge, um das charakteristisch platonische ἀνάγειν ἄνω.13 Wer freilich mit einer selbstgefertigten Vorstellung vom ‚Helfen‘ an den Text herantritt, wie es einst G. Vlastos tat, wird konsequenterweise finden müssen, daß Platons Auffassung von der Überlegenheit des Mündlichen „probably false“ sei.14 Und beim ‚Helfen‘ des Philosophen kommen τιμιώτερα, d. h. Wertvolleres als das, was er schrieb, zum Vorschein (278 de). Daß dieses Wort nur neue und bessere Inhalte meinen kann, machen Bezüge innerhalb des Dia-

11 Vgl. z. B. Ludwig C. H. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas. Stuttgart 1992. 12 Ernst Heitsch: τιμιώτερα. In: Hermes 117 (1989), 278–287, 281 Anm. 11. 13 Nachweise in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I; vgl. auch ders.: Was heißt „dem Logos zu Hilfe kommen“? Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Understanding the Phaedrus. Proceedings of the II Symposium Platonicum. Hg. v. Livio Rossetti. Sankt Augustin 1992, 93– 107. 14 Gregory Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959). In: Gnomon 35 (1963), 641–655, hier: 653 und ders.: Platonic Studies. Princeton, New Jersey 1973, 396.

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logs15 über jeden Zweifel hinaus klar und wird mittlerweile auch von der Mehrzahl der Interpreten anerkannt.16 Und kann man noch länger ignorieren, daß τίμιον bei Platon und in der Alten Akademie terminologisch für den Rang steht, der sich vom Prinzip herleitet?17 Am höchsten zu ‚ehren‘ (τιμητέον) ist die Idee des Guten, sie ragt an Würde – πρεσβεία (das Wort ist deutlich ein Synonym für τιμιότης) – noch jenseits von οὐσία hinaus.18 Ein τιμιώτερον als ‚die Bildung der Seele‘ (ἡ τῆς ψυχῆς παίδευσις) gibt es nicht, lesen wir im Phaidros selbst (241 c5–6). Worin diese besteht, wissen wir aus dem Höhlengleichnis (denn dieses handelt von unserer Befindlichkeit hinsichtlich Bildung und Unbildung: παιδείας τε πέρι ϰαὶ ἀπαιδευσίας, Pol. 514 a2): im Aufstieg zur Erkenntnis der Ideen, letztlich zur Idee des Guten. τίμια sind für die Seelen die Ideen (Phdr. 250 b1–2 – Beispiele sind die Ideen von Gerechtigkeit und Besonnenheit), wie denn überhaupt „die bedeutendsten und ranghöchsten Dinge“ (τὰ μέγιστα ϰαὶ τιμιώτατα) im Bereich des unkörperlichen Seins zu finden sind (Politikos 285 e4). Innerhalb dieses Bereichs gibt es Rangunterschiede, τιμιώτερα und ἀτιμότερα μέρη (Politeia 485 b6). Daß der Prinzipienbereich hierbei der ranghöchste sein muß, dürfte auch ohne Politeia 505 b9 unstrittig sein, und Aristoteles stellt denn auch nüchtern fest, daß den Platonikern an den Prinzipien mehr lag als selbst an der Existenz der Ideen (Met. A 9, 990 b17–22). Im platonischen Sinn verstanden, evozieren βοηϑεῖν und τιμιώτερα je für sich schon die Gedankenbewegung des ἀνάγειν ἄνω. Den Namen φιλόσοφος verdient, wer über die sichere Fähigkeit verfügt, im mündlichen Gespräch stets inhaltlich über seine Schrift hinauszugehen. Das hätte selbst ein Platon nicht gewährleisten können, hätte er seine Konzeption von den Bereichen und Wegen der Dialektik (vgl. Politeia 532 e1), von den „noch höheren Prinzipien“ (Tim. 53 d6) und vom Hinausragen des Guten „noch

15 Τιμιώτερα meint nichts anderes als ἄλλα πλείω ϰαὶ πλείονος ἄξια 235 b4–5 (ähnlich 234 e3, 235 d6–7, 236 b2) oder μείζω 279 a8. 16 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Zum Kontext der platonischen τιμιώτερα. Bemerkungen zu Phaidros 278b–e. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 16 (1990), 75–85, 75ff. 17 Eine vorläufige Zusammenstellung von Belegen findet sich in ders.: Platon lesen. Stuttgart 1993, 73–75. 18 Politeia 509 b9 οὐϰ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαϑοῦ, ἀλλ᾽ ἔτι ἐπέϰεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ ϰαὶ δυνάμει ὑπερέχοντος – hier nimmt πρεσβεία die Formulierung von 509 a4–5 auf: ἀλλ᾽ ἔτι μειζόνως τιμητέον τὴν τοῦ ἀγαϑοῦ ἕξιν. Aristoteles sah das offenbar nicht anders: Er variierte die Formulierung von 509 b9 zu δυνάμει ϰαὶ τιμιότητι πολὺ μᾶλλον πάντων ὑπερέχει, EN 1178 a1–2 (vom Nus gesagt).

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jenseits des Seins“ (Politeia 509 b9) jemals in einem geschlossenen Entwurf schriftlich fixiert. Wir wissen, daß er das nicht getan hat. Dies aber nicht zufällig, aus Zeitmangel etwa oder aus Mutlosigkeit,19 sondern aus klarer Erkenntnis der Schwierigkeiten und Risiken mündlicher und schriftlicher philosophischer Kommunikation. Solche Dinge sind ἀπρόρρητα, d. h. Dinge, die bei vorzeitiger Mitteilung nichts klarmachen würden (Nom. 968 e4–5), deren Niederschrift daher für die Menschheit letztlich auch keinen Nutzen brächte (Epist. 7, 341 de) und folglich vom verantwortungsvollen Autor unterlassen wird (ebd. 344 c). Auf dieses bewußte Unterlassen machen die Aussparungsstellen der Dialoge aufmerksam, von denen zwei bedeutsame Beispiele auch im Phaidros zu finden sind (246 a, 274 a). Dieses Unterlassen war Platons gottgefälliges Handeln im Umgang mit Logoi. Was ἀπρόρρητον ist, soll man nicht ‚hinauswerfen‘, sondern ‚ehren‘ (ἐϰβάλλειν – σέβεσϑαι, Epist. 7, 344 e). Sein gottgefälliges Handeln war – natürlich – zugleich sein vernünftiges Handeln: Er verhielt sich wie der Bauer, der, so wahr er ein vernünftiger Bauer bleiben will, nicht all sein Saatgut im Adonisgärtchen vergeuden wird.

19 Zu Ferber vgl. meine Rezension von: R. Ferber, Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben? (Sankt Augustin 1991). In: Gnomon 68 (1996), 404–411.

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18. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–e4 (1999)

Wilfried Kühn legt einen interessanten neuen Versuch vor, die platonischen Schriften dem Geltungsbereich der platonischen Schriftkritik zu entziehen.1 Man darf dies wohl als implizites Eingeständnis nehmen, daß die bisherigen Versuche, die Dialoge von der Schriftkritik auszunehmen, als gescheitert zu betrachten sind. Diese bestanden im Wesentlichen darin, daß man erklärte, die drei prinzipiellen Mängel, die Platon an der Schrift – an der γραφή schlechthin und ohne Einschränkung – findet (Phdr. 275 d4– e5), träfen auf den geschriebenen platonischen Dialog doch nicht zu. Immer wieder wurde ausdrücklich erklärt, der platonische Dialog könne all das, was die Schrift sonst nicht kann: erstens auf Fragen antworten, zweitens nur zu den geeigneten Adressaten sprechen (zu anderen aber schweigen), und drittens gegen Angriffe sich selbst zu Hilfe kommen.2 Es ist erfreulich, daß Kühn diese Behauptungen nicht aufnimmt. Den ersten Mangel, das Nichtantwortenkönnen, bezieht er ausdrücklich3 auf „das Medium der Buchstabenschrift“ schlechthin, in dem ja auch der platonische Dialog auftritt. (Die anderen beiden Mängel bleiben bei Kühn ohne Berücksichtigung – wir werden weiter unten sehen, inwiefern dies die Gültigkeit seiner Lösung beeinträchtigt.) Erfreulich ist auch, daß Kühn auf die Verwendung zweier weiterer Argumente verzichtet, die bisher zur Stützung der antiesoterischen Position regelmäßig benützt wurden: er behauptet nicht, daß das griechische Wort syngramma (σύγγραμμα) nur den nichtdialogischen ‚Traktat‘ bezeichne (so daß dann die Dialoge von Platons Kritik an syngrammata von vornherein ausgenommen wären), und er leugnet auch nicht, daß das Wort timiotera

1 Vgl. Wilfried Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften? Der Schluß von Platons Phaidros, nichtesoterisch interpretiert. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 23–39. 2 Zur Darstellung und Kritik dieser Art von Platon-Hermeneutik vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 (im Folgenden zitiert als PSP I), 331–375 sowie ders.: Platon lesen. Stuttgart 1993, 42–48 und 148–152. 3 Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften?, 31.

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18. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge?

(τιμιώτερα) in Phdr. 278 d8 bedeutendere Inhalte meint (und nicht etwa den höheren Rang des Dialogführens als solchen, unabhängig vom behandelten Inhalt).4 Zur besseren Information des Lesers wäre es freilich nicht schlecht gewesen, wenn Kühn noch dazugesagt hätte, wo die metaphorische Umdeutung der Vermeidung der drei Mängel, die nötig ist, um die Dialoge gegen sie immun zu machen, und wo die beiden zuletzt genannten Argumente, die einst die Hauptstützen der Mehrheitsmeinung waren und von bedeutenden und unbedeutenden Interpreten immer und immer wieder vorgebracht wurden, einer Kritik unterzogen wurden.5 Doch dem alten Bedürfnis, die Schriftkritik mit Blick auf Platons eigenes Werk zu entschärfen, fühlt sich auch Kühn verpflichtet. Seine Deutung ließe sich etwa folgendermaßen paraphrasieren: ‚Die Schrift des platonischen philosophos bedarf keiner mündlichen ‚Hilfe‘ durch den Autor, weil sie als dialektische Schrift dem, was die ‚Hilfe‘ bringen könnte, gleichwertig ist. Die Notwendigkeit, durch mündliche Verteidigung die eigenen Schriften als ‚geringwertig‘ (φαῦλα) zu erweisen, indem man ‚Wertvolleres als das Geschriebene‘ (τιμιώτερα ὧν ... ἕγραψε) vorbringt, besteht nur für nichtphilosophische Autoren.‘ Oder, um Kühns These auf einen einzigen Satz zu komprimieren: ‚Die ‚Botschaft‘, die Sokrates am Ende des Phaidros (278 b8–e4) Lysias zukommen läßt über die angemessene Benennung von Autoren entweder als Philosophen oder aber als Dichter, Reden- und Gesetzeschreiber handelt keineswegs von Autoren im allgemeinen, ist auch nicht auf den platonischen Philosophen gemünzt, sondern sagt nur etwas aus über die nichtphilosophischen konventionellen Autoren wie Lysias, Homer, Solon und ihresgleichen.‘ Drei Punkte verdienen an dieser Deutung besondere Beachtung. (1) Kühn leugnet die Selbstbezüglichkeit des Schlußteils der Schriftkritik, jener ‚Botschaft‘ an Lysias. (2) Die dergestalt von der Kritik entlastete Schrift des Philosophen wird ihm unter der Hand zu etwas Vollkommenem: Kühn führt die schwerlich platonische Vorstellung einer „dialektischen Schrift“ ein, die der weiteren inhaltlichen Hilfe gar nicht erst bedarf.

4 Ebd., 26, Anm. 6: das „Wertvollere“ meine „gewußte Inhalte“. 5 Zur metaphorischen Umdeutung der Überwindung der Mängel vgl. bes. Szlezák: Platon lesen, 148ff. Zur Kritik des σύγγραμμα-Arguments vgl. PSP I, 376–385; für die inhaltliche Deutung von τιμιώτερα vgl. ders.: Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs „Phaidros“. In: Museum Helveticum 35 (1978), 18–32, bes. 22–28 sowie ders.: Platon lesen, 71–76.

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18. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge?

(3) Um sein Ziel zu erreichen, muß sich Kühn auf eine sehr eigenwillige Deutung des Gleichnisses vom vernünftigen Bauern stützen. Ich beginne mit dem dritten Punkt, um über die vermeintlich vollkommene dialektische Schrift zur offenkundigen Selbstbezüglichkeit der Schriftkritik als ganzer und ihrer Teile zurückzukehren. (3’) Platon vergleicht den philosophischen Autor mit einem vernünftigen Bauern (276 b1–277 a5). Von diesem sagt er, daß er es vermeiden wird, „diejenigen Samenkörner, an denen ihm gelegen ist und von denen er Ertrag erwartet“ (ὧν σπερμάτων ϰήδοιτο ϰαὶ ἔγϰαρπα βούλοιτο γενέσθαι, 276 b2–3), in Adonisgärten zu säen. Zwar wird auch er spielerisch Adonisgärten anlegen [und dabei – wie sich versteht – einen Teil seiner Samenkörner aufbrauchen]; „aber diejenigen (sc. Samenkörner), auf die sich sein Ernst richtet“ (ἐφ᾽ οἷς δὲ (sc. σπέρμασιν) ἐσπούδαϰεν, 276 b6), wird er [nicht in Adonisgärten, sondern] in geeigneten Boden säen. – Hier nun zu behaupten, wie Kühn es tut,6 daß von Teilmengen nicht die Rede sei, weist doch wohl auf ein unzureichendes sprachliches Verständnis der Ausdrücke ὧν σπερμάτων ϰήδοιτο und ἐφ᾽ οἷς δὲ ἐσπούδαϰεν, denn beide sind darin vollkommen eindeutig, daß sie nicht die Gesamtmenge der Samenkörner des Bauern meinen. Auf dasselbe Ergebnis führt – natürlich – die sachliche Auslegung des Gleichnisses: da der Bauer vom Samen, „an dem ihm gelegen ist“, Ertrag erwartet, das Adonisgärtchen aber keine Ernte erzielt, so ist klar, daß ein (großer) Teil des Samens für den Landbau, ein (kleiner) Teil für den Ritus verwendet wird. Ebensowenig überzeugt es, wenn Kühn versichert, in der Schriftkritik (einschließlich Gleichnis) sei vom unwissenden Autor nicht die Rede.7 Der unwissende Autor ist im Gleichnis präsent als die Entsprechung zum unvernünftigen Bauern, und dessen Verhalten wiederum ist kenntlich durch die Negation beim Tun des vernünftigen Bauern: dieser wird nicht allen Samen in das Adonisgärtchen säen – der unvernünftige wird eben dies tun. Und der unvernünftige Autor wird ebenso seine gesamten ‚Samenkörner‘ (vgl. 276 c4–5) unterschiedslos in seine literarischen Adonisgärten bringen, im Unterschied zum Dialektiker (c7–10). Bloße Willkür ist es, wenn Kühn einseitig festlegt, die Negation in οὐϰ ἄρα σπουδῇ αὐτὰ ἐν ὕδατι γράψει (276 c7) betreffe nur die Bestimmung ‚im Ernst‘, dürfe hingegen nicht zum Verbum (οὐϰ ἄρα ... γράψει) gezogen werden.8 Durch diesen selbstherrlichen Entscheid schließt Kühn die gegnerische Position, deren Ungültigkeit er doch ‚beweisen‘ wollte, auf dem

6 Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften?, 31, Anm. 12. 7 Ebd., 31, 37. 8 Ebd., 31, Anm. 12.

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Wege der petitio principii von vornherein aus: es darf eben nicht sein, daß der philosophische Autor etwas der Schrift nicht anvertrauen will. Mit der Weigerung, die Negation in 276 c7 mit dem Verbum γράψει zu verbinden, wird die Analogie zwischen dem Tun des Bauern und dem des philosophischen Autors aufgelöst. In der neuen Deutung entspricht nun einem vernünftigen Bauern, der nicht allen Samen in Adonisgärten sät, ein wissender Autor, der sehr wohl sein gesamtes Saatgut den schriftlichen Adonisgärten anvertraut. Der Erkenntniswert des Gleichnisses besteht aber just darin, daß der Leser das Verhalten des wissenden Autors mit dem des vernünftigen Bauern parallelisiert, wie es der Text in 276 c3–5 verlangt, und entsprechend das Verhalten des unphilosophischen Autors mit dem des unklugen Bauern. In Kühns Deutung tut der wissende Autor genau dasselbe, was der unkluge Bauer tun würde, nur mit dem Unterschied, daß er es nicht ‚mit Ernsthaftigkeit‘ betreibt. Wenn aber der ganze Unterschied auf eine bloße Einstellung oder innere ‚Haltung‘ – wohlgemerkt zum genau gleichen Verhalten – schrumpft, so ist nicht mehr zu sehen, wozu der Vergleich mit dem klugen und dem törichten Bauern überhaupt bemüht wurde. Es hätte genügt zu sagen, der wissende und der unwissende Autor täten zwar dasselbe, aber mit verschiedener ‚Haltung‘. Kurz, die neue Deutung macht Platons aussagekräftiges Gleichnis sinnlos und überflüssig. (2’) Kühn scheint auch nicht zu sehen, daß im Rahmen des Gleichnisses die ‚Kunst des Landbaus‘ eindeutig und ausschließlich zum Säen im geeigneten Boden gehört, und ebenso eindeutig und ausschließlich die ‚Kunst der Dialektik‘ zum mündlichen Philosophieren. Man beachte die sorgfältig parallel gestalteten Wendungen τῇ γεωργιϰῇ χρώμενος ἂν τέχνῃ, σπείρας εἰς τὸ προσῆϰον ∼ ὅταν τις τῇ διαλεϰτιϰῇ τέχνῃ χρώμενος, λαβὼν ψυχὴν προσήϰουσαν (276 b6–7∼e5). Diese eindeutige Zuordnung macht Kühns Begriff einer ‚dialektischen‘ Schrift problematisch. Kann für Platon eine Schrift ‚dialektisch‘ sein? Schon sprachlich zeigen sich hier Schwierigkeiten. Dialektik kommt von διαλέγεσθαι ‚sich unterreden/unterhalten‘, ‚sich in Frage und Antwort verständigen‘. Solange die Schrift auf Fragen nicht antworten kann (275 d6), so lange kann es keine im griechischen Sinn ‚dialektische‘ Schrift geben. Wer diesen Mangel der Schrift als einen prinzipiellen Mangel anerkennt, wie Kühn es tut (s. o.), sollte vorsichtig sein mit der sekundären Aufwertung der Schrift zu einem ‚dialektischen‘ Kommunikationsmittel. Die Schrift kann ‚Beispiele‘ dafür enthalten, wie der ‚Wissende‘, d. h. der Dialektiker, verfahren würde – so viel (und nicht mehr) bescheinigt Sokrates im zweiten Teil des Phaidros (262 d1) seinen eigenen Eros-Reden aus dem ersten Teil. Da der Leser aber diese Reden, die im Rahmen des Dialogs als improvisierte mündliche Reden geboten werden, nun geschrieben

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vor sich hat, wird man präziser sagen müssen, daß sie – in dieser verschriftlichten Form – Nachahmungen oder ‚Abbilder‘, εἴδωλα (vgl. 276 a9) solcher ‚Beispiele‘ des dialektischen Verfahrens enthalten. Und das ist wohl die äußerste Annäherung an Dialektik, die der Schrift möglich ist. Der dialektische Vollzug des Philosophierens ist ‚lebendig und beseelt‘ (278 a8); ein lebloses schriftliches ‚Abbild‘ davon, das ‚gar feierlich schweigt‘ wie die Produkte der Malerei (275 d5–6), kann man griechisch nicht gut als ‚gesprächsmäßig‘ (διαλεϰτιϰόν) bezeichnen. Es ist wie mit der Fotografie: Dreidimensionales kann sie zwar abbilden, als Bild ist sie selbst aber notwendig zweidimensional. Kühns ‚dialektische Schrift‘ ist so etwas wie eine dreidimensionale Fotografie. Doch auch wenn die Schriften des philosophos „dialektisch“ im Sinne Kühns „und damit dem mündlichen Philosophieren inhaltlich gleichwertig“9 wären, wäre die Frage, ob sie der mündlichen ‚Hilfe‘ durch den Autor bedürfen oder nicht, noch nicht entschieden. Kühn scheint zu meinen, seine These der Gleichwertigkeit stelle die philosophischen Schriften endgültig frei von der Notwendigkeit weiterer Hilfe und kommt so zum Phantom einer schlichtweg vollkommenen philosophischen Schrift – wie es scheint ohne zu merken, wie weit er sich damit vom Geist der Schriftkritik entfernt. In Wirklichkeit ist es natürlich so, daß auch mündliche Logoi der Hilfe durch den Urheber bedürfen können – die ‚Abbilder‘ solcher Hilfeleistungen in den Dialogen zeigen das zur Genüge.10 Dann muß das gleiche auch für die (vermeintlich) gleichwertigen ‚dialektischen Schriften‘ gelten – es sei denn, Kühn wolle nicht die Gleichwertigkeit, sondern die Überlegenheit der ‚dialektischen‘ Schrift über den dialektischen mündlichen Logos behaupten, oder er kenne eine Schrift Platons, die explizit von sich behauptet, alle Argumente zum betreffenden Thema, und besonders die auf Letztbegründung zielenden, zu enthalten. Es ist also auch theoretisch nichts gewonnen, wenn versichert wird, nur die nichtphilosophischen Autoren müßten ihren Schriften zu Hilfe kommen. Erst recht ist mit dieser Versicherung nichts gewonnen für eine Deskription der platonischen Texte. Nehmen wir die Politeia: sie wird in Phdr. 276 e2–3 als Beispiel des literarischen ‚Spiels‘ des Philosophen genannt.11 Diese Schrift, die nach Kühn nicht ‚Beispiele‘ dialektischen Verfahrens ‚abbildet‘, sondern selbst dialek9 Ebd., 36. 10 Zur ‚Hilfeleistung für den Logos‘ als Strukturprinzip der Dialoge vgl. PSP I, 66– 78 sowie passim. 11 Die sichere Anspielung in διϰαιοσύνης τε ϰαὶ τῶν ἄλλων ὧν λέγεις πέρι μυθολογοῦντα (vgl. Politeia 376 d9, 501 e4) wurde zuerst von W. Luther erkannt

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tisch ist, bedarf also keiner ‚Hilfe‘ durch ihren Autor – aber warum erklärt gerade dieses Hauptwerk Platons zu so zentralen Fragen wie der Struktur der Seele, dem Wesen des Guten, den Arten und Wegen der Dialektik, daß weiterführende und exaktere Betrachtungen nötig und möglich sind, aber gleichwohl hier und jetzt nicht durchgeführt werden sollen (435 cd, 504 b–d, 506 e, 509 c, 533a)12? Eine adäquate Behandlung des τί ἐστιν des Guten und der Arten und Wege der Dialektik fehlt bekanntlich auch in Platons übrigem Schriftwerk.13 Was meint der Hinweis auf diese fehlenden Bestandteile seiner Theorie anderes, wenn nicht die Versicherung, daß auch das schriftliche Hauptwerk Platons der ‚Hilfe‘ durch τιμιώτερα bedarf?14 Kühns Leugnung der Notwendigkeit solcher ‚Hilfe‘ setzt sich in Widerspruch zum Befund der Texte. (1’) Die Politeia als Beispiel des schriftlichen ‚Spiels‘ des Dialektikers ist keineswegs der einzige Beleg für die Selbstbezüglichkeit der Schriftkritik. Da der ganze Dialog von der Überlegenheit der Philosophie über die Rhetorik handelt, 15 wäre es seltsam, wenn im Schlußteil nicht deutlich würde, daß Platon selbstverständlich auch hier von den Philosophen (und damit auch von sich selbst) redet. Als eine Aufforderung Platons, die Erörterung auch auf das Buch zu beziehen, das der Leser jetzt in Händen hält, darf man wohl den Satz lesen, der das seit 257 c Gesagte abschließt und zur Botschaft an Lysias überleitet: οὐϰοῦν ἤδη πεπαίσθω μετρίως ἡμῖν τὰ περὶ λόγων (278 b7). Wie Sokrates unter der Platane am Ilissos Phaidros im Gespräch zu neuen Einsichten führte, müßte – dramenintern betrachtet – als ‚Ernst‘ des Dialektikers eingestuft werden. Wenn Platon statt dessen das Wort παίζειν verwendet, das im Vorangehenden die literarische Betätigung des Philosophen bezeichnete, so führt er uns nicht nur Sokrates als urbanen Ironiker vor, der die eigene Tätigkeit als bloßes Spiel abtut, sondern er durchbricht damit auch die Illusion der dramatischen Mimesis, um den Leser daran zu erinnern, daß er auch hier (ganz wie im Fall der Politeia: s. o. zu 276 e2–3) das schriftliche ‚Spiel‘ eines Dialektikers vor sich hat. Somit ist schon am Eingang der

12 13 14 15

(vgl. Wilhelm Luther: Die Schwäche des geschriebenen Logos. In: Gymnasium 68 (1961), 526–548, hier: 536f.). Für eine Interpretation der Aussparungsstellen der Politeia in ihrem Zusammenhang vgl. PSP I, 303–325. Die Frage nach der Struktur und der ‚ursprünglichen Natur‘ der Seele (vgl. Politeia 611 b–612 a) kann als durch den Timaios (weitgehend) beantwortet gelten. Zur Frage, wie weit die Erörterungen des Phaidros den Anforderungen der Dialektik entsprechen, vgl. PSP I, 42–45. Vgl. PSP I, 37–48, bes. 47f.

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Botschaft die Bereitschaft des Lesers geweckt, Platon als Autor einzubeziehen. Wenn er dann liest, die Botschaft gelte Lysias – dem Verfasser des Erotikos logos – „und wenn sonst einer ‚Reden‘ (λόγους) verfaßt“, so fragt er sich, wer denn sonst einen Erotikos wie Lysias verfaßt haben mag. Von einem wissen wir es bestimmt: von Platon, der die Gattung gleich um zwei solcher Logoi bereichert hat (Phdr. 237 b–241 d und 243 e–257 b). Mit welchem Recht können wir Platon, den Autor der beiden Eros-Reden, von der Formulierung ϰαὶ εἴ τις ἄλλος συντίθησι λόγους ausnehmen? Im übrigen erweist sich diese Formulierung als Echo zweier früherer: ὡς εἴτε Λυσίας ἤ τις ἄλλος πώποτε ἔγραψεν ἢ γράψει ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ νόμους τιθείς, σύγγραμμα πολιτιϰὸν γράφων ∼ Λυσίαν ... ϰαὶ ἄλλον ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν ἢ γράψει, εἴτε πολιτιϰὸν σύγγραμμα εἴτε ἰδιωτιϰόν, ἐν μέτρῳ ὡς ποιητὴς ἢ ἄνευ μέτρου ὡς ἰδιώτης (277 d6–7∼258 d9–11). So überdeutlich ist die Übereinstimmung der drei Stellen in Wortlaut und Intention, daß es unumgänglich ist, sie in einheitlichem Sinne zu verstehen. Es bleibt also nichts übrig, als in die ohnehin verallgemeinernde Wendung ϰαὶ εἴ τις ἄλλος συντίθησι λόγους im Sinne der beiden Parallelen auch die künftigen Verfasser von logoi einzubeziehen,16 und dies für alle drei Gruppen von Autoren (Redenschreiber, Dichter, Gesetzeschreiber). Ferner muß der Leser, der die früheren Stellen nicht vergessen hat, wie dort so auch hier die ‚öffentliche (bzw. in staatlichem Auftrag erfolgende)‘ und die ‚private‘ Schriftstellerei gleichermaßen einbeziehen, denn die Untersuchung wollte von Anfang an bewußt alles Schrifttum erfassen. Angesichts dieser Vorgaben des Textes ist es fraglich, ob es noch sinnvoll ist, mit Kühn jetzige und künftige philosophische Autoren von ‚politischen‘ Werken vom alten ‚konventionellen‘ Autor Solon fein säuberlich trennen zu wollen und zu behaupten, der Text meine nur Solon und seinesgleichen. Daß Platons auf Staat und Politik bezogene Werke wie Politeia, Gorgias, Menexenos, Politi-

16 Daß Platons Blick sich auch auf die Zukunft richtet – und nicht allein auf die Vergangenheit und die Gegenwart bis zum fiktiven Zeitpunkt des Gesprächs am Ilissos –, zeigt auch die auf die Schriftkritik unmittelbar folgende Vorhersage des Sokrates über die künftige Entwicklung des Isokrates (279 a3–b1). Angesichts der lebenslangen Rivalität zwischen Platon und Isokrates gehört eine gewisse Naivität dazu zu meinen, die künftigen geistigen Leistungen des Isokrates seien in den abschließenden ‚Botschaften‘ (278 c4–e4, 279 a3–b1) mitbedacht, die künftigen Leistungen Platons aber sorgfältig ausgeklammert. – Nebenbei sei angemerkt, daß meine Deutung keineswegs davon abhängt, ob man die futurische Form γράψει aus den beiden Parallelen auch an unserer Stelle mitzuhören bereit ist oder nicht: ϰαὶ εἴ τις ἄλλος συντίθησι λόγους 278 c1 ist in sich schon umfassend genug, um die Beweislast denen aufzubürden, die Platons Werke aus der Schriftkritik heraushalten wollen.

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kos, Nomoi usw. griechisch als πολιτιϰοὶ λόγοι einzustufen wären, wird niemand bestreiten.17 Die Politeia nennt sich überdies selbst eine ‚Gesetzgebung‘ (νομοθεσία),18 und angesichts des Titels seines letzten Werkes muß man Platon als einen sehen, welcher ἐν πολιτιϰοῖς λόγοις νόμους (oder: Νόμους) ὀνομάζων συγγράμμα(τα) ἔγραψεν (278 c3–4). Schließlich formuliert auch Platon in den Nomoi Gesetze aus, wenn auch nicht in staatlichem Auftrag, wie sein Vorfahr Solon – aber diesen Unterschied sollen wir ja nach 258 d9–10 und 277 d7 als für die vorliegende Frage irrelevant betrachten. Ganz allgemein formuliert ist auch 278 d8–9 οὐϰοῦν αὖ τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα ὧν συνέθηϰεν ἤ ἔγραψεν... Hierbei erfaßt die Wendung ὁ μὴ ἔχων τιμιώτερα notwendig jeden, der nicht über Wertvolleres verfügt als das, was er schrieb. Kühn aber muß verstehen „jeder [mit Ausnahme des Philosophen], der nicht über Wertvolleres verfügt, als er schrieb“ – denn für ihn verfügt der Philosoph zwar auch nicht über Wertvolleres als seine Schrift, wird aber dennoch nicht nach seinen Schriften benannt. Kühn liest die ‚Botschaft‘ so, als wären in ihr die Autoren, die er „konventionell“ und „nichtphilosophisch“ nennt, eine wohldefinierte Klasse, klar unterschieden von „den Philosophen“. Adressaten und Subjekt der Botschaft seien ausschließlich die „Konventionellen“.19 Das überzeugt aus zwei Gründen nicht: erstens sind, wie die genannten Parallelen zeigen, auch künftige Autoren mitgemeint, von denen niemand wissen kann, ob sie so „konventionell“ und „nichtphilosophisch“ sein werden wie Lysias, Solon und Homer. Und zweitens richtet sich die Botschaft an Lysias und all die anderen Autoren, die Sokrates’ Bestimmung des Philosophen als Dialektiker im Gespräch mit Phaidros nicht miterlebt haben. Die Botschaft muß aber für die Empfänger verständlich sein. So wird denn in diesem kurzen Abschnitt (278 c4 εἰ μὲν εἰδὼς ... bis e4 τῷ ἑταίρῳ φράζε) weder die Anamnesis und Ideenschau des Philosophen (249 cff.) noch das dialektische Verfahren der Dihairesis (265 d–266 c) erwähnt, sondern nur gesagt, daß φιλόσοφος der ist, der seiner Schrift mündlich zu ‚helfen‘ imstande ist und sie hierbei als geringerwertig (als der Inhalt seiner ‚Hilfe‘) erweisen

17 Der Menexenos bezeichnet sich auch wörtlich als λόγος πολιτιϰός, 249 e4. – Die im pseudoplatonischen Minos erwähnten πολιτιϰὰ συγγράμματα, die die Menschen „Gesetze“ nennen und die Werke von „Königen und vorzüglichen Männern (ἀνδρῶν ἀγαϑῶν)“ sind (317 a7–b1), zielen vermutlich gerade auf Platons „Gesetze“, meinen diese jedenfalls mit. 18 427 b1, 502 c5. Formen von νομοθετεῖν begegnen an mehr als einem Dutzend von Stellen als Bezeichnung für das Gespräch über den besten Staat. 19 Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften?, 24f.

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kann, wofür dann auch gesagt wird, daß er über ‚Wertvolleres‘ verfügt als das, was er niederschrieb. Erst durch diese Festlegung wird die Scheidung zwischen Philosophen und Nichtphilosophen auch innerhalb der Botschaft – und damit verständlich für die Adressaten – erzielt. Daher ist es sinnvoll zu sagen, der Philosoph werde in der Botschaft durch sein Verhalten zu seinen Schriften ‚definiert‘, d. h. durch ein klares Merkmal ausgegrenzt. Kühn muß das bestreiten, da in seiner Interpretation der Unterschied der „konventionellen“ und der philosophischen Autoren fix und fertig (und für Lysias nicht nachvollziehbar) in die Botschaft eingebracht wird. Ihren Gründen nach bleibt diese Botschaft Lysias und seinesgleichen zwar immer noch verschlossen, aber das Unterscheidungsmerkmal des mündlichen Helfenkönnens und des Besitzes oder Nichtbesitzes von Wertvollerem ist in sich klar genug. Unverständlich auch in sich bliebe die Botschaft, wenn sie, wie Kühn will, Lysias und all die anderen aufforderte, terminologisch streng zu trennen zwischen zwei Gruppen von Autoren, die sich zu ihren Schriften genau gleich verhalten, nämlich ihnen mündlich nicht mit Wertvollerem zu Hilfe kommen.20 Schließlich wäre noch zu überlegen – und das mag überraschend klingen – ob Platon nicht auch in der zweiten Gruppe von Autoren, bei den Dichtern, sich selbst mitgemeint haben könnte. Namentlich genannt ist Homer, aber auch hier wird die Adressatengruppe erweitert: ϰαὶ εἴ τις ἄλλος αὖ ποίησιν ψιλὴν ἢ ἐν ᾠδῇ συντέθηϰε (278 c2–3). Allgemein anerkannt ist, daß Platon mit der Erfindung des Atlantis-Mythos bewußt in einen Dichterwettstreit mit Homer eintrat.21 Weniger bekannt ist, daß Platon in den Nomoi den Anspruch erhebt, mit seinen Schriften einen Maßstab gesetzt zu haben für die Beurteilung der gesamten griechischen Tradition, und dabei sein großes Alterswerk als ein Werk von göttlicher Inspiration einstuft, das der Dichtung zu vergleichen sei (Nomoi 811 cd).22 Es ist gewiß kein extravaganter Gedanke, wenn wir die Möglichkeit zulassen, daß Platon diese Selbsteinschätzung als Dichter aus den späten Nomoi

20 Man beachte, daß das von Kühn übriggelassene Unterscheidungsmerkmal der beiden Gruppen, ihre unterschiedliche ‚Haltung‘ zu ihren Schriften, in der eigentlichen ‚Botschaft‘ gar nicht zur Sprache kommt. 21 Vgl. hierzu meinen Beitrag: Atlantis und Troia, Platon und Homer: Bemerkungen zum Wahrheitsanspruch des Atlantis-Mythos. In: Studia Troica 3 (1993), 233–237. 22 Zur Interpretation der Stelle vgl. Konrad Gaiser: Platone come scrittore filosofico. Napoli 1984, 107ff.

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„schon“ bei Abfassung des Phaidros – des poetisch kühnsten aller Dialoge – hegte. Als Verfasser der beiden Erotikoi logoi im Phaidros und des Epitaphios logos im Menexenos, als Gestalter der dramatischen Mimesis der Dialoge als ganzer und Erfinder der Jenseitsmythen und des Atlantis-Mythos sowie als Urheber der Nomoi war Platon sich bewußt, daß er qua Autor selbst den drei Gruppen der Redenschreiber, Dichter und Gesetzeschreiber – die ihm im Phaidros und in den Nomoi (723 d3) die Gesamtheit dessen symbolisieren, was wir heute ‚Literatur‘ nennen – zugeordnet werden konnte, ja ihnen objektiv angehörte. Gerade wegen dieser Nähe muß er deutlich benennen, was ihn als Philosophen von den nichtphilosophischen Autoren trennt. Das ist der tiefere Grund der Selbstbezüglichkeit der Schriftkritik. Die den Philosophen allein auszeichnenden Merkmale aber sind die Fähigkeit zum βοηθεῖν τῷ λόγῳ und damit das Verfügen über τιμιώτερα ὧν ἔγραψεν, ferner das λέγειν τε ϰαὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ (276 a6–7). Kühn erwähnt von den drei prinzipiellen Mängeln der Schrift (Phdr. 275 d4–e5) nur die Unfähigkeit, auf Fragen zu antworten. Seine Analyse wäre mit Sicherheit anders ausgefallen, wenn er sich gefragt hätte, was es bedeutet, daß die Rede des Dialektikers sich nicht, wie die Schrift, unterschiedslos bei Verständigen und Unverständigen herumtreibt, sondern sich ihren Adressaten auszuwählen, notfalls auch zu schweigen weiß (275 e1–3 mit 276 a6–7). Mehrfach23 wird deutlich, daß Kühn stillschweigend voraussetzt, es gehe um Mitteilung oder Nichtmitteilung aller Erkenntnisse des betreffenden Autors. Doch die Dialoge zeigen an den Aussparungsstellen deutlich, daß der Dialektiker einiges mitteilen, anderes beiseitesetzen, d. h. im vorliegenden Fall mit Schweigen zudecken kann. Kühn fragt auch nicht, was βοηθεῖν τῷ λόγῳ in den Dialogen bedeutet. Ebenso versäumt er, der Verwendung des Begriffs τιμιώτερα (dessen inhaltliche Bedeutung er immerhin anerkennt) weiter nachzugehen.24 Mit seiner Weigerung, die Schlüsselbegriffe der Schriftkritik (σιγᾶν, βοηθεῖν, τιμιώτερα) mit dem Befund der Dialoge zu verknüpfen, fällt Kühn letztlich hinter den Stand der Forschung zurück. Hinzu kommt das befremdliche Mißverständnis des Gleichnisses und die den Kontext mißachtende unzureichende Bestimmung der Adressaten der ‚Botschaft‘. Bei so viel methodischen

23 Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften?, 35, 37 u. ö. 24 Zur Verwendung von τίμιον, τιμιότης u. ä. als philosophische Termini vgl. meinen Beitrag: Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 420–439.

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und inhaltlichen Mißgriffen ist es nicht zu verwundern, daß das ehrgeizige Ziel, die esoterische Auslegung der Schriftkritik zu widerlegen, nicht erreicht wurde.25

25 Die antiesoterische Phaidros-Deutung von Ernst Heitsch, der sich Kühn (trotz Korrekturen im Einzelnen) letztlich anschließt, ist neuerdings von Hubert Benz einer gründlichen Kritik unterzogen worden (vgl. Hubert Benz: Hat Platon die Philosophie als eine im sokratischen Dialog verwirklichte Rhetorik und Kommunikationstheorie verstanden? Zu den Phaidros-Studien von Ernst Heitsch. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 250 (1998), 163–207; vgl. auch ders., Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar. Darstellung und Kritik. In: Perspektiven der Philosophie 24 (1998), 65–132). Benz kommt zu dem Urteil, „nur mangelnde Kenntnis der Ideen- bzw. Seelenteilungslehre und die Unfähigkeit, Eros-Rede und Rhetorik-Teil sinngemäß zu verbinden“ hätten Heitsch zu seinen verkehrten Auslegungen „verleiten können“ (Benz: Hat Platon die Philosophie als eine im sokratischen Dialog verwirklichte Rhetorik und Kommunikationstheorie verstanden?, 192).

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19. On the Meaning of the Key Concepts in Plato’s Criticism of Writing. A Philological Approach to Phaedrus 274 b–278 e (2015)

1.

With the subtitle of my paper „A philological approach to Phaedrus 274 b– 278 e“ I do not intend to construe an artificial opposition between a philological approach and a philosophical one. There are no two different and separate ways to what Plato meant, nor are there two different truths about his criticism of writing. Our understanding of a philosophical text must of course be a philosophical understanding. When I talk of a philological approach, I do so in order to make clear from the start that I do not intend to violate or to neglect the usual rules and procedures of philological exegesis – rules and prodecures which we have to observe in any interpretation, be it a literary or philosophical, a theological or a juridical one. I call them philological rules because Greek Classical Philology of the 3rd century B. C. was the first discipline to spell them out. To violate or neglect these rules and procedures is in my view no philosophical merit. I’m going to show that the standard modern interpretation of our text is based on the neglect of philologically indispensable interpretive steps. In which respects and at which points my interpretation diverges from other interpretations will be pointed out at the end. 2.

First, let us recall Plato’s criticism of writing. I would divide the text into six sections. 1. After the question of artfulness and artlessness of logoi has been discussed sufficiently (ἱκανῶς), Socrates wants to turn to the question of their propriety and impropriety (εὐπρέπεια – ἀπρέπεια). As a start he points to the basic fact that the decisive criterion will be whether we can please god with our use of logoi. On this issue Socrates can tell a tale he has heard from the ancients. (274 b2–4) 2. It is the tale of the Egyptian god Theuth, who invented a couple of arts, among them the art of writing, and presented them to Thamous, king of Egypt. The king asked Theuth about the usefulness of each art. When the inventor praised writing as the art which will make the

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Egyptians wiser and improve their memory, Thamous replied that writing will rather damage memory and induce forgetfulness, since people will rely on signs external to the soul. And having read a lot without teaching (ἄνευ διαχῆς), they will not become wise but only appear to be wise (δοξόσοφοι γεγονότες ἀντὶ σοφῶν). In short, it is quite naive to believe that writing can yield insights that are clear and reliable (σαφὲς καὶ βέβαιον). Written words can do no more than remind the one who knows already what the writing is about. (274 c5–275 d2) 3. For writing – γραφή in general – has these three flaws or shortcomings: (1) It cannot respond when you have a question – it will always say the same, (2) it rolls about everywhere, gets into the hands of those who understand it and of those who have no business with it, and it doesn’t know to whom it should speak and to whom it should not. (3) When attacked, the written logos is unable to defend or to help itself, it needs its father (the author) for help. But there is a different kind of logos, which is free of these flaws: the living and animate discourse of the man who knows, of which the written discourse can be called an image (εἴδωλον). (275 d4–276 a9) 4. Socrates now proceeds to a simile. Just as a sensible farmer ( a νοῦν ἔχων γεωργός) will not plant seeds which he wanted to bear fruit in gardens of Adonis, but will make use of such gardens only as an amusement at the time of the festival of Adonis, likewise the dialectician will not plant his philosophical seed which is of importance to him into his gardens of Adonis, i. e. his writings, except when he writes for his amusement (παιδιᾶς χάριν), storing up reminders for himself and for those who follow the same track. His serious treatment of his ‘seeds’ will consist in oral dialectic with a proper soul (λαβὼν ψυχὴν προσήκουσαν), to whom he imparts logoi accompanied by knowledge, logoi which are capable of helping themselves and which make the soul happy. (276 b1–277 a5) 5. By now, Socrates says, we are able to answer the original question regarding the reproach levelled against Lysias as a speech-writer, and the question of which logoi are written in an artful manner and which not. Regarding the second question, Socrates summarizes: The artful spoken or written logos must be based (1) on full dialectical knowledge of the objects to be treated, (2) on a complete knowledge of the different kinds of souls, and (3) on the ability of matching the right kind of logos to the right kind of soul. Regarding the first question, Socrates takes up what had been said to follow from the Egyptian tale: to believe that anything clear and reliable can result from a written book is shameful, because too simple-minded, whereas a man who knows that nothing

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written is worth serious attention and that the best written logoi are reminders for those who already know would be a model for Socrates and Phaedrus. (277 a6–278 b6) 6. Finally Socrates formulates the following message to all who write speeches like Lysias or poetry like Homer or lyrical poetry or who write political logoi calling them Laws: If an author wrote what he wrote knowing the truth and being able to help his writing by entering an elenchus and showing orally (λέγων αὐτὸς) that what he wrote is of inferior value, then he deserves the name – not σοφός, which would be proper only for god, but – φιλόσοφος. If, on the other hand, an author has nothing of higher value than what he wrote, he could fairly be called a poet or a speech-writer or a writer of laws. So far the text we call Plato’s Criticism of Writing. (If Plato had given this chapter a separate title, he rather would have entitled it „Under which conditions is the use of writing not shameful“, or „How can the use of writing please god?“) The Greek concepts in this chapter the meaning of which seem to be clear at first sight, but on closer inspection need further philological clarification, are the following: 1. σύγγραμμα – does it really mean ‘treatise’? 2. γραφή – why does Plato talk about the flaws of γραφή? 3. ᾽Αδώνιδος κῆποι – what kind of gardens are they? 4. εἴδωλον – why is it important to know that the dialogues are εἴδωλα? 5. βοηθεῖν τῷ λόγῳ – in what consists this ability? 6. εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει – what kind of truth is meant? 7. τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι – have we to translate φαῦλα with ‘false’? 8. σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ – why should it be necessary to remain silent to anybody? 9. τιμιώτερα – what is „of higher value“, and compared to what? 10. θεῷ χαρίζεσθαι – what has god to do with my use of logoi? 3.

The standard modern interpretation of Plato’s criticism of writing is the following.1

1 A detailed description, analysis and criticism of the modern theory of the Platonic dialogue, as it developed from Schleiermacher’s Introduction to his translation of Plato (1804) through the 19th and 20th centruies, until it became the dominant view in practically all countries and all currents of Plato studies, can be found in

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1. Plato does not include his dialogues in his criticism. Rather, his target are συγγράμματα (277 d7, 278 c4). The Greek word σύγγραμμα means ‘treatise’, i. e. a systematic exposition in writing, and does not cover the literary form of dialogue. 2. Therefore the three shortcomings of writing do not apply to Plato’s dialogues. These are able – in contradistinction to all other sorts of writing – to give new answers, to choose the appropriate reader and to help themselves when attacked. Thus the Platonic dialogue is a unique kind of writing. It is a book which transcends its character of being a book. 3. Βοηθεῖν τῷ λόγῳ, ‘to come to the help of one’s logos’, designates what we all practice when after reading a paper we are confronted with critical questions: we defend our statements, we vindicate them against stupid or malicious misunderstanding, we refute sophistical objections to them, we reinforce them by showing how they follow from strong premises or have illuminating implications.2 4. The τιμιώτερα the φιλόσοφος must have at his disposal mean nothing but live debate and the oral dialectic Laws which Plato rated „a far more valuable activity than written composition“.3 5. From all this, and especially from the last two points follows that there is no necessity to assume that Plato requires the philosopher to go philosophically beyond his written exposition, no necessity to admit that Plato’s oral philosophy comprised more than his dialogues. 4.

Unfortunately, this standard modern interpretation of the criticism of writing is based on faulty assumptions about the Platonic meaning of the terms used in it. 1. Let us start with the word σύγγραμμα. It means ‘treatise’, we were told a hundred times in 20th century scholarship. And ‘treatise’ means „a

my: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 (= PSP I), 331–375: Anhang I: Die moderne Theorie der Dialogform. 2 I follow here the explanation of βοηθεῖν τῷ λόγῳ given by Gregory Vlastos: Rez. von: H.-J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959). In: Gnomon 35 (1963), 641–655, here: 653. Only the last part of Vlastos’ explanation („by showing how they follow...“) comes near to what Plato meant. Vlastos obviously did not realize that this meaning of βοηθεῖν τῷ λόγῳ is apt to refute his ‘refutation’ of Krämer’s interpretation. 3 Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer, 654.

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systematic exposition or argument in writing including a methodical discussion of the facts and principles involved and conclusions reached“.4 Relying on this understanding of σύγγραμμα and of ‘treatise’, Guthrie could maintain (in his monumental History of Greek Philosophy) that a Platonic dialogue is „no ordinary written work (σύγγραμμα) purporting to summarize final conclusions“.5 Countless important and less important scholars had voiced this view before Guthrie, yet none of them (including Guthrie) ever put the simple question whether ancient Greek usage would confirm their view. In other words: a basic philological requirement, indispensable for any sort of interpretation, be it philosophical or philological, viz. to ascertain the ancient Greek usage of a key notion, was skipped by scholars of all nations. Not happy with this strange omission, I collected in 1985, in my Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, all occurrences of σύγγραμμα, συγγραφή and συγγράφειν in pre-Platonic literature, plus a number of occurrences of σύγγραμμα in post-Platonic writings.6 The result of this survey – to my knowledge the first one and the only one up to this day – was unambiguous: the Greeks did not use the word σύγγραμμα in the sense of ‘systematic exposition’ – anything ‘written together’ could be called a σύγγραμμα, even works of poetry (though mostly it means ‘prose work’). And the Greeks of later times, who in their Atticist attitude in general carefully preserved the usage of the classical time, had not the slightest qualms to call the dialogues „Πλάτωνος συγγράμματα“ or „Πλατωνικὰ συγγράμματα“.7 Thus the notion of the necessarily undialogical σύγγραμμα, which would exempt his own dialogues from Plato’s criticism of writing, proves to be a futile modern invention. Yet this σύγγραμμα-argument was a main stabilizing column of the edifice to the modern theory of the Platonic dialogue. Fortunately, this ‘argument’ has disappeared, at least in Germany, since 1985 (though no one says where he or she learned about its futility). Strangely enough, it is still in use in Oxford: 30 years after the ancient Greek use of σύγγραμμα has been documented, Myles

4 Noah Webster: Webster's New Collegiate Dictionary. Springfield, Mass. 1975. 5 William Keith Chambers Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. V. Cambridge 1978, 411. Guthrie referred the words quoted here to the Republic in particular, but obviously meant them to apply to all dialogues. 6 PSP I, 376–385. 7 Ibid., 379f.

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Burnyeat in his recent book on the Seventh Letter still relies on the validity of the once generally believed equation σύγγραμμα = ‘treatise’.8 2. The second important notion is γραφή (275 d4). γραφή as such has three unsurmountable shortcomings. Why does Plato use this word in this context? Because it is the most general designation of the concept of ‘writing’. If γραφή as such has the three basic flaws, his own writings will have them too. If he meant that his works don’t have these flaws, he ought to have said it here. 3. What are ‘gardens of Adonis’? ᾽Αδώνιδος κῆποι were small pots or baskets used in the cult of Adonis.9 They were filled with soil, into which grain was planted. They were kept in the heat and in the dark, so that the plants grew up in only eight days. But these plants had no seed, i.e. no grains, no fruit, in Greek: no σπέρματα, no καρπός. In the light of the summer day they withered quickly, and the baskets were set afloat with the lamentation „ὦ τὸν ῎Αδωνιν“, commemorating the death of Aphrodite’s beloved Adonis. Now think of a farmer who would plant all his seed (grain) into gardens of Adonis. He would deprive himself of the harvest or ‘fruit’, because these gardens don’t bear fruit. So he would run the risk of starvation for his family, and certainly no one could call him „a sensible farmer“ (νοῦν ἔχων γεωργός, cf. 276 b1–2). If we don’t want to spoil Plato’s simile, we have to acknowledge that the dialectician will not plant all his grain in his literary gardens of Adonis, just as the sensible farmer cannot do that with his seed. Some modern scholars obviously do not know what ᾽Αδώνιδος κῆποι are: Winfried Kühn e. g. spoils the simile by saying that the Platonic philosopher will put all his knowledge into his writings10 (by which he would come by the side of the senseless farmer), or take the translators

8 Myles Burnyeat/Michael Frede: The Pseudo-Platonic Seventh Letter. A Seminar. Ed. by Dominic Scott. Oxford 2015. Burnyeat claims to know that Plato denies „that he ever has or ever will write a treatise (341c5: syngramma) on his own philosophy“ (164). In reality, the Seventh Letter does not raise the question of the form of a possible writing on Plato’s philosophy, it just states that it does not make sense to write at all „περὶ ὧν ἐγὼ σπουδάζω“ (341 c1–2). Cf. Thomas Alexander Szlezák: The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato’s Seventh Letter. In: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. C. J. Putnam (Hg.): Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 354–363. 9 Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 176). Frankfurt a. M. 1986. 10 Wilfried Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften? Der Schluß von Platons Phaidros, nichtesoterisch interpretiert. In: Zeitschrift für philosophische

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A. Nehamas and P. Woodruff, who translate the words θεωρῶν καλοὺς ἐν ἡμέραισιν ὀκτὼ γιγνομένους („seeing that the gardens become beautiful within eight days“, 276 b4) by „watching them bear fruit within seven days“11 – they don’t seem to have understood the point of the simile, which is precisely that a garden of Adonis on principle cannot bear fruit (καρπός). 4. The φιλόσοφος will orally produce τιμιώτερα, ‘more valuable things’, than those he composed or wrote (278 d8). The standard explanation declares that the τιμιώτερα are the activity of leading live dialectical debate. This interpretation is impossible for at least three reasons: (1) for this sense, one would require a Greek text like „... τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερόν τι τοῦ συντιθέναι ἢ γράφειν („... the one who does not have something more valuable than composing or writing), whereas the transmitted text has: „… τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν“. Thus the standard interpretation is linguistically impossible. It wants to make us believe that Plato compared the activity of live debate not with another activity, but with the results of another activity, i. e. of writing. In reality he compares his books, which are the results of his activity of writing and publishing, with the philosophical results of his other activity, viz. leading live debate in the Academy. These results were summarized in his oral theory of principles. (2) The meaning of τιμιώτερα has already been anticipated in the Phaedrus itself. After Lysias’ speech on Eros a better speech is sought for. It will have to fulfil the condition that it contains μείζω, βελτίω and πλείω καὶ πλείονος ἄξια (Phdr. 234 e3, 235 d6, 236 b2). These expressions refer clearly to the philosophical content: the better speech must have better contents, must comprise things of higher philosophical value (πλείονος ἄξια). Indeed Socrates’ first speech on Eros does contain better philosophical content, πλείονος ἄξια, than Lysias’ speech, and his second speech is again full of πλείονος ἄξια in comparison with his first one. So the reader knows already what is the condition for one logos to be superior to another logos: to contain πλείονος ἄξια. Now, τιμιώτερα is just a synonym for πλείονος ἄξια. The philosopher’s oral

Forschung 52 (1998), 23 –39. See also my reply to Kühn: Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8– 4. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 259 –267. 11 Plato: Complete Works. Ed. by John M. Cooper and D. S. Hutchinson. Indianapolis 1997, p. 553. Perhaps the translators were influenced by R. Hackforth (Ed.): Plato’s Phaedrus. Cambridge 1952, 159, who translated „watching it producing fine fruit within eight days“.

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defense of his written logos will have to comprise (πλείω καὶ) πλείονος ἄξια. Otherwise he will not be able to show the inferiority of his written exposition (τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι, 278 c6–7). And without that he would not qualify for the name of φιλόσοφος. Modern commentators failed to see the link between the earlier passage and the later one, although the same question is discussed in both passages, namely the question what makes one exposition superior to another one. They did not see the link because they did not look for it – again the neglect of a basic philological task. (3) And they did not try to determine the Greek philosophical usage of τίμιον (which is again the same sort of neglect as with σύγγραμμα). I have tried to fill this gap left by scholarship in my contribution to the Festschrift for Walter Burkert.12 I scrutinized dozens of passages from five 4th century authors, who all show the same understanding of τίμιον, which is epitomized in Aristotle’s laconic statement: ἡ μὲν γὰρ ἀρχὴ τίμιον (De incessu animalium, 706 b12). They all, i. e. Philippus of Opus, Theophrastus, Speusippus, Aristotle and Plato regard τιμή and τὸ τίμιον as a basic feature of their respective ἀρχαί. Therefore, what is τιμιώτερον is something which is nearer to the ἀρχή. The Platonic philosopher will in his oral defense of his written logos proceed beyond what he wrote and thereby get nearer to the principle or principles. 5. The written logos is the εἴδωλον (image, not ‘phantom’ (Rowe)) of the live and animate discourse of the dialectician (276 a9). Of course, Plato is talking here of his own writings.13 Now, if Plato offers his dialogues as images of possible philosophical talks, we can learn from these images how the dialectician will proceed when leading a conversation. This helps us to grasp the Platonic sense of βοηθεῖν τῷ λόγῳ,14 of τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι and of σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ. (a) Images of the dialectician coming to the help of his own logos can be found e. g. in the Phaedo, the Republic and the Laws. In all three cases the word βοηθεῖν or its synonym ἐπικουρεῖν occurs, so there can be no doubt

12 Thomas Alexander Szlezák: Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 420–439. 13 Cf. Thomas Alexander Szlezák: Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?. In: Museum Helveticum 66 (2009), 65–83. 14 For the sense of βοηθεῖν τῷ λόγῳ see also , besides the relevant passages in PSP I, Struttura e finalità dei dialoghi platonici. Che cosa significa “venire in soccorso al discorso”?. In: Rivista di Filosofia neo-scolastica 81 (1989), 523–542.

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that they are examples of the procedure mentioned in the Phaedrus. And in all three examples the philosophical ‘help’ consists in introducing new concepts and theories, which go considerably beyond the intellectual level of what had preceded. In the Phaedo, Socrates ‘helps’ his thesis of the immortality of soul by means of the story of his ‘second sailing’ (Phd. 88 dff.), in the Republic he helps his first logos in defense of justice by his sketch of an ideal state based on the rule of philosophers (Rep. 368 bff.), whereas in the Laws the ‘Athenian’ helps the law against impiety (ἀσέβεια) by introducing his theory of movement, of the self-movement of soul and the government of the cosmos by the gods (891 b–899 c). It is evident that in all these cases the help offered by the philosopher contains concepts and theories which are τιμιώτερα, things of higher philosophical value or rank, and that they lead the discussion further up towards the principles (ἀρχαί) (cf. Laws 891 c2–6). The dialogues thus illustrate, using particular instances, the general requirement formulated in the Phaedrus. With the help of these illustrations we can now grasp the sense of Plato’s linking together the concepts of βοηθεῖν and τιμιώτερα. It is by this kind of help, viz. by means of theories of higher philosophical dignity and power, that the Platonic φιλόσοφος will be able to orally overtop his written logos. And it is by this kind of help that the philosopher will prove to be the εἰδώς (276 a8) or the εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει (278 c4–5), i.e. the dialectician who has grasped the noetic ‘truth’ of the things he is talking about. (b) By these same illustrations we understand now the Platonic meaning of τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι. If the written dialogue has the same relation to the oral help as Socrates’ dialogue with Thrasymachus has to the help for justice in Republic book II–X, or as Socrates’ first arguments in favour of immortality have to the help in his ‘second sailing’, then it is easy to accept that it be called φαῦλον, which in any case has to be taken in a comparative sense: the written dialogue is by no means worthless, but certainly inferior in comparison to Plato’s oral theory of principles. (c) And there is one more feature of Plato’s dialogues which we have to take as illustration of a basic quality of the dialectician, namely that he knows to whom he should speak and to whom he should remain silent (Phdr. 276 a6–7). This ability is illustrated at passages like Republic 506 e and 533 a, where Socrates refuses to tell Glaucon his view on the essence (the τί ἔστιν) of the Good, although he does have an own view (a δοκοῦν μοι) on it, and to give a sketch of dialectics Laws (in spite of his willingness (προθυμία) in general). As most readers of the dialogues acknowledge, there are many similar passages to be found in Plato. He wanted us to

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understand what it means that the true philosopher is able to σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ. 6. The dialectician’s remaining silent if necessary – and it is necessary when he is confronted with people „who have no business with philosophy“ (275 e2 παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει), or with people who are not yet mature for his insights, as Glaukon and Adeimantos in the Republic (506 e, 533 a1) – is precisely his θεῷ χαρίζεσθαι, his use of logoi that will please god: since the ideas, and, a fortiori, the principles are θεῖα, divine, he will expound them only to interlocutors who have the necessary intellectual and ethical preparation. Since a writing can at any time get into the hands of those who have no business with philosophy, he will not expound them in a written book. * I hope I could convince you that it is worthwhile to ask for the original Platonic meaning of the concepts involved. I simply followed the old philological principle of „ ῞Ομηρον ἐξ ῾Ομήρου σαφηνίζειν “, or, in our case, „ Πλάτωνα ἐκ Πλάτωνος“.

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20. Abschied von einem ‚Klassiker‘. 50 Jahre nach Vlastos´ Rezension von Krämers „Arete bei Platon und Aristoteles“ (2016)

In dem neuen undergraduate-Kommentar zu Platons Phaidros von Harvey Yunis, der in der lingua franca unserer Tage abgefaßt ist und dem überdies durch den Erscheinungsort weltweite Verbreitung sicher ist, steht zu lesen, der Terminus timiōtera (τιμιώτερα) am Ende der Schriftkritik sei nicht auf philosophische Inhalte zu beziehen, „chiefly because Plato differentiates between written and oral discourse not on the basis of content but on the basis of appropriate use – as has been made clear by Vlastos 1981: 394– 398“.1 Hier wird also bei der wichtigsten Deutungsfrage der Schriftkritik – und damit zugleich der Selbsteinschätzung Platons, denn daß der Autor des Phaidros sich selbst auf der Seite der φιλόσοφοι sieht, die über τιμιώτερα verfügen, nicht auf der Seite der nach ihren Schriften zu benennenden Autoren, dürfte kaum strittig sein – Gregory Vlastos´ Rezension von Hans Joachim Krämers Dissertation Arete bei Platon und Aristoteles (1959) als Autorität zitiert, gleichsam als klassischer Text, der die anstehende Frage ein für alle Mal entschieden habe. Und in der Tat ersetzt bei Yunis die Berufung auf den vermeintlichen Klassiker alle weitere Mühe, der ein Kommentator sich sonst zu unterwerfen hat: weder wird nach einer Verankerung oder Vorbereitung des Terminus τιμιώτερα in den vorangegangenen Teilen des Dialogs gefragt, noch wird die gegnerische Position im Detail referiert oder gar Punkt für Punkt widerlegt. Offenbar genügt es zu wissen, daß sie nicht Vlastos-konform ist. Sieht man sich weiter um in der Phaidros-Literatur, so wird man finden, daß diese Behandlung jener Rezension als ‚Klassiker‘ mehr oder weniger das Übliche ist.2

1 Plato: Phaedrus. Ed. by Harvey Yunis. Cambridge 2011, 242. Die Angabe „Vlastos 1981“ bezieht sich auf den Nachdruck von Gregory Vlastos´ Rezension von Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (1959) in Gregory Vlastos: Platonic Studies. Princeton 21981. Im Folgenden wird Vlastos´ Rezension nicht nach diesem Nachdruck, sondern nach dem ersten Erscheinungsort im Gnomon 35 (1963), 641–655 zitiert. 2 Bemerkenswert die Ausnahme Wilfried Kühns: obschon er eine „nichtesoterische“ Deutung glaubt durchhalten zu können (zur Kritik dieses Anspruchs vgl. meine Bemerkungen in: Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–4. In: Zeitschrift für philosophische For-

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Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der einflußreichen Rezension ist es an der Zeit, die Stichhaltigkeit ihrer Argumentation zu überprüfen. Der fragliche Terminus τιμιώτερα, „wertvollere Dinge“ oder „Dinge von höherem Rang“, begegnet im Rahmen einer abschließenden Wertung, die für Platon aus der zuvor gegebenen Darlegung der Mängel der Schrift im Vergleich mit der mündlichen Lehre (διδαχή, 275 a7, 277 e9, ἐν τοῖς διδασκομένοις [λόγοις], 278 a2) folgt. Die Wertung formuliert Platon in Form einer ‚Botschaft‘, die an Lysias, Homer, Solon und jeden, der Reden, Dichtung oder Gesetze verfaßt – also an alle Autoren überhaupt – ergeht. Die Wertung bezieht sich auf zwei Typen von Autoren und auf zwei Arten von sprachlichen Darlegungen oder λόγοι (um Platons Ausdruck zu verwenden, mit dem er Schriftliches und Mündliches zusammenfaßt, z. B. 274 b9, 277 d1): Autoren, die ihrer Schrift helfen können, werden abgesetzt von solchen, die es nicht können; die λόγοι aber sind entweder geschrieben oder sie werden vom Autor mündlich (λέγων αὐτός 278 c6) vorgetragen. Zuerst sagt ‚Sokrates‘ vom Autor, der im Wissen um die Wahrheit (εἰδὼς ἧι τὸ ἀληθὲς ἔχει, 278 c4) schrieb und im Besitz der Fähigkeit, seiner Schrift zu ‚helfen‘ (καὶ ἔχων βοηθεῖν, c5) und dabei seine geschriebenen Sachen als gering zu erweisen (δυνατὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι, c6– 7), daß er eine Bezeichnung verdient, die nicht von seinen Schriften genommen ist, sondern von dem, worauf sich sein Ernst richtet (ἐφ᾽ οἷς ἐσπούδακεν, d1). Und diese Bezeichnung lautet „Philosoph oder so etwas“ (φιλόσοφον ἢ τοιοῦτόν τι, d4–5). Dann geht ‚Sokrates‘ über zur Charakterisierung des anderen Typs von Autor, dessen wesentliches Merkmal es ist, daß er keine „wertvolleren Dinge“ (τιμιώτερα) besitzt als das, was er in langer Zeit hin und her wendend verfaßte oder schrieb (τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν ἄνω κάτω στρέφων ἐν χρόνωι, d8–9). Dieser andere Typ mag nach seinen Werken als Dichter oder Redenverfasser oder Gesetzgeber benannt werden. Aus dieser Gedankenfolge ergibt sich zwingend, daß es die τιμιώτερα sind, die den philosophischen Autor befähigen, seiner Schrift zu ‚helfen‘. Nur weil das, was er bei der Hilfe λέγων αὐτός vorbringt, Wertvolleres ist als sein Geschriebenes, kann er dieses als φαῦλα erweisen. Der Text spricht eine klare Überordnung der mündlichen Darlegung des Philosophen über schung 53 (1999), 259–267), versteht er die τιμιώτερα als „Wissen von bestimmten Inhalten, [man] könnte auch sagen: gewußte Inhalte“ (Wilfried Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften? Der Schluß von Platons Phaidros, nichtesoterisch interpretiert. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 23–39, hier: 26, Anm. 6).

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seine Schrift aus. Bedenken wir, daß er seine Schrift im Wissen um die Wahrheit und im Besitz der Fähigkeit zur Hilfe schrieb, so gelangen wir zu einer im Text nicht ausgesprochenen, aber zwingend implizierten Dreiteilung der λόγοι: erstens die Schriften der nichtphilosophischen Autoren, hinter denen keine τιμιώτερα stehen, zweitens die Schriften des Philosophen, die aus dem Wissen um die Wahrheit geschrieben sind, also auf dem Wissen des Dialektikers3 beruhen und der Hilfe durch „Wertvolleres“ zwar bedürftig, aber auch würdig sind,4 und drittens die mündliche ‚Hilfe‘ des Philosophen, die die von Anfang an bereitgehaltene5 ‚Hilfe‘ auch tatsächlich ausführt. Es ist diese mündliche Hilfe, die der Text durch den Komparativ mit Genetiv des Vergleichsobjektes (τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν) in eine direkte Beziehung zur Schrift des Philosophen setzt. Was wird hier, konkret gesprochen, womit verglichen? Womit verglichen wird, ist klar: was ein Autor schrieb, also seine Werke und deren Inhalte. Was damit verglichen wird, sind nach Vlastos aber nicht Inhalte, sondern eine Tätigkeit. Denn Platon habe in der Akademie viele philosophische Diskussionen geführt, „rating this dialectic a far more valuable activity than written composition“.6 Ist denn ‚written composition‘ eine ‚activity‘, so daß sie direkt mit einer anderen ‚activity‘ verglichen werden könnte? Hat Platon die eine Tätigkeit, das Dialogführen, mit dem Produkt einer anderen Tätigkeit, also mit den Schriften als dem Produkt der Tätigkeit des Schreibens, verglichen? So verquer hat er nicht gedacht. Denn das wäre so, als würde man sagen: das Singen (die eine Tätigkeit) ist wertvoller als Sonaten (das Produkt einer anderen Tätigkeit, des Komponierens). Folgte man Vlastos´ Ansatz, daß es um den Wert der activity des Dialogführens geht, würde man im griechischen Text erwarten: τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερόν

3 εἰδὼς ἧι τὸ ἀληθὲς ἔχει kann im Kontext des Phaidros nur bedeuten, daß der betreffende Autor im dialektischen Verfahren der Wesensbestimmung (vgl. 265 d3–266 c1) die Erkenntnis des τί ἔστιν der Dinge, die er behandelt, erworben hat. 4 Ganz zu Recht betont Vlastos: Gnomon 35 (1963), 652f., daß die Schriften, die der Philosoph verteidigt, nicht wertlos sein können – nur folgt daraus, anders als Vlastos glaubt, nichts gegen eine inhaltsbezogene Deutung der τιμιώτερα. Vlastos´ Fehlschluß basiert auf seiner Unterstellung, Krämer verstehe φαῦλα im Sinne von ‚false‘, wofür es keinerlei Anhaltspunkt in Krämers Text gibt. 5 In 278 c4–5 ist καὶ ἔχων βοηθεῖν natürlich strikt gleichzeitig mit εἰ μὲν εἰδὼς ᾗ τὸ ἀλεθὲς ἔχει. Das grammatisch ganz gleich verwendete ἔχων in Politeia 544 a1 nennt James Adam: The Republic of Plato, Bd. II. Cambridge 1902, 198 „the imperfect participle ἔχων“ – zweifellos zu Recht, denn das Griechische hat keine eigene Form für das Partizip Imperfekt und verwendet in solchen Fällen regelmäßig die Präsenz-Form in Imperfekt-Bedeutung. 6 Vlastos: Gnomon 35 (1963), 654.

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τι τοῦ συντιθέναι ἢ γράφειν (statt des überlieferten τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα ὧν συνἔθηκεν ἢ ἔγραψεν), womit dann in der Tat zwei ‚activities‘ im Vergleich stünden. Vlastos´ Deutung arbeitet also nicht mit dem Gedanken, der im Text ausgedrückt ist. Bevor wir fortfahren mit der Frage, was die τιμιώτερα meinen können, wenn die ‚activity‘ der ‚live debate‘ wegfällt, sei noch ein Blick geworfen auf Vlastos´ Beurteilung des Gedankens, den er textwidrig in 278 d8–9 hineinlegt. Krämer hatte – mit Blick auf 278 c6–7 δυνατὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι – geschrieben, die Mängel des Geschriebenen lägen für Platon nicht „in seinem literarischen Charakter – denn dann bedürfte es keiner besonderen ἀπόδεῖξις“,7 worauf Vlastos konterte: „What is here said to be in need of no particular ἀπόδεῖξις, most certainly needs ἀπόδεῖξις. The vast methodological superiority of oral to written discourse claimed by Plato is far from self-evident. It is probably false“.8 Diese Worte machen klar, daß Platon – nach Einschätzung von Vlastos – den Beweis für die Überlegenheit des Mündlichen über das Schriftliche nicht erbracht hat. Diese Überlegenheit ist in seiner Deutung zu einer bloß ‚methodologischen‘ Überlegenheit geschrumpft, der jede Evidenz fehle. Sie zu behaupten, wie Platon es tut, ist „probably false“. Hier kann man sogar zustimmen: eine generelle „vast superiority“ der mündlichen über die schriftliche Darlegung, die nur im Methodologischen liegen würde, ist im Phaidros in der Tat nicht „bewiesen“, sie ist überdies keineswegs selbst-evident, und sie zu behaupten ist falsch – nicht „probably“, sondern most certainly. Denn warum sollte eine philosophische Darlegung, die der Autor schriftlich fixiert hat, allein dadurch höheren Wert und Rang (τιμή) gewinnen, daß der Autor sie mündlich expliziert? Vlastos´ Interpretation führt uns auf einen Platon, der eine Position vertritt, die für den Interpreten selbst nicht bewiesen und nicht evident, und vermutlich sogar verkehrt ist. Zurück zur Bedeutung der „wertvolleren Dinge“. Wenn das eine Glied des Vergleichs festliegt als das, was der Philosoph niederschrieb (ἃ συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν), also seine geschriebenen λόγοι mit ihren Inhalten, dann muß auch das andere Glied – wenn Platon nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollte – λόγοι und ihre Inhalte meinen, nur eben mündliche Darlegungen. Ist es denkbar, daß Platon λόγοι unabhängig davon, ob sie

7 Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959)), 395. 8 Vlastos: Gnomon 35 (1963), 653.

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geschrieben oder gesprochen sind, allein im Blick auf ihren Inhalt vergleicht? Das ist nicht nur denkbar, vielmehr tut er das im Dialog Phaidros von Anfang an. Die Erörterung des Themas „Eros“ beginnt mit dem Verlesen von Lysias´ Eros–Rede durch Phaidros (230 e–234 c). Wir haben es also mit einem geschriebenen λόγος zu tun. Phaidros ist begeistert von der Meisterschaft der Rede, Sokrates hält nicht viel von ihr. Das reizt Phaidros dazu, von Sokrates auf der Stelle eine Rede zu fordern, die besser wäre (234 c–237 b). Inszeniert wird also ein direkter Wertvergleich zwischen einer vorliegenden Schrift und einer mündlichen Improvisation über dasselbe Thema (αὐτοσχεδιάζων περὶ τῶν αὐτῶν, 236 d5).9 Von einer „vast methodological superiority of oral to written discourse“, die Vlastos bei Platon findet, ist natürlich nicht die Rede. Statt dessen werden die Kriterien festgelegt für den λόγος, der den λόγος des Lysias übertreffen soll: er muß μείζω καὶ πλείω enthalten (234 e3), also „bedeutendere Dinge und mehr“, was noch verdeutlicht wird als βελτίω καὶ μὴ ἐλάττω (235 d6–7), „Besseres und nicht weniger davon“, und noch einmal verstärkt wird als „anderes, mehr, und von höherem Wert“: ἕτερα πλείω καὶ πλείονος ἄξια (236 b2). Diese drei gleichbedeutenden Ausdrücke können im Kontext des Geplänkel zwischen Sokrates und Phaidros (234 c–237 b) nur auf den Inhalt der zu vergleichenden Reden bezogen werden. Die bessere Rede muß „bedeutendere“, „bessere“ und „wertvollere“ Gedanken (μείζω, βελτίω, πλείονος ἄξια) enthalten. Der Leser wird längst bemerkt haben, daß πλείονος ἄξια schlicht ein Synonym ist für τιμιώτερα, und vielleicht das nächste Synonym, das sich in der griechischen Sprache finden läßt. Dem zeitgenössischen Leser wird das damals schwerlich entgangen sein. Wenn er in 278 d8 an die τιμιώτερα kam, wird seine durchschnittliche Reaktion wohl gewesen sein, daß er sich sagte: „das ist der am Inhalt orientierte Wertvergleich zwischen verschiedenen λόγοι, mit dem uns Platon nun schon seit seiner Abwertung der Lysias-Rede beschäftigt.“ Mit diesem Wertvergleich sind wir beim eigentlichen Thema des Dialogs angelangt. Viel wurde gerätselt über die Einheit des Phaidros, der nach der großen Eros-Rede des Sokrates in 257 b auseinanderzubrechen scheint in zwei sehr ungleiche Teile, deren einer der Seele und dem Eros, der an9 Daß für uns, als Leser des Phaidros, die zwei Eros-Reden des Sokrates ebenso wie die Rede des Lysias schriftlich vorliegen, ist für unsere Fragestellung nicht von Belang: im fiktiven Rahmen des Dialogs wird Schriftliches mit Mündlichem wertend verglichen, ganz wie in 278 c6–7/d8 (τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι ... τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα).

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dere der Dialektik und der Redekunst gilt. Zahlreiche Erklärungsversuche wollten den ‚notwendigen‘ inneren Zusammenhang von Psyche und Dialektik, von Eros und Rhetorik aufweisen. Das Nächstliegende sah man nicht: was die beiden Teile des Dialogs zusammenhält, ist die nie aus den Augen verlorene Frage: „Was macht die Überlegenheit eines λόγος über einen anderen aus?“, oder auch: „Unter welchen Bedingungen ist ein λόγος einem anderen überlegen?“ Daß das entscheidende Kriterium der bessere, der „wertvollere“ Inhalt (πλείονος ἄξια) sein muß, wird, wie wir sahen, früh festgelegt. Doch damit ist für einen Rhetorikfreund wie den jungen Phaidros noch nicht viel gewonnen. Es muß ihm gezeigt werden, was höhere Inhalte sind, und zwar doppelt: im ersten Teil bis 257 b führt ihm Sokrates zwei Reden vor, deren Überlegenheit über Lysias´ Rede evident ist, im zweiten Teil analysiert er die philosophischen Voraussetzungen ihrer Überlegenheit. Schon die erste Rede des Sokrates (237 b–241 d), die noch die falsche These des Lysias verficht, daß dem nicht verliebten Liebhaber der Vorzug gebührt gegenüber einem verliebten, ist der lysianischen Rede deutlich überlegen: das ‚Bessere‘ und ‚Wertvollere‘, das sie bietet, ist die Einordnung des Eros in das System der Begierden und seine klare Begriffsbestimmung als vernunftlose Begierde nach der Lust an körperlicher Schönheit (238 bc). Die zweite Rede des Sokrates handelt vom selben Gegenstand (περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος, 234 e3), dem Eros, weitet aber den Blick aus von den nur menschlichen Begierden auf die gottgesandten μανίαι, von denen der Eros die vorzüglichste ist (249 e1), weil er über den Anblick der hiesigen Schönheit die Wiedererinnerung an das wahrhaft Schöne weckt (249 d5–6) und so zur Philosophie führt. Nur ein geistig Blinder könnte bestreiten, daß das, was zur Entfaltung dieser Eros-Philosophie über die Unsterblichkeit der Seele, über die Auffahrt der Seele zum ‚überhimmlischen Ort‘ und über das Wesen der menschlichen Erkenntnis gesagt ist, im vollen Sinne des Wortes „wertvollere Dinge“, πλείονος ἄξια oder τιμιώτερα, darstellt, nicht nur im Vergleich mit der dürftigen Lysias-Rede, sondern auch im Verhältnis zu der schon wesentlich besseren ersten Rede des Sokrates. Nachdem er an zwei Beispielen gezeigt hat, was πλείονος ἄξια in einem konkreten Fall bedeuten können, schreitet Sokrates im zweiten Teil des Dialogs zur Analyse der Grundlagen und Bedingungen der Überlegenheit philosophischer Rede. Er entwirft dabei die Grundlinien einer philosophischen Redekunst, derzufolge ein (mündlicher oder schriftlicher) λόγος dann als ‚kunstgerecht‘ gelten kann, wenn der Verfasser über die auf Dialektik gegründete Kenntnis sowohl des Wesens der Dinge, über die er spricht, als auch der Typen von Seele verfügt, und im konkreten Fall in der

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Lage ist, eine Seele eines bestimmten Typs mit dem zu ihr passenden Typ von λόγος anzusprechen (277 bc). Der oft vermißte innere Zusammenhang zwischen dem ersten Teil und dem zweiten besteht zum einen darin, daß die Dialektik, deren trockene Erörterung einen gewollten Gegensatz zum enthusiastischen Ton des Seelenmythos bildet, als seelischer Triebkraft des zuvor geschilderten Eros und der ‚erotischen‘ Sehnsucht der Seele nach der Schau des jenseitigen Schönen bedarf, zum anderen aber darin, daß beide Teile auf je verschiedene Weise die Frage beantworten, was die Überlegenheit eines λόγοι über einen anderen ausmacht. Daß Platon den Wertvergleich der verschiedenen Arten von λόγοι im ganzen Dialog vollständig unter den Gesichtspunkt des philosophischen Ranges der jeweiligen Inhalte stellt, dürfte hinreichend klar geworden sein. Sinnvoll zu vergleichen sind nur λόγοι über den gleichen Gegenstand. Die geforderte bessere Rede, die die lysianische übertreffen soll, muß nach den Worten des Phaidros „Größeres und mehr über dieselbe Sache“ enthalten (μείζω καὶ πλείω περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος, 234 e3). Die beiden Eros-Reden des Sokrates genügen dieser Forderung. Was natürlich nicht bedeuten kann, daß sie sich ausschließlich innerhalb des beschränkten Gedankenkreises der Lysias-Rede halten müssen. Sie greifen weit darüber hinaus, wie wir sahen, die erste durch ihre begriffliche Präzisierung des Gegenstandes, die zweite durch Einbeziehung so unendlich reicher Komplexe wie ‚Seele‘, ‚Ideenhimmel‘, ‚Ideenschau‘. Und doch redet auch diese zweite Rede ‚über denselben Gegenstand‘, nämlich über den Eros. Zugleich aber auch über sehr viel mehr – es wäre ja auch absurd, von einer Rede, die πλείω καὶ πλείονος ἄξια enthalten soll, zu erwarten, daß sie über den Horizont der zu überbietenden Rede nicht hinausgeht. All das hat Gregory Vlastos nicht verstanden. Einmal ist ihm schon die Fernbeziehung innerhalb des Dialogs entgangen, die Beziehung von 234 e3, 235 d6, 236 b2 zu 278 d8, und damit auch die Synonymität von μείζω, βελτίω, πλείονος ἄξια mit τιμιώτερα. So konnte er nicht sehen, daß das Kriterium des Wertvergleichs von λόγοι ganz früh im Dialog festgelegt worden war: es geht um den Vergleich von Inhalten, die „größer“, „besser“, „wertvoller“ sein können oder geringer (φαῦλα). Da er das nicht sah, mußte Vlastos die Überlegenheit des mündlichen λόγος des Dialektikers als eine bloß „methodological superiority“ auslegen und die τιμιώτερα in einer „activity“ finden. Sodann entging Vlastos auch die Tatsache, daß die Kernfähigkeit des Dialektikers, die Hilfe für seinen eigenen λόγος, in den Dialogen nicht nur

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erwähnt wird,10 sondern in zahlreichen Fällen als die philosophische Leistung des Gesprächsführers im dramatischen Kontext ausgespielt wird, woran der platonische Sinn des Ausdrucks βοηθεῖν τῶι λόγωι ablesbar wird. Ein allen vertrautes Beispiel ist Phaidon 88 de. Nach den ersten Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele sind Simmias und Kebes noch nicht restlos überzeugt. Sie äußern ihre Zweifel, worauf im Kreis der Freunde eine beklemmende Stimmung aufkommt und die bange Frage im Raum steht, ob Sokrates seinem Logos hinreichend zu helfen imstande sein würde. Worauf Sokrates – nach dem Exkurs über die Gefahr der Misologie – seine ‚Flucht‘ in die Ideenhypothese und sein Postulat des Aufstiegs über die Hypothesen hinaus zu einem ‚Hinreichenden‘ darlegt, was von allen Anwesenden (und auch von den Zuhörern im Rahmendialog) als sachlich voll und ganz befriedigende Entgegnung gewertet wird. ‚Helfen‘ will Sokrates auch im 2. Buch der Politeia, diesmal der Gerechtigkeit und damit seiner Verteidigung dieser ἀρετή im 1. Buch gegen Thrasymachos. Sein Sieg in der Disputation mit dem Sophisten hat Platons Brüder Glaukon und Adeimantos nicht voll befriedigt, sie greifen die Gerechtigkeit auf neue Weise an (Politeia 357 a–367 e) – wir sehen hier die Situation dramatisch ausgespielt, die Sokrates im Phaidros in aller Kürze andeutet: der Philosoph muß in einen Elenchos eintreten, um seinen ersten λόγος zu verteidigen (Phdr. 278 c5–6). Und was erlebt der Leser des Dialogs? Sokrates fühlt sich verpflichtet, der Gerechtigkeit zu helfen (βοηθεῖν 368 c1, vgl. βοηθῶ, βοηθήσω c4, 7) und hilft seinem λόγος aus dem ersten Buch, indem er zu umfassenderen, ‚höheren‘ Gegenständen wie Staat, Seele, Ideenlehre und Idee des Guten übergeht. Zweifellos redet er dabei noch περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος, der Begriff der Gerechtigkeit wird jetzt erst definiert (443 c–e) und auch danach nie aus den Augen verloren. Gleichwohl hat er Themen, Thesen und Theorien angesprochen, die der Leser als weit „wertvoller“, höherrangig, τιμιώτερα empfinden muß als die Widerlegung des Thrasymachos. Ebenso ist die Antwort des Sokrates auf die Einwendungen der thebanischen Gesprächspartner im Phaidon, die Theorie der Ideen und der darauf gestützte letzte Unsterblichkeitsbeweis, unbestreitbar ein τιμιώτερον im Vergleich mit den vorangegangenen Beweisen. So also ‚hilft‘ der platonische Dialektiker seinem λόγος: durch Rückgriff auf τιμιώτερα. So lange er nur sein Thema im Auge behält – und das tut Sokrates sowohl im Phaidon als auch in der Politeia, und in allen analogen Fällen in anderen Dialogen – , kann er nicht nur, sondern muß zu höheren

10 Daß der Ausdruck βοηθεῖν τῶι λόγωι in Phaidon 88 e vorkommt, ist Vlastos immerhin bekannt: vgl. Vlastos: Gnomon 35 (1963), 652 n.3.

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Begriffen und Theoremen greifen, wenn die ‚Hilfe‘ erfolgreich sein soll. Demgegenüber wollte Vlastos die platonische Hilfe um jeden Preis auf der Stufe des λόγος, dem geholfen werden soll, festhalten: „It is neither said, nor implied, that to live down the name of ‘writer’ and earn the title of φιλόσοφος a man has to change subjects, e.g., that if he had been writing on politics, he must now turn to a different, and more exalted, topic, like metaphysics“.11 Doch genau das ist es, was Sokrates tut und als sein βοηθεῖν τῆι δικαιοσύνηι begreift: er wendet sich den ‚more exalted topics‘ Staat, Seele und Ideen zu und führt seine Gesprächspartner schließlich im Sonnengleichnis zur Idee des Guten ‚jenseits von Sein‘ (509 b9). Zugegeben, das ist Metaphysik pur. Doch Sokrates ist der Ansicht, daß die Gerechtigkeit, der er hilft, ihre Erkennbarkeit, ihren Sinn und Wert erst von der Idee des Guten erhält (505 a6–b1, d11–506 a7). Erst die ‚metaphysische‘ Hilfe ist die wahre Hilfe. Weiter Vlastos: „If he [sc. ein Autor] had been writing about politics, he would be expected to go into an elenchus concerning politics“.12 Ganz anders die Situation im 10. Buch von Platons Nomoi: der ‚Athener‘ fühlt sich verpflichtet, dem Gottesglauben und dem Asebiegesetz zu helfen (βοηθεῖν τούτοις τοῖς λόγοις, Nom. 891 a6), was nach Ansicht seines Gesprächspartners Kleinias „auf keine andere Weise“ (μηδμῆι ἑτέρως) möglich ist als durch ein Heraustreten (ἐκτὸς βαίνειν) aus ihrer primären Tätigkeit des Gesetzgebens, also nur durch einen Themenwechsel (Nom. 891 d8–e1). Und in der Tat greift der Athener im Folgenden aus auf eine allgemeine Theorie der Bewegung und auf das ‚metaphysische‘ Theorem von der Unsterblichkeit der Seele und der Möglichkeit einer negativen Kraft im Kosmos – alles Dinge von höherer philosophischer Tragweite und Bedeutung im Vergleich mit dem simplen Asebiegesetz, von dem die Erörterung ausging. Schon vom Phaidros allein aus gesehen wäre es widersinnig, einen λόγος, der einen anderen übertreffen soll, thematisch auf den Bereich des zu übertreffenden λόγος eingrenzen zu wollen, nur weil er περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος sein muß. Die große Eros-Rede des Sokrates genügt, wie wir sahen, voll und ganz dem Anspruch, der bessere λόγος über den Eros zu sein, obwohl sie auch anderes, und Höherrangiges, behandelt. Vollends ist es angesichts der angeführten Beispiele aus anderen Dialogen evident, daß Vlastos´ Erklärung des βοηθεῖν τῶι λόγωι in plattem Widerspruch zum Geist und zum Buchstaben der platonischen Auffassung steht. Wenn der

11 Ebd, 653 (Kursive von Vlastos). 12 Ebd. (Kursive von Vlastos).

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platonische Philosoph eine ‚politische‘ Aussage verteidigen will, wird er gerade nicht allein bei politischen Problemen und Vorstellungen bleiben, wie Vlastos glaubte, sondern notwendig ἐκτὸς βαίνειν zu Höherem. Da Vlastos die Relevanz der Formulierung ἕτερα τούτων μείζω καὶ πλείω περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος (Phdr. 234 e3–4) nicht erkannte, konnte er auch nicht begreifen, daß der überlegene ‚helfende‘ λόγος beide Eigenschaften aufweisen muß: er muß ‚vom selben Gegenstand‘ handeln und gleichwohl ‚Wertvolleres‘ (πλείονος ἄξια = τιμιώτερα) bieten. Aber hat nicht der Dialektiker, so wird man einwenden, in seinem ersten λόγος schon alles dargelegt, was er zu sagen hat? Wie soll er da stets zu ‚Höherem‘ ausgreifen können? Nun, zu den Vorzügen, die dem ‚lebendigen und beseelten λόγος des Wissenden‘ – im Gegensatz zur Schrift – zukommen, gehört auch dies, daß er sich darauf versteht zu reden und zu schweigen, zu denen es nötig ist (er ist ἐπιστήμων λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, 276 a6–7). Auch diese Fähigkeit des Dialektikers, das Schweigenkönnen, ist in den Dialogen dargestellt, und nicht nur einmal: es sind die zahlreichen Aussparungsstellen, an denen der Gesprächsführer ein für das Thema zentrales Problem benennt und dabei ausspricht, daß er eine eigene Ansicht dazu hat, diese Ansicht aber aus der Erörterung ausschließt. Aufschlußreich ist die Sequenz der Aussparungsstellen im 6. und 7. Buch der Politeia. Nicht nur die Ansicht die Sokrates (τὸ δοκοῦν ἐμοί, 506 e2) über das Wesen des Guten (τί ποτ᾽ ἐστὶ τἀγαθόν) wird dezidiert beiseite geschoben, auch weitere Erläuterungen zum Sonnengleichnis, zu denen Sokrates durchaus fähig wäre, bleiben weg (συχνά γε ἀπολείπω, 509 c7), und anläßlich der Bitte des Glaukon, eine detaillierte Skizze der Teile und der Methoden der Dialektik zu erhalten, teilt ihm Sokrates endlich mit, warum er der Bitte – trotz prinzipieller Bereitschaft seinerseits – nicht nachgeben kann: Glaukon würde nicht mehr folgen können (533 a1 οὐκέτ᾽, ὦ φίλε Γλαύκων, οἷός τ᾽ ἔσηι ἀκολουθεῖν, 533 a1). Diese Begründung gilt selbstverständlich auch für die anderen Aussparungsstellen (ausgesprochen ist es, wenn auch nicht ganz so unverblümt wie in 533 a1, in 506 e1–3). Es sollte klar sein, daß die δοκοῦντα, die Sokrates an diesen Stellen nicht aussprechen will, jeweils τιμιώτερα sind im Verhältnis zu dem, was er tatsächlich mitteilt, und daß sie geeignet wären für eine ‚Hilfe‘, sollte jemand Sokrates zu einem Elenchos zwingen können. Die jeweilige Dialektikerfigur erweist sich gerade dadurch, daß sie an den Aussparungsstellen weiteres bereithält, aber vor den nicht hinreichend vorbereiteten und geschulten Partnern verschweigt, mithin das programmatische σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ aktuell im Dialoggeschehen vorführt, als φιλόσοφος im Sinne des Schlusses der Schriftkritik (278 c4–d6).

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Daß man die drei Vorzüge, die der ‚lebendige und beseelte λόγος des Wissenden‘, also die mündliche Dialektik des platonischen Philosophen, vor den Schriften – auch vor den eigenen Schriften – voraushat, in den Dialogen ‚abgebildet‘ finden kann, war von vornherein zu erwarten, denn der geschriebene λόγος (des ‚Wissenden‘) ist für Platon das εἴδωλον oder Abbild des ‚lebendigen und beseelten‘ λόγος (Phdr. 276 a9). Durch dieses ‚Abbilden‘ wird der geschriebene Dialog keineswegs zu etwas anderem als das, was er ist, nämlich eine Schrift, wie die von Schleiermacher herkommende Orthodoxie des 20. Jahrhunderts glaubte.13 Aber die ‚Abbildungen‘ des Dialektikers in Aktion lassen uns verstehen, was Platon konkret unter den Fähigkeiten versteht, die er dem mündlich agierenden φιλόσοφος zuschreibt: er kann auf neue Fragen neue Antworten geben, er kann sich den richtigen Partner suchen, im richtigen Moment aber auch schweigen, und er kann seinem λόγος zu Hilfe kommen mit „Wertvollerem“, so daß er selbst seine erste Darlegung als gering erweist. Interpreten, die diese Abbildungsfunktion der Dialoge nicht verstanden haben, sind dann gezwungen, sich zum Stichwort βοηθεῖν τῶι λόγωι etwas Eigenes zu ersinnen, wie Vlastos sich eine ‚Hilfe‘ ersann, die angeblich notwendig im thematischen Bereich des zu verteidigenden λόγος bleiben müsse und keineswegs zu ‚more exalted topics like metaphysics‘ weiterschreiten dürfe. Wie wir sahen, ist das nicht lediglich unplatonisch – es ist dezidiert antiplatonisch. Vlastos hat also sein Ziel, Krämers Auslegung der Schriftkritik im Phaidros zu widerlegen, in krasser Weise verfehlt. Dieser Text meint genau das, was er wörtlich sagt: daß der platonische Dialektiker auch schweigen kann, wo das nötig ist – und nötig ist es überall dort, wo beim Partner keine hinreichende Vorbildung gegeben ist –, mithin für ihn keinerlei Zwang besteht, sein gesamtes Denken vor allen auszubreiten; für sein Schreiben bedeutet das, daß er auf keinen Fall sein gesamtes philosophische ‚Saatgut‘ in

13 Stellvertretend für die im 20. Jahrhundert überwiegend vertretene Platonhermeneutik sei Paul Friedländer zitiert: „Der Dialog ist die einzige Form des Buches, die das Buch selber aufzuheben scheint“ (Paul Friedländer: Platon, Bd. I: Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit. Berlin 31964, 177). Von einer „Aufhebung“ des „Buches“ – gemeint ist: der drei Mängel, die nach 275 d4–276 a9 der Schrift als solcher zukommen – ist bei Platon freilich nirgends die Rede. Wäre eine solche „Aufhebung“ möglich, so bedürfte es der Schriftkritik und der scharf gezogenen Grenze zwischen dem veröffentlichten Buch und dem lebendigen und beseelten λόγος des Wissenden nicht mehr. Zur Herkunft dieser unplatonischen Konzeption aus Friedrich Schleiermachers romantischer Dialogtheorie vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, S. 331–375.

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die ‚Adonisgärten‘ der Schrift säen wird (Phdr. 276 b1–c9);14 daß er in der Lage ist, sein Geschriebenes mit ‚Wertvollerem‘ zu überbieten, wenn er in einen Elenchos eintreten will (wozu er keine Verpflichtung hat, siehe oben), wobei er dann selbst – nicht ein anderer – seine Schrift als ‚gering‘ erweisen wird. Mit anderen Worten: in der Schriftkritik macht Platon verständlich, wie der wahre Philosoph verfahren muß und warum er so verfahren muß: der Schrift kann er seine ‚wertvollsten Dinge‘ nicht anvertrauen, weil bei ihr nie die Garantie gegeben ist, daß der Leser nicht einer ist, den die Philosophie ‚nichts angeht‘ (275 e2). Seine τιμιώτερα sind für die Mündlichkeit vorbehalten, λέγων αὐτός wird er sie erörtern, wenn er eine geeignete Seele, eine ψυχὴ προσήκουσα (276 e6), gefunden hat. Wenn sie zur Verteidigung einer schriftlichen Darlegung dienen (was natürlich nicht bei allen Themen der mündlichen διδαχή der Fall sein muß), dann

14 Zu Platons Vergleich der Schriften des Philosophen mit Adonisgärten äußert sich Vlastos nicht. So wird nicht klar, ob er – mit anderen englischsprachigen Autoren – der Ansicht ist, daß Adonisgärten „Früchte bringen“ können. Diese Fähigkeit des „bear fruit“ bzw. „produce fine fruit“ schreiben den Adonisgärten die Übersetzer R. Hackforth (1952) und A. Nehamas – P. Woodruff (1997) zu (jeweils als Übersetzung von καλοὺς γιγνομένους in 276 b3–4: εἰς Ἀδώνιδος κήπους ἀρῶν χαίροι θεωρῶν καλοὺς ἐν ἡμέραισιν ὀκτὼ γιγνομένους). Sie haben also die Pointe des Vergleichs nicht verstanden, die darin besteht, daß Adonisgärten grundsätzlich keinen Ertrag erbringen können – wie sollte es auch in 8 Tagen zur Ausbildung von σπέρματα bzw. καρπός (vgl. ἔγκαρπα 276 b2) kommen? (Zur Natur der Adonisgärten und des Kultes, in dem sie Verwendung fanden, vgl. Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 176). Frankfurt a. M. 1986.) Wenn also Platon den Vergleich mit der Frage beginnt, ob der vernünftige Bauer (ὁ νοῦν ἔχων γεωργός, 276 b1–2) die Samenkörner, von denen er Ertrag erwartet (ἔγκαρπα βούλοιτο γενέσθαι, b2–3), in Adonisgärten säen würde, so war dem mit dem Adoniskult vertrauten antiken Leser hier schon klar, daß das definitiv auszuschließen ist, denn ein Bauer, der das täte, hätte im nächsten Jahr keine Ernte und wäre eo ipso kein νοῦν ἔχων γεωργός. – In den beiden undergraduate-Kommentaren von C. J. Rowe (Plato: Phaedrus. With translation and commentary by Christopher Rowe. Warminster 1986) und H. Yunis (Plato: Phaedrus. Ed. by Harvey Yunis. Cambridge 2011) ist nicht zu erkennen, ob die Autoren wissen, was Adonisgärten waren. Da sie aber deren prinzipielle Unfruchtbarkeit nicht erwähnen, ist anzunehmen, daß sie wie Hackforth und Nehamas-Woodruff diesen springenden Punkt des Bauern-Vergleichs nicht erfaßt haben – folgerichtig glauben sie auch, daß der platonische Dialektiker sein gesamtes Denken in seinen Schriften ausbreiten wird. Auch Kühn: Welche Kritik an wessen Schriften? ist der Sinn des Bauern-Vergleichs entgangen: indem er den Dialektiker sein gesamtes Wissen in seine schriftlichen ‚Adonisgärten‘ einbringen läßt, stellt er ihn auf die Seite des (fiktiven) törichten Bauern, der den Samen, von dem er Ertrag erhofft, in seine Adonisgärten sät.

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werden sie diese inhaltlich weit hinter sich lassen: sie werden zwar demselben Thema gelten (περὶ τοῦ αὐτοῦ πράγματος), aber gleichwohl vor allem πλείω καὶ πλείονος ἄξια enthalten. Daß mit diesen Bestimmungen ein ‚esoterischer‘ Umgang des Philosophen mit seinen Schriften und seiner Lehre (διδαχή 275 a7, 277 e9) beschrieben ist, erschreckt bis heute viele Leser – aber nur die, die Platons präzise Ausführungen zur Auswahl (ἐκλογή) der philosophisch Geeigneten im Idealstaat (Politeia 535 a–539 d) nicht in Erinnerung behalten haben oder übersehen haben, daß ‚Sokrates‘ in der Politeia die Forderung stellt, dem für Philosophie Ungeeigneten keinen Anteil an der ‚genauesten Bildung‘, d. h. an der Dialektik, zu geben (μήτε παιδείας τῆς ἀκριβεστάτης δεῖν αὐτῶι μεταδιδόναι μήτε τιμῆς μήτε ἀρχῆς, 503 d8–9). Politeia und Phaidros unterscheiden sich also nicht hinsichtlich der Frage, wem in der Philosophie was anzuvertrauen ist. Und vergessen wir nicht: gerade die Politeia ist besonders geeignet (wenn auch keineswegs als einziger Dialog), uns zu belehren, was die Schlüsselbegriffe der Schriftkritik: Schweigen, wenn nötig (σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ), „dem Logos helfen (βοηθεῖν τῶι λόγωι) und „Dinge von höherem Rang“ (τιμιώτερα) im konkreten Dialogzusammenhang bedeuten. Vlastos´ Kampf gegen Krämers Phaidros-Auslegung ist das Kernstück und der wichtigste, wirkungsmächtigste Teil seiner Rezension. Die drei anderen Teile (zu Sextus Empiricus 10.248–280: Vlastos 644–648, zu Aristoteles´ Berichten: 648–650, zur Anekdote über Platons Vorlesung Über das Gute bei Aristoxenos: 650–652) enthalten manchen Kritikpunkt, dem man zustimmen kann, aber nichts, was die bekämpfte Position prinzipiell in Frage stellen oder gar gefährden könnte. Eine Wiederaufnahme der Argumente dieser Abschnitte würde schlicht die Mühe nicht lohnen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Phaidros-Teil erfolgte nicht wegen des Niveaus seiner Argumente – das, wie wir sahen, mitunter nicht allzu hoch ist –, sondern allein, weil er immer noch als ‚klassischer‘ Text, der Unbestreitbares erarbeitet habe, gehandelt wird. Es ist Zeit, sich jetzt, 50 Jahre danach,15 von diesem Pseudo-Klassiker zu verabschieden.

15 „50 Jahre danach“: der Beitrag wurde bereits 2013 konzipiert.

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21. οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους. Zu Platons Gebrauch des Namens φιλόσοφος (2000)

Der platonische Sokrates – nach eigenem Dafürhalten ein ἀνὴρ φιλόλογος (Phdr. 236 e5) – gibt mit den Worten, die diesem Beitrag als Titel dienen, zu erkennen, daß er die Bezeichnung φιλόσοφος einer bestimmten Gruppe und nur ihr zuzuerkennen bereit ist. Hermann Tränkle – nach allgemeinem Dafürhalten ein ἀνὴρ ϰαὶ μάλα φιλόλογος – ließ bei seiner Berufung nach Zürich 1970 seine neue Umgebung u. a. dadurch aufhorchen, daß er nicht bereit war, den Namen ‚Philologe‘ jedem zuzuerkennen, der sich irgendwie am (Herum-)Interpretieren und (Herum-)Konjizieren versuchte. Vielleicht wird ihm heute, dreißig Jahre danach, diese kleine Betrachtung über Sokrates’ strenge Vorgaben für die Verwendung der ihm wichtigen Berufsbezeichnung nicht unwillkommen sein. Natürlich gehört Mut dazu, eine Bezeichnung, die mit Prestige verbunden ist, bestimmten Leuten, die auf Prestige aus sind, abzusprechen. Platon zeigte viel Mut in seinen Bemerkungen über die streitsüchtigen Möchtegernphilosophen, denen die wahre Philosophie die Schädigung ihres Rufes in der Öffentlichkeit verdankt (Politeia 495 c–496 b, 498 d8–e2, 500 b) – Bemerkungen, die, wie man weiß, deutlich auf den reichen und einflußreichen Redelehrer und Publizisten Isokrates zielen,1 der für seine Schriftstellerei den Namen φιλοσοφία in Anspruch nahm.2 Heute kann nicht nur der restriktive Gebrauch eines solchen Ehrentitels selbst, sondern schon die relativ harmlose, in historisch interpetierender Absicht getroffene Feststellung, daß Platon seinerzeit im 4. Jh. v.Chr. zu solch restriktivem Gebrauch neigte, aufrechte Verteidiger modernen Gleichheitsempfindens in Harnisch bringen. Wer etwa der Ansicht ist, Platon wolle im Schlußteil

1 James Adam: The Republic of Plato. 2 vols. Cambridge 1902 (Reprint Cambridge 1963), vol. 2, 29. 37. 40. Vgl. auch U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon (Berlin 1919, 41969) 2, 120f. Adam und Wilamowitz betonen mit Recht, daß Platons Bemerkungen allgemein gehalten sind und nicht Isokrates allein meinen müssen. Beide stellen aber auch fest, daß Isokrates jedenfalls mitgemeint ist und sich mit Recht getroffen fühlen konnte, wie er denn noch viele Jahre danach in der Antidosis-Rede (260) auf Politeia 500 b geantwortet hat. 2 Vgl. Klaus Ries: Isokrates und Platon im Ringen um die Philosophia. Diss. München 1959.

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der Schriftkritik (Phaidros 278 c–e) die Bezeichnung φιλόσοφος denjenigen vorbehalten, die zur Ideenphilosophie und der mit ihr zusammenhängenden Prinzipienforschung fähig sind, kann πάνυ σεμνῶς von oben herab – wenn auch ohne die Spur eines sachlichen Arguments – abgefertigt werden, da er doch eine absurde Auffassung vertrete.3 Da aber die Argumente für und wider diese Auslegung des Phaidros gerade in letzter Zeit ausführlich erörtert wurden,4 sei hier ein anderer Zugang gewählt: Ausgehend vom Titelzitat, das aus Politeia 476 b1–2 genommen ist, soll die Verwendung des Namens φιλόσοφος in Platons Hauptwerk kurz skizziert werden. Stellen aus dem Phaidon, dem Symposion und nebenbei auch aus dem Phaidros sollen zur Kontrolle des an der Politeia gewonnenen Ergebnisses herangezogen werden, bevor abschließend die Frage zu stellen sein wird, was für Platon wohl absurder gewesen sein mag: die ‚großzügige‘ Zuerkennung der in Frage stehenden Bezeichnung an Vertreter aller möglichen Typen von schriftstellerischer und dichterischer Betätigung oder ihre Verleihung nur an eine kleine Gruppe, οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους. ‚Restriktives‘ Verhalten mögen wir nicht. Löblich daher der ‚demokratische‘ Eifer derer, die Platon vom Verdacht solchen Verhaltens befreien wollen. Aber ist ‚restriktiv‘ – oder welche Synonyma man sonst wählen mag, um die in οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους enthaltene Einschränkung zu charakterisieren – der richtige Ausdruck? Wenn damit gemeint sein sollte, daß Platon sich frei fühlte, eine laxere oder strengere Verwendung des Wortes zu empfehlen und zu praktizieren, um sich dann aus innerer Intransigenz und elitärer Gesinnung für die ‚restriktive‘ Handhabung zu entscheiden, so wäre der Ausdruck sehr irreführend. Denn Platon ist durchaus nicht frei, die Grenze zwischen Philosophen und Nichtphilosophen bald gütiger und ‚demokratischer‘, bald strenger und ‚elitärer‘ festzulegen. Maßgebend ist das Vorhandensein oder Fehlen einer ‚Fähigkeit‘ oder eines ‚Vermögens‘ zur Erkenntnis bestimmter Ob-

3 Ernst Heitsch, in: Gnomon 71 (1999), 294–296. Ähnlich ders.: τιμιώτερα. In: Hermes 117 (1989), 278–287, hier: 281f. (vgl. dazu meine Entgegnung: Zum Kontext der platonischen τιμιώτερα. Bemerkungen zu Phaidros 278b–e. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 16 (1990), 75–85, bes. 83–85). 4 Vgl. die überaus sachkundige, ruhig abwägende Erörterung von Hubert Benz: Hat Platon die Philosophie als eine im sokratischen Dialog verwirklichte Rhetorik und Kommunikationstheorie verstanden? Zu den Phaidros-Studien von Ernst Heitsch. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 250 (1998), 163–207 und: Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar. Darstellung und Kritik. In: Perspektiven der Philosophie 24 (1998), 65–132.

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jekte. Ob das Vermögen vorhanden ist oder nicht, zeigt sich an der Art, wie einer diesen Erkenntnisobjekten begegnet. Platons Unterscheidung von Philosophen und Nichtphilosophen hängt letztlich an seinem Verständnis der Objekte der Erkenntnis. Die Unterscheidung zwischen Idee und raumzeitlichem Einzelding ist für Platon eine absolute. Die ontologischen Merkmale sind scharf getrennt: Die Idee ist jeweils nur eine, unwandelbar und genau das, was sie ist; Gegenstände dieser Art sind ‚wahrhaft seiend‘. Die Einzeldinge hingegen sind jeweils viele, sie sind veränderlich und niemals genau das, als was wir sie bezeichnen, sondern gleichzeitig von gegensätzlichen Merkmalen bestimmt; Dinge dieser Art als nichtseiend. Die ontologisch präzise Trennung zwischen zwei Arten von Entitäten ist die Grundlage von Sokrates’ Scheidung von Philosophen und Nichtphilosophen. Daher erinnert er zuerst an die Natur der Idee (475 e9–476 a7), um dann von der unterschiedlichen Art zu reden, ihr zu begegnen. Die zweimalige Verwendung von χωρίς in 476 a9–b2 zeigt, daß die Einteilung der erkennenden Subjekte so absolut ist wie die ontologische Unterscheidung, die ihr zugrunde liegt: ταύτῃ τοίνυν, ἦν δ᾽ ἐγώ, διαιρῶ, χωρὶς μὲν οὓς νυνδὴ ἔλεγες φιλοϑεάμονάς τε ϰαὶ φιλοτέχνους ϰαὶ πραϰτιϰούς, ϰαὶ χωρὶς αὖ περὶ ὧν ὁ λόγος, οὓς μόνους ἄν τις ὀρϑῶς προσείποι φιλοσόφους. Die ‚Schaulustigen‘ (φιλοϑεάμονες), so fährt Sokrates fort, lieben die schönen Stimmen, Farben und Gestalten, doch ist ihr Denken unfähig, die Natur der Idee des Schönen zu ‹sehen› und zu lieben: αὐτοῦ δὲ τοῦ ϰαλοῦ ἀδύνατος αὐτῶν ἡ διάνοια τὴν φύσιν ἰδεῖν τε ϰαὶ ἀσπάσασϑαι (476 b6–8). Die Philosophen hingegen sind eben dazu fähig, sie sind οἱ ... ἐπ᾽ αὐτὸ τὸ ϰαλὸν δυνατοὶ ἰέναι τε ϰαὶ ὁρᾶν ϰαϑ᾽ αὑτό (b10–11). Daß es sich beim Unterschied von Philosophen und Nichtphilosophen um den Unterschied der Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Ideenerkenntnis handelt, ist Platon wichtig. Als Mittel der sprachlichen Verstärkung wählt er daher die Wiederholung: Gleich anschließend an die zitierten Worte wird der Nichtphilosoph nochmals umschrieben als ὁ ϰαλὰ μὲν πράγματα νομίζων, αὐτὸ δὲ ϰάλλος μήτε νομίζων μήτε, ἄν τις ἡγῆται ἐπὶ τὴν γνῶσιν αὐτοῦ, δυνάμενος ἕπεσϑαι (476 c2–4), der Philosoph hingegen als ὁ τἀναντία τούτων ἡγούμενός τέ τι αὐτὸ ϰαλὸν ϰαὶ δυνάμενος ϰαϑορᾶν ϰαὶ αὐτὸ ϰαὶ τὰ ἐϰείνου μετέχοντα (c9–d2). Ebenso findet sich die Wiederholung der entscheidenden Begriffe am Ende des fünften und zu Beginn des sechsten Buches: Zum Abschluß der langen Erörterung über den Unterschied der beiden Typen (474 b–480 a) bezeichnet Sokrates die Schaulustigen als Menschen, die das Schöne selbst nicht sehen, darüber hinaus aber auch einem anderen, der sie zu ihr führen könnte, zu folgen nicht imstande sind (μηδ᾽ ἄλλῳ ἐπ᾽ αὐτὸ ἄγοντι δυναμένους ἕπεσϑαι, 479 e2), und zum Auftakt eines

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neuen Kapitels wird die ‚mühsam‘ (vgl. 484 a2) erreichte Unterscheidung rekapituliert mit den Worten ... φιλόσοφοι μὲν οἱ τοῦ ἀεὶ ϰατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχοντος δυνάμενοι ἐφάπτεσϑαι (484 b3–6). Man kann sich fragen, wie Platon bestimmte Menschen so rigoros von der Möglichkeit der Ideenerkenntnis ausschließen kann, wo er doch sonst der Ansicht ist, daß der Mensch wesensmäßig ein nicht irdisches, sondern himmlisches Gewächs ist, das seine Wurzel oben im Bereich des Göttlichen hat (Tim. 90 a6–b1), und daß jede Seele etwas von der Ideenwelt gesehen hat, andernfalls sie nicht in eine menschliche Gestalt hätte kommen können (Phdr. 249 b5–6.e4–5). Da alle menschlichen Seelen über dieselbe Struktur verfügen, müßte die Wiedererinnerung an vorgeburtlich Geschautes allen möglich sein. Alle Menschen müßten die Aussicht haben, zur Erkenntnis der Ideen zu gelangen. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in Platons Glauben an die Wiedereinkörperung der Seelen nach einer Zeit der Freiheit vom Leib. Die Seelen gelangen, was ihre Reinheit oder Unreinheit betrifft, in gänzlich verschiedenen Verfassungen ins Jenseits. Je nach der Reinigung, die im Zeitraum zwischen zwei irdischen Existenzen gelingt, fällt die neue Lebenswahl aus, wie es im Mythos der Politeia geschildert wird (617 eff.), oder, wie es der Mythos des Phaidros darstellt (248 c2ff.), je nach dem Ausmaß der jenseitigen Schaunisse wird eine Seele im neuen Leben im besten Fall in eine philosophische, im schlechtesten in eine gänzlich unphilosophische Existenz ‚gepflanzt‘ werden. Prinzipiell ist also jede Seele auf die Ideenschau ausgerichtet, denn nur in ihr erfüllt sich die ‚ursprüngliche‘ oder ‚wahre‘ Natur ihres obersten Teils, der Denkseele (Politeia 611 b–612 a, Tim. 90 a–d). Faktisch aber kommen die meisten Seelen bereits in einem Zustand in diese Welt, der es nicht erlaubt, die Zweckbestimmung des λογιστιϰόν im gegenwärtigen Leben noch zu verwirklichen. Doch unsere Verantwortung erstreckt sich auf eine weit längere Zeit als die unserer jetzigen Existenz (Politeia 608 c9–d1, Phd. 107 c2–4). Der Ausschluß der ‚Schaulustigen‘ von der Ideenerkenntnis, mag er auch ein Ausschluß vom Erreichen der wesentlichen Bestimmung des Menschen sein, steht also nicht in Widerspruch zu Platons Anthropologie und Seelenlehre. Mag auch die Ideenerkenntnis zu unserer ‚alten‘ Natur gehören, die empirische Natur der Diesseitsseele bringt es mit sich, daß beileibe nicht jeder mit der zu erkennenden ‚Sache‘ innerlich ‚verwandt‘ ist: Es gibt nun einmal den μὴ συγγενῆ τοῦ πράγματος, wie es der Siebte Brief ausdrückt (344 a2–3), oder die, die die Philosophie „nichts angeht“,

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wie es im Phaidros (275 e2) und in der Politeia (539 d6) heißt. Menschen dieser Art kommt es φύσει nicht zu, sich mit Philosophie zu befassen.5 Das Unvermögen der Nichtphilosophen, die Idee zu erfassen, bringt sie dazu, ihre Existenz zu leugnen. Die Sprache, die Platon Sokrates hier verwenden läßt, weist darauf, daß er auf der Seite der Nichtphilosophen mit Gereiztheit und Intransigenz rechnet: Wessen Denken an die vielen schönen (oder gerechten, guten usw.) Einzeldinge gebunden ist, ist zugleich einer, der es nicht einmal ‚aushält‘ oder ‚erträgt‘, wenn man sagt, daß das Schöne oder das Gerechte eines ist: ἐϰεῖνος ὁ φιλοϑεάμων ϰαὶ οὐδαμῇ ἀνεχόμενος ἄν τις ἓν τὸ ϰαλὸν φῇ εἶναι ϰαὶ δίϰαιον ϰαὶ τἆλλα οὕτω (479 a3– 5). Auch dieser Punkt ist Platon wichtig genug, um ihn noch zweimal zu wiederholen: 480 a4 und 494 a1. Warum insistiert nun Platon so sehr auf dieser einen Fähigkeit? Gibt es nicht tausend andere schöne Fähigkeiten, die die einen haben, die anderen aber nicht? Die Fähigkeit zur Erkenntnis der Idee ist nicht die Fähigkeit zur Erkenntnis eines Teilbereichs der Wirklichkeit neben anderen, sondern der ‚Wahrheit‘ schlechthin: Die Philosophen sind οἱ τῆς ἀληϑείας φιλοϑεάμονες (475 e4). Der ihnen zugängliche Bereich ist die eigentliche Wirklichkeit, das wahrhaft Seiende, dessen höheren ontologischen Status Platon auch als ‚göttlich‘ bezeichnet (500 c9; 611 e2). Die Seinsweise der vielen Einzeldinge hingegen ist nur ein ‚Teilhaben‘ an der eigentlichen Wirklichkeit. Wer aber das nur ‚Teilhabende‘ mit dem eigentlich Seienden verwechselt, wie der Liebhaber der vielen schönen Einzeldinge, lebt in einer Art Traumwelt (476 c2–d6). Vom Philosophen aber verlangt man volle Erkenntnis der Realität – Träumer können nicht φιλόσοφοι sein. Darum beharrt Platon darauf, daß „korrekterweise“ (ὀρϑῶς) „allein“ (μόνους) die von ihm beschriebenen Ideendenker φιλόσοφοι zu nennen sind. Und er insistiert darauf, daß „allein“ die Dialektik – d. h. die Verfahrensweise des Ideenphilosophen – dem, der die nötige wissenschaftliche Vorbildung hat, „die Wahrheit“ zeigen kann, und daß dies „auf keine andere Weise möglich ist“: οὐϰοῦν ϰαὶ ὅτι ἡ τοῦ διαλέγεσϑαι δύναμις μόνη ἂν φήνειεν6 ἐμπείρῳ ὄντι ὧν νυνδὴ διήλϑομεν, ἄλλῃ δὲ οὐδαμῇ δυνατόν (533 a8– 10). Und noch unter einem anderen Aspekt kommt allein das den Ideen-

5 474 c1–3 ... τοῖς μὲν προσήϰει φύσει ἅπτεσϑαί τε φιλοσοφίας ἡγεμονεύειν τ᾽ ἐν πόλει, τοῖς δ᾽ ἄλλοις μήτε ἅπτεσϑαι ἀϰολουϑεῖν τε τῷ ἡγουμένῳ. (φύσει gilt selbstverständlich für beide parallel gebauten Satzhälften.). 6 Zu ἂν φήνειεν ergänzt man in den Übersetzungen als Objekt ein „es“ (bzw. „it“ usw.), das man entweder indirekt (über τοιοῦτόν τι, a5) oder direkt auf αὐτὸ τὸ ἀληϑές (a3) zu beziehen hat. Zur Beziehung dieser Stelle auf das seit Buch 6 (bes. 506 eff.) gesuchte μέγιστον μάϑημα und zur Dialektik als der Disziplin, die „alone

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philosophen auszeichnende Verfahren der Dialektik in Frage: Vom Philosophen verlangt man notwendig verläßliches und beständiges Wissen. Diesem Kriterium genügt aber allein die ‚synoptische‘ Einsicht des Dialektikers: μόνη γοῦν ἡ τοιαύτη μάϑησις βέβαιος (537 c4, dazu c7 ὁ μὲν γὰρ συνοπτιϰὸς διαλεϰτιϰός, ὁ δὲ μὴ οὔ). Daß der Weg der Dialektik in der Politeia in zwei Phasen zu durchlaufen ist, die Platon klar trennt, ist zwar wenig bekannt,7 aber gleichwohl am Text sehr einfach abzulesen: Erstens ist die Einführung der Ideenlehre (Buch 5, 474 b–480 a) in der Darstellung nicht zufällig weit getrennt von den Ausführungen über die Notwendigkeit der Erkenntnis des μέγιστον μάϑημα durch die Philosophenherrscher (Buch 6–7, 503 e–521 b), für die die Ideenlehre bereits vorausgesetzt ist (vgl. 507 b), und zweitens sieht der Zeitplan für die Erziehung der künftigen Herrscher zwei zeitlich weit getrennte Phasen der Ausbildung in Dialektik vor (537 dff., 540 ab), von denen erst die zweite zur Idee des Guten als dem letzten Prinzip von allem hinführen wird.8 Es ist also angemessen, den platonischen φιλόσοφος, der allein dieses Namens würdig ist, weil er der allein zur Wahrheit und zum letzten Prinzip9 führenden platonischen Dialektik teilhaftig ist, nach den zwei Aspekten seines Erkenntnisstrebens zu charakterisieren: Sein Denken ist Ideenphilosophie, die in einem zweiten Schritt dezidiert zur Prinzipientheorie fortschreitet.10 Zu den genannten prinzipiellen Gründen für den ausschließlichen Anspruch des Ideendenkers auf den Namen φιλόσοφος kommt im Rahmen des Idealstaatsentwurfs noch ein besonderer. Ein „Ende des Unheils“ im staatlichen Leben verspricht sich Platon von der Übernahme der Herrschaft durch die Philosophen (473 c11–e5). Um eben diesen Herrschaftsanspruch zu begründen, führt Sokrates die besprochene Unterscheidung zwischen (Ideen-)Philosophen und ‚Schaulustigen‘ ein. Die Philosophen wären aber schlechte ‚Wächter‘ des ‚Gerechten und Schönen‘, wenn sie nicht zu begründen wüßten, inwiefern diese Dinge auch ‚gut‘ sind. Daher müssatisfies our needs“, vergleiche man die vorzüglichen, bis heute lesenswerten Bemerkungen bei Adam: The Republic of Plato, vol. 2, 139 (zur Stelle) sowie allgemein 168–179 (Appendix „On Plato’s Dialectic“). 7 Obwohl Interpreten wie H. J. Krämer, G. Reale und J. Halfwassen immer wieder darauf hingewiesen haben. 8 Mehr dazu hoffe ich in einer demnächst erscheinenden Studie über das Bild des Dialektikers in den späten Dialogen sagen zu können. 9 533 c7–d1 οὐϰοῦν ... ἡ διαλεϰτιϰὴ μέϑοδος μόνη ταύτῃ πορεύεται, τὰς ὑποϑέσεις ἀναιροῦσα, ἐπ᾽ αὐτὴν τὴν ἀρχὴν ἵνα βεβαιώσηται, ... 10 Daß den Platonikern die Prinzipientheorie wichtiger war als die Ideenhypothese, bezeugt Aristoteles, Met. A9, 990 b17–22.

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sen die künftigen Herrscher zur philosophischen Erkenntnis der Idee des Guten gelangen (504 a–506 b). Anders gesagt: Sie müssen in der Lage sein, die Idee der Gerechtigkeit und alle anderen Ideen von der Idee des Guten her zu verstehen, damit das, was sie im besten Staat als ‚gerecht‘ und ‚sittlich schön‘ durchsetzen werden, auch wirklich in der Natur des Guten begründet ist. Eine gute Herrschaft muß sich nicht an vagen Annahmen über das Gute, sondern am Wesen des Guten selbst ausrichten. Wenn Platon daher betont, daß den Erkenntnisfähigen und nur ihnen das Privileg der Herrschaft zukommt (474 c1–3; 487 a7–8 τοῖς τοιούτοις ... ἆρα οὐ μόνοις ἂν τὴν πόλιν ἐπιτρέποις ...), so heißt das nichts anderes, als daß nur die, die Ideen- und Prinzipienphilosophie zu verbinden wissen, der Herrschaft würdige φιλόσοφοι sein können. Die Herrscher im idealen Staat werden die sein, die den ‚längeren Weg‘ der Dialektik – der im (geschriebenen) Dialog Politeia gerade nicht11 begangen wird12 – hinter sich haben werden (504 c9–d3; 540 a4–c2). Ungeeignete Naturen, d. h. Nichtphilosophen, zum Regieren zu bestimmen wäre gleichbedeutend mit der Zerstörung der idealen Staatskonstruktion (536 b4–5). Der scheinbar intransigente Anspruch des Ideen- und Prinzipiendenkers, allein des Namens φιλόσοφος würdig zu sein, erscheint also wohlbegründet, wenn man ihn im Rahmen der platonischen Ontologie und Anthropologie 11 Anders Otfried Höffe: Einführung in Platons Politeia. In: ders. (Hg.): Platon. Politeia. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), 3–28, hier: 14. Die Kritik an der mangelnden Genauigkeit der früheren Ausführungen in 504 bc, die Höffe allein zu beachten scheint (vgl. zu den anderen relevanten Stellen Anm. 12), könnte zwar auf den Gedanken bringen, gemeint sei, daß es ab jetzt besser gemacht werde. Indes erklärt Glaukon 506 d3–5 im Namen aller, man sei mit einer Darlegung des Guten in der Art, wie sie beim Thema ‚Gerechtigkeit‘ usw. geboten wurde, zufrieden. Diese Darlegung war aber zuvor schon von Sokrates als bloße ‚Skizze‘ (ὑπογραφή, 504 d6) eingestuft worden. Die Hörer bestehen also expressis verbis nicht auf dem ‚längeren Weg‘, der die τελεωτάτη ἀπεργασία (504 d7) bringen müßte. Und Sokrates erklärt ihnen überdies, daß sie nicht einmal das bekommen, was sie verlangen: 506 d8–e3. Dasselbe Spiel wiederholt sich 532 d–533 a: Glaukon verlangt eine Darlegung der Dialektik οὕτως ὥσπερ τὸ προοίμιον διήλϑομεν (d7), also einen nur äußerlich die Hauptpunkte abschildernden Überblick, und bekommt zu hören, daß er auch dann nicht mehr würde folgen können (a1), weswegen das, was Sokrates dann wirklich bietet (533 a3–535 a1), über eine verdeutlichende Wiederholung der Aussagen von Höhlen- und Liniengleichnis nicht hinausgeht. 12 Zu den Aussparungsstellen der Politeia (u. a. 504 a3–d1; 506 d8–e5; 509 c5–10; 533 a1–10) in ihrem Zusammenhang untereinander und in ihrer Verbindung mit der Handlung des Dialogs vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 304–325.

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einerseits, im Licht der besonderen Erfordernisse des Idealstaates andererseits sieht. Im übrigen hat der Anspruch – so exorbitant er auch für sich genommen sein mag – doch nichts Befremdliches für den, der mit der Gedankenwelt der Dialoge Phaidon, Phaidros und Symposion vertraut ist. Kein aufmerksamer Leser des Phaidon wird so leicht vergessen, daß der Einstieg in das eigentlich philosophische Gespräch (nach dem Rahmengespräch und nach Phaidons Schilderung des Beginns von Sokrates’ letztem Tag) über die Frage erfolgt, was ein wirklicher Philosoph ist. Simmias hält Euenos von Paros für einen φιλόσοφος, bezweifelt aber zugleich, daß er Sokrates in die andere Welt werde folgen wollen (61 c2–6). Sokrates hingegen ist überzeugt, Euenos werde das sehr wohl wollen, sofern er φιλόσοφος ist, nicht nur er, sondern Εὔηνος ϰαὶ πᾶς ὅτῳ ἀξίως τούτου τοῦ πράγματος μέτεστιν (61 c8–9). Einerseits betreibt also jeder wirkliche Philosoph das ‚Sterben‘, d. h. die „Lösung und Trennung der Seele vom Körper“.13 Andererseits gibt es keine andere Gruppe, die das täte: λύειν δέ γε αὐτήν, ὥς φαμεν, προϑυμοῦνται ἀεὶ ϰαὶ μάλιστα ϰαὶ μόνοι οἱ φιλοσοφοῦντες ὀρϑῶς (67 d7–8). Daß er unter den ‚Philosophen‘ nicht Intellektuelle vom Typ eines Euenos versteht, sondern eben die ‚richtig Philosophierenden‘, betont Sokrates immer wieder.14 Was aber zeichnet diese sorgfältig und streng abgegrenzte Gruppe aus? Nichts anderes als die Ausrichtung ihres Denkens auf die Ideen, ihr Bemühen, „mit dem Denken rein für sich die jeweilige Idee rein zu erjagen“ oder „mit der Seele selbst“ – d. h. ohne Beteiligung der und ohne Beeinträchtigung durch die sinnliche Wahrnehmung – „die Dinge selbst zu betrachten“ (66 a1–2.e1–2). Das Erkenntnisstreben des Philosophen richtet sich auf die jeweilige Idee, in Platons Sprache: auf ‚ein jegliches selbst‘ oder ‚ein jegliches selbst rein für sich‘, und dies ist nichts anderes als das ‚(wesentliche) Sein, das ein jegliches eben ist‘, oder ‚das Wahrste‘ einer Sache.15 Da sich dieses Erkenntnisobjekt, das auch einfach ‚das Seiende‘ oder ‚das Wahre‘ heißen kann,16 nur erschließt, wenn auf die Beiziehung des Körpers, soweit es möglich ist, gänzlich verzichtet wird (65 e6ff.), betreiben die auf solche Er-

13 67 d4–5 λύσις ϰαὶ χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος. 14 64 a4 ὅσοι τυγχάνουσιν ὀρϑῶς ἁπτόμενοι φιλοσοφίας, 66 b2 τοῖς γνησίως φιλοσόφοις, 67 b4 τοὺς ὀρϑῶς φιλομαϑεῖς (zu φιλομαϑές als Synonym von φιλόσοφον vgl. Politeia 376 b8), 67 e4 οἱ ὀρϑῶς φιλοσοφοῦντες, 68 b2–3 ἐὰν τῷ ὄντι γε ᾖ φιλόσοφος, 69 d2 οἱ πεφιλοσοφηϰότες ὀρϑῶς. 15 65 e3 αὐτὸ ἕϰαστον, 66 a 2–3 αὐτὸ ϰαϑ᾽ αὑτὸ εἰλιϰρινὲς ἕϰαστον, 65 d13–e1 ἡ οὐσία ὃ τυγχάνει ἕϰαστον ὄν, 65 e2 αὐτῶν τὸ ἀληϑέστατον. 16 66 b7 ... οὗ ἐπιϑυμοῦμεν· φαμὲν δὲ τοῦτο εἶναι τὸ ἀληϑὲς, c2 τὴν τοῦ ὄντος ϑήραν, vgl. a8 ὁ τευξόμενος τοῦ ὄντος.

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kenntnis Ausgerichteten die ‚Lösung und Trennung der Seele vom Körper‘. Ideenerkenntnis suchen und philosophisch ‚sterben‘ wollen sind dasselbe, und nur die, die dazu willens und fähig sind, sind echte φιλόσοφοι. Es ist daher nur konsequent, daß das ‚Berühren‘ oder ‚Erfassen‘ der Wahrheit in der Ideenschau – ein Ereignis, das im Phaidon erst für das Jenseits verheißen wird (66 e4–67 a2), während es in der Politeia, im Symposion und im Phaidros als reale Möglichkeit des Menschen schon in der diesseitigen Existenz gilt17 – die einzige Möglichkeit für den Menschen ist (ἐνταῦϑα αὐτῷ μοναχοῦ γενήσεται), wahre Tugend zu erzeugen, gottgeliebt (ϑεοφιλῆ) zu werden und, wenn überhaupt jemand es erreichen kann, auch unsterblich (Symp. 212 al–7). Nur hier ist das Leben lebenswert, d. h. nur hier erreicht der Mensch die ihm erreichbare Eudaimonie: beim Erschauen der Idee des Schönen (211 d1–3). Daß diese einzigartige Möglichkeit einzig dem Philosophen offensteht, sagt der andere Eros-Dialog, der Phaidros, mit der ihm eigenen Bildlichkeit: διὸ δὴ διϰαίως μόνη πτεροῦται ἡ τοῦ φιλοσόφου διάνοια (249 c4–5). ‚Flügel bekommen‘ ist die Metapher für das Erlangen der Fähigkeit, der Welt der Ideen inne zu werden, was in räumlicher Sprache als ein Sich-Emporheben zur oberen Welt der Götter (246 d7) und zum ‚überhimmlischen Ort‘ (247 c3) des Intelligiblen gefaßt wird. Der φιλόσοφος aber, dessen Denken Flügel bekommt, ist kurz vorher schon hinsichtlich seiner geistigen Beschaffenheit kenntlich geworden: Er ist der, dessen Seele bei der Auffahrt im Gefolge der Götter am meisten vom Seienden erblickt hat (248 d2–3). Folglich ist er zur Anamnesis in besonderem Maße befähigt, ihm allein „wachsen Flügel“, was nun weiter erläutert wird: Er allein ist mit seiner Erinnerung nach Möglichkeit bei den Dingen, „bei denen der Gott weilend göttlich ist“, also bei den Ideen, und durch die „Initiation“ in solche „vollkommene Weihen“ „wird er als einziger wahrhaft vollkommen“: τέλεος ὄντως μόνος γίγνεται (249 c8). Wieder ist also, wie in Phaidon, Symposion und Politeia, die Einzigartigkeit der philosophischen Erfahrung der Ideenerkenntnis mit starken Worten betont. Der für den wahrhaften Philosophen geltend gemachte Anspruch, durch „Einweihung“ in die „vollkommenen Mysterien“ der Ideenschau „vollkommen“ zu werden, ist wohl die ungeheuerlichste Äußerung des ganzen Corpus Platonicum. Es gibt indes Interpreten, die, bis sie zum Ende des Dialogs kommen, diese unerhörte Auszeichnung des Ideenphilosophen

17 Politeia 517 b7–c5 mit 516 b4–7; 518 c8–d1; 520 d1; 540 a8–9; Phdr. 249 c; Symp. 211 d–212 a. Zur unterschiedlichen Beurteilung der Möglichkeit der Ideenschau in diesen Dialogen und im Phaidon vgl. Ludwig C. H. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas. Stuttgart 1992.

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vergessen haben und es dann für möglich halten, daß Platon die für ihn so bedeutende Bezeichnung φιλόσοφος auch anderen, die sich nicht zur Ideenlehre „bekennen“ – als ob die Fähigkeit zur Ideenerkenntnis eine Frage des Bekenntnisses wäre – in einem Akt gleichmacherischer Verbrüderung „anbietet“.18 Nach dieser Auffassung wären auch der sonst heftig gerügte Homer, ja selbst der harmlose Lysias mit dem Namen ‚Philosoph‘ zu ehren, sofern sie nur eine ‚distanzierte‘ oder ‚reservierte‘ Haltung zu ihren Schriften einnähmen – und warum sollten sie das eigentlich nicht? Die unsägliche Einfalt dieser modernen Anbiederung an Platon – man öffnet ihm großzügig, wenn auch textwidrig, eine Türe, durch die er den Käfig seiner offenbar als undemokratisch-elitär empfundenen Haltung verlassen könnte – bedürfte noch weiterer Verdeutlichung – allerdings nicht in einem Festschriftbeitrag für Hermann Tränkle. Mit seinem strengen Begriff von Philologie sind, neben manchen anderen Fehlhaltungen, vor allem zwei Dinge nicht vereinbar: erstens das naive Vereinnahmen der Großen der Vergangenheit unter Einebnung aller charakteristischen Unterschiede, um sie nur ja in den endlich hell gewordenen geistigen Raum unserer aufgeklärten Zeit heimzuholen, und zweitens das Heruminterpretieren bei unzureichender Textkenntnis.19 Wer die entscheidenden Texte kennt, sieht unschwer, daß Platons vermeintliche Versöhnung mit den Nichtphilosophen am Ende der Schriftkritik (Phdr. 278 c–e) nur dort ein Thema werden konnte, wo elementare philologische Mängel die ‚Interpretation‘ leiteten.

18 Heitsch: τιμιώτερα (oben Anm. 3), 281 mit Anm. 11. (Klare Gegenargumente auch bei H. Benz, a.O., oben Anm. 3). 19 Angesichts der These, in der Schriftkritik wolle Platon die Bezeichnung φιλόσοφος nicht allein dem Ideendenker – dem εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληϑὲς ἔχει: Phdr. 278 c4 – vorbehalten, versuchte ich im obigen zu zeigen, daß er das jedenfalls in der Politeia, im Phaidon, im Symposion und in der ersten Hälfte des Phaidros ganz offensichtlich tut. Wie man jene Auslegung der Schriftkritik ein ums andere Mal wiederholen kann, ohne sie mit dem hier vorgelegten Material – nicht weniger als neun Mal begegneten uns Formulierungen mit μόνος, μόνοι, μόνους, μόνη, μοναχοῦ, ohne daß Vollständigkeit angestrebt gewesen wäre – wenigstens prüfend zu konfrontieren, bleibt mir unerfindlich. Ich möchte jedoch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und die ehrenrührige Behauptung aufstellen, daß die Vertreter der von mir kritisierten Auffassung die zahlreichen Textstellen vom Typ „οὓς μόνους ...“ bewußt „unterdrücken“, um sich so einen Platon zu „schaffen“, wie er zwar nicht im Text steht, „den sie, meine Gegner, jedoch haben möchten“ (vgl. Gnomon 71, 1999, 296, dazu die überraschende Palinodie Gnomon 72, 2000, 189). Nein, ich glaube nicht, daß ‚Unterdrückung‘ vorliegt. Unterdrücken kann man nur, was man kennt.

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1.

Die Frage nach dem platonischen Dialog eröffnet ein weites Feld. Man kann die Frage von vielen Gesichtspunkten her angehen, etwa von der Literaturtheorie her (der antiken oder der modernen), von den Aussagen der Dialoge und des Siebten Briefes über das Schreiben und über das mündliche Philosophieren, von der Analyse der Struktur der Dialoge, der Analyse der Kommunikationsweise in den Dialogen, oder von der Geschichte des Platonverständnisses in den verschiedenen Epochen, und selbstverständlich auch vom Inhalt her: was wird erörtert, worauf einigt man sich in den Dialogen? Alle diese Ansätze sind sinnvoll und versprechen, zu brauchbaren Ergebnissen zu führen. ξυνὸν δὲ μοί ἐστιν, ὁππόθεν ἄρξωμαι, „es ist mir gleich, von wo ich beginne“, so wird Parmenides zitiert in dem kurzen Fragment 5 (DK 28 B 5), τόθι γὰρ πάλιν ἵξομαι αὖθις, „denn dorthin werde ich wieder zurückkommen“. Meine Situation vor der Frage nach dem platonischen Dialog ist nicht viel verschieden von der des Parmenides vor der Seinsfrage. Gleichgültig, womit ich beginnen würde: mit dem Inhalt, mit der Form, mit der Zielsetzung, mit der beobachtbaren Wirkung oder der historischen Rezeption, ich könnte im Durchgang durch die anderen Aspekte zum Ausgangspunkt zurückkehren. In jedem Fall aber würde sich früher oder später eine Frage aufdrängen: ist der platonische Dialog autark, genauer: vom Autor als autarke philosophisch-literarische Entität konzipiert? Oder wenn nicht jeder einzelne Dialog autark sein sollte, ist es vielleicht das platonische Schriftwerk als Ganzes? Vergessen wir nicht: Platon stellt in der Überlieferungsgeschichte einen fast einzigartigen Glücksfall dar. Wir besitzen mit Sicherheit alles, was er

* Geringfügig geänderter und um Fußnoten erweiterter Text eines Vortrags, der am 13. März 2008 auf Einladung des Instituts für Klassische Philologie in Bern gehalten wurde. Wiederholt wurde der Vortrag in Viña del Mar (Chile) und an der Pontificia Universidad Católica del Perú (Lima). Der spanische Text erschien in „Areté. Revista de Filosofia“ (Lima) 20, 2009. – Ich danke den Diskussionsteilnehmern an allen drei Orten.

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22. Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?

für die Veröffentlichung geschrieben hat. Das trifft unter den großen Philosophen der Antike nur noch auf Plotinos zu. Wir besitzen Platons ganzes Oeuvre, also seine ganze Philosophie. Somit scheint die Frage der Autarkie des Schriftwerks schon überlieferungsgeschichtlich beantwortet zu sein. Wir haben alles, „und mehr bedarfs nicht“. 2.

Gehen wir also von der Annahme aus, daß Platons Schriftwerk autark ist, und zwar zunächst von der stärkeren Annahme, daß es sowohl als Ganzes als auch in seinen Teilen dieses Prädikat verdient. Also von der Annahme, daß jeder einzelne Dialog sich selbst genügt, d. h. alles enthält, was zum Verständnis seiner Fragestellung, seines Gesprächsverlaufs und seiner Problementwicklung und schließlich seiner Lösungen nötig ist. Dann ergibt sich ungefähr folgendes Bild: 1. Platon versuchte zunächst, seinem Lehrer Sokrates, der nichts geschrieben hatte, ein literarisches Denkmal zu setzen, ihn mit literarischen Mitteln nachzuahmen. Das würde die mimetische Form der Σωκρατικοὶ λόγοι erklären. 2. Als junger Denker hatte er noch nicht die Lösung für die vorwiegend ethischen Fragen, die Sokrates aufgeworfen hatte. Das erklärt den aporetischen Ausgang der Frühdialoge. Platon steckte in denselben ethischen Aporien wie die Personen, die er darstellt, so wie Sokrates im Menon (80 c8–d1) ausdrücklich versichert, daß er in der Frage der Tugend ebenso wenig weiter wisse wie die Menschen, die er in die Aporie führe. 3. Allmählich ahnte Platon, wo die Lösung liegen könnte. Er konzipierte die Ideenlehre, d. h. er wollte die Welt erklären durch die Annahme von nur durch das Denken erfaßbaren Entitäten, eben den Ideen, die, der Sinnenwelt gänzlich entrückt, raum- und zeitlos in absoluter Selbstidentität existieren, frei von der Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit der wahrnehmbaren Objekte. Anfangs redete Platon nur undeutlich, tentativ von den Ideen, und konsequenterweise als Sokratiker zunächst nur von Ideen aus dem ethischen Bereich, etwa von einem εἶδος der Frömmigkeit im Euthyphron, dann wurde er deutlicher und selbstsicherer und gab ein volleres Bild seiner Theorie im Phaidon und im Symposion, mit Ausweitung der Ideen auch auf NichtEthisches (wie das αὐτὸ τὸ ἴσον, das Gleiche selbst oder die Idee der Gleichheit im Phaidon). Doch auch diese Darstellungen lassen noch viele, allzu viele Fragen offen.

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4. Und dann wird Platon kühner: er schreibt die Politeia, stellt sich darin den vollständigen Umbau der menschlichen Gesellschaft und Erziehung im Idealstaat vor, der von Menschen zu leiten wäre, die eine vollständige Erkenntnis der Idee des Guten und damit aller sinnvollen menschlichen Zielsetzungen erreicht haben. Anders gesagt: die Einrichtung des Idealstaates nach Maßgabe der Ideenlehre löst alle Probleme des Menschseins. 5. Platon merkt nach und nach, in welche Absurditäten und Sackgassen seine Ideenlehre führt, er beginnt mit einer Revision im Parmenides und übt Selbstkritik im Sophistes. 6. In seinem letzten großen Werk, den Gesetzen, kommt die Ideenlehre nicht mehr vor. Was ich skizziert habe, ist eine Konstruktion, mehr ein idealtypisches Porträt einer bestimmten Tendenz als das konkrete Credo bestimmter Interpreten. Es ist die Tendenz, die Autarkie der Dialoge ganz wörtlich zu nehmen, und das führt wie von selbst dazu, daß man die Dialoge in den geordneten Gang einer nachvollziehbaren Entwicklung zu bringen sucht. Diese Sicht auf Platon impliziert ein klares Bild vom platonischen Dialog. Jeder Dialog enthüllt genau das, was der Autor bis zum Zeitpunkt der Abfassung und Veröffentlichung dieses bestimmten Werkes erarbeitet hatte. Die Dialoge sind getreue Protokolle des Denkweges ihres Autors. Platon sagt immer, wie weit er gekommen ist, und er sagt darüber alles. Am Anfang war er ohne die Ideenlehre, dann verfiel er auf diese Lösung, am Ende steht er wieder ohne diesen metaphysischen Traum da. Platon ist also ein sehr mitteilsamer, durch und durch ehrlicher Autor, der sich stets in die Karten schauen läßt und der, wie wir alle, unter dem Gesetz des „publish or perish“ steht: was man erreicht zu haben glaubt, muß man umgehend publik machen, der Konkurrenzdruck läßt keine andere Wahl. Zu diesem Bild von der philosophischen Schriftstellerei Platons gehört auch ein passender Philosophiebegriff: Philosophieren heißt unterwegs sein, ein Ende der Reise gibt es nicht, der Weg ist das Ziel, schließlich erreicht ja auch Eros im Symposion (203 e) sein Ziel nicht, denn was er gewonnen hat, verliert er im selben Augenblick, so bleibt er zwischen Weisheit und Unwissenheit, zwischen σοφία und ἀμαθία hängen. Eros hat niemals σοφία, nur φιλο-σοφία, Liebe zur oder Streben nach der Weisheit, d. h. er muß immer wieder von vorne anfangen. Der platonische Philosoph „hat nichts vorzutragen, was er nicht alsbald in Frage stellen würde“,

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schrieb ein deutscher Interpret der älteren Generation.1 Platon hatte nach dieser Deutung nicht nur kein System, er wollte auch keines, weil er es nicht für möglich, nicht für vereinbar mit dem Wesen des Philosophierens hielt. 3.

Die Annahme einer strikten Autarkie jedes einzelnen Dialogs wird allerdings untergraben durch eine etwas raffiniertere Auslegung der aporetischen Dialoge. Sie sind charakterisiert nicht allein durch das offene Ende, sondern auch durch die stark ironische Rolle des Sokrates. Weiß Sokrates wirklich nicht, was Tapferkeit ist, was Besonnenheit, oder ob die Tugend lehrbar ist? Wem das nicht glaubhaft erscheint – und glaubhaft kann es nur gänzlich ironielosen Lesern erscheinen – der könnte sich mit Friedrich Schleiermacher zu einer weniger extremen Form der Autarkie-These bekennen, nach der der einzelne Dialog nicht alles enthält, was zum Verständnis nötig ist, wohl aber das Gesamtwerk. Nach Schleiermachers Überzeugung – ausgedrückt in der berühmten „Einleitung“ zum ersten Band seiner Platonübersetzung von 1804 – gehört es zur Machart der platonischen Dialoge, daß das Ende der Gedankenentwicklung nicht ausgesprochen wird. Es ist also nicht alles in der Schrift zu finden. Das Fehlende ist aber die einzig mögliche Lösung des zuvor kunstvoll angelegten Rätsels. Wer gefolgt ist, ergänzt für sich das Fehlende. So kann jeder folgende Dialog auf dem nicht ausgesprochenen Ergebnis des vorangegangenen aufbauen. Der ganzen Reihe kann nur folgen, wer jeweils richtig mitgedacht hat, und die Reihe als Ganzes ist dann doch autark, d. h. sie braucht nichts von außerhalb ihrer selbst. Verlangt ist also eine proleptische oder vorausgreifende Lektüre: die Schwierigkeiten und Unklarheiten des Dialogs A sind vom philosophischen Horizont des weiter entwickelten, inhaltlich fortgeschritteneren Dialogs B aus aufzuhellen, da ja der Autor seinerseits im Vorgriff, in der πρόληψις auf die ihm bekannte Lösung schrieb, was er schrieb. Am Ende der Reihe steht die Politeia, Schleiermacher hielt sie für den spätesten Dialog. Hier kommen die Antizipationen an ihr Ziel.2

1 Ernst Heitsch: Platon über die rechte Art zu reden und zu schreiben. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Ausg. 4) Mainz/Stuttgart 1987, 49. 2 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36, mit Angabe der „Künste“, d. h. Kunstmittel, mit denen Platon seine besondere Form der indirekten Mitteilung erreiche, vgl. 16 und 30 und Etablierung einer Chronologie nach den Kriterien der inneren Form, vgl. 26 – 36.

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Kann nun jeder Leser das jeweils Fehlende im Sinne des Autors ergänzen? Schleiermacher war da sehr optimistisch mit seiner Annahme, mit seiner literarischen Kunst des Nichtaussprechens des Endes gelinge es Platon „fast mit Jedem, entweder das zu erreichen, was er wünscht, oder wenigstens das zu vermeiden, was er fürchtet“.3 Was Platon wünscht, ist ein genuin philosophisches Verständnis seiner Gedanken; was er fürchtet, ist die Einbildung des Lesers, etwas verstanden zu haben, wenn in Wirklichkeit kein Verständnis erreicht wurde. Eines von beiden, glaubte Schleiermacher, erreiche Platon „fast mit Jedem“. So viel ist also klar: bei einigen wird er keines von beiden erreichen, weder Verständnis noch die Vermeidung von Einbildung. Die Mehrheit aber spaltet sich in die, die sich bewußt sind, „nichts gefunden und nichts verstanden zu haben“,4 und die, die positiv gefolgt sind. In dieser Trennung der Leser in zwei Gruppen findet Schleiermacher „die einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und einem exoterischen reden könnte, so nämlich, daß dieses eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht“.5 Wer sich nicht „zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt“, zu dem spricht der Text nicht, er bleibt draußen, liest exoterisch, ausgeschlossen vom „Inneren“. Die Entscheidung darüber, wer zum esoterischen Kreis gehört, fällt in der Begegnung von Leser und Text. Wer das „Innere“ des Textes hört, ist damit „drinnen“ – aber der Text erschließt sich eben nicht jedem. Es dürfte klar sein, daß auch hier eine Form von Esoterik vorliegt, auch wenn sie gewöhnlich nicht als solche erkannt wird. Wir müssen zwei Formen von Esoterik unterscheiden. Die, die allgemein so genannt wird, mag präziser die ‚historische‘ oder personenbezogene Esoterik heißen: sie liegt vor, wenn es als ein historisches Faktum zu betrachten ist, daß bestimmte Personen von den Diskussionen eines inneren Kreises bewußt ferngehalten wurden oder bestimmte Themen und Inhalte von der Publikation für die Allgemeinheit ausgeschlossen waren. (Das bekannteste Beispiel dieser ‚historischen‘ bzw. personenbezogenen Esoterik bietet der Kreis der Pythagoreer.) Der zitierte Text von Schleiermacher erlaubt, oder vielmehr: er zwingt uns, noch einen anderen Typ von ‚Esoterik‘ anzusetzen. Man könnte hier von textimmanenter oder hermeneutischer Esoterik sprechen. Ihre Vertreter sind der Überzeugung, daß dem platonischen Text dank seiner besonderen Machart die Fähigkeit immanent ist, die „wahren Hörer des

3 Ebd., 16. 4 Ebd. 5 Ebd., 16–17.

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Inneren“ von den Verständnislosen zu scheiden bzw. den hermeneutischen Akt des Lesens so zu lenken, daß sich die Geeigneten, und nur sie, „zu wahren Hörern des Inneren erheben“. Es ist hinreichend bekannt, daß am Ende des 18. Jahrhunderts Autoren wie Dieterich Tiedemann und Wilhelm Gottlieb Tennemann bei Platon die historische oder personenbezogene Esoterik erkannten6 (was übrigens die gleichzeitige Anerkennung der hermeneutischen Esoterik nicht ausschließt), während Schleiermacher am Anfang des 19. Jahrhunderts die personenbezogene Esoterik zwar nicht leugnete (an einer Stelle erkennt er sie sogar expressis verbis an),7 aber doch die textimmanente Esoterik so stark betonte, daß man schließlich in seinem Gefolge die historische Esoterik in der Schule Platons ganz eliminieren wollte, weil man des Glaubens war, die textimmanente Form mache die personenbezogene entbehrlich. Welche Stützen haben die beiden Formen von Esoterik am Platontext? Gibt es die textimmanente Esoterik bei Platon? Oder wird umgekehrt die andere Form von Esoterik, das bewußte Zurückhalten von verfügbarer philosophischer Belehrung in Wort oder Schrift irgendwo bei Platon empfohlen oder gar geschildert (etwa als Teil der Dialoghandlung)? Das Überraschende ist: der Platontext kennt beide Formen. Es wird für uns also ganz auf die relative Gewichtung bei Platon selbst ankommen. 4.

(a) Als authentisch platonischen Beleg für die hermeneutische Esoterik kann man die Bemerkung des Alkibiades im Symposion nehmen, die Gespräche des Sokrates, seine λόγοι, seien, wie er selbst, ganz so wie jene Figuren, die von außen einen struppigen Silen darstellen, die man aber öffnen kann, und dann zeigen sie innen die schönsten Götterbilder. Auch die λόγοι des Sokrates sind zum Öffnen, denn von außen betrachtet scheinen 6 Dieterich Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie, Bd. II. Marburg 1791; Wilhelm Gottlieb Tennemann: System der Platonischen Philosophie, Band I. Leipzig 1792; ders.: Geschichte der Philosophie. Band II. Leipzig 1799. Eine genauere Analyse der Standpunkte und der Argumente dieser Autoren versuchte ich in drei früheren Arbeiten: (1) „Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann“. In: Antike und Abendland 43 (1977), 46–62, hier: 47–53; (2) „Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts“. In: J. Rohls, G. Wenz (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur (Münchener Theologische Forschungen, Bd. 2). Göttingen 2004, 125–144, hier: 137–139; (3) „Von Brucker über Tennemann zu Schleiermacher. Eine folgenreiche Umwälzung in der Geschichte der neuzeitlichen Platondeutung“. In: A. Neschke (Hg.): Argumenta in dialogos Platonis I (2009), 389–411. 7 Vgl. Schleiermacher: „Einleitung“, 17.

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sie nur von Lasteseln, Schmieden, Schustern und Gerbern zu handeln, doch für den, der sie öffnet und in ihr Inneres gelangt (ἐντὸς αὐτῶν γιγνόμενος), zeigen sie die göttlichsten Bilder der Arete und erstrecken sich auf alles, was einer untersuchen muß, will er sittlich gut und edel (καλὸς κἀγαθός) werden (Symp. 221 d7–222 a6, mit Rückgriff auf 215 a6–b3). Klar ist hier der unverständige Hörer, der über Sokrates’ Reden lacht (221 e6–222 a1) geschieden von dem, der sie öffnet und in ihr Inneres gelangt (222 a1–2) – und zweifellos hat Schleiermacher sich zu seiner Bemerkung über die angeblich „einzige Bedeutung“ von ‚esoterisch‘ und ‚exoterisch‘ von dieser Stelle anregen lassen. Vom mündlichen Sokrates auf den schriftlichen Platon übertragen, klingt das sehr gut: wir sind aufgefordert, durch eigene Geisteskraft in den Text einzudringen, und dann haben wir alles, d. h. den ganzen Platon. Doch die Eignung der Stelle als prinzipielle hermeneutische Maxime wird nun leider stark eingeschränkt durch den dramatischen Kontext. Wir sind hier in einem Drama. In einem Drama aber ist es entscheidend wichtig für den Sinn, was für eine Figur spricht und wann sie was zu wem sagt. Beachten wir das hier, so zeigt sich die stärkste dramatische Ironie. Alkibiades ist in diesem Stück der Zuspätgekommene, der erst nach der großartigen Diotima-Rede kam, die alle anderen gehört haben. Er als einziger hat sie nicht gehört, ist insofern der Außenstehende. Und dieser Nichteingeweihte meint nun, durch eigenes Öffnen der λόγοι des Sokrates alles besitzen zu können, worauf es ankommt. Textimmanente oder hermeneutische Esoterik bei Platon? Ja, eindeutig: wer die Reden öffnet, setzt sich ab vom verständnislosen Rezipienten, gelangt ins Innere (ἐντὸς … γιγνόμενος). Doch ist diese Art der Esoterik durch den dramatischen Zusammenhang deutlich der anderen untergeordnet. Durch noch so viel Öffnen und Herum-Öffnen an den TechneAnalogien der Frühdialoge mit ihren Schustern und Gerbern wird man niemals zu den metaphysischen Gehalten der Diotima-Rede gelangen. Alkibiades wurde vom Bericht über diese Rede nicht ausgeschlossen: er schloß sich selbst aus, vertrieb sich die Zeit derweil mit Trinken in Gesellschaft von Hetären. Jetzt ist er aber faktisch der wissensmäßig Ausgeschlossene, glaubt zwar, durch das Öffnen alles zu haben, doch seine eigene Erzählung beweist, daß ihm alles fehlte, um Sokrates verstehen zu können: hätte er den Inhalt der Diotima-Rede gekannt und verstanden, hätte er nie gehofft, von Sokrates, als er mit ihm allein war, unter der Decke homoerotisch genommen zu werden (vgl. Symp. 219 b3–d2). Schleiermachers „Hören des Inneren“ ist also von Platon aus gesehen durchaus in Ordnung – als Hermeneutik der Außenstehenden und Uneingeweihten. Und diese Art der Esoterik ist mit der anderen vollkommen

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vereinbar: wer die tiefere und wesentlichere Unterweisung von Diotima oder Sokrates erhalten hat, wird schwerlich Probleme haben mit dem Entschlüsseln der Reden über Schmiede und Schuster – aber umgekehrt funktioniert das nicht. Darüber wird nicht theoretisiert, das wird an der Figur des Alkibiades gezeigt.8 (b) Als weitere platonische Stütze für die textimmanente Esoterik werten viele Interpreten den Passus über die Mängel der Schrift im Phaidros (275 d–276 a). Die Schrift – die γραφή ganz allgemein – kann dreierlei nicht: 1. Sie kann auf Fragen nicht antworten (275 d4–9). 2. Sie kann sich den verständigen Leser nicht aussuchen (275 d9–e3, vgl. 276 b6–7), sondern treibt sich bei allen herum, kann nicht zu denen reden bzw. schweigen, zu denen man reden bzw. schweigen soll. 3. Sie kann sich gegen ungerechtfertigte Angriffe nicht zur Wehr setzen und sich nicht zu Hilfe kommen (275 e3–5). Auf die Aufzählung der Mängel der Schrift folgt der Hinweis auf einen anderen, ungleich fähigeren λόγος: das ist die mündliche Rede des Dialektikers, in Platons Worten: „die lebendige und beseelte Rede des Wissenden, als dessen Abbild (εἴδωλον) der geschriebene λόγος mit Recht bezeichnet werden könnte“ (276 a8–9). Das mündliche Wort des Dialektikers kann all das, was die γραφή nicht kann: es kann auf Fragen antworten, kann reden und schweigen, wo das nötig ist λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ) und es kann sich verteidigen. Die Negativliste der Mängel der Schrift wird nun seit dem 19. Jahrhundert in der Schleiermacherschen Tradition so gelesen, als ginge sie den platonischen Dialog gar nichts an. Mehr noch: die Negativliste der Mängel der Schrift wird zur Positivliste der Leistungen des Dialogs. So schrieb Heinrich von Stein, für den Schleiermacher überhaupt erst ein adäquates Platonverständnis ermöglicht hat, 1862 im 1. Band seines Werkes Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus, die platonischen Dialoge könnten „den ungehörigen Leser ganz abschrecken“ – das steht bei von Stein offenbar für σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ – und sie könnten überdies „Rede und Antwort stehen“ – offenbar steht das für jenes Antwortenkönnen und Sich-zu-Hilfekommen-Können, das bei Platon selbst allerdings allein dem πατὴρ τοῦ

8 Ausführlicher dargelegt und begründet habe ich diese Interpretation in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 (im Folgenden zitiert als PSP I), 253– 270.

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λόγου zukommt.9 Diese Auffassung wurde dann im 20. Jahrhundert vollends zur communis opinio. Paul Friedländer hat es auf die Formel gebracht, der Dialog sei „die einzige Form des Buches, die das Buch selber aufzuheben scheint“.10 Der Dialog wäre also die große Ausnahme von der Schriftkritik. Eine Schrift, die doch keine Schrift ist und daher die Mängel der γραφή nicht aufweist. Nun redet unser Passus aber nicht von solch einer Ausnahme. Macht nichts, man wußte sich zu helfen: die Kritik der Schrift meine in Wirklichkeit eine besondere Form der Schrift, nämlich das σύγγραμμα, und dieses griechische Wort bezeichne nur den didaktischen oder systematischen Traktat, das „Lehrbuch“, die „Lehrschrift“, die „Abhandlung“. Ein Dialog sei aber kein σύγγραμμα. Dieses Argument hatte weiteste Verbreitung und unangefochtene Geltung im 20. Jahrhundert. So gut wie alle großen Interpreten beriefen sich darauf, neben Friedländer auch Karl Jaspers, Hans-Georg Gadamer, Ingemar Düring, I. M. Crombie, W. K. C. Guthrie und viele, viele andere wichtige und weniger wichtige Autoren.11 Bis jemand kam und des Kaisers neue Kleider benannte. Mit der Naivität eines Kindes – wie im Märchen – wurde da gefragt, wie denn die Griechen das Wort σύγγραμμα verwendeten. Und es zeigte sich anhand der Belege, daß die Behauptung, ein Dialog sei für die Griechen kein σύγγραμμα gewesen, vom griechischen Sprachgebrauch glatt widerlegt wird.12 Seitdem ist vom σύγγραμμα-Argument – einst Hauptstütze des antiesoterischen Konsenses – nicht mehr die Rede. Es ist also nichts mit der Erklärung, die Kritik der drei Mängel der Schrift treffe nicht auf Platons eigene Dialoge zu. Diese Mängel eignen der γραφή als solcher, die Ausflucht mit der erfundenen Bedeutung von σύγγραμμα ist nicht nur falsch, sie würde nicht einmal helfen, wenn es diese Bedeutung gegeben hätte, denn γραφή ist die allgemeinste Bezeichnung für alle Schrift, ob nun syngrammatisch oder nicht, und folglich fällt alles

9 Heinrich von Stein: Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus, Band I. Göttingen 1862, 73. 10 Paul Friedländer: Platon, Band I. Berlin 31964, 177. 11 Nachweise gab ich in PSP I, 345 Anm. 19. Nachzutragen wäre das in Deutschland vielzitierte Buch von Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, 36 (‚Traktat‘). 12 Thomas Alexander Szlezák: Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs „Phaidros“. In: Museum Helveticum 35 (1978), 18–32, hier: 25f. mit Anm. 12, genauer dann in PSP I, 376–385: Anhang II: Die Bedeutung von σύγγραμμα.

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Geschriebene ohne Rücksicht auf die innere oder äußere Struktur des Werkes darunter. Folglich auch der platonische Dialog. 5.

Hat man das verstanden, so sieht man auch, daß dieser Passus aus dem Phaidros nicht nur keine Stütze für die textimmanente Esoterik des „Hörens des Inneren“ sein kann, sondern ganz im Gegenteil eine Stütze für den anderen Typus von Esoterik ist, der mit dem tatsächlichen Ausschluß von Personen von der philosophischen Mitteilung bzw. von Themen und Ergebnissen von der schriftlichen Darstellung rechnet. σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, schweigen zu welchen man schweigen muß: das kann das Buch niemals, aber das gehört zum richtigen Verhalten des ‚Wissenden‘, d. h. des Dialektikers. Eine klare Empfehlung des Zurückhaltens von Inhalten, von esoterischem Verhalten also. Das wird noch klarer, wenn man die Benennung der drei Mängel in ihrem Kontext sieht: in Verbindung mit dem Gleichnis vom vernünftigen Bauern und mit dem Schlußteil der Schriftkritik, der abschließend angibt, wie der Philosoph zu seiner Schrift steht. (a) Platon vergleicht das Philosophieren, das mündliche und das schriftliche, mit dem Landbau. Ein vernünftiger Bauer wird das Saatgut, an dem ihm gelegen ist und von dem er sich Ertrag erwartet, nicht im Ernst in Adonisgärten pflanzen (276 b1–c10). Adonisgärten waren Körbe oder Tonschalen mit Erde, in die man im Hochsommer Saatkörner pflanzte, die man gut bewässert im Dunkeln keimen ließ. Der Samen ging schön auf in acht Tagen (276 b4), dann brachte man die Adonisgärtchen ans Licht der Sommersonne, und die schnell gediehenen Pflanzen, die allerdings keine Körner trugen, also keinen Ertrag brachten, verwelkten in kürzester Zeit. Die Schalen ließ man auf dem Wasser davontreiben, die Frauen sangen dazu die rituelle Klage ὦ τὸν Ἄδωνιν, verbanden also den Tod der Pflanzen mit dem Tod des Adonis, des Lieblings der Aphrodite. So weit der Ritus.13 Ordentlicher Landbau ist allerdings etwas anderes: er nimmt acht Monate Zeit, nicht acht Tage, dafür gibt es am Schluß aber auch Ertrag. Und nun das Skandalöse: das Schreiben des Philosophen setzt Platon in Analogie zum spielerischen Bepflanzen des Adonisgärtchens, während dem seriösen Landbau für ihn allein das mündliche Philosophieren entspricht. Das bedeutet: so sicher der vernünftige Bauer nicht alles Saatgut in seine Adonis-

13 Die Stelle aus dem Phaidros ist übrigens unser frühester Beleg. Die richtige Deutung des Ritus gab Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 176). Frankfurt a. M. 1986.

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gärten gibt – denn sonst hätte er nächstes Jahr keine Ernte und wäre eo ipso kein vernünftiger Bauer, kein νοῦν ἔχων γεωργός – so sicher wird der mündlich philosophierende Dialektiker nicht sein gesamtes philosophisches Saatgut in seine schriftlichen Adonisgärten, in seine Bücher, ausbringen. Mit dieser Analogie des Nichtaussäens des entscheidenden Saatgutes in bloße Tonschalen beginnt das Gleichnis (276 b1–8). Interpreten, die das wegerklären wollen, indem sie sagen, der philosophische Autor und der unphilosophische machen das gleiche, nämlich alles, was sie haben, in die Schrift zu bringen, nur mache das der Philosoph spielerisch und zu seinem Vergnügen, der Nichtphilosoph in vollem Ernst, stehen in Konflikt mit der ersten Aussage des Gleichnisses und machen es als Ganzes funktionslos und somit überflüssig. Denn wozu sollte Platon den vernünftigen Bauern, der mit Sicherheit nicht alles Saatgut in Tonschalen säen wird, überhaupt erwähnen, wenn sein Verhalten auf der anderen Seite der Analoge, beim Schreiben, gar keine Entsprechung hätte?14 14 Ein Grund für das moderne Mißverständnis von Phdr. 276 b–c war zweifellos, daß der antike agrarische Ritus des Bepflanzens von Adonisgärten dem heutigen Menschen nichts sagt, während in der Antike jedermann – auch der Stadtbewohner in Athen – sofort wußte, worauf angespielt wird. Ein zweiter Grund liegt in der Formulierung, der kluge Bauer werde die Saatkörner, um die er sich sorgt und von denen er Ertrag erwartet, nicht „ernsthaft“ (σπουδῇ 276 b3, c7) in Adonisgärten säen – was die Möglichkeit zu eröffnen schien, daß jedenfalls der Dialektiker das für ihn entscheidende philosophische Saatgut vollständig in seinen Schriften „aussät“, freilich nicht „im Ernst“, sondern nur „als Spiel“ (παιδιᾶς χάριν 276 b5, d2). Diese Deutung hebt jedoch nicht nur, wie oben dargelegt, die bedeutungsvoll an den Anfang gestellte Analogie zwischen dem Bauern und dem Dialektiker auf (denn ein vollständiges Aussäen seines Saatgutes in Adonisgärten, und sei es auch παιδιᾶς χάριν, ist für den klugen Bauern schlicht keine Option), sondern ist auch mit dem Wortlaut nicht vereinbar: in ἐφ’ οἷς δὲ ἐσπούδακεν 276 b6 ist zweifellos nach ἐφ’ οἷς δέ aus b2 σπέρμασιν zu ergänzen: „die Saatkörner aber, denen sein Ernst gilt“, wird der Bauer in geeignetes Ackerland säen (und das heißt: keinesfalls in Adonisgärtchen). – Daß seine Deutung das Gleichnis entbehrlich, ja sinnlos macht, scheint Wilfried Kühn: Welche Kritik an welchen Schriften? Der Schluß von Platons Phaidros, nichtesoterisch interpretiert. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 23–39 nicht bewußt geworden zu sein. Vgl. meine Analyse von Kühns Argumenten in: Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–e4. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 259–267. Aus seinem Aufsatz machte Kühn – leider ohne ein neues Argument hinzuzufügen – ein ganzes Buch (La fin du Phèdre de Platon. Critique de la rhétorique et de l’écriture. Firenze 2000), das von Hubert Benz einer genaueren Prüfung unterzogen wurde (Läßt sich das Ende des Phaidros auch nicht-esoterisch auslegen? Zu Wilfried Kühns Kritik an der Tübinger Platon-Interpretation. In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 50 (2005), 181–194). In philologisch verläßlicher und philo-

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(b) Und nun zum Schluß der Kritik der Schriftlichkeit (Phdr. 278 c4– e2). Hier wird gefragt, wer als φιλόσοφος bezeichnet werden soll. Die Bezeichnung σοφος kommt nur einem Gott zu (d4), φιλόσοφος aber kann auch ein Mensch heißen, sofern er folgende Bedingungen erfüllt: erstens muß er das, was er schrieb, als ‚Wissender‘ geschrieben haben (c4–5), wobei εἰδὼς ᾖ τὸ ἀληθὲς ἔχει im Zusammenhang des Dialogs selbstverständlich nicht irgend ein innerweltliches Fachwissen meinen kann, wie manche glauben, sondern nur das Ideenwissen, das allein der φιλόσοφος von der Auffahrt zum jenseitigen Ideenhimmel in der Seele behält und durch Anamnesis im Diesseits zurückholen kann (vgl. 246 d–250 d, bes. 249 c1– d3: allein der Seele des Philosophen wachsen ‚Flügel‘). Zweitens muß der Philosoph schreiben im Besitz der Fähigkeit, seinem λόγος im Falle einer Kritik zu helfen: καὶ ἔχων βοηθεῖν, εἰς ἔλεγχον ἰὼν περὶ ὧν ἔγραψεν, c5–6. Das Partizip ἔχων ist dabei als Partizip des Imperfekts zu verstehen.15 D. h. ἔχων ist gleichzeitig mit εἰδὼς, die ‚Hilfe‘ muß beim Schreiben schon vorhanden sein wie das ‚Wissen‘. Drittens muß die mündliche Hilfe (λέγων αὐτός, c6) ein bestimmtes Verhältnis zum geschriebenen λόγος haben: der Philosoph kann sein Geschriebenes als gering erweisen, τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι (c6–7), denn das, was er mündlich vorbringt, sind Dinge von höherem philosophischen Rang, τιμιώτερα (d8). Wer diese drei Bedingungen nicht erfüllt, kann für Platon nicht den Namen φιλόσοφος zuerkannt bekommen. (c) Nehmen wir nun die drei Schritte zusammen, also die Aufzählung der Mängel der Schrift, das Gleichnis vom Bauern und die Kriterien für die Zuerkennung des Titels φιλόσοφος, so bekommen wir ein kohärentes Bild ohne jede Ambiguität.

sophisch klarsichtiger Argumentation kann Benz zeigen, daß Kühns antiesoterische Interpretation dem Text in keinem einzigen Punkt gerecht zu werden vermag. – Ein wertvoller Beitrag zur Phaidros-Exegese ist auch Benz’ leidenschaftsloser, minutiöser Punkt-für-Punkt-Vergleich zwischen der Tübinger Phaidros-Interpretation und der von Ernst Heitsch (vgl. Hubert Benz: Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar. Darstellung und Kritik. In: Perspektiven der Philosophie 24 (1998), 65–132; ders.: Hat Platon die Philosophie als eine im sokratischen Dialog verwirklichte Rhetorik und Kommunikationstheorie verstanden? Zu den Phaidros-Studien von Ernst Heitsch. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 250 (1998), 163–207). 15 Ganz so wie dieselbe Form ἔχων in Politeia 544 a1 (καλλίω ἔτι ἔχων εἰπεῖν, nach dem Verbum im Imperfekt τοὺς λόγους ἐποίου 543 c8, wie hier ἔχων βοηθεῖν nach der Vergangenheitsform συνέθηκεν 278 c5) vom Kommentator James Adam (The Republic of Plato, Bd. II. Cambridge 1902, 198) als „imperfect participle“ eingestuft wird.

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1. Die entscheidende philosophische Betätigung ist die mündliche Ausübung der Kunst der Dialektik (276 e). 2. Die Dialektik ist esoterisch auszuüben, und das ist so wichtig, daß es doppelt ausgedrückt wird, negativ und positiv: (a) der Dialektiker ist fähig zum σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ, und (b) er betreibt seine Weise des Philosophierens λαβὼν ψυχὴ προσήκουσαν (276 e6), indem er eine ‚zugehörige‘ (nämlich der Sache der Philosophie zugehörige, also geeignete) Seele wählt. Beides, der Ausschluß des Ungeeigneten wie die Wahl des Geeigneten, ist dem Buch nicht möglich. 3. Der mündlich Dialektik treibende Philosoph kann natürlich auch etwas schreiben. Wenn er es tut, wird er darauf achten, nicht sein gesamtes Gedankengut in die Adonisgärten der Schrift zu bringen, hierin ähnlich dem vernünftigen Bauern, der niemals alles Saatgut auf den Ritus verwenden wird. 4. Beim Schreiben hat er die mündliche Hilfe, auf die jede Schrift qua Schrift angewiesen ist, bereits parat: er schreibt ἔχων βοηθεῖν. Die inhaltliche ‚Hilfe‘ ist also kein Zufallsprodukt, nicht abhängig von der Tagesform des Autors. 5. Dementsprechend hat die Hilfe nicht ein zufälliges und beliebiges Verhältnis zur Schrift, der sie hilft, sondern ein festgelegtes: sie enthält τιμιώτερα, im Vergleich mit denen die zu verteidigende Schrift als ein φαῦλον, d. h. etwas Laienhaftes, Unfachmännisches und Untechnisches erscheinen wird. So weit die Kritik der Schriftlichkeit. 6.

Sehen wir uns nun in anderen Dialogen um, so wäre an erster Stelle zu nennen die Bestimmung im sechsten Buch der Politeia, man werde im Idealstaat dem, der die charakterlichen und intellektuellen Anforderungen an einen φιλόσοφος nicht erfüllt, keinen Anteil geben an der genauesten Erziehung, noch an der Ehre noch an der Herrschaft, μήτε παιδείας τῆς ἀκριβεστάτης δεῖν αὐτῷ μεταδιδόναι μήτε τιμῆς μήτε ἀρχῆς (503 d8–9). „Genaueste Erziehung“ meint bei Platon die Schulung in philosophischer Dialektik – davon sind also die Ungeeigneten auszuschließen. Der negativen Bestimmung entspricht auch hier die positive: im siebten Buch ist ausführlich von der Auswahl, der ἐκλογή, der künftigen Philosophen die Rede (535 a–539 d), bei der man den jetzt üblichen Fehler strikt vermeiden wird, nämlich jeden Beliebigen und Unbefugten zur Dialektik zuzulassen (539 d5–6, vgl. 537 e1–2). Durch diese ‚Vorsichtsmaßnahme‘ (εὐλάβεια,

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539 b1) wird man das Geschäft der Philosophie τιμιώτερον ἀντὶ ἀτιμοτέρου ποήσει(ν), 539 d1.16 7.

Nun ein paar Bemerkungen zum Abbildcharakter des geschriebenen Logos. (a) Die Schrift als solche kann niemals „schweigen“, σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ. Was in einem Buch drin ist, kann jeder aus ihm herausholen. Aber als mimetisches Abbild des lebendigen Gesprächs kann der Dialog den Vorgang abbilden, wie der Dialektiker schweigt. Findet sich solche Mimesis bei Platon? Und ob – fast in jedem Dialog finden sich eine oder mehrere Aussparungsstelle(n), also Stellen, die inhaltlich Relevantes weglassen, aussparen. Der Ausdruck „Aussparungsstelle“ sollte nicht dehnbar und vage verwendet werden, sondern durchaus terminologisch. Eine typisch platonische Aussparung liegt nicht dann vor, wenn ein Interpret das subjektive Gefühl hat: „Also hier redet Platon wirklich viel zu knapp, sicher hätte er dazu viel mehr sagen können“. Aber auch dann nicht, wenn, wie es im Timaios öfter geschieht, eine Detailfrage, die für die Kosmogonie und Anthropogonie nur am Rande von Interesse ist, auf eine mögliche spätere Behandlung vertagt (Tim. 38 e1–3) oder als τρόπος ἄλλος λόγων (87 b8) beiseite gesetzt wird. Dergleichen gibt es häufig bei Aristoteles und ist qualitativ nicht verschieden von einer Fußnote bei einem heutigen Autor, in der er auf eine künftige Publikation verweist. Platonische Aussparungsstellen haben nicht den Charakter und nicht die Funktion von Fußnoten. Sie betreffen immer den Kern der Sache, sie versprechen nicht bloße stoffliche Ergänzung auf gleichem Niveau, sondern verweisen auf grundlegendere Fragen, ohne sie anzupacken. Ich schlage vor, terminologisch präzise von platonischen Aussparungsstellen zu reden nur wenn folgende Kriterien vorliegen: 1. Das ausgesparte Thema muß mit der laufenden Erörterung sachlich aufs engste verbunden sein. 2. Das Ausgesparte würde, wenn es doch eingebracht würde, nicht ein bloß quantitatives Plus bringen, sondern ein qualitatives, d. h. es wür-

16 Der wenig beachteten Tatsache, daß ‚Sokrates‘ in der Politeia für die philosophische Ausbildung im Idealstaat einen eindeutig ‚esoterischen‘ Umgang mit der Dialektik empfiehlt, bin ich ausführlicher nachgegangen in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004 (im Folgenden zitiert als PSP II), 22–43.

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de in Bereiche ‚höherer‘, begründender Reflexion ausgreifen, argumentativ näher an die Prinzipien (ἀρχαί) heranführen. 3. Die Aussparung muß im Dialog an strukturell herausgehobener Stelle stehen (wie es der Fall ist z. B. direkt vor und direkt nach dem Sonnengleichnis als dem Kulminationspunkt von Platons Hauptwerk). 4. Die Aussparung muß vom Gesprächsführer ausgesprochen sein, weil nur er den Überblick und die Autorität hat, das fehlende Kernstück der Argumentation zu benennen und „auf ein andermal“ (εἰς αὖθις) zu verschieben (ein Versprechen, das freilich nie erfüllt wird). 5. Die Aussparung betrifft prinzipiell Erkennbares, der Gesprächsführer muß daher seine Nichtbehandlung hic et nunc begründen, sei es mit der Unzulänglichkeit der jetzt im Augenblick (ἐν τῷ παρόντι) geführten Diskussion, sei es mit dem unzureichenden Verständnis der Hörer. Berühmte Passagen, die diesen Kriterien entsprechen, sind die sechs massiven Aussparungsstellen der Politeia, zwei davon die Seelenlehre betreffend, eine die Dialektik, drei das τί ἐστιν der Idee des Guten,17 und die drei im Timaios, die die Natur des Demiurgos und Wesen und Zahl der höchsten Prinzipien ausklammern.18 Die Aussparungsstellen belegen in ihrer Gesamtheit – und es sind sehr viele in Platons Oeuvre – den klaren Willen des Autors, bestimmte Themen aus der schriftlichen Darstellung herauszuhalten. Mimetisch vorgeführt wird der Ausschluß eines Problems stets als Ausschluß aus einem mündlichen Gespräch, z. B. dem zwischen Sokrates, Glaukon und Adeimantos im „Staat“. Aber insofern dieses mündliche Gespräch jetzt im Abbild als Buch vorliegt, ist die Kernfrage nach dem Guten aus dieser bestimmten Schrift ausgeschlossen, und einen nachvollziehbaren Grund für den Ausschluß gibt uns allein die Schriftkritik im Phaidros. Meine These ist, daß die im oben geschilderten Sinn definierten Aussparungsstellen ein Spezifikum der philosophischen Schriftstellerei Platons sind. Kein anderer der Großen der Philosophiegeschichte hat diese Tech-

17 Ausführlicher zu den Aussparungsstellen der Politeia PSP I, 303–325. 18 Zu diesen Stellen vgl. PSP II, 218–228. – Natürlich hat es Versuche gegeben, die Existenz gezielter Aussparungen bei Platon überhaupt zu leugnen. Mit einem dieser Versuche, dem von Luc Brisson (Présupposés et conséquences d'une interprétation ésotériste de Platon. In: Methexis 6 (1993), 11–35) habe ich mich näher befaßt in: „‚Was in vierzig Jahren Bedeutung hat...‘. Rückblick auf eine frühe Arbeit von Klaus Oehler“. In: Pragmata. Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag. Tübingen 2008, 95–107, bes. 100–104.

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nik angewandt.19 Diese Stellen spiegeln die eindeutig esoterische Einstellung des Autors zum ἐπιτήδευμα der Philosophie und machen das Wort vom σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ erst voll verständlich. (b) So wie der geschriebene Logos selbst zwar nicht schweigen kann, wohl aber abbilden kann, wie der Dialektiker zu bestimmten Dingen schweigt, so kann er auch sich selbst nicht zu Hilfe kommen, wohl aber abbilden, wie ein Dialektiker einem eigenen Logos zu Hilfe kommt. Es gibt eine Reihe von sehr instruktiven Szenen bei Platon, in denen das Dialoggeschehen an einen Punkt geführt hat, wo ein βοηθεῖν τᾧ λόγῳ seitens des Gesprächsführers erforderlich wird. Die Analyse der Argumentationsfolge zeigt immer, daß platonisches βοηθεῖν keineswegs das ist, was wir uns heute unter der Verteidigung eines Vortrags gegen Kritik vorstellen. Für uns ist das immer ein verdeutlichendes, glättendes, manchmal ergänzendes, oft auch Kompromisse anbietendes Weiterreden auf gleichem Niveau. Nicht so bei Platon. Der Dialektiker, der seinem unter Beschuß geratenen Logos Hilfe bringt, hält sich nicht bei diesem ersten Logos auf, sondern verlagert die Auseinandersetzung auf eine höhere Ebene. Er greift auf Theoreme höherer Ordnung zurück, rückt die Problematik näher an die eigentlichen ἀρχαί heran. Beispiele sind etwa Sokrates, der seinem Logos nach der Kritik von Simmias und Kebes durch Rückgriff auf die Ideenhypothese hilft, oder der Athener, der im zehnten Buch der Nomoi dem Gesetz gegen die Gottlosen zu Hilfe kommt durch Rekurs auf die Theorie der Bewegung und der Unsterblichkeit der Seele. Man hat eingewandt, man könnte doch einem Logos nicht helfen, indem man über anderes redet. Doch genau das tun der Sokrates des Phaidon und der Athener in den Nomoi, und dessen Gesprächspartner Kleinias spricht es sogar wörtlich aus: du mußt νομοθεσίας ἐκτὸς βαίνειν, aus der Gesetzgebung heraustreten, um dem Logos des Gesetzes zu helfen, anders ist es nicht möglich (Nom. 891

19 Die Philosophen Anton Friedrich Koch (Tübingen) und Johann-Heinrich Königshausen (Würzburg) machen mich darauf aufmerksam, daß Johann Gottlieb Fichte in seinen späteren Jahren auf die schriftliche Verbreitung seiner Gedanken verzichtete, weil er nicht mehr glaubte, auf diesem Weg Verständnis für seine Philosophie erwecken zu können. Fichte hat „dementsprechend seine späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre nur noch mündlich vorgetragen“ (A. F. Koch, brieflich). Was das Schweigen (in der Schrift) als solches betrifft, haben wir hier eine klare Parallele zu Platons Haltung. Mit der literarischen Technik des geschriebenen Verweises auf das Nichtgeschriebene und Nicht-zu-Schreibende scheint aber Platon auch so noch alleine dazustehen – aber vielleicht sehen die Fichte-Kenner auch das anders. Im übrigen hätte Platon nichts dagegen gehabt, an einem tiefsinnigen Denker wie Fichte einen Nachfolger in der Frage der Vermittlung philosophischer Einsicht zu haben.

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d7–e3).20 Das Heraustreten aus dem ursprünglichen Logos ist aber kein zielloses Umherschweifen, sondern das Aufspüren der höheren Ursachen (besonders deutlich Nomoi 891 b–899 c).21 Solche Hilfe muß der Philosoph grundsätzlich seiner Schrift bringen können – mündlich, λέγων αὐτός. Wenn er das vollbringt, so wird verständlich, daß er durch diese Höherlegung der Begründungsebene seine Schrift in den Schatten stellen wird, daß also seine mündliche Philosophie im Vergleich mit seinen Schriften τιμιώτερα, Dinge von höherem Rang, bieten wird. Diese τιμιώτερα enthalten die Letztbegründungen des Dialektikers.22 Das, womit der wirkliche Philosoph seine Schriften sowohl helfend stützt als auch ar20 Vgl. dazu PSP I, 72–78, bes. 74f. 21 Ausführlicher dazu PSP I, 75. 22 Zur Bedeutung von τίμιον als eines philosophischen Terminus (bei Aristoteles, Speusippos, Philippos von Opus und Platon) zur Bezeichnung des ontologischen Rangs des Prinzips oder der Dinge, die dem Prinzip nahestehen, vgl. meinen Beitrag: Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 420–439. – Nach einer neueren Interpretation hat Platon nichts gehabt, was über die Dialoge hinausgegangen wäre: ‚My compositions, poor things, are all I have to offer‘ – mit dieser Paraphrase versucht Christopher J. Rowe: Plato and the Art of Philosophical Writing. Cambridge 2007, 272 den Sinn von Phdr. 278 c–e einzufangen. Das wahrhaft Innovative dieser Deutung besteht darin, daß Platon nun ins Lager der Autoren gerückt wird, die den Namen φιλόσοφος nicht verdienen, weil sie nichts Besseres haben als das, was sie in mühsamer Arbeit niederschrieben. Bisher bestand ein allseitiger Konsens – der sogar nichtesoterische und esoterische Interpreten in diesem einen Punkt vereinte – darüber, daß Platon nicht ins Lager der mit Geringschätzung behandelten nichtphilosophischen Autoren gehört. Daß Platon auch seine eigenen Werke für ‚poor things‘ hielt, schließt Rowe aus der antiken Überlieferung, daß er seine Dialoge stilistisch immer wieder überarbeitete (Dionysios von Halikarnassos: De compositione verborum, 208f. Reiske; Diogenes Laertios: Vitae philosophorum, 3.37; Quintilianus: Institutio oratoria, 8.6.64). Doch der Schluß ist nicht zwingend: auch wenn er beim Schreiben ebenso mühsam am Wortlaut feilte wie der nichtphilosophische Autor (278 d9–e1), folgt daraus noch nicht, daß dabei nichts herauskommen konnte, worüber der philosophische Autor sich freuen konnte – natürlich wegen der gelungenen literarischen Gestaltung (276 d4–5: ἡσθήσεταί τε αὐτοὺς [sc. seine ‚Adonisgärten‘] θεωρῶν φυομένους ἁπαλούς). Während aber die Einstufung der platonischen Dialoge als ‚poor things‘ noch eine gewisse, wenn auch schwache, Stütze an außerplatonischen Texten hat, ist der zweite Teil der Paraphrase (‚...are all I have to offer‘) eine freie Zutat von Rowe: wenn Platon beim Schreiben nicht besser dran war als die nichtphilosophischen Autoren, so folgt daraus noch nicht, daß er wie diese auch selbst nichts hatte außer dem Geschriebenen. Aristoteles wußte es bekanntlich anders: Platon hatte ἄγραφα δόγματα, nicht der Schrift anvertraute philosophische Ansichten, die nichts Geringeres versuchten, als ἐπὶ τὰς

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gumentativ überbietet, ist notwendig seine Theorie der ἀρχαί (oder ein Teil davon). Die Dialoge Platons enthalten glänzende Logoi aller Art – aber nirgends die dazugehörige Prinzipienlehre. Platon hielt sich selbst strikt an seine Schriftkritik. 8.

Unversehens haben wir bei der Erörterung der Frage, welche Art von Esoterik welche Stütze am platonischen Text findet, das Material an die Hand bekommen für die Beantwortung unserer leitenden Frage, was ein platonischer Dialog ist und was er will. 1. Ein platonischer Dialog ist ein Abbild, εἴδωλον, einer ‚lebendigen und beseelten Rede‘ eines ‚Wissenden‘. ‚Abbild‘ bedeutet nicht Protokoll – es handelt sich ja um fiktive Gespräche – das Wort εἴδωλον bezeichnet vielmehr, wie stets bei Platon, die ontologische Kluft zwischen Urbild und Abbild, hier zwischen der Dialektik als lebendigem Nachvollzug der Ordnung der wahrhaft seienden Ideenwelt im νοῦς der Dialektiker einerseits und der Fixierung des Gesprächs in leblosen, der Seele äußerlichen Zeichen andererseits (vgl. Phdr. 275 a3–4: ἔξωθεν ὑπ’ ἀλλοτρίων τύπων). 2. Das philosophische Schreiben ist analog dem Säen im Adonisgarten, d. h. das, wovon der Pflanzer wirklich Ertrag erwartet, kommt von vornherein nicht in das Adonisgärtchen der Schrift. Die Adonisgärtchen-Metaphorik folgt nicht zufällig direkt auf den Abbild-Begriff, beides gehört zusammen: die wahrhaft philosophische Dialogschriftstellerei gibt notwendig ein unvollständiges Abbild der lebendigen und beseelten Reden des Dialektikers. 3. Das Abbild ist – in klarem Gegensatz zu dem, was es abbildet – selbst nicht ζῶν καὶ ἔμψυχον. Das bedeutet:

ἀρχάς, zu gelangen, und wiederum ἀπὸ τῶν ἀρχῶν zu den Phänomenen (Phys. 209 b15; EN 1095 a32–33; Met. A 6 und 9; Met. M und N). Aber nicht nur das Zeugnis des Aristoteles, auch die Dialogfiguren ‚Sokrates‘ und ‚Timaios‘ sprechen gegen die Auffassung, Platon habe nichts gehabt über das Geschriebene hinaus: sie lassen durchblicken, daß sie entschieden mehr über die ἀρχαί zu sagen hätten, als sie ἐν τῷ παρόντι sagen (vgl. Anm. 18 und 19). Wenn Platon fiktive Dialogfiguren den Anspruch erheben ließe, mehr sagen zu können als sie tatsächlich sagen, ohne selbst irgend etwas zu besitzen, was diesen Anspruch einlösen könnte, so müßten wir ihn als geltungssüchtigen Charlatan einstufen.

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– es sagt immer dasselbe, gibt auf neue Frage keine neuen Antworten, – es kann sich den geeigneten Adressaten nicht selbst suchen, kann nicht gezielt zu den einen reden, gleichzeitig mit demselben Wortlaut zu anderen schweigen, – und es kann sich nicht selbst gegen Angriffe verteidigen.23 4. Ernst nehmen müssen wir auch die Bestimmung, daß der geschriebene Logos ein Abbild der Rede des ‚Wissenden‘ ist, die er in die Seele eines Lernenden, eines μανθάνων, ‚schreibt‘ (Phdr. 275 a5–9) – hier ist nun das ‚Schreiben‘ die Metapher für das mündliche, persönliche Prägen einer unerfahreneren Seele durch das Wort eines Erfahrenen. Dieses mündliche In-die-Seele-Schreiben ist ein Tun, ein Prozeß. Von daher ergibt sich erstens, daß wir die mimetische Abbildung solcher Prozesse als Dramen auffassen müssen, die eine Handlung haben. Daß die Handlung der Dialoge immer wieder Platons esoterische Einstellung zum ἐπιτήδευμα der Philosophie bestätigt, glaube ich gezeigt zu haben.24 Analysen der Handlung eines oder mehrerer Dialoge, die das Gegenteil zeigen würden, d. h. die lückenlose Vollständigkeit der Vermittlung des verfügbaren philosophischen Wissens, sind mir nicht bekannt. Zweitens verstehen wir nun besser, warum die Dialoge samt und sonders Gespräche unter Ungleichen25 sind – mit einer Ausnahme: dem Timaios. Hier kommen Gleichrangige zusammen – aber das Werk besteht aus einem großen Monolog, Platon verzichtet darauf, diese Gleichrangigen im Dialog mit einander zu zeigen. Wo Dialog stattfindet, ist die immense philosophische Kluft zwischen dem ‚wissenden‘ Dialektiker und dem dialektisch ungebildeten Nichtphilosophen (oder Noch-nicht-Philosophen) unübersehbar. Selbst der große Protagoras ist im Vergleich mit Sokrates ein μανθάνων, der über Arete

23 Moderne Dialogtheorien, die die drei Fähigkeiten, die bei Platon Fähigkeiten allein des mündlich Philosophierenden sind, auch dem geschriebenen Dialog zuschreiben, betreiben eine seltsame Mystifikation des Dialogs als eines Buches, das doch kein Buch sei. Mit Platon hat das nichts zu tun. Vgl. oben S. 450f. zu H. von Stein, ausführlicher PSP I, Anhang I: „Die moderne Theorie der Dialogform“, 331–375, bes. 353–358. 24 Die oben erwähnten Arbeiten (PSP I und II) enthalten detaillierte Analysen der Handlung und der Kommunikationsweise aller echten Dialoge (mit Ausnahme des Ion und des Menexenos). 25 S. dazu meinen Beitrag: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und zur Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Antike und Abendland 34 (1988), 99–116 [mit einer Ergänzung nachgedruckt in: Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, 40–61].

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und über Gesprächsführung von seinem jüngeren Partner noch viel zu lernen hat. Aus den Punkten 1–4 ergibt sich als Definition: Der platonische Dialog ist je einzeln, und das platonische Oeuvre ist als Ganzes das schriftliche, und das heißt: zum Schweigen und zur Selbstverteidigung unfähige, daher bewußt unvollständig gelassene, auf künftige mündliche Hilfe durch den Autor selbst angelegte Abbild eines dialektischen Erkenntnisprozesses zwischen einem im Sinne der Ideentheorie ‚Wissenden‘ und einem noch ‚Lernenden‘. In dieser Definition ist bereits enthalten, was gleichwohl noch einmal herausgehoben zu werden verdient, um Mißverständnissen vorzubeugen:26 der platonische Dialog ist nicht konzipiert als Ort des erstmaligen philosophischen Erkenntniserwerbs,27 vielmehr führt der εἰδὼς ῇ τὸ ἀληθὲς ἔχει den μανθάνων an einen Punkt, der ihm selbst schon vertraut ist, freilich niemals bis ans Ende der Reise, ans τέλος τῆς πορείας (vgl. Politeia 532 e3). 26 Σχεδὸν μὲν ἤδη φανερόν, λεχθὲν δὲ ἢ μὴ λεχθὲν πάντως σαφέστερον – so die platonische Maxime (Phdr. 238 b6–7), die mich veranlaßt, die nun folgende Klarstellung zu geben. Ähnlich heißt es im Philebos 65 b3–4: δῆλον μέν, ὅμως δ’ οὖν τῷ λόγῷ ἐπεξελθεῖν βέλτιον. 27 Bei den aporetischen Dialogen ist das evident: Sokrates könnte nicht so zielsicher mit seinen überlegenen Einwänden die Einigung auf eine Definition einer Tugend verhindern, träte er nicht von vornherein mit überlegenem Wissen ins Gespräch ein. In den späten Dialogen ist es mehrfach ausgesprochen, daß der Dialektiker nur das bietet, was ihm schon vertraut ist (Nachweise in PSP II). Aber auch in der Politeia ist die Kernthese, daß die Idee des Guten das μέγιστον μάθημα ist, nichts Neues, wurde vielmehr von den Hörern schon ‚oft‘ vernommen (504 e7–505 a4); die Argumentation im Zusammenhang der drei ‚Wellen‘ sah Sokrates voraus, d. h. er hatte den ganzen Komplex vorweg schon durchdacht (vgl. PSP II, 42 und Die Idee des Guten in Platons Politeia. In: Lecturae Platonis 3 (2003), 23–26). Äußerungen von Dialogfiguren, daß sie das Argument mehr für sich selbst, nicht für die anderen entfalten (Cha. 166 d, Gorg. 482 bc, Prot. 348 c, 360 e, Phdn. 91 a, Politeia 527 e–528 a) bedeuten nicht, daß nun für den Dialektiker selbst prinzipiell Neues folgen würde. Als Beispiel diene Phdn. 91 a1–9: Sokrates will seine These verteidigen, wobei er sich, wie er sagt, von ehrgeizigen Rechthabern nur dadurch unterscheidet, daß sein Bestreben ist, seine Darlegung nicht so sehr für die Hörer, als vielmehr für sich selber überzeugend zu machen. Die Einsicht, um die es geht, ist also längst da (nämlich daß die Seele unsterblich ist). Das Denkmittel, dessen er sich bedienen will, die Ideenhypothese, hat er bereits als junger Mann gewonnen (98 b–99 c) und ist selbst für die Hörer ein πολυθρύλητον (100 b5, vgl. 76 d8). Neu kann bei dieser Ausgangslage nur die optimale, den Gesprächsführer befriedigende Ausarbeitung eines Einzelargumentes sein – das Ergebnis und der philosophische Standpunkt, von dem aus es erreicht wird, steht dem Dialektiker fest, bevor er in den Dialog eintritt. Ähnliches gilt von den übrigen Stellen.

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22. Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?

Der platonische Dialog hat seine letzte Rechtfertigung grundsätzlich außerhalb seiner selbst. Anders gesagt: die Dialoge sind voll verständlich nur unter Einbeziehung der mündlichen Prinzipientheorie. 9.

Bleibt zum Schluß die Frage: wenn Platon der Mündlichkeit mit solchem Nachdruck den Vorrang gab vor der Schriftlichkeit, wieso gibt es dann überhaupt Schriften von ihm, und was will er mit seinen Dialogen erreichen? Ein Grund für die Existenz der Dialoge ist klar ausgesprochen im Phaidros (276 d1–8): der Philosoph betreibt das Schreiben als sein Spiel, παίζων bzw. παιδιᾶς χάριν (d2, 8), und er empfindet Freude, wenn die Schrift gut gelingt (ἡσθήσεται, vgl. Nom. 811 d2 ἡσθῆναι). Warum wird diese Erklärung Platons so wenig ernstgenommen? Das liegt wohl daran, daß wir als Kinder einer Schriftkultur unfähig geworden sind, die Mentalität eines freien, sein Leben lang finanziell unabhängigen, vom publish or perish unbeeindruckten Aristokraten zu verstehen, der noch dazu ein genialer Meister der Sprache und der dramatischen Form war. Daher genügt uns seriösen Leuten die scheinbar unseriöse Erklärung nicht, daß Platon schrieb, weil er literarisch gerne spielte und weil er Freude am gelungenen Werk hatte. Allerdings sind noch zwei weitere Dinge zu beachten. Die Schriften des Philosophen sind zwar nicht geeignet, den philosophisch noch Unwissenden zu erstmaligem Erwerb von Wissen und Einsicht zu führen, wohl aber geeignet, den Wissenden, der anderweitig – also im mündlichen Philosophieren – schon Einsichten gewonnen hat, an seinen Denkweg zu erinnern. Die Dialoge sind so ὑπομνήματα, Mittel der Erinnerung, sie dienen der εἰδότων ὑπόμνησις, dem Erinnern der bereits Wissenden (276 d3, 278 a1). Darin liegt zweifellos ein weiterer wichtiger Grund für die Existenz von Schriften des mündlich Philosophierenden. Noch wichtiger dürfte aber das vom historischen Sokrates geerbte Bestreben sein, die Menschen zur Arete und zur Selbsterkenntnis im Sinne des delphischen Gottes ‚hinzuwenden‘, griechisch: προτρέπειν. Die im ganzen platonischen Oeuvre überdeutliche Protreptik ist ein unabweisbarer Grund für das Schreiben des Dialektikers.28 Aber vergessen wir nicht: das ‚Hinwenden‘ (im Sinne von Ermahnung und Aufforderung) kann nicht al-

28 Konrad Gaiser: Protreptik und Paränese bei Platon. Untersuchungen zur Form des platonischen Dialogs. Stuttgart 1959 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 40).

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22. Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?

les sein. Die stärkste protreptische Wirkung haben auf junge philosophische Talente erfahrungsgemäß starke philosophische Argumente. Dem entspricht die argumentative Seite der Dialoge: sie sind voll von starken Argumenten. Wenn Platon so auf die Debattierfreudigkeit der Leser setzt – eine Leidenschaft, deren Exzesse bei Jugendlichen er mitunter auch höchst sarkastisch und amüsant schildern kann29 – so setzt er sich damit keineswegs in Widerspruch zum Grundgedanken seiner Kritik der Schriftlichkeit, denn was er der Schrift abspricht, ist nicht die Fähigkeit, logische Sequenzen verständlich wiederzugeben, sondern die Fähigkeit, genuin philosophisches Verständnis zu erzeugen – jenes Verständnis, das schließlich zur „Umwendung“ der ganzen Seele führt,30 zum Übergang vom Dunkel zum wahren Tageslicht, zu jenem Aufstieg zum Sein, den er „die wahre Philosophie“ nennt.31 Argumentieren hingegen kann man – gerade auch über philosophische Themen – auch ohne philosophisches Verständnis.32 So münden denn die Argumente Platons, so stark sie auch sein mögen, immer wieder ein in den Hinweis auf tiefere Begründungen, die hier und jetzt in der gerade vorliegenden Schrift nicht mitgeteilt werden, bis hin zum Hinweis auf die schriftlich nicht zu kommunizierende Prinzipienlehre, die erst dann vor den wenigen Geeigneten in der Akademie entfaltet werden kann, wenn die Protreptik der Dialoge längst nachhaltig, oder vielmehr: unwiderrufbar gewirkt hat.

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Vgl. Politeia 539 b, Soph. 251 b, 259 cd, Phil. 15 d–16a. Politeia 518 c8–9. Politeia 521 c6–8. Vgl. die oben Anm. 29 genannten Stellen, dazu Epist. 7, 343 c5–e1.

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23. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804: Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann (1997)*

1. Kritik an einem Klassiker? Schleiermachers „Einleitung“ zu seiner Platon-Übersetzung von 18041 kann man zum hermeneutischen Meisterwerk erklären, sie damit freilich auch verklären und gleichsam entrücken in die Sphäre der allseits bestaunten Museumsstücke. Als eine der großen Leistungen einer durch und durch genialischen Epoche der deutschen Geistesgeschichte ist diese Einleitung dann doch ein Dokument einer fremden Zeit, daher nur nach deren eigenen Maßstäben zu messen, folglich a priori nicht angreifbar durch beckmesserische Beanstandungen späterer Kritiker. Doch was der Kritik entzogen ist, verliert bald seine Lebendigkeit, und was nicht lebendig ist, achten wir unwillkürlich geringer. Vielleicht können wir Schleiermacher doch eine noch höhere Ehre erweisen als die Ehre der Verklärung, wenn wir ihn nicht mehr als immun gegen Kritik betrachten wegen seiner Genialität und seines Zeitabstandes. Da von ihm der Kompaß stammt, nach dem weite Teile der Platonexegese seither navigieren, und sein Einfluß heute noch mit Händen zu greifen ist, sollte auch die Kritik nicht zu ängstlich sein, den Zeitabstand in (vermeintlich) unzulässiger Weise zu überspringen. Wie wirkt Schleiermachers „Einleitung“, wenn wir sie ganz ernst nehmen, wenn wir sie uns direkt angehen lassen? Wir brauchen dabei nicht Schleiermacher zu unserem Zeitgenossen machen wollen – es genügt, wenn wir uns probeweise zu seinen Zeitgenossen machen und fragen: was lag vor, als er auftrat, und was hat er verändert? Vielleicht können wir so zu einer nicht anachronistischen Kritik gelangen – zu einer Kritik, wie sie auch ein Zeitgenosse hätte üben können. Die genauere Erforschung der philosophischen Einflüsse, aus denen Schleiermachers Hermeneutik und speziell seine platonische Hermeneutik

* Leicht veränderter Text eines Vortrags, der an den „Blaubeurener Platon-Tagen 1994“ gehalten wurde, zu denen Rüdiger Bubner und Günter Figal eingeladen hatten. 1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36.

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23. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804

erwuchs (zu denken ist vor allem an Fr. Schlegel, hinter dem wiederum Fichte steht) ist von Marie-Dominique Richard zu erwarten, die die einschlägigen Texte (in französischer Übersetzung) zusammenstellen und mit einem historisch-philosophischen Kommentar versehen wird. Wichtige Ergebnisse liegen aber auch schon vor in Arbeiten von H. J. Krämer.2 Mit diesen Forschungen will die vorliegende Betrachtung nicht konkurrieren. Es geht hier nicht um die z. T. heute noch verborgenen, jedenfalls aber den Zeitgenossen seinerzeit nicht greifbaren Hintergründe, tieferen Zusammenhänge und inneren Beweggründe, sondern um zwei Vorgänger, die keiner damals übersehen konnte. Wilhelm Gottlieb Tennemann erwähnt Schleiermacher selbst schon auf der ersten Seite der „Einleitung“ und nochmals zu Beginn seiner Erörterung der „richtigen Anordnung“ der Dialoge.3 Und Dieterich Tiedemann war wichtig für Tennemann und zweifellos auch Schleiermacher bekannt. Vergleichen wir also mit diesen beiden.

2. Dieterich Tiedemann und die drei Quellen der platonischen Philosophie Im Geist der spekulativen Philosophie (1791) rechnet Tiedemann mit drei Quellen der platonischen Philosophie: den Dialogen, den „nicht mehr vorhandenen Werken“, und der mündlichen Lehre.4 Zu den „verlohrenen Schriften“ Platons zählt er Περὶ φιλοσοφίας, das Aristoteles in De anima I 2, 404 b19 für die platonische Erklärung der Erkenntisvermögen aus den Elementen und den Zahlen zitiert, sowie ein Werk διαιρέσεις. Aus den nicht erhaltenen Quellen der platonischen Philosophie gespeist sind für Tiedemann offenbar die Angaben des Aristoteles über Platons Begriff der Materie in der Physik (Δ 2 und 4), in Met. A 6 sowie in Buch M und N. Jedenfalls nimmt er diese Texte sehr ernst, zitiert sie mehrfach5 und zieht auch die antiken Kommentatoren Simplikios und Philoponos zur Erklärung heran. Tiedemann akzeptiert von Aristoteles, daß Platon das Unbe-

2 Hans Joachim Krämer: Platone e i fondamenti della metafisica. Milano 31989 [1982], 33–149; ders.: Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 583–621. 3 Schleiermacher: „Einleitung“, 5, 20. 4 Dieterich Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie, Bd. II. Marburg 1791, 81, 192, 195. 5 Ebd., 193, 194, 196.

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23. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804

stimmte als Begriff der Materie ansetzte,6 daß es bei ihm die Namen „das Große und Kleine“ und „unbestimmte Dyas“ hatte und in verschiedenen Ausformungen (oder „Gattungen“) auftrat.7 Er verläßt sich indes nicht blind auf Aristoteles, sondern vergleicht (nach dem Vorbild des Simplikios zu Ar., Phys. 202 b36 = TP 23 B Gaiser)8 seine Angaben mit den Dialogen, besonders dem Philebos und dem Timaios, was ihn zu der Überzeugung führt, daß die Dialoge die „Wahrheit des aristotelischen Berichts“ bestätigen. Ferner versucht Tiedemann eine historische Einordnung bzw. Herleitung der indirekt überlieferten Philosophie Platons: die „Geheimnissucht“9 und die ganze Veranlassung zu dieser Theorie stamme von den Pythagoreern. Vor allem aber bietet Tiedemann eine philosophische Deutung des nicht in den Dialogen zu findenden Platon. Was hier in Anknüpfung an Pythagoras versucht wurde, war „eine Wissenschaft der ersten Gründe aller Dinge“.10 Tiedemann hält dafür, „daß Plato eine allgemeine Theorie von den Principien aller Dinge entworfen hatte, eine Art allgemeiner Philosophie oder Ontologie“.11 Doch „in den noch vorhandenen Schriften gehen diese Untersuchungen über die Substanzen nicht hinaus; in verlohren gegangenen strekten sie sich bis ins Feld der abstrakten Begriffe […] hinein“.12 D. h. Dialoge und indirekt überlieferte Philosophie stellen zwei Stufen der Zurückführung der Wirklichkeit auf Prinzipien dar. „Der Absicht zufolge sollte diese höchste aller Theorien die ersten Ursachen und Gründe aller Dinge, also objektive Kenntniß geben“.13 Da dies aber unmöglich ist, ging es Platon um die „Bildung unsrer höchsten Begriffe“ im Sinne von Locke, dem zufolge alle neueren Metaphysiker nach „Erklärung des Ursprungs unsrer metaphysischen Begriffe“ strebten.14 In Tiedemanns Deutung der platonischen Prinzipienlehre hat diese Theorie Ähnlichkeit mit dem Verfahren der Vernunftlehre, „aus einem gegebenen Geschlecht, mittels Anfügung der Differenzen, die Gattungen abzuleiten“; „so ergibt

6 Ebd., 81. 7 Ebd., 194–196. 8 Die Zeugnisse der indirekten Platonüberlieferung liegen unter dem Titel „Testimonia Platonica“ (= TP) gesammelt vor bei Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], 441–557. 9 Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie, Bd. II, 193. 10 Ebd., 193. 11 Ebd., 192, vgl. 220: „... eigentlich eine Art Ontologie“. 12 Ebd., 73. 13 Ebd., 195. 14 Ebd., 195.

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sich […], daß daher diese Generation am Ende auf logische Emanation niederer Begriffe aus höheren zurückkommt“.15 Wenn ich recht sehe, beinhaltet diese „logische Emanationstheorie“16 eine transzendentalphilosophische Umdeutung des ontologischen Ansatzes: es soll nun doch mehr um die Herleitung oder Generation der Begriffe gehen, mit denen die Vernunft die Wirklichkeit notwendigerweise zu fassen versucht, als um objektive Kenntnis der Dinge selbst. Fassen wir zusammen: Tiedemann hält (1) verlorene Schriften und mündliche Lehre Platons für historisch, akzeptiert (2) Aristoteles’ Darstellung in den Hauptpunkten, glaubt (3) daß diese von den Dialogen bestätigt wird, weist (4) Dialogen und indirekt überlieferter Philosophie verschiedene Stufen im selben Prozeß der Erklärung der Wirklichkeit aus Prinzipien zu und erklärt (5) diese „höchste aller Theorien“ mit einem modernen Begriff als allgemeine Ontologie, gibt ihr aber zugleich eine erkenntnisfundierende oder transzendentalphilosophische Wendung.

3. Tennemann stimmt weitgehend überein mit Tiedemann Wilhelm Gottlieb Tennemann bezeichnet Platons Schriften als die „reinste und zuverlässigste Quelle“ für eine Darstellung der platonischen Philosophie. Spätere Schriftsteller sind wertlos für diesen Zweck, aber auch Aristoteles „kann bei der Platonischen Philosophie keinen Führer abgeben“.17 „Ich wähle daher den Plato selbst zu meinem Führer, und seine Schriften zur Quelle seiner Philosophie“.18 Sind wir damit beim Standpunkt Schleiermachers, zwölf Jahre vor der „Einleitung“? Manchmal klingt es so; jedenfalls ist eine sehr große Nähe zwischen Tennemann und Schleiermachers „Einleitung“ zu beobachten hinsichtlich der Auswahl der erörterten Ge-

15 Ebd., 197. 16 Ebd., 198. 17 Wilhelm Gottlieb Tennemann: System der Platonischen Philosophie, Band I. Leipzig 1792, XXII. (In dem mir verfügbaren Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen folgt unter der Bezeichnung „Erster Band“ auf die Vorrede des ersten Bandes der Text des zweiten, unter der Bezeichnung „Zweiter Band“ (Leipzig 1794) auf die Vorrede des zweiten Bandes der Text des ersten, beginnend mit Platons Leben; die Subscriptio dieses „zweiten“ Bandes lautet „Ende des ersten Bandes“. Ich zitiere daher im Folgenden als „System II“ den vorne abgedruckten Teil, als „System I“ den am Ende befindlichen.). 18 Tennemann: System I, XXIV; vgl. ders.: Geschichte der Philosophie, Band II. Leipzig 1799, 203: die Dialoge sind für uns „die einzige, reine und ungetrübte Quelle“.

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sichtspunkte, wenn auch nicht immer hinsichtlich der Art ihrer Behandlung. Insgesamt ist bei Schleiermacher der Wille unverkennbar, Tennemann zu überbieten – d. h. dasselbe zu bieten wie dieser, nur tiefer, ganzheitlicher, eleganter, geistreicher. Zunächst aber sind die Übereinstimmungen zwischen Tennemann und Tiedemann zu registrieren. Ungeachtet der zitierten Betonung des Vorrangs der Dialoge geht Tennemann mit allen fünf Punkten, die ich aus Tiedemann resümierte, konform. Platon hatte nach Tennemann „eine gedoppelte Philosophie, eine äußere und innere oder geheime“19 oder „eine populäre und eine wissenschaftliche Philosophie“;20 er ist überzeugt, daß Platon in seinen Schriften die populäre Form vortrug, nicht die wissenschaftliche;21 „die esoterische Philosophie“ enthielt „sein eigentliches philosophisches System in einer wissenschaftlichern Form und Verbindung“,22 d. h. vollständig und nicht vermischt mit störenden Zusätzen. Quellen dieser Philosophie waren die mündliche Lehrtätigkeit Platons23 sowie für uns heute verlorene Schriften. Als eine solche erscheint wieder ein Werk von Einteilungen, διαιρέσεις, das Aristoteles in De gen. et corr. II 3, 330 b16 zitiere.24 Περὶ φιλοσοφίας hingegen, das Tiedemann als ein Werk Platons ansah, ist in der Geschichte der Philosophie von 1799 richtig als verlorene Schrift des Aristoteles bezeichnet, in welcher dieser jedoch Platons Ansicht „aus jener Handschrift des Plato dargestellt“ habe.25 Simplikios’ Identifizierung von Περὶ φιλοσοφίας und Περὶ τἀγαθοῦ wird akzeptiert. Ob die von Aristoteles Phys. 209 b15 zitierten ἄγραφα δόγματα Platons eine Schrift meinen, oder nur mündliche Äußerungen, ist nach Tennemann unsicher,26 doch tendiert er dazu, sie als Platons (schriftlichen) Leitfaden zu seinem mündlichen Vortrag zu interpretieren27 – die Wendung „jene Handschrift des Plato“ in obigem Zitat meint offenbar dies. Aristoteles’ Bild der platonischen Philosophie wird insgesamt als glaubwürdig angesehen, dies aber beileibe nicht in unkritischer Haltung: z. B. wird Aristoteles’ Unterstellung, Platon habe die Ideen

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Ders.: System I, 137. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 200. Ebd., 200. Ders.: System I, 266. Ders.: System I, 114, ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 200 und 220. Ders.: System I, 114. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 216 Anm. 17. Ders.: System I, 114. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 220.

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hypostasiert, entschieden zurückgewiesen.28 Tennemann ist also durchaus bereit, Aristoteles die Gefolgschaft zu verweigern, wo es um die philosophische Deutung geht; wo er hingegen einen Bericht sieht, trifft er keine Anstalten, Aristoteles’ Zeugniswert zu leugnen oder zu bagatellisieren. Folglich spielt Met. A 6 eine nicht unbeträchtliche Rolle bei ihm, ebenso Met. M 4 und M 9, EN I 4 und Phys. Δ 4.29 Die Übereinstimmung der aristotelischen Angaben mit dem Philebos wird vermerkt,30 ebenso die der platonischen Briefe mit der Schriftkritik im Phaidros, woraus folge, daß ein eventueller Nachweis der Unechtheit der Briefe unser Bild von Platons Einschätzung der Rolle der Schrift nicht verändern könnte.31 Daß die Dialoge und die esoterische Philosophie zwei verschiedene Stufen der Reduktion der Wirklichkeit auf die Prinzipien thematisieren, sagt Tennemann – so weit ich sehe – nicht mit der gleichen Deutlichkeit wie Tiedemann; es ist aber in seiner Gesamtauffassung impliziert, insbesondere wenn er sagt, die esoterische Philosophie habe das System, von dem die Dialoge nur Teile enthalten, vollständig wiedergegeben, und gleichzeitig die Erklärung des Einen als Formprinzip der Ideen nach Met. A 6 dem esoterischen Bereich zuweist.32 Die inhaltliche Interpretation der platonischen ἄγραφα, die detaillierter ist als bei Tiedemann, führt ihn ebenfalls zu der Auffassung, daß die darin enthaltene Theorie „eine Metaphysik oder Ontologie, eine Lehre über das Wesen der Dinge, und ihren Zusammenhang aus Principien“ war.33 Eine Rekonstruktion des „wissenschaftlichen Gliederbaus seines [sc. Platons] Systems“ hält Tennemann zwar für nicht mehr möglich.34 Doch meint er, gewisse Grundzüge glaubhaft machen zu können, nämlich daß Platons „geheime Philosophie“, wie er sie nennt, „ein vollständiges System der Philosophie“ enthielt, d. h. theoretische und praktische Philosophie und die Logik. 35 Was die Methode betrifft, so stützt sich Tennemann vor allem auf die lobende Bemerkung bei Aristoteles (EN I 4, 1095 a31–b2), Platon habe treffend gefragt, ob der Weg von den Prinzipien her, oder zu den Prinzipien hin führe. „Um die Principien zu finden […] verfährt man analytisch nach dem Grundsatz des Grundes“, wenn man hingegen „eine Wis-

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Ders.: System II, 134–142. Ebd., 74f., 122, 154ff., 242. Vgl. etwa ders.: System II, 122. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 214. Ders.: System II, 154f. Ders.: System I, 264. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 217. Ebd., 218, vgl. ders.: System I, 264–265.

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senschaft zustande bringen will“, verfährt man „synthetisch nach dem Grundsatz des Widerspruchs“ – Tennemann hält Platon für den „Erfinder“ beider Methoden, der analytischen wie der synthetischen.36 Im einzelnen behandelte Platon in seiner mündlichen Philosophie nach Tennemann (1) die φύσις τοῦ πρώτου, wobei das Erste das Gute der Politeia gewesen sei, (2) den Grund des Bösen und damit das Verhältnis Gottes zur Welt, folglich (3) „eine Art von Theodicee“, (4) τὰ ἄκρα καὶ πρῶτα τῆς φύσεως, und damit auch eine Metaphysik der Natur (wegen der Nachrichten über die χώρα und das μέγα καὶ μικρόν in der Physik).37 Tennemanns Auslegung von Met. A 6 trägt in Diktion und Tendenz kantianische Züge: „Das höchste Geschlecht der Ideen oder der Vernunftbegriffe ist Einheit, und diese ist also der Charakter, welcher allen Vernunftbegriffen gemeinsam ist“.38 In der weiteren Exegese dieses Gedankens heißt es dann: „Die Vernunft ist also das Vermögen der Einheit, und sie bestimmt durch die Ideen, ihre Begriffe, die Einheit in allen Gegenständen, welche sie denkt“.39 „Die Form der Sinnlichkeit […], die Vielheit oder Mannichfaltigkeit, war dem Plato nicht ganz entgangen“; nur sah er sie mehr als einen Bestandteil der Gegenstände der Sinnlichkeit, „als in der Eigenschaft der Form der Receptivität“.40 Zur Erzeugung der Dinge, der intelligiblen wie der sensiblen, aus der Vereinigung von Einheit und Vielheit nach Met. A 6, bemerkt Tennemann: „so kann auch keine Idee anders als Einheit des Vielen (eines Stoffes) gedacht werden“.41 Wie verträgt sich nun diese weitgehende Berücksichtigung des Aristoteles mit der eingangs erwähnten Versicherung, die Dialoge seien „die einzige reine und ungetrübte Quelle“ für eine Darstellung der Philosophie Platons? Widerspricht Tennemann sich selbst? Keineswegs. Aus dem Vorrang der Dialoge und aus seiner Überzeugung, daß eine Rekonstruktion „des wissenschaftlichen Gliederbaus des Systems“ nicht möglich sei, folgt für ihn nicht, daß wir auf jede Kenntnis des Systems verzichten müssen.42 Denn die Trennlinie zwischen exoterischer und esoterischer Philosophie ist nicht gar so scharf gezogen. Viele Gegenstände der esoterischen Philo-

36 Ders.: System II, 242f. mit Anm. 79, vgl. ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 220. 37 Ebd., 217–218. 38 Ders.: System II, 154. 39 Ebd., 155. 40 Ebd., 160. 41 Ebd., 297. 42 Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 217 u. 221.

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sophie sind auch in den Schriften behandelt, sogar „Theile seines Systems“, wenn auch ohne den systematischen Zusammenhang; insbesondere haben die Schriften „keine andere Principien“.43 Aristoteles mag zwar meist nur zitieren, um zu kritisieren; indes, wenn man unabhängig von ihm erfaßt hat, was Platon meinte, ist er zu verstehen.44 Durch Platon selbst werden „wir auf einige Untersuchungen geführt, die wir in seinen Schriften nicht vorfinden“.45 Aristoteles weist aber in dieselbe Richtung. So kann man es wagen, die „zerrütteten Theile in ihren Zusammenhang wieder zu bringen“.46

4. Tennemanns Fragen von Schleiermacher aufgenommen Bisher habe ich Tennemann vor dem Hintergrund der Tiedemannschen Auffassung vorgestellt. Wichtige Aspekte seines Versuchs, Platons Eigenart zu fassen, sind in dieser Perspektive noch gar nicht zur Sprache gekommen. Deren Betrachtung führt unmittelbar weiter zu einem inhaltlichen Vergleich mit Schleiermachers Einleitung. (1) Tennemann wählt die Schriftkritik vom Schluß des Phaidros zum Ausgangspunkt – er zitiert diesen Text wörtlich über Seiten im System der platonischen Philosophie und in Paraphrase in der Geschichte der Philosophie.47 – Schleiermacher übernimmt die Schriftkritik als Grundstein auch seines Platonbildes, macht freilich einen reichlich selektiven Gebrauch davon. (2) Als Kerngedanken der Schriftkritik hält Tennemann fest, daß nicht nur die Buchstaben tote Zeichen sind, sondern auch die Worte „sprachlos, und immer dem Mißverstehen ausgesetzt“ sind – lebendig ist nur der Gedanke.48 Platon wollte vor allem seine „Schüler zum

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Ebd., 221. Ders.: System I, XXIII. Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 218, vgl. 205. Ebd., 222. Ders.: System I, 129–136, ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 207–214. Ders.: System I, 136. – Daß auch das gesprochene Wort, als ein sprachlich fixiertes, zu einem gewissen Grad von der Schriftkritik mitbetroffen ist und volle Lebendigkeit nur dem verstehenden Nachvollzug des philosophischen Gedankens in der Seele des ‚Lernenden‘ eignet, war also der ‚esoterischen‘ Position von Anfang an bewußt. Es wirkt daher ein wenig hilflos und uninformiert, wenn 200 Jahre danach F. Trabattoni in seinem gegen die esoterische Platonauslegung gerichteten Buch (Scrivere nell’anima. Verità, dialettica e persuasione in Platone. Firenze 1994) just diesen Gedanken seinen Gegnern entgegenhält mit der Unter-

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Selbstdenken gewöhnen“; daher legte er ihnen Probleme vor.49 – Schleiermacher sieht ganz entsprechend in der eigenen lebendigen Gedankenerzeugung durch den Rezipienten das Hauptziel der platonischen Schriftstellerei und den Schlüssel zu ihrer inneren und äußeren Form. (3) Tennemann übt auch Kritik am Phaidros: Platons Schluß, daß ein philosophischer Schriftsteller seine „völlig reine Überzeugung in Schriften weder mittheilen könne noch dürfe“, sei „offenbar übertrieben“ (wenn auch historisch verständlich) und folge nicht aus den Vordersätzen.50– Schleiermacher kritisiert die Schriftkritik in indirekter Weise: er läßt Platon selbst sie kritisieren mit seiner Unterstellung, dieser habe später an das strenge Verdikt aus dem frühen Phaidros selbst nicht mehr geglaubt. (4) Tennemann ist der Meinung, „daß die allgemeinen Regeln einer gesunden Auslegungskunst bei dem Plato nicht zureichend sind“,51 er postuliert also eine besondere Hermeneutik für die Dialoge. – Ebenso ist Schleiermacher überzeugt von Platons „gänzlicher Abweichung“52 von der gewöhnlichen Art, sich mitzuteilen, was der indirekten Mitteilungsform eine hermeneutische Sonderrolle sichert. (5) Tennemann verteidigt Platon gegen den Vorwurf, er sei mehr Dichter als Philosoph; nur selten scheine die „Einbildungskraft den nüchternen Forschungsgeist zu überwältigen“.53 – Schleiermachers Ableh-

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stellung, sie hätten aus Mangel an Einsicht in diese Grundwahrheit eine sprachlich fixierte mündliche Philosophie postuliert, deren Thesen qua ausformulierte doch ebenfalls dem Kriterium autonomer Lebendigkeit nicht genügen könnten. Trabattoni scheint nicht zu sehen, daß die Lücke zwischen sprachlicher Fixierung, die freilich auch ohne Verständnis nachgesprochen werden kann, und lebendigem Verstehen allein im Gespräch offenbar wird und vom Lehrenden – sofern er es im gegebenen Fall für möglich und richtig hält – auch geschlossen werden kann, während beim Lesen dem abwesenden Autor die Kontrolle über die Adäquatheit der Rezeption seiner Gedanken prinzipiell verwehrt ist. Eben dieser Umstand zwingt, wie vor allem der 7. Brief zeigt, zur Zurückhaltung in der Schrift bei bestimmten voraussetzungsreichen Themen, die unter den geeigneten Bedingungen mündlich sehr wohl erörtert werden können (freilich auch dann ohne eine Garantie dafür, daß aus der sprachlichen Fixierung in der Seele des Partners der intendierte Gedanke entsteht – der Fall des Dionysios zeigt, daß auch die mündliche Mitteilung stets mit Risiken behaftet bleibt). Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 200. Ders.: System I, 137, vgl. ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 214. Ders.: System I, 151. Schleiermacher: „Einleitung“, 8. Tennemann: System I, 150.

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nung des Vorwurfs ist subtiler: er weist nicht die Dominanz des Philosophen über den Dichter in Platon nach, sondern postuliert die Einheit von Philosophie und Kunst. Die „Bilder, Vergleichungen, Allegorien, und Mythen“ als „Zusätze der spielenden und dichtenden Phantasie“ sind nach Tennemann notwendig (wohl wegen Phaidros 277 e5ff.).54 – Schleiermacher erklärt die dialogische Form insgesamt für eine notwendige Folge des Hauptgedankens des Phaidros. Tennemann thematisiert die dialogische Form, faßt Platons Schriften als Dramen auf und weiß, daß in ihnen nicht nur geredet, sondern auch gehandelt wird.55 – Schleiermacher sieht seinerseits das Besondere der platonischen Schriften in ihrer Form, von der her der Inhalt erst zu verstehen ist. Tennemann überlegt sich, ob die esoterischen Schriften vielleicht eine andere, nüchternere Form hatten als die Dialoge,56 kommt aber schließlich zu der Vermutung, die „wissenschaftlichen“, d. h. esoterischen Vorträge hätten sich auch der dialogischen Form bedient.57 – Ähnlich finden wir bei Schleiermacher die Vermutung, im mündlichen Unterricht habe Platon seine Gedanken „rein und vollständig“, d. h. systematisch, darlegen können,58 daneben aber auch die empörte Zurückweisung der Vorstellung, der mündliche Unterricht hätte sich der Form des „langen Vortrags“ bedienen können.59 Als vorzüglichste hermeneutische Regel gibt Tennemann, „daß man die Gedanken von ihrer Einkleidung und ihrem äußern Gewande absondere“.60 – Gegen solche Trennung protestiert Schleiermacher, weil sie gegen den notwendigen Zusammenhang von Inhalt und Form verstoße. Tennemann rät auch, sorgfältig zwischen Haupt- und Nebenzwecken eines Dialogs zu unterscheiden.61 – Hiergegen richtet sich wohl Schleiermachers Vorstellung, bei Platon sei oft „die eigentliche Untersuchung mit einer andern, nicht wie mit einem Schleier, sondern

Ebd., 140–141. Ebd., 125. Ebd.,141. Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 200. Schleiermacher: „Einleitung“, 17. Ebd., 15. Tennemann: System I, 154. Ebd., 155.

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wie mit einer angewachsenen Haut überkleidet“62 – auch hier also der Versuch, eine lösbare Verbindung durch eine unlösbare zu ersetzen. (11) Vermeintliche Widersprüche lösen sich nach Tennemann bisweilen durch die Annahme wachsender Einsicht in späteren Dialogen63 – Schleiermacher hingegen glaubt an eine fortschreitende didaktische Verdeutlichung des Gemeinten von Dialog zu Dialog, also ebenfalls an die Korrektur des Früheren durch das Spätere, aber ohne die Annahme von Irrtümern am Anfang. (12) Tennemann bildet seinen Begriff von Esoterik wesentlich im Ausgang vom Phaidros. Obschon er den Pythagoreern, Platon und Aristoteles verschiedene Haltungen zuschreibt, versäumt er es, inhaltlich und terminologisch konsequent zwischen Geheimhaltung und Esoterik zu trennen. Dasselbe gilt für Schleiermacher. Damit sind keineswegs alle Berührungen zwischen Tennemann und Schleiermachers Einleitung aufgeführt – aber die behandelten genügen, um zu zeigen, wie eng sich Schleiermacher an den Vorgänger anschließt und in welcher Richtung er ihn überholen möchte.

5. Charakteristik der Dialogauffassung Schleiermachers Das Besondere und Faszinierende an Schleiermachers Dialogauffassung ist sein Streben nach Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit, nach dem „Inneren“ und dem „Natürlichen“. Seine Methode schätzt Schleiermacher als eine „ganz innere“ ein, im Gegensatz zu der Tennemanns, die „ganz auf äußeren Merkmalen“ beruhe und zu der die seine „ein nothwendiges Gegenstükk“ sei.64 Tennemann spüre der „äußeren Entstehung“ der Dialoge nach, er selbst der „inneren Entwicklung“.65 Schleiermacher will die dialogische Form als „unentbehrlich und natürlich“ für die platonischen Schriften verstehen,66 und in diesen Schriften sucht er einen „natürlichen Zusammenhang“ aufzuzeigen,67 ihre „natürliche Folge“ oder „wahre Ordnung“ zu bestimmen.68 Die beiden großen Probleme der Platonphilologie,

62 63 64 65 66 67 68

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Schleiermacher: „Einleitung“, 16. Tennemann: System I, 158. Schleiermacher: „Einleitung“, 21. Ebd. Ebd., 15. Ebd., 14. Ebd., 17,18.

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nämlich Echtheitskritik und die Etablierung einer gesicherten Chronologie, will Schleiermacher „aus einer gemeinschaftlichen Wurzel“69 lösen, nämlich aus seiner am Inneren orientierten Erkenntnis der „ächt platonischen Form“.70 Tennemann wird zwar mit Respekt behandelt,71 doch liegt allein in dem Umstand, daß Schleiermacher sich zum einzig kompetenten Experten des Inneren aufwirft, schon die hohepriesterliche Geste desjenigen, der sich allen anderen a priori überlegen weiß.72 Das Besondere der Schleiermacherschen Position liegt hingegen nicht in der Leugnung eines Systems Platons, das vielmehr implizit anerkannt wird in der Vorstellung, vor seinen Hörern habe Platon „seine Gedanken rein und vollständig aussprechen“ und „nach einem gemeinschaftlich erzeugten Grundriss regelmäßig ausführen“ können.73 Der erste Teil dieses Zitats ist unmittelbar aus Tennemann genommen,74 während die kreative Kommune um Platon, die den Grundriß „gemeinschaftlich erzeugt“, romantische Zutat des Jüngeren ist. Das Besondere liegt auch nicht in der Leugnung von Esoterik, vielmehr ist deren Grundprinzip, daß es nicht sinnvoll ist, allen alles Wissen zu jeder Zeit und ohne Vorbedingungen zugänglich zu machen, bei Schleiermacher ausdrücklich bewahrt. „Rein und vollständig“ konnte Platon seine Gedanken aussprechen „wenn er erst hinlänglich gewiss war, die Hörer seien ihm nach Wunsch gefolgt“75 – das ist nichts Geringeres als ein klares Bekenntnis zum esoterischen Charakter des platonischen Philosophierens. Das Besondere liegt darin, daß Schleiermacher glaubt, Platon habe die Schrift zu einem Werkzeug seines esoterischen Lehrens gemacht und ihr die Aufgabe der Auswahl der Geeigneten überlassen. Denn durch die Kunstmittel76 der indirekten Mitteilung gelinge es Platon „fast mit Jedem“, seine Ziele zu erreichen,77 nämlich zur eigenen Erzeugung des beab-

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Ebd., 29. Ebd., 29. Ebd., 20f. Hier liegt wohl die historische Wurzel der in den 60er- und 70er-Jahren unseres Jahrhunderts beliebten, inzwischen so gut wie gänzlich ausgestorbenen Manier, die esoterische Position von vornherein und vor jedem sachlichen Argument so recht von oben herab zu behandeln, um die vermeintliche eigene „innere“ Affinität zu Platon schon durch Stil und Sprechhaltung zu unterstreichen. Ebd., 17. Vgl. z. B. Tennemann: System I, 264. Schleiermacher: „Einleitung“, 17. Schleiermacher nennt sie „Künste“: vgl. ebd., 16, 30. Ebd., 16.

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sichtigten Gedankens zu nötigen,78 oder wenigstens die Einbildung von Wissen zu verhindern. Damit wird Esoterik ausdrücklich zu einer „Beschaffenheit des Lesers“, „je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht“.79 Esoterik ist also nicht überwunden, sondern verwandelt, verinnerlicht. Wenig hilfreich ist daher die immer noch häufig propagierte Opposition zwischen Esoterikern und Nichtesoterikern, wo wir es doch in Wirklichkeit nur noch mit zwei Formen von esoterischem Platonverständnis zu tun haben, der textimmanenten oder hermeneutischen Esoterik Schleiermachers und seiner Nachfolger, und der historischen oder textübersteigenden Esoterik, die das Eskamotieren der ἄγραφα δόγματα für eine nutzlose – und irgendwie auch witzlose – Übung hält. Charakteristisch für die Schleiermachersche Position ist ferner, daß in ihr die Schrift fast das gleiche vermag wie das Wort. Subtilität des Ausdrucks kann man Schleiermacher bei dieser Gleichstellung nicht absprechen. Unverfänglich scheint die Feststellung, Platon müsse „gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung jener besseren [sc. der mündlichen] so ähnlich zu machen als möglich“.80 Und großzügig bescheinigt Schleiermacher Platon: „es muss ihm damit auch gelungen sein“. Auf die Absicht einer Annäherung der Schrift an das Wort schließt Schleiermacher aus einem vermuteten Widerspruch oder zumindest einer Spannung zwischen Platons Klagen über die Schwäche der Schrift und seinem fortgesetzten Gebrauch der Schrift – also könne es mit der Schwäche der Schrift nicht so schlimm sein, d. h. die Angleichung an das mündliche Philosophieren muß „gelungen“ sein. Doch worauf soll sich dieses „Ähnlichmachen“ erstrecken? Nach Schleiermacher wollte Platon durch die Schrift „die Seele des Lesers zur eignen Ideenerzeugung nöthigen“,81 und es steht ihm fest, „dass Platon doch auch den noch nicht wissenden Leser wollte zum Wissen bringen“ und ihn vor eingebildetem Wissen bewahren.82 Die Formulierung „doch auch“ verrät, daß Schleiermacher sich bewußt ist, über den Text hinauszugehen: geschriebene Logoi können nach der Schriftkritik nicht mehr, als den schon Wissenden erinnern, wovon das Geschriebene handelt (Phdr. 275 d1–2: τὸν εἰδότα ὑπομνῆσαι περὶ ὧ ἂν ᾖ τὰ γεγραμμένα); der Wissende verfertigt seine schriftlichen Adonisgärten als Erinnerungshilfen (ὑπομνήματα) für sein vergeßliches Alter, sowie für Gleichgesinnte (276 d3–4); denn sogar die besten der geschriebenen Logoi sind nur 78 79 80 81 82

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Ebd., 30, 34. Ebd., 17. Ebd., 15. Ebd., 30, vgl. 34. Ebd., 16.

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εἰδότων ὑπόμνησις (278 a1), während lebendige Lehre und Lernen den gesprochenen Logoi vorbehalten ist (278 a2–5, vgl. 275 a7 und 276 a8). Geschriebene Logoi sind für Platon ἀδύνατοι ἱκανῶς τἀληθῆ διδάξαι (276 c9), während Schleiermacher mit seiner Vorstellung einer fortlaufenden didaktischen Reihe der Dialoge, in der der spätere Dialog auf dem nur erschlossenen Ergebnis des vorherigen als auf seiner Grundlage aufbaut,83 unzweifelhaft voraussetzt, daß solch „hinreichendes“ Lehren schriftlich möglich ist und von Platon angestrebt war. Hier haben wir also die entscheidende Diskrepanz zwischen Schleiermacher und Platon: was der eine allein dem Mündlichen zutraut, supponiert der andere als selbstverständliche Wirkungsabsicht des Geschriebenen.84 Es ist, als wolle Schleiermacher die von ihm vielleicht doch gespürte Diskrepanz wieder beseitigen, wenn er „die Herabsezung des Schreibens“ nicht sonderlich hoch veranschlagt, vielmehr versichert, sie sei „zu verstehen als Rechtfertigung des Sokrates über sein Nichtschreiben, und als Begeisterung von seiner Lehrart, welcher in Schriften ähnlich zu werden Platon damals noch verzweifelte, es aber hernach doch lernte und nicht damit endigte, an eine so weitgehende Unmittheilbarkeit der Philosophie zu glauben“.85 „Damals noch“: d. h. ganz am Anfang von Platons Laufbahn als Schriftsteller. Die Kritik der Schriftlichkeit ist hier nicht erkannt als

83 Ebd., 17: „... so folgt, dass es eine natürliche Folge und eine nothwendige Beziehung dieser Gespräche aufeinander geben muss. Denn weiter fortschreiten kann er (sc. Platon) doch nicht in einem andern Gespräch, wenn er nicht die in einem früheren beabsichtigte Wirkung als erreicht voraussezt, so dass dasselbe, was als Ende des einen ergänzt wird, auch muss als Anfang und Grund eines andern vorausgesezt werden“. 84 Zu denen, die die Diskrepanz zwischen der platonischen und der Schleiermacherschen Auffassung klar gesehen haben, gehört auch Friedrich Nietzsche. In seiner Vorlesung vom Wintersemester 1871/72 bringt er Schleiermachers Deutung auf den Punkt: in ihr ist die Schrift „das zweitbeste Mittel, den nicht Wissenden zum Wissen zu bringen“. Anders die Vorlage: „Plato sagt, nur für den Wissenden, als Erinnerungsmittel, habe die Schrift ihre Bedeutung.“ So steht denn Schleiermachers „ganze Hypothese im Widerspruch zu der Erklärung im Phädrus und ist durch eine falsche Interpretation befürwortet“ (Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Hg. v. Richard u. Max Oehler, Friedrich C. Würzbach, Band IV. München 1921, 370f. [= Friedrich Nietzsche: Werke, Band XIX, Dritte Abteilung: Philologica, Band III: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie. Hg. v. Otto Crusius u. Wilhelm Nestle. Leipzig 1913. Darin S. 235– 304: „Einführung in das Studium der platonischen Dialoge“ ,hier: 240]. 85 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung zum Phaidros“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 21817, 75 [= Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 52].

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eine der bleibenden philosophischen Leistungen Platons – sie ist die erste prinzipielle Reflexion auf die Medien der Erkenntnisvermittlung –, sondern psychologisierend verharmlost als Ausfluß der Verzagtheit des noch jungen Autors. Später, als Platon besser wurde, habe er an seine eigene Schriftkritik nicht mehr geglaubt, weil ja auch der Grund dafür inzwischen weggefallen sei: wieder sehen wir die Grundüberzeugung Schleiermachers, daß die Schrift durchaus leisten kann, was nach Platon nur das lebendige Wort kann. Überdies ist hier, ganz gegen die hochgemute Selbstinterpretation des Autors, etwas „Inneres“ in ein „Äußeres“ umgedeutet: die prinzipielle Reflexion auf das Wesen des Mediums Schrift in eine temporäre und akzidentelle Anwandlung eines bestimmten Autors.86 Und wie temporär war diese Anwandlung nun? Schleiermacher sagt nichts dazu. Daß schon die frühesten Dialoge unter der Schriftkonzeption stehen, die im späten Phaidros explizit wird, habe ich anderswo zu zeigen versucht.87 Daß auch der ganz späte Platon hierin nichts modifizierte, zeigt sein letztes Werk, die Nomoi: auf deren vorletzter Seite werden wir daran erinnert, daß es Dinge gibt, die zwar nicht geheim, ἀπόρρητα, sind, wohl aber ἀπρόρρητα, nicht vorzeitig mitteilbar, weil sie vorzeitig mitgeteilt nichts klar machen würden (Nom. 968 e2–5). Das war Platons Begriff von Esoterik schon im Charmides.88 Schleiermacher blieb er unbekannt.

86 Schleiermacher bietet also eine biographische oder „entwicklungsgeschichtliche“ Variante des Versuchs, die Dialoge von der Schriftkritik auszunehmen. Die im 20. Jh. beliebte Erklärung, die eigenen Dialoge seien prinzipiell immun gegen Platons Kritik, weil sie keine συγγράμματα seien, steht im Widerspruch zum griechischen Sprachgebrauch (vgl. meine Zusammenstellung aller Belege zu σύγγραμμα bis auf Platon in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 376–385). Daß Platon gerade auch das eigene Schreiben thematisiert, sprach schon Paul Natorp aus: „Aber auch der ganze Zusammenhang beweist, daß von seiner [sc. Platons] Schriftstellerthätigkeit, wie andererseits von seiner Lehrthätigkeit die Rede ist“ (Paul Natorp: Platons Phädros. In: Philologus 48 (1889), 428–449, 583–628, hier: 443). 87 Vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I. 88 Das φάρμακον, das Sokrates für das Leiden des Charmides bereit hält, würde nichts nützen ohne die ἐπῳδή (Cha. 155 e): d. h. das φάρμακον ist ein ἀπρόρρητον, das nur nach angemessener Vorbereitung des Rezipienten weitergegeben werden kann. Zur näheren Begründung dieser Auslegung vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 127–150.

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6. Was sonst noch fehlt in Schleiermachers „Einleitung“ (1) Unbekannt blieb Schleiermacher ferner auch die aristotelische Kritik der platonischen Prinzipientheorie. Zwar erwähnt er, daß bei Aristoteles „hie und da andere verlorene oder vielleicht mündliche Belehrungen angeführt werden“,89 doch fehlt der Versuch, diese Angaben zu prüfen und auszuwerten. Wenn es dann weiter heißt, sie enthielten „keineswegs etwas in unseren Schriften unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes“, so liegt der Verdacht nahe, daß Schleiermacher nicht nur Metaphysik A 6 und 9, M und N, Physik Δ 4 usw. nicht kennt, sondern selbst deren Auswertung bei Tennemann nur en passant zur Kenntnis genommen und dann mehr überschlagen, als wirklich studiert hat. Denn wer könnte, wenn er die Testimonien über die drei οὐσίαι Platons, über die Zwischenstellung der mathematischen Gegenstände, über das Eine als das Gute und die Unbestimmte Zweiheit als Materieprinzip von allem, auch der Ideen, gelesen hat, nach dieser Lektüre noch sagen, all dies sei bestens bekannt aus den Dialogen? (2) Es fehlt auch eine Berücksichtigung der Briefe, was nach Tennemanns Gebrauch dieser Texte mehr als befremdlich ist. Wenn Schleiermacher die Existenz „ächt geschichtlicher Spuren“ leugnet, die auf einen „Unterschied des esoterischen und exoterischen bei Platon“ deuten würden,90 so durfte der Leser auch im Jahre 1804 verwundert fragen, wie es denn mit der Echtheit des 2. und 7. Briefes stehe,91 und, wenn diese unecht sein sollten, wie es zu solch seltsamer Legendenbildung über die Zurückhaltung philosophischen Wissens kommen konnte, und warum gerade bei Platon, wenn er doch nichts mit Esoterik zu schaffen hatte. Oder Schleiermacher hätte den aussichtslosen Versuch des 20. Jahrhunderts, den 7. Brief antiesoterisch lesen zu wollen, antizipieren müssen. Wie es scheint, wurde ihm nicht einmal bewußt, daß hier ein Problem liegt. (3) Es fehlt aber auch – und das ist vielleicht das Seltsamste – eine wirkliche Interpretation der Schriftkritik, aus der Schleiermachers Paraphrase92 vielmehr nur einige Hauptgesichtspunkte herauszieht. Wir fin-

89 Schleiermacher: „Einleitung“, 13. 90 Ebd., 12. 91 Die Echtheit des 2. Briefes wird heute kaum mehr verteidigt; umgekehrt ist ein überzeugender Beweis der Unechtheit des 7. Briefes trotz zahlreicher scharfsinniger Versuche bis heute nicht gelungen. 92 Schleiermacher: „Einleitung“, 14f.

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den keinen Versuch, etwa das Gleichnis vom Bauern auszulegen, oder den leitenden Begriff der Schriftkritik – er heißt bekanntlich βοηθεῖν τῷ λόγῳ93 – zu bestimmen, oder ihn gar am Ganzen des Dialogs zu verfolgen, oder zu fragen, was eigentlich τιμιώτερα bedeutet, hier im Schlußteil des Phaidros, im selben Dialog vor der Schriftkritik oder anderswo bei Platon. Wer nun meint, das gehöre nicht in die GesamtEinleitung, und daher in der Einleitung zum Phaidros danach sucht, wird sich gleichfalls enttäuscht sehen. (4) Es fehlt aber nicht, so möchte man nunmehr zur Verteidigung Schleiermachers annehmen, eine „kritische Sichtung“ der Vorstellungen von Esoterik und Exoterik. Leider ist das, was als solche angeboten wird,94 so unkritisch und oberflächlich wie nur denkbar. Von den Motiven platonischer Esoterik, die Tennemann geltend gemacht hatte, bleibt bei Schleiermacher nur die Angst des Autors, mit seinen philosophischen Ansichten in der Öffentlichkeit Anstoß zu erregen, was dann in sehr polemischer Weise, aber ohne wirkliches Gegenargument abgetan wird.95 Vergessen ist, daß Tennemann sehr zu Recht auch die Achtung vor den behandelten Gegenständen anführte, ferner das Bedenken, durch Mitteilung an Unvorgebildete und Unwürdige der Sache der Philosophie zu schaden (was beides dem 7. Brief, er mag nun echt sein oder nicht, als Beitrag zur Sache zu entnehmen ist: 344 d7 und 341 e3–342 a1), und schließlich auch die wichtige, aus dem Phaidros (275 e) gewonnene Beobachtung, daß es Platon offenbar nicht gleichgültig war, in wessen Hände seine Bücher gelangten. (5) Ebenso deutlich ist der Rückschritt gegenüber Tennemann in der Frage der Aussparungsstellen: während dieser wenigstens einen Anfang gemacht hat mit Aufweis und Analyse von Verweisen über die Dialoge hinaus,96 fehlt dieser auffällige Zug der Dialoge in Schleiermachers Einleitung gänzlich. Dabei wäre ein Weiterschreiten auf dem von Tennemann gewiesenen Weg gewiß nicht außerhalb von Schleiermachers Möglichkeiten gewesen, wie seine Behandlung wenigstens einer bestimmten Aussparungsstelle, nämlich von Politeia 435 d, deutlich

93 Zu den Implikationen dieses Begriffs vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, bes. 7–48, 66–71, sowie: ders.: Was heißt „dem Logos zu Hilfe kommen“? Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Understanding the Phaedrus. Proceedings of the II Symposium Platonicum. Hg. v. Livio Rossetti. Sankt Augustin 1992, 93–107. 94 Schleiermacher: „Einleitung“, 11–13. 95 Vgl. ebd., 12. 96 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 219.

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genug zeigt. In der Einleitung zu diesem Dialog weist er mit Nachdruck hin auf „die nicht zu übersehende sehr bedeutende Aeusserung, daß eine recht genaue und gründliche Erkenntnis von der Seele bei diesem Verfahren nicht zu erlangen sei“,97 ohne jedoch die positive Möglichkeit der μακροτέρα ὁδός zu erläutern. Dies holt er in der Anmerkung zur Stelle nach: Platons „genauere aber weitere und grössere Methode“ weist für Schleiermacher weder auf andere Dialoge, noch redet Platon „von diesem reineren und genaueren Verfahren als einem das ihm fremd sei“; zur Abfassungszeit der Politeia hatte Platon „schon seine ganze Wissenschaft […] in seinen mündlichen Vorträgen entwikkelt“; daraus folgt: „seine eigentlichen Schüler also verstanden ihn auch hier ganz, und wussten wo die vollkommnere Methode einheimisch sei“.98 Wenn diese erste Aussparungsstelle „sehr bedeutend“ und „nicht zu übersehen“ ist und anstandslos mit Tennemann auf Platons mündliches Philosophieren gedeutet wird, wenn also der Hierophant des „Inneren“ die Verweisung auf etwas außerhalb des Dialogs Liegendes einräumten konnte, wie kam es dann, daß derselbe Schleiermacher die übrigen, ebenso klaren Aussparungsstellen der Politeia entweder ganz übersah oder doch ihre Bedeutung nicht erkannte? Dies bleibt ein Rätsel (sofern man nicht mechanische Abhängigkeit von Tennemann, der loc. cit. gleichfalls aus der Politeia nur diese Stelle anführt, als Grund anerkennen will). Tatsache ist, daß Schleiermacher schon die nächste Aussparungstelle, den Verzicht auf eine Bestimmung des Wesens der Idee des Guten im vorliegenden Gespräch (Politeia 506 de), nicht mehr als Verweis auf den mündlichen Bereich erkennt („die befriedigende Behandlung desselben [sc. des Guten] wird an ich weiß nicht was für einen noch weit herrlicheren Ort gewiesen“),99 während zu 509 c, 533 a und 611 b–612 a nicht einmal die Verweisung als solche registriert wird.

7. Anspruch und Wirklichkeit (1) Die Schleiermachersche Dialogauffassung tritt mit einem dreifachen Anspruch auf: die Erkenntnis der „ächt platonischen Form“ soll (a)

97 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Hg.): Platons Werke. Dritten Theiles erster Band. Berlin 21862, 22. 98 Ebd., 356. 99 Ebd., 28.

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die Frage des „natürlichen Zusammenhangs“ der Dialoge lösen, also ihrer didaktischen Abfolge, die zugleich eine chronologische ist,100 ineins damit auch (b) die Frage der Echtheit, und ebenso auch (c) das Problem der Esoterik, die nun zur inneren Esoterik der Dialogform wird. (a) Mit dem ersten Erkenntnisziel ist Schleiermacher spektakulär gescheitert: er glaubt nicht nur „unwiderruflich“101 erwiesen zu haben, daß der Phaidros das früheste Werk Platons ist, er ist sich auch sicher, daß die Politeia mit Timaios, Kritias und Nomoi zu den spätesten Werken gehört;102 zu meinen, vorbereitende Werke wie Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos seien nach der Politeia, aber vor dem Timaios geschrieben – also die Ordnung der heutigen communis opinio – wäre für ihn „so unplatonisch als nur etwas gesagt werden kann“ und verriete „gröbste Unbekanntschaft mit jenen vorbereitenden Werken“.103 Man könnte Schleiermacher verteidigen mit dem Argument, er suche nicht eine Chronologie zu etablieren, sondern den Zusammenhang der platonischen Gedankenentwicklung zurückzugewinnen, habe also ein anderes Erkenntnisinteresse, weswegen die notwendige Korrektur seiner Chronologie gar nichts gegen seine „natürliche Folge“ beweise. Ich würde dieser Verteidigung zustimmen, hätte nicht Schleiermacher selbst mit Nachdruck versichert, daß chronologische und „natürliche“ Ordnung sich gegenseitig stützen und „durch herrschende Übereinstimmung ihre Wahrheit gegenseitig am besten bestätigen“.104 (b) Was die Echtheit betrifft, so hat Schleiermacher beispielweise vier Seiten gegen den Großen Alkibiades, die durchaus überzeugend sind105 – aber vergessen wir nicht, daß Paul Friedländer, dem man feines Gespür für die platonische Form schwerlich absprechen kann, diesen Dialog leidenschaftlich verteidigt hat.106 Das Problem scheint nicht in der mangelnden Kompe-

100 Schleiermacher: „Einleitung“, 21, 30. 101 Schleiermacher: „Einleitung zum Phaidros“, 67 [Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 47]. 102 Ders.: „Einleitung“, 32. 103 Ebd., 33. 104 Ebd., 21, vgl. 30. 105 Ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band. Berlin 21818, 365–368. 106 Vgl. Paul Friedländer: Der Große Alcibiades. Ein Weg zu Platon. Bonn 1921. II. Teil: Kritische Erörterung. Bonn 1923.

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tenz eines der beiden Interpreten zu liegen, sondern eher in der mangelnden Eignung des Kriteriums für Fragen dieser Art. Nimmt man hinzu, daß Schleiermacher auch den Ion und den Kleinen Hippias verwirft,107 so wird klar, daß seine „ganz innere“ Methode auch ihrem zweiten Anspruch nicht gerecht werden kann. Was schließlich die Esoterik betrifft, so ist zu sagen, daß es von vornherein eine nicht sehr glückliche Idee war, dieses Problem ausgerechnet von der inneren Form her lösen zu wollen. Konrad Gaiser hat klar gesehen, daß sich die „innere Esoterik“ der Dialogform (bzw. der indirekten Mitteilung) bestens verträgt mit der Annahme einer historischen, dialogübersteigenden Esoterik.108 Gaiser war, was seine Gewichtung der Mittel der indirekten Mitteilung anlangt, selbst Schleiermacherianer, und dies ohne Widerspruch. Denn die „Tübinger“ Position, die er vertrat, ist nun einmal die hermeneutisch umfassendere Position, und kann die dialogimmanente Esoterik ohne Schaden zu nehmen integrieren. Man muß nur darauf verzichten, diese „innere“ Esoterik zur Waffe gegen die historische aufwerten zu wollen. Dazu eignet sie sich nun einmal nicht. Ein Argument gegen die historisch bezeugte Esoterik Platons ergäbe sich aus der Dialogform nur, wenn man aus der Möglichkeit, mittels der indirekten, andeutenden Mitteilung gewisse Inhalte weiterzugeben, ohne sie offen auszusprechen, einen Zwang für den Autor machen wollte, alles, was er denkend erarbeitet hat, auf diese Weise verhüllt schriftlich niederzulegen. Ohne diese sachlich widersinnige Umwandlung des Gedankens bleibt dem Autor die Freiheit, neben der schriftlich andeutenden Erkenntnisvermittlung, die esoterisches Lesen verlangt, auch noch eine tatsächliche Limitierung der philosophischen Mitteilung zu betreiben, die dann nur vor einem inneren Kreis von Vorgebildeten aufgehoben wird. Wie schon Tennemann formulierte: „Plato bediente sich desselben Rechts, welches jedem Denker zusteht, von seinen Entdeckungen nur so viel, als er für gut fand, und nur denen mitzutheilen, welchen er Empfänglichkeit zutraute“.109 Platon dieses Recht und diese Möglichkeit abzuspre-

107 Schleiermacher. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band, 267, 296. 108 Konrad Gaiser: Platone come scrittore filosofico. Napoli 1984, 31–54, bes. 54. 109 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 220.

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chen, nur weil er mitunter andeutend oder in Rätseln spricht, ist Willkür. Wenn diese Willkür vollends mit dem Ignorieren der Aussparungsstellen und der indirekten Überlieferung zu bezahlen ist, so scheint dieser freiwillige Verlust gesunder Methode nur aus tiefsitzenden Vorurteilen heraus erklärbar. (2) Inhalt und Form sind nicht zu trennen, so hören wir von Schleiermacher.110 Aber Tennemann hatte zweifellos Recht mit dem Hinweis, daß Platon selbst die Ablösbarkeit des Inhalts von der Form andeutet.111 Das Theorem von den drei Seelenteilen etwa besitzen wir in dialogisch argumentierender Darstellung im 4. Buch der Politeia, im mythischen Bild vom Seelenwagen, monologisch vorgetragen, im Phaidros, und wiederum im Rahmen eines ganz anderen „Mythos“ als Geschichte vom Anbau der sterblichen Seelenteile an die Denkseele durch die Untergötter im Timaios. Wer in diesen drei Texten ein und dasselbe Theorem sieht, und das taten bisher alle Kenner, hat bereits Form und Inhalt getrennt. Und Platon deutet an, daß die Frage der Seelenteile auch noch ganz anders diskutiert werden könnte (Politeia 435 b, 611 b–612 a, Phdr. 246 a). „Form und Inhalt sind unzertrennlich“ – da hätte man erwartet, daß Schleiermacher selbst interpretierend jeweils Form und Inhalt innig verknüpft und uns die dramatische Form und Technik Platons im einzelnen besser verstehen lehrt. Man wird aber beim besten Willen nicht sagen können, er habe viel getan für die Analyse der dramatischen Technik der Dialoge. Und Fehlurteile im einzelnen lassen vermuten, daß er damit nicht weit gekommen wäre, hätte er es versucht. Ein einziges Beispiel mag genügen. Der Charakter des Phaidros, sagt Schleiermacher,112 trage nichts bei für das Gespräch. Das wäre nun freilich dürftige dramatische Kunst auf Seiten Platons, wenn es wahr wäre. Indes wird man sich eine krassere Fehleinschätzung dieses Dialogs schwer ausdenken können.113 Auch diagnostiziert Schleiermacher „Unvollkommenheit in jener indirekten Führung des Gesprächs, welche die eigentliche Meisterschaft des Platon ausmacht“ – offenbar mag er „den geraden ungestörten Gang der lezten Hälfte“ nicht:114 das Geradlinige bei Platon, wovon es nicht wenig gibt, als unvollkommene

110 Vgl. Schleiermacher: „Einleitung“, 14. 111 Vgl. Tennemann: System I, 154. 112 Schleiermacher (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band, 71 [Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 49f.]. 113 Vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 24–30, 44. 114 Schleiermacher (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band, 76 [Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 53].

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Indirektheit einzustufen, wird man, bei allem Respekt vor dem großen Mann, kaum noch als ernstzunehmende Interpretation gelten lassen können. Ist also Schleiermachers „Einleitung“ ein hermeneutisches Meisterwerk? In gewissem Sinne wohl, wegen der monomanen Betonung der Funktion der Form und ihrer Bedeutung für den Inhalt. Aber das Verständnis dieser Form hat Schleiermacher nicht überall gefördert, die Verbindung mit dem Inhalt nicht immer gesehen. Nimmt man die zahlreichen Rückschritte gegenüber Tennemann hinzu, so sinkt der Enthusiasmus über das Meisterwerk erheblich. Ist also Schleiermacher entbehrlich? Das gewiß nicht. Die Einheit von Inhalt und Form ist festzuhalten. Hiervon ausgehend, ist die von Schleiermacher nicht geleistete Morphologie des platonischen Dialogs und die Analyse seiner dramatischen Technik zu erarbeiten.115 Dann zeigt sich, daß die Dialoge konsistent über sich hinausweisen und auf Hilfe durch den πατὴρ τοῦ λόγου angelegt sind – auf mündliche Hilfe aus jenem Bereich des Esoterischen, den der junge Schleiermacher mutwillig eskamotieren wollte.116 Es gilt zu sehen, daß Platons Mimesis in den Dialogen eben dies abbildet: die am Bildungsstand des jeweiligen Adressaten orientierte, und das heißt esoterische Art der Erkenntnisvermittlung. So wie Platon aus Platon zu erklären ist, so Schleiermacher durch Schleiermacher zu überwinden: der modisch antiesoterische Schleiermacher durch den Formanalytiker Schleiermacher, der er δυνάμει, wenn auch nicht ἐνεργείᾳ, war. Korrekturzusatz (Oktober 1996)

Zweieinhalb Jahre nach Fertigstellung des Manuskripts besteht Anlaß zu zwei ergänzenden Hinweisen. (1) Nach Ansicht mancher hat Schleiermachers Dialogauffassung keinen Einfluß auf die Platoninterpretation im angelsächsischen Bereich gehabt. Selbst wenn das zuträfe, wäre noch nicht zu sehen, inwiefern sich daraus ein Argument gegen die Beschäftigung mit Schleiermacher ergeben soll. Daß die genannte Ansicht aber dem historischen Befund kaum noch ge115 Überlegungen und Beobachtungen zu diesen Aufgaben finden sich in Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Stuttgart 1993, bes. 22–38, 77–85 und 117–147. 116 Schleiermachers Anerkennung des esoterischen Charakters des platonischen mündlichen Philosophierens (vgl. 476 mit Anm. 75) muß angesichts der Grundintention der „Einleitung“, die historische Esoterik in eine textimmanente ‚innere‘ Esoterik zu verwandeln, als ein eher unfreiwilliges Zugeständnis an Tennemann gewertet werden.

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recht werden dürfte, kann schon folgende noch ganz provisorische Zusammenstellung von Daten zeigen. Nur zwei Jahre nach Schleiermachers Tod lag bereits eine vollständige Übersetzung seiner Einleitungen zu den platonischen Dialogen ins Englische vor (transl. by W. Dobson, Cambridge – London 1836). Diese Übersetzung wurde nicht etwa vergessen oder übergangen, noch 1973 wurde sie in vollem Umfang nachgedruckt (Arno Press, New York). (Mit einer leichten Kürzung am Anfang wurde Schleiermachers programmatische Einleitung zum Gesamtwerk auch von B. Gross (ed.), The Great Thinkers on Plato, New York 1986, 64–92 dem englischsprachigen Leser in Erinnerung gerufen.) Ein halbes Jahrhundert nach Dobsons Übersetzung promovierte Paul Shorey in München mit einer Arbeit, die sich engagiert in die Linie der von Schleiermacher herkommenden antiesoterischen Platonauslegung stellte. In den folgenden Jahrzehnten wurde Shorey, wie man weiß, zum eigentlichen Archegeten der amerikanischen Platonstudien und wirkte nicht zuletzt durch den rabiaten Antiesoterismus seines Schülers H. Cherniss weiter. Doch auch seine eigene Münchner Dissertation von 1884 blieb nicht auf die lateinische Originalfassung beschränkt, sondern erfuhr erneute Verbreitung, jetzt in englischer Übersetzung, in Band 2 (1983) der Zeitschrift „Ancient Philosophy“ („A Dissertation on Plato’s Theory of Forms and on the Concepts of the Human Mind“, pp. 1–59). Der kaum zu überschätzende Einfluß von Shorey und Cherniss wurde noch erheblich verstärkt durch die Emigranten aus dem deutschen Sprachraum, denen eine z. T. überaus fruchtbare akademische Lehrtätigkeit im Amerika der Nachkriegszeit vergönnt war: Ich denke an Gelehrte wie Ludwig Edelstein, Philipp Merlan, Paul Friedländer, Friedrich Solmsen, Kurt von Fritz, Jacob Klein und nicht zuletzt Leo Strauss (der eine ganze ‚Schule‘ von Platoninterpreten hinterließ) – sie alle hatten ihr Platonbild in den 20er und frühen 30er Jahren geformt, natürlich im Geist der damals in Deutschland maßgebenden Ausrichtung an Schleiermacher. Daß dieser Traditionszweig nicht etwa an Wirkungskraft verloren hat, sondern sich jetzt erst seinem Höhepunkt nähert, dürfte jedem Kenner klar sein. Aus England sei nur die repräsentative „History of Greek Philosophy“ von W. K. C. Guthrie erwähnt, deren leitende Dialogauffassung ausgerechnet in einer Formulierung von Hermann Gundert wiedergegeben ist (vol. IV, 1975, 64 f.), der seinerseits als Exponent der deutschen Schleiermacher-Nachfolge in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen ist. – Nimmt man diese Hinweise zusammen, so kann man sich nur wundern über D. Fredes Ansicht, im angelsächsischen Bereich habe man „Schleiermachers Auffassung allenfalls zur Kenntnis genommen“ („Die wundersame Wandelbarkeit der Philosophie in der Gegenwart“, in: E.-R. Schwinge (Hrsg.), Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2.

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Jahrtausends n. Chr., Stuttgart 1995, 31). – Eine umfassende ideengeschichtliche Aufarbeitung der Platon- und damit auch der SchleiermacherRezeption in Amerika wäre eine lohnende Aufgabe. (2) Noch befremdlicher ist die Ansicht P. M. Steiners, Schleiermacher habe nicht über eine Theorie des platonischen Dialogs verfügt („Zur Kontroverse um Schleiermachers Platon“, in F. D. E. Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hrsgg. und eingel. von P. M. Steiner, Hamburg 1996, S. XXIII–XLIV). Von einem, der diese Ansicht vertritt, würde man erwarten, daß er Schleiermachers Äußerungen über die Kunstmittel (oder ‚Künste‘) der platonischen Darstellung, über die indirekte Mitteilung, über Platons Wirkungsabsichten und ihren Erfolg, und nicht zuletzt auch über die Begriffe ‚esoterisch‘ und ‚exoterisch‘ zitiert und Schritt für Schritt analysiert. Leider ist davon bei Steiner nichts zu finden. Da Steiners Leugnung einer Dialogtheorie bei Schleiermacher ferner speziell gegen meine Auslegung gerichtet zu sein scheint (vgl. XXXIII ff.), hätte man erwartet, daß er wenigstens meine Analyse der betreffenden Stellen bei Schleiermacher referiert und Punkt für Punkt erörtert. Auch dazu findet sich nicht einmal ein Ansatz: meine ausführlichere Darstellung in „Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie“ 1985, 331–375, bes. 364 ff. scheint Steiner unbekannt geblieben zu sein, während die kürzere Darstellung in „Platon lesen“ (1993) zwar erwähnt, aber nicht mit ihren Argumenten vorgestellt wird. So kann die ‚Widerlegung‘ dann leicht und bündig erfolgen (XL). Ob das wohl die fällige Auseinandersetzung um Schleiermachers Hermeneutik wirklich ersetzen kann? Steiners Verzicht auf genauere Unterscheidungen bei gleichzeitiger pauschaler Polemik gegen „die Tübinger“ sowie seine zahlreichen Fehlinformationen über die Gegner (z. B. XXXV: die esoterische Interpretation werde „von den Tübingern häufig mit der neuplatonischen identifiziert“) lassen den Verdacht aufkommen, daß statt einer argumentativen Auseinandersetzung vielmehr eine Neuauflage der emotional geschürten Abwehrreflexe der 60er Jahre auf uns zukommt.

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1.

Schleiermachers berühmte Übersetzung der Dialoge Platons, die noch heute nachgedruckt und benützt wird, blieb bekanntlich unvollständig: es fehlen die Nomoi, der Timaios, das Kritias-Fragment und die Briefe. Doppelt unvollständig blieb dann auch seine Detailbeschäftigung mit platonischen Problemen: denn diese erfolgte in Form von Einleitungen und Erläuterungen zu den übersetzten Dialogen, unterblieb also für die genannten Werke, und die Erläuterungen waren von vornherein nicht als umfassende Kommentare gedacht, wozu Schleiermacher bei seinem Beruf als Prediger wohl auch nicht die Zeit gehabt hätte; sie blieben also selektiv. Schleiermacher war nicht Philologe (auch wenn er das Fach in Halle zwei Jahre studiert hatte), und er war von Beruf nicht Philosophiehistoriker. Nimmt man diese Punkte zusammen, so gewinnt man rückblickend den Eindruck, daß die Bedingungen, unter denen Schleiermachers Übersetzungswerk stand, nicht eben die optimalen waren, um dem Unternehmen einen nachhaltigen Einfluß zu sichern. Doch gerade das ist eingetreten. Die Art, wie Schleiermacher an die Dialoge übersetzend, einleitend und erläuternd heranging, hat einen weit größeren Einfluß auf das Platonbild der Folgezeit, und zwar bis zum heutigen Tag, gehabt als die Arbeit der Philologen und Philosophiehistoriker vor oder nach ihm. Überschwengliche Urteile über seine Leistung wurden schon kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes (1804) gefällt und mehrten sich um die Mitte des 19. Jh. Seitdem gilt es als ausgemacht, daß Schleiermacher in der Platondeutung Epoche gemacht hat. Daß das nichts Geringes ist, dürfte evident sein. Platon als der sprachlich und künstlerisch genialste Prosaautor der Antike (einer Epoche, die zu Schleiermachers Zeit noch als verbindlich, als klassisch galt), der zugleich inhaltlich von allen antiken Autoren die wichtigste Botschaft zu vermitteln hatte, zog von jeher eine Unzahl von Interpreten an. In dieser Atmosphäre der steten internationalen Bemühung um Platon nach langer Zeit der Gleichförmigkeit eine neue Zugangsart eröffnet zu haben, die noch dazu für fast zwei Jahrhunderte wegweisend bleiben sollte, ist eine Leistung, die für sich genommen schon ausgereicht hätte, um einen Generationen

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überdauernden Ruhm zu begründen. Für Schleiermacher war das nur eine von mehreren überragenden Leistungen. Hier einige Beispiele für den hohen Ton, in dem man schon bald von ihm redete. August Boeckh, der damals noch junge, später sich als immens vielseitig und scharfsichtig erweisende Philologe, schrieb 1808 in Antizipation der Vollendung von Schleiermachers Übersetzung: „einen ächten Platon wird unsere Nation vollständig aufzuweisen haben, wie keine ihn hat, noch jemals haben wird. Lasset uns stolz darauf sein für uns, wenn auch die Fremden darauf nicht achten sollten: denn welche Nation vermöchte wohl, wie wir, den Hellenischen Weisen zu verstehen?“1 Friedrich Ueberweg tadelte 1861 den Philologen Karl Friedrich Hermann, der neben hochtönendem Lob auch ziemlich strenge, aber sachhaltige Kritik an Schleiermacher geäußert hatte,2 folgendermaßen: „ja, mit dürren Worten wirft Hermann seinem großen Vorgänger in der Platonischen Forschung nicht etwa nur „Fehlgriffe“, sondern auch „Trugschlüsse und Verdrehungen“ vor. ...Dies also ist das Bild, das wir uns von Schleiermacher’s Persönlichkeit entwerfen sollen? Müssen wir so den Mann verurtheilen sehen, den wir als eine Zierde unserer Nation zu verehren gewohnt waren...?“3 Und Heinrich von Stein meinte 1862, Schleiermacher habe „so gut wie zuerst den Schlüssel zur vollen Erkenntniss des ganzen Plato gefunden“, er erreiche „ein so vollständiges Wiedereintreten in die platonischen Voraussetzungen, wie wir es – abgesehen von ... Schelling – nicht zum zweiten Male in der neuesten Philosophie gefunden haben“, und erklärte rundheraus „jenen Grundgedanken von Schleiermacher für das Epoche machendste Ereignis, welches in dem Verständniss der platonischen Schriften eingetreten ist, seit diese zuerst von ihrem Urheber aus der Hand gegeben worden sind.“4 Für uns Heutige erhebt sich sofort die kritische Frage: können so superlativische Urteile richtig sein? Und wenn sie zutreffen, wie war es möglich,

1 August Boeckh: Gesammelte Kleine Schriften, 7. Band: Kritiken. Leipzig 1872, 38. 2 Karl Friedrich Hermann: Geschichte und System der Platonischen Philosophie. Heidelberg 1839, 359–368. 3 Friedrich Ueberweg: Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften. Wien 1861, 50f. 4 Heinrich von Stein: Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus. 3 Bände. Göttingen 1862–1875; Zitate I 34 Anm. 1, III 374, I 33 Anm. 1.

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daß der wahre Schlüssel zu Platon 2150 Jahre verborgen blieb, bis Schleiermacher ihn schließlich fand? 2.

Doch bevor ich mich diesen Fragen zuwende, will ich kurz angeben, worin Schleiermachers Platonbild besteht.5 Das Besondere dieses Platonbildes ist, daß hier alles aus einem Grundgedanken folgt. Schleiermachers Forderung lautet, „Plato als philosophischen Künstler zu begreifen.“6 Es geht nicht darum, seine Philosophie zu begreifen und dann zusätzlich zu sehen, daß er ein überragender Schriftsteller ist. Es geht um die Unzertrennbarkeit von Inhalt und Form, genauer darum, daß die platonische Form notwendig aus einer hermeneutischen Einsicht folgt, nämlich der, daß das Erfassen eines fremden Gedankens aus einer Schrift eine Leistung der Selbsttätigkeit der Seele des Rezipienten sein muß, daß es also auf die eigene Ideenerzeugung ankommt. Der platonische Dialog ist nach Schleiermacher in allem so eingerichtet, daß er diese eigene Ideenerzeugung des Lesers hervorruft. Schleiermachers Theorie des platonischen Dialogs gibt präzise Antworten auf die Frage nach dem Autor, dem Werk, der Absicht des Autors, der Wirkung beim Leser und nach den Mitteln, mit denen diese Wirkung erzielt wird. 1. Der Autor. (a) Er ist Philosoph und Künstler, und zwar beides in einem. (b) Er praktiziert ein „esoterisches Handeln“, bestehend im „unmittelbaren Lehren“, bei dem Platon „seine Gedanken rein und

5 Die folgende Skizze stützt sich vor allem auf die „Einleitung“ zur Gesamtübersetzung in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36. Zitiert wird nach der Seitenzählung der 3. Auflage (Berlin 1855: Einleitung S. 5–36), die auch im Nachdruck von K. Gaiser (in: Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim 1969, 1–32) am Rand angegeben ist. Bequem zugänglich ist der Text auch bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Philosophie Platons. Hg. v. Peter M. Steiner. Hamburg 1996, 25–69. – Schleiermachers Einleitungen zu den einzelnen Dialogen bieten demgegenüber kaum Bemerkungen von grundsätzlicher Bedeutung, die über die Gesamt-Einleitung hinausgehen würden, während das Kapitel „Platon selbst“ in Schleiermachers Vorlesung „Geschichte der Philosophie“ von der spezifisch schleiermacherschen Auffassung, wie sie im 19. und 20. Jh. gewirkt hat, so gut wie nichts durchscheinen läßt. Ein (an Druckfehlern reicher) Abdruck dieses Kapitels findet sich bei Peter M. Steiner (s. o.), 7–20. 6 Stein: Sieben Bücher, III, 353, nach Schleiermacher: „Einleitung“, 7.

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vollständig aussprechen“ konnte,7 und ein „exoterisches (Handeln)“, bestehend im Schreiben.8 2. Das Werk. (a) Es ist mit „großer Absichtlichkeit“ geschrieben, d. h. reflektiert angelegt und bewußt durchgeführt,9 (b) es ist weder systematisch noch fragmentarisch, was die üblichen Darstellungsformen sind,10 sondern hat eine eigene Form; (c) die Dialogform ist für das platonische Werk notwendig, (d) „Form und Inhalt (sind) unzertrennlich“;11 (e) im ganzen platonischen Werk gibt es einen „natürlichen Zusammenhang“, der zugleich die philosophische, didaktische und chronologische Abfolge der Dialoge anzeigt; (f) schließlich ist Schleiermacher der Ansicht, daß die Nachrichten über Platons ungeschriebene Lehrmeinungen, seine ἄγραφα δόγματα, wie sie Aristoteles einmal nennt, nichts enthalten, was über die Dialoge hinausginge12 – anders gesagt: das geschriebene Werk Platons enthält seine Philosophie vollständig. 3. Die Absicht des Autors ging nach Schleiermacher nicht nur darauf, (a) „seinen eignen Sinn Andern lebendig darzulegen“, (b) „sondern eben dadurch auch den ihrigen lebendig aufzuregen und zu erheben“,13 so daß der Leser „zur eignen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens“ gebracht wird.14 Zur Erreichung dieser doppelten Absicht müsse Platon (c) „gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung jener besseren [sc. der mündlichen] so ähnlich zu machen als möglich“;15 auf diesem Wege, glaubt Schleiermacher, habe Platon (d) „doch auch den noch nicht wissenden Leser ... zum Wissen bringen“ wollen16 – wobei die Formulierung „doch auch“ verrät, daß Schleiermacher sich bewußt ist, daß es mit dieser für uns schlichtweg evidenten Zielsetzung angesichts des klaren Textes Platons so seine Schwierigkeiten hat. 4. Die Wirkung auf den Leser denkt sich Schleiermacher so, (a) daß es „dem Platon fast mit Jedem gelingt“, (a) „entweder das zu erreichen, was er wünscht, oder“ (b) „wenigstens das zu vermeiden, was er fürch-

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Schleiermacher: „Einleitung“,17. Ebd. Ebd., 8. Vgl. ebd., 9. Ebd., 14. Vgl. ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 16. Ebd., 15. Ebd., 16.

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tet“.17 ‚Was er wünscht‘ ist, wie wir eben sahen (3 a–b), die eigenständige Erzeugung seiner Gedanken in der Seele des Lesers, ‚was er fürchtet‘ ist, daß der Leser meint, etwas verstanden zu haben wenn das gar nicht der Fall ist. Wenn nun die eigene Ideenerzeugung, die aber ganz im Sinne des Autors sein muß, beim Leser erreicht ist, so hat sich dieser „zu einem wahren Hörer des Inneren“ erhoben,18 im anderen Falle aber nicht, der Leser bleibt also vom Inneren ausgeschlossen, er bleibt ‚draußen‘ (gr. ἔξω bzw. ἐξώτερος). Diese beiden „Beschaffenheiten des Lesers“ sind für Schleiermacher „die einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen reden könnte“.19 Esoterik ist also ein hermeneutisches Ereignis in der Seele des Lesers, nämlich die vom Text selbst gelenkte adäquate Erfassung des „eigenen Sinns“ des Autors. 5. Die literarischen Mittel, mit denen Platon die gesuchte Wirkung erzielen will, nennt Schleiermacher „Künste“ (wir würden heute sagen ‚Kunstmittel‘). An zwei Stellen seiner „Einleitung“ zählt er diese ‚Künste‘ auf,20 ohne das Verhältnis der beiden Listen zueinander zu erörtern. Wenn ich richtig sehe, kommen wir zusammen auf neun einzeln benannte schleiermacherisch–platonische ‚Künste‘, die hier aufzulisten nicht müßig ist, ist doch die sogenannte indirekte Mitteilung, die sich dieser Mittel bedient, genau das, womit Schleiermacher am stärksten auf die Folgezeit gewirkt hat (abgesehen von seinem Mißverständnis des Begriffs „Esoterik“). Wir finden also bei Platon 1. das indirecte Anfangen mit etwas einzelnem, 2. eine dem Anschein nach oft willkürliche Fortschreitung, welche aber doch immer absichtsvoll und künstlich ist 3. das dialektische Verkehr mit Begriffen, worunter jedoch die Hinweisung auf das Ganze und auf die ursprünglichen Ideen immer fortgeht, 4. ein öfteres Wiederanfangen der Untersuchung von einem anderen Punkte aus, ohne Zusammenführung der verschiedenen Ansätze; ferner wird bei Platon 5. oft auf ganz fremdscheinende zufällige Art manche Andeutung hingeworfen,

17 18 19 20

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Ebd. Ebd., 17. Ebd., 16. Vgl. ebd., 16, 30.

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6.

es wird aus Widersprüchen ein Räthsel geflochten, zu welchem der beabsichtigte Gedanke die einzig mögliche Lösung ist, 7. es wird ein größeres Ziel unter einem kleineren verborgen, „oder die eigentliche Untersuchung wird mit einer andern, nicht wie mit einem Schleier, sondern wie mit einer angewachsenen Haut überkleidet“.21 8. „wo es auf die Darstellung eines Ganzen ankommt, da wird dieses nur durch unzusammenhängende Striche angedeutet“, die der Leser aber leicht ergänzen könne.22 Als letzten Punkt erwähne ich den, der bei Schleiermacher als erster erscheint, nämlich 9. „daß das Ende der Untersuchung nicht geradezu ausgesprochen und wörtlich niedergelegt“ wird. Daß diese klaren Antworten unter fünf Aspekten, und besonders die neun Punkte unter dem fünften Aspekt der Kunstmittel, zusammengenommen eine voll entwickelte Theorie des platonischen Dialogs als philosophischer Kunstform ausmachen, ist evident. Bestritten wurde es gleichwohl (darüber gleich mehr). 3.

Woher kommt Schleiermachers Theorie des Dialogs? Aus Platons Kritik des Mediums der Schrift am Ende des Dialogs Phaidros, einem sieben Druckseiten umfassenden Textstück (274 b–278 e), aus dem Schleiermacher von (mindestens) fünf Grundgedanken23 den ersten herausnimmt, nämlich daß die Schrift keineswegs ein Mittel zur Stärkung des Gedächt-

21 Ebd., 16. 22 Ebd. 23 Die wichtigsten Punkte der Schriftkritik sind: (1) Die Schrift hilft nur, schon Bekanntes in Erinnerung zu rufen, stärkt aber nicht das Gedächtnis; sie erzeugt nicht Weisheit, sondern nur den Schein derselben (Phdr. 274 c–275 d). (2) Die Schrift hat drei Mängel: sie kann nicht antworten, sie weiß nicht, zu wem sie reden und zu wem sie schweigen soll, und sie kann sich bei Angriffen nicht selbst zu Hilfe kommen (275 de). (3) Von diesen drei Mängeln ist allein die lebendige Rede des „Wissenden“, d. h. des Dialektikers, frei (276 a). (4) Der Dialektiker wird mit seiner philosophischen ‚Saat‘ so umgehen wie der kluge Bauer: er wird nicht sein gesamtes ‚Saatgut‘ in ‚Adonisgärten‘ (= Schriften) ausbringen (276 b– 277 a). (5) Der Dialektiker (= φιλόσοφος) kann seine Schriften durch seine mündliche Stellungnahme als ‚gering‘ oder ‚nicht fachmännisch‘ (φαῦλα) erweisen und im Prozeß der mündlichen ‚Hilfe‘ für seinen Logos ‚Dinge von höherem Wert‘ (τιμιώτερα) zum Vorschein bringen (278 c–e). Als sechsten (bzw. ersten) Leitgedanken könnte man hinzufügen, daß nur der Umgang des Philosophen mit den Logoi ‚gottgefällig‘ ist (274 a).

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nisses ist, wie man meinen könnte, sondern nur das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen erleichtert, das Gedächtnis selbst aber schädigt, weil die Seele das Wissen nicht mehr selbsttätig aus sich hervorholt, sondern mittels ihr äußerlicher Zeichen. Durch vieles Lesen ohne Belehrung (ἄνευ διδαχῆς, 275 a7) entstehen nur menschlich schwierige Vielwisser, statt Weisen nur eingebildete Weise (δοξόσοφοι γεγονότες ἀντὶ σοφῶν, 275 b2). Es ist nun Schleiermachers feste Überzeugung, daß Platon mit seiner Nachahmung des mündlichen Dialogs in der Schrift die Vorstellung verband, der geschriebene Dialog könne letztlich dasselbe leisten wie der mündliche, nämlich echte Belehrung durch Erregung der eigenen Ideenerzeugung beim Leser. Die letzte Quelle der Theorie ist also eindeutig bestimmbar auch für den heutigen Leser. Weniger bekannt ist, daß Schleiermacher den Rekurs auf den Phaidros als Ausgangspunkt nicht ganz selbsttätig und als erster vornahm. In der damals noch ganz frischen Geschichte der Philosophie von Wilhelm Gottlieb Tennemann war zu lesen, daß Platon „seine Schüler zum Selbstdenken gewöhnen“ wollte24 und ihnen daher in den Schriften Probleme vorlegte (daß die Dialoge Aufgaben für die Schüler enthalten, war auch die Auffassung von A. Boeckh, und in unserer Zeit etwa von R. Merkelbach).25 Tennemann referierte die ganze platonische Schriftkritik (und nicht nur den von Schleiermacher hervorgehobenen ersten Grundgedanken) auf sieben Seiten,26 in dem etwas früheren Werk System der Platonischen Philosophie hatte er den umfangreichen Text auch wörtlich abgedruckt und interpretiert.27 Hier war zu lesen, daß „die innere und äußere Einrichtung“ der platonischen Schriften vollkommen mit dem Phaidros übereinstimme, daß sich Platon also bei Abfassung seiner Schriften an „seine eigenen Grundsätze“ gehalten habe. Das klingt ganz wie Schleiermacher, nur mit dem Unterschied, daß Tennemann eine esoterische Auslegung des Phaidros vertritt: Platon hatte „eine gedoppelte Philosophie, eine äußere und innere und geheime.“28 Schleiermacher hingegen ließ die spä-

24 Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie, Band II. Leipzig 1799, 200. 25 August Boeckh: Gesammelte Kleine Schriften, 7. Band, 6; Platon: Menon. Hg., übersetzt und nach dem Inhalt erläutert v. Reinhold Merkelbach. Frankfurt a. M. 1988 (bes. 5–10); ders.: Euthyphron. Griechisch und Deutsch Hg. u. erklärt v. Reinhold Merkelbach, München/Leipzig 2003. 26 Tennemann: Geschichte der Philosophie, 207–214. 27 Ders.: System der Platonischen Philosophie, Band I. Leipzig 1792, 129–138. 28 Ebd., 137.

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teren Teile der Schriftkritik, die Tennemann zu dieser Ansicht führten, beiseite. Neben dem Ausgang vom Phaidros ist charakteristisch vor allem die Forderung, daß in den Dialogen ein natürlicher Zusammenhang wirksam und auffindbar sein müsse – ein Gedanke, den Schleiermacher seinem Freund Friedrich Schlegel verdankte. Dieser hatte 1799 „den großen Coup“ oder auch die „göttliche Idee“ – so drückt sich Schleiermacher in einem Brief aus29 – in ihm angeregt, zusammen eine Platonübersetzung zu machen. Aus dem typisch frühromantischen Plan eines intensiven ‚Symphilosophierens‘30 wurde zwar nichts, der unstete Schlegel entzog sich bald dem von ihm selbst angeregten Projekt, allerdings nicht ohne es um die folgenreiche Idee einer „historischen Ordnung“ der Dialoge zu bereichern. In einem Brief an Schleiermacher vom 10. März 1800 redet er von einem „Stufengang..., als schlössen sich mehr Gespräche an einander als man gewöhnlich annimmt“, und von einer „instructiven Suite..., die die Uebersicht des Ganzen nicht wenig aufhellen würde.“31 Schlegel wollte also den systematischen Zusammenhang von Platons Denken erfassen, sein Projekt „zielte auf ein ganzheitliches Verständnis des Platonischen Geistes“, die Übersetzung war als „systematische und genetische Nachkonstruktion eines Ganzen“ gedacht.32 Diesen Gedanken hat dann Schleiermacher

29 Brief an H. Herz vom 29. 4. 1799: „Schlegel schrieb mir ... von einem großen Coup den er noch vorhätte mit mir und das ist nichts geringeres als den Plato übersetzen. Ach! es ist eine göttliche Idee, ...“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Briefwechsel 1799–1800 (Briefe 553–849). Hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Berlin/New York 1992 [ = Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. H.-J. Birkner et al. Berlin/New York 1984ff., hier: Band V 3], Brief 640, S. 101). Zwischen Schlegel und Schleiermacher scheint „nur eine einzige ordentliche Unterredung über den Platon“ stattgefunden zu haben, s. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Erster Band. Berlin 1870, 534. Genaue Nachweise über die Rolle, die der Plan der Platon-Übersetzung in Schleiermachers Briefwechsel spielt, finden sich bei Stein: Sieben Bücher, 343–345 (Anm. 8 von S. 343). 30 Vgl. Andreas Arndt: Schleiermacher und Platon. In: Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, VII–XXII, hier: XI. 31 Brief 808 (Schlegel an Schleiermacher). In: Schleiermacher: Briefwechsel 1799– 1800 (= KGA V 3), 412. 32 Ich übernehme hier Formulierungen von Arndt: Schleiermacher und Platon, XII. – Für eine geistesgeschichtlich und philosophisch vertiefte Auseinandersetzung mit Schlegels Platonbild und Philosophieverständnis sowie deren Einfluß auf Schleiermacher – Aspekte, die Arndt nicht behandelt – vgl. Hans Joachim Krämer: Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 583–621, bes. 600–610.

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in „eigener Ideenerzeugung“ nach der Vorgabe seines Freundes getreulich und für die ersten Leser überzeugend durchgeführt. Dieses aus zwei so ungleichen Quellen – Tennemann und Schlegel – gespeiste neue Platonbild fand also weithin Zustimmung und Bewunderung. Ansprechend, ja zwingend war für den romantischen Zeitgeist und für die Generationen danach die Vorstellung der organischen Einheit, der „natürlichen Folge“.33 Alles ergibt sich hier scheinbar zwanglos aus einer einzigen kritischen Intuition Platons, von der dialogischen Gestaltung des einzelnen Abschnitts über die Anlage des betreffenden Dialogs als Ganzes bis zum übergreifenden Zusammenhang, der das platonische Oeuvre zusammenhält. 4.

Die Beziehung dieses Platonbildes zu Schleiermachers Hermeneutik ist deutlich. Auch dort geht es stets um die Möglichkeit des eigenständigen Nachvollzugs des fremden Gedankens. „Jeder Akt des Verstehens (ist) die Umkehrung eines Aktes des Redens“, heißt es in der „Hermeneutik“.34 In Schleiermachers Verständnis ist nun die platonische indirekte Mitteilungsform darauf angelegt, diese Umkehrung, die ein Zurückschreiten von der fixierten Rede zur „inneren Rede“, d.h. zum lebendigen Gedanken, ist, zu erleichtern. „Jede Rede [ist] immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben“35 – ebenso ist bei Platon „jeder Saz nur an seinem Orte und in den Verbindungen und Begränzungen, wie ihn Platon aufgestellt hat, recht zu verstehen“,36 und die sinnstiftenden Verbindungen ihrerseits sind nur im Kontext der „natürlichen Folge“ des Ganzen zu begreifen. „Den Schwierigkeiten im Nachkonstruieren der Rede und des Gedankengangs vorzubeugen, ist die Aufgabe der Hermeneutik“37 – die implizite Hermeneutik der platonischen Form ist für Schleiermacher die ideale künstlerische Verwirklichung dieser Forderung. „Die strengere Praxis [sc. der Hermeneutik] geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“38 – der platonische Dialog versieht selbst diese Aufgabe der hermeneutischen Praxis, insofern der Gesprächspartner nach jeder Frage des Gesprächsführers das Aufkom33 Schleiermacher: „Einleitung“, 17. 34 Ders.: Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingeleitet v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1999, 76. 35 Schleiermacher: Hermeneutik, 78. 36 Ders.: „Einleitung“, 14. 37 Ders.: Hermeneutik, 84. 38 Ebd., 92.

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men oder Ausbleiben von Verständnis signalisieren muß. Platonhermeneutik und allgemeine Hermeneutik Schleiermachers sind also aus einem Guß, und das ließe sich noch weiter im Detail ausführen. Doch an einem Punkt wird man stutzig: wie kann ein Hermeneutiker, der klar sieht, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt“, zugleich der Ansicht sein, daß es Platon durch Mittel wie ‚unzusammenhängende Striche‘, im Text ungelöste Rätsel, bloße Andeutungen und absichtliche Auslassungen gelingt, „fast Jeden“ dazu zu bringen, seinen Gedanken genuin nachzuvollziehen oder sich wenigstens nicht der Illusion hinzugeben, alles verstanden zu haben? Wenn das Mißverstehen sowieso überall lauert, so werden ihm durch die „Künste“ der indirekten Mitteilungsweise nachgerade Tür und Tor geöffnet. Wieso sollen gerade diese Formen der Unbestimmtheit und Offenheit in der Seele ein σαφὲς καὶ βέβαιον, etwas ‚Klares und Beständiges‘ (Phaidros 275 c6, 277 d8–9, vgl. 278 a4–5) entstehen lassen? Nach Platon kann das die Schrift grundsätzlich nicht, nach Schleiermacher kann es gerade der seiner Explizitheit (gr. σαφήνεια) kunstvoll und systematisch beraubte schriftliche Dialog. Darin liegt ein frommer Optimismus, der mit dem Satz von der Ubiquität des Mißverstehens nicht gut zu vereinen ist. Hier, glaube ich, liegt der eigentliche Schwachpunkt der Schleiermacherschen Dialogtheorie in hermeneutischer Hinsicht. (In anderen Hinsichten ist anderes geltend zu machen.) Die überwältigende Zustimmung zu Schleiermacher betraf denn auch mehr die gedankenstimulierende und gedankenlenkende Funktion der Dialogform im allgemeinen als die Ausdehnung dieser Idee auf den Gesamtzusammenhang des platonischen Oeuvres. Dieser wurde bald anders bestimmt, von jedem Interpreten verschieden. Prinzipielle Zweifel an der philosophischen Notwendigkeit der Dialogform, an ihrer absoluten Unentbehrlichkeit für Platon sowie an Schleiermachers Fehleinschätzung der ἄγραφα δόγματα wurden hingegen selten geäußert, so etwa von K. F. Hermann 1839, der aber bald von Friedrich Ueberweg zurechtgewiesen wurde.39 Ab der Mitte des 19. Jh.s war Schleiermachers Dialogtheorie anerkannt als die unersetzbare, alle früheren Zugangsarten weit hinter sich lassende Grundlage des Platonverständnisses. Das blieb im wesentlichen so

39 Hermann: Geschichte und System der Platonischen Philosophie; ders.: Ueber Plato’s schriftstellerische Motive (1839). In: ders.: Gesammelte Abhandlungen. Göttingen 1849, 281–305 [Nachdruck bei Gaiser (Hg.): Das Platonbild, 33–57]; Ueberweg: Untersuchungen, 4–111.

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bis 1959, dem Jahr von H. J. Krämers Kritik,40 und ist bis heute gültig für die, die der Auseinandersetzung mit Krämers Ansatz aus dem Weg gehen. Durch die Emigranten der 30er-Jahre ist die Wirkung der Schleiermacherschen Dialogauffassung in der angelsächsischen Welt noch verstärkt worden und bestimmt die Zugangsart der dortigen Sekundärliteratur nicht weniger als die der hiesigen. 5.

Nun gab es aber in neuerer Zeit drei Versuche, Schleiermachers Bedeutung einzuschränken: Peter M. Steiner erklärte, Schleiermacher habe gar keine Theorie des platonischen Dialogs gehabt. Eugène Napoléon Tigerstedt bestritt, daß Schleiermacher Epoche machte, d. h. einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Platondeutung darstellt, und Dorothea Frede behauptete, bei den Angelsachsen sei Schleiermacher kaum zur Kenntnis genommen worden. Wäre auch nur eine dieser Positionen richtig, müßten wir unser Schleiermacherbild unverzüglich redimensionieren. Wären alle drei zutreffend, so würde das den großen Theologen jedenfalls auf dem Gebiet der Platonforschung zu einer eher peripheren Gestalt herabdrücken, die die Deutschen aus nationalistischer Begeisterung für diese „Zierde unserer Nation“ – so hatte sich Friedrich Ueberweg ausgedrückt – zu einem Giganten aufgeblasen hätten. Nun, es läßt sich zeigen, daß die erwähnten drei Positionen schlicht falsch sind. Der Münchener Interpret Peter M. Steiner betrachtet die Auffassung, Schleiermacher sei „regelrecht“ der Urheber „einer neuen Theorie“, als Unterstellung seiner Kritiker.41 Leider verzichtet Steiner aber auf ein detailliertes Referat, erst recht auf eine geduldige Analyse von Schleiermachers „Einleitung“ von 1804. Ich kann hier nicht nachholen, was Steiner sich selbst und seinem Leser vorenthalten hat. Es genügt aber, sich die

40 Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959)); vgl. ders.: Platone e i fondamenti della metafisica. Milano 31989 [1982], 33–149. 41 Peter M. Steiner: Zur Kontroverse um Schleiermachers Platon. In: Über die Philosophie Platons, XXIII–XLIV, bes. XXXIV: „Szlezák unterstellt Schleiermacher regelrecht eine neue Theorie, die ‚moderne Theorie des platonischen Dialogs‘“.

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Punkte, die ich zu Beginn dieser Vorlesung zusammengetragen habe,42 vor Augen zu halten, um zu sehen, daß Steiner Schleiermacher stark unterschätzt. Den präzisen Antworten, die Schleiermacher unter fünf klar unterscheidbaren Aspekten auf die Frage nach dem platonischen Dialog gibt, kann ein billig Urteilender den Status einer voll entfalteten, höchst reflektierten Theorie nicht absprechen. Der schwedische Forscher Tigerstedt bestritt die übliche Einschätzung Schleiermachers als Wendepunkt in der Geschichte der Platonexegese unter der Annahme, der Ruhm Schleiermachers sei, das alte, neuplatonische Paradigma der Platondeutung zu Fall gebracht zu haben.43 In einer großen Fleißarbeit brachte er hunderte von Belegen dafür bei, daß die neuplatonische Exegese, die Marsilio Ficino Ende des 15. Jh. wieder belebt hatte, schon hundert Jahre später, beginnend mit Johannes Serranus, abzubröckeln begann und lange vor Schleiermacher tot war. Was Tigerstedt bei allem Fleiß nicht beigebracht hat, ist auch nur ein einziger Beleg dafür, daß jemand die Dialoge vor 1804 für autark im Sinne Schleiermachers erklärt hätte, d. h. als unvollständig zwar hinsichtlich der expliziten Ausformulierung der Ergebnisse, aber doch vom Autor dazu bestimmt, seine vollständige Philosophie dem „wahren Hörer des Inneren“, also dem esoterischen Leser und nur ihm, zwischen den Zeilen sicher und verlässlich zu vermitteln. Es war aber diese Vorstellung, mit der Schleiermacher Epoche machte. Die Hamburger Philosophin Dorothea Frede, die 20 Jahre in den Vereinigten Staaten gelehrt hat, vertrat die Ansicht, im angelsächsischen Raum habe man „Schleiermachers Auffassung allenfalls zur Kenntnis genommen“,44 und das soll wohl heißen: Einfluß hat Schleiermacher nicht gehabt (– und vielleicht ist noch etwas Weitergehendes gemeint, nämlich: was bei der Leitkultur des 20. Jh. keinen Eindruck gemacht habe, könne ja wohl nicht viel wert sein). Ich fürchte, Frau Frede steht allzu sehr im Bann der amerikanischen Unkenntnis der eigenen Wurzeln. Es läßt sich durch-

42 Oben S. 2–5. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Schleiermachers Dialogtheorie findet sich in Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 331–375. 43 Eugène Napoléon Tigerstedt: The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. Helsinki 1974. Vgl. meine Rezension in Göttingische Gelehrte Anzeigen 230 (1978), 33–37. 44 Dorothea Frede: Die wundersame Wandelbarkeit der antiken Philosophie in der Gegenwart. In: Ernst-Richard Schwinge (Hg.): Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr. Stuttgart/Leipzig 1995, 9–40, hier: 31.

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aus zeigen, daß Schleiermacher nicht nur von Anfang an rezipiert wurde – eine englische Übersetzung seiner Einleitungen zu Platon durch W. Dobson erschien bereits 1836 in London, zwei Jahre nach Schleiermachers Tod –, sondern auch intensiv gewirkt hat.45 Die Tatsache, daß manche amerikanische Kollegen (und solche, die in den Staaten unterrichtet haben) nicht wissen, wo die Wurzeln ihrer Platonhermeneutik liegen, ändert nichts daran, daß die gegenwärtige angelsächsische Platondeutung fest auf dem von Schleiermacher geebneten Boden steht. Es ist also nichts mit den neuesten Einschränkungen der Bedeutung Schleiermachers. Man fragt sich: wie kamen sie überhaupt zustande? Und hier zeigt sich dem erstaunten Blick eine Gemeinsamkeit: Steiner, Tigerstedt und Frede sind alle drei erbitterte Anti-Esoteriker. Alle drei schreiben mit spürbarem Engagement an gegen die, die eine mündliche Prinzipientheorie Platons, die in mehreren Punkten klar über die Dialoge hinausging, für eine historische Tatsache halten. Um diese Gegner zu treffen, sind sie bereit, Schleiermacher entweder zur Randfigur zu machen oder ihm einen seiner Ruhmestitel, seine geniale Theorie des platonischen Dialogs, zu nehmen. 6.

Wir kommen also nicht darum herum, doch noch über Schleiermachers Stellung zur Frage einer esoterischen Philosophie Platons ausführlich zu sprechen (bisher begnügten wir uns mit Andeutungen). Die Frage ist offenbar bis heute ein wunder Punkt in der Diskussion um Platon. Nur vier Jahre nach dem Erscheinen der epochemachenden Einleitung schrieb A. Boeckh, Schleiermacher sei in der Frage der platonischen Esoterik ein Proteus, den man nicht recht fassen könne.46 Boeckh hatte vollkommen Recht: in unmittelbarem Anschluß an seine neue Deutung von Esoterik als eines vom Text selbst induzierten innerseelischen Ereignisses im Leser und an seine Erklärung, das dies „die einzige Bedeutung [sei], in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen reden könnte“, erkennt Schleiermacher auch jene andere Art von Esoterik rückhaltlos an, die darin bestand, daß Platon seine Gedanken „rein und vollständig“ nur im mündlichen Unterricht aussprach, „wenn er erst hinlänglich gewiss

45 Einige mehr provisorische Hinweise dazu stellte ich zusammen in: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann. In: Antike und Abendland 43 (1997), 46–62. 46 Boeckh: Gesammelte Kleine Schriften, 7. Band, 8.

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war, die Hörer seien ihm nach Wunsch gefolgt“.47 Was soll nun gelten? Gibt es nur eine einzige Bedeutung von esoterisch, oder doch zwei? In der allerverbindlichsten Form, ohne jede Schärfe der Polemik, stellt Boeckh fest, daß Schleiermacher weder die einschlägigen „Äußerungen Platons“ noch die „weit verbreitete Überlieferung aus dem Alterthum“ über platonische Esoterik genauer untersucht hat. Ihm, Boeckh, scheint platonische Esoterik wahrscheinlich schon wegen Platons „unverkennbarer Hinneigung zum Pythagoreismus“ (6). Platon schrieb gewiß „auch für das grössere Publicum“, vor allem aber für seine Schüler in der Akademie im Sinne einer Aufgabenstellung. Das Schriftliche ist nach Boeckh nicht bis zur höchsten Spitze hinaufgeführt, das Mündliche hingegen hat diese fehlende Spitze, den „Schlußstein“, aufgesetzt. Und dann sagt Boeckh etwas überaus Wichtiges, das viele Platoniker bis heute nicht bedacht haben: In den Schriften selbst „müßte sich Platon auf die wunderlichste Weise geziert haben, wenn er nichts Esoterisches gehabt hätte“ (7). Boeckh verweist auf den 7. Brief sowie auf jene Stelle in Platons Politeia, wo Sokrates erklärt, daß seine Ansicht vom Wesen (vom τί ἐστιν) des Guten hier nicht zur Sprache kommen soll, vielmehr statt dessen nur das Gleichnis von der Sonne als Analogon der Idee des Guten (506 de), „andeutend zugleich, daß er wohl noch mehr zu sagen hätte: wo sollte er dies getan haben, als in seinen Vorträgen?“ Boeckh beharrt nun darauf, daß dieser Verweis des Hauptwerks Platons auf ausstehendes Mehrwissen über das Gute etwas zu tun hat mit den antiken Berichten über die mündliche Philosophie Platons, in der die philosophische Bestimmung des Guten das zentrale Thema war. Anders gesagt: wer den Wortlaut des geschriebenen Werks gebührend beachtet, kann unmöglich das inhaltliche Plus des Mündlichen bei Platon leugnen. Das aber hatte Schleiermacher explizit getan. Was Boeckh hier unternahm, war ein unendlich behutsamer Versuch, die Diskussion um den mündlichen Platon wieder auf den Stand zu heben, den sie bei Dieterich Tiedemann und Wilhelm Gottlieb Tennemann in den 90er-Jahren des 18. Jh. gehabt hatte. Daß Schleiermacher hinter diesen Stand zurückfiel, sollte man heute nicht leugnen.48 Zu bestreiten, daß die antiken Berichte über Platons ἄγραφα δόγματα ein substantielles dogmatisches Mehr gegenüber dem Dialogwerk aufweisen, war 1804 nicht vernünftiger oder entschuldbarer als es heute wäre. Tiedemann und Tennemann hatten dieses Mehr zwar nicht vollständig aus den Quellen aufge-

47 Schleiermacher: „Einleitung“, 16f. 48 Zum Verhältnis der Platonhermeneutik Schleiermachers zu der seiner Vorgänger Tiedemann und Tennemann vgl. meinen oben Anm. 45 genannten Beitrag.

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spürt und interpretiert, aber doch so weit sichtbar gemacht, daß nach ihren Bemühungen ein Ignorieren oder gar Leugnen befremdlich bleiben muß. 7.

Das am Ende des 18. Jh. erreichte Platonbild umfaßte u. a. folgende Punkte:49 – Platon wollte nicht das Ganze seines Systems in den Dialogen mitteilen; die Dialoge sind ihrer Natur nach exoterisch; – die Form der mündlichen Lehre war eine andere als die der schriftlichen Darlegungen: frei vom Zwang zur dialogischen Einkleidung, ohne dichterische Verzierungen wie Mythen und Gleichnisse; – platonische Belege für eine esoterische Lehre sind die Schriftkritik im Phaidros, der 7. Brief sowie die Aussparungsstellen, d. h. jene typisch wiederkehrenden Stellen, an denen der Gesprächsführer klar zu erkennen gibt, „daß er noch mehr zu sagen hätte“ (wie Boeckh es formulierte); – die Motive für Platons Zurückhaltung in der Schrift liegen in seiner geringen Einschätzung der Möglichkeiten dieses Mediums in der philosophischen Gedankenerweckung, in der Überzeugung, daß vieles zu schwer, zu voraussetzungsreich ist, um einfach so herumgereicht zu werden, und schließlich in seiner Verantwortung für die Sache und seiner Reverenz für die göttlichen Dinge, auf die sich sein Denken richtete; – als Quellen der mündlichen Lehre betrachtete man die von Aristoteles zitierten Werke Dihaireseis und Peri philosophias, die man irrtümlich für platonische esoterische Schriften hielt, wie auch der Titel ἄγραφα δόγματα als Bezeichnung einer solchen Schrift galt; – die aristotelischen und sonstigen Berichte galten als zwar lückenhafte und teilweise unklare, im wesentlichen aber verläßliche Zeugnisse der mündlichen Philosophie Platons; – diese Philosophie wurde verstanden als eine Allgemeine Ontologie (Tiedemann), oder als eine Art Transzendentalphilosophie (Tennemann); Dialoge und mündliche Prinzipienlehre repräsentieren – wie aus Aristoteles Met. A 6 gefolgert werden kann – zwei verschiedene Stufen der Zurückführung der Dinge auf ihre Prinzipien: die Dialoge

49 Die Nachweise im einzelnen, die ich in: Schleiermachers „Einleitung“ zur PlatonÜbersetzung von 1804, 47–53 zusammengestellt habe, möchte ich hier aus Platzgründen nicht in ihrer Gesamtheit wiederholen. Vgl. unten Anm. 55 und 55.

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verfolgen diesen Weg nur bis zu den Ideen, die mündliche Philosophie bis zu den ersten Prinzipien, der Idee des Guten oder Einen und dem negativen Prinzip der Unbestimmten Zweiheit.50 Hiervon bleibt bei Schleiermacher scheinbar viel erhalten. Daß Platon ein System hatte, sagt auch er, ebenso, daß die Dialoge unvollständig sind und daß deren Abfassung nur das exoterische Handeln Platons darstellte; ferner, daß Platons Gedanken „rein und vollständig“ und in wissenschaftlicher Durchführung in die mündliche Lehre gehörten. Gewichtiger ist aber, was wegbleibt. Die Aussagekraft der Zeugnisse über den Inhalt der ἄγραφα δόγματα wird, wie wir sahen, pauschal und ohne Prüfung bestritten. Die platonischen Stellen, die ein esoterisches Verhalten des Philosophen nahe legen bzw. behaupten, bleiben in der Einleitung unerwähnt, vier Fünftel der Schriftkritik finden keine Berücksichtigung. Von den Motiven, die einen Denker zur Zurückhaltung in der Schrift veranlassen können, erwähnt Schleiermacher nur das politische und das didaktische Motiv, d. h. nur die Angst vor dem Konflikt mit der polytheistischen Volksreligion, was nach seiner Meinung Esoterik „zu einer kindischen Veranstaltung“51 machen würde, sowie die mangelnde Vorbereitung und Schulung der Leser. Schwer verständlich, wie der Ethiker und Theologe Schleiermacher das ethische und das religiöse Motiv übergehen konnte, d. h. einmal die Forderung Platons, daß zur Dialektik im besten Staat nur zugelassen werde, wer in jahrelanger Charakterschulung alle Tests überstanden hat52 (wobei unbestritten ist, daß Bücher die ethische Formierung nicht leisten können), und zweitens die Tatsache, daß Platon die Ideen als den Bereich des Göttlichen ansah,53 zu dem er mit religiöser Scheu aufblickte, weswegen es ihm auch nicht gleichgültig war, in wessen Hände seine Bemühungen um diesen Bereich gerieten und wie sie aufgenommen wurden.54 Dieses religiöse Motiv, das für Platon von den vier Motiven wohl das stärkste war, hatte Tennemann, den Quellen folgend, klar benannt,55 doch der Theologe, der das religiöse Gefühl für seine Zeit neu bestimmt hat, Schleiermacher, ließ es gänzlich beiseite – wie gesagt, ein Rätsel. Wegbleiben mußte notwendig auch die Vorstellung von zwei qualitativ verschiedenen

50 Dieterich Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie, Bd. II. Marburg 1791, 73; vgl. Tennemann: System der Platonischen Philosophie, Bd. I, 137. 51 Schleiermacher: „Einleitung“, 12. 52 Politeia 535 aff. (vgl. 485 a. – 487 a, u. ö.). 53 Politeia 500 c (u. ö.). 54 Politeia 536 c, 539 b–d; Siebter Brief 341 de, 344 c–e. 55 Tennemann: System der Platonischen Philosophie, Band I, 129; ders.: Geschichte der Philosophie, Band II, 214f.

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Stufen der Annäherung an die Prinzipien im Schriftwerk und in der mündlichen Lehre. Denn wenn das geschriebene Werk den Leser sicher von Dialog zu Dialog führen kann, auch wenn das Ende nicht ausgesprochen sondern vom Rezipienten zu ergänzen ist, so kann es wohl auch die nicht ausgesprochenen letzten Einsichten, die „rein und vollständig“ in der mündlichen Lehre vorkamen, zwischen den Zeilen vermitteln. 8.

Man könnte nun einwenden: wenn Schleiermacher Platon sowohl die textimmanente oder hermeneutische Esoterik zuschreibt, also die gezielte Erzeugung von Verständnis durch den Text selbst bei bestimmten privilegierten Lesern, den „wahren Hörern des Inneren“, als auch die Esoterik im üblichen Sinn, wonach eine inhaltlich über die Dialoge hinausgehende mündliche Lehre in der Akademie eine historische Realität war, so ist doch alles in Ordnung. Konrad Gaiser hat in seinen Neapler Vorlesungen „Platone come scrittore filosofico“ 1984 überzeugend dargelegt, daß die von ihm vertretene esoterische Position die textimmanente Esoterik widerspruchsfrei integrieren kann: Platon konnte, sagt Gaiser, sowohl bestimmte Lehrmeinungen von der Verschriftlichung überhaupt ausschließen als auch bestimmte andere Einsichten mittels der indirekten Mitteilungsart zwischen den Zeilen nur den Verständigen vermitteln. Die beiden Entscheidungen des Autors kommen nirgends in Konflikt miteinander, ergänzen sich vielmehr sinnvoll. Und hier zeigt sich die Überlegenheit von Gaisers hermeneutischem Standpunkt: er vertritt die umfassendere und vorurteilsfreiere Dialogtheorie, die weder blind ist für die von Schleiermacher aufgezeigten Vorzüge der indirekten Mitteilung noch dazu verurteilt ist, die umfangreiche historische Überlieferung zum mündlichen Platon über Bord zu werfen (im Gegensatz zu seinen anti-esoterischen Gegnern der 70er- und 80er-Jahre). Erkennt nicht auch Schleiermacher beide Formen von Esoterik an? Ja, er tut es, aber im Fall der historischen Esoterik nur mit spürbarem Widerwillen und in Form eines bloßen Lippenbekenntnisses – vermutlich weil er spürte, daß er sie argumentativ nicht erledigt hatte (was ja Boeckh schon vier Jahre darauf feststellte). Das eigentliche Ziel der schleiermacherschen Platonhermeneutik ist aber, die Esoterik der historischen Zeugnisse zu ersetzen durch die von ihm neu beschriebene und neu in den Vordergrund gerückte textimmanente Esoterik. Es war ja nach seiner Überzeugung Platons Ziel, die schriftliche Belehrung der mündlichen nach Mög-

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lichkeit anzunähern, und das müsse Platon auch gelungen sein.56 Die Schrift enthält alles, und sie kann alles. Dann braucht man aber die von Aristoteles, Theophrastos, Alexander von Aphrodisias und anderen bezeugte esoterische Lehre nicht mehr. Eben diese Tendenz zur Verdrängung der ἄγραφα δόγματα im Vertrauen auf die Allkompetenz der Schrift war das, womit Schleiermacher Epoche machte. Hinter dieser Tendenz steht aber unausgesprochen ein Schluß, der nicht trägt. Daraus, daß ein Autor sich entschlossen hat, gewisse Inhalte nur in der Form der indirekten Mitteilung zu verschriftlichen, damit der Leser sie sich selbst erarbeite, folgt natürlich nicht, daß derselbe Autor sich entschließen müßte, oder gar sachlich gezwungen wäre, alles, was ihm philosophisch wichtig ist, in dieser Form der Schrift anzuvertrauen. Dazu bedürfte es einer zusätzlichen Entscheidung des Autors. Im Falle Platons aber ist eine solche Entscheidung nicht nur nicht bekannt, vielmehr wird die entgegengesetzte Entscheidung, nicht alles in die Schrift zu bringen, durch den Phaidros und die Aussparungsstellen nahe gelegt, durch den 7. Brief direkt bezeugt. Was am Ende herauskommt bei Schleiermachers Platonhermeneutik, ist die Auffassung, daß der geschriebene Dialog in der Lage ist, durch subtile Lenkung des Lesers genuin philosophische Erkenntnis zu erzeugen, daß also die Schrift dazu geeignet ist, „doch auch den noch nicht wissenden Leser ... zum Wissen (zu) bringen“.57 Das ist das Gegenteil von dem, was Platons Schriftkritik besagt. Friedrich Nietzsche sah das: in seiner Basler Vorlesung von 1871/72 arbeitete er den Gegensatz zwischen Platon und Schleiermacher so heraus: für den letzteren ist die Schrift „das zweitbeste Mittel, den nicht Wissenden zum Wissen zu bringen“, Platon dagegen sage, „nur für den Wissenden, als Erinnerungsmittel, habe die Schrift Bedeutung“. Für Nietzsche steht Schleiermachers „ganze Hypothese im Widerspruch zu der Erklärung im Phädrus und ist durch eine falsche Interpretation befürwortet“.58 Wenn der geschriebene Dialog bei Schleiermacher insgesamt das leisten kann, was bei Platon nur die mündliche Lehre des Dialektikers leistet, dann muß der Dialog auch von den drei Mängeln der Schrift einzeln frei sein. Diese sind nach Platon: 1. die Schrift kann auf Fragen nicht antwor-

56 Vgl. Schleiermacher: „Einleitung“, 15. 57 Schleiermacher: „Einleitung“, 16. 58 Friedrich Nietzsche: Werke, Band XIX, Dritte Abteilung: Philologica, Band III: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie. Hg. v. Otto Crusius u. Wilhelm Nestle. Leipzig 1913, darin S. 235–304: „Einführung in das Studium der platonischen Dialoge“, Zitate: 240.

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ten, 2. sie kann nicht reden oder schweigen, zu wem man reden oder schweigen sollte, und 3. sie kann sich bei Angriffen nicht selbst zu Hilfe kommen, sondern bedarf der Hilfe durch den Autor. Schleiermacher selbst hat diese drei Mängel in seiner Einleitung nicht einzeln aufgezählt, folglich mußte er auch nicht versichern, daß der platonische Dialog seiner Ansicht nach diese Mängel hinter sich zu lassen vermag. Solch eine Versicherung gab später, in expliziter Fortführung des schleiermacherschen Ansatzes, etwa Heinrich von Stein: „Die platonischen Schriften sind in unsern Augen wirklich von der Art, dass sie den ungehörigen Leser ganz abschrecken, ..., dass sie Rede und Antwort stehen auf ... Fragen und Einwendungen, dass sie ... in die Seelen geschrieben sind ...“.59 Hier sind wir nun ganz konsequent beim plattesten Widerspruch zu Platons Schriftkritik angelangt, denn all das kann nach Platon die γραφή, die Schrift ganz allgemein und ohne Ausnahme, gerade nicht, und in die Seele des Hörers geschrieben (statt aufs Papier) ist bei Platon allein „die lebendige und beseelte Rede des Wissenden“ (ὁ τοῦ εἰδότος λόγος ζῶν καὶ ἔμψυχος, Phaidros 275 a8), also die mündliche Dialektik. Doch in dieser Form, mit dem direktesten Widerspruch zu den Aussagen der Schriftkritik, hat Schleiermachers Platonhermeneutik die Platonexegese des 19. und 20 Jh. in ihren Bann gezogen. Die textimmanente Esoterik hat über die von den Quellen geforderte Anerkennung des Unterschieds von Schriftwerk und mündlicher Philosophie bei Platon gesiegt. Der Preis für diesen Sieg war u. a. eine Theorie des platonischen Dialogs als eines Wunderdings, das all das leisten kann, was Platon ihm explizit absprach.60 Die führende Platonhermeneutik des 19. und 20. Jh. war nicht unplatonisch, sie war antiplatonisch. 9.

Was ist zu tun für den Platoniker? Schleiermachers An-den-Rand-Drängen der mündlichen Philosophie Platons ist zurückzunehmen, womit schon 1908 Léon Robin, in den 20er-Jahren Julius Stenzel begonnen hatten, bevor H. J. Krämer und Konrad Gaiser seit 1959 bzw. 1963 energisch auf die Testimonien der ἄγραφα δόγματα zurückgriffen.61 Das inhaltliche Plus dieser Überlieferung ist unbestreitbar und eine wertvolle Ergänzung und Hil59 Stein: Sieben Bücher, I, 72f.; vgl. 70: „Der wahre Philosoph ... kann selbst solche Schriften hervorbringen, die sich allein zu vertheidigen wissen, ...“. 60 Zur gleichsam mythischen Überhöhung der wundersamen Fähigkeiten des Dialogbuches in der modernen Dialogtheorie vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 353–358. 61 Léon Robin: La théorie platonicienne des Idees et des Nombres d’après Aristote. Paris 1908 [Nachdruck Hildesheim 1963]; Julius Stenzel: Studien zur Entwick-

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fe für die Interpretation der Dialoge. Die Motive Platons für seine Zurückhaltung in der Schrift sind klar herauszuarbeiten: es gab politische, didaktische, ethische und religiöse Motive. Die Analyse der Motive zeigt, daß Esoterik nicht dasselbe ist wie Geheimhaltung. Daß die textimmanente Esoterik grundsätzlich nicht geeignet ist, die von den Testimonien bezeugte Esoterik Platons zu verdrängen, sollte endlich anerkannt werden. Soll man also Schleiermacher über Bord werfen in Platonicis? Keineswegs. Schleiermachers Beschreibung der ‚Künste‘ der indirekten Mitteilung hat unsere Art, Platon zu lesen, verändert, und das kann nicht aufgegeben werden. Schleiermachers Ansatz ist vielmehr fortzuführen. Einmal ist an der Richtigkeit von Schleiermachers proleptischer Lesart der Dialoge festzuhalten. Es trifft zu, daß alles, was Platon schreibt, im Vorgriff auf weiter reichendes, tiefer begründendes Wissen geschrieben ist, das jedoch an der betreffenden Stelle nicht entfaltet, wohl aber vorausgesetzt und oft auch andeutend umschrieben wird. Schleiermacher nun nahm als Bezugspunkt solcher Prolepsis die Politeia, die er als das konstruktive Hauptwerk der letzten Phase des platonischen Schaffens betrachtete. Heute glauben wir zu wissen, daß die Politeia in die mittlere Periode gehört. Folglich kann die proleptische Bezugnahme auf das nicht ausbuchstabierte, aber im Hintergrund präsente fundierende Wissen nicht mehr einstufig konzipiert werden, wie es vor kurzem noch Charles Kahn62 mit Rückgriff auf Schleiermacher tat, sondern notwendig zweistufig, denn die späten Dialoge sind ja nicht weniger deutlich proleptisch angelegt als die frühen. Es sind also die frühen Dialoge proleptisch vom Horizont der Polilung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles. Leipzig/Berlin 21931 [1917]; ders., Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Leipzig/Berlin 21933 [1924]; Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles; Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963]. 62 Charles H. Kahn: Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a literary form. Cambridge 1996. – Kahn stellt zwar gebührend heraus, daß seine ‚proleptische‘ Lesart der Dialoge den Ideen Schleiermachers verpflichtet ist. Was hingegen nicht klar genug herauskommt, ist die Tatsache, daß die ‚proleptische‘ Lesart in der deutschsprachigen Platonliteratur stets intensiv gepflegt wurde, auch wenn das Wort ‚proleptisch‘ nicht immer dafür verwendet wurde. Als Beispiel nehme man etwa Walter Schulz: Das Problem der Aporie in den Tugenddialogen Platos. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer. Tübingen 1960, 261–275, oder auch meine Interpretationen der frühen und mittleren Dialoge in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, wo ich mein ganzes Unterfangen in der Schlußbemerkung (328f.) als neu begründete Empfehlung der proleptischen Lektüre (unter Verwendung dieses Wortes) einordne.

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teia her geschrieben, die Politeia ihrerseits und die späten Dialoge proleptisch vom Horizont der ungeschriebenen Prinzipienlehre her. Festzuhalten ist ferner Schleiermachers Einsicht, daß Form und Inhalt bei Platon unzertrennlich sind. Schleiermacher selbst hat diese Einsicht freilich nur hinsichtlich der Wirkungsweise der Kunstmittel der indirekten Mitteilungsform entfaltet. Diese ist weiter zu analysieren, wobei eher die Korrektur früherer Übertreibungen das Ziel sein sollte als das Aufspüren neuer tiefsinniger Doppeldeutigkeiten und versteckter Anspielungen. Der Gedanke der Einheit von Form und Inhalt ist über Schleiermacher hinaus auszuweiten auf die dramatische Gestaltung der Dialoge: es ist zu zeigen, daß Handlung und Figurenkonzeption immer wieder auf das Bild von esoterisch verfahrenden Gesprächsführern führen, so etwa wenn es in der Politeia niemandem gelingt, die Zurückhaltung des Sokrates hinsichtlich seiner Ansichten über Dialektik und die Idee des Guten aufzulockern, oder wenn in allen Dialogen der Gesprächsführer konzipiert ist als einer, der seinem Partner haushoch überlegen und der aktuellen Gesprächsphase meilenweit voraus ist. Wenn Platon solche Figuren auch noch sagen läßt, daß es Weiteres und Wichtigeres gibt, das indes hier und jetzt nicht zur Sprache kommen soll, so wäre er selbst als Autor eine schillernde und unglaubwürdige Gestalt, wenn diese Andeutungen einer möglichen tieferen Fundierung ungedeckte Schecks wären, ausgestellt, um sein eigenes Bild größer erscheinen zu lassen als es war. Solche weitere Analyse der platonischen Form, die in den letzten 20 Jahren vielerorts schon betrieben wird – wenn auch für gewöhnlich ohne Rückbezug auf Platons Schriftkritik – ist zweifellos eine legitime und notwendige Fortsetzung der Bemühungen Schleiermachers. Fortsetzung verdient und verlangt auch sein Ansatz bei der Schriftkritik, von der er nur einen einzigen zentralen Gedanken entfaltete: nimmt man, auf seiner Spur weiterschreitend, die weiteren Aussagen hinzu, so erkennt man, daß Platon vom Philosophen fordert, er müsse grundsätzlich in der Lage sein, im mündlichen Gespräch seine eigene Schrift inhaltlich in den Schatten zu stellen – was doch wohl nur möglich ist, wenn er seine Schriften so anlegt, wie Platon seine angelegt hat, nämlich bewußt unvollständig hinsichtlich der letzten Begründung, die eben der mündlichen ‚Hilfe für den Logos‘ vorbehalten bleiben muß. So zeigt sich denn die Größe und bleibende Lebendigkeit von Schleiermachers Entwurf: um als Platoniker dem Objekt unserer hermeneutischen Bemühungen näher zu kommen, können wir nicht gegen ihn ankämpfen, vielmehr bleibt uns keine andere Wahl als Schleiermacher auf dem durch ihn selbst aufgewiesenen Weg zu überwinden.

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25. Der Begriff „Seele“ als Mitte der Philosophie Platons (2010)

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich eine Einsicht allgemein durchgesetzt, der vor 100 oder 150 Jahren wenige zugestimmt hätten, nämlich daß Platon der eigentliche Gründer dessen ist, was im Abendland „Philosophie“ genannt wurde und wird – wobei „Philosophie“ als etwas qualitativ anderes zu verstehen ist als „Weisheit“ in Indien, China oder sonstigen außereuropäischen Kulturen – und daß Platons Werk, Platons Frageweise und Art der Theoriebildung das tragende Fundament der gesamten philosophischen Entwicklung bis zum Ende des metaphysischen Zeitalters gewesen ist. Diese Aussage ist nicht etwa identisch mit dem Urteil, daß Platon der größte Denker aller Zeiten war. Auch das wurde immer wieder behauptet, und zwar vorwiegend von Interpreten von Rang, so von dem durchaus platonkritischen, ja platonfeindlichen Karl Popper, der mitten in einem seiner Angriffe auf den platonischen Gerechtigkeitsbegriff eben dies versichert, daß Platon der größte aller Philosophen war.1 Doch für philosophische Größe gibt es nun einmal kein anerkanntes Maß, so daß Urteile dieser Art notwendig subjektiv bleiben müssen. Überdies ist es fraglich, was wir davon haben sollen, wenn wir uns eine Rangfolge von der Art zurechtlegen, daß dieser Denker der größte, jener der zweitgrößte, wieder ein anderer der drittgrößte war – wenn wir uns bestimmten philosophischen Fragen zuwenden, ist das ziemlich irrelevant, weil ja auch der dritt- oder viertgrößte im gegebenen Fall das Richtige gegen den Größten gesehen haben kann. Die Feststellung, von der ich ausging, betrifft hingegen den Einfluß, die bestimmende Wirkung, die Festlegung der Richtung für die Folgezeit. Das Urteil darüber muß weder rein subjektiv bleiben, noch ist es irrelevant für das, was wir jeweils konkret betreiben, denn wenn wir von einem Denker wissen, daß er alles Nachfolgende dominierte, so ist das ein Grund, bei ihm besonders aufmerksam hinzuschauen – vielleicht determiniert er auch unser Denken noch, ohne daß wir uns dessen hinreichend bewußt sind.

1 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I: Der Zauber Platons. Bern 1957, 141.

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1. Platons Weichenstellung Platon hat die griechische Philosophie, die am Ende des 5. Jahrhunderts mit Anaxagoras, Protagoras, Demokrit und Sokrates (um nur einige zu nennen) bereits eine bewundernswerte Höhe erreicht hatte, nochmals auf eine neue Stufe gehoben, einmal durch die von ihm zuerst erarbeitete kategoriale Unterscheidung zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren, Veränderlichen und Kontingenten einerseits und dem, was allein durch das Denken zu erfassen ist, dem νοητόν (noetón) oder Intelligiblen andererseits, das er als ‚Idee‘ auslegte, die notwendig so ist, wie sie ist und sich nie ändern kann, zweitens durch die Etablierung einer philosophischen Methode, die er Dialektik nannte und von bloß fachwissenschaftlicher Methodik scharf unterschied, und drittens durch die durchgehende Beziehung aller Bereiche des Denkens, des theoretischen wie des praktischen Denkens, auf die Spitze des Reichs des Intelligiblen, auf die Idee des Guten, die er als transzendent auch gegenüber den Ideen begriff. Durch diese drei Neuerungen wurde er zum maßgeblichen Denker für die Folgezeit und zum Begründer der abendländischen Metaphysik, deren Ende erst 2300 Jahre später von Nietzsche und Heidegger, von der analytischen Philosophie und anderen Richtungen verkündet wurde. Im Zuge dieser Neubegründung der griechischen Philosophie wurde der Begriff Seele zu einem zentralen Begriff für alle künftige philosophische Bemühung. Durch Platon lernten die Griechen die Seele als Substanz zu verstehen. Es mag paradox wirken, wenn zur Kennzeichnung des platonischen Seelenbegriffs gerade der Zentralbegriff der aristotelischen Ontologie, Substanz, bemüht wird. Doch dürfte klar sein, was gemeint ist: Seele nicht als ein bloßes Vermögen, eine δύναμις (dynamis), des Körpers, nicht als eine Eigenschaft von etwas anderem oder als eine Relation zwischen anderen Dingen, z. B. als Harmonie der Bestandteile des Körpers – die Psyche-Harmonia-Theorie wird ja im Phaidon diskutiert und verworfen2 –, sondern Seele als ein an sich und von sich her existierendes Etwas, dessen Wesen klar bestimmt und nicht von anderem abhängig ist: eben Seele als selbständige Substanz.3 Und diese Substanz ist das, was den Menschen ausmacht: der Mensch ist seine Seele, nicht sein Körper, und auch nicht die Verbindung von Körper und Seele. Die entscheidende Bestimmung aber 2 Vgl. Platon, Phaidon 92 a–95 a. 3 Die Verwendung dieses Wortes der lateinischen Aristoteles-Tradition bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Ontologie der aristotelischen Substanzbücher (Metaphysik Z–Θ) Anwendung auf die platonische Seelenauffassung finden müßte.

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lautet: dieses substantielle Selbst des Menschen, die Seele, ist unsterblich, weil der intelligiblen Ideenwelt ontologisch verwandt. Dadurch wird Platons Seelenlehre zu einem Teil seiner Metaphysik. Diese philosophische Weichenstellung Platons, die Begründung einer metaphysischen Seelenlehre, blieb in Kraft bis zur Kritik der reinen Vernunft, in deren erster Auflage von 1781 Kant den Satz „Also bin ich, als denkend Wesen (Seele), Substanz“, als „ersten Paralogism“ der reinen oder rationalen, d. h. nichtempirischen Seelenlehre entlarvte.4 Wer aber nun meinen würde, mit Kants einschneidender Kritik sei die Fortwirkung der platonischen Seelenauffassung beendet gewesen, der wäre an Sigmund Freud zu erinnern, der gewiß antimetaphysisch dachte, aber gleichwohl die platonische Strukturierung der Seele in drei Grundkräfte in seine wirkungsmächtige Theorie übernahm – die Seele besteht nun aus dem Es, dem Ich und dem Über-Ich (statt platonisch aus Begierden, Affekten und Vernunft) –, oder an die Forderung der Existenzphilosophie, der Mensch müsse in wacher Sorge um seine Eigentlichkeit frei wählend seine Existenzform selbst bestimmen – was ist das anderes als die metaphysikfreie Version der platonischen ‚Sorge um die Seele‘ (ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς) mit ihrer Forderung des ἐαυτòν πλάττειν, der Formung seiner selbst (Politeia 500 d6)?

2. Worauf Platon zurückgreifen konnte Platon hat also die Seele, die ψυχή, zu einem Zentralbegriff der Philosophie gemacht. Aber er hat den Begriff nicht neu eingeführt. Es gab vor ihm bereits eine Vielfalt von entwicklungsfähigen Vorstellungen von der Seele. Seit den frühesten geschriebenen Texten, der Ilias und der Odyssee, spielt die ‚Psyche‘ eine Rolle im Denken der Griechen. Bei Homer ist sie die Totenseele, die im Augenblick des Todes den Körper verläßt und als bloßes Schattenbild des Verstorbenen kraftlos und freudlos im Hades weiterexistiert.5 Natürlich blieb es nicht bei dieser archaischen Seelenvorstellung. Was alles dazukam, hat Erwin Rohde umfassend untersucht in seinem klassischen, heute noch lesenswerten Werk Psyche. Seelencult und Un-

4 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 348. 5 Z. B. Odyssee, 10.495: Totenseelen als ‚Schatten‘, 11.205/207: die Psyche im Hades ‚einem Schatten gleich‘, 11.602: εἴδωλον (eidôlon) = Abbild, Schattenbild des Herakles im Hades.

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sterblichkeitsglaube der Griechen.6 Aus der Vielfalt der Seelenvorstellungen der vorplatonischen Zeit, die wir heute noch, trotz des Verlustes des größten Teils der älteren Literatur, rekonstruieren können, seien folgende sechs Punkte als für Platon unmittelbar relevant herausgehoben: 1. Heraklit, dessen Philosophie Platon als erste kennen lernte,7 hatte eine interessante Philosophie des Selbst und der Seele.8 2. Die Seele gehört zum göttlichen Feuer oder zum göttlichen Aither.9 3. Nach dem Tod lebt die Seele weiter, und zwar in einer höheren Existenzform (im Gegensatz zur homerischen Auffassung).10 4. Die Seele ist nicht zum ersten Mal hier auf Erden, und nach dem Tod wird sie noch unendliche Male wiederkehren in anderen Körpern. Das ist der orphisch-pythagoreische Glaube an die Seelenwanderung, der auch bei Empedokles begegnet und von dem auch Pindar wußte.11 Auf unser nächstes Leben müssen wir uns durch ethisches Verhalten vorbereiten. Hierher gehören auch die Mysterienreligionen, die den Mysten als Sproß der Gottheit ansehen, der dank der Initiation in den Mysterienkult wieder göttlich werden wird.12 5. Anaxagoras lehrte, der Nus, die göttliche Vernunft, lenke den Kosmos und beherrsche alles, ausdrücklich auch alles, was Psyche hat.13 6. Die stete Mahnung des Sokrates, daß ohne die Sorge um die eigene ‚Seele‘, ohne die ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς (epimeleia tes psyches), das Leben nichts wert sei, bestimmte Platons Denken von frühen Jahren an.

6 Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg i. B./Leipzig 21898 [1894]. Aus der neueren Literatur, die Rohde in Einzelheiten zu ergänzen, gelegentlich zu korrigieren, als Ganzes aber nicht zu ersetzen vermochte, seien genannt: David B. Claus: Toward the Soul. An Inquiry into the Meaning of ψυχή before Plato. New Haven/London 1981; Jan Bremmer: The Early Greek Concept of the Soul. Princeton 1983. 7 Vgl. Diogenes Laertios 3.5, vgl. Aristoteles, Metaphysik A6, 987 a 32–33. 8 DK (= Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin-Grunewald 61952) 22 B 101, 45, 115. 9 Heraklit, DK 22 B 76/77; IG (= Inscriptiones Graecae) I 945. 10 Heraklit DK 22 B 77, Euripides fr. 638, 833 Nauck. 11 Empedokles, DK 31 B 115, 117, 146, 147; Pindar, Ol. 2.68ff. 12 Diesen Glauben bezeugen die in Gräbern orphischer Mysten gefundenen sog. „Totenpässe“, auf Goldblättchen („Lamellae aureae“) geschriebene Texte, die dem Verstorbenen die Orientierung und einen günstigen Empfang im Jenseits sichern sollten. Abgedruckt als Anhang (S. 389–398) zu: Christoph Riedweg: Initiation – Tod – Unterwelt. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 359–398. Relevant sind vor allem die Texte A 1–5, B1, 3–8, 11 Zuntz. 13 DK 59 B 12 (Band II S. 38.4–5).

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Was hat nun Platon aus diesem vielfältigen und faszinierenden Erbe gemacht? Bevor ich das zusammenfassend und mehr oder weniger systematisch darzustellen versuche, möchte ich einige Kostproben platonischer Texte über psyche geben, die die Vielfalt der Frageweisen, der Darstellungsarten und Stilhöhen sowie der inhaltlichen Aspekte illustrieren sollen.

3. Zehn kurze Beispiele platonischen Redens von der Psyche 1. Theaitetos 184 b–186 e. Sokrates fragt den jungen Theaitetos, womit wir Weiß und Schwarz und hohe und tiefe Töne wahrnehmen, und die Antwort ist natürlich: mit den Augen und den Ohren. Dann wird gefragt, ob es nicht richtiger wäre zu sagen, daß wir diese Wahrnehmungen nicht mit den Augen und Ohren, sondern mit ihrer Hilfe oder durch sie wie durch Werkzeuge wahrnehmen (διά τούτων οἷον ὀργάνων 184 d4). Was ist der Unterschied? Bei der ersten Ausdrucksweise entsteht der Eindruck, daß viele Wahrnehmungen in uns sitzen wie in einem trojanischen Pferd (184 d2). Was soll aber dieser Vergleich? Der Punkt, auf den es ankommt, ist, daß im trojanischen Pferd viele Subjekte sitzen, lauter selbständige Einzelkämpfer. Die Wahrnehmungen hingegen müssen alle gemeinsam auf eine Gestalt hinzielen, zu ihr hintendieren (εἰς μίαν τινὰ ὶδέαν […] ουντείνει) – und das ist die psyche (d3–4). Die Seele ist demnach die Instanz, die die Einheit des Bewußtseins14 garantiert, ohne die die Wahrnehmungen auseinanderfallen würden. Wir nehmen also mit der Seele wahr, zwar mit Hilfe der Organe Auge und Ohr usw., aber nicht mit ihnen als Subjekten der Wahrnehmung. Sodann wird Theaitetos gefragt: wenn wir etwas über zwei Wahrnehmungen denken, etwa einen Ton und eine Farbe, z. B. daß sie zwei Wahrnehmungen sind, und daß sie sind, und daß jede mit sich identisch, von der anderen aber verschieden ist – mit Hilfe welchen Organs stellt die Seele so etwas fest? Mit gar keinem Organ, sagt Theaitetos, denn solche gemeinsamen Prädikate, die mehrere Wahrnehmungen betreffen, erfaßt „die Seele selbst durch sich selbst“ (185 e1). Sokrates ist nachgerade entzückt über diese Antwort (185 e3–8), und es ist auch klar, warum: der junge Gesprächspartner hat die von

14 Vgl. Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21922 [1903] [Nachdruck Hamburg 1961], 111 zu dieser Stelle: „Man muß sich hierbei erinnern, daß ψυχή sehr oft bei Plato ... als Ersatz für das fehlende Wort eintritt, welches unserm ‚Bewußtsein‘ entspräche.

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Sokrates’ Gesprächsführung suggerierte Abkehr vom sinnlichen und Hinwendung zum nichtempirischen, ‚seelischen‘ Anteil an der Erkenntnis sofort mitvollzogen. Zu den gemeinsamen Bestimmungen, den κοινά (koina), gehört aber auch das Sein und das Nichtsein. Auch das erfaßt keine Wahrnehmung, sondern die Seele selbst. Wenn die Wahrnehmung aber das Sein als solches nicht erfaßt, dann auch nicht die Wahrheit – denn ‚sein‘ ist im Griechischen in der sog. veritativen Bedeutung so viel wie ‚wahr sein‘ – , und wenn sie diese nicht hat, dann kann sie nicht sicheres Wissen, ἐπιστήμη (episteme), sein. Das war aber die Frage in diesem Dialog: was ist Wissen, ἐπιστήμη, und die Antwort des Theaitetos lautete: Wissen ist Wahrnehmung (151 e). Das ist nun ausgeschlossen (186 e9–12). Wahrheit und gesichertes Wissen sind nur in dem Bereich möglich, in dem die Seele ohne Hilfe eines körperlichen Organs urteilt. 2. Phaidros 246 a–b. Die wahre Gestalt der Seele anzugeben, wäre etwas für eine göttliche und lange Darlegung. Sokrates begnügt sich mit einer menschlichen und kürzeren, die nur angibt, wem die Seele gleicht. Sie gleiche also, sagt er, der zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Gespannes und eines Wagenlenkers. Bei den Seelen der Götter sind beide Pferde untadelig, bei den Menschen ist das eine Pferd gut und schön, das andere häßlich und schlecht (253 d–e). Das ist das berühmte platonische Bild von der Seele als Gespann aus gänzlich heterogenen Komponenten, wobei das schlechte und das gute Pferd noch irgendwie – qua Pferde – vergleichbar sind, während der Lenker als Mensch klarerweise auf einer anderen Stufe steht. Mit diesem Wagen erfolgt die Auffahrt zum Rand des Himmels, wo man hinausschaut auf den jenseitigen, den ‚überhimmlischen‘ Ort, wo die Ideen sind. Man beachte, daß Menschen und Götter dieselbe Seelenstruktur haben, wenn auch in ungleicher Qualität, und daß sie dasselbe Ziel verfolgen, das Hinausschauen über den sinnlichen Bereich hinaus auf das Intelligible. 3. Politeia 611 c–d. Was wir in diesem Leben erblicken, ist nicht die wahre, die alte Natur der Seele, sagt Sokrates, sondern eher vergleichbar einer Statue des Meergottes Glaukos, die unter Wasser vielfach beschädigt wurde und zudem überwachsen ist von Muscheln und Algen und Steinen, so daß die ursprüngliche Gestalt kaum noch zu erkennen ist. Die Entstellung durch den wesensfremden Zuwachs komme bei der Seele von der Gemeinschaft mit dem Körper. 4. Phaidon 115 c–116 a. Sokrates’ alter Freund Kriton fragt am Ende des Dialogs, wie man ihn begraben solle. Sokrates tadelt ihn mit sanftem, ruhigem Lachen: diesen Kriton konnte ich nicht überzeugen, daß ich

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nach Eintritt des Todes gar nicht mehr da sein werde (115 c3–d3). Nur Sokrates’ Körper wird bleiben, und den mag man begraben, wie man will, er selbst wird längst weg sein zum glücklichen Leben der Seligen (d4). Das wahre Selbst des Menschen hat mit dem Körper nichts zu tun, es besteht allein in der unsterblichen Seele. So sagt es auch der Gesprächsführer in Platons letztem Werk, der ‚Athener‘ in den Nomoi (959 a4–b5). 5. Politeia 588 b–e. Auch bei Betrachtung der Seele selbst stellt sich dasselbe Problem, was zum Menschen gehört, was nicht. Platon arbeitet wieder mit einem Bild: man stelle sich ein Wesen vor, das äußerlich von einer Hülle umfaßt wird, die aussieht wie ein Mensch. Innerlich aber besteht es aus einem riesigen vielköpfigen gierigen Ungeheuer, einem nicht so großen Löwen und einem sehr viel kleineren Menschen. Die Seele hat also tierhafte Elemente in sich, edle und unedle, die Vernunft in ihm aber heißt „des Menschen innerer Mensch“ (τοῦ ἀνθρώπου ὁ ἐντὸς ἄνθρωπος, 589 a7), d. h. der wahre Mensch ist nur die Vernunftseele. 6. Phaidon 81 c–d. Dieser Passus bringt eine Überraschung. Die ihrem Wesen nach unsichtbare Seele wird doch sichtbar, lesen wir hier, wenn unreine Menschen sterben, deren Seele im Leben so sehr am Körperlichen hing, daß sie sich im Tod nicht wirklich von ihm lösen konnte. Solche dem Körperlichen noch verhaftete Seelen sind dann sichtbar als Gespenster, die um die Gräber flattern. 7. Politeia 549 c–550 b. Ein Beispiel für Platons psychologisierende Charakterkonstruktion ist die Schilderung der Entstehung des timokratischen Charakters im 8. Buch der Politeia. Ein philosophisch gesinnter Mann, der in einer nicht gut regierten Stadt lebt, wird Ämter und Ehren meiden, ebenso Prozesse und Händel und lieber Zurücksetzungen in Kauf nehmen, als sich in Konkurrenz und Streit verwickeln zu lassen. Seine ehrgeizige Frau aber wird spüren, daß ihr friedliebender Mann und durch ihn auch sie selbst zu wenig Beachtung und Anerkennung finden. Auf den Sohn beider wird sich das so auswirken: Mutter und Freunde werden den Vater unmännlich schimpfen und den Sohn anstacheln, männlicher, d. h. egoistischer und kämpferischer zu werden. Sie werden also den Ehrgeiz und die Begierden in ihm stärken, während das Vorbild des Vaters die Vernunft in ihm fördert. Von beiden Seiten gezogen, stabilisiert sich der Charakter des jungen Mannes in der Mitte: die Herrschaft in seiner Seele erhält der ehrgeizige Seelenteil, er wird zum timokratischen Charakter statt zum philosophischen wie der Vater. Analog dann der Ablauf anderer Charakterveränderungen: die ganze Bandbreite empirisch möglicher Cha-

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raktertypen ist erklärbar aus der Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den drei ‚Teilen‘ der in sich nicht stabilen Seele. 8. Phaidros 254 e–256 a. Ein weiteres Beispiel psychologischer Beschreibung: höchst reizvoll ist die Analyse der Entstehung der Liebe im Herzen eines Menschen, der unablässig von einem stark Verliebten umworben wird. Anfangs denkt der Umworbene (oder auch die Umworbene, denn Platons Beschreibung trifft auf heteroerotische Beziehungen gleichermaßen zu), die stete Nähe und der vertraute Umgang des Verehrers bedeute nur Sympathie und Wohlwollen. Nach einiger Zeit glaubt er oder sie, selbst „Freundschaft“ für den anderen zu empfinden – nur Freundschaft, φιλία: in Wirklichkeit ist die Liebe des Verehrers längst übergesprungen und hat unbemerkt Gegenliebe, ἀντέρως, erzeugt. 9. Politeia 571 b–d. Die Wirkungsweise des Unterbewußten schildert Platon zu Beginn des neunten Buches der Politeia in nachgerade freudianischen Farben. Wenn die Kontrolle der Vernunft wegfällt, brechen die Begierden durch. Im Rausch und im Schlaf insbesondere können alle Schranken des Anstandes und des Schamgefühls fallen, und es kommt zu Träumen vom Inzest mit der Mutter, von anderem unerlaubtem Verkehr, auch mit Tieren, von Mord und jeder Art von Regelverletzung. Bemerkenswert die Auffassung, daß die abwegigen Begierden in jedem vorhanden sind, daß es aber große Unterschiede hinsichtlich ihrer Beherrschung durch den einzelnen gibt. 10. Politeia 505 d–e. Wieder anders wird die Seele beleuchtet in dem berühmten Satz kurz vor dem Sonnengleichnis, in dem es heißt: was jedwede Seele verfolgt und worumwillen sie alles tut, weil sie ahnt, daß es etwas (Großes) ist, wobei sie aber keine Klarheit hat und nicht hinreichend erfassen kann, was es ist und wofür sie über kein festes Mittel der Beglaubigung verfügt wie bei anderen Dingen – dieses von allen Gesuchte und Verfolgte ist ‚das Gute selbst‘ oder die Idee des Guten. Ähnlich heißt es bei der Bestimmung des Liebesverlangens im Symposion: der Eros richtet sich grundsätzlich darauf, daß einem das Gute für immer zuteil werde (Symp. 206 a11–12).

4. Einige Grundzüge der platonischen Seelenvorstellung Nach diesen Textproben, die keineswegs alles Relevante illustrieren, sondern nur ein Bild von der typisch platonischen Verbindung von philosophischem Tiefblick und dichterischer Bildhaftigkeit vermitteln wollten, muß nun ein Versuch folgen, eine Art Ordnung in diese Vielfalt zu brin-

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gen. Eine in sich abgerundete Psychologie gibt es bei Platon nicht – ich meine eine „Psychologie“ oder „Seelenlehre“ als geschlossene Darstellung seiner Ansichten von der Seele. Daraus hat man lange Zeit den Schluß gezogen, daß er auch keine konsistente und zu Ende gedachte Theorie der Seele gehabt habe. Dieser Fehlschluß ergab sich als Konsequenz der alten, inzwischen überholten Dialogauffassung des 19. und 20. Jahrhunderts, nach der die Dialoge dogmatisch autarke Werke sind, die die Aufgabe haben, den jeweils neuesten Stand der philosophischen Entwicklung des Autors zu dokumentieren. Doch die Dialoge bezeugen selbst mit aller Deutlichkeit, daß das nicht ihre Zielsetzung ist. Fast jeder Dialog verfügt über eine oder mehrere „Aussparungsstellen“, d. h. Stellen, an denen der Gesprächsführer erklärt, daß das Gespräch um weitere, für das gerade behandelte Thema wesentliche Fragen erweitert werden müßte, dies aber hier und jetzt unterbleiben muß mit Rücksicht auf die gegebene Gesprächssituation. Zu deuten sind diese inhaltlichen Aussparungen aus den Gedanken der platonischen Schriftkritik im Phaidros. Während die Schrift den grundsätzlichen Mangel aufweist, daß sie vor ungeeigneten Lesern nicht schweigen kann, ist der mündlich philosophierende Dialektiker sehr wohl in der Lage, vor Ungeeigneten zu schweigen (Phdr. 275 e1–3 mit 276 a6– 7). Die philosophische Schrift ist aber ein ‚Abbild‘, εἴδωλον, der ‚lebendigen und beseelten Rede des Wissenden‘, d. h. der mündlichen Dialektik (276 a8–9). Als Abbild kann sie auch das Verhalten des Dialektikers, der nötigenfalls auch schweigen kann, zwar nicht selbst vollziehen, wohl aber abbilden: und eben das tun die platonischen Dialoge an den Aussparungsstellen. Hier zeigen sie wie der Gesprächsführer, der zweifellos in der Lage wäre, die Diskussion zu weiteren, grundsätzlicheren, von der Sache eigentlich erforderten Fragen zu führen, dies nicht macht aus Rücksicht auf den oder die Partner. Und noch in einem weiteren Punkt hilft uns die Schriftkritik, die Anlage der Dialoge zu verstehen: den Namen philosophos verdient nach Phdr. 278 c4–d6 nur der Autor, der das, was er schreibt, als ‚Wissender‘ schreibt und im Besitz der Fähigkeit, seinem Geschriebenen mündlich zu ‚helfen‘ und es so als ‚gering‘ (im Vergleich mit der mündlichen ‚Hilfe‘) zu erweisen. Was er dann mündlich vorbringt, sind entsprechend ‚Dinge von höherem Rang‘, τιμιώτερα (timiotera). Das bedeutet: der philosophische Autor muß für seine Schriften die weiterreichende mündliche Begründung und Vertiefung schon bereit haben. Auch das illustrieren die Dialoge: eine Argumentenfolge wird als schriftliches Abbild vorgelegt, doch der Urheber des abgebildeten Gesprächs erklärt, daß anderes, Weiterführendes noch nötig wäre – und bringt dann dieses andere hier in dieser Schrift nicht. Kann das etwas anderes bedeuten, als daß der Autor der

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Schrift, also Platon, im Besitz der mündlichen ‚Hilfe‘ ist, die sein fiktiver Gesprächsführer schriftlich für notwendig erklärt? Die Aussparungsstellen und der Phaidros mit dem Hinweis auf das Schweigenkönnen des Dialektikers und auf das Verfügen des philosophischen Autors über höherrangige mündliche Hilfe zeigen mit hinreichender Klarheit, daß die platonischen Dialog ganz und gar nicht als dogmatisch autarke Werke gedacht sind, sondern prinzipiell auf Ergänzung durch weiterreichende Argumente angelegt sind.15 Das bedeutet, daß ein Versuch, aus Platon eine konsistente Theorie zu gewinnen, die über die Aussagen des einzelnen Dialogs hinausgeht, weit mehr im Einklang mit den schriftstellerischen Intentionen des Autors steht als die Zerlegung des Dialogwerks in vermeintlich selbständige Stücke – insbesondere wenn man bedenkt, daß sich zeigen läßt, daß manch ein Dialog die ‚Hilfe‘ (oder Elemente der ‚Hilfe‘) enthält, auf die hin ein anderer angelegt ist.16 Allerdings dürfen wir uns nicht einbilden, die platonischen Letztbegründungen sicher ermitteln zu können: sie waren nun einmal nicht für die Schrift gedacht, die sich die geeigneten Rezipienten bekanntlich nicht selbst suchen kann (Phdr. 275 e1–3). Doch der Versuch darf gewagt werden.

a) Die Struktur der Seele – und die des Staates Die Seele ist nach Platon dreigeteilt. Er spricht von μέρη (mere), ‚Teilen‘, öfter von εἴδη (eide) oder γένη (gene), ‚Formen‘ oder ‚Arten‘ von Seele. Diese drei ‚Arten‘ bilden freilich eine Einheit, ein ‚zusammengewachsenes Vermögen‘ (σύμφυτος δύναμις, Phdr. 246 a6–7). Gleichwohl, es ist eine Einheit durch Zusammensetzung. Und diese Zusammensetzung ist nicht die beste Zusammensetzung, wie einmal ausdrücklich festgehalten wird (Politeia 611 b6). D. h. der Mensch ist eine irgendwie unglückliche Kon-

15 Zum hier aus Raumgründen nur unvollständig entwickelten Bild von der Natur des platonischen Dialogs vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 und ders.: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004. 16 Hierin liegt die methodische Rechtfertigung der proleptischen Lektüre der Dialoge (die man bei Charles H. Kahn: Plato and the Socratic Dialogue: the Philosophical Use of a Literary Form. Cambridge 1996, leider vermißt); vgl. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, passim und bes. 328.

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struktion, mit Spannungen behaftet, die in der Konstitution seiner Seele angelegt sind. Daher die Unruhe und enorme Dynamik der Seele. Die Dreiteiligkeit wird in Bilder gefaßt (wie in den obigen Textproben 2 und 5 vorgeführt): Monstrum, Löwe und Mensch mit menschlicher Hülle oder Lenker mit zwei Pferden – kein Wunder, wenn die Lenkung dieses Gespanns ‚schwierig‘ ist, wie Platon sagt (Phdr. 246 b4) – d. h. der Mensch ist ethisch immer gefährdet. Es gibt auch einen Beweis für die Dreiteiligkeit, genauer für die Selbständigkeit der drei seelischen Kräfte Begierde, Ehr- und Rechtsgefühl sowie Vernunft gegeneinander. Dabei wird der Satz vom Widerspruch bemüht: es kann nicht ein und dieselbe Sache im Verhältnis zu ein und demselben anderen Ding eine Bestimmung haben und gleichzeitig das Gegenteil dieser Bestimmung. An der Seele sehen wir aber, daß sie dieselbe Sache gleichzeitig begehren und ablehnen kann. Also müssen hier verschiedene Instanzen am Werk sein, sonst ergäbe sich ein logischer Widerspruch. Durch zweimalige Anwendung dieser Erwägung gelangt Platon zur Unterscheidung dreier Seelenteile (Politeia 436 b–441 c): der begehrliche Seelenteil, das ἐπιθυμητικóν (epithymetikon), ist zu trennen vom Ehr- und Gerechtigkeitsempfinden, dem muthaften Teil oder θυμοειδές (thymoeides), und beide vom vernünftigen Teil, der Denkseele oder dem λογιστικóν (logistikon). Weder bildlich noch beweisend, sondern als bloße Feststellung findet sich dieselbe Seelenstruktur schließlich auch im Timaios mit dem entscheidenden Zusatz, daß allein die Denkseele göttlich und unsterblich ist, denn nur sie wurde vom Demiurgos, dem göttlichen Weltschöpfer selbst geschaffen, während die anderen beiden Teile, Werke von nachgeordneten Göttern, die die Weltschöpfung des Demiurgen ergänzen, sterblich sind und der unsterblichen Vernunftseele nachträglich ‚angebaut‘ wurden (Tim. 69 c8). Dem heutigen Leser stellt sich die Frage, ob das Freudsche Modell der Seele,17 nach dem das Es, das Ich und das Über-Ich zusammen das Verhalten des Individuums bestimmen, ganz unabhängig von der platonischen Dreiteiligkeit konzipiert werden konnte. Gewiß sind die genannten drei Bereiche der Psyche nicht lediglich andere Namen für die platonischen ‚Teile‘ epithymetikon, thymoeides und logistikon. Freuds Modell könnte jedoch als eine moderne, d. h. metaphysikfreie Adaptation der platonischen Trichotomie verstanden werden. Denn trotz der beträchtlichen Unterschiede – deren wichtigster wohl ist, daß Freuds Über-Ich weitgehend un-

17 Vgl. Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Leipzig 1923.

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bewußt wirkt, während Platon das logistikon als die Fähigkeit klarer Vernünftigkeit und Bewußtheit konzipierte – bestehen auch signifikante Übereinstimmungen. Dazu ist schon die nicht von vornherein selbstverständliche Dreizahl der Grundkräfte bzw. -bereiche zu rechnen, sodann das Faktum, daß die ‚äußeren‘ Elemente bei beiden Seelendeutern in je verschiedener Weise ein Allgemeines repräsentieren: das ‚Es‘ ist schon durch seinen Namen als vorindividuell gekennzeichnet, ebenso sind die Wünsche des epithymetikon bei allen gleich (erst die Erziehung weist ihnen ihren Platz in der jeweiligen Persönlichkeit zu); die Vernunft des logistikon will das für alle Gültige verwirklichen und so auch den Ehrgeiz des thymoeides eindämmen, so wie das Über-Ich zwar nicht die Stimme der Vernunft selbst ist, wohl aber die Stimme der das Ich in die Gemeinschaft hineinzwingenden Instanzen. Angesichts von Freuds gründlicher Vertrautheit mit der griechischen Antike bleibt es die wahrscheinlichste Annahme, daß die platonische Seelentrichotomie bewußt oder unbewußt eine Vorbildfunktion für Freuds Seelenmodell hatte. Die Struktur des Staates muß nach Platon der Struktur der Seele entsprechen, jedenfalls im idealen Staat, den er in der Politeia entwirft. Es wird also drei Stände, Schichten oder Klassen geben: die Schicht der Regierenden (Männer und Frauen), die Philosophen und Philosophinnen sein müssen, die der sog. ‚Helfer‘ (ἐπίκουροι, epikouroi, ebenfalls Männer und Frauen), die das Kriegshandwerk lernen, den Staat nach außen verteidigen und im Inneren den Philosophen helfen, die Ordnung aufrecht zu erhalten, und die der Kaufleute, Handwerker und Bauern, die den materiellen Wohlstand erwirtschaften. Die Angehörigen der politisch führenden Schicht, die das logistikon des Staates darstellen, müssen eine vollendete philosophische Ausbildung durchlaufen haben, die in der Erkenntnis der Idee des Guten gipfelt (Politeia 537 b–540 c). Allein diese Erkenntnis, die nur wenigen erreichbar ist (494 a, 503 d u. ö.), rechtfertigt ihren Anspruch auf die Lenkung des Staates.18 Die ‚Helfer‘ entsprechen im Staat dem ‚muthaften‘ Seelenteil, sie erhalten eine perfekte militärische und musische

18 Dieser Gedanke wurde in letzter Zeit öfters so mißverstanden, als wolle Platon sagen: wenn die höchste Erkenntnis der Idee des Guten als eines absoluten Prinzips möglich wäre, gäbe es auch Menschen, die der unumschränkten Herrschaft würdig wären, und der Idealstaat könnte so Wirklichkeit werden; da aber die Voraussetzung der Erkennbarkeit der Idee des Guten nicht gegeben sei, meine Platon seinen ‚besten Staat‘ als bloße Utopie. – Die wirkliche Argumentation in der Politeia verläuft ganz anders: da die Erkenntnis der Idee des Guten nach Platon möglich ist – das zeigt u. a. auch das Höhlengleichnis, das den Erkennenden zur klaren Sicht auf die Sonne selbst hinaufführt (516 b) –, gibt es jetzt schon

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Ausbildung, können jedoch mangels Eignung nicht bis zur Erkenntnis der Idee des Guten geführt werden. Die Erziehung des epithymetikon im Staat, d. h. der Masse der Erwerbstätigen, wird in der Politeia nicht ausgeführt. Die ‚Schichten‘ in Platons Idealstaat sind durchlässig: die Philosophenherrscher suchen unablässig nach Begabungen, ein Kind der ‚untersten‘ ‚Schicht‘ kann sehr wohl in den Kreis der Philosophenkönige aufsteigen, ein Kind der oberen Schichten kann in den produzierenden Stand versetzt werden. Für die zwei oberen Schichten ist die Familie aufgelöst, kein Vater und keine Mutter kennt sein oder ihr Kind; nach Platon würden sie eine große Familie bilden. Nicht nur auf die Kleinfamilie müssen diese Männer und Frauen verzichten. Auch Privatbesitz dürfen sie nicht haben, ihre Lebensweise ist von Luxus und Wohlleben weit entfernt. Es gibt also keine ‚Ausbeutung‘19 der produktiven Schicht durch die philosophische und militärische. Platon meint, diese dreiteilige Sozialstruktur habe der ideale Staat aus der Struktur der Seele, er könne sie gar nicht von anderswo haben (Politeia 435 e). Zwingend ist das nicht, denkbar wäre auch das Umgekehrte, d. h. die Konzeption eines Modells der Seele im Blick auf eine als ideal erachtete Sozialstruktur. Zudem wäre daran zu erinnern, daß die Dreiteilung der Gesellschaft in Priester, Krieger und Erwerbende altes indogermanisches Erbe ist20 und auch in Ägypten durchgeführt war. Von den Indogermanen wußte Platon natürlich nichts, wohl aber von den Ägyptern, die er für diese gesellschaftliche Ordnung lobt (Tim. 24 a4–b3).

b) Die Unsterblichkeit der Seele Die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele können nach dem Gesagten nur den göttlichen Teil der Seele, die Vernunft- oder Denkseele betreffen, auch wenn dies nicht ausgesprochen wird.

Menschen, die der Herrschaft im Sinne des Idealstaatsentwurfs würdig wären; daher versichert Sokrates als Gesprächsführer wiederholt, der ideale Staat sei keine bloße Wunschvorstellung, keine εὐχή (499 c–d, 502 c, 540 d), d. h. modern gesprochen: keine bloße Utopie. 19 Diesen Vorwurf erhob Ernst Bloch in seiner auch sonst sehr schiefen Darstellung des platonischen Idealstaates in: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien. Hamburg 1969, 21–26, hier: 25. 20 Bernard Sergent: Les indo-européens. Paris 1995, 271ff.

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In nicht weniger als vier Dialogen schickt sich Platon an, die Unsterblichkeit der Seele zu ‚beweisen‘: gleich drei Beweise bietet der Phaidon, je einen die Dialoge Politeia, Phaidros und Nomoi.21 Am bekanntesten ist der Passus aus dem Phaidros, in dem die Seele als Ursprung der Bewegung erwiesen werden soll. Ausgegangen wird von der Unterscheidung zwischen dem, was anderes bewegt und selbst von anderem bewegt wird und folglich, wenn dieses andere entfällt, keine Bewegung und kein Leben mehr hat, und dem, was sich selbst bewegt: da es sich selbst nicht verläßt, hört es nie auf, bewegt zu sein, ist vielmehr auch den anderen Dingen „Quelle und Ursprung der Bewegung“ (Phdr. 245 c5–9). Entscheidend ist die Vorstellung eines Selbstbewegten, das sich selbst nie im Stich läßt. Das bedeutet, wenn wir die ontologische Unterscheidung zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt – die Platon hier nicht bemüht – heranziehen: zwischen den sich ewig gleichbleibenden, unbewegten Ideen und der sich ewig bewegenden Welt des Werdens gibt es etwas, das einerseits wesentlich Bewegung ist, Quelle und Ursprung der Bewegung für sich selbst wie für anderes, andererseits dieses sein Wesen nie verliert, somit sich ewig gleich bleibt und unvergänglich ist. Daß es eine Entität gibt, die diesem Begriff genügt, beweist der ‚Beweis‘ in keiner Weise. Am Ende des Gedankengangs wird zwar klargestellt, daß der Begriff des Sich-selbst-Bewegenden nichts anderes ist als der Begriff der Psyche (245 e2–246 a2), und zuvor war im mittleren Abschnitt (245 d1–e2) versichert worden, daß das Sich-selbst-Bewegende als Ursprung, arché (ἀρχή), weder entstanden sein noch vergehen könne, denn ein Ursprung, der aus etwas anderem entstünde, wäre kein Ursprung, und wenn andererseits der Bewegungsursprung zugrunde ginge, könnte nie wieder etwas entstehen, der gesamte Kosmos stürzte ein und käme zum Stillstand. So wird zweimal: anläßlich des ‚Sich-selbst-nicht-verlassenden-Selbstbewegten‘ und anläßlich des ‚Ursprungs‘, analytisch herausgeholt, was in dem Begriff enthalten ist. Doch keine dieser Begriffsklärungen zwingt zur Annahme der Existenz des begrifflich so klar konzipierten ursprungs- und untergangslosen Ursprungs. Die Beweisstruktur ist demnach die des ontologischen Gottesbeweises: das gesuchte Ergebnis, hier die Unsterblichkeit der Seele, wird als im fraglichen Begriff selbst schon enthalten aufgewiesen. Mit Recht sprach daher Eduard Zeller vom „ontologischen Beweis für die Unsterblichkeit“ und

21 Phaidon 70 c–77 d, 78 b–80 b, 102 b–107 b, Politeia 608 c–611 a, Phaidros 245 c– 246 a, Nomoi 894 e–896 b.

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vergaß nicht hinzuzufügen, daß letztlich alle platonischen Unsterblichkeitsbeweise auf diesem Gedanken beruhen.22 Nebenbei ist anzumerken, daß erst der Hinweis auf den Einsturz des Kosmos für den Fall des Untergangs des ‚Ursprungs der Bewegung‘ (245 d8–e2) zeigt, daß Platon hier von der Unsterblichkeit nicht der Einzelseele, sondern der Weltseele handelt, und daß seine Argumentation die Ewigkeit der Welt voraussetzt. Einen Skeptiker könnte er damit nicht überzeugen: was wäre Unmögliches an der Vorstellung – so würde der Einwand lauten –, daß der Kosmos kollabiert und nur noch bewegungslose, ungeordnete Materie übrigbleibt? Für Platon hingegen ist es denkunmöglich, daß alles ungeordnet und unbewegt beisammen liegen könnte wie beim „Alles beisammen“ (ὁμοῦ πάντα) des Anaxagoras (vgl. Nomoi 895 a6). Daß die Unsterblichkeit der Weltseele ebenso auch für die Einzelseele gilt, ist im Phaidros die selbstverständliche Voraussetzung, die keiner Erwähnung bedarf. Ausgesprochen ist es im Timaios (41 c–d, 69 c, 90 a–d).

c) Verwandtschaft mit dem Intelligiblen. Eros Die unsterbliche Denkseele des Menschen ist wesensmäßig auf die Ideenwelt ausgerichtet (so wie der mittlere Seelenteil auf Ehre und Prestige, der unterste auf sinnlichen Genuß und Besitz). Einen begrifflichen Beweis dieser ontologischen ‚Verwandtschaft‘ (συγγένεια, syngeneia) zwischen Idee und Seele gibt es im Phaidon (78 b–80 c), bildlich drückt es Platon aus im Mythos von der Auffahrt der Seelenwagen an den Rand des Kosmos. Es erhebt sich zwar, im Gefolge der Götter, das ganze Gefährt zum Himmelsrand, aber während die Götter ganz heraustreten aus dem Kosmos (247 b6–c2, e2–4) und die jenseitige, die außerkosmische Ideenwelt ungestört betrachten, kann der Lenker des menschlichen Seelengespanns nur den Kopf hinausstrecken, Wagen und Pferde bleiben unterhalb der kritischen Grenze. So bleibt die Ideenschau des Menschen behindert von den unteren Seelenteilen, die mühsam unter dem Himmelsrand mitlaufen. Aber dem Kopf des Lenkers kommt es jedenfalls wesensmäßig zu, dasselbe zu erblicken wie die Götter, nämlich die Ideen, auch wenn die Verwirklichung unter schwierigen Umständen erfolgt und daher unvollkommen bleibt.

22 Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Theil, erste Abtheilung: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die Alte Akademie. Leipzig 51922, 825f.

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25. Der Begriff „Seele“ als Mitte der Philosophie Platons

An das, was die Seele bei diesem Aufstieg zu Beginn des Zyklus der Seelenwanderungen vom wirklichen Sein erblickt hat, kann sie sich, wenn sie wieder abgestiegen und in einen Körper gelangt ist, wieder erinnern. Wiedererinnerung, Anamnesis, wird zu einem Schlüsselbegriff der platonischen Erkenntnistheorie und Seelenlehre. Begriffliche Erkenntnis, Einsicht in begrifflich notwendige Zusammenhänge, können wir niemals aus den kontingenten Sinnesdaten bekommen; wir müssen sie schon mitbringen, eben als Erinnerung der Seele an das, was sie vor der körperlichen Existenz im Jenseits geschaut hat. Nicht ohne Grund hat Paul Natorp die platonische Anamnesis als Vorform des kantischen a priori aufgefaßt.23 Was die Seele am überhimmlischen Ort – so nennt Platon in seiner stets poetischen Sprache die Ideenwelt – gesehen hat, war vollkommen, und es war vollkommen schön. So hat die Seele eine Sehnsucht, das einst Geschaute wieder zu erblicken, und zugleich ist die Idee der Schönheit diejenige Idee, deren irdische, abbildhafte Verwirklichungen einen strahlenden Glanz haben, der eine Ahnung von der jenseitigen vollkommenen Schönheit vermitteln kann. Platon ist der Überzeugung, daß Schönheit, gerade auch die sinnliche Schönheit, den Menschen zum Geistigen emporziehen kann. Das Vermögen im Menschen, das auf diesen Anreiz, den Anblick des irdischen Schönen, reagiert, ist der Eros, die Liebe und das Verlangen nach dem Schönen – ein Verlangen, das eigentlich und wesensmäßig ein Verlangen nach dem absoluten Schönen ist. Dieses ist aber geistig, ideenhaft, das Schöne an sich oder, wie Platon gerne sagt, ‚das Schöne selbst‘ (αὐτὸ τὸ καλόν). Daher legt Platon den Eros zugleich als die seelische Kraft im Erkenntnisstreben aus. Wir streben erotisch nach der Schönheit, der Wahrheit, dem wahren Sein, nach den Ideen. Platon ist der erste Philosoph, der eine Philosophie der Liebe entwickelt hat.24 Wie alles bei ihm, ist auch diese Theorie eine metaphysische Theorie. Mythisch-poetisch redend, gibt Platon dem Eros eine Genealogie: er stammt ab von Poros und Penia, die Mutter Penia steht für die ewige Bedürftigkeit und Armut, Vater Poros für die Fähigkeit, sich das jeweils Begehrte auch zu verschaffen (Symp. 203 b–e). Der Eros ist zwischen beiden, μεταξύ (metaxy), zwischen Armut und Fülle, zwischen Weisheit (σοφία) und Unwissenheit (ἀμαθία). Diese wichtigste Kraft der Seele kann sich also immer wieder verschaffen, wonach sie verlangt, und verliert es immer wieder (203 e) und ist so in ste23 Natorp: Platos Ideenlehre, 29–42, bes. 42: „... die große Errungenschaft des Meno: die Entdeckung des a priori“. 24 Der Philosophie des Eros im Symposion und im Phaidros ging die Suche nach dem ‚ersten Lieben‘ (πρῶτον φίλον) im Lysis voraus. Der Horizont auch dieser Suche ist durch das Gute selbst bestimmt.

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ter Bewegung. Der Mensch kommt als Liebender, und insbesondere als die Wahrheit Liebender, d. h. als philosophos, nie zur Ruhe. Die mythische Genalogie des Eros bedeutet begrifflich, daß die Kraft der Seele ontologisch nicht ein Letztes ist, sondern von Ursprünglicherem abzuleiten ist. Sie steht in der Mitte zwischen einem Positiven und einem Negativen, zwischen Haben und Nichthaben, Sein und Nichtsein.

d) Die ontologische Konstitution der Seele. Die Seele als Mitte des Seins Eben dieser Punkt, die ontologische Konstitution der Seele, wird in ganz anderer Weise, aber wieder halbmythisch, behandelt im kosmologischen Dialog Timaios. Dort „mischt“ der Weltschöpfer, der Demiurgos, die Seele in einem Mischkrug, so wie man Wein und Wasser für das Symposion mischte – und darin besteht das Mythische der Erzählung. Nicht ganz so mythisch sind die Ingredientien der ‚Mischung‘. Die Seele – und es handelt sich hier wieder um die Welt-Seele, der göttliche Kosmos ist ja ein Lebewesen mit Körper und Seele, und seine Seele ist reine Denkseele – ist zusammengesetzt aus drei Bestandteilen: aus dem Sein, der Selbigkeit und der Verschiedenheit (Tim. 35 ab). Diese Begriffe erscheinen anderswo auch als drei der sogenannten ‚höchsten Gattungen‘ (μέγιστα γένη, megista gene), sie sind oberste dialektische Begriffe, die alles Denken regulieren bzw. es erst möglich machen, weil sie in jeder Aussage involviert sind (in jeder Prädikation geht es um Identität, Verschiedenheit und Sein der Bestimmungen). Das Entscheidende aber ist, daß diese drei Bestandteile der Seele: Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit, selbst Produkte von vorangehenden ‚Mischungen‘ sind: zwischen dem rein intelligiblen, unteilbaren Sein und dem teilbaren, körperlichen Sein, zwischen der intelligiblen und unteilbaren Selbigkeit und der teilbaren, zwischen der intelligiblen und der teilbaren Verschiedenheit. Das bedeutet: die Seele steht ontologisch in der Mitte zwischen der Ideenwelt und der Sinnenwelt. Sie muß an beiden Welten teilhaben, wenn sie erkennend die Präsenz der ewigen Ideen in der vergänglichen Werdewelt erfassen soll. Auch die Bewegung der Seele braucht Selbigkeit oder Konstanz (sonst ginge die Welt in Chaos unter) und zugleich Verschiedenheit oder Veränderung von einem Zustand zum anderen (denn Unveränderlichkeit ist dem Kosmos durch seinen ontologischen Status verwehrt). Durch die Weltseele reguliert der Demiurgos den Kosmos. Durch diese Mitte des Seins wird die Ordnung der intelligiblen Welt an die körperliche vermittelt, auf sie übertragen. Daher ist überall dort, wo Proportion, Zahl und Gestalt eine Rolle spielen, der Begriff der Seele mit im Spiel. Erst mit

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Hilfe des richtigen Verständnisses seines sehr besonderen metaphysischen Seelenbegriffs erschließt sich Platons Kosmologie und Theologie, seine ‚Psychologie‘ (im engeren, empirischen Sinn) und seine Erziehungstheorie, seine Staatstheorie und sein Geschichtsbild, seine Dichterkritik, Theorie der Rhetorik und Schriftkritik, seine Ontologie und seine Gnoseologie, und – nicht zuletzt – auch seine Ethik und Eschatologie.

e) Der ethische Aspekt. Die Angleichung an Gott Denn durch ihre ontologische Konstitution hat die Seele auch ethisch die Möglichkeit, sich nach oben oder nach unten zu wenden. Der Mensch ist moralisch frei. Er kann, in der Mitte zwischen geistiger und sinnlicher Welt stehend, versuchen, die Vernunftseele in sich selbst zur Herrschaft zu bringen, was für Platon der natürliche Zustand ist, oder er kann die Führung in seiner Seele dem Ehrgeiz und den Affekten überlassen, oder gar den niedrigsten Begierden. Der Intellekt geht dadurch nicht verloren, aber er wird geknechtet und in widernatürlicher Weise instrumentalisiert für Zwecke, die ihm fremd sind (Politeia, 518 e–519 a). Angesichts dieser ungleichen Wahl sind wir aufgerufen zur ‚Sorge um die Seele‘, zur ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς (epimeleia tes psyches). Unsere Hauptsorge muß sein, wie wir uns selbst moralisch formen, nicht wie wir unseren Ehrgeiz oder unsere Begierden befriedigen. Das setzt Selbsterkenntnis voraus. So wie die sokratische Sorge um die Seele sich als Versuch verstand, die Forderung des delphischen Gottes nach Selbsterkenntnis zu erfüllen, so verlangt die platonische Sorge um die Seele als erstes, daß wir erkennen, daß „wir“ nichts anderes sind als der göttliche Anteil in unserer Seele. Da aber dieser Anteil unsterblich ist, tragen wir Verantwortung nicht allein für die kurze Spanne unseres jetzigen Lebens, sondern für alle Zeit (Phdn. 107 c, Politeita 608 c–d). Die Sorge um die Seele ist also zugleich diesseitig ausgerichtet als auch jenseitig, auf ethische Bewährung hic et nunc und auf das Schicksal der Seele im Jenseits und in künftigen Inkarnationen. Dasjenige, dem man bewundernd folgt, dem gleicht man sich auch an (Politeita 500 c) – das betrachtet Platon als ein allgemeines Gesetz. Entsprechend der Mittelstellung und Zusammengesetztheit der Seele können wir den dem Körper verhafteten Impulsen folgen. Bei völliger Angleichung an diesen ungöttlichen, triebhaften, primitiven Bereich droht Vertierung des Menschen. Geben wir der Vernunftseele in uns die Herrschaft, so werden wir durch sie ‚von hier nach dort‘ gezogen – so lautet eine platonische Kurzformel für alles, wofür seine Philosophie steht: für die Bewegung von der Werdewelt zur Welt der unvergänglichen Ideen, vom Sinnli-

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chen zum Intelligiblen, ἐνθένδε ἐκεῖσε (enthende ekeise). Das ist der Kern von allem Platonismus, durch Platon selbst, einen Meister der Sprache, in ganze zwei Worte gefaßt.25 Die ontologische Konstitution der Seele erlaubt diesen Aufstieg zum göttlichen Ideenbereich. Wir haben den göttlichen Bestandteil in uns. Wenn wir ihm die Führung überlassen, greift wieder das allgemeine Gesetz der Angleichung an das bewunderte Vorbild, dem das logistikon von seiner Natur her zugewandt ist. Wir können innerlich werden wie dieser reine, mehr-als-menschliche Bereich, und dies durchaus im Sinne einer ontologischen Umwandlung, einer wahrhaften Verwirklichung unserer ‚alten Natur‘ (Politeia 611 d, Tim. 90 d). Wir können werden, wie wir einmal waren: ganz, unbeschädigt, glücklich. Diese geistige Umwandlung nennt Platon ὁμοίωσις θεῷ (homoiosis theo), Angleichung an Gott.26 Sie ist das Ziel des Menschen und der Sinn des Lebens. Der Mensch muß über sich hinaus wollen.

25 Dieser Ausdruck ἐνθένδε ἐκεῖσε, von hier nach dort, erscheint zu oft und ist zu deutlich an strukturell herausgehobene Stellen gesetzt, als daß man glauben könnte, er verdanke sich umgangssprachlicher Zufälligkeit. Der Autor schuf sich damit eine emblematische Formel für sein Wollen. Vgl. Tht. 176 a8, Phdr. 250 e2, Phdn. 107 e2, 117 c2, Politeia 529 a2, 619 e3. 26 Die gründlichste und ertragreichste Studie zu diesem Begriff ist die von Salvatore Lavecchia: Una via che conduce al divino. La „homoiosis theo“ nella filosofia di Platone. Milano 2006.

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos (1980)

1.

Trotz den bekannten, wie es scheint unaufhebbaren methodischen Differenzen in der Platonerklärung besteht doch Einigkeit über einen Punkt bei sozusagen allen Interpreten: der platonische Dialog spricht nicht alles aus, was zur Sache gehört, und das Fehlende ist stets mit vollem Bedacht weggelassen. Die Einigkeit in diesem Punkt ermöglicht freilich noch keine einheitliche Platondeutung: sie kann allenfalls als Ausgangspunkt dienen für eine Klassifizierung der konkurrierenden Ansätze. Denn diese lassen sich als unterschiedliche Antworten auf die Frage verstehen: Welcher Art ist das Fehlende, und wie könnte es ergänzt werden? Im wesentlichen gibt es hierauf drei Antworten: (1) Das Fehlende steht als die „einzig mögliche Lösung“ (Schleiermacher)1 hinter der unvollständigen Beweisführung. Es ist also eigentlich im Dialog vorhanden, nur nicht in der Form der direkten Mitteilung: es ist ausgespart, damit es der Leser selbst ergänze, und es ist so ausgespart, daß es der verständige Leser auch ergänzen kann. (2) Das Fehlende ist in anderen Dialogen nachgeholt, oder die Nachholung war geplant. Das Fehlende ist also ganz von der Art des Vorhandenen, es ist ein Projekt oder Programm von der gleichen Art, und in so und so vielen Fällen blieb es eben beim Programm, oder gar bei der bloßen Zukunftsvision. (3) Das Fehlende hat Platon nur mündlich entwickelt; es war von anderer Art als das, was die Dialoge bieten, bestand aus einer Theorie der Prinzipien. Diese läßt sich von den Dialogen aus in Umrissen erkennen, aber nicht mit hinreichender Deutlichkeit und Vollständigkeit ergänzen. Zu diesen drei Ansichten über die Beschaffenheit des Fehlenden gehören drei Ansichten über die Motivation für das Auslassen.

1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36, hier: 16.

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung

(1) Nach der ersten Ansicht, der Theorie der indirekten Mitteilung, ging es Platon darum, beim Leser totes Scheinwissen, das sich bei direkter Mitteilung leicht einstellt, zu vermeiden und sein eigenständiges, lebendiges Denken zu stimulieren.2 (2) Für die zweite Auffassung beantwortet sich die Frage nach der Motivation rein pragmatisch: auch für Platon war eben nicht alles auf einmal möglich. Der Gedanke läßt sich entwicklungsgeschichtlich deuten – beim Schreiben kam Platon nach und nach auf neue Perspektiven, die er im Umriß gleich festhielt, um manches davon später auszuarbeiten (K. F. Hermann, Wilamowitz) – oder mehr statisch auffassen – die Ökonomie des einzelnen Dialogs verlangt Beschränkung der Thematik, die Komplexität der Themen verlangt bisweilen Querverweise (P. Shorey). (3) Nach der dritten Auffassung war der Grund der Aussparung der Schutz der wichtigsten Einsichten und Erkenntnisse vor Mißbrauch und Herabsetzung infolge Unverständnis (im Sinne von Phaidros 275 e, 276 c und epist. 7, 341 c–342 a, 344 c–e). Einigkeit besteht unter den Interpreten noch über einen zweiten, inhaltlich scheinbar harmlosen Punkt: daß die schriftliche Darlegung von Philosophie ein Abbild, ein εἴδωλον des Vollzugs lebendiger Philosophie ist. Das Wort begegnet im Phaidros (276 a), dort wo auch gesagt ist, daß der Philosoph seinen ‚Ernst‘ nicht der Schrift anvertrauen wird (276 c). Daß der ‚Ernst‘ das Fehlende oder Ausgesparte betrifft, ist klar, aber welcher Art das Fehlende der Dialoge ist, bleibt strittig, wie wir soeben sahen. Vielleicht läßt sich die Frage nach der Art des Fehlenden einer Entscheidung näher bringen, wenn wir die zwei zugestandenen Punkte, die Absichtlichkeit des Weglassens und die Abbildfunktion des Geschriebenen, miteinander in Beziehung setzen und die Frage stellen: gibt es bei Platon ‚Abbilder‘ oder Darstellungen des willentlichen Zurückhaltens von Einsicht?

2 Ausgangspunkt war für Schleiermacher (Schleiermacher: „Einleitung“, 14ff.) Phaidros 275 ab: die auf die Schrift vertrauen, werden nicht weise, sondern scheinweise (δοξόσοφοι). Scheinweisheit ist für Platon freilich eine Wirkung der Schrift (der γραφή) schlechthin; nirgends sagt er, daß eine bestimmte Art der Handhabung der Schrift – etwa die indirekte Mitteilung im Gegensatz zur direkten – diese konstitutionelle Schwäche der Schrift ausgleichen könne. Die Geschichte des dogmatischen Platonismus von Xenokrates bis Proklos zeigt denn auch zur Genüge, daß die Dialogform der platonischen Werke Scheinwissen zu keiner Zeit verhindern konnte. Der Glaube, daß der schriftliche Dialog über seinen Schatten springen kann, ist modern.

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung

Der Sinn der Fragestellung ist dieser: es geht hier nicht allein um Interpretation von Stellen, an denen philosophisch gesehen etwas zu fehlen scheint (das wäre eine rein inhaltsorientierte Interpretation); zuvor ist vielmehr literarische Motivsuche zu betreiben: ist das Zurückhalten von Einsicht im dramatischen Geschehen des Dialogs als Motiv isoliert, ausgespielt und gestaltet? Dieses Verfahren beugt sich der alten Schleiermacherschen3 Forderung, die Form des Dialogs als wesentlich für den Inhalt zu betrachten. Wir fragen nach der ‚Handlung‘ des Dialogs – d. i. nach der Entwicklung des Kräfteverhältnisses der beteiligten Personen – und insbesondere nach der ‚dramatischen Vollständigkeit‘ des Dialogs. Denn was den ausformulierten theoretischen Ergebnissen nach unvollständig ist, könnte seine eigentliche Vollständigkeit als dramatisches Geschehen gewinnen. Das Interpretationsprinzip der dramatischen Vollständigkeit (completeness) und der dramatischen Antwort auf theoretische Fragen formulierte neuerdings etwa Jacob Klein im Vorwort zu seinem Menon-Kommentar;4 er folgt hierbei den Spuren Friedländers, den er auch zitiert, und dieser setzt bekanntlich die Schleiermachersche Linie fort. Wir begeben uns mit der geschilderten Fragestellung also ins Fahrwasser erklärter Gegner platonischer Esoterik: die Erwartung ist, daß eine entsprechende antiesoterische Lösung, die die oben skizzierte dritte Auffassung definitiv ausschließt, sichtbar wird. 2.

Das dramatische Motiv des Zurückhaltens oder ‚Verbergens‘ begegnet immer wieder bei Platon, und zwar stets in derselben Verwendung: Sokrates macht sich lustig über diejenigen, die seiner Ansicht nach etwas verbergen. Es können hier nicht alle Fälle behandelt werden. Der Dialog Euthydemos bietet sich für eine eingehendere Analyse an, da nur in ihm das Motiv des Zurückhaltens nicht nur punktuell und als Begleitmotiv neben anderen Motiven auftritt, sondern zentrale strukturierende und sinngebende Bedeutung für den ganzen Dialog gewinnt. Um diese Behauptung zu erhärten, möchte ich kurz den Aufbau des Dialogs formal skizzieren. Bekanntlich machen drei sehr unterschiedliche Elemente das Ganze dieses Dialogs aus. Im direkt dargestellten Rahmengespräch zwischen Sokrates und Kriton geht es um den Wert der φιλοσοφία Im erzählten Dialog berichtet dann Sokrates dem Kriton über zwei neuer-

3 Schleiermacher: „Einleitung“, 10, 14. 4 Vgl. Jacob Klein: A Commentary on Plato’s Meno. University of North Carolina Press 1965.

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dings auftretende Tugendlehrer, die Brüder Euthydemos und Dionysodoros. Er hatte sie am Vortag aufgefordert, den jungen Kleinias vom Wert der Philosophie zu überzeugen in einem προτρεπτικὸς λόγος, sie aber verwirrten Kleinias zunächst nur mit allerhand eristischen Possen, worauf Sokrates selbst ein Beispiel eines Protreptikos gab. Er tat dies in zwei Etappen, dazwischen ließ er wieder die Meister der Eristik zu Wort kommen, ebenso noch einmal nach dem aporetischen Schluß des zweiten Teils seines Protreptikos, so daß die Anordnung der Teile oder Schichten des Dialogs einen kunstvollen symmetrischen Aufbau ergibt (A steht für den Rahmendialog, B für die eristischen Partien, C für die protreptischen): A B C B C B A. In den eristischen Partien wird z. B. bewiesen, daß der Vater des Euthydemos zugleich der Vater aller anderen Menschen ist, überdies auch aller sonstigen Lebewesen, z. B. von Seeigeln, Ferkeln und jungen Hunden, und daß der Hund des Ktesippos als Vater von jungen Hunden zugleich auch der Vater seines Besitzers Ktesippos ist (298 b–e). So entsteht eine wunderbare Verwandtschaft aller Wesen, Seeigel, Menschen und Welpen umfassend. Dies nur zur Kennzeichnung des Niveaus, auf dem sich Euthydemos und Dionysodoros bewegen. Wie beurteilt nun Sokrates die Epideixis der Brüder? Als Vorspiel und Scherz, auf den der Ernst folgen wird. Er geht davon aus, daß sie das Entscheidende im Hintergrund bereithalten, nur nicht so leicht damit herausrücken – er hält sie also eindeutig für ‚Esoteriker‘. Er fordert sie mehrfach auf, ihre σπουδαῖα hervorzuholen. Es gelingt ihm nur mühsam, sie so weit zu bringen, Ernst zu machen; im dritten eristischen Teil glaubt er, sie so weit zu haben – und siehe da, was zum Vorschein kommt, sind so tiefsinnige Sachen wie die hündische Abstammung eines jeden Hundebesitzers. Nachdem der absichtlich zurückgehaltene Ernst der Esoteriker als das bare Nichts entlarvt ist, rät Sokrates den Brüdern ganz prinzipiell, weiterhin Esoteriker zu bleiben, ihre Weisheit nicht vor großen Hörerschaften auszubreiten, sondern nur im kleinen Kreis mit Gleichgesinnten zu pflegen. τὸ γὰρ σπάνιον τίμιον, sagt Sokrates (304 b): das Rare (oder was sich rar macht) steht in Geltung. Dieses Wort steht am Ende des dritten eristischen Teils, unmittelbar vor dem Übergang zum abschließenden Rahmengespräch. Auch die erwähnten Äußerungen des Sokrates über Spiel und Ernst stehen an solchen markierten Stellen des Dialogs: es sind die Übergangs- oder Gelenkstellen. Die darin enthaltenen Wertungen des Sokrates sind offenbar mit Bedacht auf

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung

diese Stellen verteilt, sie sollen für die einzelnen Abschnitte die richtige Perspektive finden helfen.5 Zusammengenommen ergeben die Zwischenbemerkungen des Sokrates über Spiel und Ernst der beiden Eristiker eine implizite Deutung des Dialoggeschehens. Die Handlung des Dialogs wäre demnach – wenn wir uns auf diese Andeutungen Platons verlassen wollen – diese: der wahre Philosoph verspottet und entlarvt schrittweise die falschen Philosophen als ‚Esoteriker‘, die schließlich zum Offenbarungseid gezwungen werden. Die Konsequenz für die inhaltliche Deutung liegt auf der Hand: was Platon verspottet, das kann er – soviel dürfte doch klar sein, oder nicht? – ganz gewiß nicht selbst befürwortet haben. Esoterik ist offenbar eine sehr oberflächliche Sache, so oberflächlich wie Euthydemos und Dionysodoros selbst sind. Sokrates unterstellt ihnen ja – und sie verwahren sich nicht dagegen – daß es allein bei ihnen liegt, ob sie ihre σπουδαῖα hervorholen wollen (285 a5 ~ 293 a7). Es ist genau diese Vorstellung, die Hegel an der Platoninterpretation von Wilhelm Gottlieb Tennemann als oberflächlich rügte: „Das sieht aus, als sei der Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie der äußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganz etwas anderes. Die

5 Nach den ersten Beweisgängen der Eristiker (275 d–277 c) tröstet Sokrates den verwirrten Kleinias: das sei nur vorbereitendes Tanzen und Spielen gewesen, wie bei der Initiation der Korybanten (277 d6–e2). νῦν οὖν νόμισον τὰ πρῶτα τῶν ἱερῶν ἀκούειν τῶν σοφιστικῶν (e2–3). Die Brüder würden anschließend gewißlich das Spiel beenden und ihren ‚Ernst‘ zeigen, und Sokrates will ihnen hierbei vorangehen (278 c1–4). Damit sind der erste eristische und der erste protreptische Abschnitt wertend charakterisiert, die Erwartungen für den zweiten eristischen und den zweiten protreptischen Teil festgesetzt. Zu Beginn der zweiten eristischen Runde wird noch einmal daran erinnert, daß Euthydemos und Dionysodoros bislang nur scherzten und nicht Ernst machten (283 b10), und zu Beginn des zweiten Teils seines Protreptikos tröstet Sokrates den jungen Ktesippos mit derselben Überlegung, mit der er Kleinias getröstet hatte und erneuert die gleichen Erwartungen für die noch ausstehenden Partien, sowohl die eigenen wie die der Sophisten (288 b4–d2). Das aporetische Ende des zweiten sokratischen Abschnittes führt erneut zum Ruf nach dem ‚Ernst‘ der Eristiker (293 a1–8), und als sich zu Beginn des letzten eristischen Teils die volle Absurdität der Ansichten der Brüder zu zeigen beginnt, ruft Sokrates begeistert aus, jetzt machten sie endlich Ernst (294 b1–3) – es ist dies zugleich die Stelle, an der platonischer Ernst, nämlich die Anamnesislehre, deutlicher durchzuscheinen beginnt. Als dann der Zauber der sophistischen Diskussionserfolge nach und nach schwindet, erinnert Sokrates noch einmal daran, daß diese Albernheiten den Ernst der Eristiker ausmachen (300 e1), um schließlich mit der erwähnten höhnischen Aufforderung zu prinzipieller Esoterik die Diskussion abzubrechen (304 a/b).

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung

philosophische Idee besitzt umgekehrt den Menschen. Wenn Philosophen sich über philosophische Gegenstände explizieren, so müssen sie sich nach ihren Ideen richten; sie können sie nicht in der Tasche behalten. (...) Man hat also nicht bloß das Exoterische der Philosophen. Das sind oberflächliche Vorstellungen“.6 Die von den Gegnern platonischer Esoterik stets geforderte Methode der Auswertung des Handlungsmomentes in den Dialogen scheint in dieselbe Richtung zu weisen wie das Urteil Hegels: Platon dachte ebenso antiesoterisch wie Hegel und die überwiegende Mehrheit der Platonforscher des 19. und 20. Jahrhunderts. Man könnte sich mit diesem für viele gewiß beruhigenden Ergebnis zufrieden geben. In der Tat sollte, wer sich vom Bisherigen bestätigt fühlt, die Analyse des Euthydemos besser nicht weiter zu treiben versuchen. Wer allerdings den Dialog für etwas komplexer hält, als es bis jetzt sichtbar wurde, wer noch etwas vermißt, mag noch ein Stück folgen: was bisher fehlte in unserer Deutung, war eine Berücksichtigung der handgreiflichen Ironie in der Schilderung der angeblichen ‚Esoteriker‘. 3.

Wir sahen, daß Sokrates Euthydemos und Dionysodoros als Esoteriker einschätzt. Fragen wir genauer: wie beschreibt er sie im einzelnen? Seine häufigen Lobsprüche auf die beiden Fechtmeister und Tugendlehrer ergeben zusammen ein komplettes Bild ihrer Methode und ihres philosophischen Formates, das ich in zehn Punkten zusammenfassen möchte. (Um dem Bild etwas Kontur zu geben, füge ich Parallelen vor allem aus dem Phaidros bei.) (1) Die Tugendlehrer führen zur Arete hin nach Art einer Initiation (277 de). Im großen Mythos des Phaidros wird die Schau der Ideen als Initiation in Mysterien bezeichnet (250 b8–c4). (Auch sonst ist die Parallelisierung der Philosophie mit τελεταί, die bekanntlich in Stufen einweihten, bei Platon geläufig, z. B. im Symposion.)

Vor der Initiation fordert Sokrates die Eristiker auf: λάβετον πεῖραν τοῦ μειρακίου (275 b5).

6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt a. M. 1971 (Theorie-Werkausgabe, Bd. 19), II, 21f. Die zitierten Sätze folgen auf ein wörtliches Zitat aus Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie, Band II. Leipzig 1799, 220. Weiteres zu Hegel vgl. unten S. 546 mit Anm. 23.

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung Nach dem Zeugnis des Siebten Briefes hatte Platon selbst hinsichtlich der philosophischen Eignung eines Kandidaten einen besonderen τρόπος τοῦ πεῖραν λαμβάνειν (340 b5).

(2) Euthydemos und Dionysodoros können, jedenfalls nach der Unterstellung des Sokrates gezielt spielerisch oder im Ernst philosophieren.7 Die Fähigkeit, zwischen Spiel und Ernst zu unterscheiden, ist bekanntlich im Phaidros ein wesentliches Merkmal des Philosophen. Im Ernst philosophieren ist identisch mit τῆ διαλεκτικῆ τέχνῃ χρῆσθαι (276 e). ‚Spiel‘ gehört zum allen zugänglichen schriftlichen Philosophieren, ‚Ernst‘ zum mündlichen mit einem geeigneten Partner.8

Zu 288 c2: Euthydemos und Dionysodoros sollen zeigen, ἐφ’ ῷ σπουδάζετον, vergleiche man

epist. 7, 351 c1 περὶ ὧν ἐγὼ (sc. Platon) σπουδάζω – darüber gibt es bekanntlich keine Schrift9 von Platon.

(3) Die Eristiker können kontrolliert zurückhalten mit dem, was sie bereithalten. Zu Dionysodoros sagt Sokrates (287 d1): οἶσθα ὅτε δεῖ ἀποκρίνασθαι καὶ ὅτε μή. (In Wirklichkeit kann er gerade dies nicht: 296 e– 297 a.) Ein andermal sagt Sokrates τοῦτο μὲν ἑκὼν παρῆκας (301 c2), was er als Zeichen kunstgerechter Gesprächsführung wertet. Im Phaidros gilt allgemein, daß jeder τεχνικός wissen muß, ὁπότε ... καὶ μέχρι ὁπόσου (268 b7) die Mittel seiner τέχνη anzuwenden sind, insbesondere kennt der wahre Redner (der identisch ist mit dem διαλεκτικός und dem φιλόσοφος) die καιροὺς τοῦ πότε λεκτέον

7 Belege vgl. oben Anm. 4. 8 Dies ist die eindeutige Aussage des platonischen Textes: so wie der Bauer die γεωργικὴ τέχνη erst beim Säen im Acker, nicht schon beim Bepflanzen des Adonisgärtchens anwendet (276 b6–7 – die Kunst des Gärtners und die Kunst des Bauern sind auch im pseudoplatonischen Minos 316 e3–7 zwei verschiedene Künste), so kommt die διαλεκτικὴ τέχνη und die σπουδή des Philosophen erst im mündlichen Philosophieren zur Anwendung (276 e4–277 a4), während sein Schreiben παιδιά und μυθολογεῖν bleibt (276 d1–e3 – wie weit das ‚Urbild‘ der mündlichen Dialektik dennoch auf das ‚Abbild‘ in der Schrift durchschlagen mag, erörtert Platon zur großen Enttäuschung der Heutigen hier ganz einfach nicht; darüber vergißt man gewöhnlich zu fragen, welche andere wichtige Mitteilung Platon hier zu machen hat, so daß er diese für uns so wichtige Frage übergehen kann). – Die Feststellung, daß Platon hier den ‚Ernst‘ von der Schrift ausschließt, wird möglicherweise als „Abwertung“ der Dialoge durch den Autor dieser Zeilen verbucht werden. Aber selbstverständlich folgt aus jener Feststellung noch nichts für meine Einschätzung der Dialoge; und nichts liegt mir ferner als ihre Abwertung. Vgl. auch unten Anm. 25. 9 σύγγραμμα (epist. 7, 341 c5) heißt (Prosa-)‚Schrift‘ ganz allgemein und schließt den Dialog selbstverständlich ein. Die moderne Auffassung, daß σύγγραμμα nur undialogische oder ‚systematische‘ Schriften bezeichnet, entbehrt jeder Grundlage und sollte endlich aufgegeben werden. Vgl. meinen Beitrag: The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato’s Seventh Letter. In: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. C. J. Putnam (Hg.): Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 354–363, bes. 359–362.

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26. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung ἢ ἐπισχετέον (272 a4), und die lebendige Rede des Philosophen versteht sich (im Gegensatz zur Schrift) aufs λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ (275 e3, 276 a6).

(4) Zu ihrem Unterricht lassen Euthydemos und Dionysodoros jede φύσις zu: 304 c2. Im Phaidros wählt der Dialektiker den geeigneten Gesprächspartner aus, λαβὼν ψυχὴν προσήκουσαν 276 e6, es gibt für ihn durchaus solche, die die Sache nichts angeht (οὓς οὐδὲν προσήκει 275 e2). Der Siebte Brief redet viel von der Eignung zur Philosophie, die nur wenige haben (340 c2–3 οἰκεῖος καὶ ἄξιος τοῦ πράγματος 344 a2, a5–6 συγγενὴς τοῦ πράγματος.

In diesem Sinne spottet Sokrates, die Weisheit der Eristiker würden nur wenige Geistesverwandte zu schätzen wissen (303 d2–3), sie sei für Erörterung vor vielen nicht geeignet (304 a2–3) und sollte ‚esoterisch‘ gehandhabt werden. (5) Euthydemos und Dionysodoros erwarben und vermitteln ihre Weisheit in kürzester Zeit: τάχιστα 273 d9, 304 a4, ἐν (πάνυ) ὀλίγῳ χρόνῳ 303 c5, e6, 272 b3. Im Phaidros ist die Dialektik als μακρὰ περίοδος bezeichnet (272 bc, 274 a2). Das Gleichnis vom Bauern (276 b7) kontrastiert das Reifen der Ernte in acht Monaten mit dem Aufschießen von Wassertrieben in acht Tagen: der philosophische ‚Ernst‘ braucht Zeit. Im Siebten Brief ist von πολλὴ συνουσία die Rede, Philosophie lernt man μετὰ ... χρόνου πολλοῦ (341 c6–7, 344 b3).

(6) ἀκρίβεια zeichnet die Beweise der Eristiker aus: 288 a6.

ἀκρίβεια dient auch im Phaidros zur Unterscheidung einer wirklich dialektischen Darlegung von einer unphilosophischen (270 e, 271 a). Ähnlich in der Politeia an zentralen Stellen (435 d1, 504 b5).

(7) Schließlich der Gegenstand des Philosophierens der Brüder: es sind οὐ τὰ σμικρὰ ἀλλὰ τὰ μεγάλα 273 c4, σπουδαῖα πράγματα καὶ καλά 300 e2. Sokrates hingegen weiß nur σμικρά 293 b8. Im Phaidros muß sich die überlegene Rede durch πλείονος ἄξια oder μείζω bzw. βελτίω, also durch Größeres bzw. Besseres auszeichnen (234 e3, 235 c1, d6, 236 b2); allgemein muß der Philosoph über τιμιώτερα verfügen (278 d8 ~ μείζω 279 a8). – Im Siebten Brief geht es um τὰ μέγιστα und τὰ σπουδαιότατα (341 b1, 344 c6), in der Politeia um das μέγιστον μάθημα.

(8) Die beiden Brüder sind so erfolgreich, weil sie die τέχνη des διαλέγεσθαι beherrschen: κάλλιον ἐπίστασαι διαλέγεσθαι, sagt Sokrates zu Euthydemos (295 e2). Die Eristiker sprechen τεχνικῶς 303 e5, Sokrates nur ἰδιωτικῶς 278 d5. Im Phaidros geht es um die Bestimmung des τεχνικὸς λόγων πέρι 273 de, als der wahre Redner erweist sich der, der die διαλεκτικὴ τέχνη (276 e5) besitzt. Diese Kunst des διαλέγεσθαι umfaßt auch die Kenntnis der Seelen, also der zuzulassenden φύσεις sie behandelt mit Genauigkeit und großem Zeitaufwand die höchsten Dinge; wer diese Kunst beherrscht, hat das Recht und die Pflicht, im geeigneten Moment auch zu schweigen (ἐπισχετέον) (271 e–272 a). Die im Phaidros gesuchte λόγων τέχνη, die den Philosophen ausmacht, umfaßt alles, was im Euthydemos den beiden Eristikern zugeschrieben wird.

(9) Da Euthydemos und Dionysodoros kunstgemäß die bedeutendsten Dinge behandeln können, gebührt ihnen die Herrschaft im Gespräch

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(ἄρχειν 287 d5), den hilflosen Gesprächspartnern erscheinen sie wie die rettenden Dioskuren, wie Götter (ὥσπερ θεώ 273 e7 ~ 293 a2). Im Phaidros wird der Philosophos als der Gott am nächsten Stehende eingeführt (278 d3–6) : σοφός ist der Gott, φιλόσοφος ist der Mensch, der das Höchste erreicht. Allgemein steht der Gedanke der ὁμοίωσις θεῷ dahinter (auch Phdr. 253 a–c). – Herrschaft (ἄρχειν) beansprucht der Philosoph allenfalls im besten Staat, im Gespräch nur die Führung und das Weisen des Weges: ὑφηγήσομαι sagt Sokrates gerade im Euthydemos (278 c4, 288 c6), und das tut er auch in allen Dialogen, wenn auch mit unterschiedlicher Deutlichkeit.

(10) Auf Grund ihrer Überlegenheit durch τέχνη sind Euthydemos und Dionysodoros die einzigen, von denen man Rettung aus einer ausweglosen Situation erwarten kann. Sokrates bittet sie darum: δεόμενος τοῖν ξένοιν ... σῶσαι ἡμᾶς καὶ παντὶ τρόπῳ σπουδάσαι 293 a1–2. Indem sie zur Rettung schreiten, sollen sie ihren ‚Ernst‘ zum Vorschein bringen. Der Philosophos ist im Phaidros derjenige, der seinem λόγος ‚helfen‘ kann. Bei der ‚Hilfe‘ entfaltet er seine τιμιώτερα (278 cd).10

Das Ergebnis dieser Gegenüberstellung ist eindeutig. Euthydemos und Dionysodoros sind in allem das genaue Gegenbild des wahren Philosophen. Das Bild der Eristiker im Euthydemos ist – um eine modische Vokabel zu gebrauchen – die ironische Kontrafaktur des Bildes des Philosophen im Phaidros. Die beiden Bilder verhalten sich wie Negativ und Positiv derselben Photographie. Man könnte auch sagen: die beiden Ansätze fügen sich zusammen wie die Bruchflächen eines Erkennungszeichens.11 4.

Was ist nun die Botschaft dieses Symbolon? Wie steht es wirklich mit dem Zurückhalten von σπουδαῖα im Euthydemos?

10 Zu dieser Parallele, die vielleicht auf den ersten Blick nicht einleuchten wird, die aber gleichwohl die sicherste und wichtigste der ganzen Reihe ist, vgl. unten S. 544 mit Anm. 20 und 21. 11 Daß das Verfahren der beiden Eristiker ein „Gegenbild“ (Paul Friedländer: Platon, Bd. II. Berlin 31964, 175) des wahren Philosophierens darstellt, ist gewiß noch keinem Leser des Euthydemos entgangen. Doch ist mit der pauschalen Feststellung der Gegenbildlichkeit noch nicht viel gewonnen: erst die genaue Beobachtung der Einzelheiten im Porträt der Anti-Philosophen zeigt, vor welcher Folie dieses Negativbild zu sehen ist; und erst vor dieser Folie wird Platons Intention bei der Ausarbeitung des Gegenbildes sichtbar. Denn für sich genommen wäre die Karikatur der Eristiker belanglos, wenn nicht überflüssig. Die geringe Einschätzung des Euthydemos in der Platonforschung erklärt sich denn auch daraus, daß man nur die Karikatur sah, nicht aber die Präzision der Beziehung auf das positive Gegenstück, durch die sie erst belangvoll wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Euthydemos-Kapitel bei Friedländer (vgl. Friedländer: Platon, Bd. II, 165– 181), das sehr klarsichtig über die Beziehungen zum Menon spricht und gleichzei-

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Die Eristiker haben schlichtweg nichts im Hintergrund, was sie zurückhalten könnten. Wohl aber hält Platon nicht weniges zurück, und deutet an, daß er es tut. Nehmen wir die Abfolge der eristischen Beweise. Erstens: Wer lernt? Erste Antwort: die σοφοί – das wird sogleich widerlegt. Zweite Antwort: die ἀμαθεῖς – das wird ebenso widerlegt. Also alles nur sophistischer Unfug. Indes erhält der Unfug einen guten Sinn vor dem Hintergrund von Symp. 203 eff., Lysis 218 a: der Lernende ist weder ein Wissender noch ein Unwissende.12 Zweitens: Was lernt man? Erste Antwort: was man nicht weiß. (Wird widerlegt.) Zweite Antwort: was man weiß. (Wird widerlegt.) So weit ist auch das reiner Unfug; nur wenn man weiß, daß auf eben diesen ἐριστικὸς λόγος im Menon die Anamnesislehre antwortet (Men. 80 dff.), sieht man den Sinn hinter dem Unsinn. Dieser Sinn wird noch deutlicher im dritten eristischen Teil. Dort wird bewiesen daß, wer etwas weiß, alles weiß (293 b–e), daß jeder alles weiß (294 a–e), daß jeder immer alles wußte (294 e–296 d). Bekanntlich mündet der Anamnesisexkurs im Menon in die Feststellung, daß man von einer ‚Erinnerung‘ aus alles suchen kann (Men. 81 cd), da die gesamte Natur verwandt ist; im Menon weiß jeder alles, weil jede Seele unsterblich ist und auf ihren Wanderungen alles gesehen hat (81 c, vgl. Phdr. 249 b5); und jeder wußte schon immer alles, schon vorgeburtlich, wie die Geometriekenntnisse von Menons Diener beweisen (85 d 9–86 b 4). Von Anamnesis steht jedoch im Euthydemos kein Wort. Sokrates führt freilich mitten im eristischen Unfug das Wort ψυχή ein (295 b4) – ein Hinweis, daß die platonische Seelenlehre der Hintergrund ist, vor dem der Unsinn Sinn bekommt.

tig blind ist für die ebenso deutlichen und gewiß nicht weniger wichtigen Beziehungen zum Phaidros. – Für manches in der obigen Liste ließen sich Parallelen auch aus anderen Dialogen beibringen, z. B. ist die lange Dauer der Ausbildung des Dialektikers (Punkt 5) ein wichtiges Thema der Politeia, ebenso die Auswahl der richtigen φύσεις (4). Was den Phaidros als den entscheidenden Bezugspunkt erweist, ist (a) der Umstand, daß nur aus ihm alle zehn Punkte zu belegen sind und (b), daß mehrere der entscheidenden Punkte (so 2, 3, 7 und 10), mögen sie auch sonst eine Rolle spielen, nur in ihm thematisiert sind. Zu Punkt 10 vgl. unten Anm. 20 und 21. 12 Vgl. Friedländer: Platon, Bd. II, 171.

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Diese Beziehungen des eristischen Teils zum Menon und zur Anamnesislehre sind seit langem bekannt.13 (Daß das Faktum, daß hier nicht explizit gemachte Beziehungen vorliegen, mit dem explizit behandelten Motiv des absichtlichen Zurückhaltens etwas zu tun haben könnte – daran scheint merkwürdigerweise noch niemand gedacht zu haben.) Eine weitere Beziehung, die ans Burleske grenzt und offenbar aus diesem Grund der Ernsthaftigkeit der Erklärer entging, wäre noch nachzutragen. Mir scheint, daß der Beweis, daß der Vater des Euthydemos zugleich der Vater aller Menschen, Seeigel, Ferkel und jungen Hunde ist (298 b–d), wodurch alle Lebewesen in einer wundersamen Allverwandtschaft verbunden sind, nichts anderes ist als eine burleske Variation zum ontologischen Fundament der Anamnesislehre, das im Menon so formuliert ist: ἅτε γὰρ τῆς φύσεως ἁπάσης συγγενοῦς οὔσης (81 c9–d1). Neben der Anamnesislehre scheint auch die Ideenlehre durch im dritten eristischen Teil: die schönen Dinge sind verschieden vom Schönen an sich, werden aber durch dessen Gegenwart schön (301 a). Die Erörterung bleibt auf dem Niveau der Eristiker, wenn es heißt, dann werde auch Sokrates durch die Gegenwart eines Ochsen zum Ochsen. Der Sinn des Ganzen wäre aus Stellen wie dem Schluß des fünften Buches der Politeia und dem ersten Teil des Parmenides zu entnehmen (Nichtidentität von Idee und Einzelding, Parusieproblem).14 Auch die sokratische Schicht des Dialogs weist auf Dinge, die nicht ausgesprochen werden, die aber gleichwohl die Erörterung aus dem Hintergrund bestimmen. Ich übergehe alles, was in der Form, in der es dasteht, noch irgendwie plausibel sein mag, auch wenn es erst von anderen Dialogen her voll verständlich wird. Zwei Stellen sind jedoch von anderer Art. Kleinias sagt, die Künste des Jagens kämen nicht in Frage für die gesuchte glücklichmachende Kunst oder Wissenschaft, bei der Erwerb (bzw. Hervorbringen) und Gebrauch zusammenfallen müssen, da diese Künste ihre

13 Eine gute neuere Darstellung findet sich bei Hermann Keulen: Untersuchungen zu Platons „Euthydem“. Wiesbaden 1971, 25–40 und 49–56; vgl. auch Friedländer: Platon, Bd. II, 171, 177f. Ältere Literatur seit Stallbaum (1836) zitiert Keulen 26, Anm. 56. 14 Wilamowitz’ nicht gerechtfertigte Skepsis hinsichtlich der Beziehung dieser Stelle auf die Ideenlehre (Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Platon, Bd. II Berlin 31962 [1919], 157f.) wird seltsamerweise wieder aufgenommen von W. K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy, vol. IV. Cambridge 1975, 279. Besser Keulen: Untersuchungen zu Platons „Euthydem“, 58: die Beziehung „muß seit Friedländers Euthydem-Interpretation (Vgl. Friedländer: Platon, Bd. II, 178) und der neuesten Untersuchung von Rosamond K. Sprague (Phronesis 12, 1967, 91–98) als gesichert gelten“.

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Beute stets zur Verwertung weitergeben, die Feldherrnkunst etwa eine eroberte Stadt dem Politiker, und die Mathematiker ihre Beute dem Dialektiker (290 cd). Aus der Politeia (510 cff., 531 cff.) ist eindeutig klar, was gemeint ist; im Zusammenhang des Euthydemos hingegen muß es unklar bleiben: die Bemerkung ist durch nichts vorbereitet, durch nichts erläutert, und für sich genommen auch in keiner Weise plausibel. Ferner heißt es, die gesuchte Wissenschaft, die glückselig macht, sei die λογοποιικὴ τέχνη (289 c7). Das wird zurückgewiesen mit dem Argument, die λογοποιοί verfertigten Reden, die sie anderen zum Gebrauch überließen, so daß also auch hier Hervorbringen und Gebrauch auseinanderfielen. In Wirklichkeit liegt hier wohl ein nicht minder deutlicher Hinweis auf eine andere Bestimmung der platonischen Dialektik vor. Die ideale Rhetorik, die der Phaidros skizziert, ist identisch mit der Dialektik, deren λόγοι glückselig machen (Phdr. 276 e–277 a). Wer diese Reden hervorbringende Kunst hat, weiß sie auch richtig einzusetzen, nämlich im persönlichen Umgang mit einer ‚geeigneten Seele‘ (276 e): der Urheber solcher λόγοι ist stets zugleich der sie Anwendende, er ‚schreibt‘ sie mündlich ‚in die Seele des Lernenden‘ (276 a5, 278 a3). Da auf diese Redekunst das Argument des Auseinanderfallens von Hervorbringen und Gebrauch nicht zutrifft, kann Sokrates auch nach diesem Argument noch sagen, er selbst hätte gemeint, ‚hier irgendwo‘ – d. h. hier im Bereich der Urheberschaft von λόγοι, wenn auch gewiß nicht in der ‚Kunst‘ der gewöhnlichen λογοποιοί – werde sich die gesuchte Wissenschaft zeigen (Euthydemos 289 d10).15 5.

Bisher erschien uns Platon der Autor als Subjekt der Zurückhaltung wesentlicher Einsicht.

15 Während der zuvor behandelte Hinweis auf die Dialektik den Erklärern bekannt ist, entging dieser zweite ihrer Aufmerksamkeit. Immerhin war Paul Friedländer unmittelbar daran, ihn zu sehen: „Daß hier die λογοποιοί mit einer ausführlichen Polemik bedacht werden, geschieht doch wohl darum, weil Platon eine andere Kunst der Logoi sieht, ja übt, in der ἡ τοῦ ποιεῖν τέχνη καὶ ἡ τοῦ χρῆσθαι nicht getrennt sind“ (Friedländer: Platon, Bd. II, 320 Anm. 16). Hätte Friedländer erkannt, daß im Euthydemos überall durch das Zerrbild hindurch auf das Positive des Phaidros verwiesen wird, so hätte er wohl nicht gezögert, statt der bloßen Polemik einen gar nicht so versteckten Hinweis auf die wahre Redekunst anzuerkennen.

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Wie verhält sich hierin Sokrates die Dialogfigur? Kennt er den Sinn hinter dem Unsinnigen der eristischen Partien und dem Unverständlichen der protreptischen? (1) Sokrates lenkt das Gespräch besonders auffällig dort, wo die Anamnesislehre hinter den Trugschlüssen durchschimmert; er legt den Eristikern die Antworten, die einen nicht ausgesprochenen tieferen Sinn haben, förmlich in den Mund (bes. 294 a4, e 6–7). (2) Wo es heißt, die Mathematik gebe ihre Beute an die Dialektik weiter, durchbricht Platon den erzählten Dialog und läßt Kriton zweifeln, ob Kleinias so etwas sagen konnte. Sokrates gibt schließlich zu, es könnte ‚der Höheren einer‘ gewesen sein (τῶν κρειττόνων τις 291 a4). Natürlich war er es, der diese höhere, ‚göttlichere‘ Einsicht ins Gespräch einführte: die fingierte Unsicherheit über die Urheberschaft hat einzig den Zweck, uns den Wissensvorsprung des Sokrates bewußt zu machen16 – Von der abgelehnten Definition der gesuchten Wissenschaft als λογοπουκὴ wird, wie wir sahen, in betonter Weise gesagt, Sokrates habe gemeint, das sei die Lösung (289 d10). Natürlich Sokrates – er kennt eben den vollen Begriff der platonischen Dialektik. Überhaupt beherrscht Sokrates das Gespräch überall so, daß es schließlich zum gewünschten Ziel führt: (a) er legt das Thema (Protreptikos) fest (274 de, 282 e), (b) er beendet die eristischen Abschnitte (277 c, 278 d1, 288 b [303 c]), (c) ergibt ein Beispiel eines Protreptikos (278 c4, 288 c6), und (d) er hält zurück mit seinem Wissen: er legt die Anamnesistheorie und den vollen Begriff der Dialektik nicht dar, obwohl er sie offenbar kennt. Bezogen auf das Idealbild des Philosophen, das nach dem ironischen Lob des Sokrates die beiden Brüder verkörpern, kann man sagen, daß es Sokrates selbst ist, der in diesem Gespräch herrscht (ἄρχει: oben Punkt 9), der die Initiationsstufen (1) und den Unterschied zwischen παιδιά und σπουδή (2) kennt, der über bedeutende Einsichten, über μεγάλα verfügt (7) und daher die nötige ‚Hilfe‘ oder ‚Rettung‘ für die festgefahrene Erörterung bringen könnte (10), der aber im rechten Moment aufhört mit der Belehrung (3) im Blick auf die φύσις und den Bildungsstand der Hörer (4) und der eben deswegen τέχνῃ spricht (8).

16 Das oben S. 77 gegebene Aufbauschema wäre nunmehr zu vervollständigen: A B C B C B A. Das formale Mittel der Durchbrechung des erzählten Dialogs durch den Rahmendialog weist auf die Bedeutsamkeit des Inhalts hin.

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Dies ergibt eine neue Deutung des Dialogs: verspottet wird im Euthydemos nicht die absichtliche Zurückhaltung philosophischen Wissens, sondern gerade die Unfähigkeit dazu. Der wahre Esoteriker nennt die falschen Philosophen höhnisch ‚Esoteriker‘. Die Handlung des Dialogs erweist schrittweise, daß Euthydemos und Dionysodoros nichts im Hintergrund haben, womit sie ihren λόγοι ‚zu Hilfe kommen‘ (sie ‚retten‘) könnten; und dies bedeutet, daß sie keine φιλόσοφοι im Sinne des Phaidros (278 cd) sind. 6.

Dieser Befund ermöglicht eine Antwort auf die am Anfang gestellte Frage nach der Art des Fehlenden. (Die Antwort gilt zunächst für den Euthydemos; inwieweit mit einer prinzipielleren Geltung zu rechnen ist, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden.) (1) Das im Dialog Fehlende – also das, was den eristischen Unsinn in Sinn verwandeln würde und das, was dem aporetischen Hin und Her der sokratischen Partien eine sichere Orientierung geben würde – ist nicht von der Art, daß es der verständige Leser durch Entschlüsselung einer indirekten Mitteilung selbst ergänzen könnte. Es wäre eine Illusion zu meinen, die Anamnesistheorie und der platonische Begriff der Dialektik als über der Mathematik stehender Wissenschaft ließen sich allein aus dem Euthydemos gewinnen. Nur weil wir diese Philosopheme aus anderen Quellen bereits kennengelernt haben, und zwar nicht in der Form der indirekten Mitteilung, sondern in sehr direkter Belehrung, können wir sie nachträglich als den philosophisch maßgeblichen Hintergrund des Dialogs erkennen. (2) Das Fehlende ist nicht bloßes Programm, sondern ausgearbeitete Theorie. Andernfalls müßte man annehmen, daß Platon, seinen Weg vorsichtig ertastend ohne wirklich zu wissen, wohin er letztlich führen werde, eine Abfolge unsinniger eristischer Schlüsse entwarf, die sich später gerade in dieser Abfolge auf wunderbare Weise mit Sinn füllten, oder daß er eine ganz spezifische Aussage über das Verhältnis

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von Mathematik und Dialektik formulieren konnte, bevor17 er das Gefüge dieser Wissenschaften kannte.18 (3) Das Fehlende führt auf ein höheres Begründungsniveau, es tendiert letztlich auf die ἀρχαί. Die Verspottung der Eristiker als ‚Götter‘ und die komplementäre Behauptung, ‚einer der Höheren‘ habe den entscheidenden Satz über die Dialektik geäußert, weisen in dieselbe Richtung: das Fehlende würde in einen ‚göttlicheren‘ Bereich führen – und eben dies ist der Grund, warum es (vor Ungeeigneten und ungenügend Vorbereiteten) nicht ausgebreitet wird. (4) Das Fehlende ist Bestandteil einer λογοποιικὴ τέχνη – natürlich nicht der λογοποιική eines Lysias oder Isokrates, bei der Hervorbringen und Gebrauch auseinanderfallen, sondern der wahren Rhetorik, von der der Phaidros spricht, deren λόγοι zur Eudaimonie führen und die nichts anderes ist als die διαλεκτικὴ τέχνη bei ihr sind Hervorbringen und Gebrauch notwendig identisch, denn Dialektik ist mündliches Philosophieren, der Dialektiker macht den kunstgemäßen, den wahrhaft technischen Gebrauch von seinen λόγοι, indem er sie im persönlichen Gespräch allererst hervorbringt. (Nur beim schriftlich Fixierten fallen Hervorbringen und Gebrauch auseinander, und durch die-

17 Daß der Euthydemos die voll entwickelte Anamnesistheorie und den Begriff der Dialektik voraussetzt, besagt natürlich nicht, daß Menon und Politeia früher geschrieben sind. Diese Theorien können für Platon zum Zeitpunkt ihrer ersten zusammenhängenden Darlegung in einem veröffentlichten Dialog schon πολυθρύλητα gewesen sein, wie die Theorie der Ideen bei ihrem ersten klaren Auftreten im Phaidon (100 b5). Guthrie: A History of Greek Philosophy, 153 scheint die Annahme, daß die bloße Anspielung der kohärenten Darlegung zeitlich vorausgeht, von vornherein für weniger wahrscheinlich zu halten. Das ist nichts als ein Vorurteil, das dem Charakter der frühen Werke Platons schwerlich gerecht wird. 18 Die Ausschaltung der ersten und der zweiten der eingangs (oben S. 529) genannten Auffassungen ist selbstverständlich nicht so zu verstehen, als entfalle bei Platon die Möglichkeit der indirekten Mitteilung schlechthin oder als habe er nie auf künftige Vorhaben hinweisen können. Nur kann das Wesentliche am Euthydemos von diesen Ansätzen aus nicht erfaßt werden. Die übrigbleibende dritte Auffassung (zu ihr s. Abschnitt 7) kann sowohl die Theorie der indirekten Mitteilung (Schleiermacher) als auch die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise (K. F. Hermann) innerhalb gewisser Grenzen akzeptieren. Die Unverträglichkeit beginnt erst da, wo diesen hermeneutischen Ansätzen eine Beweislast zugemutet wird, die sie nicht tragen können: nämlich den ‚Beweis‘ zu erbringen für die Nichtexistenz oder wenigstens für die sachliche und historische Bedeutungslosigkeit einer mündlichen Prinzipienlehre Platons.

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se Entfremdung kann das Schreiben prinzipiell den Anforderungen der wahren λόγων τέχνη nicht gerecht werden.) Solche λόγων τέχνη wird das zunächst Zurückgehaltene nur bei Bedarf hervorholen, und zwar im Verlauf eines Vorgangs, den Platon im Phaidros als ‚Hilfe‘ für einen unter Kritik stehenden λόγος bezeichnet.19 Für das Verständnis des karikierenden Philosophenbildes im Euthydemos ist es entscheidend wichtig zu sehen, daß die Verhöhnung der beiden Eristiker gerade in der Aufforderung zu solcher ‚Hilfe‘ im Sinne des Phaidros einen ersten20 Gipfel erreicht: nach dem aporetischen Ende seines Protreptikos bittet Sokrates die Brüder, „uns zu retten und auf jede Weise Ernst zu machen“ (σῶσαι ἡμᾶς ... καὶ παντὶ τρόπῳ σπουδάσαι 293 a2–4). In der Sprache des Phaidros heißt das: Sokrates fordert sie auf, ihre τιμιώτερα hervorzuholen und so zu ‚helfen‘.21 Die Fähigkeit zu solcher ‚Hilfe‘ durch ‚bedeutendere Dinge‘ ist ja der entscheidende Test für den φιλόσοφος. Euthydemos und Dionysodoros bestehen den Test nicht, während Sokrates durch seine Gesprächsführung für den Eingeweihten – aber auch nur für ihn – deutlich macht, wie der Test zu bestehen wäre: durch Rückgriff auf jene grundlegenderen Theoreme, die er durchschimmern läßt. Damit läßt sich die Handlung des Dialogs noch einmal präziser fassen: der Euthydemos ist die burlesk-dramatische Umsetzung der Definition des Philosophos aus dem Phaidros als desjenigen, der sich und seinem λόγος zu helfen weiß, weil er über τιμιώτερα über gewichtigere Theoreme verfügt (278 cd), und zugleich als desjenigen, der auf Grund seiner Kenntnis der zu beeinflussenden Seelen sich auch darauf versteht, im rechten Moment

19 275 e5, 276 a6, 277 a1, 278 c5. 20 Der zweite, abschließende Höhepunkt des Hohns ist die Aufforderung 304 ab, künftig ‚esoterisch‘ zu wirken. 21 Da Platon wie gewöhnlich auf feste Terminologie verzichtet, entging den Interpreten die sachliche Identität des σῶσαι von Euthydemos 293 a2 mit dem βοηθεῖν von Phaidros 278 c5 – und damit auch der Sinn des hintergründigen Spottes über ‚Geheimhaltung‘. Aus der Dialogsituation des Euthydemos ist die Wahl des Ausdrucks σῶσαι indes leicht zu verstehen: Euthydemos und Dionysodoros wurden zuvor schon als ‚Götter‘ gefeiert und werden jetzt mit den Dioskuren verglichen; ihr Eingreifen wäre mehr als nur menschliche ‚Hilfe‘, es wäre göttliche ‚Rettung‘. – Auch der Umstand, daß der φιλόσοφος seinem eigenen λόγος zu helfen weiß, während die sophistischen Dioskuren dem λόγος des Sokrates zu Hilfe kommen sollen, schafft keinen Unterschied zum Sachverhalt, den der Phaidros meint: da diese ‚Götter‘ die von Sokrates gesuchte ἐπιστήμη, die seine Aporie beenden würde, lehren könnten (293 b2) und folglich besitzen, sind sie durchaus in derselben Lage wie der platonische Dialektiker als der ἔχων τιμιώτερα (Phdr. 278 d8); sie sind daher auch diejenigen, denen die Aufgabe des ‚Helfens‘ zufallen müßte, und in diesem Sinne nehmen sie auch die Aufforderung des Sokrates an.

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zurückzuhalten und zu schweigen (272 e4, 276 a7). Wer über den Sinn jener Definition noch im Zweifel war, erhält hier eine unzweideutige dramatische Antwort auf eine theoretische Frage.22 7.

Es ist diese Bezogenheit des negativen wie des positiven Philosophenporträts im Euthydemos auf die weit prinzipiellere Fragestellung des Phaidros, die es unmöglich macht, die sich hier ergebende Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit des Fehlenden auf diesen einen Dialog einzuschränken. Wir haben es mit dem Dialog zu tun, der das Zurückhalten von ἐπιστήμη als solches dramatisch thematisiert: hier wird modellhaft gezeigt, was es heißt, daß der Philosophos ‚einhalten‘ und ‚schweigen‘ kann. Wäre nicht die Beziehung zur φιλόσοφος-Thematik des Phaidros, so wäre der kritische Einwand berechtigt, daß die Antwort des Euthydemos nicht nur die beiden anderen Auffassungen von der Beschaffenheit des Ausgesparten, sondern auch die dritte ausschließt: denn diese rechnet mit einer mündlichen Prinzipienlehre als dem eigentlichen Bezugspunkt der Dialoge, der Euthydemos aber verweist auf Menon und Politeia, auf Geschriebenes also. Der Einwand entfällt, sobald man erkannt hat, daß die Aussage des Euthydemos in Verbindung mit der des Phaidros zu sehen ist. Der Euthydemos ist nicht mehr – aber auch nicht weniger – als die ins Komische gewendete Verdeutlichung und Konkretisierung dessen, was der Phaidros in ernsterer und abstrakterer Erörterung ausführt. Die zur Komik gehörende Drastik und Überdeutlichkeit bringt jedoch einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Wir sehen jetzt mit größerer Klarheit, daß die zentralen Begriffe aus dem Schlußteil des Phaidros: ‚Spiel/Ernst‘, ‚Zurückhalten‘ und ‚Schweigen‘, ‚Helfen‘, ‚Bedeutenderes‘ (τιμιώτερα) tatsächlich auf den Inhalt gehen, auch wenn die moderne Platoninterpretation alles getan hat, diesen an sich evidenten Sachverhalt zu verdunkeln und zu bestreiten. Wir sehen Sokrates seine Kenntnis der Anamnesis- und Ideenlehre ganz unbekümmert um die Ansichten Hegels ‚in der Tasche behalten‘, sehen ihn als sicheren Besitzer seiner Gedanken (obschon er gewiß auch der Besitz seiner Gedanken war, das kann man Hegel ruhig belassen; seltsam nur sein Glaube, das

22 Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß der Euthydemos den Text des Phaidros, wie er uns vorliegt, voraussetzt. Wie bei der Frage nach dem zeitlichen Verhältnis zum Menon (vgl. Anm. 16) ist auch hier aus der sachlichen Verbundenheit kein Argument für die Chronologie zu gewinnen. Der Euthydemos dürfte früher sein als der Wortlaut des Phaidros, die im Phaidros ausgedrückten Gedanken früher als die Abfassung des Euthydemos.

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eine schließe das andere aus: bei Platon fordert das eine das andere).23 Und wir sehen, daß dieses ganz gewiß nicht oberflächliche Verhalten des Sokrates bedingt ist durch seine Berücksichtigung der mangelnden Eignung der Gesprächspartner, daß es also ein σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ ist. Mit dieser größeren Klarheit über das Hintergrundwissen des Philosophos, seine darauf gegründete Fähigkeit zur ‚Hilfe‘ und seine aus strenger Sachlichkeit eingeschränkte Bereitschaft, von der ‚Hilfe‘ Gebrauch zu machen, können wir nunmehr auch die Aussagen des Phaidros über den Gebrauch der Schrift durch den Philosophen besser verstehen. Er muß sich die für ihn kennzeichnende Fähigkeit zur ‚Hilfe‘ und vor allem die Freiheit der Entscheidung über ihren Einsatz auch dann bewahren, wenn er sich zur schriftlichen Festlegung seiner Gedanken entschließt.24 Er muß also in der Lage sein, λέγων αὐτὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι (278 c5– 6). Das ist nur möglich, wenn er auch seinen Schriften gegenüber stets der ἔχων τιμιώτερα (278 d8) bleibt, der dadurch seinem λόγος ‚helfen‘ kann.

23 Hegel scheint die Möglichkeit philosophischer Esoterik doch auch wieder in gewissem Sinne zulassen zu wollen. Die in dem oben S. 534 gegebenen Zitat übersprungenen Sätze lauten: „Spricht man auch mit einigen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten, wenn die Sache nur Inhalt hat.“ Der Philosoph kann also doch, auch wenn der Gedanke ihn besitzt, „äußerlich“ sprechen. Um dem von ihm kritisierten Standpunkt gerecht zu werden, hätte Hegel hier fragen müssen, ob Platon jemals „äußerlich“ sprach, und zuvor noch: was er über das „äußerliche“ Sprechen sagt, dann in welchem Umfang er etwa, wenn überhaupt, „äußerlich“ sprach, und zu wem (wer sind die „einigen“ Hegels, und wer waren sie für Platon?) und aus welchen Gründen. Statt dessen bleibt er beim Allgemeinen, wenn er fortfährt: „Zur Mitteilung, Übergabe einer äußerlichen Sache gehört nicht viel, aber zur Mitteilung der Idee gehört Geschicklichkeit. Sie bleibt immer etwas Esoterisches.“ Der von Hegel so geringgeschätzte Schleiermacher war der Wahrheit doch wohl näher, versuchte er doch die textimmanente Esoterik, auf die seine Theorie der indirekten Mitteilung hinausläuft (vgl. Schleiermacher: „Einleitung“, 16f.: Esoterik sei sinnvoll zu verstehen als „Beschaffenheit des Lesers“, der sich zu einem „wahren Hörer des Inneren erhebt“), immerhin als etwas für Platon Spezifisches herauszustellen. Mit Hegels „immer“ esoterischer Mitteilung der Idee geraten wir in die Nacht, in der alle Katzen grau sind. Bei Aristoteles, Descartes, Kant gibt es nun einmal nichts, was dem Schlußteil des Phaidros oder dem Siebten Brief entspräche. Auch bei Hegel selbst nicht. 24 Die Fähigkeit des βοηεῖν τῷ λόγῷ besitzt der Dialektiker ganz unabhängig von etwaiger philosophischer Schriftstellerei (276 a6, 277 a1); sie ist dieselbe, ob sie nun an einem gesprochenen oder einem geschriebenen λόγος zur Anwendung kommt.

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Aus dem Euthydemos illustriert:25 wenn Sokrates sich entschlösse, den philosophischen ‚Ernst‘, d. h. die Anamnesislehre und den Begriff der Dialektik hervorzuholen, so würde er die Ergebnisse, die er gezielt aus den Eristikern und den μειράκια herausgefragt hat, zugleich als unzureichend (φαῦλα) erweisen und ihnen doch ‚zu Hilfe kommen‘. Es ist aber klar, daß der Philosophos, da er stets einen analogen Vorsprung vor dem Geschriebenen wahren wird, gewisse letzte Begründungen seines ‚Ernstes‘ (also nicht schon die Anamnesislehre, wohl aber deren letzte Fundamente) nicht der Schrift anvertrauen wird: οὐκ ἄρα σπουδῇ αὐτὰ (τὰ ἑαυτοῦ σπέρματα = ἐφ’ οἷς ἐσπούδακεν) ἐν ὕδατι γράψει (276 b7). Daß die τιμιώτερα, die im Euthydemos für die ‚Hilfe‘ (bzw. ‚Rettung‘) nötig wären, noch nicht von der Schrift ausgeschlossen sind, ist nicht weiter verwunderlich: hier geht es nur darum, wie man sich den Vorsprung des bereitgehaltenen ‚helfenden‘, d. h. begründenden Wissens zu denken hat.26 In der richtigen Perspektive betrachtet, ist der Euthydemos kein Hindernis, sondern eine Stütze für die Auffassung, daß die Schriftkritik im Phaidros eine mündliche Prinzipienlehre verlangt. Zurück zur ‚Handlung‘: der Versuch, die ‚dramatic completeness‘ des Dialogs ausfindig zu machen, macht es nicht etwa überflüssig, nach einer inhaltlichen Vervollständigung zu fragen, sondern zeigt im Gegenteil, daß der dramatisch geschlossene, ‚vollständige‘ und autarke Dialog systematisch auf inhaltliche Unvollständigkeit angelegt ist. 27 Das von den Gegnern platonischer Esoterik forcierte Interpretationsprinzip zeigt, richtig durchgeführt, gerade die Unvermeidbarkeit des von ihnen bekämpften Standpunktes.

25 Die Illustration der Hilfe für einen geschriebenen λόγος durch die Hilfe für einen gesprochenen (d. h. für die der dramatischen Fiktion nach mündliche Unterhaltung des Sokrates – für uns ist natürlich auch der Euthydemos ein Schriftwerk) ist legitim, weil, wie in Anm. 23 dargelegt, die Fähigkeit zur Hilfe ein und dieselbe ist und primär zum mündlich Philosophierenden gehört. 26 Nebenbei dürfte klar geworden sein, daß ‚Spiel‘ und ‚Ernst‘ für Platon relative Begriffe sind, wie denn auch die τιμιώτερα, die den ‚Ernst‘ des Philosophen enthalten, nicht zufällig in der Komparativform erscheinen. Dieselbe Theorie, die im Vergleich mit dem eristischen Geplänkel von ‚höherem Rang‘ ist und daher bewußt aus dem Gespräch herausgehalten wird, kann anderswo sehr wohl schriftlich thematisiert werden; insofern auch dort die Reihe der Begründungen nicht bis zum ἀνυπόθετον fortgeführt wird, fehlen auch dort die entsprechenden τιμιώτερα Die letzten τιμιώτερα d. h. die μέγιστα und σπουδαιότατα von epist. 7, 341 b1, 344 c6, werden nicht schriftlich dargelegt. 27 Daß andere Dialoge in je anderer Weise zum selben Ergebnis führen, soll an anderer Stelle nachzuweisen versucht werden.

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27. Das Höhlengleichnis (Buch VII, 514 a–521 b und 539 d–541 b) (1997)

1. Herkunft, Ort und Vielschichtigkeit des Gleichnisses Das Höhlengleichnis ist Platons zweiter Versuch, seine Überzeugung vom minderen ontologischen Rang der Erfahrungswelt in ein Bild zu fassen: im Schlußmythos des Dialogs Phaidon begegnet bereits die Vorstellung einer ‚wahren Erde‘ (109a–111c), die sich weit über dem von uns bewohnten Ort befindet. Wer dort hinauf gelangen könnte, würde erkennen, daß wir uns zu den dort lebenden Menschen hinsichtlich unseres Wahrnehmungsund Erkenntnisvermögens so verhalten wie das untere Element unserer Welt, das Wasser, sich zum oberen Element, der Luft, verhält, und wie diese wiederum zum Aither, der dort oben über der Luftschicht liegt wie hier die Luft über dem Wasser (Phd. 109e mit 111b). Die Analogie A:B = B:C (Wasser : Luft = Luft : Aither) ist hier das Denkmittel, das vom uns bekannten ‚unteren‘ Bereich aus die unbekannte ‚obere‘ Welt erschließen soll. Dieses Denkmittel, das Platon vor allem aus Herakleitos (DK 22 B 79, 83) geläufig war, verband er im Höhlengleichnis mit der zuerst bei Empedokles (DK 32 B 120, 121) belegten Vorstellung, unsere Welt sei eine finstere und freudlose Höhle, in die wir, aus einer besseren Welt kommend, durch die Geburt hineingeraten sind. Dahinter wiederum ist die orphischpythagoreische Abwertung des Daseins im Körper (sôma), der metaphorisch als Grabmal (sêma) der Seele gewertet wurde, zu erkennen. Platon erweist sich also mit seinem berühmtesten Text (wie auch mit seinem gesamten Werk) als Erbe der vorsokratischen Tradition, hier im besonderen der jenseitsorientierten orphisch-pythagoreischen Religiosität. Die enge Verknüpfung mit den Gleichnissen von der Sonne und der Linie und deren ontologisch-gnoseologischer Aussage verschafft der Daseinsdeutung des Höhlengleichnisses eine umfassende philosophische Bedeutung, die es verständlich macht, daß diese zweite Gestaltung des Gedankens der Existenz in einer ‚unteren‘ Welt und des Aufstiegs in eine ‚obere‘ so viel mehr Bewunderer und Nachahmer fand als die erste Fassung im Phaidon.1 An seinem literarischen Ort, im Kernstück von Platons Haupt-

1 Zur Vorgeschichte und Nachwirkung des Gleichnisses vgl. Konrad Gaiser: Il paragone della caverna. Napoli 1985.

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werk, ist unser Text einerseits als wohlintegriertes, für den Fortgang der Argumentation gerade hier notwendiges Element in der Konstruktion des idealen Staates zu verstehen, zugleich aber auch als bildhafte Verdichtung von Platons philosophischer Gesamtkonzeption. Bemerkenswert ist die außerordentliche Vielschichtigkeit des Gleichnisses: Die Ontologie Platons ist abgebildet in der Abfolge von vier Arten von Gegenständen, mit denen der zum Aufstieg gedrängte Mensch erst in der Höhle, dann außerhalb ihrer sukzessive konfrontiert wird, wobei die Gegenstände der jeweils später begegnenden Art „in höherem Maße seiend“ und daher „wahrer“ sind (515 d3, 6) und am Ende der Stufung das „leuchtendste“ und „beste“ unter allen Dingen, nämlich die Idee des Guten, steht (vgl. 518 c9, 532 c6). Seine Erkenntnislehre kommt zum Ausdruck in der Bezogenheit der Erkenntnisweisen auf die Gegenstandsarten sowie in der Überzeugung, daß der Aufstieg ein klar umrissenes und auch erreichbares Ziel (vgl telos: 532 b2, 540 a6) in der Schau jenes „leuchtendsten“ und „besten“ aller Dinge hat. Seine Auffassung vom Staat drückt sich in der Gleichsetzung der Schatten in der Höhle mit den gängigen falschen Vorstellungen von der Gerechtigkeit aus (517 d7–9) sowie in der Forderung, die Philosophen müßten, nach erreichter Schau des Prinzips, in die Welt der Politik zurückkehren und nach Maßgabe ihrer Kenntnis der Idee des Guten ihre Stadt, ihre Mitbürger und sich selbst ‚formen‘ und ‚ordnen‘ (519 dff., 539 eff., vgl. plattein: 500 d6, kosmein: 540 b1). Dies wiederum impliziert eine Ethik, die ihre Orientierung aus der ‚theoretischen‘ Erkenntnis des Guten selbst gewinnt und mit unterschiedlichen Graden der Verwirklichung der Tugend bei den philosophischen Wächtern und den unphilosophischen Bürgern des Staates rechnet. Diese Ethik ist verbunden mit einer Theorie der Erziehung (paideia), die die Existenz eines ‚göttlicheren‘ Bestandteils des Menschen voraussetzt, der sein Erkenntnisvermögen als solches nie einbüßt, wohl aber einer falschen ‚Ausrichtung‘ fähig ist, die die Philosophie durch einen methodisch durchdachten mehrjährigen Bildungsgang zu korrigieren hat (518d–519b). Damit sind wir zugleich bei der den ganzen Entwurf tragenden metaphysischen Anthropologie angelangt: die Seele des Menschen besitzt einen unsterblichen Teil, dessen Befreiung und angemessene Entfaltung die Voraussetzung für das Glück des Einzelnen wie auch der Staaten ist. Daher mündet das Höhlengleichnis, das die Befreiung und das Erreichen des Erkenntnisziels bildhaft schildert und für möglich erklärt (516 b4–7 mit 517 b7–c4, 518 c9–10, 532 a5–b2), folgerichtig in die zuversichtliche Behauptung, der beste Staat sei nicht ein bloßes Wunschbild, sondern tatsächlich

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möglich (520c–521b, dazu 539d–541b). Denn der Aufstieg einiger weniger philosophisch Veranlagter aus der Höhle zur Sonne ist die Bedingung der Möglichkeit der Befreiung der Staaten als ganzer von ihrem gegenwärtigen Unheil. Das Höhlengleichnis erbringt also die Garantie dafür, daß auch die dritte und größte ‚Woge‘ der die Möglichkeit des besten States bedrohenden ‚Dreifachwoge‘ (trikymia: 472 a4) das schöne Wunschbild nicht wegspülen kann, und insofern ist es das Fundament der ganzen Staatsutopie.

2. Auffällige Einzelheiten Eine ausführliche Nacherzählung der Allegorie vom Aufstieg aus der Höhle ist hier nicht erforderlich. Im Blick auf die anschließende Besprechung der Deutungsprobleme sei jedoch auf einige Details hingewiesen, die oft gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden, oder aus denen in der Literatur mitunter voreilige Schlüsse gezogen wurden. (1) Im Rücken der Gefesselten verläuft ein Weg, gesäumt von einer Mauer; den Weg entlang tragen Menschen allerlei Figuren vorbei. Die Schatten dieser Figuren sind das einzige, was die Gefesselten auf der Rückwand der Höhle erblicken (515 c1–2) – offenbar können sie nicht die Träger ausmachen (dies vermutlich wegen der Mauer). Das bedeutet: wer in der Täuschung lebt, ahnt nicht, wer die Täuschung hervorruft. Im Text kommen die Hersteller der Statuen – im Gegensatz zu den Trägern – nicht einmal vor, die Identität der Träger wird nicht angedeutet, ebensowenig die Bedeutung der Figuren. Das Gleichnis läßt so manches offen. (2) Einer der Gefesselten wird aus den Fesseln gelöst und zum Aufstieg aus der Höhle gezwungen (515 c6, e1, 6). ‚Gezwungen‘ – das bedeutet, daß Platon hier jedenfalls weder mit Selbstbefreiung noch mit dem Bedürfnis, die neue Freiheit mutig zu nutzen, rechnet. (3) Die Sonne wird am Ende des Aufstiegs, nach einer Zeit der Gewöhnung, gesehen an ihrem Ort im All, so wie sie wirklich ist (516 b4–7). Anders als im Phaidon (99 c5–e1), findet sich hier kein Wort von einer Gefährdung der Augen beim Blicken in die Lichtquelle. (4) Die Rückkehr des zum Licht Aufgestiegenen in die Höhle ist im Gleichnis zunächst als eine freiwillige dargestellt (516 e3–4). In Platons anschließender Interpretation zeigt sich dann (517 c8ff.) aber, daß hier ein Problem liegt. Das Gleichnis stellt also nicht alles dar, was relevant ist.

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(5) Von oben kommend, sieht der Rückkehrer zunächst nichts (516 e4ff.). Die Untengebliebenen, die ewigen Gefangenen, triumphieren: der Aufstieg habe sich nicht gelohnt, die Augen des Rückkehrers seien verdorben. Der Gewinn, den die Philosophie bringt, läßt sich dem Nichtphilosophen nicht ohne weiteres evident machen. (6) Das Letzte innerhalb des Gleichnisses im engeren Sinne ist nicht die Rückkehr selbst (wie Wieland meinte),2 sondern die Tötung des Rückkehrers durch die Untengebliebenen, als er versucht, sie zu befreien (517 a5–6). Platon betont den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Leben in der Täuschung und Durchschauen der Täuschung. Das Eintreten für die Wahrheit ist potentiell tödlich für den Philosophen. Der politische Aspekt bestimmt also das Ende des Gleichnisses. Daraus zu schließen, daß es hierauf allein ankomme, und so den gnoseologischen und ontologischen Aspekt zu leugnen, wie es Ferguson tat,3 heißt allerdings, das Gleichnis unerlaubt vereinfachen.

3. Die exegetischen Schwierigkeiten und die moderne Kritik am Gleichnis Die nicht geringen exegetischen Probleme ergeben sich im wesentlichen aus vier Gründen: erstens aus der skizzierten Vielschichtigkeit des Gleichnisses, sodann aus der (gleichfalls schon angedeuteten) Unvollständigkeit von Platons eigener Auslegung seines Gleichnisses, drittens aus seinem bewußten Verzicht (vgl. 533 d7–e8) auf eine feste Terminologie, und viertens – last not least – aus der antimetaphysischen Orientierung eines großen Teils der Exegeten der letzten hundert Jahre. Die ersten beiden Gründe erschweren besonders die Deutung der ersten und der zweiten Phase in der Höhle, d. h. die Wahrnehmung von bloßen ‚Schatten‘ und die Erkenntnis der ‚Figuren‘, die die Schatten werfen. Platon deutet Schatten und Figuren zusammen, und zwar in politisch-moralischem Sinn als die gängigen Vorstellungen von Gerechtigkeit (517 d). Daß die ‚Figuren‘ der Wahrheit, d. h. der Idee der Gerechtigkeit, näher stehen und sich so auch ontologisch von den ‚Schatten‘ unterscheiden (nämlich als mallon onta, ‚in höherem Maße seiende‘ Gebilde, 513 d3), wird bei der Deutung 517 d nicht mehr wiederholt, und für die inhaltliche Ausdeutung des Unterschieds von ‚Schatten‘ und ‚Figuren‘ der Gerechtigkeit ist diese

2 Vgl. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, 222. 3 Vgl. Alexander Stewart Ferguson: Plato’s Simile of Light. In: The Classical Quarterly 15 (1921), 131–152 und 16 (1922), 15–28.

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ontologische Festlegung auch nicht unmittelbar hilfreich. (Man kann freilich vermuten, daß die ‚Figuren‘ die staatlichen Gesetze, die ‚Schatten‘ die ungenauen Vorstellungen des Normalbürgers von den Gesetzen meinen.) Die mehrfache Funktion des Gleichnisses und seine Verbindung zum Sonnen- und zum Liniengleichnis würde nun verlangen, die ‚Schatten‘ auch mit der sinnlichen Wahrnehmung in Beziehung zu setzen. Die alltägliche sinnliche Gegenstandserfahrung möchte man ungern auf bloße ‚Mutmaßung‘ (die eikasia des Liniengleichnisses) festlegen, scheint sie doch der zweiten Erkenntnisweise des ‚Fürwahrhaltens‘ (der pistis) besser zu entsprechen. Platons Selbstauslegung hilft uns hier direkt nicht weiter. Es war das Verdienst von H. Jackson4 und A. S. Ferguson,5 gezeigt zu haben, daß jeder Versuch einer präziseren gnoseologischen Auslegung in erhebliche sachliche Schwierigkeiten führt. Ihre Lösung, nach der die beiden Phasen innerhalb der Höhle im Liniengleichnis gar nicht abgebildet seien und die unteren Abschnitte der Linie allein zur Illustration der oberen dienten, also mit einer ontologischen Stufung gar nicht in Verbindung zu bringen wären,6 ist indes mit dem Text schlecht vereinbar und hat viel mit dem vierten Grund zu tun, der explizit antimetaphysischen Haltung dieser Interpreten, von der her sich auch der eher unverdiente Erfolg ihres Ansatzes im 20. Jh. erklärt. Der dritte Grund, die mangelnde terminologische Eindeutigkeit, affiziert vor allem die Deutung der dritten Phase des Aufstiegs, d. h. die Betrachtung von ‚Schatten‘ und ‚Spiegelbildern‘ in der oberen Welt außerhalb der Höhle. Die hierbei wahrgenommenen Gegenstände müßten, als Objekte des diskursiven Denkens (der dianoia), gegenüber den Ideen selbst, deren Schatten sie sind, minderen ontologischen Rang haben. Platon deutet sie im Höhlengleichnis explizit nicht, belegt aber die Objekte der dianoia im Liniengleichnis (510 d7–8) mit Ausdrücken, die ihnen Ideenstatus zuzuerkennnen scheinen. Solche und ähnliche Schwierigkeiten führten zu scharfer Kritik am Höhlengleichnis: es sei als Gleichnis so überladen, daß es mehr ein Hindernis als eine Hilfe für das Denken darstelle.7

4 Vgl. Henry Jackson: On Plato’s Republic VI, 509 d sqq. In: Journal of Philolsophy 10 (1882), 132–150. 5 Vgl. Ferguson: Plato’s Simile of Light (1921); ders.: Plato’s Simile of Light. (1922). 6 Vgl. Jackson: On Plato’s Republic VI, 135 u. 140 f.; Ferguson: Plato’s Simile of Light (1921), 131 u. 138–146. 7 Iris Murdoch.: The Fire and the Sun: Why Plato Banished the Artists. Oxford 1977, 68; Julia Annas: An Introduction to Plato’s Republic. Oxford 1981, 252 u. 256.

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Gegenüber solcher Kritik ist zunächst festzuhalten, daß Platon sich nicht nur für einen guten Dichter von Bildern hielt (vgl. Nomoi 898 b3), was noch als bloße Selbstüberschätzung abgetan werden könnte, sondern ein eigenes Bild auch wieder in Frage stellen konnte, wenn es seiner Intention nicht voll entsprach (Beispiel: Phdn. 99 e6–100 a3). Da er dies hier nicht tut, ist zunächst zu fragen, ob eine mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck gebrachte Grundintention des Gleichnisses erkennbar ist, neben der die Einzelschwierigkeiten sekundär erscheinen müßten. Als solche wird man bezeichnen dürfen (a) die Notwendigkeit des Verlassens der alltäglichen Erkenntnishaltung zugunsten einer philosophischen Einstellung, (b) die Vorstellung, daß solch eine „Umwendung der ganzen Seele“ nicht unmittelbar zur höchsten Erkenntnismöglichkeit des Menschen führt, sondern nur über eine gestufte Abfolge von unterschiedlichen Erkenntnisweisen, (c) die Überzeugung, daß den gestuften Erkenntnisweisen ontologisch ungleiche Gegenstandsarten entsprechen, (d) die Ansicht, daß die „Umwendung“ viel Mühe kostet und daher nicht allein Sache des Verstandes, sondern der Gesamtpersönlichkeit ist, und (e) der Glaube, daß die Erkenntnis der Idee des Guten die natürliche Bestimmung des Menschen ist, so natürlich wie die Befreiung aus dem Dunkel der Höhle zum Licht der Sonne. Daß diese Aspekte des menschlichen Erkenntnisweges nicht klar und eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht wären, wird niemand behaupten wollen. Mit Recht insistierte J. Adam darauf, daß Platons Sprache in der Lage ist, genau das auszudrücken, was er meinte.8 Die verbleibenden Restprobleme der Einzelerklärung sollen nicht geleugnet werden. Sie gewinnen indes eine überproportionale Bedeutung, wenn man versucht, das Gleichnis auf Kosten seiner erkennbaren Grundintention zu pressen. Die Mahnung von J. Adam, daß in einem Gleichnis nicht jedes Detail bedeutungsvoll sein muß,9 sollte nicht in Vergessenheit geraten.

4. Liniengleichnis und Höhlengleichnis. Platons Anweisung lautet: das Höhlengleichnis ist mit dem zuvor Gesagten zu verknüpfen (proshapteon: 517 b1). Er selbst setzt zweimal dazu an,

8 Vgl. James Adam: The Republic of Plato. 2 vols. Cambridge 1902 (Reprint 1972), vol. II, 195. 9 Vgl. ebd., 90.

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zuerst in unmittelbarem Anschluß an die Allegorie 517 a8–518 b5, ein zweites Mal 532 a1–535 a1 unter Einbeziehung der inzwischen besprochenen mathematischen Studien. Die erste Stelle bringt die Entsprechung in groben Zügen: (1) Der ‚Höhle‘ entspricht die wahrnehmbare Welt, der horatos topos des Sonnen- und Liniengleichnisses (508 c2, 509 d2) und damit auch der untere Teil der Linie, der diesen Bereich repräsentiert (509 d8); das Feuer in der Höhle stellt die Sonne dar (517 b1–4), diese selbst natürlich, wie schon im Sonnengleichnis, die Idee des Guten. Die ‚Schatten‘ sind politisch-moralische Fehlmeinungen etwa über Gerechtigkeit (517 d4–e2). (2) Der ‚Aufstieg‘ aus der Höhle zum Licht entspricht der methodischen Aufwärtsbewegung des Denkens im Liniengleichnis (anabasis und anodos: 517 b4/5 erinnern an anôterô ekbainein: 511 a6). Die zweite Selbstinterpretation bringt die präzisere Bestimmung der Phasen: der Dialektik, die die Ideen selbst und die Idee des Guten durch noêsis erfaßt, entspricht in der Höhle das Blicken auf die Lebewesen, die Gestirne und die Sonne selbst (532 a2–b2). Den ‚Künsten‘ (technai, weniger genau auch ‚Wissenschaften‘, epistemai genannt: 532 c4, 533 d4), die ihr Objekt durch dianoia erfassen, entspricht das Blicken auf die „göttlichen Erscheinungen im Wasser und die Schatten der seienden Dinge“ in der oberen Welt (532 c1–2). Das Blicken auf die Schatten und auf die Statuen in der Höhle wird 532 b6–7 erwähnt, 533 e7–534 a5 dann als Mutmaßen (eikasia) und Fürwahrhalten (pistis) gedeutet. Diese Stelle greift ausdrücklich zurück auf die Zusammenfassung des Liniengleichnisses, wo bereits einmal die vier Erkenntnisarten: intuitives Denken (noêsis), diskursives Denken (dianoia), Fürwahrhalten (pistis) und Vermuten (eikasia) in dieser Reihenfolge erschienen (511 d6–e2). Daß den vier Erkenntnisarten je ein eigener Gegenstandsbereich entspricht, war schon in 511 e2–4 ausgesprochen und wird zusammenfassend in 534 a2–7 noch einmal bekräftigt: die Bereiche Werden ( Höhle) und Sein ( obere Welt) bedürfen der weiteren Teilung in je zwei Unterbereiche (was aber inhaltlich nicht weiter ausgeführt wird). Platons eigene Auslegung unseres Textes zeigt somit, daß er die drei Gleichnisse als ein eng verbundenes Ganzes mit einer einheitlichen Aussage betrachtet wissen wollte. Die ontologische Grundunterscheidung zwischen Ideen und Erscheinungswelt am Anfang des Sonnengleichnisses (507 a5–b11), die notwendig die ganze Wirklichkeit umfaßt, wird ausdrücklich in die folgenden zwei Gleichnisse hinübergenommen (509 d1– 510 a10, 517 b2–6). Daher kommt beiden, dem Linien- wie dem Höhlengleichnis, auch ontologische Bedeutung zu – sie sind nicht lediglich als Illustration von Erkenntnismethoden bzw. Phasen eines Erziehungsweges gemeint. Die vier Abschnitte auf der Linie und die vier Phasen des Aufstiegs aus der Höhle sind durchaus als parallele Darstellungen derselben

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Sachverhalte intendiert (ungeachtet der daraus resultierenden Schwierigkeiten). Beide Darstellungen gelten je für sich schon der Zuordnung von unterschiedlichen Erkenntnisweisen zu distinkten Gegenstandsarten, auf die sie sich richten (zu den Dingen eph’ hois tauta: 534 a5–6 ≈ 511 e2–3), wobei das Liniengleichnis mehr (aber nicht ausschließlich) den erkenntnistheoretischen und den Methoden-Aspekt betont, das Höhlengleichnis mehr (aber nicht ausschließlich) die Seite der Gegenstände (Nachweise im einzelnen bei Chen 1992).10 Mit diesem In-Beziehung-Setzen von Erkenntnisweisen und ontologischen Gegenstandsbereichen wird im übrigen nur der Grundgedanke der Ideenhypothese, wie er 474 b–480 a entwickelt war, weiter ausgeführt. Dieser Befund spricht nicht dafür (a) mit Ferguson (dem hierin viele Interpreten bis heute folgen) zu glauben, daß Höhle und (untere) Linie „have no connexion at all“,11 oder (b) mit Jackson12 und Ferguson13 (und ihren heutigen Nachfolgern) zu meinen, der untere Teil der Linie habe rein illustrativen Charakter, oder (c) im Gefolge dieser Interpreten zu leugnen, daß eine „fourfold classification of objects or states“14 vorliegt und zu versichern, für die mathematischen Gegenstände als eigenen intelligiblen Objektbereich (als eigenes noêton eidos, verschieden von den Ideen: so Platon 511 a3 mit 510 b4, 511 c5–6) gebe es in der Politeia keinen Platz,15 und daher (d) dem Viererschema beider Gleichnisse eine „threefold ontology“16 zu unterlegen. (Eine detaillierte Aufarbeitung der anhaltenden Fortwirkung des Ansatzes von Jackson und Ferguson findet sich bei Chen).17 Mit diesen exegetischen Entscheidungen wird keineswegs bestritten, daß sachliche Kritik an Platons Konzeption der eikasia durchaus möglich ist: die Gegenstände der eikasia sind als wahrnehmbare Sinnendinge von den Gegenständen der pistis ontologisch nicht verschieden, und wir verfügen auch nicht über ein Erkenntnisvermögen, das speziell für Schatten u. dgl. zuständig wäre. Für Platon hingegen war ein ontologisches Gefälle zwischen einem Ding und seinem ‚Abbild‘ nie zweifelhaft (vgl. z. B. Politeia 597 e, Soph. 266 bc, Phil. 58 ef., 61 ef.), und offenbar war er bereit, auch

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Vgl. Ludwig C. H. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas. Stuttgart 1992. Ferguson: Plato’s Simile of Light (1921), 138. Vgl. Jackson: On Plato’s Republic VI, 135. Vgl. Ferguson: Plato’s Simile of Light (1921), 131, 146. Ebd., 143, nach Jackson: On Plato’s Republic VI, 141. Vgl. Jackson: On Plato’s Republic VI, 141 n.1. So Paul Pritchard: Plato’s Philosophy of Mathematics. St. Augustin 1995, 94, nach vielen anderen. 17 Vgl. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas.

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die Wahrnehmung von Schatten und Spiegelungen für entsprechend ungewisser zu halten. Was die Seele auf der dritten Stufe erkennt, wenn sie auf die ‚Schatten‘ und ‚Spiegelungen‘ der oberen Welt blickt, sind weder wahrnehmbare Dinge noch Ideen, sondern die Gegenstände der mathematischen Disziplinen. Diese gehören einerseits zum ‚immer Seienden‘ (527 b7), andererseits sind sie nicht einzig, vielmehr gibt es (unendlich) viele (exakt) gleiche ‚Dinge‘ dieser Art (526 a3, vgl. Phil. 56 e2). Von den zwei ontologischen Merkmalen Unveränderlichkeit und Einzigkeit, die beide den Ideen zukommen, den Sinnendingen abgehen, kommt das eine den Gegenständen der Mathematik zu, das andere geht ihnen ab. Sie stehen ontologisch also ‚zwischen‘ den Ideen und den Sinnendingen, so wie die ihnen zugewandte Erkenntnisweise der dianoia ‚zwischen‘ (metaxy: 511 d4) nous und doxa steht (vgl. 533 d4–6: zwischen Wissen, epistêmê, und Meinung) und so wie die oberen Schatten und Spiegelungen jedenfalls im Bild zwischen den Statuen in der Höhle und den wirklichen Gegenständen oben stehen. Der Einwand (z. B. bei Pritchard),18 daß die Objekte der Erkenntnis in drei ontologische Klassen zerfallen müssen, weil ja auch das 10. Buch der Politeia nur drei Klassen kennt (Dinge, Abbilder der Dinge, Abbilder der Abbilder), verfängt nicht, da anläßlich der Kritik der mimêsis kein Anlaß war, die Probleme des ontologischen Status der Gegenstände der Mathematik zu erörtern. Die Auffassung, die Gegenstände der zweiten und dritten Stufe des Aufstiegs seien „equally unreal“19 und folglich ontologisch gleichrangig, hat keine Stütze am Text, wird vielmehr von 532 b7/c1 (bloße eidôla gegen ‚göttliche Erscheinungen‘, phantasmata theia) widerlegt – ganz abgesehen davon, daß sie das Bild absurd machen würde. Als gewichtiger Einwand gegen ontologisch distinkte mathematische Gegenstände gilt auch, daß als Objekt der mathematischen Betrachtung das „Viereck selbst“ und die „Diagonale selbst“ genannt sind (510 d7–8), womit die Ideen als Gegenstand der Mathematik und der dianoia (und nicht nur der Dialektik und der noêsis) erwiesen seien.20 Doch Platons Sprachgebrauch in der Politeia bestätigt das nicht: 525 d–526 a ist von „den Zahlen selbst“ und vom „Einen selbst“ die Rede, wobei der Zusammenhang keine andere Deutung zuläßt als die auf „individual mathematical numbers and nothing

18 Vgl. Pritchard: Plato’s Philosophy of Mathematics, 94. 19 Ebd., 101. 20 Vgl. u. a. Annas: An Introduction to Plato’s Republic, 251; Pritchard: Plato’s Philosophy of Mathematics, 103.

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more“.21 – Nebenbei sei erwähnt, daß auch Aristoteles in seinem Resümee der Ontologie Platons den ‚mathêmatika‘ dieselbe Zwischenstellung (metaxy: ‚zwischen‘ Sinnendingen und Ideen, Met. I 6, 987 b14–18) zuweist, die auch der Text der Politeia erkennen läßt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß nach der klar zum Ausdruck gebrachten Intention von Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis und ihrer ‚verknüpfenden‘ Auslegung durch Sokrates der Aufstieg aus dem Dunkel des vorphilosophischen Bewußtseins in vier Phasen erfolgt, die vier nach ihrer Deutlichkeit gestufte Weisen des Erkennens symbolisieren, denen auf der Objektseite wiederum vier Gegenstandsklassen mit unterschiedlichen ontologischen Merkmalen gegenüberstehen.22

5. Welcher Art ist die Erkenntnis des Guten? Das Gute selbst zu erkennen, ist das Ziel des Aufstiegs, und es wird auch erreicht (516 b4–7 mit 517 b7–c5, 519 c9, vgl. 532 a5–b2, e1–3, 540 a4–9, u. ö.). Doch wie die Erkenntnis des höchsten Prinzips konzipiert ist, bleibt eine der umstrittensten Fragen der Platonexegese. Am häufigsten begegnet man etwa folgenden Ansichten (die sich nicht alle gegenseitig ausschließen): das Gute muß wegen seines ontologischen Ortes ‚jenseits des Seins‘ (509 b9) seinem Wesen nach unerkennbar bleiben;23 es kann, weil ungegenständlich, nur indirekt durch Bilder erfaßt werden, weswegen Platon drei Gleichnisse bringe, nicht aber eine Definition des Guten;24 es wird auf dem Weg der unio mystica adäquat, sonst nur

21 Adam: The Republic of Plato. 2 vols, vol. II, 114, vgl. 68; vgl. auch Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas, 224 f. 22 Nicht mit hinreichender Sicherheit zu lösen ist die Deutung (a) der „Geräte“ (der skeue 514 c1) – sind sie Objekte der ‚niederen’ mathematischen Disziplinen im Sinne von Phil. 56 dff. (so Karl Bormann: Zu Platon, Politeia 514 b8–515 a3. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 43 (1961), 1–14, hier: 12)? –, (b) der Schatten und Spiegelungen in der oberen Welt – greift hier vielleicht die Unterscheidung zweier Arten von Mathematik aus dem Philebos (so Krämer) ? – und (c) der Gestirne, deren Erkenntnis von der anderer Dinge deutlich abgehoben ist (516 a8) – sind damit vielleicht die Ideenzahlen oder oberste dialektische Begriffe (megista genê) gemeint (so Hans Joachim Krämer: Dialettica e definizione del Bene in Platone. Interpretazione e commentario storico-filosofico di „Repubblica“ VI, 534 b3–d2. Milano 1989, 42 A. 3)? 23 Vgl. Cornelia J. de Vogel: Rethinking Plato and Platonism. Leiden 1988, 40–45. 24 Vgl. u. a. Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Berlin 1974, 150f.; Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 48f., 196f. u. ö.

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metaphorisch erkannt (Plotinos und der Neuplatonismus);25 es wird durch eine unmittelbare intellektuelle Anschauung erfaßt, die nicht propositionaler Natur ist und für die Platon die Metapher des ‚Schauens‘ (theasthai) geprägt habe (so weite Teile der kontinentaleuropäischen Platonexegese, z. B. Oehler 1962, Krämer 1989);26 zur ‚Schau‘ tritt als notwendige Hinführung die diskursive Wesensbestimmung durch Abgrenzung von anderen Ideen;27 oder die diskursive Elenktik bleibt die einzige Zugangsart zur Idee des Guten.28 Daß Platon Bilder biete, weil das Wesen des Guten prinzipiell nicht angebbar sei, ist ein (früher weitverbreitetes) Mißverständnis der Aussparungsstelle 506 e–507 a.29 Die inhaltliche Bestimmbarkeit des Guten ist im Text überall vorausgesetzt: Sokrates hat eine ‚Ansicht‘ über das Wesen des Guten, die er jetzt freilich nicht mitteilt (506 e1–3), und der Dialektiker wird das Gute jedenfalls bestimmen können müssen (534 b8–d1). Dem entspricht, daß der Aufgestiegene das Gute zuletzt ‚sieht‘: Unbestimmbares läßt sich nicht ‚sehen‘, und die Sonne jedenfalls ist ein Bestimmtes. Daß das Gute ein Lehrgegenstand (mathêma) ist, zu dem man methodisch hinführen, zu dessen Erkenntnis man sogar ‚zwingen‘ kann (vgl. u. Abschnitt 9), spricht nicht dafür, es als regulatives Prinzip der Urteilskraft und propositional prinzipiell nicht faßbares ‚Gebrauchswissen‘30 auszulegen. Daß das Gute erkannt werden kann, ist das Ergebnis (517 b8–c1) des Höhlengleichnisses und in gewissem Sinne auch seine Voraussetzung, denn ohne das würde der Aufstieg in der Tat nicht lohnen (wie die Höhlenbewohner meinen: 517 a4); daher ist die Erkennbarkeit des Guten vorbereitend schon im Sonnengleichnis ausgesprochen (508 e3–4, analog zur Sichtbarkeit der Sonne 508 b9–10). In der Erläuterung zum Höhlengleichnis erfahren wir überdies, daß die Seele schließlich sogar die Fähigkeit gewinnt, das „Schauen“ auf das Leuchtendste des Seienden „auszuhalten“

25 Vgl. neuerdings Karl Albert: Einführung in die philosophische Mystik. Darmstadt 1996, 151–157. 26 Vgl. Klaus Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. München 1962 (Zetemata, Bd. 29); Krämer: Dialettica e definizione del Bene in Platone. 27 Vgl. ebd.; Jens Halfwassen: Rezension zu Peter Stemmer: Platons Dialektik. Berlin 1992. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 76 (1994), 220–225. 28 Vgl. Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic. Oxford 1953; Peter Stemmer: Platons Dialektik. Berlin 1992. 29 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin 1985, 303–325. 30 Vgl. Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 185, 217, 236.

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(anaschesthai theômenê: 518 c9–10). Daß das Betrachten der Idee des Guten „nur für wenige Augenblicke“31 möglich sei, wird durch diese Stelle nicht bestätigt. Auch der aus der Höhle Aufgestiegene kann die Sonne nicht nur „erblicken“, sondern auch „betrachten wie sie (wirklich) ist“ (katidein kai theasasthai hoios estin: 516 b6–7). (Ob wir Heutige das mit C. J. de Vogel für „naiv“32 halten oder nicht, tut nichts zur Sache: Sokrates sagt es so.) Von diesem ‚Schauen‘ der Sonne und der Idee des Guten ist nun deutlich abgehoben das ‚Schließen‘ (syllogizesthai: 516 b8 und 517 c1), das offenbar erst in einem zweiten Schritt vollzogen wird (‚danach‘, meta tauta: 516 b8; 517 c1 ophtheisa de: „ist sie aber gesehen, so ...“), und durch welches die Sonne als letzte Ursache für alles Sichtbare, die Idee des Guten für alles Intelligible und Sichtbare im einzelnen aufgewiesen wird. Das Schließen auf die ursächliche Funktion des Guten durchläuft mehrere Schritte, gehört mithin in das diskursive Denken. Es liegt daher nahe, das davon abgehobene vorgängige ‚Schauen‘ (theasthai) bzw. ‚Sehen‘ des Guten als ein ganzheitlich-intuitives Erfassen zu verstehen, das – wie das ‚plötzliche‘ Erblicken der Idee des Schönen im Symposion (210 e4) – nur in einem Schritt besteht: im Zusammenschauen des Vielfältigen zur Einheit (vgl. pros hen ... synhorônta: Nom. 965 b10, eis mian idean synhorônta: Phdr. 265 d7). Der zu erfassende gemeinsame Zug des Vielfältigen betrifft die allen Dingen gemeinsame Herkunft vom Guten, das den Ideen Dauer und Bestimmtheit, Sein und Erkennbarkeit verleiht, wodurch sie ‚guthaft‘ werden (vgl. agathoeides: 509 a3). Daß das Gute Sein und Erkennbarkeit verleihen kann, läßt sich am ehesten verstehen, wenn man die von Aristoteles (Met. 1091 b14, vgl. 988 a14) referierte akademische Gleichsetzung des Guten mit dem Einen akzeptiert.33 – Die von Robinson 195334 u. a. stark betonte Elenktik verharrt beim diskursiven Denken als der vermeintlich einzigen Erkenntnisart der Dialektik und wird so Platons unverkennbarer Intention, eine unmittelbare und positive Erkenntnis des Guten als Ziel der Dialektik zu erweisen, nicht gerecht: die Elenktik bleibt stets negativ.35 Die Zusammenschau ist freilich charakteristisch für alle dialektische Erkenntnis, nicht nur die des Guten: der Dialektiker ist ‚Synoptiker‘ (537 c7, vgl. Phdr. 266 b5–c1).36 Angesichts der herausgehobenen ontologischen Stellung des Guten („noch jenseits von Sein hinausragend an Rang und

31 32 33 34 35 36

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Albert: Einführung in die philosophische Mystik, 153. Vogel: Rethinking Plato and Platonism, 49. Vgl. Krämer: Dialettica e definizione del Bene in Platone, Kap. 9. Vgl. Robinson: Plato’s Earlier Dialectic. Vgl. Halfwassen: Rezension zu Stemmer: Platons Dialektik. Zum Begriff synopsis vgl. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas, 160–165.

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Macht“, 509 b9) und angesichts der für Platon bezeichnenden Parallelisierung von ontologischem Status und Gewißheit der Erkenntnis könnte man sich in der Tat fragen, ob es nicht systemgerecht wäre, wenn solch einem ‚Prinzip des Ganzen‘ (511 b7, vgl. 517 c1–4) eine Erkenntnisweise zugeschrieben würde, die von der synopsis sonstiger Dialektik verschieden wäre. Plotinos’ Postulat eines übernoetischen Zugangs ist von daher verständlich, ebenso moderne Zweifel an der Erkennbarkeit des Guten. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, daß Platon weder die Fähigkeit der Dialektik, das Gute zu erkennen, einschränkt, noch einen Versuch macht, innerhalb der Dialektik für die besondere Idee des Guten eine besondere Zugangsart geltend zu machen. Dieser Zug der platonischen Konzeption wird vielleicht besser verständlich, wenn man bedenkt, daß das Gute nicht nur ‚jenseits des Seins‘ hinausragt, sondern doch auch wieder als Teil des Seienden betrachtet wird (518 c9, 526 e3, 532 c6).

6. Das Gute „hinreichend“ sehen? Das Höhlengleichnis wäre als Bild sinnlos, wenn der zum Licht Aufsteigende die Quelle des Lichts nicht erblickte. Er kann die Sonne erblicken, „sie selbst an sich“ und „an ihrem eigenen Ort“, und sie „betrachten, wie sie beschaffen ist“ (516 b4–7). Die streng durchgeführte Analogie erlaubt keine andere Deutung als die, daß auch das Gute „selbst an sich“ erfaßt wird, d. h nicht relativ zu anderem, als gut für dieses oder jenes, und „an seinem eigenen Ort“, d. h. hinsichtlich seiner Stelle in der Ordnung der an sich seienden Dinge (und nicht lediglich in der Hierarchie privater Zwecke), und daß es nicht nur „erblickt“, sondern auch „betrachtet“ wird, „wie es (wirklich) ist“, d. h. nicht mehr durch Vermittlung seiner Erscheinungen (vgl. phantasmata 516 b5) in anderen Dingen. Die Denkseele wird das Schauen auf die Idee des Guten, wie wir sahen, sogar „aushalten“ (518 c10), was zweifellos ein erkennendes Verweilen beim betrachteten Gegenstand impliziert. Auch sonst ist die gelingende Schau des Guten überall Voraussetzung der Argumentation: die Dialektik ist Gipfel und Endpunkt (oder Ziel: telos: 535 a1) aller Studien, und sie läßt ihrerseits nicht nach, bevor sie nicht in der noetischen Erfassung des Guten „ans Ziel (telos) selbst des Intelligiblen“ gelangt (532 b1–6). Es gibt in der Tat ein Ankommen (aphikesthai: 519 c9) beim Guten und für den Angekommenen ein ‚Ende der Reise‘ (telos tês poreias), ein ‚Ausruhen vom Weg‘ (532 e2–3). Die Staatsgründer wollen die Philosophen sogar zum Ankommen beim Guten ‚zwingen‘

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(519 c9, vgl. 540 a6–8) – zu Unerreichbarem zwingen zu wollen, wäre absurd. Die Philosophen müssen beim Ziel angekommen sein, weil nur dies ihre Herrschaft legitimieren kann: sie sehen nunmehr auch im politischen Bereich unendlich viel klarer als die anderen (520 c3–6). Zweck des ganzen philosophischen Bildungsweges ist es, Herrscher zu bekommen, die nicht – wie die durchschnittlichen Menschen: 505 d11–e4 – im Unklaren sind über das ‚größte Lehrstück‘ (megiston mathêma: 505 a2), die Idee des Guten. Die künftigen Herrscher müssen sie „unbedingt sehen“ (526 e4), Unkenntnis des Guten ist bei ihnen absolut unzulässig (505 e4–506 a3, 534 d3–7, vgl. 540 a6–9). Und die Philosophen werden zum Regieren gezwungen, wenn sie das Gute „hinreichend gesehen“ haben (epeidan ... hikanôs idôsi: 519 d1–2). Die Dialogfigur ‚Sokrates‘ erhebt natürlich nicht den Anspruch, das Gute hinreichend erkannt zu haben. Er unterscheidet zwar zwischen seiner Ansicht dazu und dem, was er davon hier und jetzt mitteilt (506 e1–5 mit 509 c5–10), läßt aber offen, ob seine Ansicht die Wahrheit trifft oder nicht (533 a3–5, vgl. 517 b6–7).37 Man hat daraus schließen wollen, daß die Idee des Guten als letztlich unerkennbar konzipiert sei und daß Platon selbst eingestehe, sie nicht erkannt zu haben.38 Indes ist zu trennen zwischen der Selbsteinschätzung Platons (über die aus der Politeia – direkt jedenfalls – nichts zu gewinnen ist), der Präsentation des Gedankens durch die Dialogfigur39 und der Theorie, die zu akzeptieren Sokrates uns einlädt. Nur letztere interessiert uns hier. Und in dieser Theorie kann das „hinreichende“ Sehen des Guten nicht bedeuten: ‚(gerade noch) hinreichend, um für das Regieren einen gewissen Nutzen daraus ziehen zu können‘. Es geht nicht um ein dosiertes Maß an (ungesichertem) Wissen, das relativ zu einem begrenzten praktischen Zweck zu bemessen wäre. Hikanôs kann nur heißen: ‚hinreichend‘ oder adäquat im Blick auf das Gute selbst und „an sich“, auf seine (wirkliche) „Beschaffenheit“ und „seinen eigenen Ort“ in der Gesamtheit des Wirklichen. Diese Konzentration auf die Sache selbst liegt auch in der Vorstellung des ‚aushaltenden‘ Verweilens beim Guten. Die Philosophen erkunden das Gute nicht um des Regierens willen (dieses ist für sie vielmehr eine eher

37 Vgl. hierzu Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 312–316. 38 Vgl. Rafael Ferber: Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Plato die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben? St. Augustin 1991, 21, nach Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21922 [1903] [Nachdruck Darmstadt 1961], 190. 39 Vgl. hierzu generell Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie.

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lästige Notwendigkeit: 520 e2, 540 b4), sondern um seiner selbst (und ihrer selbst) willen. Wäre das Gute selbst seinem Wesen nach unerkennbar, so wäre nicht zu sehen, wie dem Staat gedient sein soll mit Herrschern, die zwar die (bisher) größten Anstrengungen unternahmen, dem unerreichbaren Ziel näher zu kommen, es aber eingestandenermaßen nicht erreichten. Ihr Anspruch, das politisch Gerechte besser beurteilen zu können, fiele weg: ohne Erkenntnis des Guten könnten sie auch ‚das Schöne und Gerechte‘ weder angemessen erkennen noch politisch wahren (506 ab) – sie wären keine Wächter mehr. Die moderne Auslegung des platonischen Philosophiebegriffs, derzufolge das Philosophieren ein ewiges Unterwegssein ohne Aussicht auf Ankunft ist, wird vom Höhlengleichnis nicht gestützt. Ihren Vertretern sei empfohlen, das Gleichnis umzuschreiben: aus der Höhle herausgetreten, muß der Befreite zur Kenntnis nehmen, daß die dichte Wolkendecke, die den Himmel bedeckt, sich nie lichten wird. Ob es darüber eine Sonne gibt, oder mehrere, oder keine, und wo sie steht, wenn es eine gibt, wird er nie erfahren ...

7. Die Idee des Guten als Ursache Man kann nicht sagen, daß das Höhlengleichnis (oder die vorangehenden zwei Gleichnisse) eine deutlich ausgeführte Theorie der Ursächlichkeit des Guten enthielte. Immerhin wird so viel deutlich, daß die ursächliche Kraft des Guten sich auf Ideen- und Sinnenwelt erstreckt, und daß es Ursache in mehrfachem Sinne ist. Nach seiner Betrachtung der Sonne „wie sie ist“ schließt der aus der Höhle Aufgestiegene, daß sie den Wechsel der Jahreszeiten und der Jahre ‚gewährt‘, alles im Sichtbaren Bereich lenkt und sogar Ursache all der Dinge ist, die er unten sah – jedenfalls „in einer bestimmten Weise“ (tropon tina:, 516 c2). Die Idee des Guten ist Ursache „von allem Richtigen und Schönen“, und zwar „für alle Dinge“ (517 c2); im Sichtbaren hat sie das Licht und dessen ‚Herrn‘ erzeugt, im Intelligiblen gewährt sie selbst als ‚Herrin‘ Wahrheit und Einsicht (noun: intuitives Erkennen); wer vernünftig handeln will, muß sie sehen (c 3–5). Das Gute ist letzte Zweckursache des menschlichen Handelns. So war es von vornherein eingeführt worden: alle tun alles seinetwegen, auch wenn sie nicht wissen, was es ist (505 d11–e2). Die Philosophen aber kennen das „eine Ziel im Leben, auf das zielend sie alles tun müssen, was sie privat oder öffentlich tun“ (519 c2–4). Nach anderen Zeugnissen (Symp. 206 a,

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207 a–d; Phdn. 75 a2, b1; Aristoteles, EE I 8, 1218 a24–26) scheint der Gedanke der finalen Ursächlichkeit des Guten bei Platon weitere Geltung gehabt zu haben als nur im menschlichen Bereich. Daß das Gute im Höhlengleichnis nicht explizit als universale Finalursache herausgearbeitet ist, berechtigt nicht zu dem Schluß, daß Platon seine finale Ursächlichkeit einschränken wollte.40 Für alles ist das Gute Ursache des Richtigen und Schönen: damit ist zunächst die Geordnetheit der Ideenwelt (vgl. 500 c2–5) gemeint, der im Bild der Wechsel der Jahreszeiten und Jahre im Kosmos entspricht, dann aber auch die ‚Lenkung‘ (516 b10), also die vernünftige, zielgerichtete Beherrschung der sichtbaren Welt durch die Sonne, die ja vom Guten abstammt. Daß die Idee des Guten Grund der Erkennbarkeit des Intelligiblen ist (517 c4), greift auf das Sonnengleichnis zurück; als Seinsgrund dieses Bereichs wird sie hier im Höhlengleichnis nicht noch einmal aufgewiesen (dies nur im Bild: 516 c2). Wichtig ist, daß die Beziehung der Sonne zum Guten nicht nur die einer illustrierenden Analogie ist; vielmehr ‚zeugt‘ (tekousa: 517 c3) das Gute sie, und zwar als ihm gänzlich ähnliche Entsprechung (506 e3, 508 b13). In aristotelischer Terminologie ist das Gute also Form- und Wirkursache der Sonne, und durch Vermittlung dieses ‚Königs‘ (509 d2) und Prinzips (509 b3) des Sichtbaren auch des Kosmos insgesamt. Freilich ist die Art der Vermittlung des Guten und der Vernünftigkeit an den Kosmos (etwa durch einen Demiurgos) nicht Thema der Gleichnisse. So viel allerdings ist klar: daß das Gute ‚Prinzip des Ganzen (oder: des Alls)‘ ist, wie es im Liniengleichnis heißt (hê tou pantos archê: 511 b7), wird vom Höhlengleichnis bestätigt. Die Allverwandtschaft der Natur (Men. 81 c9–d1), die ja nur vom Guten gestiftet sein kann (vgl. Phdn. 99 c5–6), wird nicht ausgeführt (vielleicht angedeutet 537 c2–3).

8. Das Gute als paradeigma des Handelns Nach vollzogener Schau des Guten sollen die Philosophen in die Welt der Praxis zurückkehren, um es nunmehr als Vorbild oder Modell (paradeigma) zu nehmen (540 a9). Ihre Aufgabe ist eine dreifache: sie sollen (a) die Stadt, (b) die ‚Privatleute‘ (idiôtai) und (c) sich selbst ‚ordnen‘ (kosmein: 540 b1).

40 Vgl. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas, 87f.

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Das Gute selbst als paradeigma nehmen, meint offenbar nichts anderes als „ein Ziel im Leben haben, worauf zielend (man) alles tun muß, was (man) privat oder öffentlich tut“ (519 c2–4). Unter welcher Bedingung kann das Gute das gemeinsame Ziel allen persönlichen und staatlichen Handelns sein? ‚Das Gesetz‘ zielt auf den ‚Zusammenschluß‘ (syndesmos) der Stadt (520 a4). Sokrates nimmt hier den Gedanken auf, daß das größte Gut für die Stadt das ist, was sie zu einer Einheit zusammenbindet (syndei: 462 b2), und daß nur die Einheit Frieden und Freundschaft im Inneren und die Verteidigungsfähigkeit nach außen erhält (464 d–465 b). Aus dem Postulat der Einheit folgen die wesentlichsten Züge der platonischen Stadt, so die Beschränkung ihres Wachstums (423 b6), die gleiche Erziehung für Männer und Frauen sowie die Abschaffung von Familie und Privateigentum für die zwei oberen Schichten (461 e–466 d). Was die Formung der Individuen betrifft, so ist auch hier der Gedanke der Einheit maßgebend. Die umfassende Tugend der Gerechtigkeit befähigt den Menschen, die ‚Teile‘ seiner Seele ‚zusammenzubinden‘ (syndêsanta), so daß er „ganz und gar einer wird aus vielen“ (443 e1). Dies gilt wohl schon für die ‚bürgerliche Tugend‘ (430 c3 mit 500 d8), in höherem Maße aber für die Tugend dessen, der ‚die Wahrheit über das Schöne, Gerechte und Gute gesehen hat‘ (520 c5). Das eine Ziel oder das Gute ist also bei der Gestaltung des Staates wie bei der Formung des Individuums nichts anderes als die Einheit selbst.

9. Die Präzisierung der Seelenlehre Die Theorie der Seelenteile im vierten Buch sagt nichts von der Unsterblichkeit der Seele. Als Folgerung aus dem Höhlengleichnis und dem in ihm implizierten (vgl. 518 b6–8) paideia-Begriff formuliert Sokrates nun folgende Unterscheidung: die übrigen ‚seelisch‘ genannten Tugenden scheinen nahe bei den körperlichen Tugenden zu liegen, da sie, zunächst nicht vorhanden, durch Gewöhnung und Übung entstehen. Anders die Tugend des Denkens (phronêsai): sie ist die Funktion von etwas Göttlicherem, das sein Vermögen nie einbüßt (518 d9–e4). Was sein Vermögen nie einbüßt, muß selbst unvergänglich sein. Dies ist aber nicht die ganze Seele, sondern das von ihr, dessen Funktion das Denken ist – der Seelenteil also, der 439 d5 als logistikon (Denkseele) benannt worden war. Folgerichtig ist die Denkseele ‚ein Göttlicheres‘ (e2) – göttlicher als die beiden anderen Seelenteile, denn diese sind das, dessen Funktion die ‚anderen‘ seelischen Tugenden sind. Wenn diese fast so etwas wie

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antrainierte körperliche Tugenden sind, so müssen auch die entsprechenden Seelenteile ontologisch dem Körperlichen nahe, und das heißt sterblich sein. Durch die Seele geht also ein ontologischer Riß: ein Teil ist etwas Göttliches, Unvergängliches, die zwei unteren Teile sind etwas Sterbliches, quasi Körperliches. Erst im 10. Buch folgt ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele (608 c–611 a). Dieser scheint zwar der dreiteiligen Seele als ganzer zu gelten, doch stellt ein Anhang (611 b–612 a) klar, daß die Unsterblichkeit nicht für die Seele in ihrem diesseitigen Zustand gelten kann, sondern nur für ihre ‚alte‘, ‚wahre‘ Natur (611 d2, 612 a3). Die genaue Untersuchung der Sprache und der Gedankenführung des Anhangs zeigt, daß mit der ‚Wahren Natur‘ der Seele nichts anderes als das logistikon gemeint ist.41 Die Präzisierung der Seelenlehre besagt also, daß schon vom seelischen ‚Träger‘ her ein prinzipieller Unterschied besteht zwischen der auch den Nichtphilosophen erreichbaren ‚bürgerlichen‘ Tugend, die anerzogen wird fast nach Art körperlicher Tüchtigkeiten, und der Tugend der unsterblichen Denkseele, die allein die ‚Wahrheit über das Gerechte‘, d. h. die Idee der Gerechtigkeit erfassen und so Tugend als Wissen (nicht als Gewöhnung) in sich verwirklichen kann. Der Mensch ist nicht nur intentional auf das Göttliche und Immerseiende gerichtet, er ist auch ‚substantiell‘ mit ihm verbunden, insofern das Beste an ihm der Ideenwelt auch ontologisch nahe steht (mit ihr ‚verwandt‘ ist: 611 e2, vgl. Phd. 79 dff., Tim 90 a5).

10. Die Umwendung der ganzen Seele. Das unsterbliche logistikon kann freilich auch entgegen seiner wahren Natur seine unverlierbare dynamis ‚nach unten‘ richten, dann nämlich, wenn es „gezwungen“ ist, „der Schlechtigkeit zu dienen“ (519 ab). Aufgabe der paideia ist es, die ‚Umwendung‘ (periagôgê: 518 d4, 521 c6) der fehlgeleiteten Seele zu vollbringen. Verlangt ist ausdrücklich, die Denkseele „mit der ganzen Seele“ von der Welt des Werdens wegzuwenden (518 c8), also auch die ‚unteren‘ Seelenteile (so weit es möglich ist) einzubeziehen. Warum genügt es nicht, die Denkseele ‚umzuwenden‘, die anderen Seelenteile aber bei den ihnen eigentümlichen Betätigungen zu lassen? Man könnte Platon entgegenhalten, Philosophie sei doch eine Leistung des Intellekts, ihn gelte es zu schulen, alles andere sei irrelevant für das Ergebnis.

41 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia. In: Phronesis 21 (1976), 31–58.

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So wie der gefesselte Höhlenbewohner nicht das Auge allein dem Licht zuwenden konnte, sondern dieses nur „mit dem ganzen Körper“ (518 c7, mit Rückgriff auf 514 b1), so kann die Denkseele, die das ‚Auge der Seele‘ ist (533 d2), nicht für sich dem Licht des Guten zugewandt werden. Mögen die Seelenteile auch ungleichen ontologischen Ranges sein, hier im irdischen Leben sind sie doch aneinander gebunden. Die Existenz im Körper beschwert die Denkseele mit den Begierden und Ablenkungen des Körpers, die ihr letztlich zwar unwesentlich sind (vgl. 611 d1–7), die sie aber doch nach unten ziehen wie Bleigewichte (519 b1). Ohne dieses ‚Blei‘ wegzuschlagen, ist für Platon ‚wahre Philosophie‘ nicht möglich. Aus diesem Grund betont er auch sonst stets, daß für eine philosophische Natur die ethischen Qualitäten ebenso wichtig sind wie die intellektuellen (vgl. z. B. 485 b–487 a, 535 a–540 a).

11. Die Art der Durchführung der paideia Der zum Aufstieg Befreite befreit sich nicht selbst: jemand ‚zwingt‘ ihn zum Aufwärtsschreiten, ja er zerrt ihn ‚gewaltsam‘ nach oben ans Licht (515 c6, e6–8). Wer ist dieser ‚jemand‘ (tis: 515 e6)? Sein Fragen nach dem ‚Was‘ der Dinge (d6) zeigt, daß der rücksichtslose Befreier ein Bild des Sokrates ist. Ohne einen Lehrer, so scheint es, kommt man nicht auf den Weg der Dialektik. Anderswo rechnet Platon zwar mit der Möglichkeit, daß eine philosophische Natur sich von selbst bildet (Soph. 265 d8–e2), oder auf Grund von nur geringer Hilfe (Epist. 7, 341 e3); für das hier in der Politeia gezeichnete Bild vom Philosophieren aber ist festzuhalten, daß Selbstbefreiung – die sehr leicht ins Bild hätte eingeführt werden können – nicht vorkommt. Auch im idealen Staat werden die Philosophen zum letzten Schritt, zum Blicken auf das Gute, ‚gezwungen‘ werden (519 c8–d1, 540 a7–8). Das klingt seltsam, handelt es sich doch um Naturen, die wie niemand sonst lernbegierig, philomatheis, sind (376 bc, 485 b u. ö.). Gemeint ist wohl, daß notfalls moralischer Druck auf sie ausgeübt wird, um einem Nachlassen ihrer Anstrengungen vorzubeugen (vgl. 535 b7). Wie dem auch sei, eines ist der Formulierung mit Sicherheit zu entnehmen: daß dem ‚Aufstieg‘ der Seele zum Guten auf der inhaltlichen Seite ein klar umrissenes Theorem entspricht, nicht aber so etwas wie ein regulatives Prinzip der Urteilskraft, ein nichtpropositionales Gebrauchswissen. Jemanden zum Haben von Urteilskraft oder Gebrauchswissen ‚zwingen‘ zu wollen, wäre von vornherein widersinnig – noch dazu ‚zwingen‘ ab seinem 50. Lebensjahr (540 a4). Der-

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gleichen stellt sich ein oder es stellt sich nicht ein, erzwingen oder zeitlich programmieren läßt es sich nicht. Wenn dagegen der Erkenntnis des Guten in der Seele auf der Seite der logoi eine formulierbare und in langer gemeinsamer Diskussion zu erprobende Theorie der Prinzipien entspricht, so ist es durchaus sinnvoll, Menschen, deren philosophisches Verständnis an anderen Theoremen schon breit getestet wurde, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu drängen, sich nun intensiv mit dieser Theorie zu befassen. Eine schriftliche Fixierung solch einer Theorie könnte übrigens die ethische Formung, die verlangt ist, nicht mitliefern, und wäre somit für das Ziel der ‚Umwendung der ganzen Seele‘ nicht von Nutzen. Zugelassen zur Schulung in Dialektik wird nur, wer auch die ethische Qualifikation besitzt (539 d3–6, vgl. 503 d8–9): nur so ließe sich der von Platon gefürchtete Mißbrauch (537 e–539 d) vermeiden. Eine schriftliche Fassung, noch dazu eine frei zirkulierende, würde solchem Mißbrauch Vorschub leisten (Phdr. 275 e, Epist. 7, 344 d). Die Vorsicht (eulabeia: 539 b1, d3) der Herrschenden, die ‚der Erziehung Unwürdigen‘ (anaxioi paideuseôs: 496 a5), die mit der Sache der Dialektik ‚nichts zu tun‘ haben (vgl. ho ... ouden prosêkôn: 539 d6, ähnlich Phdr. 275 e2), nicht zuzulassen, ist doppelt begründet. Neben der Würde der Philosophie (vgl. 539 d1) spricht dafür vor allem die politische Konstruktion des künftigen Staates: wenn die Herrschaftsbefugnis an das Wissen vom Guten geknüpft ist, so muß dafür gesorgt sein, daß nicht Unbefugte Anspruch auf die Herrschaft erheben. Wenn aber allein ein nichtpropositionales Gebrauchswissen den Anspruch begründete, so könnte jeder sich selbst für befugt erklären; wenn hingegen die entscheidende dialektische Theorie der Ideen und der Prinzipien beliebig zugänglich wäre, so könnten Ungeeignete, die ohne charakterliche und intellektuelle Schulung irgendwie eine (notwendig unzureichende) Kenntnis der Theorie erlangt hätten, einen scheinbar berechtigten Anspruch erheben. Der elaborierte Zeitplan des Bildungsganges schließt beide Möglichkeiten aus.

12. Die Pflicht zur Rückkehr in die Höhle: für wen ist der Staat da? Es könnte zunächst wie ein Unrecht erscheinen, daß die Philosophen zur Rückkehr in die Mühen der Politik gezwungen werden sollen. Doch das sei irrelevant, sagt Sokrates, weil es nicht auf das Glück einer bestimmten Schicht (genos) im Staat ankomme, sondern auf das Glück des Ganzen, das in der Einheit besteht (519 d4–520 a4). Das Recht des Individuums auf Glück scheint hier bestritten zu werden: wenn alle um des Nutzens willen, den sie der Gemeinschaft bringen kön-

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nen (520 a1), auf die persönliche Erfüllung verzichten, könnte sich der Zustand ergeben, daß niemand im Staat glücklich ist, damit das Ganze ‚glücklich‘ sei – was dann nur noch bedeutet: einheitlich und stabil. Kann das stabile Unglück aller Ziel des Staates sein? Doch die Frage geht an Platon vorbei. Seinem Entwurf liegt die Vorstellung zugrunde, daß das ‚Glück‘ des Staates die Voraussetzung und die Garantie des Glücks der Schichten wie der Individuen ist. Die Philosophen werden die meiste Zeit mit Philosophieren verbringen (540 b2), die kurze Zeit des mühevollen Regierens dient (neben anderem) der Absicherung dieses Glücks. Und wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden, die Bürger ethisch zu formen (540 a9–b1) als Hersteller (500 d6–8) und Wächter (506 a5) der ‚bürgerlichen‘ Tugend, so sorgen sie dafür, daß auch die Nichtphilosophen das ihnen erreichbare Maß an Glück nicht verfehlen, denn Gerechtigkeit (als Einheit der Person) ist die erste Voraussetzung des persönlichen Glücks. Gleichwohl entgeht der ideale Staat Platons nicht leicht dem Verdacht, in Wahrheit (wie andere Staaten auch) allein den Interessen der Herrschenden zu dienen. Die Sicherung ihrer Lebensweise der reinen Theorie ist zugleich oberstes Staatsziel. Ist nicht allein von den anderen beiden Schichten Triebverzicht verlangt im Interesse einer Ordnung, die sie nie ganz verstehen werden? Dem Vorwurf ideologischer Unredlichkeit entgeht der Idealstaat nur dann, wenn der Autor überzeugt war, daß alle Menschen im Grunde Philosophen sind, insofern ihre ‚wahre‘ und ‚ursprüngliche‘ Natur mit ihrer Denkseele identisch ist, die von sich aus zum Intelligiblen strebt. Der von Philosophen gelenkte Staat ist so angelegt, daß alle die Chance bekommen, auf dem vorgezeichneten Weg nach ‚oben‘ zurück zu ihrer ‚alten Natur‘ möglichst weit zu gelangen.

13. Ist der ‚beste Staat‘ eine bloße Wunschvorstellung? Weil der Aufstieg zur Sonne möglich ist, darf Sokrates auch die Möglichkeit des besten Staates zuversichtlich behaupten (521 a1, 540 d2–3). Seine Verwirklichung darf sich nicht der Gewalt bedienen, sondern muß auf eine ‚göttliche Fügung‘ (theia tychê: 592 a8–9, vgl. 499 b5, c1) vertrauen. ‚Göttliches‘ Eingreifen in die Geschichte, d. h. eine vom Menschen nicht kalkulierbare Wendung zum Besseren, liegt gewiß nicht außerhalb des Gedankenkreises platonischer Geschichtsphilosophie und Religiosität. Doch ist nicht der Vorschlag zur praktischen Durchführung, zunächst alle über zehn Jahre Alten aus der Stadt zu relegieren, um die Jüngeren ungestört

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27. Das Höhlengleichnis (Buch VII, 514 a–521 b und 539 d–541 b)

charakterlich formen zu können (540 e5–541 a2), gänzlich wirklichkeitsfremd und überdies ohne Gewalt gar nicht durchführbar? Müssen wir nicht Hans-Georg Gadamer zustimmen, daß Platons „Denken in Utopien“ „nicht Utopisches als Wirkliches oder zu Verwirklichendes bieten (will)“?42 Erstens kennt Platon den Gedanken der Annäherung ans strenge Ideal (473 ab). In diesem Sinne könnte die Relegation sich auf diejenigen beschränken, die sich mit dem Vorhaben auf keine Weise anfreunden könnten, und sie könnte bei entsprechender gesetzlicher Regelung und Kompensation auch gewaltlos erfolgen. Und was den Verzicht auf „alle“ Erwachsenen betrifft, so sind damit zweifellos nur alle freien Bürger gemeint: auf die Hilfe von weisungsgebundenen paidagôgoi (die auch in Athen immer Unfreie waren) müßten die Gründer des Staates nicht verzichten. Nur wenn man neuzeitliche Verhältnisse und Rechtsbegriffe voraussetzt, ist die Annahme zwingend, der Schluß des VII. Buches meine nicht das, was er sagt. Der Staat der Philosophen war für Platon – der ja, anders als wir, noch auf keinerlei historische Erfahrung mit der Umsetzung utopischer Entwürfe zurückblicken konnte – keine bloße euchê (540 d2), modern gesprochen: keine „bloße Utopie“.

42 Hans-Georg Gadamer: Platos Denken in Utopien (1983). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7. Tübingen 1991, 270–289, hier: 283.

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28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia (2002)

1. Sokrates’ Theorie des Prinzips Der Sokrates der Politeia – eine literarische Figur, die wir nicht unmittelbar mit ihrem Autor gleichsetzen werden – macht in den mittleren Büchern u. a. folgende Aussagen über den ‚höchsten Punkt der Erkenntnis‘: (1) Es gibt für den Menschen einen höchsten Gegenstand des Lehrens und Lernens, ein μεγίστον μάθημα (504 d2–3, e4–5). (2) Dieses μεγίστον μάθημα ist nach Sokrates’ Ansicht die Idee des Guten (505 a2). Diese Idee gibt den anderen werthaften Ideen erst ihren Wert und Nutzen (505 a6–7, e3–4), macht sie erst ‚hinreichend‘ (ἱκανῶς) erkennbar (506 a6–7). Ihre Erkenntnis ist daher erforderlich für die politische Führung eines wahrhaft gerechten Staates (505 e4– 506 a6). (3) Im Bereich unserer Erfahrungswelt gibt es etwas, das der Idee des Guten „sehr ähnlich“ (506 e3) ist und eine (genaue) „Entsprechung“ (508 b13 ἀνάλογον) zu ihr darstellt: die Sonne. (4) Dieses Analogon ihrer selbst hat die Idee des Guten hervorgebracht oder ‚gezeugt‘ (ἐγέννησεν 508 b13, τεκοῦσα 517 c3), so daß Sokrates das Gute metaphorisch den ‚Vater‘ der Sonne, diese den ‚Sprößling‘ oder ‚Abkömmling‘ des Guten nennt (πατήρ/ἔκγονος 506 e6/e3). (5) „Jedwede Seele“ tut, was sie tut, um des Guten willen: die Idee des Guten ist letzte Zweckursache (505 d11–e1). (6) Die Idee des Guten ist zugleich Ursache der Erkennbarkeit und ‚Wahrheit‘ der Dinge, die (vollständig) erkannt werden, d. h. der Ideen, sowie der Erkenntnisfähigkeit des erkennenden Seelenteils (508 e1–4, mit 508 a9–b7; 509 b6). (7) Die Idee des Guten ist ferner Ursache des Seins der Ideen, sie gibt ihnen τὸ εἶναί τε καὶ τήν οὐσίαν (509 b7–8). (8) Selbst ist die Idee des Guten jedoch nicht οὐσία, „sondern ragt noch jenseits von οὐσία an Rang und Macht hinaus“ (ἀλλ’ ἔτι ἐπέκεινα τής οὐσίας πρεσβείᾳ καί δυνάμει ὑπερέχοντος (sc. τοῦ ἀγαθοῦ), 509 b9–10). (9) Die Idee des Guten scheint aber auch in die von ihr ‚überragte‘ Ideenwelt hineinzuwirken, weswegen Sokrates von ihr sagt, sie herrsche nach Art eines Königs in ihr, in Analogie zur königlichen Herrschaft und umfassenden Lenkungsfunktion (πάντα ἐπιτροπεύων, 516 b10)

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28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia

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der Sonne in der Sinnenwelt (καὶ βασιλεύειν τὸ μὲν νοητοῦ γένους τε καὶ τὸπου, τό δ’ αὖ ὁρατοῦ, 509 d2–3). Da die Idee des Guten die Sonne hervorgebracht hat (s. o. (4)), diese aber ‚in gewissem Sinne‘ die Ursache aller sichtbaren Dinge ist (ἐκείνων ὧν σφεῖς ἑώρων τρόπον τινὰ πάντων αἴτιος, 516 c1–2), ist auch die Idee des Guten ‚in gewissem Sinne‘ Ursache aller Dinge, der sichtbaren wie der denkbaren. Die umfassende Ursächlichkeit betrifft die Erkennbarkeit und das Erkennen: da das Gute auch das Licht in der Sinnenwelt geschaffen hat (517 c3), das Licht aber erst die Aktualisierung der Sichtbarkeit des Objektes und des Sehvorgangs im Auge ermöglicht (507 c10–e3, 508 c4–d10), ist alles Erkennen, das sinnliche wie das noetische, vom Guten verursacht. Im Zusammenhang der Erklärung des noetischen Erkennens nennt Sokrates die Idee des Guten τὴν τοῦ παντὸς ἀρχήν (511 b7). Doch hat sie diese Funktion nicht nur in gnoseologischer Hinsicht, sondern ebenso als letzte Finalursache, als ‚Erzeugerin‘ (τεκοῦσα) der Sonne und Ursprung des Seins der Ideen und indirekt des Werdens des Sichtbaren. Insonderheit ist sie ‚für alle Dinge Ursache alles Richtigen und Schönen‘, sowohl in der sichtbaren wie in der denkbaren Welt (πᾶσι πάντων αὕτη ὀρθῶν τε καὶ καλῶν αἰτία, 517 c2). Die erkennbaren Dinge – und daher indirekt wohl auch die wahrnehmbaren, s. o. (4) und (10) – hängen in einer nicht näher bestimmten Weise mit der ἀρχή zusammen: der Erkennende gelangt zu den nachgeordneten Ideen im Ausgang von der ἀρχή, ‚indem er sich an das hält, was an sie anschließt‘ (ἐχόμενος τῶν ἐκείνμς ἐχομένων), und war auch über diesen Zusammenhang der Dinge – der gleichermaßen ein gnoseologischer wie ein ontologischer sein muß – zur ἀρχή gelangt (511 b5–c2). Die Idee des Guten ist erkennbar (508 e4, 517 b8–c1 mit 516 b4–7, 518 c9–10, 532 a5–b2), ihr Wesen ist angebbar (534 b3–d1). Die Existenz von Philosophen, die sie zu erkennen vermögen, setzt Sokrates überall voraus (z. B. 519 d1–2, 520 a8–b4), ohne sich selbst dazu zu rechnen. Es gibt nur einen Weg zur Erkenntnis der ἀρχή: die Dialektik (533 a8–9, c7–d4). Sie ist durch eine doppelte Denkbewegung gekennzeichnet: den ‚stufenweisen‘ (vgl. οἷον ἐπιβάσεις τε καὶ ὁρμάς, 511 b6) Aufstieg zum voraussetzungsfreien Anfang und das geordnete (ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων, s. o. zu (11)) ‚Absteigen‘ (vgl. καταβαίνῃ 511 b7) vom höchsten Punkt zum untersten. Die dialektische Erkenntnis des Guten bedeutet für den Menschen Eudaimonie (498 c3, 532 e2–3, 540 b6–c2, vgl. 519 c5).

28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia

Diese Sätze bilden zusammengenommen so etwas wie eine ‚Theorie des Prinzips (sing.)‘. Daß sie zusammengenommen werden müssen und ein Ganzes bilden, ergibt sich aus dem Umstand, daß sie mit zur Antwort des Sokrates auf die Frage gehören, worin denn das μεγίστον μάθημα bestehe (504 e4–6), sowie auf die Frage, auf Grund welcher μάθηματα die den Bestand des Staates sichernden Philosophenherrscher ihre Qualifikation erwerben sollen (502 c9–d2). Drei Gründe könnten angeführt werden, diesen Sätzen die Einschätzung als eine ‚Theorie des Prinzips‘ abzusprechen: (a) Sie sind lediglich als Meinung der Dialogfigur Sokrates vorgetragen, und zwar mit schwachem Wahrheitsanspruch. (b) Sie werden nicht begründet; insbesondere ist die zentrale Aussage, die Sonne sei ein Analogon und ein ‚Sproß‘ des Guten, so daß wir durch Beschreibung der Sonne Merkmale ihres ‚Vaters‘ gewinnen können, eine bloße Setzung des Sokrates. (c) Sie geben die Meinung des Sokrates bei weitem nicht vollständig wieder (506 e1–3, 509 c5–10, 533 a1–4). Doch was eine Theorie zu einer Theorie macht, ist nicht dies, daß der Autor sich mit ihr offen identifiziert, noch dies, daß die Figur, der sie in den Mund gelegt ist, in hohen Tönen von ihrer Richtigkeit spricht, noch daß alle Begründungen gleich mitgeliefert werden, noch überhaupt die Vollständigkeit in der Aufzählung ihrer Bestandteile, sondern einzig dies, ob ihre Sätze einen inneren Zusammenhang aufweisen durch Beziehung auf denselben Gegenstand, und ob sie in der Absicht gesprochen sind, diesen Gegenstand in einer oder in mehreren Hinsichten zu erklären. Beides liegt hier zweifellos vor. Man mag also, um ja keine qualifizierende Bestimmung auszulassen, die vorliegende Theorie als ‚die ohne starken Wahrheitsanspruch unvollständig vorgetragene Theorie des Prinzips der literarischen Figur ‚Sokrates‘ ‘ bezeichnen. Das kann aber nichts daran ändern, daß wir es in den mittleren Büchern der Politeia mit einer Theorie des Prinzips (sing.) zu tun haben.

2. Die platonische Theorie der Prinzipien in der indirekten Überlieferung In den doxographischen Angaben bei Aristoteles, Theophrastos und anderen Autoren, die Konrad Gaiser als Testimonia Platonica (=TP) zusammen-

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28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia

gestellt hat,1 findet sich eine Theorie der Prinzipien (plur.), deren Hauptzüge etwa folgende sind.2 (1) Es gibt zwei letzte Prinzipien, aus denen die gesamte Wirklichkeit zu erklären ist: das Eine und die Unbestimmte Zweiheit (TP 22 A, 22 B (=Arist., Met. A 6; Alexander, In Arist. Met. 55, 20–56.35 H.)). (2) Das Zusammenwirken dieser Prinzipien, das als ein Begrenzen und Bestimmen des Unbegrenzten und Unbestimmten durch das Eine (bzw. seine Derivate) verstanden wird, ist ein ‚Erzeugen‘, γεννᾶν, der Wirklichkeit (TP 22 A et al.; γεννᾶσθαι Arist. Met. 987 b34). (3) Das erste Produkt der intelligiblen ‚Zeugung‘ sind die Ideenzahlen (TP 22 B et al.). (4) Die Ideen insgesamt verdanken ihr Was-Sein (τί ἐστιν) dem Einen, so wie die Sinnendinge ihr Was-Sein den Ideen verdanken (TP 22 A = Met. A 6, 988 a10–11). Dies scheint zu implizieren, daß das Eine als Prinzip ähnlich ‚über‘ der Idee steht wie die Idee ‚über‘ dem Einzelding. (Das Wort ‚jenseits‘, ἐπέκεινα, wird nicht benützt). (5) Das positive Prinzip heißt auch das Gute. Sein Wesen (τί ἐστιν) läßt sich bestimmen: es ist das Eine (TP 28 b = Arist. Met. N 4, 1091 b13– 15). – Das andere Prinzip ist die Ursache des Schlechten in der Welt (TP 22 A (=Arist. Met. 988 a14–15) et al.). (6) Das Eine oder Gute ist universale Finalursache. Selbst die Zahlen ‚streben‘ oder ‚verlangen‘ nach dem Guten (Arist., EE I 8, 1218 a24– 31 = Testimonium Nr. 79 bei Richard (nicht bei Gaiser)). (7) Die platonische Prinzipientheorie versucht den umfassenden Seinszusammenhang vom Prinzip bis zu den Erscheinungen zu erklären (TP 22 A (=Ar. Met. 987 b18–20), 22 B, 23 B, 26 B, 30 (=Theophrastos, Met. 6 a15–b17)).

1 Konrad Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], 441– 557: „Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons“. – Separate Ausgabe der Testimonien (mit Einleitung von G .Reale und italienischer Übersetzung der Anmerkungen Gaisers von V. Cicero): Konrad Gaiser: Testimonia Platonica. Le antiche testimonianze sulle dottrine non scritte di Platone. Milano 1998. – Eine um einige Texte erweiterte Sammlung mit französischer Übersetzung aller Testimonien findet sich bei Marie-Dominique Richard: L’enseignement orale de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme. Paris 1986 [édition revue et corrigée 2005], 243–381. 2 Die Belege sind im Folgenden äußerst sparsam und nur exempli gratia aufgeführt. Vollständige Nachweise finden sich bei Richard: L’enseignement orale de Platon, bes. 17 –242 („Le contenu de l’enseignement orale“).

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28. Die Idee des Guten als arche in Platons Politeia

(8) Dem Erkenntnisweg ‚zu den Prinzipien hin‘ entspricht ein umgekehrter Weg ‚von den Prinzipien her‘ (TP 10 (= Arist. EN I 4, 1095 a30–b3), 30 (= Theophrastos, s. o. zu (7) ), 32 (=S. E. Adv. math. 10.263ff., 276ff.)). Es ist klar, daß diese Theorie der Prinzipien nicht identisch ist mit Sokrates’ Theorie des Prinzips im Buch VI und VII der Politeia. Es dürfte aber ebenso klar sein, daß die beiden Entwürfe sehr nahe miteinander verwandt sind. Wenn die Vorstellungen, Denkformen und Begriffe der Testimonia Platonica nicht durch die gemeinsame Bezeugung für Platon zusammengehalten würden, sondern anonym, etwa als Gedankengut von Πυθαγορικῶν παῖδες überliefert wären (wie bei Sextus Empiricus, Adv. math. 10.270 (=TP 32)), so würden wir bei unvoreingenommener Betrachtung spontan sagen: diese ‚Nachfahren der Pythagoreer‘ waren nahe intellektuelle Verwandte des Sokrates der Politeia. Denn die Übereinstimmungen betreffen so wesentliche Dinge wie die Erklärung der gesamten Wirklichkeit von einem Prinzip bzw. einem Prinzipienpaar her, die ‚Zeugung‘ der nachgeordneten Bereiche der Wirklichkeit durch den Ursprungsbereich (einschließlich der Verwendung geschlechtlicher Metaphorik: ‚Vater‘ Politeia 506 e6, ‚männlich/weiblich‘ als μιμήματα τῶν ἀρχῶν Met. 988 a7), die Ursächlichkeit des ersten Prinzips als Ziel des Strebens sowie als Quelle des Was-Seins, die Bestimmbarkeit des τί ἐστιν des Prinzips, den durchgehenden Seinszusammenhang und den zweifachen Erkenntnisweg ‚hinauf‘ und ‚hinab‘. Deutlich sind aber auch die Unterschiede: Sokrates spricht nur von einer ἀρχή, die indirekte Überlieferung von zwei ἀρχαί. Sokrates sagt nichts über das τί ἐστιν des Guten, die Testimonien bestimmen es inhaltlich als das ἕν. Zweckursache ist das Gute nach den Berichten für alles, nach der Politeia, wie es scheint, nur für das menschliche Streben. Sokrates redet nicht von einer Begrenzung des Unbegrenzten durch das Eine, die indirekte Überlieferung hingegen kennt kein herausgehobenes Analogon des Guten im sichtbaren Bereich.

3. Wie verhalten sich die beiden Theorien zu einander? Verschiedene Möglichkeiten der Erklärung Wie lassen sich nun Übereinstimmung und Differenz der beiden Theorien verrechnen? Ist eine der beiden Theorien geeignet, die andere zu korrigieren? Muß eine von beiden als unplatonisch aufgegeben werden? Folgende Möglichkeiten zeichnen sich ab:

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(1) Sollte Sokrates’ Theorie des Prinzips (sing.) mit der Theorie der Prinzipien (plur.) in der indirekten Überlieferung gänzlich unvereinbar sein, so würde noch nicht folgen, daß wir eine der beiden Theorien verwerfen müssen. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung Platons ist gegenwärtig zwar nicht sehr beliebt, und in der Tat ist die Konstanz und Konsistenz der in den Dialogen vertretenen Ansichten eindrucksvoller als die (meist kleineren) Inkonsistenzen, die man durch ‚Entwicklung‘ wegerklären wollte. Andererseits: die Möglichkeit eines Wandels der platonischen Ansichten über die ἀρχή oder die ἀρχαί a priori bestreiten zu wollen, wäre bloßer Dogmatismus. Es bleiben mithin folgende Optionen: (1.a) Bei Annahme einer Entwicklung Platons wäre Sokrates’ ‚monistische‘ Theorie als die frühere, die dualistische der ἄγραφα δόγματα als die spätere anzusetzen. Da die Denkformen dieselben sind, wäre der Übergang von der einen zur anderen Version nichts Unerhörtes. Die Position der ἄγραφα δόγματα müßten wir als das reifere Ergebnis des platonischen Denkens akzeptieren. (1.b) Ohne Annahme einer Entwicklung müßten wir – bei grundsätzlicher Unvereinbarkeit – zwischen den beiden Theorien wählen: (1.b.1) Wer der These von Platons ‚Anonymität‘ anhängt – also der These, daß Platon in den Dialogen seine eigene Position nicht erkennen lassen wolle, weswegen keine Dialogfigur, auch nicht ‚Sokrates‘, als ‚Sprachrohr‘ (oder ‚mouthpiece‘) des Autors gelten könne –, der wird der Prinzipienlehre der indirekten Überlieferung den Vorzug geben müssen, da nur diese zum Bericht des Aristoxenos über die Vorlesung Über das Gute paßt, in der Platon im eigenen Namen sprach, während der ‚Sokrates‘ der Politeia eben nicht für seinen Urheber stehen könne. (1.b.2) Wer an die ‚Anonymität‘ Platons in seinen Dialogen nicht glaubt, wird der ‚monistischen‘ Theorie des ‚Sokrates‘ den Vorzug geben: für ihn steht dann ein ‚authentischer‘ Text Platons gegen einen (vermutlich) entstellten sekundären Bericht. Zwischen diesen drei Möglichkeiten (Entwicklung Platons (1.a) – größere Authentizität der ἄγραφα (1.b.1) – größere Authentizität der Politeia (1.b.2)), deren alle drei ihre Schwierigkeiten haben, brauchen wir nicht zu wählen, wenn sich folgende Möglichkeit bewahrheiten sollte:

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(2) Zwischen den beiden Theorien besteht, bei genauerer Beachtung der Intention der Textzeugen, kein wirklicher Gegensatz. Um in dieser Frage urteilen zu können, ist ein Blick auf den dialogischen Zusammenhang erforderlich, in dem Sokrates seine Auffassung vom Prinzip vorträgt.

4. Die literarische Form der Entfaltung von Sokrates’ Theorie des Prinzips Seit Friedrich Schleiermachers „Einleitung“ zu seiner Platon-Übersetzung von 1804 beteuert man immer wieder die Bedeutung der Form für die Aussage des platonischen Dialogs. Doch detaillierte Untersuchungen, die es wirklich verdienen, als literarische Analyse der dialogischen Form bezeichnet zu werden, sind selten und betreffen meist nur auffällige Einzelheiten, nicht das Ganze eines Dialogs oder gar das allen Dialogen Gemeinsame. Eine literarische Analyse muß von der Anerkennung der Dialoge als Dramen ausgehen. Die literarische Eigenart eines Dramas resultiert aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Elementen. Unter ihnen kommt der Figurenkonzeption und der Handlung des Dramas ohne Zweifel die größte Bedeutung zu. Die Konzeption der Figuren des Dramas Politeia sowie seine Handlung habe ich in anderem Zusammenhang analysiert.3 ‚Sokrates‘ ist gezeichnet als ein Mann von persönlicher Bescheidenheit und Urbanität, der aber gleichwohl nichts Geringeres darstellt als den überlegenen Dialektiker, der von der Höhe seiner Einsicht ‚herabgestiegen‘ ist – κατέβην ist das erste Wort seines Berichtes: 327 a1 – zu einem Gespräch mit freundlich gesinnten und philosophisch zwar interessierten, aber durchaus nicht sehr fortgeschrittenen Gesprächspartnern. Daß ‚Sokrates‘ als Bild des Dialektikers zu verstehen ist, wird mit letzter Klarheit verdeutlicht, wenn am Ende des Höhlengleichnisses dem von der Schau des Guten ‚Herabgestiegenen‘ (vgl. καταβάς 516 e4) just das Schicksal des gleichnamigen,4 399 v. Chr. ermordeten Denkers beigelegt wird (517 a4–6, vgl. d4–e3). Die Gesprächspartner

3 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 271–326 (= ders.: Platone e la scrittura della filosofia. Milano 31992, 354– 415). 4 ‚Gleichnamig‘ nenne ich den Sokrates des Dialogs mit dem historischen Denker, damit niemand auf den Gedanken kommt, ich sähe in ihm ein Porträt des letzteren. Der literarische Sokrates Platons ist allenfalls eine kühne Deutung des histori-

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sind sich des Gefälles zwischen ihnen selbst und dem Gesprächsführer sehr klar bewußt: Sokrates soll die Suche betreiben, ihm wollen sie die Initiative überlassen (427 d1–e5, 432 c1–6, 453 c7–9, 595 c7–596 a4), sie selbst wollen folgen und helfen, womit sie eben helfen können, nämlich durch Wohlwollen, Aufmunterung und passende Antworten (427 e4, 474 a6–b2) – Antworten wohlgemerkt auf Fragen, deren weitaus größter Teil schon durch ihre Form die richtige Antwort vorzeichnet.5 Wer in der Lage ist, auf die durch diese Figurenkonzeption geschaffene Gesprächsatmosphäre zu achten, wird die Vorstellung, es könne eine Situation geben, in der die Dialektikerfigur ‚Sokrates‘ dem aktuellen Stand des Gesprächs nicht weit voraus wäre, als unangemessen, weil textwidrig, zurückweisen. Klarer noch wird dieselbe Botschaft vermittelt durch die Handlung. Sie ist zu verstehen als eine ‚Kraftprobe‘, in der es darum geht, ob Sokrates sich von der größeren Gruppe um Polemarchos ‚zwingen‘ läßt, in das von ihr gewünschte Gespräch einzutreten und seine Ansichten mitzuteilen, oder ob es ihm gelingt, die anderen zu überreden, ihn ‚loszulassen‘ (327 c1–14). Es zeigt sich, daß das Motiv des ‚Nichtloslassens‘ und ‚Zwingens‘ des Philosophen die Handlung bis ins 7. Buch bestimmt. Insofern Sokrates anfangs nachgibt und sich auch im Verlauf des Gesprächs noch mehrfach zu weiteren Mitteilungen ‚zwingen‘ läßt, scheint er die ‚Kraftprobe‘6 zu verlieren. Doch in den philosophisch entscheidenden Fragen – der tieferen Fundierung der Seelenlehre, der Frage nach dem τί ἐστιν des Guten und nach den Arten und Wegen der Dialektik – gelingt es ihm, die Partner zu überreden, daß sie ihn ‚loslassen‘, d. h. daß sie seine klar ausgesprochene, bewußte Limitierung der philosophischen Mitteilung akzeptieren ohne weiteres Drängen. Der Sieger am Ende der ‚Kraftprobe‘ ist Sokrates.7 Daß er aber dem Gespräch von sich aus inhaltliche Einschränkungen auferlegt, macht er an den Aussparungsstellen deutlich, an die hier kurz erinnert sei.8

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schen, oder besser eine Deutung bestimmter Züge des historischen, unter Hinzufügung anderer Züge, die ihm abgingen. Näheres zur Figurenkonzeption der Politeia s. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 290, 297–303 (= ders.: Platone e la scrittura della filosofia, 375f., 383–390). Vgl. 327 c9: ῍Η τοίνυν τούτων, ἔφη, κρείττους γένεσθε ἢ μένετ᾽ αὐτοῦ. Vgl. PSP 271–277, 315–316, 325f. (=PSF 354–361, 403–404, 415). Ausführlich wurden diese Stellen interpretiert in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I,303–325 (= ders.: Platone e la scrittura della filosofia, 390–414).

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(1) Der ‚längere Weg‘ der Dialektik (μακροτέρα ὁδός 435 d3, μακροτέρα περίοδος 504 b2) wird hier im Dialog nicht begangen. Ausdrücklich verzichten die Gesprächspartner auf ihn sowohl im 4. als auch im 6. Buch (435 d6–7, 504 b5–8, 506 d3–6), obwohl kein Zweifel daran gelassen wird, daß allein der ‚längere Weg‘ zum Ziel der Erkenntnis des Guten führt (504 c9–d3, 533 a8–10, c7–d1). (2) Selbst Glaukons reduzierte Forderung, Sokrates solle so vom Guten handeln wie er von den Tugenden handelte (506 d3–5) – und das heißt: in der Weise einer bloßen Skizze (ὑπογραφή 504 d6), der die dialektische Genauigkeit abgeht, die aber doch bis zu einer Definition ihres Gegenstandes gelangt, so wie im 4. Buch die Tugenden definiert wurden – wird zurückgewiesen: die Mitteilung seiner ‚Ansicht‘ (τὸ δοκοῦν ἐμοί 506 e2) über das τί ἐστιν des Guten wäre nach Sokrates’ Meinung mehr als ‚jetzt‘ mit dem ‚gegenwärtigen Anlauf‘ zu erreichen wäre (506 e1–3); daher sein Entschluß: αὐτὸ μὲν τί ποτ’ ἐστὶ τἀγαθὸν ἐάσωμεν tὸ νῦν εἶναι (506 d8–e1). Soviel aber ist klar: Sokrates hat eine Ansicht vom Wesen des Guten. (3) Statt dieser seiner Ansicht bietet Sokrates die Analogie von Sonne und Idee des Guten, die Verdeutlichung der ontologischen und gnoseologischen Implikationen dieser Analogie durch ein Diagramm und schließlich eine Allegorie des Aufstiegs zur höchsten Erkenntnis. Er bietet dies nicht, weil dies die einzige Art wäre, in der man über das Gute reden könne, vielmehr macht Sokrates klar, daß sein Bild auflösbar, in begriffliche Sprache übersetzbar ist (533 a2–3). (4) Das ‚Bild‘ des Guten (εἰκών 509 a9, ὁμοιότης c6), das Sokrates eindeutig als Ersatz versteht, führt er unvollständig aus: συχνά γε ἀπολείπω, sagt er 509 c7 zu Glaukon, und verweist abermals darauf, daß die jetzige Unterhaltung nicht alles zu sagen erlaubt: nur ὅσα γ’ ἐν τῷ παρόντι δυνατόν, davon will er freiwillig nichts weglassen (509 c9–10). (5) Der längere Weg der Dialektik wird nicht nur nicht begangen (s. o. (1)); Sokrates weigert sich sogar, auch nur eine äußerliche Skizze der ‚Arten‘ und der ‚Wege‘ der Dialektik zu geben. Denn dergleichen verlangt Glaukon von ihm wiederum, wenn er sagt, Sokrates solle die ‚Weise‘ der Dialektik so besprechen wie er das ‚Vorspiel‘ der mathematischen Disziplinen besprach (ἐπ’ αὐτὸν δὴ τὸν νόμον ἴωμεν, καὶ διέλθωμεν οὕτως ὥσπερ τὸ προοίμιον διήλθομεν 532 d6–7). Sokrates’ Überblick über die propädeutischen mathematischen Studien war aber eine Skizze ‚von außen‘, durchaus kein Versuch, in die Mathematik selbst einzusteigen. Eine analoge Darstellung der Dialektik verweigert Sokrates, weil er weiß, daß Glaukon nicht mehr folgen könnte: Οὐκέτ’, ἦν δ’ ἐγώ, ὦ φίλε Γλαύκων, οἷός τ’ ἔσῃ ἀκολουθεῖν–ἐπεὶ τό γ’

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ἐμὸν οὐδὲν ἂν προθυμίας ἀπολίποι – (533 a1–2). Diese Antwort impliziert, daß Sokrates durchaus in der Lage wäre, die geforderte Skizze zu geben.9

5. Kein Widerspruch zwischen den beiden Theorien Wer bereit ist, diese deutlichen Einschränkungen der philosophischen Reichweite des ‚jetzt‘ geführten Gesprächs angemessen zu würdigen, muß zu dem Schluß kommen, daß ein Gegensatz zwischen Sokrates’ Theorie des Prinzips und der Prinzipientheorie der indirekten Überlieferung nicht besteht, und daß es wenig sinnvoll wäre, die aristotelischen und sonstigen Nachrichten über Platons Theorie der Prinzipien von der Politeia her ‘korrigieren’ zu wollen. Betrachten wir die auffälligsten Unterschiede: (1) Sokrates’ ἀρχή ist ‚das Gute‘, dessen τί ἐστιν offen bleibt; das positive Prinzip der indirekten Überlieferung ist ebenfalls ‚das Gute‘, als dessen τί ἐστιν wird aber ‚das Eine‘ genannt. Einen dogmatischen Unterschied wird darin nur der erkennen wollen, der einen Beweis zu haben glaubt, daß Sokrates’ bewußt nicht mitgeteilte ‚Ansicht‘ über das τί ἐστιν des Guten (506e) etwas anderes beinhaltete als die Gleichung Eines=Gutes. Wer hingegen mit Hans-Georg Gadamer10 der Ansicht ist, daß diese Gleichung auch hinter dem Text der Politeia steht, wird es vorziehen, zu sagen, daß ‚Sokrates‘ eine (absichtlich) verkürzte, die indirekte Überlieferung eine vollständigere Darstellung derselben Auffassung vom Guten bietet. (2) Sokrates redet nur vom Guten, die Testimonien vom Einen-Guten und von der Unbestimmten Zweiheit. Monismus gegen Dualismus? Schwerlich. Denn Sokrates’ Idee des Guten ist betont für alle Dinge die Ursache „von allem Richtigen und Schönen“ (πάντων ὀρθῶν τε καὶ καλῶν, 517 c2). Gibt es nach Ansicht des Sokrates nichts Schlechtes in der Welt? Noch im 2. Buch hatte derselbe Sokrates gesagt, das Gute sei nicht die Ursache aller Dinge (οὐκ ἄρα πάντων γε αἴτιον τὸ ἀγαθόν, 379 b15); für das Schlechte müsse man andere Ursachen su-

9 Zur Sprache des Sonnengleichnisses – gleichfalls ein unentbehrlicher Teil der literarischen Analyse – s. u. Abschnitt 6. 10 Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles. Heidelberg 1978 (SHAW, Bd. 3), 82: „Daß das Gute irgendwie das Eine ist, liegt jedenfalls auch implizit im Aufbau der Politeia.

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chen (τῶν δὲ κακῶν ἄλλ’ ἄττα δεῖ ζητεῖν τὰ αἴτια, c6–7). Dieses Suchen nach den Ursachen des Schlechten ist in der Politeia ganz einfach nicht durchgeführt. Wollen wir dogmatisch festsetzen, daß diese Suche Sokrates auf alles mögliche geführt hätte, nur ganz gewiß nicht auf das negative Prinzip der ἀόριστος δυάς? Nur wenn wir das beweisen könnten, könnten wir von zwei verschiedenen Theorien des Prinzips bzw. der Prinzipien sprechen. (3) Die indirekte Überlieferung spricht von (Ideen-) Zahlen als ersten Produkten der ontologischen ‚Zeugung‘, die Politeia sagt nichts davon. Doch was heißt es, daß der Erkennende beim Abstieg vom Prinzip ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων vorgehen wird (511 b8)? Nur wenn wir ausschließen können, daß in der allgemein gehaltenen Vorstellung τὰ ἐκείνης ἐχόμενα auch Ideenzahlen mitgemeint sind, sind wir berechtigt, von zwei inhaltlich verschiedenen Theorien zu reden. Kurz, wir dürfen nicht die Ziele und Vorgaben vergessen, die Sokrates sich in diesem Gespräch selbst gegeben hat. Einerseits will er verständlich machen, warum die philosophischen Herrscher das μεγίστον μάθημα unbedingt kennen müssen (504 c9–d3, 506 a1–3, 517 c4–5, 526 e4, 540 ab). Andererseits hat er entschieden, daß seine eigene Ansicht über das Wesen des Guten und über Aufbau und Methoden der Dialektik als den ‚gegenwärtigen Anlauf‘ übersteigend unerwähnt bleiben müssen (506 e1–3, 533 a1–2), und daß er selbst das, was er doch mitteilt, unvollständig mitteilt: συχνά γε ἀπολείπω (509 c7). Diese Erklärung ist ernst zu nehmen. Es ist nicht die Intention der Hauptfigur der Politeia, die eigenen Ansichten (τὰ ἀμοί δοκοῦντα, 509 c3) von den Prinzipien vollständig darzulegen. Kein Wunder, wenn wir aus der Sicht der ἄγραφα δόγματα manches vermissen: das negative Prinzip, die Wesensbestimmung des Guten, den Aufriß des gesamten Seinszusammenhangs, ja selbst die Wirkungsweise der Ursache von allem (nämlich daß das positive Prinzip durch Begrenzung des Unbegrenzten die Welt formt). All dies braucht Sokrates für sein Gespräch über den besten Staat nicht. Statt von zwei divergierenden Theorien zu sprechen, liegt es angesichts der expliziten Limitierung der Thematik des Gesprächs näher, Sokrates’ Theorie des Prinzips als verkürzte Fassung der mündlichen Prinzipienlehre zu betrachten. Der Grund der Verkürzung ist im Gespräch klar benannt: das Fehlende würde zum ‚längeren Weg‘ der Dialektik gehören, der indes für die Gesprächspartner zu anspruchsvoll wäre.

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6. In welcher Haltung spricht Sokrates? Was verrät uns die Sprache des Sonnengleichnisses? ‚Sokrates‘ kennt man als den Denker, der sich selbst kein Wissen zuschreibt. Man kennt ihn allerdings auch als Ironiker. Auch in unserem Text fragt er, als er wieder einmal ‚nicht losgelassen‘ wird (504 e4–6) und seine Meinung über das Wesen des Guten darlegen soll, ob es denn richtig sei, über etwas, wovon man kein Wissen habe zu reden, als habe man es (506 c2–5). Nachdem er dann zwar nicht seine Ansicht vom τί ἐστιν des Guten, aber doch vieles andere darüber vorgetragen hat, sagt er, nur Gott wisse, ob seine Auffassung wahr sei (517 b7). Und von seiner Darstellung der Dialektik, die er gar nicht erst vorträgt, versichert er, sie würde nicht mehr nur ein Bild sehen lassen, sondern αὐτὸ τὸ ἀληθές, so wie es ihm jedenfalls erscheine – ob zu recht oder nicht, wolle er nicht mit Festigkeit behaupten (533 a2–5). Sokrates rechnet also deutlich mit einer möglichen Differenz zwischen seiner Ansicht und der ‚Wahrheit selbst‘. Andererseits ist ihm die Differenz zwischen seiner Ansicht und dem, was er von ihr hier und jetzt mitteilt, nicht nur möglich, sondern absolut sicher. Die beiden Differenzen lassen sich etwa so darstellen: αὐτὸ τὸ ἀληθές

? =

τὰ ἐμοί δοκοῦντα ≠ ὅσα γ’ ἐν τῷ παρόντι δυνατόν.

Die Tatsache, daß Sokrates den Wahrheitsanspruch seiner ‚Ansicht‘ mit einem Fragezeichen versieht, wird oft so ausgelegt, als wolle er sinngemäß sagen: ‚meine δοκοῦντα können sich unmöglich mit ‚der Wahrheit selbst‘ (αὐτὸ τὸ ἀληθές) decken, denn letzte Erkenntnis ist dem Menschen sowieso nicht möglich‘. Doch zwischen der modernen Sicherheit hinsichtlich der Unmöglichkeit letztgültiger Erkenntnis und dem sokratischen Verzicht auf einen starken Wahrheitsanspruch ist ein riesiger Unterschied. Daß seine δοκοῦντα die Wahrheit treffen, ist für Sokrates eine reale Möglichkeit. Sie eher herunterzuspielen, entspricht attischer Urbanität.11 Ge-

11 Wie sähe es aus, wenn Sokrates seinen Wahrheitsanspruch nicht bewußt niedrig ansetzte? Dann könnten seine Freunde zu ihm sagen „᾽Ωγαθέ, μὴ μέγα λέγε“. Doch solche Worte sind bei Platon vielmehr dem stets bescheidenen Sokrates vorbehalten: er verwendet sie gegen Kebes, der die Erwartung hat, Sokrates werde auch sein Problem mühelos lösen (Phdn. 95 a7–b5). Die Warnung μὴ μέγα λέγε hindert Sokrates dann aber nicht, Kebes’ Erwartung voll und ganz zu erfüllen. Also nicht das Vertrauen in Sokrates’ überlegene Einsicht war überzogen, nur das μέγα λέγειν ist unerwünscht μή τις ἡμῖν βασκανία περιτρέψῃ τὸν λόγον τὸν

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ringschätzung der menschlichen Erkenntnisschwäche steckt nicht darin, denn das Gute ist für Sokrates, wie wir sahen (oben S. 572), in der Politeia erkennbar – und auch im Phaidon spricht nicht Sokrates τὴν ἀνθρωπίνην ἀσθένειαν ἀτιμάζων (107 b1), sondern Simmias. Sokrates hingegen verspricht zuversichtlich das Erreichen eines Punktes, über den hinaus man nichts mehr suchen wird (Phdn. 107 b9), vergleichbar dem ‚Ende der Reise‘ in der Politeia (523 e3). Aber wertet nicht Sokrates – so wird man einwenden – seine δόξαι radikal ab, noch bevor er beginnt, sie (partiell) vorzutragen? „Willst du also Häßliches sehen, Blindes und Krummes ...?“, so fragt er 506 c11. Hält Sokrates seine Ansichten wirklich für häßlich, blind und krumm? Klarheit bringt die Fortsetzung der Frage: „... obwohl du die Möglichkeit hast, von anderen Strahlendes und Schönes zu hören?“ (506 c11–d1). Was sind das für strahlend schöne Antworten der anderen, neben denen Sokrates’ Ansichten sich häßlich, blind, und krumm ausnehmen? Wir kennen sie bereits: es sind die Erklärungen des Guten als ‚Einsicht‘ und als ‚Lust‘, die Sokrates soeben mit leichter Hand vom Tisch gewischt hat (505 b5– c11). Die Beteuerung der „Häßlichkeit“ der eigenen Ansichten ist also in schärfste Ironie getaucht. Dies ist seine Art, auf den besonderen Rang des nun Folgenden hinzuweisen. In welcher Sprechhaltung trägt nun Sokrates seine bewußt unvollständig aufgezählten ‚Ansichten‘ über das μεγίστον μάθημα vor? Nähert er sich demütig einem Unsagbaren (ἄρρητον),12 tastet er sich ängstlich und unsicher suchend an etwas heran, von dem man grundsätzlich – so wird heute gerne behauptet – nur in Form von Gleichnissen reden kann? Von irgendeiner Zögerlichkeit des Sokrates ist im Text nichts zu spüren. Zwar warnt er, entsprechend seinem gering angesetzten Anspruch, die Partner noch einmal, seine ‚Rechnung des Zinses‘ könnte falsch sein (507 a4–5). Doch dann ruft er kurz die „schon oft“ (507 a8) dargelegte Ideentheorie in Erinnerung (507 a6–b11), erklärt Glaukon, der zunächst nicht

μέλλοντα ἔσεσθαι (Phdn. 95 b5–6). Genügt das nicht, um Sokrates’ Verzicht auf jewedes μέγα λέγειν auch in der Politeia zu erklären? Wie der Phaidon zeigt, lassen solche Äußerungen der Bescheidenheit keinen Schluß zu auf seine Unfähigkeit, eine überzeugende Antwort auf die betreffende Frage zu finden. 12 Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, 21: „Das Gute selbst unmittelbar erfassen und wie ein μάθημα erkennen zu wollen, scheint durch seine eigene Natur unmöglich. Diese Unsagbarkeit, dies ἄρρητον sollte man zunächst so nüchtern wie möglich nehmen.“ – Im Text der Politeia ist von einem ἄρρητον nicht die Rede. Gadamer hatte vielleicht Epist. 7, 341 c ῥητὸν γὰρ οὐδαμῶς ἐστιν ὡς ἄλλα μαθήματα im Sinn.

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versteht, inwiefern für das Sehen ein ‚Drittes‘ zwischen dem Sichtbaren und dem Auge erforderlich ist (507 c1–508 a3) erläutert die Sonnenhaftigkeit des Auges und die Herkunft des Gesichtssinnes von der Sonne (508 a4–b11), um dann seine Ansicht von der Analogie zwischen Sonne und Idee des Guten sehr selbstbewußt in einer Reihe von Imperativen darzulegen: φάναι με λέγειν, ὧδε νόει, φάθι εἶναι, διανοοῦ, εὐφήμει ... ἀλλ’ ὧδε ἐπισκόπει, φάναι (508 b12, d4, e3, 509 a9–10, b7). Zwischen diesen Aufforderungen an den Partner, sich die Sache so und so zu denken, steht die klare Aussage, welche Ansicht über das Verhältnis von Wissen, Wahrheit und Idee des Guten ‚richtig‘ ist und welche falsch (ὀρθόν, ὀρθῶς 5 mal in 508 e6–509 a4), sowie die Versicherung, daß man das Gute ‚noch höher ehren‘ müsse (ἔτι μειζόνως τιμητέον, 509 a4–5). Die Imperative des Sonnengleichnisses setzen sich im Linien- und im Höhlengleichnis fort: νόησον, τέμνε, τίθει, σκόπει, μάνθανε, λαβέ, τάξον, εἴκασον, σκόπει, ἐννόησον (509 d1, d7, 510 a5, b2, 511 b3, d8, e2, 514 a1, 515 c4, 516 e3, vgl. προσαπτέον 517 b1). Was Sokrates also von seinen δοκοῦντα über das Gute mitteilt, teilt er in Form von Anweisungen mit: Glaukon soll diese und diese Vorstellungen nachvollziehen, wenn er denn Sokrates’ Meinung kennen lernen will. Auch wenn Glaukon immer wieder bekunden darf und soll, ob er gefolgt ist, muß man doch die Folge der drei ‚Gleichnisse‘ als eine der am wenigsten dialogischen Partien des platonischen Œuvres bezeichnen: es geht Sokrates weder um die Zustimmung des Glaukon noch darum, seine Wertung zu erfahren, er will nur wissen, ob Glaukon die Vorstellungen auch so nachvollzieht, wie er sie ihm vorzeichnet (Beispiel: ‚... εἰ κατανοεῖς.‘ – ‚´᾽Αλλὰ κατανοῶ‘, 510 a3–4). Dem außergewöhnlich sicheren und selbstbewußten Ton des Sokrates in den Gleichnissen entspricht auch ihre Botschaft, die nach der Vorbereitung im Sonnen- und Liniengleichnis dann im Höhlengleichnis zum Ausdruck kommt. Hegel war einer der wenigen, die das sahen. Im Höhlengleichnis, so sagt er in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie,13 spricht Platon „mit allem Stolze der Wissenschaft – von der sogenannten Bescheidenheit der Wissenschaft gegen andere Wissenschaften ist nichts zu finden, noch des Menschen gegen Gott.“ Diese selbstbewußte, nach Hegel sogar „stolze“ Darlegung der sokratischen δοκοῦντα erreicht einen ersten Gipfel im Schlußsatz des Sonnengleichnisses, wo wir erfahren, daß die Idee des Guten „noch jenseits von οὐσία an Würde und Kraft hinausragt“ (509 b9–10).

13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1971 (Theorie-Werkausgabe, Bd. 19), 37.

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Es ist sinnlos, die philosophische Bedeutung dieses Satzes herunterspielen zu wollen: die sorgfältige literarische Gestaltung, die ihn als provokative Klimax der Gedankenbewegung ausweist, läßt das nicht zu. Zur literarischen Präsentation der ἐπέκεινα-Aussage ist selbstverständlich schon das lang ausgezogene (504 e4–507 a6) Spiel um die vermeintliche Wertlosigkeit und mögliche Falschheit der sokratischen δόξαι über das Gute zu rechnen. Denn die ἐπέκεινα-Aussage ist zwar nicht die Angabe des Wesens (τί ἐστιν) des Guten, kommt aber seiner Erfassung doch relativ am nächsten mittels der räumlichen Metapher ‚jenseits‘. Wir müssen also die sokratische Abwertung seiner eigenen ‚Meinung‘ mit der auffälligen sprachlichen Überhöhung seiner Ausdrucksweise zusammenbringen. Wer die Ironie in βούλει οὖν αἰσχρὰ θεάσασθαι, τυφλά τε καὶ σκολιά (506 c11) nicht sieht, mag die Aussage über das Überragen des Guten als „häßlich, blind und krumm“ einschätzen. Wer hingegen Gespür hat für die Besonderheit sokratischer Redeweise, wird zugeben: gerade die ἐπέκεινα-Aussage sollen wir – nach dem Willen des Autors – als „schön, klarsichtig und richtig“ erkennen. Wir dürfen also „ἐπέκεινα τῆς οὐσίας“ nicht isoliert betrachten,14 sondern erstens als Antwort auf die typische ‚Selbstverkleinerung‘ (griech. εἰρωνεία) des Sokrates in 506 c11, und zweitens als klar erkennbare Klimax der Analogie. Hierzu ganz kurz Folgendes: Nach der grundlegenden Feststellung, daß die Idee des Guten die Sonne als ihr Analogon ‚gezeugt‘ hat (508 b12–13) und nach der Erläuterung der Funktion des Lichtes und der Wahrheit für das Sehen und das Erkennen (508 c4–d10) geht Sokrates daran, die Bedeutung der Idee des Guten zu explizieren. Er spart nicht mit gewichtigen Aussagen über den ontologischen Rang des Guten: Erkenntnis und Wahrheit sind zwar überaus ‚schön‘ (καλά), das Gute aber ist, als ihre Ursache, κάλλιον ἔτι τούτων (508 e6). Es ist richtig, Erkenntnis und Wahrheit als ‚guthaft‘ zu bezeichnen, aber nicht als das Gute, denn diesem muß man einen ‚noch höheren Rang‘ zuerkennen, ἔτι μειζόνως τιμητέον τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἕξιν (509 a4–5). Der zweimalige Gebrauch von ἔτι mit einem Komparativ genügt noch nicht: das Gute ist ὑπὲρ ταῦτα κάλλει, was Glaukon mit Recht als ein ἀμήχανον κάλλος ein-

14 Die isolierende Betrachtung von 509 b9 bei Luc Brisson: Présupposés et conséquences d’une interprétation ésotériste de Platon. In: Méthexis 6 (1993), 11–35, bes. 23; ders.: „Republic VI 509 a9–c10. Harold Cherniss’ Traditional Approach to Plato”, Manuskript für die Tagung der IAP, Sept. 2000) beansprucht, eine ‚literarische Analyse‘ zu sein. Zu einer literarischen Analyse gehört aber m. E. etwas mehr als die Erklärung von ὑπερβολή 509 c2 im Sinne einer rhetorischen ‚Übertreibung‘ (Brisson: Republic VI 509 a9–c10, bes. 4); s. unten S. 586.

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stuft (509 a7/6). Wer bis hierher gefolgt ist, muß bereits tief durchdrungen sein von der überragenden ‚Schönheit‘ und ‚Würde‘ (τιμή, Rang) des Guten. Es kommt aber noch stärker: das Gute gibt den Ideen nicht nur ihre Erkennbarkeit, sondern auch τὸ εἶναι τε καὶ τὴν οὐσίαν, wobei es aber selbst nicht οὐσία ist, sondern „noch jenseits von οὐσία an Würde und Macht hinausragt“ (509 b9). Es ist dies die fünfte Verbalisierung der herausgehobenen Stellung des Guten in einem kurzen Abschnitt von wenig mehr als 20 Zeilen, wobei das steigernde ἔτι bereits zum dritten Mal begegnet. Glaukon hat das Gewicht dieser Steigerung verstanden: er sieht darin eine δαιμονία ὑπερβολή (509 c1–2), ein ‚göttliches Überragen‘. Nicht überzeugend ist die Auffassung, ὑπερβολή meine hier nur die sprachliche Übertreibung, womit der Satz über das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας kritisiert werde, welche Kritik Sokrates akzeptiere, womit dann also die Reaktion des Glaukon und Sokrates’ Reaktion auf die Reaktion der ontologischen Aussage von 509 b9 die philosophische Relevanz nehme.15 Denn ὑπερβολή im Sinne des rhetorischen terminus technicus für Übertreibung ist bei Platon sonst nicht belegt. Und selbst wenn Platon den rhetorischen Terminus kannte: ist es glaubhaft, daß er die bloß sprachliche Übertreibung – noch dazu wenn er sie tadeln wollte – als δαιμονία ὑπερβολή bezeichnet hätte? Ein wahrlich ‚göttliches‘ Übertreffen liegt hier vor: die Idee des Guten steht in Analogie zur Sonne, und diese war von Anfang an als Gott (θεός, 508 a4) eingeführt worden. Das Gute aber steht noch (ἔτι, 3mal) weit höher an Rang und Macht, ist es doch die letzte Ursache von allem Wert, allem Erkennen und allem Sein – auch des Seins der Sonne: δαιμονία ὑπερβολή. Aber nehmen wir einmal an, ὑπερβολή meine wirklich nur das Sprachliche an Sokrates’ Äußerung, und nicht das so zum Ausdruck gebrachte ontologische Verhältnis. Genügt es dann zu sagen, in 509 c1–4 werde die Relevanz der ἔτι ἐπέκεινα-Aussage destruiert oder wenigstens eingeschränkt? Eine literarische Analyse, die diesen Namen verdient, müßte hier erst beginnen. Die entscheidende Frage muß doch lauten: was ist der Sinn einer sprachlichen Gestaltung, die den Ironiker Sokrates – der stets zur untertreibenden, nie zur übertreibenden Formulierung und Wertung neigt –, hier nun zu einer ‚daimonischen‘ Hyperbole greifen läßt? Und was haben wir davon, wenn wir die ἐπέκεινα-Aussage mit der Rhetorisierung der ὑπερβολή aushebeln, wenn doch vier weitere Hyperbolai, die ganz gewiß nicht nur ‚rhetorisch‘ gemeint sind, im Text bleiben: ἔτι κάλλιον, ἔτι μειζόνως τιμητέον, ὑπὲρ ταῦτα κάλλει und ἀμήχανον κάλλος?

15 Vgl. Brisson: Republic VI 509 a9–c10.

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Selbst bei Annahme der (abwegigen) rhetorischen Deutung von ὑπερβολή müßte man darauf bestehen, daß es etwas zu bedeuten hat, wenn der stets nüchtern-kritische Sokrates eine solche sprachliche Klimax zelebriert – denn ein verbales Zelebrieren einer verblüffenden Einsicht, deren unvergleichliches Gewicht spürbar gemacht werden soll, liegt in 508 e1– 509 c2 zweifellos vor: das quasi-religiöse εὐφήμει („lästere nicht“, 509 a9) und die Anrufung des Lichtgottes Apollon (509 c1) unterstreichen das noch. Der Grund für solch unsokratisches sprachliches Verhalten kann nur darin liegen, daß eine hyperbolische Sache durch hyperbolische Sprachmittel verdeutlicht werden muß. Angesichts des ‚Ranges‘ (τιμή [vgl. τιμητέον] = πρεσβεία) und der ‚Macht‘ (der ontologischen Zeugungskraft) des Guten wäre alles, was hinter einer „rhetorischen“ Hyperbole zurückbliebe, zu wenig.16

7. Sokrates’ Zurückhaltung und die philosophische Praxis im Idealstaat Warum teilt Sokrates seine δοκοῦντα nicht lückenlos mit? Der Grund wurde schon erwähnt: Glaukon könnte nicht folgen, es wäre zu viel, qualitativ und quantitativ, für den ‚gegenwärtigen Anlauf‘ (533a, 506e). Es sei noch kurz darauf hingewiesen, daß das Verhalten des Sokrates beim Gespräch im Haus des Polemarchos ganz der Art entspricht, in der im idealen Staat Philosophie zu treiben wäre. An etwa einem Dutzend von Stellen17 betont Sokrates, daß für das, was er gerne die ἀληθινὴ φιλοσοφία nennt,18 nur ganz wenige Menschen geeignet sein können. Nun ist es aber nicht so, daß die Vielen sich von dem, was ihnen grundsätzlich unzugänglich ist, aus freien Stücken fernhalten würden. Der gute Name der Philosophie (vgl. 495 d1) lockt viele Unwürdige an. Ihre Inkompetenz und ihr Gezänk ist verantwortlich für die Philosophiefeindlichkeit der Menge, die Sokrates – das ist überaus deutlich im Text – empfindlich stört (487 b–497a, vgl. 539 cd). Gegen die Tendenz der Öffentlichkeit, die Philosophen abzuwerten, läßt sich gegenwärtig nichts machen – die wenigen wahren Philosophen, die die Menge nicht als sol-

16 Zur Verdeutlichung: eine sprachliche ὑπερβολή liegt wohl vor, aber δαιμονίας ὑπερβολῆς meint nicht dies, sondern das in Frage stehende ontologische Verhältnis. 17 Vgl. 428 e5, 476 b11, 491 b, 494 a4, 495 b2, 496 a11, c5, 499 de, 503 b7, d11, 531 e2. 18 Vgl. 486 b3, 490 a3, 499 c1, 521 b2, c7–8, vgl. 548 b8–c1.

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che erkennt (488 a7–489 a2, Allegorie vom ‚Staatsschiff‘), leben daher in selbstgewählter Isolation am Rande der Gesellschaft (496 b–e). Anders wäre das im besten Staat: der müßte etwas gegen den Mißbrauch und die Rufschädigung durch die Unberufenen tun. Die Philosophenherrscher würden den jetzt üblichen Fehler im Umgang mit der Dialektik (oder ihrem Zerrbild, der Eristik) korrigieren: während sich heute ganz junge und unreife Menschen, und überhaupt jeder Beliebige, den die Sache der Philosophie nichts angeht, mit der Dialektik befassen, würde man im Idealstaat diese Gruppen davon ausschließen.19 Diese Vorsichtsmaßnahme (εὐλάβεια 539 b1, vgl. ἐπ᾽ εὐλαβείᾳ d3) wäre zum Nutzen des Rezipienten und würde zugleich das Ziel verfolgen, das gesellschaftliche Ansehen der Philosophie zu heben: καὶ αὐτός τε μετριώτερος ἔσται καὶ τὸ ἐπιτήδευμα (sc. τῆς φιλοσοφίας) τιμιώτερον ἀντὶ ἀτιμοτέρου ποιήσει (539 c8–d1). Damit sind zwei gewichtige Gründe für vorsichtige Zurückhaltung in der philosophischen Kommunikation genannt. Sokrates verhält sich schon hier im Gespräch mit Glaukon und Adeimantos konform mit dem, was er für die philosophische Praxis des künftigen besten Staates postuliert. Obwohl sein Partner Glaukon kein unreifer Jüngling ist, weigert er sich, ihm nähere Auskunft über das Unternehmen der Dialektik zu geben (532de–533a), und folgerichtig diskutiert er mit ihm auch das nicht, wohin der ‚längere Weg‘ der Dialektik führt, das Wesen der Idee des Guten: αὐτὸ μὲν τί ποτ᾽ ἐστὶ τἀγαθὸν ἐάσωμεν τὸ νῦν εἶναι (506 d8–e1).

8. Probleme, die Sokrates offen läßt Bisher war die Rede vom Vorliegen einer Theorie des Prinzips in den Äußerungen der Dialogfigur ‚Sokrates‘, der Vereinbarkeit dieser Theorie mit der Prinzipientheorie der ἄγραφα δόγματα, der Art ihrer literarischen Präsentation sowie von deren Übereinstimmung mit der antizipierten Praxis des Philosophierens im künftigen Idealstaat. Ein Blick auf die philosophischen Probleme von Sokrates’ unvollständig referierter Theorie mag den Abschluß bilden, der kurz ausfallen kann, da die relevanten Fragen teils

19 Vgl. 539 b1–d7, 503 d8–9 ... ἢ μήτε παιδείας τῆς ἀκριβεστάτης δεῖν αὐῷ μεταδιδόναι μήτε ἀρχῆς – die ‚genaueste Bildung‘ ist selbstverständlich die dialektische.

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von anderen,20 teils auch von mir21 an anderer Stelle bereits behandelt worden sind. Wenn Sokrates an Glaukon einen versierten Dialektiker als Partner hätte, so müßte er sich – neben manchen anderen Fragen – vor allem den folgenden stellen: (1) Wie muß die arche beschaffen sein, wenn sie die dreifache Funktion als Finalursache, Erkenntnis- und Seinsgrund soll erfüllen können? (2) Worin besteht die ‚Guthaftigkeit‘ (vgl. ἀγαθοειδῆ, 509 a3) von ‚Wahrheit‘ und Erkenntnis? (3) Wie verhält sich der diskursive Gang durch alle ἔλεγχοι (534 c1–3) zur ‚Schau‘ des Guten? (4) Was ist der präzise philosophische Sinn jenes γεννᾶν (508 b13), durch das das Gute zum ‚Vater‘ der Sonne und im gewissem Sinne Ursache aller Dinge wird? (1’) Daß es nicht gelungen ist, die Funktionen, die Sokrates in der Politeia der Idee des Guten zuweist, aus dem Text allein und unter Zugrundelegung einer in irgend einem Sinne ‚ethischen‘ Bedeutung von ‚gut‘ zu erklären und zu begründen, hat H. J. Krämer mehrfach nachgewiesen.22 Statt an einem modernen philosophischen Verständnis von ‚gut‘ müssen wir uns, wie Krämer seit seinen frühesten Arbeiten immer wieder betont hat, an die von Aristoteles genannte Gleichung ἕν

20 Vgl. Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959. Ders.: ᾽ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ. Zu Platon, Politeia 509 b. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 51 (1969), 1–30; ders.: Dialettica e definizione del Bene in Platone. Interpretazione e commentario storico-filosofico di „Repubblica“ VI, 534 b3–d2. Milano 1989. Konad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften. In: Antike und Abendland 32 (1986), 89–124; ders.: Platonische Dialektik – damals und heute. In: Gymnasium, Beiheft 9 (1987), 77–107. Giovanni Reale: Per una nuova interpretazione di Platone. Milano 201992 [1984] [dt. Paderborn (u. a.) 1993]. Sehr wertvoll zur Korrektur der Einseitigkeiten und Verkürzungen der angelsächsichen Platon-Literatur seit Alexander Stewart Ferguson: Plato's Simile of Light. In: The Classical Quarterly 15 (1921) und Richard Robinson: Plato's Earlier Dialectic. Oxford 1953 ist Ludwig C. H. Chen: Acquiring Knowledge of the Ideas. Stuttgart 1992. Unentbehrlich die fortlaufende Kommentierung und die Appendices in James Adam: The Republic of Plato. 2 vols. Cambridge 1902 (Reprint Cambridge 1963). 21 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Das Höhlengleichnis. in: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), 205–228. 22 Zuletzt in: Hans Joachim Krämer: Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis (Buch VI 504 a–511 e). In: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), 179–203.

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= ἀγαθόν halten. Als Ziel allen Strebens (505 d11–e2) verschafft das Gute dem Strebenden die Einheit der Person: nur das Leben gemäß den Tugenden verhilft dazu, die mit der Schlechtigkeit gegebene Vielfalt und innere Zerrissenheit zu überwinden; ‚gut‘ sein im ethischen Sinne heißt für Platon παντάπασιν ἕνα γενέσθαι ἐκ πολλῶ (vgl. 443 e1). Die Arete hat nur eine Form, offenbar weil ihr Wesen vom Guten her bestimmt ist, dieses aber wesensmäßig das Eine ist: daher ἓν μὲν εἶναι εἶδος τῆς ἀρετῆς, ἄπειρα δὲ τῆς κακίας (445 c5–6). Analog zur Individualethik ist die des Staates konzipiert: der ideale Staat wäre sittlich überlegen, weil seine Führer das eine Ziel kennen, das alles Handeln leiten muß (vgl. 519 c3–4). ‚Gut‘ ist für den Staat, was ihn zur Einheit macht (462 ab). – Das Eine als grundlegende Bedingung von Sein und Erkennen ist gleichfalls nicht strittig: was ist, ist zunächst und zuvörderst ein Seiendes, und nichts wird erkannt, sofern es nicht als ein Erkenntnisobjekt erfaßt werden kann. (2’) ἀλήθεια und ἐπιστήμη (oder γνῶσις: 508 e5–e6) kommen vom Guten her und sind von seiner Art, also ἀγαθοειδῆ (508 e6–509 a5). Den Einheitscharakter des Nus betont das Bild, das Platon für die Beschreibung seiner Bewegung aufbietet (Nomoi 898 a3–b3) ebenso wie die indirekte Überlieferung (Arist., De an. 404 b22 νοῦν μὲν τὸ ἕν). Das Denken gleicht sich seinem Gegenstand an, dieser ist aber für das noetische Denken die Idee, deren erstes ontologisches Merkmal es ist, eine zu sein (476 a5–6 αὐτὸ μὲν ἓν ἕκαστον εἶναι, 507 b6–7 κατ᾽ ἰδέαν μίαν ἑκάστου ὡς μιᾶς οὔσης, 596 a6 εἶδος ... ἓν ἕκαστον). ‚Guthaft‘ und daher erkennbar (‚wahr‘) sind die Gegenstände des reinen Denkens also insofern sie ‚einshaft‘ sind, und die ‚guthafte‘ ἐπιστήμη erfaßt sie kraft ihrer Fähigkeit zur Selbigkeit und Einheit. (3’) Der Durchgang durch alle dialektisch notwendigen Schritte wäre eine Aufgabe von gewaltigem Umfang (vgl. 534 a7–8). So wäre z. B. die von Platon geforderte philosophische Astronomie ein Vielfaches der jetzt geübten, und doch nur ein Teil des mathematischen ‚Vorspiels‘, das von der ‚Weise‘ (προοίμιον/νόμος 531 d7/8) auch quantitativ weit übertroffen wird. Und doch ist es ohne diesen ‚Durchgang durch alles’ nicht möglich, die Wahrheit zu finden und Einsicht zu gewinnen (Parm. 136 e1–3). Man versteht, inwiefern platonische Dialektik eine Sache des langen Zusammenlebens ist (7. Brief, 341 c6–7) und schon des Umfangs wegen – von anderen Gründen ganz abgesehen – nicht Gegenstand einer schriftlichen Fixierung werden kann. Immerhin lassen die Andeutungen Platons, wenn man sie in vorsichtiger Weise mit der indirekten Überlieferung verknüpft, soviel erkennen, daß der ‚Durchgang durch alle Elenchoi‘ in seiner entscheiden-

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den Phase die Abhebung des Guten von den obersten dialektischen Begriffen, den μέγιστα γένη, bringen würde und zu einer ‚Definition‘ des Guten oder Einen als genauestes Maß (ἀκριβέστατον μέτρον) führen müßte.23 Auch so bleibt freilich schwer zu entscheiden eine Frage von erheblichem philosophischem Gewicht, nämlich die, wie sich der zweifellos diskursive ‚Durchgang‘ (vgl. διεξιών 534 c2, διέξοδος Parm. 136 e2) zur angestrebten Schau des Guten verhält. Die Verwendung von Mysterienmetaphorik (521 c2–3, 533 d1–3, 534 c7–d1) und ‚erotischer‘ Sprache (485 b1, 490 b2, 499 c2) sowie die klare Entsprechung zwischen der Beschreibung des Strebens des ‚wahrhaft Lernbegierigen‘ (ὄντως φιλομαθής) in 490 a8–b7 und dem Höhepunkt der Diotima-Rede Symp. 212 a machen es sicher, daß die Zuwendung zur Idee in einer ‚Schau‘ gipfelt, die nicht mehr diskursiv sein kann. Dies gilt freilich für die Erkenntnis jeder Idee, sofern sie ihr Ziel erreicht.24 Die Erkenntnis der Idee des Guten ist aber immer wieder als eine eigene Stufe abgehoben von sonstiger Ideenerkenntnis, was ja nur konsequent ist, wenn die Ideen οὐσία sind und οὐσία das eigentlich Erkennbare ist, vom Guten aber gerade diese Bestimmung nicht mehr gilt (509 b8–9). Der diskursive ‚Durchgang‘ durch eine Vielzahl von begrifflichen Verhältnissen ist die Voraussetzung für die noetische ‚Berührung‘ (490 b3) oder ‚Schau‘ (passim) der Ideen – ein Vorgang, dessen adäquate gnoseologische Beschreibung notorisch schwierig ist.25 Die Schilderung des stufenweisen ‚Aufstiegs‘ scheint nun aber für die Erkenntnis der obersten ‚Idee‘, die anders als die anderen Ideen ‚jenseits von οὐσία‘ ist, eine eigene Erkenntnisstufe zu verlangen, die ähnlich über die noetische Ideenerkenntnis hinausragen müßte wie diese über die διάνοια. Ob ‚Sokrates‘ das so meinte, und wie diese Erkenntnisstufe gnoseologisch zu charakterisieren wäre, sagt der Text nicht. Wer uns nun versichern wollte: „da es nicht im Text steht, kann es auch im Denken des Urhebers nicht existiert haben“, den müßten wir an 509 c7 erinnern: συχνά γε ἀπολείπω. (4’) Das Gute ist ‚König‘ und ‚Vater‘, und ‚zeugt‘ die Sonne als seine sichtbare Entsprechung. Kann ein Vater ‚zeugen‘ ohne eine ‚Mutter‘? Aris-

23 Vgl. Krämer, Dialettica e definizione del Bene, bes. 41–46, 57–62. 24 Die Bedeutung der ‚Schau‘ der Idee in den mittleren Dialogen hat L. C. H. Chen (vgl. Acquiring Knowledge of the Ideas) mit vorbildlicher Exaktheit der Interpretation und unter klarer Absetzung gegen rationalistisch verkürzende Interpretationen herausgearbeitet (bes. Ch. XIV–XVII, pp. 127–178). 25 Klaus Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. München 1962 (Zetemata, Bd. 29).

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toteles bezeugt die Verwendung der geschlechtlichen Metaphern männlich/weiblich für die Prinzipien durch Platon (Metaph. 988 a5– 7). Doch damit ist hinsichtlich der ‚Zeugung‘ nur soviel gewonnen, daß wir wissen, daß es sich um das Zusammenwirken zweier Faktoren handeln muß – immerhin kein geringer Gewinn. ‚Sokrates‘, der nur den ‚Vater‘ erwähnt, kann konsequenterweise auch nicht vom ontologischen Sinn der in seinem Bild implizierten Zeugung reden. – Bei der akademischen Suche nach dem Grundlegenderen oder ‚Früheren‘ (πρότερον, πρῶτον) ging es um die Ermittlung von Begriffen, die von anderen Begriffen vorausgesetzt werden, ohne sie selbst vorauszusetzen (nach dem Prinzip des συναναιρεῖν καὶ μὴ συναναιρεῖσθαι). So läßt sich gut verstehen, daß der Begriff des Einen als der schlichtweg unentbehrliche für alles Vorstellen und Denken als die Grundlage von allem herauskam. Solche Denkweise unterliegt freilich der aristotelischen Kritik, daß das logisch Frühere nicht notwendig auch das ontologisch Frühere sein muß (Metaph. M 2, 1077 b1–2). Platon hätte darauf vermutlich mit seiner Version der parmenideischen Gleichung von Denken und Sein geantwortet. Die Begrenzung oder Bestimmung des Unbestimmten durch das Bestimmende und Begrenzende war für Platon gewiß ebenso sehr ein ontologisches wie ein logisches Prinzip (vgl. Phil. 16 cff). Timaios läßt in seinem großen Monolog nicht nur die Natur des Demiurgos offen (Tim. 28 c3–5) – und damit den präzisen ontologischen Sinn der Wirkung des Guten (vgl. Tim. 29 e1–3) auf die Sinnenwelt –, sondern auch Zahl und Wesen der letzten Prinzipien (48 c2–6, vgl. 53 d6–7): ein klares Indiz dafür, daß die Fragen, die uns am meisten interessieren, auch vom ‚Sokrates‘ der Politeia nicht zufällig übergangen wurden, sondern vom Autor selbst nicht für die Behandlung in veröffentlichten Schriften vorgesehen waren.

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1.

Der Timaios ist eine Darstellung der Konstruktion der Welt und des Menschen durch den Demiurgos. Eine Konstruktion kann man nicht hinreichend verständlich machen, ohne die Prinzipien zu erwähnen, die sie leiten. Daher sagt der Timaios wiederholt etwas über die ἀρχαί. Aber er ist keine Abhandlung Περὶ τῶν ἀρχῶν oder gar Περὶ τῶν πρώτων ἀρχών. Bevor man sich daran macht, die Prinzipienlehre dieses Werkes zu analysieren, sollte man sich daher fragen, in welcher Weise die ἀρχαί hier zur Darstellung kommen. Woraus sich sofort als nächste Frage ergibt, in welchem Umfang es geschieht. Denn die Auffassung, die platonischen Dialoge seien in der Absicht geschrieben, den philosophischen Entwicklungsstand des Autors zu einem bestimmten Zeitpunkt lückenlos zu dokumentieren, darf heute als obsolet gelten. Den Dialogen diese Funktion zuschreiben heißt sie hinsichtlich ihrer Intention den Abhandlungen anderer Autoren und Epochen gleichstellen. Seltsamerweise wurde diese Auffassung gerade dort vertreten, wo man am lautesten verkündete, die Dialoge seien keine Abhandlungen, was griechisch bedeute: sie seien keine συγγράμματα. Doch die communis opinio des 20. Jh.s muß sich hier in beiden Punkten korrigieren lassen: die Dialoge sind, nach griechischem Wortverständnis, zweifellos συγγράμματα; gleichwohl haben sie nicht die Absicht, alles, was der Autor zur gegebenen Zeit als relevant für das Thema betrachtete, vollständig auszubreiten.1 In dieser Hinsicht bildet der Timaios keine Ausnahme, wohl aber in einer anderen: er stellt ein Gespräch unter mehreren Philosophen gleichen Ranges dar, während alle übrigen Werke Platons Menschen sehr unterschiedlichen intellektuellen Niveaus zum Gespräch vereinen.2

1 Zur näheren Begründung vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985 (im Folgenden zitiert als PSP I); dort 376–385 zur Bedeutung von σύγγραμμα. 2 Zum Sinn dieser Ungleichheit vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Stuttgart 1993, 141ff.

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29. Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios

Geplant ist ein Zyklus von mehreren thematisch verknüpften Darstellungen. Allein dieser Plan schon verlangt annähernd gleichrangige Sprecher. Das gleiche impliziert die Metapher der ‚Bewirtung‘ und ‚Gegenbewirtung‘, mit der der Dialog beginnt (17 ab, vgl. 20 b, 27 b): für die reichhaltige Bewirtung am Tag vorher durch Sokrates’ Entwurf einer idealen Polis (rekapituliert 17 c–19 b) sollen jetzt Bewirtungen durch die anderen Teilnehmer geboten werden. Die Gleichwertigkeit dieser Leistungen wird – fast unnötigerweise – ausdrücklich thematisiert (17 b1–4, 20 b1–4, d1–3, 26 d5–27 a1, 27 b7–8). Durch die Anknüpfung an Sokrates’ Staatsentwurf ist das intellektuelle Niveau, das hier verlangt ist, klar genug bezeichnet. Daß nicht nur die ‚Bewirtungen‘ dem entsprechen werden, sondern auch deren Autoren nach Veranlagung, Ausbildung und erreichtem Wissensstand höchsten Ansprüchen genügen, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber gleichwohl auch expressis verbis ausgesprochen, für Kritias und Hermokrates mehr pauschal (20 a6–b1, 52 e1–2), für Timaios hingegen detailliert: er ist in der Astronomie bestens bewandert und hat sich das Wissen um die Natur des Alls am meisten angelegen sein lassen (27 a3–5), er hat in Lokroi, der Stadt mit der ‚vorzüglichen gesetzlichen Ordnung‘, die höchsten politischen Ämter bekleidet und ist überhaupt „an den höchsten Punkt der gesamten Philosophie gelangt“ (20 a1–5) – da dies aber als Meinung des Sokrates geboten wird, können wir nicht zweifeln, daß die Figur des Timaios als Vorwegnahme des dereinst im idealen Staat heranzubildenden Philosophenherrschers konzipiert ist. Wenn Männer dieses Ranges über die Dialektik und die letzten Prinzipien diskutieren würden, so müßten die Einschränkungen, die die vollgültige Darlegung der Struktur der Seele, des τί ἐστιν der Idee des Guten und der Teile und Wege der Dialektik in der Politeia verhinderten,3 wegfallen, und wir könnten auf Platons autoritative Darstellung der Dinge περὶ ὧν ἐγὼ σπουδάζω, d. h. der περὶ φύσεως ἄκρα καὶ πρώτα (vgl. Epist. 7, 341 c1, 344 d4–5) hoffen. Doch Platon läßt diese Männer nicht diskutieren, sondern den besten Astronomen unter ihnen eine fortlaufende, von niemandem

3 Die Reihe der Einschränkungen des philosophischen Diskurses in der Politeia (435 cd, 504 b, 506 e, 509 c, 533 a, 611 b–612 a) habe ich in ihrem Zusammenhang behandelt PSP I, 303–325.

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29. Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios

kritisch unterbrochene Darlegung geben, in der die Prinzipien gerade nicht vollständig dargelegt und hinreichend erörtert werden. 2.

Das ist Platon so wichtig, daß er es ein erstes Mal schon im ‚Prooimion‘ (vgl. 29 d5) des ‚Mythos‘ von der Konstruktion der Welt einschärft: (a) τὸν μὲν οὖν ποιητὴν καὶ πατέρα τοῦδε τοῦ παντὸς εὑρεῖν τε ἔργον καὶ εὑρόντα εἰς πάντας ἀδύνατον λέγειν (28 c3–5). Von zwei Aufgaben ist hier die Rede: vom Finden der hervorbringenden Ursache (des αἴτιον, 28 a4) der Welt, und vom Mitteilen dieser Ursache. Die erste Aufgabe ist nicht unmöglich, wohl aber ‚schwierig‘.4 Hat man sie gelöst und den Demiurgos (28 a6) gefunden (εὑρόντα), so erweist sich die zweite Aufgabe, die der Mitteilung, als unmöglich – aber nicht schlichtweg unmöglich, sondern nur, wenn es um die Mitteilung „an alle“ geht: εἰς πάντας ἀδύνατον λέγειν. Fehldeutungen dieser Stelle gibt es viele: manche stellen die überlieferte Wortfolge um und übersetzen, als stünde da: ... εὑρεῖν καὶ εὑρόντα λέγειν ἀδύνατον ἐστιν ἔργον – so wird Finden und Sagen gleichermaßen unmöglich (wobei εἰς πάντας dann unberücksichtigt bleibt). Doch besteht kein Anlaß, die im Text klar getrennten Schritte des Findens und des Mitteilens zusammenzuwerfen, hier sowenig wie in der parallelen Formulierung Nomoi 968 d3–4: μετὰ δὲ τοῦτο, ἃ δεῖ μανθάνειν οὔτε εὑρεῖν ῥᾴδιον οὔτε ηὑρηκότος ἄλλου μαθητὴν γενέσθαι. (Auch diese Stelle setzt übrigens, ganz wie unsere Timaios-Stelle, klar voraus, daß das Finden der gemeinten Inhalte durchaus möglich ist). – Andere meinen, die Stelle sei zu verstehen im Sinne der Versicherungen mancher gläubiger Christen, ihre Glaubenserfahrung sei dem Nichtglaubenden in Worten nicht zu vermitteln. Wieder andere glauben, man müsse εὶς πάντας τοὺς ῞Ελληνας verstehen, wie in Prot. 349 a2, und gemeint sei lediglich, daß die Freiheit des Demiurgen von Neid (29 e2) von den meisten Griechen nicht akzeptiert würde. Indes sind die Protagoras-Stelle und der Gedanke des Neides für unsere Stelle irrelevant, und die Ablehnung eines Gedankens durch die Mehrheit könnte auch nicht durch die Worte εἰς πάντας ἀδύνατον λέγειν ausgedrückt werden. All das hat mit dem Text offenbar nichts zu tun. Statt dieser irrelevanten Schein-Parallelen wäre auf folgende wirkliche Parallelen zu verweisen: bei Sophokles sagt Oidipus im OT zu Kreon, als dieser ihm das Orakel aus Delphi unter vier Augen mitteilen möchte: εἰς πάντας αὔδα (OT 93), „sag es vor allen“, d. h. öffentlich; bei Platon selbst hat der Athener in den No4 ἔργον in dieser Bedeutung: LSJ s.v., IV c.

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moi Bedenken, die Gründe für die Existenz der Götter könnten zu schwer sein οὕτως εἰς πλήθη λεγόμενα (Nom. 890 e2) – sie wären natürlich nicht zu schwer unter fortgeschrittenen Dialektikern. – Nicht hilfreich ist im übrigen auch die Versicherung, es gehe hier nicht um Geheimhaltung,5 denn das behauptet ja niemand. Vielmehr geht es um Esoterik:6 ein ἀπρόρρητον kann nicht „an alle“ mitgeteilt werden, weil es, vorzeitig mitgeteilt, nichts klar machen würde.7 Die Natur des Demiurgos ist offenbar solch ein ἀπρόρρητον: sie ist prinzipiell auffindbar und auch sagbar, aber nicht „an alle“, weil niemals „alle“ die Voraussetzungen erwerben könnten, die erforderlich sind, das Gesagte zu verstehen. Timaios sagt also nicht: wenn es einem Menschen jemals gelänge, den Demiurgos zu finden, so wäre es ihm unmöglich, darüber zu reden, sondern: die schwer auffindbare Identität des Demiurgos ist nicht von der Art, daß man öffentlich davon sprechen könnte.8 Selbstverständlich kann über ein ἀπρόρρητον in dieser Weise nur reden, wer es selbst schon kennt. Ein zweiter Hinweis darauf, daß die Darstellung der Prinzipien in diesem Werk Einschränkungen unterliegt, findet sich zu Beginn des zweiten Hauptteils von Timaios’ Rede:9 (b) νῦν δὲ οὖν τό γε παρ᾽ ἡμῶν ὧδε ἐχέτω· τὴν μὲν περὶ ἁπάντων εἴτε ἀρχὴν εἴτε ἀρχὰς εἴτε ὅπῃ δοκεῖ τούτων πέρι τὸ νῦν οὐ ῥητέον, δι ἄλλο μὲν οὐδέν, διὰ δὲ τὸ χαλεπὸν εἶναι κατὰ τὸν παρόντα τρόπον τῆς διεξόδου δηλῶσαι τὰ δοκοῦντα (48 c2–6). Der Sprecher hat ‚Ansichten‘ (δοκοῦντα) vom Prinzip oder von den Prinzipien aller Dinge – ob es eines ist oder mehrere, läßt er absichtlich offen. Über diese Dinge soll nicht gesprochen werden (οὐ ῥητέον), dies aber nicht prinzipiell, sondern nur für jetzt (τὸ νῦν). Als Grund wird diesmal nicht die Schwierigkeit der Sache angeführt, vielmehr liegt der einzige Grund

5 Vgl. Luc Brisson, in: Platon: Timée – Critias. Hg. u. üb. v. Luc Brisson. Paris1992, 230 n. 105. 6 Zum Unterschied zwischen Geheimhaltung und Esoterik: PSP I, 400–405, vgl. Szlezák: Platon lesen, 152–155. 7 Nom. 968 e4–5: πάντα τὰ περὶ ταῦτα ἀπόρρητα μὲν λεχθέντα οὐκ ἂν ὀρθῶς λέγοιτο, ἀπρόρρητα δὲ διὰ τὸ μηδὲν προρρηθέντα δηλοῦν τῶν λεγομένων. Zur Deutung der Stelle vgl. Szlezák: Platon lesen, 85–92, bes. 87. 8 Eine zutreffende Paraphrase unserer Stelle findet sich bei Joseph Bright Skemp: The Theory of Motion in Plato´s Later Dialogues. Amsterdam 21967, 110 „...the ultimate ἀρχὴ κινήσεως, though hard to find and never to be declared to the majority of men, ... “. 9 In fast genau gleichem Abstand vom Neuanfang wie im ersten Hauptteil – Zufall oder gesuchte Gleichheit des Ablaufs?

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(δι᾽ ἄλλο μὲν οὐδέν) darin, daß es bei der gegenwärtigen Art der Erörterung schwer ist, die δοκοῦντα klar zu machen. Das kann nur bedeuten: bei einem anderen τρόπος τῆς διεξόδου wäre es für Timaios nicht oder weniger schwer, seine Ansichten darzulegen. Aus der Politeia ist uns die Situation gut bekannt, daß die Ansichten des Gesprächsführers (τὰ ἐμοὶ δοκοῦντα 509 c3, τὸ δοκοῦν ἐμοὶ 506 e2) nicht ausgebreitet werden mit Rücksicht auf die begrenzten Möglichkeiten der παροῦσα ὁρμή (506 e2) und der μέθοδοι, οἵαις νῦν ἐν τοῖς λόγοις χρώμεθα (435 d1–2, vgl. 611 c2–7). Die Begrenzung der philosophischen Mitteilung findet dort ihre Begründung in der mangelnden Vorbildung der Gesprächspartner, während es an der Bereitschaft (προθυμία) des Sokrates nicht fehlen würde (533 a1–2)10 – hier im Timaios ist es offenbar umgekehrt: daß etwa Sokrates den Ansichten des Timaios über die Prinzipien philosophisch nicht gewachsen sein könnte, ist natürlich auszuschließen, aber Timaios selbst ist nicht bereit, mehr zu sagen.11 Vielmehr beruft er sich (48 d1–2) auf die anfangs (29cd) getroffene Feststellung, daß hier nur ein εἰκὼς λόγος gegeben werden kann. Dafür waren zwei Gründe genannt worden: die ‚Verwandtschaft‘ (συγγενεῖς, 29 b5) der λόγοι mit ihrem Gegenstand, die über ‚abbildhafte‘ Dinge nur ‚wahrscheinliche‘ λόγοι zuläßt, und unsere menschliche Natur, die zur Bescheidung mahnt. Doch diese Gründe überzeugen hier nicht ganz: wenn man über τὴν περὶ ἁπάντων εἴτε ἀρχὴν εἴτε ἀρχὰς (48 c3) redet, hat man es schwerlich mit abbildhaft-vergänglichen Dingen zu tun, und daß die menschliche Natur nicht notwendig jedwede Kenntnis von ἀρχαί ausschließt, wird wenig später (53 d6–7) deutlich werden. Die neuerliche Festlegung auf den εἰκὼς λόγος ist daher am besten wohl so zu erklären, daß Timaios von den ἀρχαί hier im zweiten Teil vor allem die ‚Mutter‘ und ‚Amme‘ des Werdens im Blick hat, die nur in einem uneigentlichen Schlußverfahren (λογισμῷ τινι νόθῳ, 52 b2) faßbar wird, so daß das Reden von ihr, mag es auch streng genommen einen anderen Status haben als das Reden vom Werdenden, gleichwohl als ‚wahrscheinliche Erklärung‘ bezeichnet werden kann. Daß Timaios sich jetzt ‚an das anfänglich Gesagte halten‘ will (τὸ κατ᾽ ἀρχὰς ῥηθὲν διαφυλάττων, 48 d1–2), kann jedenfalls angesichts von 48 c4–6 (δι ἄλλο μὲν οὐδέν, ... s. o.) nicht bedeuten, daß

10 Vgl. PSP I, 313–317; s. auch oben Anm. 3. 11 Werkimmanent bleibt dieser Mangel an προθυμία im Grunde unerklärt (es sei denn, man wollte als ‚Erklärung‘ akzeptieren, daß keiner der Teilnehmer eine Vertiefung der Äußerungen des Timaios über die ἀρχαί verlangt – aber das wäre ja das eigentliche explanandum). Im Hinblick auf die Schriftkritik im Phaidros ist der Grund freilich nicht rätselhaft (vgl. Szlezák: Platon lesen, 144f.).

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beim Reden über die ἀρχαί dieselbe Art von Zwang zum bloß Wahrscheinlichen vorliegt wie bei der Darstellung der γένεσις. Als ἀρχή der zu Unrecht so genannten (vgl. 48 b5–c2) ‚Elemente‘ setzt Timaios zwei Formen des rechtwinkligen Dreiecks (53 c8–d6) an. Dann fährt er fort: (c) τὰς δ᾽ ἔτι τούτων ἀρχὰς ἄνωθεν θεὸς οἶδεν καὶ ἀνδρῶν ὃς ἂν ἐκείνῳ φίλος ᾖ (53 d6–7). Es gibt also noch andere Prinzipien (ἀρχάς: Plural) als die, die Timaios zugrundelegt (ὑποτιθέμεθα, d5). Diese anderen Prinzipien sind weiter ‚oben‘ angesiedelt als die bisher genannten, sind also ‚höhere‘ Prinzipien: eine Linie des Aufstiegs ‚nach oben‘ wird hier abgebrochen. Die höheren Prinzipien sind Gegenstand göttlicher Erkenntnis: ... θεὸς οἶδεν – wenn der Text hier endete, so wären wir wieder auf die Grenzen der menschlichen Natur verwiesen, und wir müßten annehmen, daß uns eine Kenntnis dieser ἄνωθεν ἀρχαί grundsätzlich nicht möglich ist. Indes geht es weiter: ... καί ἀνδρῶν ὃς ἂν ἐκείνῳ φίλος ᾖ. Wer ist der Mann, dem die Kenntnis der ‚noch höheren‘ Prinzipien nicht verwehrt ist? Er ist der, der Gott ‚lieb‘ oder ihm befreundet ist. Also wohl kein anderer als der, der durch die Schau der Idee des Schönen θεοφιλής wird (Symp. 212 a6); oder der, der durch ständige Initiation in die Mysterien (τελεταί der Ideenschau sogar ‚vollkommen‘ (τέλεος) wird (Phdr. 249 c6–8); oder der, der zusammen mit den Göttern, aber im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Mitmenschen, am Nus Anteil hat (Tim. 51 e5–6); oder der, der im Durchgang durch alle Wege der Dialektik ‚auf das Wahre stößt‘ und so ‚Einsicht gewinnt‘ (ἐντυχόντα τῷ ἀληθεῖ νοῦν σχεῖν, Parm. 136 e1–3, vgl. Politeia 534 b3– c5); oder der, dem ein Gott als ‚Freund‘ (φίλος) ganz konkret beim Lösen einer bestimmten Frage zur Seite treten kann (Phil. 25 b11–12) – mit anderen Worten: kein anderer als der platonische Dialektiker. Dessen ‚Wissen‘ (οἶδεν) von den ἀρχαί wird hier also nicht mitgeteilt, hier so wenig wie 29 e4–30 a2, wo das entscheidende Prinzip (ἀρχή) des Werdens, nämlich das Gutsein des Demiurgos, von einsichtigen Männern (παρ᾽ ἀνδρῶν φρονίμων, 30 a1) zu übernehmen ist – wie diese Männer zu ihrer grundlegenden Einsicht gelangt sind, wird im Timaios weder gefragt noch dargelegt. Die oben unter (a) und (b) zitierten Aussparungsstellen stehen jeweils zu Beginn der ersten beiden Hauptteile des Dialogs, deren Themen das durch den Nus Geschaffene und das durch die Notwendigkeit Bewirkte sind. Der dritte Hauptteil, der in 69 a einsetzt, hat das Zusammenwirken von Nus und Ananke zum Thema. Unser dritter Aussparungstext (c) scheint nun nicht in der gleichen Weise dem dritten Hauptteil zugeordnet zu sein, wie (a) und (b) den ersten beiden Hauptteilen, denn dazu müßte er etwa 20 Zeilen nach dem Einsatz mit dem neuen Thema in 69 a lokali-

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siert sein. Doch betrifft diese Beobachtung eher nur die Stelle im Dialog. Achtet man auf den Inhalt, so wird klar, daß die Verbindung der beiden ‚Ursachenarten‘ Nus und Ananke nicht erst im dritten großen Abschnitt beginnt, sondern der Sache nach bereits im zweiten Hauptteil, genauer in 53 b1: hier hören wir zum ersten Mal, daß der Nus der Materie bzw. ihren vorkosmischen ‚Spuren‘ eine Struktur verleiht (οὕτω δὴ τότε πεφυκότα ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσι τε καὶ ἀριθμοῖς, 53 b4–5). Und wenig später, im Abstand von ca. 20 Zeilen, lesen wir die Aussparungsstelle (c). Man kann also feststellen, daß die drei gewichtigen Aussparungsstellen (a), (b) und (c) sachlich den drei Hauptteilen des Dialogs zugeordnet sind, auch wenn die verschobene ‚lokale‘ Zuordnung der dritten Stelle diesen bedeutsamen Sachverhalt nicht ins Auge springen läßt. Insgesamt definieren die drei Stellen den Status des Diskurses sehr deutlich. Der Timaios will nicht von den ἀρχαί handeln, jedenfalls nicht von den ἀρχαί als solchen – erwähnt werden sie nur soweit es nötig ist, die Konstruktion der Welt verstehbar zu machen. 3.

Der ‚abermalige Anfang‘ (48 e2) der Untersuchung korrigiert den ersten Anfang (27 dff.): waren dort nur Immerseiendes und Werdendes geschieden worden, so kommt zu diesen zwei εἴδη nun als drittes γένος die χώρα hinzu. Doch wie korrigiert sich Platon? Die zwei ‚Arten‘ waren ‚hinreichend für das zuvor Gesagte‘ (ἱκανὰ ἦν ἐπὶ τοῖς ἔμπροσθεν λεχθεῖσιν, 48 e4–5), eine dritte wurde nicht unterschieden in der Meinung, die zwei würden reichen (νομίσαντες τὰ δύο ἕξειν ἱκανῶς, 49 a2). Nun war aber die ungeordnete vorkosmische Bewegung, die von der χώρα nicht zu trennen ist (52 dff.), bereits 30 a erwähnt worden. Das dritte γένος ist also nicht die Frucht einer in irgend einem Sinne ‚neuen‘ Einsicht, sondern die zwei εἴδη waren tatsächlich ‚hinreichend‘, nämlich ‚für das Frühere‘: wäre nur die Darstellung des Wirkens des Nus Timaios’ Ziel gewesen, so wäre die Erwähnung der dritten Gattung unterblieben, und wir müßten überzeugt sein, seine ‚Ontologie‘ erschöpfe sich in der Konstatierung des Gegensatzes von Sein und Werden. Dies ist aber die für Platon charakteristische Art, sich zu korrigieren: bei der Formulierung der ersten, zu korrigierenden Position steht ihm die zweite, korrigierende schon zur Verfügung, und oft deutet er es auch an, jedoch nur in so unbestimmter Weise, daß der Leser die spätere Korrektur nicht selbständig aus dem Text erschließen kann; wird sie dann nachgereicht, wirkt sie wie eine ‚neue‘ Stufe der Erörterung (und ist das auch, je-

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denfalls für den Leser, dem die frühe Vorandeutung beim ersten Lesen notwendig unklar bleiben mußte).12 Wenn daher zur neuen, weiter ausholenden ontologischen Dihairesis (vgl. 48 e2–3) gesagt wird: ἐν δ᾽ οὖν τῷ παρόντι χρὴ γένη διανοηθῆναι τριττά (50 c7), so ist der kleine Zusatz ἐν τῷ παρόντι wörtlich zu nehmen: die vorliegende Dihairesis ist nicht erschöpfend. Die Worte ἐν τῷ παρόντι stehen in Gegensatz zu εἰς αὖθις (50 c6): „ein andermal“ soll die schwer zu erläuternde und staunenswerte Art untersucht werden, in der die in die χώρα eintretenden und aus ihr austretenden ‚Nachbildungen‘ dem Immerseienden nachgeformt sind. Diese ‚andere‘ Untersuchung, die im Timaios nicht ausgeführt wird,13 kann also sehr wohl auch eine andere Dihairesis der ontologischen γένη enthalten haben – man denkt unwillkürlich an Aristoteles’ Angabe, daß Platon zwei Formen von unbewegter Substanz kannte, die Ideen und die μαθηματικά (Met. Z 2, 1028 b19–21, vgl. M 9, 1086 a11– 13). Was immer Platon mit den Worten εἰς αὖθις im Sinn hatte, eines ist sicher: das Argument, es könne bei Platon die μαθηματικά als eigene ontologische Klasse nicht gegeben haben, weil sie in den Dialogen nicht in dieser Form genannt seien,14 kann nur für Interpreten von Gewicht sein, die nicht verstanden haben, wie Platon sich selbst in den Dialogen zu ‚korrigieren‘ pflegt. 4.

Im Blick auf die Tatsache, daß platonische ‚Selbstkorrekturen‘ mehr den Charakter von Erweiterungen des Blickfeldes haben, lassen sich unschwer mehrere Stufen der Darstellung der Prinzipien des Werdens von einander unterscheiden – Stufen, die sich sukzessive ‚korrigieren‘, d. h. den Blick auf die ontologischen Zusammenhänge zunehmend ausweiten. (Die Chronologie der Dialoge muß mit dieser Stufung selbstverständlich nicht strikt parallel laufen.)

12 Daß dies die typisch platonische Art der Selbstkorrektur ist, hoffe ich demnächst in einer gesonderten Studie ausführlicher zeigen zu können. 13 So richtig schon Alfred Edward Taylor: A Commentary on Plato´s Timaeus. Oxford 1928 [1972], 324. Daß es sich um eine typische Aussparungsstelle handelt, sieht Taylor zwar nicht; gleichwohl verweist er für den Inhalt auf die ἄγραφα δόγματα – zweifellos zu Recht. 14 Daß das Liniengleichnis diese Auffassung nicht problemlos bestätigt, wollen wir hier beiseite lassen.

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(1) Im Unsterblichkeitsbeweis des Phaidros (245 c–e) wird die (Welt-)Seele als ἀρχὴ κινήσεως aufgezeigt und ihre ἐπιμέλεια für das Unbeseelte konstatiert (246 b6). (2) Etwas weiter geht das 10. Buch der Nomoi: die Seele wird als ‚erste Ursache des Werdens und Vergehens‘ (πρῶτον γενέσεως καὶ φθορᾶς αἴτιον 891 e5, vgl. κινήσεως ἁπάσης αἰτία 896 b1) erwiesen, sodann betont, daß nur die vom Nus beherrschte, folglich vollkommene Seele den Kosmos in der vernünftigen Weise, die wir sehen, lenken kann (897 c7–8, 899 b6, 900 d2). (3) Wesentlich weiter geht der Timaios: das Gutsein des Demiurgos wird als Ursache des Werdens benannt (29 e–30 a), seine Vernünftigkeit bei der Errichtung der Ordnung der Welt aufgezeigt, ferner seine Ursächlichkeit auch gegenüber der ‚ersten‘ Ursache des Werdens, der Seele (34 c–36 d). Schließlich erfahren wir von der Notwendigkeit einer ‚weiteren‘ Dihairesis, die die χώρα als irreduzibles τρίτον γένος neben Urbild und Abbild einführt, und davon, daß auch diese Dihairesis nur ἐν τῷ παρόντι gilt (50 c7). (4) Der Überblick über die vier γένη im Philebos (22 d–26 c) redet nicht mehr von der χώρα, die als Zugrundeliegendes nur für das physikalische Werden gelten kann, sondern allgemeiner vom ἄπειρον, das sich auch als Prinzip eines nur metaphorisch so zu nennenden ‚Werdens‘ – d. h. der Konstruktion – der Intelligibilia eignet, ebenso wie sein Gegenprinzip, das πέρας. Der Nus, dessen demiurgisches Wirken im Timaios breit geschildert ist, wird hier nun als eigenes γένος isoliert und mit πέρας und ἄπειρον (freilich auch mit der μεικτὴ οὐσία) in eine Reihe gebracht (27 b7–c1). Unklar bleibt noch die genaue Funktion des Guten. (5) Die ἄγραφα δόγματα und die Vorlesung περὶ τἀγαθοῦ waren wohl der Ort, an dem dieser wichtigste Punkt der Prinzipienlehre thematisiert wurde, darüber hinaus auch der ontologische Zusammenhang des Ganzen, der bei Platon, wie Theophrastos bezeugt (Met. 6 b11–16), deutlicher gezeichnet war als bei den anderen Philosophen der Akademie 5.

Eine abschließende und umfassende Darlegung der Prinzipien dürfen wir vom Text des Timaios nicht erwarten – nicht deswegen, weil dergleichen dem platonischen Philosophiebegriff zuwiderliefe oder weil Platon, als ewig ‚unterwegs‘ befindlicher Wanderer des Geistes, solches niemals hätte

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geben wollen oder können, sondern deswegen, weil der Autor klar und deutlich sagt, daß er die Darstellung in diesem Text begrenzen will. Aufschlußreich ist der Kontrast zwischen den Bemerkungen über die Nichtbehandlung der Prinzipien und der Zurückweisung, die der Gedanke der experimentellen Überprüfung erfährt: den Unterschied der menschlichen und der göttlichen Natur würde verkennen, wer die Mischungsverhältnisse der Farben praktisch testen wollte; denn der Gott hat das Wissen und das Können, Vieles zu Einem zu mischen und Eines in Vieles aufzulösen, hingegen hat kein Mensch die Fähigkeit dazu – weder jetzt noch jemals künftig (68 d2–7). Charakteristischerweise ist von einem solchen οὔτε νῦν οὔτε εἰς αὖθις nichts zu hören an den drei Stellen, die das Thema ‚Prinzipien‘ aussparen, vielmehr wird die Erkennbarkeit der Prinzipien durch den Philosophen vorausgesetzt (28 c, 48 c) oder behauptet (53 d), die Mitteilbarkeit nur „für jetzt“ (48c) oder “vor allen“ (28 c) verneint. Die Art der Behandlung der ἀρχαί im Timaios ist also nicht nur nichtaporetisch, sie ist auch nicht-problematisierend und nicht-syzetetisch, ja sogar nicht-konstruktiv in dem Sinn, daß es hier nicht darum geht, eine Theorie der ἀρχαί aus Argumenten neu zu konstruieren. Sie ist vielmehr referierend und verweisend – vor gleichrangigen Männern, Philosophen höchsten Ranges, werden einige Punkte, die für ‚einsichtige Männer‘ (vgl. 30 a1) feststehen, teils referiert, teils vernehmbar ausgespart. Die zur Kosmologie Platons gehörige Prinzipienlehre steht mehr ‚hinter‘ dem Timaios als ‚in‘ ihm: dies sagt uns der Text selbst.15 Friedrich Schleiermacher, auf den viele der heute (noch) gängigen Vorurteile gegen platonische Esoterik zurückgehen, war im übrigen klarsichtiger als seine heutigen Nachfolger. Wie seine unmittelbaren Vorgänger Tiedemann und Tennemann war er der Ansicht, daß Platon seine Gedanken „rein und vollständig“ nur in der mündlichen Lehre ausgesprochen hat, „wenn er erst hinlänglich gewiss war, die Hörer seien ihm nach Wunsch gefolgt“.16 Der Timaios ist – wie alle Hauptwerke Platons – bestens geeignet, diese Auffassung zu stützen.

15 Eine kritische Auseinandersetzung mit der oft willkürlichen Behandlung der Aussparungsstellen des Timaios durch Interpreten des 20.Jh.s war nicht Ziel dieser Seiten; sie soll an anderer Stelle gegeben werden. 16 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 17. – Einen Vergleich zwischen Schleiermacher und seinen Vorgängern Tiedemann und Tennemann hinsichtlich ihrer Hermeneutik der platonischen Dialoge versuchte ich in: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann. In: Antike und Abendland 43 (1997), 46–62.

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1. The Problem Sextus Empiricus’s report in the tenth book of Adversus mathematicos about a theory of the principles of all things, which the Pythagoreans are supposed to have held, is one of the most problematic texts in the history of ancient philosophy. This text was considered unproblematic as long its ascription to the Pythagoreans was not in doubt. It was therefore given authoritative philosophical consideration as a source for Pythagorean philosophy equal to Aristotle’s report in the Metaphysics1 in the first volume of Hegel’s Lectures on the History of Philosophy (Hegel, Lectures on the History of Philosophy. Transl. by E. S. Haldane, 3 vols., 1892–1896 [Repr. 1955], 1:238–250). The unproblematic use of this text as a critical source came to an end when it was realized that Sextus reports things that other sources attribute to the Old Academy and thus indirectly to Plato himself. In this vein, Richard Heinze wrote about the doctrine of categories of Xenocrates in 1892 (Heinze, Xenokrates. Darstellung der Lehre und Sammlung der Fragmente, 1892. Nachdruck 1965), and determined that it was very close to Hermodorus’s testimony about Plato – and also to Sextus Empiricus 10.263–269, a passage that for Heinze shows “how closely certain tendencies of Neopythagoreanism were connected to those of the Old Academy.” For Heinze this was “a fact, which is not yet acknowledged widely enough” (Heinze 1965, 38). This has changed radically in the 117 years since Heinze. Paul Wilpert, in an essay from 1941 (Wilpert, Neue Fragmente aus Περὶ τάγαϑοῦ, in: Hermes 76, 1941, 225–250; now in: Wippern [Hrsg.], Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beiträge zum Verständnis der platonischen Prinzipienphilosophie 1972, 172–180, 187–97), emphasized the agreement of Sextus’s report not only with Hermodorus,2 but also with the classification of categories in Alexander of Aphrodisias’s commentary on 1 Aristotle, Met. A 5, 985 b23–986b8 and 987 a13–28. 2 See below n. 10.

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the Metaphysics (56,13–21 Hayduck) which the commentator explicitly traces back to Aristotle’s transcript of the Περὶ τἀγαθοῦ. The following year, Wilpert gave a detailed interpretation of the entire report as a fragment from Aristotle’s Περὶ τἀγαθοῦ.3 Because of its delayed publication, H. Cherniss (1944) could not have known of Wilpert’s analysis when he wrote his extensive book about Aristotle’s criticism of Plato; for his own purposes Cherniss merely drew on Sextus’s report for particular linguistic peculiarities and as a Neopythagorean parallel to the classification of categories in Hermodorus.4 He did not attempt a source-critical analysis. His assessment probably would have been the same as that of G. Vlastos, who radically challenged the applicability of the report as a testimony of Platonic philosophy (Gregory Vlastos: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959), in: Gnomon 35 (1963), 641–655, hier: 644–48). Wilpert’s claim that the entire report was from the Περὶ τἀγαθοῦ was assessed differently by Werner Jaeger, Hans Joachim Krämer, Walter Burkert, Willy Theiler, and Konrad Gaiser, who highlight the linguistic and factual revisions from the Hellenistic period, but do not doubt that the core is Platonic.5 Burkert saw in Sextus’s report “an exact transcript of the lecture On the Good.”6 Concerning the question whose transcript could have been the last source, Theiler, like Wilpert, tended to name Aristotle (Theiler, Philo von Alexandria und der Beginn des kaiserzeitlichen Platonismus, in: Parusia, Festgabe für J. Hirschberger, 1965, 208–209). The obvious and most important reason against attributing the theory of the “principles of all things” (of the τῶν ὅλων ἀρχαί; Sextus, Math. 10.262) as presented here to Plato is undoubtedly that the text itself names a differ-

3 Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, 1949, 128–21. (The book was written in 1942, but was not published until 1949, due to a paper shortage at the time.). 4 Paragraphs 258, 265, 268, 271–273, 272 and 281 of Sextus’s report are cited very sparingly by Cherniss, merely as proof for his interpretation (1944, 503, 170 n. 96, 286 n. 192, 287 n. 192, 256 n. 166, and 396 n. 322). 5 The most precise analysis to date is provided by Gaiser (1968, 63–84; 2004, 240– 62). Detailed information on the evaluation of the report in the scholarship is offered by Gaiser (1968, 64 with n. 83,73 with n. 95–101; 2004, 240 with n. 83 and 250–51 with n. 95–101). 6 Burkert 1962, 83: “und doch liegt eine genaue Nachschrift von Περὶ τἀγαθοῦ zugrunde (= Burkart 1972, 94).

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ent origin: Pythagoras or, respectively, the Pythagoreans or their successors.7 But what does “Pythagorean” mean in the post-Platonic era? Everyone knows that Plato had Socrates – as a character in the dialogues – present his own philosophical concerns in his early and middle works. And as is well known, he did this with such dramatic intensity that to this day, especially in the early works, it is not easy to separate the specifically Platonic from the supposedly Socratic. At least nowadays there is a consensus that the doctrine of the Forms, always presented by “Socrates,” is completely Plato’s. Plato employed a similar camouflage in his late works: he presents the dialectical-methodological aspect of his philosophizing in the dialogues Sophist, Statesman, and Parmenides through the visitor from Elea and Parmenides, the main characters in these dialogues, while his cosmology and his view of the ἀρχαί–insofar as these enter into the dialogues – are put into the mouths of the Pythagorean Timaeus and “the people of old,” who are easily recognizable as Pythagoreans in the Philebus (16 c). Undoubtedly, on essential issues, Plato was adopting Eleatic and Pythagorean approaches. However, the way that Plato and, along with him, the Old Academy interpreted themselves, or rather presented themselves as the heirs of Pythagorean wisdom, goes far beyond what would have been required for intellectual honesty.8 The consequence of this was that, just as the Platonic doctrine of the Forms could appear to be “Socratic,” so the Platonic theory of principles could appear to be “Pythagorean.” The Academy, having become “skeptical” by the third century, certainly did not want to burden itself with the dogmatism of the doctrine of principles; thus Burkert suspects that it was at that time that this theory got the label “Pythagorean,” which it still has in Sextus (Walter Burkert: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Cambridge, Mass. 1972, 94). This is quite plausible, although Gaiser’s suggestion – that, in the light of Burkert’s own exposition of the “Pythagorization” of the Old Academy, the integration of the doctrine of principles into the tradition of this “school” could undoubtedly have been possible before the skeptical turn – is also noteworthy (Konrad Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule.

7 ὁ Πυθαγόρας 261, οἱ περὶ (τὸν Σάμιον) Πυθαγόραν 248, 250, οἱ Πυθαγορικοί 255, 262, 282, Πυθαγορικῶν παῖδες 270. 8 The connection of the Platonic Academy with Pythagoreanism is presented and analyzed in detail by Burkert (1972, 53–96).

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Stuttgart 21968 [1963], 73; ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák u. Karl-Heinz Stanzel. Sankt Augustin 2004, 251). The justifications we have for affiliating Sextus’s report with Plato can be summarized briefly:9 1. The names of the principles are ἕν and ἀὁριστος δυάς, which according to Aristotle are Platonic, not Pythagorean (Met. A 6, 987 b25–27). 2. The reduction of the categories to these principles (Sextus Empiricus 10.263–275) is attested to as Platonic by Hermodorus’ fragment in Simplicius, as well as by Alexander of Aphrodisias.10 3. The reduction of the dimensions to these same principles is attributed to Plato by both Aristotle and Alexander.11 4. The structure of the report: the (twofold) description of the ascent to the principles is followed by a descent from the principles to the things; the whole report has three parts, like Aristotle’s Περὶ τἀγαθοῦ, and there is evidence that the discussion of opposites was in book 2,12 while in the present scheme it would belong (if the categorical reduction were performed more broadly) to the categorical reduction and, as such, to the middle part. 5. In the introductory part of the report (10.249–257) several motifs appear, which can also be found in Tim. 48 a-c.13 These agreements doubtlessly carry more weight than the objection that the report itself claims to be “Pythagorean” – which, as Wilpert realized even before Burkert, means little–and even more weight than the fact that the report is revised linguistically and with respect to its content. The revisions mostly have to do with inserting doxographical claims about other “schools” and positions. Konrad Gaiser has quite convincingly shown that these references, which probably also include the section on the Platonic forms (10.258), can be taken out without forfeiting the development of the thought.14

9 The list follows Gaiser 1968, 70–71; 2004, 248–49, who also makes use of the conclusions of Wilpert 1949 and Heinze 1965. 10 Hermodorus, cited in Simplicius, In Arist. Phys., 1:247,30–248,15 Diels = test. 31 Gaiser 1963; Alexander of Aphrodisias, In Arist. met. 56, 13–20 Hayduck = test. 22B Gaiser. 11 Aristotle, Met. M 9,1085 a7–14; A 9, 992 a10–13 and often beyond this; Alexander of Aphrodisias, In Arist. met. 55, 20–56,5 Hayduck = test. 22B Gaiser 1963. 12 Ib. 1963, test. 39B, 40B. 13 Ib., 71; 2004, 249. 14 Ib., 1968, 76–78; 2004, 254–56.

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Thus, we have good reasons for considering Sextus’s report as a “Neopythagorean” version of an older report on Plato’s lecture On the Good. The interpretation of the Platonic Parmenides that we find in Simplicius’s quotation taken from Moderatus, and that seems to contain the key to the Neoplatonic hierarchy of hypostases is also considered to be Neopythagorean. This raises the question of whether one might be able to find a connection between Sextus’s report and the Parmenides, or a certain interpretation of the Parmenides. Clearly the challenge stems from the fact that there is no clear reference in the one text to the other, nor an easily recognizable concurrence. I intend to determine the position of Sextus’s report relative to Plato and Neoplatonism more precisely by considering the ἀόριστος δυάς in both texts.

2. The Indefinite Dyad We first encounter the indefinite dyad at the end of a drawn out ascent from the corporeal to the incorporeal (from the σώματα to the ἀσώματον). In this context we find the remark that not everything which, being incorporeal, is ontologically “prior” to the corporeal, is to be considered on that account an element and first principle: although Plato’s Forms exist before bodies (προυφεστᾶσιν τῶν σωμάτων), they are not something ultimate, since they partake of numbers, which thus transcend them (ὥστε εἶναί τι ἐπαναβεβηκὸς αὐτῶν τῆς ὑποστάσεως, 10.258). This is followed by a second ascent to the numbers, beginning from physical bodies. These are preceded by three-dimensional (geometrical) bodies, which are preceded by planes, which are preceded by lines. But before lines one has to consider numbers (even the simple line connects two points). All the numbers, however, fall under the ἕν, since every number is one number (260). In this way “Pythagoras,” the text asserts, arrived at the conviction that the monad is the principle of things. By partaking of it, everything is called one (261). Thus far, the reduction of the physical world to its principles through dimensions and numbers has led to only one principle. A second is now introduced, in that the monad is considered with respect to the oppositional pair of identity – difference (αὐτότης – ἑτερότης). In light of its identity with itself the monad is simply the monad, but added to itself in accord with ἑτερότης, it brings forth the so-called ἀόροστος δυάς. It is called this, however, because none of the definite dyads are identical to it (261). The second principle is thus brought forth (ἀποτελεῖν) by the first due to a difference (otherness). The text does not tell us where this ἑτερότης itself comes from. All definite dyads partake of the dyad as principle, and this is

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why it is called “indefinite dyad” – but according to this, the monad would have to be called the “indefinite monad” as well. The two principles explain the countable units and the definite dyads in the world–how far the totality of things is supposed to be explained (the αἱ τῶν ὅλων ἀρχαί were being sought; 254) is not made clear. In § 270 a new line of reduction begins, because the Pythagoreans exhibited their principles in many ways (ποικίλως). An arrangement (classification) of all things into καθ᾽ αὐτά (that which is “in itself”), κατ᾽ ἐναντίωσιν and πρός τι ὄντα (263–265) leads to the same principles. The genus (γένος) of things that are “in themselves” is the ἕν (270). The opposites all fall under the most fundamental opposition “equal – unequal” (ἴσον – ἄνισον), where the equal is to be counted under the ἕν (since the One as the first is equal to itself [275]), while the unequal falls under excess and defect (under ὑπεροχὴ καὶ ἔλλειψις). This conceptual pair serves at the same time as a generic term or genus (γένος) for all relativa (273). Since the first excess and defect takes place between two things–the surpassing and the surpassed–this γένος again leads to the indefinite dyad. Again, the character of indefiniteness in this dyad is neither deduced nor explained. It is stated, probably in a summary of both sequences of reduction, that the monad and the ἀόροστος δυάς have shown themselves to be the highest ἀρχαί of all things (276). What follows is a deduction or construction of things from first principles, during the course of which numbers are the first product. But not all numbers, since the number 1 seems to be brought forth by only the first monad (276). To begin with, for its doubling the number 2 is missing and with it the “twice,” δίς. In contrast to § 261, where identity and difference, αὐτότης and ἑτερότης, simply existed in addition to the monad in order to generate the dyad, here there is an awareness that at first nothing can exist besides the principle of oneness. However, the consequences of this are not drawn out consistently, since otherwise the number 1 (τὸ ἐν τοῖς ἀριθμοῖς ἕν) could not exist independently from the second principle. This is only used for the generation of the number 2, from which the δίς, the “twice,” is derived. Following a train of thought one would expect, this “twice,” δίς, which comes from the second principle, should produce the number 2 from the number 1. Instead of this, and probably accurately with respect to the Platonic generation of numbers, the definite number 2 is brought forth through the indefinite dyad and the monad (276). The exact role of the principle of oneness is only specified in the subsequent generation of further numbers: τοῦ μὲν ἑνὸς ἀεὶ περατοῦντος, τῆς δὲ ἀορἰστου δυάδος δύο γεννώσης (277). Although ἕν is used here instead of μονάς (the term usually used in this text to designate the first principle), one must assume, be-

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cause of a very similar statement in Aristotle, that here the function of both principles is designated: the one limits, the indefinite dyad duplicates, and this continues to infinity (277). According to Aristotle, the Platonic ἀόριστος δυάς is “two making” and multiplying: “what it grasped, it made into two,” τοῦ γὰρ ληφθέντος ἦν δυοποιός (1082 a14–15; see also 1083 b36, as well as 1083 a13). Finally, it is also mentioned at the end of the report that the current of Pythagoreanism mentioned first (in contrast to a second current, which explains the dimensions through the “flow” of the point) explains everything from two principles, namely, the monad and the indefinite dyad: first numbers, then lines, surfaces and (geometrical) bodies (282). This leads on to the generation of the world, which is touched upon in a very summary way: the four elements, the cosmos, and the harmony that determines it and, in turn, is based on numerical proportions (283). These are the passages on the indefinite dyad in Sextus’s report. This Principle is here a product of the first monad, and in this respect the entire design is to be called “monistic.” Yet the derivation from the monad (261) is philosophically unsatisfying, since the opposition of αὐτότης – ἑτερότης is already presupposed, which, in all reality, robs the indefinite dyad – as something generated–of the characteristic of being an ultimate principle. The characteristic of the “indefiniteness” of this dyad is neither explained (except in an unsatisfying way in 261), nor is it employed in the generation of either the numbers or later things. One gets the impression here that a concept that was not understood philosophically is being carried along doxographically. With respect to the generation of the indefinite dyad from the monad (or the one), Sextus’s report is in agreement with the Pythagorika Hypomnemata, which Alexander Polyhistor read, with Eudorus in Simplicius, and with Moderatus.15 One could call this kind of monism of principles “Neopythagorean.” All four texts – Sextus Empiricus, the Hypomnemata, Eudorus and Moderatus – have this in common: they are strongly abridged doxographical reports and they take very clear positions on central questions, but without giving reasons that can be understood philosophically.

15 Alexander Polyhistor cited in Diogenes Laertius 8.25: ἐκ δὲ τῆς μονάδος τὴν ἀόριστον δυάδα. Simplicius, In Arist. Phys. 181.10: ὡς ἂν καὶ τῆς ὕλης καὶ τῶν ὄντων πάντων ἐξ αὐτοῦ (sc. τοῦ ἑνός) γεγενημένων. Moderatus cited ibid. 231.7– 10: ὁ ἑνιαῖος λόγος ... κατὰ στέρησιν αὑτοῦ ἐχώρησε τὴν ποσότητα πάντων αὐτὴν στερήσας τῶν αὑτοῦ λόγων καὶ εἰδῶν.

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3. The Indefinite Dyad in Plato’s Parmenides In this respect, these texts stand in stark opposition to Plato’s Parmenides. It is never stated unambiguously here what the actual object of the statements is, even though the steps by which the conclusions are reached are detailed and understandable. Nowhere in the Parmenides is the ἀόριστος δυάς mentioned. If we were dealing with any other thinker, this fact alone would put an end to the inquiry. But not so in the case of Plato: he warns the reader not to get hung up on the ὀνόματα. Establishing a fixed terminology was far from Plato’s intention. The choice of words is nowhere of concern to him; he is only concerned with understanding the intended subject.16 This entitles us to search for the thing designated by the expression ἀόριστος δυάς in the Parmenides, even in the absence of the term itself. In fact, many passages of the Parmenides have been claimed for understanding the indefinite dyad of the Platonic doctrine of principles. I will briefly discuss those of which I have become aware in this context. Two lines of argumentation (or “hypotheses”),17 that deal with the “others than the one” (τἆλλα τοῦ ἑνός), could be understood as descriptions of the aoristos dyas according to its own nature. 1. Supposing (hypothesis) that the one is not (εἰ μή ἐστι τὸ ἕν, 160 b5) or that one is not (ἕν εἰ μὴ ἔστι, 164 b5) it is shown in the seventh deduction (“hypothesis”), that “the others” would then seem to have all qualities without actually having any one quality. If one is not, then the “other” things would be others for each other, because they could not be other than the one. Thus they could only be grasped, that is, “thought,” κατὰ πλήθη, or as ὄγκοι (masses), each of which would merely appear to be one, but under closer inspection would dissolve into other, smaller ὄγκοι: ἕκαστος ... ὁ ὄγκος αὐτῶν ἄπειρός ἐστι πλήθει. (164 c8–d1) This multitude of “masses,”

16 See, e. g., Charm. 163 d; Men. 87 bc; Pol. 533 e; Theaet. 184c, 199a; Pol. 261e. 17 It is well known that Parmenides only investigates two hypotheses in the dialogue named after him: that one (or the one) is and that one (or the one) is not. From these suppositions, conclusions are drawn from closed chains of reasoning for the one and for the other than the one, first with respect to each in its own terms, then in relationship to the opposite concept, which leads to a total of eight such sections. Yet it is customary to call these lines of argumentation or deductions (of consequences from the original supposition) “hypotheses,” as if Parmenides were working with eight hypotheses, or – if one counts the corollary 155 e–157 b – even with nine. Mindful of this misleading, but sadly widespread usage, the lines of argumentation will occasionally be called “hypotheses” here as well.

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which lacks unity will also appear to have a number and, furthermore, determinations such as “even/uneven” or “equal,” although there will only be the appearance of equality (φάντασμα ἰσότητος, 165 a5). Seen in relation to one another they will seem limited, without having beginning, end, and middle, since, of course, one cannot grasp anything precisely, because there is no unity anywhere. Whatever part of the ὄν one takes in thought (ὃ ἄν τις λάβῃ τῇ διανοἱᾳ, 165 b5) is again dispersed into masses (ὄγκοι) without the one. From a distance such things may appear to be one; but when closely and clearly perceived (ὀξὺ νοοῦντι) each individual thing shows itself to be an indefinite multitude (πλήθει ἄπειρον ἕν ἕκαστον φανῆναι, 165 c2). Also likeness and unlikeness will apply to these things, but only apparently so. Yet unlikeness there will be only because of the appearance of difference (τῷ τοῦ ἑτέρου φαντάσματι, 165 d1; “this semblance of difference”, F. M. Cornford, Plato and Parmenides 1939). All in all, if the one does not exist, but plurality does (εἰ ἑνὸς μὴ ὄντος πολλὰ ἔστιν, 165 d8), then “the other” will appear to contain all contradictory predicates. This “hypothesis” thus reckons with a plurality (πολλά, 165 e1) that cannot clearly be grasped anywhere and eludes thought. Attempts at grasping this are mentioned three times (ὅταν τίς τι λάβῃ τῇ διανοίᾳ, 165 a7–8, b5–6, see also 164 d1–2), and every attempt fails: this multitude eludes thought, which ἐγγύθεν δὲ καὶ ὀξὺ νοῶν (165 c1–2) seeks to grasp something determinate and unique, but instead is offered an ἄπειρον πλήθει. It also seeks to grasp sameness and difference, but is only offered the φάντασμα ἰσότητος, or ἑτερότητος. (165 a2, d1) This indefinite multitude, thus, only offers appearance and is not accessible to thought–is it perhaps ἁπτὸν λογισμῷ τινι νόθῷ, μόγις πιστόν, as it is said of the χώρα in Timaeus (52 b2)? Still, it is not simply nothing, since πᾶν τὸ ὄν (165 b5) disperses here when it is more closely grasped–this only apparently determinate multitude does have some kind of being after all. 2. These “others than the one” (τἆλλα τοῦ ἑνός, 165 c5) of the seventh deduction (“hypothesis”) do not partake of the one, because it does not exist. The “others” can also be without the one supposing that while it is, it is strictly separated from the other things (χωρὶς τὸ ἓν τῶν ἄλλων, 159 b6). This is rehearsed in the fourth deduction (159 b–160 b). In this option the other things do not partake of the one in any way (159 d1) and, consequently, do not have a one (οὐδ᾽ ἔχει ἐν ἑαυτοῖς ἓν οὐδέν, 159 d3–4). But then they are not many either, since they would have to be parts of a whole, which is not possible if the one is completely separated from them (159 d4–7). In the same way, number, and determinations such as like/ unlike, identical/different, moved/unmoved, etc. do not apply. All in all,

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they will not be able to exhibit any of these determinations, since this would already imply partaking of a one, or two, or three (159 d7–160 b1). Is the same thing being described in the seventh and fourth deductions? In both cases the “other things” are considered by themselves without the one. In each case, the presupposition is a different one – in the one case, the one does not even exist; in the other, it does exist, but remains separate. On the other hand, the situation seems to remain the same for the other: it is completely left to its own resources; it is completely without the one. The result, however, does not appear to be the same: in the one case an “other,” that is neither one nor many, nor anything else, remains completely undetermined and undeterminable; in the other case there is an “other” that can never be one, but which is not denied its multiplicity and has not too few, but rather too many determinations – although only apparently so. In actuality the “other” of the seventh deduction also has no determination either. Both considerations of the other “by itself,” that is, without connection to the one, might be demonstrating two aspects of one and the same substrate. In the fourth deduction the question is, what “the other than the one” is without the one and, of course, the answer is that is has no determination. In the seventh deduction the question rather seems to be what it is that thought grasps when it sets aside the one and turns to the “others than the one” exclusively, “by themselves.” The answer is, that the διάνοια now finds everything in the “other”; this is, however, only apparently everything, and so is actually nothing. Perhaps one could say that the aoristos dyas is being considered ontologically in the fourth deduction, and, in comparison to the existing one, reveals itself as undeterminable and as such not existing–but without being the pure nothing of the eighth deduction. In the seventh deduction–perhaps–one could see the same aoristos dyas considered gnoseologically: then it “is” everything, but only apparently so, since, as long as it is by itself, it is lacking the one, which would make of one of its possible determinations an actual one. 3. So much for the “other than the one,” considered by itself. However, the third “hypothesis,” which assumes the one as being (ἓν εἰ ἔστιν, 157 b6) and considers the consequences for the other in light of this presupposition, insofar as it is not separate from the one, but rather partakes of it, is possibly more revealing. This gives rise to the conception of the “other than the one” as one complete whole, which has parts (157 e4–5). That this whole, because of its completeness and unity, has made many interpreters think of the cosmos is not surprising. That the parts of this whole, in turn, are each many (158 b1–4) corresponds to this idea nicely. At 158 b5, Parmenides now takes up the way in which the multitudes can come to partake of the one (μεταλαμβάνει). At the moment at which

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they come to partake (μεταλαμβάνειν), the multitude does not yet have the one: there are πλήθη ἐν οἷς τὸ ἓν οὐκ ἔνι (158 c1). Even the smallest part, were we able to separate it in thought (τῇ διανοίᾳ, 158 c2), would be πλῆθος (158 c4). This is followed by the decisive, and surprisingly clear statement: if we consider “the nature other than the Form” always by itself, then whatever part of it we take into consideration will be ἄπειρον πλήθει (158 c5–7). When such a thing becomes a part of a whole, it will receive πέρας with respect to other parts and the whole. The nature of the “others than the one,” by itself, only gives them ἀπειρία (158 d6, e2), but through a communion (κοινωνησάντων) of the one with the “others than the one” something more comes to be (ἕτερόν τι), which provides them with limit in relation to one another (158 d3–5). Here, too, “the other than the one” is first considered by itself, namely in that moment in which it attains oneness. Here its own nature reveals itself, ἡ ἑαυτῶν φύσις (158 d6, see also κατὰ τὴν ἑαυτῶν φύσιν, 158 e2), and this nature stands for ἀπειρία, unlimitedness. This is clarified even further by the opposition: αὐτὴν καθ᾽ αὑτὴν τὴν ἑτέραν φύσιν τοῦ εἴδους (158 c5– 6). The other than the one thereby has an ascertainable nature–the word φύσις is used three times – even if it can only be defined in contrast to the Form (εἶδος). Limit and Form come from the one, which “communes” with the other. If in conclusion it is said that the other than the one is both as a whole and in its parts unlimited as well as partaking of limit (158 d6– 8), it is clear that this refers to the two levels of a γένεσις; prior to partaking of the one, the other is without limit; afterwards it has both limit and form; it does not have the two contradictory determinations at one and the same time. 4. The doubling of the existing one in the second “hypothesis” has also been seen as referring to the aoristos dyas. Here the ἕν and ὄν are considered parts, μόρια, of the ἓν ὄν, which in this way becomes a whole, ὅλον (142 d1–9). The two parts of the existing one, in turn, are each one and existing, so that again each part is composed of at least two parts (142 e4). Since this consideration applies to every new “part,” the existing one unexpectedly turns into an indefinite multitude, ἄπειρον τὸ πλῆθος (143 a2). Since Aristotle explicitly asserts that both of Plato’s principles are effective in the intelligible as well as the sensible realms,18 those interpreters who find the main features of the realm of the Forms in the second deduction, see the aoristos dyas here as the intelligible matter of the Forms. Doubling (as a specific effect of the dyad, which continuously “makes two”)

18 Aristotle, Met. A 6, 987 b17–22, 988 a7–14.

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can certainly be found here; and the indefiniteness of the result is also accentuated. Some will object that there is no reference to the concept of matter or the “other than the one.” Others will insist that the formulation underlying the whole deduction at least suggests something like a principle opposed to the one: ἔστι δὲ οὐ τὸ αυτὸ ἥ τε οὐσία καὶ τὸ ἕν (142 d2–3). The nonidentity or difference of being and the one presupposes a principle of difference. 5. Lastly, let us take a look at the negation of the determinations μεῖζον καὶ ἔλαττον of the one in the first “hypothesis” (140 b-c). The one can be neither the same as itself, nor different from itself, since then it would have to have the same measure, or the same measures as itself or the others. It cannot be the same, because it does not partake of sameness. The exclusion of difference follows from the exclusion of “greater” and “less” – we are reminded of Aristotle’s assessment that for Plato the second principle was also called the ἄνισον.19 That it is the nature of this principle to fluctuate or oscillate between the more and less, the excelling and being excelled, between the large and the small or the μέγα καὶ μικρόν, is sufficiently well known. Denying the dissimilarity of the one would, thus, be akin to distinguishing between the first principle and the second. (A possible objection to this tentative interpretation would be that paragraph 140 b6–d8 does not indicate that it is supposed to be of such fundamental significance.)

4. The Indefinite Dyad and Plato’s Metaphysics The aoristos dyas is perhaps the most difficult concept of Platonic metaphysics, and the problem that this concept offers is perhaps the most controversial and, at the same time, the most important problem for interpreting Plato. It is easy to reach a consensus on the fact that for Plato the Form of the Good was the presuppositionless τοῦ παντὸς ἀρχή (Pol. 511 b2). Yet at the same time the Republic states very clearly that it would be wrong to consider God the cause of bad things in the world: for these other causes must be sought (τῶν δὲ κακῶν ἄλλ᾽ ἄττα δεῖ ζητεῖν τὰ αἴτια, 379 c5–6). Is the aoristos dyas, which we only know from sources outside of the dialogues, this other cause? Aristotle affirms this with all the clarity one could

19 Aristotle, Met. N 1, 1087 b9–12, 1088 a5; N 4, 1091 b35, N 5, 1092 b1, see also M 7, 1082 a23–25.

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wish for in many places.20 Is he contradicting what is said in the dialogues then? By no means, since no place in the dialogues claims to name the last cause of evils. The Timaeus speaks of a further cause (in the Aristotelian sense) besides the activity of the demiurge, who is ἀγαθός. This other cause is the χώρα, but it is certainly not easy to equate this with the aoristos dyas. The χώρα is not at the same time the material principle of the intelligible realm, as Aristotle claims the dyad to be.21 But it seems one must view the χώρα as a version of the dyad, effective in a subsection of reality. As long as we only look to the Parmenides, we cannot arrive at the concept of the aoristos dyas. But if we already know from other texts how we are to think of the initially puzzling idea of an indefinite dyad, then we find quite a bit that corresponds to it in the Parmenides. Absolute certainty that we are onto the second principle of the ἄγραφα δόγματα in a written dialogue, here, cannot be ascertained, because the second part of the Parmenides passes itself off as mere “gymnasia” (135 d3–7, 136 c4–5). Whatever this might mean positively, this much is clear that this does not promise an analysis of things down to their principles, nor a deduction or construction of the world from these principles. Exactly this, however, is what Sextus’s report intends to offer in an abbreviated form. And this report also turns out to be Platonic, not Pythagorean, exactly because of the use of the term aoristos dyas.

5. The Complementarity Between Sextus’s Report and the Parmenides The enigmatic, dialectical dialogue and the quite straightforward doxographical report somehow complement each other regarding the aoristos dyas: – The report, which aims to be an exposition of the ἀρχαὶ τῶν ὅλων, and which conceptually and in its thought process is reminiscent of the Περὶ τἀγαθοῦ, makes use of the idea of an indefinite dyad (ἀόριστος δυάς), and this can be seen as evidence for its Platonic nature. Nowhere, however, does it make this idea philosophically intelligible. – The dialogue, which does not promise at any point to disclose the principles of things, has several passages that make it possible for us to understand what the inner nature, the essence of an ἑτέρα φὑσις τοῦ

20 Aristotle, Met. A 6, 988 a14; Λ 10, 1075 a35; M 8, 1084 a35. 21 Aristotle, Met. A 6, 988 a12–14.

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εἴδους (“of a nature other than the form”) might be, and to understand that the communion of two components is necessary for anything to come into being. But exactly what comes to be is not ontologically classified in an unambiguous way, nor are we told what the best term for that “other nature than the form” would be. It should also be clear that the derivation of the “other nature than the form” from the one–that is, the typical “Neopythagorean” and Neoplatonic monism of principles– could have no place in the Parmenides. One does not get the impression that Sextus’s report is indebted to the way of thinking and manner of presentation in the Parmenides. The report’s core must be old. It divorces the doctrine of the Forms, as Platonic, from the search for the principles of the “Pythagoreans,” divorcing, in fact, the dialogues of Plato from his theory of principles. That one could attain the doctrine of the principles and unveil Plato’s entire ontology using one dialogue, say the Parmenides – as seems to be the case in Moderatus’s report– was certainly far from the intention of the author of the core of Sextus’s report. Modern speculations that all of Neoplatonism could possibly be based on a (mis-)interpretation of the Parmenides are hardly credible. In searching for Plato’s second principle–for the ἄλλ᾽ ἄττα αἴτια responsible for bad things–we encounter texts, which according to their letter and spirit, are miles apart from each other. It is pointless to insist singlemindedly on the authenticity of the Parmenides and to turn the later revision of Sextus’s report against it. Both texts are Platonic in what they present, even if they differ in intention and strategy. Furthermore, the “gymnasia” for the inexperienced Socrates and the even more inexperienced young Aristotle cannot be viewed as the only authoritative pure source for Platonic philosophy, so long as it does not provide us with the key for its own decryption. That we conceive of the aoristos dyas in such completely different ways surely has something to do with the contingencies of the tradition, but perhaps it also has to do with the ἑτέρα φύσις itself; only the person who hopes to find this in one guise alone, forgets that it is other than the Form, that is, other than what is clear and unambiguous. Translated by Alexander G. Cooper, Emory University

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31. Platonische Dialektik: der Weg und das Ziel (2005)*

Die durch ‚Dialektik‘ ermöglichte Erkenntnis der Ideenwelt ist die Voraussetzung der von Platon als Ziel der philosophischen Existenz geforderten ‚Angleichung an Gott‘ (ὁμοίωσις θεῷ). So klar die grundlegende Bedeutung der Dialektik ist, so deutlich wird auch die Entscheidung Platons, sie dem Bereich der Mündlichkeit vorzubehalten. Eine zusammenfassende Orientierung über Eigenart, Wege und Arten der Dialektik wird im Dialogwerk nur einmal vom Gesprächspartner gefordert und vom Gesprächsführer sogleich abgelehnt (Politeia 532 d–533 a). Gleichwohl erlauben die verstreuten Hinweise der Dialoge, in aller Vorsicht ein Gesamtbild der Dialektik zu entwerfen, was hier in zehn Punkten versucht wird, die u. a. ihre Methodik, ihre Teildisziplinen, ihre Durchführbarkeit und schließlich ihre Selbsttranszendierung in der Ideenschau (θέα) thematisieren.

1. Dialektik als Aufgabe Das Schicksal des Menschen, von dem Sokrates erzählt, daß er, von den Fesseln befreit, aus der Höhle hinaufgestiegen war ans Licht der oberen Welt und dort schließlich der Sonne selbst ansichtig geworden war und sie als Ursache in gewissem Sinne von allem, was er gesehen hatte, erkannt hatte, und der dann freiwillig hinabgestiegen war an seinen Ausgangspunkt, ist im Höhlengleichnis bekanntlich kein anderes als das Schicksal des Sokrates selbst: beim Versuch, ihre Fesseln zu lösen, wird er von den ‚ewigen Gefangenen‘ umgebracht (Politeia 517 a5–7). In einem künftigen idealen Staat hingegen erwartet den Dialektiker, der bis zur Erkenntnis der Idee des Guten als Prinzip von allem aufgestiegen war und gleichwohl wieder ‚herabstieg‘ und die Mühe des Regierens auf sich nahm, eine ganz andere Bestimmung: die Philosophenherrscher wechseln im Tod über auf die Inseln der Seligen, die Stadt aber sorgt für Denkmäler und Opfer, als für daimones, also Wesen zwischen Göttern und Menschen, falls die Pythia dem zustimmt, andernfalls als für glückselige

* Vortrag, gehalten am 25.4.2002 als Teil einer Vorlesungsreihe über Platon im Rahmen des Studium Generale der Universität Tübingen.

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und göttliche Menschen (Politeia 540 b6–c2). Heroisierung und staatlicher Kult ist also das Los des Dialektikers nach seinem Tod. Der Dialektiker ist mithin ein Mensch, der den Bereich des Menschlichen in irgendeinem Sinne verläßt. Er wird auf eine Stufe gehoben, die die menschliche Existenz übersteigt und die ihn in die Nähe des Gottes bringt: er wird daimon. Handelt es sich hier um eine antizipierende Mystifizierung der künftigen, bloß utopischen Figur des Philosophenherrschers? Auch zu Beginn des Dialogs Sophistes, in einer recht ‚realistischen‘, in keiner Weise ‚mystifizierenden‘ Szene, sagt der Mathematiker Theodoros, für ihn seien alle Philosophen ‚göttlich‘ (216 c1). Und Sokrates sagt im Phaidros, wenn er jemanden für einen Dialektiker halte, so folge er seiner Spur wie der eines Gottes (266 b6–7). Die Rechtfertigung solcher Redeweise, die auf uns Heutige definitiv befremdlich wirkt, gibt Sokrates in der Politeia: die Gegenstände, denen der Philosoph sich zuwendet, sind göttlich, der Mensch gleicht sich aber stets dem an, was er bewundernd verfolgt. So wird der Philosoph durch Angleichung an das Göttliche – oder, wie es anderswo auch heißt: durch Angleichung an Gott, ὁμοίωσις θεῷ (Tht. 176 b1) – selbst nach Möglichkeit ‚göttlich‘ (Politeia 500 b8–d2). Was hier als Tatsache und realer Vorgang hingestellt ist, läßt sich natürlich auch als Aufgabe formulieren. Wir sollen unsere ursprüngliche Natur wiederherstellen, so lesen wir im Timaios, indem wir unsere durcheinandergeratenen Denkbewegungen ausrichten an den harmonischen Umläufen des Alls, wodurch das Erkennende dem Erkannten gleich wird und wir das gottgesetzte Ziel des bestmöglichen menschlichen Lebens erreichen (Tim. 90 b1–d7, bes. d1ff.; ähnlich Politeia 611 b10–612 a6). Hier begegnen wir dem dynamischen Menschenbild Platons: der Mensch muß sich selbst erst formen (ἑαυτὸν πλάττειν Politeia 500 d6, vgl: 540 b1, 592 b3, Phdr. 252 d7), er definiert sich durch seinen ‚Umgang‘ (ὁμιλία 611 e2, vgl. 500 c6, 9). Darin liegt ein starker Appell: wir sollen das Geistige suchen, weil wir so unsere alte, wahre Natur wiederfinden werden. Und so wahr nichts und niemand sein eigentliches Wesen verlieren will, streben wir alle nach Erkenntnis des Intelligiblen und Immerseienden und ‚Göttlichen‘, wozu letztlich Dialektik nötig ist. Der erste Satz der aristotelischen Metaphysik meint nichts anderes: πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“.

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31. Platonische Dialektik: der Weg und das Ziel

2. Wie wird man Dialektiker? Die Mündlichkeit der Dialektik Wir sollen also Dialektiker werden, weil wir es unserer wahren Natur nach eigentlich schon sind. Und wie werden wir Dialektiker? Für den heutigen Platoniker scheint nichts näher zu liegen als die Antwort: durch Lesen der Dialoge. Denn in den Dialogen ist die Dialektik Platons enthalten – sollte man denken –, und was in einer Schrift aufbewahrt ist, läßt sich dem aufgeschlossenen Leser auch vermitteln im Sinne eines erstmaligen Erweckens genuin philosophischer Einsicht. Ich persönlich hätte gegen diese Auffassung nichts einzuwenden. Platon lesen empfehle ich schon lange allen, und betreibe es selbst leidenschaftlich gerne. Es gibt aber einen, der in beiden Punkten widerspricht, auch wenn er damit selten ernst genommen wird: die Dialektik Platons sei nicht in den Dialogen zu finden, und die Schrift sei prinzipiell nicht geeignet, erstmalig genuine Erkenntnis zu vermitteln. Dieser eine – dieser Quertreiber – ist, wie man weiß, Platon selbst. Drei seiner Äußerungen zu dieser Frage will ich kurz in Erinnerung rufen. (1) Im siebten Buch der Politeia verlangt Glaukon von Sokrates eine Darstellung der Art (τρόπος) des Vermögens der Dialektik, ihrer Gliederung in εἴδη, sowie ihrer ‚Wege‘ (ὁδοί). Die Darstellung soll so sein wie die soeben gegebene Darstellung der propädeutischen mathematischen Studien (532 d6–e1). Wenige Interpreten machen sich klar, was das heißt: die mathematischen Studien wurden nur von außen geschildert, ihr Verfahren nur ganz allgemein charakterisiert, die einzelnen Disziplinen nur ganz grob skizziert (Politeia 522 c–531 d) – in keiner Weise stieg Sokrates in die Mathematik selbst ein. Solch eine knappe Skizze ‚von außen‘ wünscht sich Glaukon auch von der Dialektik. Seine Bitte ist also ausgesprochen bescheiden. Aber auch so schlägt sie ihm Sokrates rundweg ab: „Lieber Glaukon, sagte ich, du wirst nicht mehr in der Lage sein zu folgen – denn meinerseits würde es keineswegs an Bereitschaft fehlen“ (533 a1–2). Die Bitte des Glaukon ist, wenn ich nichts übersehen habe, die einzige Stelle in Platons Werk, an der der Leser für einen Augenblick auf eine autoritative Erklärung der Eigenart (τρόπος) und einen in den Hauptpunkten vollständigen Überblick über die ‚Arten‘ und ‚Wege‘, also wohl die Frageweisen oder Teilgebiete (εἴδη) und die Methoden (ὁδοί) der Dialektik hoffen darf. Keine andere Stelle in irgendeinem Dialog erweckt eine solche Erwartung – abgesehen natürlich von den Dialogen Sophistes und Politikos, die als ganze den Eindruck erwecken, Teil 1 und 2 einer Trilogie zu sein, deren dritter Teil den Titel „Philosophos“ haben

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wird. Aber dieser Dialog „Philosophos“ existiert nun einmal nicht – Platon hat ihn vermutlich nur im fiktiven dramatischen Kontext, nicht aber realiter geplant –, und in den anderen beiden gibt es keinen Passus, der eine umfassende Beschreibung in Aussicht stellen würde.1 Um so auffälliger und wirkungsvoller ist die Gestaltung der zweifellos wohlkalkulierten Aussparungsstelle im 7. Buch der Politeia: mit dem Gesprächspartner Glaukon macht sich auch der Leser eine Erwartung zu eigen, deren glatte Zurückweisung die Lücke umso fühlbarer werden läßt, die die Politeia und das gesamte Schriftwerk Platons hinsichtlich einer detaillierten Vorstellung der Dialektik als des höchsten μάθημα läßt. (2) Im Phaidros sagt Sokrates, der Dialektiker werde es so machen wie ein kluger Bauer, der es vermeidet, das Saatgut, an dem ihm gelegen ist und von dem er Ertrag erwartet, ernsthaft in Adonisgärten zu säen, in denen die Pflanzen zwar binnen acht Tagen hübsch aufschießen, aber ertraglos bleiben. Ebenso werde der Dialektiker seine ‚Adonisgärten‘, d. h. seine Schriften, nur spielerisch bepflanzen, während sein Ernst der Ausübung der Kunst der Dialektik vorbehalten bleibt, der im Gleichnis wiederum der seriöse Landbau entspricht (Phdr. 276 b1– e7). Es heißt den Sinn des Gleichnisses verfehlen, wenn man, wie es oft geschieht, die Interpretation einzig auf den Gegensatz ‚spielerisch – ernsthaft‘ ausrichtet. Dann kommt man zu der Auffassung, daß der Dialektiker alles, was er zu sagen hat, in seinen Schriften niederlegt, nur in verspielter oder spielerischer Haltung, während der nicht-philosophische Autor zwar dasselbe tut, aber mit vollem Ernst. Wenn es allein um den Gegensatz ‚Ernst – Spiel‘ ginge, dann wäre das Gleichnis vom Bauern überflüssig, ja sogar störend, denn die beiden Bauern, der kluge und der törichte, tun ja im Gleichnis durchaus nicht dasselbe mit ihrem Saatgut, während der Philosoph und der Nichtphilosoph in dieser Deutung faktisch dasselbe tun – sie veröffentlichen al-

1 Den Eindruck einer umfassenden Aufzählung machen die vier Erfordernisse an den Dialektiker (Soph. 253 d5–e2). Indes betreffen sie alle das κατὰ γένη διαιρεῖσθαι (253 d1), was nicht die Gesamtheit der Aufgaben der Dialektik ausmacht. Außerdem verspricht die notorisch dunkle Stelle – zur Interpretation vgl. Margarita Kranz: Das Wissen des Philosophen. Diss. Tübingen 1986, 61f. – keineswegs eine Explikation der allzu knapp umschriebenen vier Aufgaben im vorliegenden Dialog, vielmehr wäre das mit Sicherheit ein Thema für den nicht geschriebenen Dialog Philosophos, auf den kurz darauf verwiesen wird (254 b3–4).

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les –, nur nicht in derselben Haltung.2 Der Gegensatz ‚Spiel – Ernst‘ reicht also nicht. Und in der Tat ist durch die Einführung der Adonisgärten zugleich und zuvor schon ein anderer Gegensatz eingeführt, den der antike Leser unmittelbar verstand, weil er den Ritus der Adonisgärten kannte. Es ist der Gegensatz zwischen dem geringen Teil des Saatgutes, der ins Adonisgärtchen geht, und dem Großteil der Saatkörner, die auf dem Acker ausgebracht werden. Die Option, allen Samen in Adonisgärtchen auszubringen, aber eben spielerisch, gibt es für den klugen Bauern einfach nicht, denn so hätte er im nächsten Sommer keine Ernte, seine Familie müßte verhungern – und er wäre eo ipso nicht der νοῦν ἔχων γεωργός, der vernünftige Bauer. Wenn wir das Gleichnis vom Bauern also nicht funktionslos machen wollen, so müssen wir anerkennen, daß Platon damit ebenso auch auf der Seite des Dialektikers die Option ausschließt, alles ‚Saatgut‘, d. h. die Gesamtheit seiner dialektischen Gedankengänge, Analysen und Beweisführungen, der Schrift anzuvertrauen. Ein Teil davon, und zwar der weit größere Teil, kann Ertrag nur dann bringen, wenn er in den richtigen Boden, d. h. in die Seelen geeigneter Hörer, ‚gepflanzt‘ wird, und zwar mit der richtigen Methode, der mündlichen διαλεκτικὴ τέχνη oder ‚Kunst der Unterredung‘. (3) Die dritte Stelle, an die ich erinnern möchte, ist der Schluß des ‚philosophischen Exkurses‘ im 7. Brief. Wer Vernunft hat, wird das wahrhaft Ernsthafte und sein Ernsthaftestes (τὰ ὄντως σπουδαῖα, τὰ σπουδαιότατα 344 c2/6) nicht in die Schrift geben (344 c1–d2, vgl. 343 a1–4). Wieder der Appell an die Vernunft, wie beim vernünftigen Bauern. Ein anderes Verhalten wäre also denkbar, die fraglichen Inhalte ließen sich mit Sicherheit verschriftlichen und verbreiten. Aus Vernunft, und das heißt ebenso: aus freiem Willen, wird der Dialektiker darauf verzichten. Wozu diese Einschränkungen an den drei genannten Stellen? Einen Teil der Antwort kennen wir schon aus der ersten Stelle: „Du wirst nicht mehr in der Lage sein zu folgen“, sagt Sokrates zu Glaukon. Was dort personalisiert ist, auf ein bestimmtes Individuum zugeschnitten, wird im 7. Brief generalisiert: die Gegenstände von Platons ‚Ernst‘ bringen immense Schwie-

2 Vgl. hierzu: Thomas Alexander Szlezák: Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–4. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 259–267. (Dieser Beitrag ist Teil einer Diskussion über den Sinn der Schriftkritik zwischen Wilfried Kühn und mir, die jetzt in französischer Übersetzung geschlossen abgedruckt ist in der Revue de philosophie ancienne 17/2 (1999), 3–62.).

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rigkeiten mit sich. Das Schlimmste ist, daß bloße Intelligenz nicht genügt: der Text fordert außerdem eine spezifische ‚Verwandtschaft‘ mit der Sache (344 a2–b1), was – in Übereinstimmung mit dem Katalog der für die Herrscher erforderlichen Tugenden in der Politeia (485 a–487a) – einschließt, daß der künftige Dialektiker sich auch sittlich geläutert hat. Die Gegenstände der Philosophie einerseits und die menschlichen Erkenntnismittel andererseits sind so beschaffen, daß sich philosophische Einsicht nie erzwingen läßt. Wer blockieren will, wer auf sophistische Obstruktion aus ist, wird vor Nichtphilosophen stets siegreich dastehen (343 c5–344 c1). Durch die Schrift, die sich bekanntlich nicht selbst verteidigen kann (Phdr. 275 e), wird der Eindruck der Hilflosigkeit des Dialektikers vor unsachgemäßer Kritik noch verstärkt. Geschriebenes kann die Wahrheit nicht hinreichend lehren (Phdr. 276 c8–9). Daher der Appell, diese Form der Verbreitung für die wichtigsten Themen gar nicht erst zu wählen – ganz abgesehen davon, daß auch die Würde des Gegenstandes eine Profanierung verbietet (Epist. 7, 344 d7–9). Wir Heutige sind, so scheint es, von einem authentischen Zugang zu Platons Dialektik ausgeschlossen. Wir müssen eine andere Zugangsart suchen als die der direkten Belehrung durch das Buch.

3. Wie wurde man Dialektiker zu Platons Zeit? Das philosophische συζῆν Fragen wir uns daher kurz, wie man Dialektiker wird – oder wurde – nach dem Zeugnis der Dialoge. Sie bieten in dieser Frage ein zweifaches Bild. (1) Zu Lebzeiten des Sokrates kann nur der Umgang mit ihm das Entscheidende gewesen sein. Die unbedingte Entschlossenheit der Personen in den Rahmengesprächen der Dialoge Symposion, Theaitetos und Parmenides, an authentische Berichte über Gespräche mit ihm heranzukommen, zeigt das zur Genüge. Sokrates’ Bereitschaft, seinen Begriff von Dialektik darzulegen, bezeugt er gegenüber Glaukon (Politeia 533 a2). Indes ist der ‚längere Weg‘ der Dialektik nicht von der Art, daß er in einem der Dialoge, die stets nur Einzelgespräche darstellen, begangen werden könnte. Darauf weisen die Dialoge selbst immer wieder hin (Politeia 435 c9–d3, 504 b1–d1, 506 d8–e3, Phaidros 246 a4–6, vgl. 274 a2, Tim. 48 c5, vgl. 28 c3–5). Im Theaitetos erwähnt Sokrates auch die Möglichkeit des längeren Umgangs mit ihm. Ein sicherer Weg zur Dialektik war das indes für niemanden, und zwar deswegen, weil über den Erfolg, ja über die Durchführung selbst letztlich ‚der Gott‘ und das Daimonion des Sokrates entschieden (Tht. 150 d4, 8. 151 a2–5). Wir begegnen hier der platonischen Überzeu-

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gung – von ‚Sokrates‘ in quasi-biographischer Manier ausgedrückt –, daß das Gelingen des dialektischen Philosophierens weder in der Hand des Adepten liegt, noch in der des Lehrers allein, auch nicht von beider Zusammenwirken garantiert wird, sondern in ganz entscheidendem Maß vom ‚Göttlichen‘ abhängt. (2) Im Idealstaat wird sich wohl niemand auf sein Daimonion berufen, vielmehr werden die Herrschenden ganz gezielt alle Unwürdigen und Ungeeigneten von der ‚genauesten Erziehung‘, d. h. von der Ausbildung in Dialektik, fernhalten (Politeia 503 d7–9). Sokrates versteht das als die unerläßliche Korrektur des heutigen Mißstandes, des νῦν περὶ τὸ διαλέγεσθαι κακὸν γιγνόμενον (537 e1–2), nämlich daß jeder Beliebige, der mit der Sache nichts zu tun hat, zur Dialektik zugelassen wird (539 d5–6). Der Ausschluß der unreifen Jugendlichen ist die eine Vorsichtsmaßnahme (εὐλάβεια 539 b1), die andere die strenge Auslese unter den reiferen Anwärtern. Dialektik verlangt sittlich hochstehende und stabile Charaktere (539 d4–5). Der Sinn der Vorsichtsmaßnahmen ist ein doppelter: sie nützen den Kandidaten, indem sie ihnen die charakterliche Entstellung, die die Perversion der Dialektik zur Antilogik und Eristik mit sich bringt, ersparen, und sie heben das gesellschaftliche Ansehen des Geschäftes des Philosophierens (539 c8–d1). Eine nicht ausgesprochene Konsequenz der Vorsichtsmaßnahmen ist, daß es im Idealstaat keine schriftlichen Darstellungen zu den Kernbereichen der Dialektik geben wird. Denn Bücher können sich überall herumtreiben, das wußte Platon – er sagt es ja im Phaidros (275 e1) –, und wenn die Ungeeigneten solche Bücher in die Hand bekämen, drohte der Rückfall in die alten Zustände. Was Platon über Sokrates und über die Verhältnisse im Idealstaat sagt, können wir nicht unmittelbar auf die Lehre in der Akademie übertragen. Falsch wäre es aber auch, so zu tun, als wäre schon bewiesen, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun haben könne. Maßvoller und realistischer als die beiden Extrempositionen scheint mir die Annahme, daß Platon jedenfalls ernsthaft bemüht war, all das von den optimalen Verhältnissen in seiner Akademie zu verwirklichen, was sich erreichen läßt ohne einen Sokrates mit seinem unfehlbaren Daimonion zur Hand zu haben und ohne den Idealstaat gleich selbst zu errichten. Unter dieser Annahme kommen wir zu etwa folgendem Bild vom Dialektik-Studium in der Akademie. Der Dialektiker lehrt λαβὼν ψυχὴν προσήκουσαν (Phdr. 276 e6), „indem er eine geeignete Seele wählt“. Dialektik war kein Kurs, für den man sich einschreiben konnte. Die Auslese unter den Interessenten und das ständige Testen der Auserlesenen, also die ἐκλογή und das βασανίζειν, von dem in der Politeia so viel geredet wird, hängen nicht vom Vorliegen idealstaatli-

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cher Verhältnisse ab. Ungeeignete ausschließen kann man auch ohne ein Daimonion. Die πεῖρα, die Probe, der der Tyrann Dionysios II. unterzogen wurde, gehörte nach dem 7. Brief zur Methode Platons (340 b4–341 a7). Die Peira ist als Kommunikationsprozeß, der die Sache der Philosophie im Auge behält, durchaus ein Teil der Dialektik. Zu den Kriterien der Auswahl gehörte auch die moralische Verfassung der Interessenten. Ein Chaos im Inneren macht das Philosophieren unmöglich. ‚Verwandtschaft‘ zur intendierten Sache muß bestehen. Intelligenz allein genügt nicht. Wer das verstanden hat, wird sich über esoterische Handhabung der Inhalte nicht mehr wundern: der Autor eines Buches kann schließlich nie wissen, in welchem moralischen Zustand sich die künftigen Leser befinden werden. Dialektik betreiben ist ein Prozeß unter Freunden, der immense Zeit – im idealen Fall ein Leben – in Anspruch nimmt. Der Siebte Brief spricht von viel gemeinsamem Bemühen um die Sache und von philosophischem Zusammenleben (συζῆν, 341 c7). Daß hierfür mehr noch als der Kreis um Sokrates die pythagoreischen Freundschaftsbünde als Vorbild dienten, ist biographisch sehr wahrscheinlich. Platon schätzte τοὺς ἐν Τάραντι ξένους τε καὶ ἑταίρους, die Gastfreunde und Gefährten in Tarent um Archytas (7. Brief, 339 e2–3 mit d2). Dialektik als Verständigungsprozeß unter Gleichgesinnten bedarf keiner Bücher. Der scheinbar projektierte Dialog Philosophos wurde nie geschrieben, auch die nur von außen abschildernde Skizze der gesamten Dialektik, die Glaukon verlangt, liegt nirgends schriftlich vor. Aber Dionysios II. muß wohl genau so etwas mündlich vorgetragen bekommen haben, denn von der Peira wird gesagt, man müsse den Aspiranten zeigen, was die ganze Beschäftigung ist, mit welchen Schwierigkeiten verbunden und wie schwierig (340 b7–c1).3 Nach diesem Gespräch schrieb Dionysios ein Buch über das, was er von Platon gehört hatte, während Platon versichert, es ge-

3 Die in der indirekten Überlieferung gut bezeugte Vorlesung Über das Gute kann wie die Peira einen summarischen Überblick über Platons Prinzipienphilosophie geboten haben, jedenfalls in einer kürzeren Fassung für den öffentlichen Vortrag, von der Aristoxenos zu berichten scheint (Harm. elem. II, p. 30 Meibom = Test. Plat. 7 Gaiser). Simplikios spricht freilich von Nachschriften der Vorlesung durch Speusippos, Xenokrates, Aristoteles, Herakleides und Hestiaios (In Arist. Phys. 151, 8–10 und 453, 28–30 Diels = Test. Plat. 8 und 23 B Gaiser). Diese Fassungen müssen über einen knappen Überblick wesentlich hinausgegangen sein (insbesondere die des Aristoteles, die nach Diogenes Laertios 5.22 drei Bücher umfaßte); sie werden den nichtöffentlichen συνουσίαι Platons in der Akademie entsprochen haben.

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be keine Schrift (σύγγραμμα) von ihm darüber, und es werde auch keine geben (341 b3–5, c4–5). Was sollen wir tun angesichts dieser Erklärung? Wir verstehen jetzt, daß Dialektik ein Prozeß philosophischer Verständigung in langen συνουσίαι ist. Der Prozeß hat zwar zu tun mit konkreten, schriftlich fixierbaren Inhalten. Diese sollen jedoch, da die schriftliche Fixierung das Einsichtgewinnen als solches niemals mitliefern kann, vom vernünftigen Autor nicht niedergeschrieben werden. Die Gefahr des Mißbrauchs durch verständnislose und böswillige Rezipienten wäre zu groß. Dialektik läßt sich also verschriftlichen ihren Inhalten nach, und zugleich läßt sie sich nicht verschriftlichen ihrem Wesen nach, denn die Seinsweise der Dialektik ist lebendiges Denken, ein Prozeß in der Seele (vgl. Epist. 7, 344 c7–8), der als solcher in die toten Schriftzeichen nicht eingeht. Und das ist der entscheidende Gesichtspunkt für Platon. Er blieb bis zum Schluß bei seiner Weigerung, eine Schrift zu liefern über das, περὶ ὧν ἐγὼ σπουδάζω, womit ihm Ernst war.

4. Die verstreuten Hinweise der Dialoge Muß diese Weigerung den Endpunkt unserer Bemühungen um Platons Dialektik bedeuten? Zum Glück nicht. Denn wenn die Schrift auch das philosophisch Entscheidende nicht mitliefern kann, so kann sie doch eines: Informationen aufbewahren, die den Wissenden an etwas erinnern, was er auf andere Weise schon erworben hat – so lesen wir es im Phaidros (ὑπομνήματα 276 d3, εἰδότων ὑπόμνησις 278 a1). Gehen wir also versuchsweise davon aus, daß die Dialoge trotz Platons Mißtrauen gegen die Erkenntnisleistung der Schrift Passagen enthalten, die an seinen Dialektikbegriff ‚erinnern‘ möchten. Eine kleine Schwierigkeit bleibt auch so (ein echt sokratisches σμικρόν τι): keiner von uns Heutigen kann für sich beanspruchen, ein ‚Wissender‘ (ein εἰδώς) zu sein hinsichtlich der genuin platonischen Dialektik, so daß er nur daran erinnert zu werden braucht. Folglich wird es Unsicherheiten geben schon bei der Auswahl der Stellen, die wir in Betracht ziehen wollen. Wir können nur vermuten, daß bestimmte Stellen als Erinnerungshilfen, ὑπομνήματα, für schon Wissende gedacht sind. Die Verwendung von Schlüsselwörtern wie διαλεκτικὴ ἐπιστήμη oder ἡ τοῦ διαλέγεσθαι δύναμις ist kein sicherer Leitfaden, einmal weil Platon Wichtiges sagen kann auch ohne eine bestimmte Terminologie zu benützen, sodann weil die Abgrenzung des Relevanten in jedem Fall ein Problem bleibt. Es kommt hinzu, daß der für den Dialektikbegriff so wichtige Dialog Phaidros die Explikation mit der Feststellung be-

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ginnt, Sokrates’ Eros-Reden enthielten Beispiele dafür, wie der Dialektiker (der εἰδὼς το ἀληθές) seine Hörer spielerisch in die Irre führen könne – das gehöre zur philosophischen Kunst der Rede (262 c10–d6). Eine Schwierigkeit ganz anderer Art besteht darin, daß, wie erwähnt, keine der Stellen, von denen wir vermuten, daß sie ὑπομνήματα an Platons Dialektikbegriff sein wollen, den von Glaukon gewünschten summarischen Überblick über das Ganze enthält. Folglich bleibt die Zusammenordnung der verstreut gebotenen Teilaspekte zu einem Ganzen immer die Aufgabe des Interpreten. Ungeachtet dieser Hindernisse und Gefahren sei die Frage gewagt, was wir trotz Platons Weigerung, ein autoritatives Gesamtbild zu geben, von seiner Dialektik wissen können. Ich hoffe unter den folgenden zehn Gesichtspunkten das Wichtigste benennen zu können. (1) Die platonische Dialektik ersetzt eine schon bestehende ältere Disputierkunst. Platon belegt diese mit den Namen ἀντιλογική und ἐριστικὴ τέχνη, Widerspruchs- und Streitkunst. Sie wird von intellektuell und moralisch fragwürdigen Typen betrieben, die Platon im Euthydemos sehr ausführlich, zugleich aber auch höchst kurzweilig porträtiert. Sie sind in allem das genaue Gegenbild des Philosophen.4 Die Antilogik wird gerne aufgegriffen von streitlustigen jungen Leuten, auf die sie jedoch eine intellektuell verwirrende und moralisch zersetzende Wirkung hat. Hübsche Karikaturen der Disputiermanie junger Eristiker finden sich im Sophistes (259 cd) und besonders im Philebos (15 e–16 a). Gleichwohl betont Platon nicht allein den Gegensatz zu seiner Dialektik, er weiß auch um die Kontinuität. Im 7. Buch der Politeia wird davor gewarnt, die ‚jetzt‘ üblichen Fehler im Umgang mit den Logoi und mit τὸ διαλέγεσθαι im Idealstaat fortzusetzen (537 e–539 d) – das klingt fast so, als wären Antilogik und Dialektik im Grunde dasselbe, nur bedürfe es gewisser Vorsichtsmaßnahmen (s. oben zu εὐλάβεια 539 b1) gegen möglichen Mißbrauch. Noch mehr betont die Kontinuität der Dialog Parmenides, wo 4 Daß sich das Bild der Eristiker im Euthydemos und das Bild des Philosophen im Phaidros in allen Details exakt entsprechen wie das Negativ und das Positiv derselben Fotografie, habe ich im einzelnen nachgewiesen. Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Sokrates’ Spott über Geheimhaltung. Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos. In: Antike und Abendland 26 (1980), 75–89; vgl. auch Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 49–65. Diese spiegelbildlich genaue Entsprechung des negativen Eristikerbildes mit dem positiven Philosophenbild machte dann Th. H. Chance zum Grundgedanken seines Euthydemus-Buches (Plato’s Euthydemus. Analysis of What Is and Is Not Philosophy. Berkeley 1992).

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der Vertreter der unzureichenden Dialektik kein fragwürdiger Sophist ist, sondern Zenon von Elea. Dessen älterer Freund Parmenides versichert dem jungen Sokrates, daß die Methode (der τρόπος) bei seiner dialektischen Übung die gleiche bleibe wie bei Zenon – nur daß die Wendung weg von den Sinnendingen und hin zu den Ideen, die Sokrates in scharfer Kritik an Zenon gefordert hatte (129 a1–130 a2), von Parmenides problemlos übernommen wird (135 d7–e4), zweifellos weil sie ihm selbst bereits vertraut ist (vgl. 130 a3–7, 135 b5–c3). Wir haben also dasselbe Verfahren, aber eine andere ontologische Orientierung und damit letztlich einen anderen Gegenstand der Dialektik. Denn während es sehr leicht ist, von einem wahrnehmbaren Einzelding zu zeigen, daß es eines ist und zugleich vieles, und überhaupt alle gegensätzlichen Prädikate gleichzeitig hat, wird das Verhältnis von Einheit und Vielheit in Anwendung auf die Ideen zu einem philosophisch alles entscheidenden Problem (Parm. 129 b1–d6, ähnlich Phil. 14 c1–15 c3). Diese Übertragung zenonischer Frageweisen auf den Bereich des Intelligiblen bedeutet für die alte Dialektik einen qualitativen Sprung, der übrigens mit dem historischen Sokrates nichts zu tun hat, sondern allein Platon verdankt wird. Aristoteles, der sehr wohl wußte, daß Zenon der Urheber der Dialektik alten Stils war, sagt von Sokrates, zu seiner Zeit sei die διαλεκτικὴ ἰσχύς noch nicht hinreichend entwickelt gewesen (Met. M 4, 1078 b25f.), und im Platon-Kapitel des ersten Buchs der Metaphysik sagt er schlicht οἱ γὰρ πρότεροι διαλεκτικῆς οὐ μετεῖχον, „die Früheren hatten nicht Teil an der Dialektik“ (Met. A 6, 987 b32f.). (2) Platons Bezeichnung für seine neue Disziplin ist ἡ διαλεκτικὴ μέθοδος (z. B. Politeia 533 c7), ‚das dialektische Verfahren‘ bzw. ‚das Unterredungsverfahren‘, oder auch ἡ διαλεκτικὴ τέχνη (Phdr. 276 e5f.), ‚die dialektische Kunst‘ bzw. ‚die Unterredungskunst‘, wobei das Wort τέχνη auch wegfallen kann: ἡ διαλεκτική (ohne Zusatz) heißt die fragliche Bemühung etwa im zusammenfassenden und wertenden Schlußsatz der Ausführungen des Sokrates über die μαθήματα, in denen die Herrscher im Idealstaat auszubilden sein werden (Politeia 534 e3). Häufig begegnen wir auch der neutralen Bezeichnung ἡ τοῦ διαλέγεσθαι δύναμις, ‚das Vermögen des Sich-Unterredens oder Sich-Unterhaltens‘ (Politeia 511 b7, 532 d8, 537 d5, Phil. 57 e7, Parm. 135 c2). Fragt man aber nach dem epistemologischen Anspruch dieses ‚Vermögens‘, so geben die weiteren Bezeichnungen ἡ διαλεκτικὴ ἐπιστήμη (Soph. 253 d2–3) und ἡ τοῦ διαλέγεσθαι ἐπιστήμη (Politeia 511 c5) Auskunft. Platons ‚Vermögen‘, ‚Verfahren‘ oder ‚Kunst‘ der Unterredung beansprucht also ἐπιστήμη, sicheres Wissen, Wissenschaft zu sein. Sie beansprucht es so emphatisch, daß die bisher für die mathematischen Disziplinen gebrauchte Bezeichnung ἐπιστήμη diesen abgesprochen und durch die bescheideneren Bezeichnungen διάνοια und τέχνη ersetzt

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wird (Politeia 533 d4–6). Nur die Ideenerkenntnis schafft ἐπιστήμη in der Seele, nur die διαλεκτικὴ μέθοδος führt zur Ideenerkenntnis und zum Prinzip, zur ἀρχή (Pol. 533 c7–8). Ein eigener, wenn auch knapper Nachweis, daß eine ἐπιστήμη nötig ist für die Betrachtung der Kombinierbarkeit der μέγιστα γένη oder höchsten dialektischen Begriffe findet sich im Sophistes (253 b8–c5). Der Gast aus Elea bedient sich dabei der Analogie der Wissenschaft der Grammatik: so wie diese die στοιχεῖα (die letzten, nicht weiter zerlegbaren Bestandteile) der Sprache aufspürt und die Gesetze ihrer Kombinierbarkeit erforscht, so verfährt die Dialektik mit den στοιχεῖα der gesamten Wirklichkeit. Als der letztlich einzigen Disziplin, die den Namen ἐπιστήμη verdient, kommt der Dialektik der höchste Grad von Genauigkeit (ἀκρίβεια, vgl. Pol. 504 e2–3) und Klarheit und Evidenz (σαφήνεια, 511 e3, 533 e4, vgl. Phil. 57 e3–58 a5) zu. (3) Das dialektische Verfahren ist umfassend. Das ist der Punkt, der in allen Texten zur Dialektik vielleicht mit der größten Konstanz und Eindringlichkeit betont wird. Weder der Sophist noch sonst irgendein γένος, so lesen wir im Sophistes, wird sich jemals rühmen können, der DihairesisMethode, die die Begriffe nach Gattung und Art eingrenzt, entkommen zu sein (235 c4–6). Das Ziel dieser umfassenden Methode ist die Definition, daher ist es nur folgerichtig, wenn gesagt wird (Parm. 135 a2–3, d1), daß Definitionen von allen Ideen angestrebt sind. Ohne den Durchgang durch alles – ἄνευ τῆς διὰ πάντων διεξόδου – ist es unmöglich, auf die Wahrheit zu treffen und Einsicht zu gewinnen (Parm. 136 e1–2). Im Theaitetos wird das Denken des Philosophen charakterisiert als „überall jegliche Natur (oder Beschaffenheit) eines jeden Seienden als eines Ganzen erforschend“, πᾶσαν πάντῃ φύσιν ἐρευνωμένη τῶν ὄντων ἑκάστου ὅλου (174 a1). Auch die im Philebos geforderte Methode der zahlenmäßig genauen Festlegung aller εἴδη und ihrer Bestimmungen soll ausdrücklich von jedem Einen und Vielen gelten (Phil. 17 d6–7). Nichts anderes meint Sokrates im Phaidros, wenn er sagt, hinsichtlich der Natur eines jeden Dinges, περὶ ὁτουοῦν φύσεως, müsse zuerst die Frage nach ihrer Einheitlichkeit bzw. der Zahl ihrer Teile gestellt werden, dann die nach dem Vermögen und den Eigenschaften der Teile (270 c10–d7). Nichts kann ohne dieses Verfahren kunstgemäß (τέχνῃ) gesagt werden (271 b7–c1), und ein Vorgehen ohne es gliche dem Gang eines Blinden (270 d9–e1). Platonische Dialektik will also eine Allwissenschaft sein, die alles erfaßt und von allem die Elemente (στοιχεῖα) aufsucht (wovon gleich mehr zu sagen sein wird). Gegen eine Wissenschaft dieses Typs wendet Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik ein, daß sie von nichts ausgehen könnte, denn wer eine Wissenschaft erwirbt, kann anderes zuvor schon kennen, nicht aber den Gegenstand dieser Wissenschaft – das wäre hier ‚alles‘, folglich

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gäbe es keinerlei Vorwissen. Das aber würde jedes Lernen unmöglich machen, denn ob das Lernen durch Beweis, durch Definition oder durch Induktion erfolgt, in jedem Fall macht es Gebrauch von vorhandenen Wissenselementen (Met. A 9, 992 b18–33). Wie Platon darauf geantwortet hätte, macht Aristoteles selbst klar, wenn er gleich anschließend die Anamnesislehre ablehnt (992 b33–993 a2). So weit ist die Intention der Dialektik, schlichtweg alles zu erfassen, nur als Faktum vorgeführt worden. Wir verstehen den Anspruch besser, wenn wir hören, warum Sokrates ein Liebhaber, ἐραστής, der ‚Zerlegungen und Zusammenführungen‘, der διαιρέσεις καὶ συναγωγαί, ist: damit er in der Lage sei zu reden und zu denken, ἵνα οἷός τε ὦ λέγειν τε καὶ φρονεῖν (Phdr. 266 b3–5). Er fragt also nach der Bedingung der Möglichkeit des Denkens und Sprechens und findet sie in den Grundoperationen des Dihairesisverfahrens. Ebenso erklärt Parmenides in dem nach ihm benannten Dialog die Annahme von Ideen und das Definieren eines jeglichen εἶδος als die Bedingung dafür, daß man das Denken überhaupt auf etwas richten kann (Parm. 135 b5–c2). Der Logos entsteht uns durch die gegenseitige Verflechtung der εἴδη, heißt es im Sophistes (259 e5–6). Weil Dialektik sich auf die grundlegenden Bedingungen des Denkens richtet, kann es nichts Denkbares, kein νοητόν, geben, das sich ihr entziehen könnte. (4) Nachdem wir nun also gesehen haben, daß platonische Dialektik die verbesserte, ontologisch neu orientierte Disputierkunst Zenons ist, die in dieser neuen Form Wissenschaft, und zwar die umfassende, erkenntnisbegründende Allwissenschaft sein will, fragen wir mit Glaukon (Politeia 532 d8) nach dem τρόπος, nach der charakteristischen Art dieser Disziplin. Ganz sicher können wir uns des Sinns von Glaukons Frage zwar nicht sein, ich vermute jedoch, daß er mit τρόπος, Art und Weise, so etwas wie ein Merkmal meint, oder eine Kombination von Merkmalen, die allen dialektischen Gedankenfolgen eignen. Als erstes wird man hier wohl das Vorgehen in Fragen und Antworten nennen dürfen. Der Dialektiker, der bei der Bestimmung der Idee des Guten alle Elenchoi wird durchstehen müssen ohne dabei zu Fall zu kommen (Politeia 534 b8–c5), muß die Erziehung bekommen, durch die er in höchstem Maß sachverständig wird fragen und antworten können (ἐρωτᾶν τε καὶ ἀποκρίνεσθαι ἐπιστημονέστατα, 534 d9). Von Sokrates, dem Urbild des Dialektikers, fühlen sich viele hintergangen, so behauptet Adeimantos einmal (Politeia 487 b2–c4), weil sie meinen, in kleinen Schritten zu einem Ergebnis geführt worden zu sein, das sie nicht wollten – sie meinen das aber δι᾽ ἀπειρίαν τοῦ ἐρωτᾶν καὶ ἀποκρίνεσθαι, wegen ihrer Unkenntnis des Fragens und Antwortens, also aus Mangel an dialektischer Schulung. Eng verknüpft mit der Zerlegung des Gedankens in Frage und Antwort ist das zweite, ebenso grundlegende

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Merkmal der Dialektik, daß sie es stets mit gegensätzlichen Positionen zu tun hat. Es klingt noch vergleichsweise harmlos und unprogrammatisch, wenn Adeimantos, der gewiß kein geschulter Dialektiker ist, sagt „wir müssen auch die entgegengesetzten Argumente durchgehen“ (δεῖ γὰρ διελθεῖν ἡμᾶς καὶ τοῦς ἐναντίους λόγους, Politeia 362 e2); doch steht die Forderung ganz nahe beim Einstieg in die Haupterörterung der Bücher II– X der Politeia und ist durch ihre Stellung schon als zweifellos programmatisch gemeint erkennbar. Professioneller klingt es allerdings, wenn der alte Parmenides dem Sokrates, der sich soeben als vielversprechender junger Philosoph erwiesen hat, die Mahnung mitgibt, bei der Einübung in die Dialektik, die er noch nötig hat, nicht nur die Folgerungen aus der Annahme der Existenz einer Sache abzuleiten, sondern auch die aus der gegenteiligen Annahme, daß das Betreffende nicht ist (Parm. 135 e8–136 a2). Parmenides’ Rat führt uns auf das dritte wohl durchgehende Merkmal dialektischer Argumentation, nämlich das. Ausgehen von Annahmen, ὑποθέσεις, aus denen die Folgerungen zu ziehen sind zunächst ohne Festlegung auf ihre Wahrheit. Wenn es etwa um den von Zenon bekämpften Satz geht, daß Vieles ist, so führt er, dialektisch untersucht, zunächst auf zwei WennSätze: εἰ πολλά ἐστι, wenn Vieles ist, und εἰ μή ἐστι πολλά, wenn Vieles nicht ist. Folgerungen lassen sich erst ziehen unter Einbeziehung des implizit mitgegebenen Gegenbegriffs ἕν: es ist dann zu fragen, was sich unter jeder der zwei Annahmen ergibt für das Viele im Verhältnis zu sich selbst und zum Einen, und ebenso für das Eine im Verhältnis zu sich selbst und zum Vielen (Parm. 136 a4–b1). Vier Fragehinsichten also unter jeder Hypothese, zusammen mithin achtmaliges Ansetzen zur dialektischen Diskussion eines schlichten Satzes wie ἔστι πολλά. Erst der Durchgang durch all diese Ansätze (die man ebenfalls oft als Hypothesen bezeichnet) würde es erlauben, zur Frage der Wahrheit Stellung zu nehmen – aber nicht der einmalige Durchgang durch diese acht Fragestellungen allein, sondern der wiederholte Durchgang durch diese und verwandte Fragestellungen, wobei jeder der dialektischen Begriffe mit jedem in Beziehung zu setzen wäre (136 b1–c5). Wenn der junge Sokrates hier von einer ἀμήχανος πραγματεία, einem ungeheuren Geschäft, spricht (136 c6), so hat er sehr genau verstanden, was Parmenides ihm vorgezeichnet hat – nur dürfen wir Heutige aus dem Wort ἀμήχανος nicht etwa schließen, daß das Ziel unerreichbar wäre. Das ist mit Sicherheit nicht gemeint. (5) Könnte nun jeder die Folgerungen, die sich aus der Existenz oder Nichtexistenz des Einen für dieses selbst und für das Viele ergeben, herleiten und angeben? Dann wäre Dialektik keine τέχνη, die in langer Schulung erlernt werden muß. So wie er jetzt ist, könnte es nicht einmal der junge Sokrates im Parmenides durchführen. Parmenides selbst muß die Aufgabe

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übernehmen. Er weiß, welche Fragen man stellen muß. Er fragt nach dem Teil und dem Ganzen, nach Anfang, Mitte und Ende, nach Ort und Zeit, nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Identität und Verschiedenheit, nach Bewegung und Ruhe des Einen (Parm. 137 c–141 e). Parmenides sagt weder, wie er diese Begriffe gewonnen hat, noch warum er diese und nicht andere anwendet, noch rechtfertigt er die Reihenfolge der Befragung. Der Dialektiker verfügt über dieses begriffliche Instrumentarium, mehr zeigen die Dialoge nicht. Auch im Sophistes begegnen wir einem Teil dieser Begriffe, sie werden dort als einige von den größten oder obersten Gattungen bezeichnet (254 c3–4, d4). Fünf solcher μέγιστα γένη setzt der Gast aus Elea zueinander in Beziehung: Sein, Ruhe, Bewegung, Verschiedenheit und Selbigkeit. Woher er sie hat und warum er gerade diese fünf hier auswählt, sagt auch er nicht. Immerhin sagt er – im Gegensatz zu Parmenides –, daß er eine Auswahl trifft (προελόμενοι τῶν μεγίστων λεγομένων ἄττα 254 c3–4). So daß man vermuten darf, daß er, danach gefragt, auch zum Grund seiner Auswahl und zur Herkunft bzw. methodischen Ermittlung der μέγιστα γένη etwas sagen könnte. An keiner Stelle, an der μέγιστα γένη, oberste dialektische Begriffe, in den Dialogen auftauchen, scheint Vollständigkeit angestrebt zu sein, bzw. die Frage, ob die Reihe solcher Begriffe überhaupt vollständig sein kann, angeschnitten zu sein. Historisch steht hinter Platons obersten dialektischen Begriffen (außer Zenons Frageweise) die pythagoreische ‚Systoichie‘ oder ‚Zusammenreihung‘ von zehn als ἀρχαί aufgefaßten Gegensatzpaaren, die Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik überliefert (Met. A 5, 986 a22– 26). Die Zehnzahl, von den Pythagoreern als vollkommene Zahl betrachtet, scheint darauf zu weisen, daß die Zahl der Gegensatzpaare und die Geschlossenheit der Liste bedacht waren, wenn auch vielleicht in für uns wenig überzeugender Weise. Das Ergebnis wirkt, von Platon und Aristoteles her gesehen, etwas heterogen, erscheinen doch neben grundlegenden Gegensätzen wie ἕν – πλῆθος, πέρας – ἄπειρον auch solche, die nur bestimmten Gegenstandsklassen zuzuordnen sind wie ‚rechts – links‘, ‚männlich – weiblich‘ und ‚quadratisch – rechteckig‘. Ergiebiger für uns sind Angaben des Aristoteles und über Aristoteles. Nach Alexander (In Arist. Met. 250, 17–20) hat sich Aristoteles mit den obersten Gegensatzpaaren im 2. Buch von Περὶ τἀγαθοῦ befaßt, also im Rahmen seiner Darstellung und Kritik der platonischen Prinzipienlehre. Er selbst verweist in der Metaphysik auf seine Schrift Ἐκλογὴ τῶν ἐναντίων (1004 a2) bzw. Διαίρεσις τῶν ἐναντίων (1054 a30), in der er die Zurückführung (ἀναγωγή, 1005 a1) aller Gegensätze auf den Gegensatz ἕν – πλῆθος als ihr Prinzip dargelegt habe. Das war für ihn ein Kapitel aus der Logik der Gegensätze. In Platons Dialektik hatte derselbe Gegensatz unter dem Namen ἕν – ἀόριστος δυάς (diese als Prin-

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zip von Vielheit) zweifellos auch ontologische Bedeutung. Immerhin gehört auch für Aristoteles die Behandlung von Begriffen wie ταὐτόν – ἕτερον, ὅμοιον – ἀνόμοιον, ἴσον – ἄνισον in die philosophische Grundwissenschaft, die das Seiende als Seiendes, das ὄ ᾗ ὄν, betrachtet (Met. Γ 2, 1004 a31–1005 a18), denn die dialektischen Grundbegriffe sind τῷ ὄντι ᾗ ὂν ἴδια, bzw. sie sind τὰ ὑπάρχοντα αὐτῷ ᾗ ὄν (1004 b15 und 1005 a14). Die Liste solcher Begriffe, die Aristoteles im 2. Kapitel von Met. Γ erwähnt, ist vollständiger als jede Zusammenstellung bei Platon. (6) Mit der ἀναγωγὴ τῶν ἐναντίων, der Zurückführung der Gegensätze auf einen ersten Gegensatz, die zweifellos schon ein platonisches, nicht erst aristotelisches Anliegen war, sind wir von dem Versuch, den τρόπος oder die generelle Charakterisierung der Dialektik zu erfassen, vielleicht schon übergewechselt zur Frage der ὁδοί, oder vielleicht auch der εἴδη der höchsten Disziplin. Es empfiehlt sich zwar, von der Annahme auszugehen, daß Glaukons Frage nach dem τρόπος, den εἴδη und den ὁδοί für Platon einen präzisen dreifachen Sinn hat. Aber da diese Terminologie, so weit ich sehe, sonst nicht wiederkehrt und Sokrates die Frage nicht beantwortet, ist es für uns heute nicht immer ganz einfach zu sagen, wie wir einen gegebenen Zug der Dialektik einordnen sollen: als Grundmerkmal, als spezielle Methode oder als eingrenzbares Forschungsfeld. Konrad Gaiser hat in einem wichtigen Beitrag sechs Methoden der Dialektik aufgezählt: (a) Elenxis (b) Dihairesis und Synagoge, (c) Analysis und Synthesis, (d) Mesotes, (e) Hypothesis, (f) Mimesis.5 Das hypothetische Verfahren berücksichtigte ich oben beim τρόπος der Dialektik, wobei mir aber bewußt war, daß viele die Einordnung als bloße Methode vorziehen werden. Die Mimesis, von Gaiser verstanden als „Erforschung der Entsprechungen [...] zwischen dem einen maßgeblichen Urbild [...] und den vielfältigen Nachbildungen“, ließe sich auch als ein bestimmtes Arbeitsfeld verstehen, ebenso die Mesotes, verstanden als „Feststellung der normativ maßgebenden Mitte zwischen den Abweichungen zum Mehr und Weniger, Zuviel und Zuwenig“. Die drei von Gaiser an der Spitze genannten Methoden lassen sich wirklich am besten in diesem Sinne verstehen. Da ist die Elenxis bzw. der Elenchos, der im Sophistes als größte und entscheidendste Reinigung gepriesen wird (230 d7). Nirgends zeigt sich die religiösmoralische Relevanz der Dialektik so deutlich wie im elenktischen Verfahren. Die Dihairesis 5 Konrad Gaiser: Platonische Dialektik – damals und heute. In: Antikes Denken – Moderne Schule. Hg. v. Hans Werner Schmidt/Peter Wülfing. Heidelberg 1988 (Gymnasium, Beiheft 9), 77–107, hier: 99 (jetzt auch in: Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák u. Karl-Heinz Stanzel. Sankt Augustin 2004, 177–203).

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und Synagoge ist zweifellos auch nur ein Verfahren unter anderen, auch wenn ihre Vorstellung im Phaidros (265 d–266 c) beim Leser leicht den Eindruck hinterläßt, mit ihr sei das ganze Tun des Dialektikers erfaßt. Auf den gleichen Gedanken könnte man bei Lektüre der vier Aufgaben des Dialektikers (Soph. 253 de) kommen, doch die anschließende Untersuchung der κοινωνία (Kombinierbarkeit) der obersten Gattungen (Soph. 254 cff.), die nicht im κατὰ γένη διαιρεῖσθαι besteht, kann vor diesem Irrtum bewahren. Das Dihairesis-Verfahren führt zum Aufweis oberster Gattungen, ist also bestimmend für die das Allgemeine suchende oder ‚generalisierende‘ Frageweise, die Aristoteles der Akademie zuschrieb und deren Bedeutung H. J. Krämer wiederholt herausgearbeitet hat, ebenso wie ihr Verhältnis zur komplementären ‚elementarisierenden‘ Fragerichtung, die auf den Aufweis von elementaren Bestandteilen, στοιχεῖα, aus ist und deren Methode die Analysis und Synthesis von Ganzem und Teilen ist.6 Die drei Methoden des Elenchos, der Dihairesis-und-Synagoge und der Analysis-und-Synthesis haben gemeinsam, daß sie auf alles anwendbar sind, aber alles nur unter einem Gesichtspunkt beleuchten. (7) Wenn das Wort εἴδη in Glaukons Frage ‚Arten‘ bedeutet, die ‚Arten‘ aber etwas anderes bezeichnen sollen als die ὁδοί, ‚Wege‘ oder Methoden, so könnten damit Teildisziplinen gemeint sein, d. h. Aufgabenbereiche des Dialektikers, die sich natürlich nach den Gegenstandsbereichen der Wirklichkeit richten würden. Die Dialoge bieten einiges, womit man diese Deutung konkretisieren könnte. Einmal ist daran zu erinnern, daß die Ausbildung der Philosophenherrscher im Idealstaat zwei weit voneinander getrennte Phasen der Beschäftigung mit Dialektik vorsieht, wobei erst die zweite Phase, in die man mit 50 Jahren eintritt, der Betrachtung der Idee des Guten gewidmet ist (Politeia 537 d3–7, 540 a4–b2). Wenn wir die Trennung zweier Stufen der Ausbildung nicht für bare Willkür erklären wollen, so müssen wir sagen, daß Ideenlehre und Prinzipientheorie zwar zwei eng verwandte und sachlich verbundene, aber doch auch klar gegeneinander abgrenzbare Teildisziplinen der einen umfassenden ἐπιστήμη der

6 Hans Joachim Krämer: Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon (1966), Nachdruck in: Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Hg. v. Jürgen Wippern. Darmstadt 1972, 394–448, darin 406–432 zum Verhältnis der beiden Frageweisen zueinander. Ausgehend von Aristoteles, der in der Metaphysik mehrfach die Identität des Einen mit dem Guten für Platon bezeugt, geht Krämer der Frage nach, wie eine platonische Definition des Guten gelautet haben könnte. (Krämers umfang- und materialreiche Abhandlung wurde in italienischer Sprache als separates Buch publiziert: Dialettica e definizione del Bene in Platone. Interpretazione e commentario storico-filosofico di „Repubblica“ VI, 534 b3–d2. Milano 1989).

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Dialektik sind. Das ist epistemologisch einleuchtend, wenn doch die Erkenntnisweisen sich nach den Gegenstandsarten richten, wie im Liniengleichnis ausgeführt, und wenn die Ideen οὐσία, die Idee des Guten aber ἐπέκεινα τῆς οὐσίας δυνάμει καὶ πρεσβείᾳ (509 b9) ist. Die Politeia kennt aber auch die Gegenstandsklasse der μαθηματικά. Deren fachwissenschaftliche Behandlung ist gewiß nicht Dialektik, doch sollen die philosophischen unter den Adepten zu einer σύνοψις, einer Zusammenschau, der Verwandtschaft der mathematischen Fächer untereinander und mit der Natur des Seienden gebracht werden (Politeia 537 c1–3, vgl. 531 c9–d4; Nomoi 967 e2).7 Es gibt also Strukturähnlichkeiten, die nicht nur die μαθήματα unter sich zusammenbinden, sondern auch mit der τοῦ ὄντος φύσις insgesamt. Diese zu untersuchen ist natürlich Aufgabe nicht einer speziellen Disziplin, sondern der Dialektik. Denn in der Fähigkeit zur Zusammenschau, so heißt es gerade in diesem Kontext, zeigt sich die dialektische Begabung: ὁ μὲν γὰρ συνοπτικὸς διαλεκτικός, ὁ δὲ μὴ οὔ (537 c7). Auf einen weiteren, vielleicht etwas unerwarteten, Teilbereich der Dialektik stoßen wir, wenn wir uns fragen, wie Sokrates in der Politeia und im Phaidros den längeren Weg der Dialektik, der im Dialog selbst nicht begangen werden kann, bestimmt. Im vierten Buch der Politeia ist die genaue Untersuchung der Einheitlichkeit bzw. Mehrteiligkeit der Seele der Inhalt der μακροτέρα ὁδός, im sechsten Buch ist es die Bestimmung des τί ἐστιν der Idee des Guten (435 d3, 504 b1–d3). Selbstverständlich liegt kein Widerspruch vor, und auch zu entwicklungsgeschichtlichen Spekulationen, daß Platon seine Ansicht geändert habe, geben die beiden Stellen keinen Anlaß.8 Vielmehr sind beide Themen Gegenstand der Dialektik, die Idee des Guten als der höchste Punkt der intelligiblen Welt, die Seele als ihr unterer Rand. Denn auch die Seele ist ein νοητόν, wie in den Nomoi ausdrücklich festgestellt wird (898 d9–e2), und ihre wahre Gestalt zu erfassen wäre nach dem Phaidros Aufgabe einer ‚göttlichen und langen Darlegung‘ (θείας καὶ μακρᾶς διηγήσεως, 246 a4–5), also einer dialektischen Untersuchung.9 Diese müß-

7 Vgl. hierzu Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften. In: Antike und Abendland 32 (1986), 89–124 (jetzt auch in: Gaiser: Gesammelte Schriften, 137–176). 8 Vgl. auch Thomas Alexander Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern. Sankt Augustin 2003, 72f. 9 Daß diese ‚lange Darlegung‘ nicht schon deswegen, weil sie ‚göttlich‘ genannt wird, dem menschlichen Forschen unerreichbar sein muß, versuchte ich – gegen die communis opinio der Interpreten – aus Platons Auffassung der ‚göttlichen‘ Philosophie heraus zu zeigen in meinem Beitrag: ‚Menschliche‘ und ‚göttliche‘ Darle-

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te ‚die Natur des Alls‘ einbeziehen (Phdr. 270 c1–2), wovon uns die Seelentheorie des Timaios einen Vorgeschmack gibt. Mit den Themenbereichen Seele, Zusammenschau der Verwandtschaft der μαθήματα unter sich und mit der Natur des Seienden, Ideenlehre und Prinzipienlehre haben wir also vier große Arbeitsfelder des Dialektikers identifiziert, die in den Dialogen nicht oder nicht hinreichend behandelt werden, was für zwei dieser Bereiche – Seele und Prinzipien – auch wörtlich ausgesprochen wird. Das ist aber noch nicht alles. Zusätzlich werden eine Reihe von sehr präzisen Fragen formuliert, die für den jeweiligen Kontext strikt relevant sind, von denen aber gleichwohl versichert wird, daß sie hier und jetzt nicht untersucht werden können. Einige dieser Fragen sind den vier Themenbereichen ohne weiteres zuzuordnen, andere lassen die Zuordnung offen, wohl weil sie mehrere Bereiche betreffen. Im Timaios wird die Identität des Demiurgos offen gelassen, weil nicht allen mitteilbar (28 c3–5), ebenso die Bestimmung und die Zahl des Prinzips bzw. der Prinzipien aller Dinge, gleichfalls wegen der Schwierigkeit der Mitteilung in der Art des vorliegenden Dialogs (oder besser: Monologs) (48 c2–6), und drittens hören wir, daß es über den Elementardreiecken als Prinzipien der Körper noch höhere Prinzipien (ἀρχάς) gibt, die der Gott kennt und von den Menschen der, der Gott lieb ist (53 d6–7) – anders gesagt: es gibt noch höhere Prinzipien, sie sind auch für den Menschen erkennbar, aber sie werden hier nicht entfaltet. Was ein φιλόσοφος eigentlich ist, scheint im Sophistes zwar kurz auf (253 c–e), aber die dringend benötigte genauere Untersuchung und klarere Explikation seines Tuns und Wesens wird auf das übernächste Gespräch – das nie folgen wird, s. oben S. 292f. – verschoben (254 b3–4: περὶ μὲν τούτου καὶ τάχα ἐπισκεψόμεθα σαφέστερον). Das Thema des höchsten Prinzips wird nicht nur in der Form der Frage nach dem τί ἐστιν des Guten herausgehalten (Politeia 506 e), sondern auch der Frage nach dem αὐτὸ τὸ ἀκριβές (Pltk. 284 d1–2). Zu einem Prinzip des Schlechten in der Welt wird nur gesagt, daß man es anderswo suchen müsse als bei Gott (Politeia 379 c6–7). Die Ideenzahlen werden nirgends thematisiert, obwohl der ἀριθμός in mehreren Texten zur Dialektik eine prominente Rolle spielt (z. B. Soph. 254 e3–4, Tht. 185 d1, Phil. 16 d8, 17 e5, 18 c5, 19 a1, Phdr. 270 d6, 273 e1). Verschiedentlich tauchen in diesen Texten Fragmente einer Kategorienlehre auf (z. B. Soph. 255 c12– 13, Hi. mai. 301 b8, Euthyphron 11 a7–8) –, daß es sich wirklich um

gung. Zum ‚theologischen‘ Aspekt des Redens und Schreibens bei Platon. In: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS Martin Hengel). Hg. v. Hubert Cancik u. a. Tübingen 1996, Band I, 251–263.

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Bruchstücke und nicht das Ganze handelt, verraten uns erst die vollständigeren Angaben der indirekten Überlieferung.10 Im Charmides schließlich heißt es, es wäre eine Aufgabe für einen großen Mann, von allen Dingen zu klären, ob sie ihr Vermögen (ihre δύναμις) auf sich selbst richten können oder nicht (169 a1–5). Daß diese Frage für Seelen- und Ideenlehre und die Logik der μέγιστα γένη gleichermaßen von Belang sein könnte, bedarf keiner langen Ausführungen. (8) Ist das Programm der Dialektik nach Platons Überzeugung durchführbar? Ist das hochgesteckte Erkenntnisziel der Dialektik dem Menschen überhaupt erreichbar? Aus dem Geist des postmetaphysischen Denkens des späten 20 Jh.s wird das oft verneint.11 Wir sollten uns jedoch hüten, die Resignation vom Ende des 2300-jährigen metaphysischen Zeitalters unkritisch auf dessen Anfang zu übertragen. Von den vielen Hinweisen der Dialoge, daß ihr Autor das Ziel der Dialektik für erreichbar hielt, seien hier nur einige wenige aufgeführt. Beachten wir als erstes, daß Sokrates die Vorstellung Glaukons, die Dialektik würde schließlich zum Ausruhen vom Weg und zum Ende der Reise (τέλος τῆς πορείας 532 e3) führen, keineswegs zurückweist: nicht hier liegt Glaukons Fehler. Das Höhlengleichnis wäre ein irreführendes, ja sinnloses Gleichnis, wenn der Autor von der Unerreichbarkeit des Ziels überzeugt wäre; denn der Aufsteiger aus der Höhle gelangt ja zu einem vollgültigen Anblick der Sonne, statt oben – wie es jener anderen Interpretation entsprechen würde – eine dichte Wolkendecke vorzufinden, die nie aufreißt und nie zu erkennen gibt, ob es über ihr überhaupt eine Sonne gibt. Im übrigen läßt der Sokrates der Politeia an mehreren Stellen erkennen, daß er die Existenz von wirklichen Dialektikern, die das Ziel der Erkenntnis des Guten erreicht haben, jetzt schon – nicht erst in einem künftigen Ideal-

10 Test. Plat. 31 Gaiser (= Simpl., In Arist. Phys. 247, 30ff. Diels), Test. Plat. 32 § 263 Gaiser (= Sextus Emp., Adv. math. 10.263). 11 Der Versuch von Rafael Ferber (Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Plato die ‚ungeschriebene Lehre‘ nicht geschrieben?. Sankt Augustin 1991), die Unerreichbarkeit des Ziels als Platons Meinung zu erweisen und die Mündlichkeit der ungeschriebenen Lehre dadurch zu erklären, daß die Prinzipienlehre auf der Stufe der bloßen Meinung, δόξα, steckengeblieben sei, da ihr Urheber sie ja ruhig hätte niederschreiben können, wenn sie den Status wirklicher ἐπιστήμη, Wissenschaft erreicht hätte, beruht einmal auf einem vollständigen Mißverständnis der Grundgedanken der Schriftkritik und zweitens, in der Interpretation der anderen Texte, auf falscher Methodik und unzureichender Berücksichtigung der Quellen, wozu zu allem Überfluß auch noch sprachliche Mißverständnisse kommen; vgl. meine Rezension in: Gnomon 69 (1997), 404–411 (jetzt auch, mit kleinen Zusätzen, in: Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politeia, 133–146).

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staat – für gegeben hält (z. B. 519 d; hierin ähnlich Phdr. 266 b5–c1). Utopisch ist Platons Idealstaat keineswegs in dem Sinn, daß in ihm die Ausübung der Herrschaft auf der Erkenntnis des Guten beruht, diese aber unmöglich ist, folglich auch der Idealstaat unmöglich oder ‚utopisch‘ ist – nein, Platon betont, daß dieser Staat möglich ist (499 d, 502 c, 521 a, 540 d), aber nicht leicht zustande kommt, weil das Zusammentreffen von politischer Macht, die überall ausgeübt wird, und hinreichender Erkenntnis des Guten, die bei wenigen Dialektikern vorliegt – und zwar jetzt schon vorliegt –, extrem unwahrscheinlich ist (was wir dann mit einem modernen Wort irreführend als ‚utopisch‘ bezeichnen). Fügen wir noch hinzu, daß die Mahnung des Parmenides an den jungen Sokrates, sich in Dialektik zu üben und seine Bereitschaft, die ersten Schritte dieser Übung selbst zu leiten (Parm. 135 c–137 b), ein zynischer Hohn auf Sokrates und den Leser wäre, wenn er (und hinter ihm stehend der Autor) überzeugt wäre, daß Dialektik ihr Ziel nimmermehr erreichen kann. Und wie wären die Götter einzuschätzen, die nach dem Philebos die dialektische Theorie den Menschen zum Geschenk machten (16 c5), obwohl sie doch – als Götter – wußten, daß das Geschenk nicht zweckdienlich ist? All das wäre absurd. Aber so sicher es auch ist, daß für Platon die Dialektik ihr Ziel erreicht und der Philosoph die Idee des Guten hinreichend (ἱκανῶς Politeia 519 d2, vgl. 518 c9–10) erkennt, so wenig dürfen wir vergessen, daß es keine Garantie gibt für das Erreichen des Ziels. Fortschritte machen beim Umgang mit Sokrates nach dem Theaitetos nur die, οἷσπερ ἂν ὁ θεὸς παρείκῃ (150 d4). Sokrates selbst geriet nach dem Philebos (16 b5–7) auf dem Weg der Dialektik in Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Der Funke der Erkenntnis springt über nach langem Gebrauch der Erkenntnismittel (Epist. 7, 34 e1– 344 c1) – wann und bei wem, läßt sich nicht voraussagen. Ein ‚göttlicher‘ Vorgang läßt sich nie vollständig in menschliche Regie nehmen. (9) Dialektik wird, da sie wesentlich lebendiger Prozeß ist, immer wieder mit Metaphern des Weges, des Gehens und Führens bezeichnet. Der Weg des befreiten Höhlenbewohners hinauf zum Licht ist eine ἀνάβασις und ἄνοδος, ein Aufstieg (Politeia 517 b4–5, 519 d1, vgl. Symp. 211 c2 ἐπανιέναι), die dialektische Erkenntnisbemühung ist die μακροτέρα ὁδός bzw. περίοδος, der längere Weg oder Umweg (435 d3, 504 b2), den Sokrates auch schlicht als διαλεκτικὴ πορεία bezeichnet (532 b4). Bei der Bestimmung der Idee des Guten „geht“ der Philosoph „wie in einer Schlacht durch alle Elenchoi hindurch“, ohne zu Fall zu kommen „marschiert er durch all das“ (ὥσπερ ἐν μάχῃ διὰ πάντων ἐλέγχων διεξιών, [...], ἐν πᾶσι τούτοις ἀπτῶτι τῷ λόγῳ διαπορεύηται, 534 c1–3). Verlangt ist vom Dialektiker allgemein ein Durchgang durch alle Frageansätze, die διὰ πάντων διέξοδος τε καὶ πλάνη (Parm. 136 e1–2), oder ἡ διὰ πάντων αὐτῶν διαγωγή,

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ἄνω καὶ κάτω μεταβαίνουσα ἐφ᾽ ἕκαστον (Epist. 7, 343 e1–2) – beide Stellen betonen neben dem Hindurch-gehen bzw. -führen auch die scheinbare Ziellosigkeit einer ‚Irrfahrt‘ bzw. eines Wechselns ‚hinauf und hinunter‘. Doch der Marsch hat ein τέλος, ein Ende und Ziel, und der Dialektiker gibt nicht auf, bevor er an das Ziel gelangt ist (Politeia 532 a7–b2, Epist. 7, 340 c6). Was folgt auf den Durchgang durch alles, auf die διὰ πάντων διέξοδος? Natürlich die Schau, die θέα. Die beiden Phasen zusammen, den Weg selbst und das schließliche Erschauen des Ziels, benennt Sokrates am Ende des Höhlengleichnisses als τὴν ἄνω ἀνάβασιν καὶ θέαν τῶν ἄνω (517 b4). Die Erkenntnis am Ende des Denkprozesses tritt plötzlich ein, sie leuchtet auf wie ein durch den überspringenden Funken entzündetes Licht (Epist. 7, 341 c7–d1, vgl. 344 b7; ἐξαίφνης 341 c7 und Symp. 210 e4). Die Plötzlichkeit der Erleuchtung ist sicher ein Hauptgrund – neben der gestuften Initiation, der Schweigepflicht und der Glückserfahrung – für die nachdrückliche Verwendung der Mysterienmetaphorik in den Eros-Dialogen Symposion und Phaidros wie auch in anderen Werken.12 Ist die Schau noch Teil der Dialektik? Sie ist ihr Ziel, aber wegen des qualitativen Sprunges, den das plötzliche Aufleuchten der Einsicht gegenüber dem langwierigen ‚Durchgang durch alles‘ bedeutet, und wegen der Nichterzwingbarkeit des Aufleuchtens, sollte man die Schau vielleicht als das transzendente Ziel der Dialektik verstehen. Die Dialektik wäre dann der diskursive Nachvollzug der Verhältnisse und Beziehungen in der intelligiblen Welt, zu dem das genuin noetische Erfassen der intelligiblen Wesenheiten treten muß, das Platon als eine intellektuelle Anschauung, als ein unmittelbares Sehen, (ἰδεῖν, κατιδεῖν, θεάσασθαι), versteht. Um an dieses ihr Ziel zu gelangen, muß Dialektik sich selbst transzendieren, sich qualitativ verwandeln und νόησις werden. Das Erschauen erfolgt plötzlich, d. h. ist in der Zeit nicht meßbar und insofern außerhalb der Zeit, und es verschafft dem Erkennenden ein Glücksgefühl – beides kann man der Diskursivität, der διέξοδος, nicht nachsagen. (10) Mit dem Glücksgefühl der Schau sind wir nun endlich beim theologischen Aspekt der Dialektik. Eudaimonie ist das Privileg der Götter und

12 Symp. 210 a1ff.; Phdr. 249 cff.; Gorg. 497 c, Men. 76 e, Politeia 490 b; vgl. dazu die jeweiligen Interpretationen in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, ferner auch Christoph Riedweg: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien. Berlin/New York 1987; Christine Schefer: Platon und Apollon. Vom Logos zurück zum Mythos. Sankt Augustin 1996; Salvatore Lavecchia: Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia. In: Perspektiven der Philosophie 27 (2001), 51–75.

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des Göttlichen. Wenn bei Menschen antreffbar, muß sie vom Göttlichen gewährt sein. Die Götter sind rein, daher hat Dialektik, die uns zum Göttlichen führt, als erste Voraussetzung die ethische Läuterung des Dialektikers (– ein Gedanke, der für das 19. und 20. Jh. schwer verdaubar war). Die Götter selbst verdanken ihre Göttlichkeit ihrem immerwährenden noetischen Bezug auf die Ideen (Phdr. 249 c6 πρὸς οἷσπερ θεὸς ὢν θεῖός ἐστιν). Die Ideen sind also das eigentlich Göttliche: rein, unwandelbar, immerseiend, von einer Ordnung und Harmonie durchwaltet, die Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit ausschließt. An diesem Bereich muß sich der erkennende Mensch orientieren, ihm muß er versuchen gleich zu werden (Politeia 500 cd, vgl. 611 e, 613 ab). Diese Angleichung an Gott entscheidet über das Schicksal des Menschen schon hier im Leben, ebenso über das Schicksal seiner unsterblichen Seele in der Zeit nach seinem Tod. Die Angleichung an Gott, die nur durch Gerechtigkeit und Philosophie möglich ist, entscheidet also über das, was für den Menschen das Wichtigste überhaupt sein muß. Von daher erklärt sich die in den Texten zur Dialektik fast obligatorische Versicherung, daß es um Großes und das Größte geht, im Vergleich mit dem alle anderen Belange unbedeutend, ja lächerlich sind. Ich zitiere nur Phaidros 274 a2–3: [...] μακρὰ ἡ περίοδος, [...] μεγάλων γὰρ ἕνεκα περιιτέον. Ist die Angleichung an die unwandelbare Ideenwelt nicht der Verlust des bewegten und lebendigen, des eigentlich menschlichen Seins? Nun, der wahre Mensch ist seine Seele, und von der Seele der denkende Teil. Insofern wird das Menschliche, im Sinne des Diesseitigen und Kreatürlichen, in der Tat negiert in dieser Konzeption, negiert zugunsten eines ‚höheren‘ oder ‚wahrhaft‘ Menschlichen. Dieses ist jedoch nicht leblos, denn die Ideenwelt lebt, ψυχή, κίνησις, ζωή und νοῦς kommen ihr zu nach dem Sophistes (248 e6–249 a2). Die Idee denkt sich selbst.13 An diesem höheren Leben teilzuhaben, rechtfertigt für Platon die Absage an alles, was dieser Form von Leben hinderlich werden könnte. Dialektik ist der einzige Weg zur Erkenntnis des höchsten Prinzips, der Idee des Guten (Politeia 533 c7). Erst diese Erkenntnis gibt aller anderen Erkenntnis ihre Klarheit, ihren Wert und Nutzen (505 a, 506 a). Daß wir an solcher Erkenntnis, die das Leben der Götter ausmacht, teilhaben können, kann als Gabe der Götter zur Rettung der eigentlich verlorenen

13 So jetzt Wilhelm Schwabe: Der Geistcharakter des „überhimmlischen Raumes“. Zur Korrektur der herrschenden Auffassung von Phaidros 247 C–E. In: Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák. Hildesheim 2001 (Spudasmata, Bd. 82), 181–331.

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Menschheit wie durch einen Prometheus aufgefaßt werden (θεῶν εἰς ἀνθρώπους δόσις [...] διά τινος Προμηθέως, Phil. 16 c5–6). Alles Positive des menschlichen Lebens kommt letztlich von hier (vgl. Phil. 16 c2–3). Daß Sokrates einem, den er für einen Dialektiker hält, folgt wie der Spur eines Gottes (Phdr. 266 b6–7), erscheint uns nicht mehr als halb komische rhetorische Hyperbel: der Dialektiker ist zumindest Vertreter des Gottes, insofern er die entscheidende göttliche Gabe weiterzugeben vermag. Wenn wir an der Dialektik teilhaben, werden wir nicht nur gottgefällig reden und handeln (Phdr. 273 eff.), was für den Menschen schicksalsbestimmend ist, nein, Platon versteigt sich zu einer noch kühneren Verheißung: der Philosoph, der in Nachahmung der Götter stets auf deren Denkobjekte, d. h. die Ideen, gerichtet ist, wird durch stete Initiation in diese vollkommenen Mysterien als einziger wahrhaft vollkommen: τελέους ἀεὶ τελετὰς τελούμενος, τέλεος ὄντως μόνος γίγνεται (Phdr. 249 c7–8). Zur Vollkommenheit aber gehört die Eudaimonie: so weit sie dem Menschen erreichbar ist, wird sie dem Dialektiker zuteil (277 a3–4).

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32. Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift (2008)

Gabriele Giannantoni hatte mich im März 1989 eingeladen, in seinem Institut an der Via Nomentana über Probleme der Platonexegese zu sprechen. Es sollte für mich eine der angenehmsten und ergiebigsten akademischen Begegnungen werden. Die herzliche Gastfreundschaft und die lebendige, offene und vorurteilsfreie geistige Atmosphäre, die in Giannantonis Seminar herrschte, lassen mich gerne an die damalige Diskussion zurückdenken. Mit Freude ergreife ich daher die Gelegenheit, in diesem Beitrag zur Gedenkschrift für den zu früh verstorbenen Gelehrten an das Gespräch von 1989 anzuknüpfen. Eine der Fragen, die damals von kritischen jungen Teilnehmern gestellt wurden, lautete: welchen Grund kann Platon denn überhaupt gehabt haben, in seinen Schriften philosophische Zurückhaltung zu üben, d. h. nicht alles, was er als Denker an Einsichten gewonnen hatte, sofort in einem Dialog bekannt zu machen? Ist die Beschränkung der philosophischen Kommunikation nicht eine für einen kreativen Denker und Schriftsteller unnatürliche Haltung? Trotz der langen Zeit, die seitdem vergangen ist, glaube ich mich zu erinnern, daß wir diese Frage damals nur kurz behandelten und lediglich den Aspekt des Problems erwähnten, der mit der Schwierigkeit der Erkenntnis der Prinzipien zu tun hat. Zur Sprache kam also Platons Sorge um die genuin philosophische Rezeption seiner Gedanken, für die seiner Überzeugung nach nicht die Lektüre eines Buches, sondern das dialektische Gespräch den richtigen Rahmen bietet. Danach wandten wir uns anderen Fragen zu, vor allem solchen der Struktur der Dialoge und der in der Moderne meist nicht verstandenen Figurenkonzeption, deren sich der Dramatiker Platon bedient. Die zuerst genannte Frage wird auch künftig mit Sicherheit immer wieder gestellt werden. Mit vollem Recht ist sie für eine Schriftkultur wie die unsere, die im Wissenschaftsbetrieb durchaus so etwas wie einen Zwang zu voller Publizität kennt, die erste und wichtigste Frage. Bedingt durch das Verständnis von wissenschaftlicher und politischer Öffentlichkeit, das sich im Westen in den letzten drei bis vier Jahrhunderten herausgebildet hat, können wir uns einen Denker, der in der Frage der schriftlichen Verbreitung seiner Erkenntnisse anders denkt und empfindet, und vor allem:

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anders handelt als die Leitfiguren unserer neuzeitlichen Kultur, gar nicht mehr vorstellen. Dabei ist in der Wissenschaftsgeschichte sehr wohl bekannt, daß der moralische Zwang zur Mitteilung der Ergebnisse geistiger Arbeit erst im 17. und 18. Jahrhundert zu einem Grundpfeiler des spezifisch neuzeitlichen Wissenschaftsethos geworden ist.1 Die Anwendung solchen Wissens auf frühere Epochen fällt indes den meisten immens schwer, handelt es sich doch um das Erkennen und Anerkennen einer vergangenen, uns fremd gewordenen Grundhaltung oder ἕξις. Es ist nun einmal ein Kennzeichen unhistorischen Denkens, daß es unfähig bleibt, sich eine fremde ἕξις überhaupt vorzustellen, geschweige denn sie rational und emotional zu akzeptieren. Die Überwindung der unhistorischen Sichtweise ist aber eine Aufgabe, die nie als ein für alle Mal erledigt gelten kann. Es besteht also weiterhin Anlaß, die Frage nach den möglichen Motiven philosophischer Zurückhaltung ernst zu nehmen und in geduldiger Exegese aus Platons Texten zu beantworten. Es wird sich zeigen, daß die Frage weit mehr Aspekte aufweist als nur den oben genannten gnoseologischen und kommunikationstheoretischen. Zu den im Folgenden herangezogenen Texten gehört auch der Siebte Brief. Das bedeutet nicht, daß seine Echtheit dogmatisch2 behauptet wird: wer mag, kann ihn als Werk „eines engen Schülers“ Platons3 betrachten. Daß der philosophische Gehalt des sogenannten Exkurses (342 a–344 d) gut platonisch ist, wurde überzeugend gezeigt von Andreas Graeser4, einem Kritiker der esoterischen Platondeutung. Wenn sein Ergebnis akzeptiert ist, wird man auch anerkennen müssen, daß die esoterische Position, die der Exkurs begründen will (342 a, 344 d), ebenso platonisch ist, wobei es gleichgültig ist, ob Platon selbst sie formulierte oder jener “enge Schüler”. 1. Die geschriebenen λόγοι sind nicht fähig, die Wahrheit hinreichend zu lehren, nicht fähig, sich selbst Hilfe zu bringen (Phdr. 276 c8–9, 275

1 Siehe Robert K. Merton: The Normative Structure of Science. In: ders.: The Sociology of Science. Hg. v. Norman W. Storer. Chicago/London 1973, 267–278, bes. 273ff. Erst mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaft (und des Buchdrucks als technischer Voraussetzung weiter Verbreitung) kommt es zu einem „‘imperative’ for communication of findings“. 2 Dogmatisch waren in dieser Frage stets nur die Verfechter der Unechtheit. Da aber der seit gut 200 Jahren gesuchte Beweis der Unechtheit bis jetzt nicht gefunden werden konnte, sind sie in letzter Zeit etwas vorsichtiger geworden. 3 So die Einschätzung von Walter Burkert: Neanthes von Kyzikos über Platon. In: Museum Helveticum 57 (2000), 76–80, hier: 80 Anm. 33. 4 Andreas Graeser: Philosophische Erkenntnis und begriffliche Darstellung. Bemerkungen zum erkenntnistheoretischen Exkurs des VII. Briefes. Mainz 1989.

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e5). Das kann Platon auch so ausdrücken, daß der schriftliche λόγος nicht in die Seele des Rezipienten schreiben kann. Das kann allein der lebendige und beseelte λόγος des „Wissenden“, d. h. des Dialektikers (276 a5–8), und nur solche in die Seele geschriebene λόγοι bieten Klarheit und Vollendung (des Erkennens) und des philosophischen Ernstes Würdiges (278 a4–5). Die Klarheit, die die lebendige Rede des Wissenden in der Seele des „Lernenden“ (276 a5) erzeugen kann, beruht natürlich darauf, daß der Wissende auf die Fragen des Partners mit Neuem antworten kann und nicht lediglich wiederholt, was er eben schon gesagt hat, wie es die Schrift, wenn man nachschlägt, was man nicht verstanden hat, notwendig tut (275 d8– 9). Unser Reden und mehr noch unser Schreiben über die höchsten und ersten Dinge der Wirklichkeit, über „die Wahrheit der Bestheit und der Schlechtigkeit“, über die „Unwahrheit und Wahrheit des gesamten Seins“ (Epist. VII 344 d4–5, a8–b1, b2) ist auf Grund der Schwäche unserer Erkenntnismittel stets bedroht von Unklarheit und Mißverständnis, insbesondere aber wird es auch ein leichtes Opfer der Verwirrungskünste von Eristikern (342 e2–343 e1). Da solche Verwirrungen und Mißverständnisse hinsichtlich seines Denkens Platon nicht gleichgültig sind, wie wir noch sehen werden, bleibt als Gegenmaßnahme, da die Schrift sich nun einmal nicht verteidigen kann, nur das „Schweigen gegenüber denen man schweigen soll“. Dies ist die notwendige Kehrseite des „Redens (nur) zu denen, zu denen man reden soll“ – kurz, der Wissende versteht sich auf das λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ (Phdr. 276 a7) im mündlichen Umgang und auf das Zurückhalten seiner σπουδαιότατα (Epist. VII 344 c4) bzw. auf den Verzicht auf das Aussäen des geistigen Samens, von dem er Ertrag erwartet, in seine „Adonisgärten“ (Phdr. 276 b1–c10), wenn er sich der Schrift bedient. Auch das, was der geeignete Rezipient, eine „(der Sache der Philosophie) zugehörige Seele“ (eine ψυχὴ προσήκουσα, Phdr. 276 e6), vermittelt bekommt, wird ihr nicht alles auf einmal geboten, sondern gemäß einer sachlichen Ordnung nach einem klaren Zeitplan (Pol. 537 b–540 a). Was nach dem Stand der Vorbereitung des μανθάνων noch nicht fällig ist zur Behandlung, ist etwas „nicht-vorzeitig-Mitteilbares“, ein ἀπρόρρητον. Indem Platon hiermit einen Neologismus in die griechische Sprache einführt, was er nicht allzu oft tut, will er darauf hinweisen, daß er einen wichtigen Gedanken mitteilen möchte. Und er erläutert seinen Neologismus: die betreffenden Inhalte wären nicht richtig bezeichnet, wollte man sie unsagbar oder geheim (απόρρητα) nennen, sie sind aber richtig zu benennen als ἀπρόρρητα, „weil sie, vor der Zeit mitgeteilt, nichts von dem,

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was gemeint ist, klarmachen würden“.5 Es ist, als wolle Platon sagen: Esoterik ist nicht Geheimhaltung.6 ἄρρητα und ἀπρόρρητα haben gemeinsam, daß sie beide an Ungeeignete nicht mitgeteilt werden dürfen, doch der Grund für die Zurückhaltung ist in beiden Fällen ein verschiedener. Geheimhaltung wäre für Platon inakzeptabel. Ebenso inakzeptabel ist für ihn aber auch die Weitergabe philosophischer Gedanken7 an Menschen, die sie mangels Vorbereitung oder mangels Eignung nicht verstehen können. Gleicher Meinung war Ludwig Wittgenstein: „Es hat keinen Sinn, jemandem etwas zu sagen, was er nicht versteht, auch wenn man hinzusetzt, daß er es nicht verstehen kann“.8 Nur glaubte Wittgenstein, ein Buch könne die ‚automatische‘ Scheidung derer, die es verstehen, und die es nicht verstehen, bewirken.9 So naiv dachte Platon nicht. Er wußte, daß das Buch zu allen redet, zu Geeigneten und zu Ungeeigneten (Phdr. 275 e1–3). Dann bleibt aber nur eine Konsequenz: das Heraushalten der ἀπρόρρητα aus der Schrift. 2. Das philosophische Weltverständnis, das zur Ideenerkenntnis und schließlich zur Schau der Idee des Guten führt, ist nicht durch graduelle Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten zu erreichen, deren wir zur Bewältigung des Alltags bedürfen. Der Beginn der Aufwärtsbewegung stellt sich plötzlich ein, wie wir im Höhlengleichnis lesen (Pol. 515 c6), als etwas ganz anderes, als eine Umwendung des bisher gefesselten Höhlenbewohners. Entscheidend für das Verständnis dessen, was Platon meint, ist, daß diese Neuorientierung nicht etwas ist, das nur den Intellekt betrifft. Im Bild von den Gefesselten wird das so ausgedrückt, daß sie nicht in der Lage sind, den Kopf allein zum Licht hinzuwenden (περιάγειν), erst als der ganze Körper „plötzlich“ gelöst wird, kann der Hals gewendet werden (514 b1–2, 515 c6–8). Das Bild ist unmißverständlich, trotzdem setzt es Platon

5 Nom. 968 e2–5: οὕτω δὴ πάντα τὰ περὶ ταῦτα ἀπόρρητα μὲν λεχθέντα οὐκ ἂν ὀρθῶς λέγοιτο, ἀπρόρρητα δὲ διὰ τὸ μηδὲν προρρηθέντα δηλοῦν τῶν λεγομένων. 6 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Come leggere Platone. Milano 22004 [1991], 160– 163: „La differenza fra esoterica e segretezza“. 7 Man hat versucht, die ἀπρόρρητα auf Organisatorisches der Gründung der Stadt Magnesia einzuschränken. Der Text läßt das nicht zu: πάντα τὰ περὶ ταῦτα 968e 3 bezieht sich auch auf die philosophischen Lehrinhalte, auf ἃ δεῖ μανθάνειν 968 d3, s. Thomas Alexander Szlezák: Probleme der Platoninterpretation. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 230 (1978), 1–37, hier: 30 mit Anm. 33. 8 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. v. Georg Henrik von Wright. Frankfurt a. M. 1977, 23. 9 Ebd. Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Sechs Philosophen über philosophische Esoterik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003), 74–93 (zu Wittgenstein: 74–77).

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in Klartext um: die philosophische Neuorientierung als Umwendung (περιαγωγή 518 d4) der Seele ist nur möglich „mit der ganzen Seele“, σὺν ὅλῃ τῇ ψυχῇ (518 c8). Das bedeutet: für das Philosophieren, wie Platon es versteht, ist es erforderlich, daß die Denkseele, die von Hause aus mit der Ideenwelt „verwandt“ ist (611 e2–3), die beiden unteren Seelenteile, die an der Sinnenwelt orientiert und an sie gebunden sind, möglichst vollständig beherrscht, damit sie die „Umwendung“ zum Licht und den Aufstieg zur Idee des Guten nicht behindern. Kürzer gesagt: platonisches Philosophieren setzt ethische Läuterung voraus. Es kann jedoch keine Schrift – auch ein platonischer Dialog nicht – mit den philosophischen Inhalten die erforderliche ethische Läuterung mitliefern. Das ist einer der Gründe, warum die ethischen Anforderungen an die künftigen Philosophenherrscher so stark betont werden (485 a10–487 a8, 535 a–537 d). Und das ist auch der Grund, warum Inhalte, deren volles Verständnis einen hohen Grad an Läuterung verlangen würde, von der Veröffentlichung auszuschließen sind: sie wären für die unqualifizierte Mehrheit, in deren Hände jedes Buch irgendwann gelangen kann (Phdr. 275 e1–2), ἀπρόρρητα. Die „Verwandtschaft“ mit dem göttlichen Bereich des Immerseienden, die jeder Denkseele als ein ontologisches Merkmal zukommt, kann durch das individuelle Schicksal in früheren Leben und im Jenseits – wovon die Mythen Platons handeln – so weit verblassen, daß ein Mensch, dessen Seele besonderen Schaden genommen hat, schlicht als „dem Gerechten und dem übrigen Schönen nicht zugehörig und verwandt“ bezeichnet werden kann (Epist. VII 344 a5–6), da die an sich unverlierbare “Verwandtschaft” in einem solchen Fall in der Praxis eben doch verloren ist. Solch ein „der Sache (der Philosophie) nicht Verwandter“ (ein μὴ συγγενὴς τοῦ πράγματος) hat auch bei hoher Intelligenz nicht die Möglichkeit, das eigentliche Erkenntnisziel zu erreichen. Doch auch Menschen, deren seelische ἕξις der Sache nicht „fremd“ ist, die daher schlicht als συγγενεῖς gelten können, erreichen das Ziel nicht, sofern ihnen hohe Lernfähigkeit und gutes Gedächtnis abgehen (344 a2–b1). Die Existenz beider Menschentypen, also sowohl des Intelligenten mit philosophiefeindlicher Grundhaltung, als auch des seelisch richtig Orientierten ohne hinreichende Geistesgaben, ist ein Grund, die wesentlichen Einsichten nicht in die Schrift zu bringen: für beide Menschentypen wären Bücher dieser Art kontraproduktiv. Die wenigen aber, die sowohl hohe Intelligenz als auch innere Verwandtschaft zur Sache der Philosophie mitbringen, bedürfen der Schrift nicht. 3. Falsches über die Götter zu verkünden ist Gott nicht wohlgefällig, nicht θεοφιλές. Was in den Nomoi lapidar mit Bezug auf unsere Ansichten über die Gestirngötter festgestellt wird (822 c4–5), gilt a fortiori von unseren Aussagen über die Ideen und Prinzipien, und überhaupt von jeder Äu-

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ßerung über Göttliches. So sagt Sokrates Falsches über den Gott Eros, doch das tut er mit verhülltem Haupt, weil er sich schämt (Phdr. 237 a4). Nach der falschen Eros-Rede ergreift ihn Furcht, sich gegen die Götter vergangen zu haben um der Ehre bei den Menschen willen (242 c7–b2), und er beeilt sich, seinen Frevel durch die Palinodie wiedergutzumachen, diesmal mit unverhülltem Haupt (243 b3–7). Müssen wir diese Szene so deuten, daß der Dialektiker das Richtige unter allen Umständen verkünden soll? Sind wir so beim Gegenteil von philosophischer Zurückhaltung angekommen? Keineswegs. Denn die allgemeine Maxime, daß der Philosoph über die Götter (wie über jedes andere Thema) die Wahrheit und nur die Wahrheit sagen muß, löst noch nicht das Problem, das sich erst im Einzelfall stellt, nämlich vor welchen Rezipienten er mit seinen Äußerungen wie weit gehen soll und darf. Wie wir sahen, gibt es nun einmal den μὴ συγγενὴς τοῦ πράγματος, nach Platon ist dieser Zustand der Seele sogar der Regelfall (vgl. Pol. 494 a4 und öfter). Warum ist das Faktum, daß das Buch auch zu solch einem „nicht der Sache der Philosophie Verwandten“ (der auch als der „Ungeeignete“, „Unbefugte“ bezeichnet werden kann, den die Philosophie nichts angeht: ὁ οὐδὲν προσήκων, Pol. 539 d5–6, vgl. Phdr. 275 e2) spricht, für Platon ein Ärgernis, das der Dialektiker vermeidet (Phdr. 275 e1–3 gegen 276 a6–7), indem er seine „Kunst der Dialektik“ mündlich im Gespräch mit einer „geeigneten Seele“, einer ψυχὴ προσήκουσα (276e6), entfaltet? Warum ist es ein Mißstand, daß „jeder Beliebige und Unbefugte“ zur Dialektik Zutritt hat, wie das „heute“ der Fall ist (Pol. 539 d5–6)? Warum wird dieser Mißstand nach der klaren Empfehlung des Sokrates im künftigen besten Staat vermieden werden (537 e1–539 d7)? Für modernes Empfinden kann die Präsenz Ungeeigneter bei philosophischen Gesprächen niemals einen Schaden stiften, Platon hingegen nimmt Anstoß daran, nicht nur weil die schlechte Wiedergabe seiner tiefsten Einsichten „nicht zuletzt“ ihn selbst “betrüben würde” (Epist. VII 341 d4), sondern vor allem, weil bei der unvermeidlichen Entstellung der Ideenphilosophie in der Darstellung böswilliger Eristiker (343 c5–e1) notwendig das eintritt, was es zu vermeiden gilt: daß über Göttliches Falsches verbreitet wird. Die Publikation der philosophischen ἀπρόρρητα würde solchem Gott nicht gefälligem (vgl. Nom. 822 c4) Reden und Tun seitens der μὴ συγγενεῖς Vorschub leisten, und das würde κακόν τι ἐμποιεῖν ταῖς ψυχαῖς (Phdn. 115 e6). Daher ist solches Publizieren ein „Hinauswerfen in die unziemliche Dissonanz“ der öffentlichen Herabsetzung durch Ungeeignete – das war der Fehler, den Dionysios beging (ἐτόλμησεν (αὐτὰ) εἰς ἀναρμοστίαν καὶ ἀπρέπειαν ἐκβάλλειν, 344 d8). Die dem „Hinauswerfen“ entgegengesetzte Haltung, die Platon dazu einnahm, ist die einer religiösen Verehrung, eines σέβεσθαι (344 d7). Zweifellos entsprach sein Verhalten jenem gottge-

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fälligen Reden und Handeln hinsichtlich (philosophischer) Logoi, das dem Philosophen aufgegeben ist (Phdr. 273 e5–274 b10). 4. Die esoterische, am philosophischen Entwicklungsstand des Rezipienten orientierte Handhabung von Logoi ist das Beste gerade auch für den Rezipienten selbst. Das Beschreiten des „langen Umwegs“ (der μακρὰ περίοδος) der Dialektik ist das gottgefällige Tun des Philosophen (Phdr. 273 d8–274 a3). Dieser „lange“ oder „längere“ Weg kommt aber nicht in den geschriebenen Dialog, ist er doch gerade dadurch definiert, daß er im Verhältnis zu dem, was hier und jetzt möglich ist, ein anderer und ungleich umfangreicherer und schwierigerer Weg ist (Pol. 435 d1–5, 504 b1– d1, 533 a1).10 Wenn aber der längere mündliche Weg das Gottgefällige ist, so kann das an sich mögliche kurze schriftliche Zusammenfassen (vgl. Epist. VII 344 e2) der Ergebnisse dieses Weges nicht gottgefällig sein, weil so die Bedingungen der Vermittlung ihrer Wahrheit nicht gegeben wären. Das θεοῖς κεχαρισμένα μὲν λέγειν, κεχαρισμένως δὲ πράττειν (Phdr. 273 e7– 8) kann bei dieser Sachlage nur im „Schweigen gegenüber welchen man schweigen muß“, im σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ (276 a7) bestehen. Bei Verletzung dieser Verhaltensregeln droht den Rezipienten selbst moralischer Schaden: die einen fühlen sich zu einer sachlich absolut verkehrten Verachtung dessen, was sie nicht verstanden haben, berechtigt, die anderen geben sich der hochfahrenden und eitlen Illusion hin, sie hätten Erhabenes gelernt (Epist. VII 341 e3–342 b1). Beides wäre ein κακόν für die Seele (im Sinne von Phdn. 115e 6). Wer hingegen in der richtigen Weise an die Dialektik herangeführt wird, hat selbst moralischen Gewinn davon: αὐτός τε μετριώτερος ἔσται (Pol. 539 c8). 5. Doch damit nicht genug: ... αὐτός τε μετριώτερος ἔσται καὶ τὸ ἐπιτήδευμα τιμιώτερον ἀντὶ ἀτιμοτέρου ποιήσει (539 c8–d1). Wer der Dialektik in der richtigen Weise obliegt, trägt dazu bei, das gesellschaftliche Ansehen des „Geschäftes“11 der Philosophie zu heben. Daß Wertschätzung oder Geringschätzung der „wahren Philosophie“ (Pol. 499 c1, 521 b2 und öfter) Platon alles andere als gleichgültig waren, zeigen die langen Erörterungen im sechsten Buch der Politeia über die Ursachen des schlechten Ru-

10 Glaukon verlangt von Sokrates eine bloße Skizze der Dialektik, so wie er zuvor eine Skizze der mathematischen Wissenschaften erhalten hatte (532 d6–e3). Sokrates erfüllt ihm diese Bitte nicht, weil Glaukon, der bisher in allem gut gefolgt ist, bei diesem weit schwierigeren Thema “nicht mehr zu folgen in der Lage sein wird” (533 a1). – Zur langen Reihe der Aussparungen, die die Politeia durchzieht, s. Thomas Alexander Szlezák: Platone e la scrittura della filosofia. Milano 31992, 390–414. 11 ἐπιτήδευμα 489 c10, 494 a12, 500 a1, 539 d1.

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fes, den die Philosophen in der Öffentlichkeit genießen (487 d–500 e).12 Die ungerechtfertigte (öffentliche) Verachtung (καταφρόνησις, Epist. VII 341 e4) seiner umfassenden Seinsdeutung zu vermeiden, war, wie wir soeben sahen, ein Grund seiner Zurückhaltung. Solche vorhersehbare Verachtung kam denn auch auf, als Platon einmal – vermutlich in einer politischen Krise Athens, in einer Atmosphäre der Nervosität und Intoleranz, wie Gaiser annahm – sich gezwungen sah, einen öffentlichen Vortrag Über das Gute vor nicht vorgebildetem Publikum zu halten.13 6. Damit wären wir bei einem weiteren wichtigen Aspekt platonischer Esoterik angekommen: dem politischen. Ob Gaisers Hypothese zutrifft oder nicht – die Annahme, ein Denker mit den theologischen Ansichten und den demokratiekritischen Äußerungen Platons hätte sich nach der Hinrichtung des Sokrates wegen Religionsfrevels in Athen jemals wieder völlig sicher fühlen können, wäre reichlich naiv. Die biographische Nachricht, Platon sei nach dem Tod des Sokrates zusammen mit anderen Schülern des Meisters zu Eukleides nach Megara „ausgewichen“

12 Zu Platons Gedanken über die gesellschaftliche Geltung der Philosophie und über seine Selbsteinschätzung s. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004, 2–22: „Der Rang des philosophischen epitedeuma“. 13 Aristoxenos, Elem. harm. II, p. 30–31 Meibom: ... οἱ μὲν ὑποκατεφρόνουν τοῦ πράγματος, οἱ δὲ κατεμέμφοντο. Die überzeugendste Hypothese zur historischen Einordnung dieser Vorlesung ist die von Konrad Gaiser (Plato’s enigmatic lecture ‚On the Good‘. In: Phronesis 25 (1980), 5–37, auch in: Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák. Sankt Augustin 2004, 265–294): nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg 357–355 v. Chr. und dem Verlust der zweiten Seeherrschaft habe die radikaldemokratische Richtung in Athen den politischen Druck auf alle verstärkt, die sie im Verdacht hatte, der Demokratie ablehnend gegenüberzustehen. Platon war auf Grund seiner (scheinbar) engen Beziehung zu Dionysios II. von Syrakus mit Sicherheit einer der am meisten Verdächtigen. In dieser potentiell gefährlichen Lage habe er sich entschlossen, seine Prinzipienlehre, die er bisher nur in der Akademie erörtert hatte, unter dem Titel Über das Gute auch öffentlich vorzutragen, um den Athenern zu zeigen, daß von ihr keine politische Gefahr ausging. Gaisers Hypothese wird heute von den meisten Historikern, die sich mit der Zeit befaßt haben, akzeptiert. Als Zeitpunkt der Vorlesung vermutet Gaiser 353 oder 352 v. Chr. (vgl. Gaiser: Gesammelte Schriften, 285). Sollte 352 zutreffen, so kann die öffentliche Vorlesung nach der Absendung des Siebten Briefes (wohl 353) stattgefunden haben. Wenn Platon nach dem Abfassen des Briefes durch die athenische Innenpolitik gezwungen wurde, seinen esoterischen Grundsätzen einmal zuwiderzuhandeln, so war das für ihn vermutlich bitter, ist aber kein Grund für uns, von einem ‚Widerspruch‘ zwischen Platons Theorie und Praxis zu reden.

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(ὑπερχώρησεν),14 wird meist als Flucht der Sokratiker aus Furcht vor politischer Verfolgung gedeutet. Zwischen 399 und dem Tod Platons scheint zwar kein Philosoph in Athen verurteilt worden zu sein. Doch bald darauf wurde Anklage gegen Aristoteles erhoben.15 Sollen wir annehmen, daß Platon das, was bald nach seinem Ableben Wirklichkeit wurde, zu seinen Lebzeiten und für seine Person für ausgeschlossen hielt? Wie wichtig kann die mögliche politische Gefährdung von Philosophen für ihn gewesen sein? Die Antwort darauf scheint einzig von den Zeitumständen abzuhängen, in denen der jeweils Urteilende lebt: im späten 18. Jahrhundert, als es in allen Staaten noch die Zensur gab, hielten es Tiedemann und Tennemann für gegeben, daß Platon sich (auch) aus politischen Befürchtungen heraus vor allem in seinen Aussagen über die Götter bedeckt hielt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war zumindest die westliche Welt frei, folglich nahm kaum ein Interpret dieses Kulturkreises den politischen Aspekt ernst. (Dabei war es keineswegs ein Geheimnis, daß man in naher Nachbarschaft, z. B. im Osten Deutschlands, noch bis 1989 für seine politischen und religiösen Überzeugungen verfolgt werden konnte.) Was schließen wir aus der Zeitbedingtheit solcher Urteile? Zu behaupten, daß die Angst vor politisch-religiöser Verfolgung die primäre Ursache für Platons esoterische Haltung war, wäre töricht. Zu behaupten, daß es ein politisches Risiko für Philosophen objektiv nicht gab, und daß es folglich bei Platon auch keine subjektive Befürchtung gegeben haben könne, wäre ebenso töricht. Wir wissen einfach nicht, wie Platon die politische Atmosphäre in seiner Stadt über die Jahre hin einschätzte.16 Eines jedoch wissen wir: daß ihm die Verurteilung des Sokrates nie aus dem Sinn ging, weil er sie nicht als einen bloßen Unfall der Geschichte, sondern als systembedingt notwendigen Justizmord einstufte. Unter den zahlreichen Anspielungen auf den Tod des „gerechtesten Menschen seiner Zeit“ (Epist. VII 324 e2) ist die philosophisch bedeutsamste wohl die auf dem Höhepunkt seines Hauptwerkes: im Höhlengleichnis lesen wir, daß der vom Aufstieg zum Licht Zurückgekehrte von seinen Mitbürgern umgebracht werden würde, könn-

14 Diog. Laert. III 6 und II 106 = SSR II A 5, S. 378 (= Gabriele Giannantoni (Hg.): Socratis et Socraticorum reliquiae, vol. I. Napoli 1990). 15 Diog. Laert. V 5. 16 Im Siebten Brief wird die „Billigkeit“ (ἐπιείκεια) der zurückgekehrten Demokraten (trotz einzelner Übergriffe) anerkannt: 325 b4–5. Pol. 500 a5–7 billigt Platon dem Demos Milde zu (was freilich nichts über seine Einschätzung der Volksführer, der Demagogoi, aussagt). Polit. 303 a wird unter allen Staatsformen, in denen das Gesetz nicht geachtet wird, die gesetzlose Demokratie als die erträglichste eingestuft – vielleicht eine Art Kompliment Platons an sein Athen.

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ten sie seiner habhaft werden (517 a5–6, vgl. 492 d7). Da der Aufstieg, von dem „Sokrates“ hier berichtet, nicht der Denkweg des historischen Sokrates war, sondern eindeutig den eigenen Weg Platons darstellt, ist es wohl nicht zu viel gesagt, daß hier, an prominenter Stelle der Politeia, die potentiell tödliche Bedrohung des Philosophen der Ideenwelt und des „Prinzips von allem“ (vgl. 511 b7) deutlich ausgesprochen ist. Das kann nur bedeuten: daß Philosophieren in Athen jemals „sicher“ sein könnte, gehörte wohl nicht in die Vorstellungswelt Platons. Was ich mit diesen Ausführungen hoffe gezeigt zu haben, ist dies: der Durchgang durch die bei Platon anzutreffenden Überlegungen gnoseologischer, kommunikationstheoretischer, ethischer, religiöser, pädagogischer, gesellschaftlicher und politischer Art läßt erkennen, daß nichts im Werk und im Welt- und Menschenbild dieses Denkers so tief verwurzelt ist wie seine esoterische Grundhaltung – außer natürlich der Ideenlehre mit ihrer Umwendung der Seele zum Intelligiblen und dem Aufstieg zu einem höchsten Prinzip „jenseits von Sein“. Daß beides aufs engste zusammenhängt, ist, so hoffe ich, nebenbei auch klar geworden.

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33. Zur üblichen Abneigung gegen die Agrapha Dogmata (1993)

Die Entscheidung der Herausgeber, ein Heft der Methexis den Berichten über die mündliche Philosophie Platons zu widmen, stößt auf ungläubiges Staunen. Der Mut, der dazu gehört, ist zu bewundern. Dem gewagten Unternehmen kann man nur alles Gute wünschen. Es bleibt jedoch die Frage, ob wir heute schon so weit sind, diesen Versuch wagen zu können. Idealisten und Fortschrittsgläubige werden gegen diese skeptische Frage einwenden, dass „die Forschung“ zu jeder Zeit jedes beliebige Thema aufgreifen könne, und dass der redliche Wille der Interpreten, der historischen Wahrheit auf den Grund zu kommen, verbunden mit der korrigierenden Wirkung von Kritik und Gegenkritik, eine hinreichende Gewähr biete, dass bei jedem ernsthaften Anlauf auch wirklicher Fortschritt erzielt wird. Gerne würde man sich dieser optimistischen Ansicht anschließen. Ein realistischer Blick auf den „Gang der Forschung“ der letzten Generationen läßt indes Zweifel aufkommen, ob die gelehrte Arbeit dem Ziel der Findung der Wahrheit wirklich in so unanfechtbarer Serenität und Objektivität entgegenschreitet. Und auch die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion gibt uns ein recht anderes Bild von dem, was wir gewöhnlich „wissenschaftlichen Fortschritt“ nennen.1 Ob subjektiv redliche und objektiv gründliche Bemühungen um Platon zu einem Ergebnis führen, das auch künftig als bleibender Fortschritt betrachtet werden wird, hing und hängt nicht allein vom Willen und von den intellektuellen Fähigkeiten der Beteiligten ab, sondern auch vom historischen kairós, über den niemand verfügen kann. Ein Beispiel mag verdeutlichen, was gemeint ist. Nehmen wir die folgenreiche Kritik, die Karl Popper in Der Zauber Platons an der politischen Philosophie Platons übte.2 Obwohl vielleicht von keinem einzigen von Poppers vielen Einwänden gegen platonische Überzeugungen und Text-

1 Es sei nur an den Ausgangspunkt einer inzwischen weitverzweigten Diskussion erinnert: Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. 2 Karl Popper: The Open Society and Its Enemies, Bd. I: The Spell of Plato. London 1945.

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33. Zur üblichen Abneigung gegen die Agrapha Dogmata

stellen behauptet werden kann, dass er nicht auch schon hundert Jahre zuvor hätte formuliert werden können, ist es doch evident, dass das Ganze der Popperschen Kritik nur in dem bestimmten kairós, den der Ausgang des Zweiten Weltkriegs herbeiführte, eine Chance hatte, von weiten Kreisen von Platon-Lesern akzeptiert zu werden. Nur weil einerseits der Krieg die wahre Natur der totalitären Regime des 20 Jhs. gezeigt hatte, und andererseits die Neigung fortbestand, die Ursachen gegenwärtiger Übel tief in der Geschichte, möglichst bei den Griechen selbst, zu suchen, war der abwegige Versuch möglich, bei Platon den letzten Ursprung des neuzeitlichen Totalitarismus zu finden. Entsprechend schwer hatte es die Kritik an Popper: so mutig auch gegen ihn angekämpft wurde, so viele Fehler im einzelnen man ihm auch nachwies, der kairós der Nachkriegszeit brachte es mit sich, dass der Zauber Poppers für viele ungebrochen blieb. Jetzt erst beginnt dieser Zauber zu verblassen. Die Aufgabe einer gerechteren Würdigung des politischen Denkens Platons bleibt insgesamt erst noch zu leisten (mag sie auch durch zahlreiche wertvolle Einzeluntersuchungen vorbereitet sein):3 es wird zu zeigen sein, dass Platon zwar nicht ‚liberal‘ und ‚demokratisch‘ war im Sinne des 20. Jhs. (bzw. es nicht sein konnte auf Grund seines historischen Ortes), dass er aber andererseits ebenso weit entfernt war vom totalitären Geist der Neuzeit; ferner, dass seine Kritik der athenischen direkten Demokratie gerade bei den potentiell totalitären Zügen der uneingeschränkten Volksherrschaft (die noch bei dem Aufklärer Kant mit Recht Anstoß erregten)4 ansetzte, und dass manche seiner politischen Anschauungen und Forderungen in den modernen parlamentarischen Demokratien aufgenommen wurden.5 Der Fall Popper, hier zunächst nur als Beispiel angeführt, ist freilich auch inhaltlich nicht belanglos für unsere Frage: die geistige Atmosphäre, in der eine so einseitige Evokation des Zaubers Platons wie die Poppersche die Gemüter beherrschen konnte, war nicht günstig etwa für die Aufnahme der ebenso einfachen wie unerlässlichen Unterscheidung zwischen (pythagoreischer) Geheimhaltung und (platonischer) Esoterik (s. unten Punkt 4). Mit der verständlichen Ablehnung von Geheimhaltung glaubte man auch die platonische Esoterik vom Tisch gewischt zu haben.

3 Aus einer reichen Literatur nenne ich nur beispielshalber: Glenn R. Morrow: Plato’s Cretan City. Princeton, New Jersey 1960; Reinhart Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Berlin 1970; Marcel Piérart: Platon et la cité grecque. Bruxelles 1974. 4 Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Königsberg 21796, BA 24f. (Demokratie, sofern sie keine Gewaltenteilung kennt, ist ‚Despotism‘). 5 Vgl. meinen Versuch einer knappen Skizze in Platone politico. Roma 1993.

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Auch heute noch glauben viele Interpreten, guten Gründe zu haben, der Beschäftigung mit den Testimonien zu Platons mündlicher Philosophie aus dem Weg zu gehen. Einigen dieser Gründe wird man nicht oft in schriftlicher Formulierung begegnen, ja selbst mündlich werden manche von ihnen nur selten explizit gemacht – dass sie indessen auch unausgesprochen wirksam sind, wird niemand bezweifeln wollen, der sich auch nur ein wenig mit der Sache befasst hat.6 Ihre faktische Wirksamkeit zeigt sich darin, dass die Bemühungen um Platon in einem wichtigen Punkt deutlich andere Wege gehen als sonst üblich im Umgang mit Autoren der Antike: besitzen wir von einem griechischen Dichter oder Denker sowohl ganze Werke als auch Berichte über Verlorenes, so bemühen wir uns seit jeher, das Erhaltene mit dem indirekt Überlieferten zu vergleichen, Übereinstimmungen und eventuelle Abweichungen aufzuzeigen und überhaupt auf dem Weg behutsamer Interpretation an der gegenseitigen Erhellung der beiden Zweige der Überlieferung zu arbeiten. Ein Interpret des Hesiodos oder Aischylos, des Aristoteles oder Epikuros, der sich weigern würde, zur Erklärung der vollständig erhaltenen Werke die jeweiligen Fragmente und Testimonien überall dort heranzuziehen, wo sachliche Berührungen vorliegen, müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht ‚lege artis‘ vorzugehen. Bei Platon haben wir es uns umgekehrt zur Regel gemacht, diejenigen scheel anzusehen, die die sonst überall anerkannte Methodik ohne triftigen Grund nicht über Bord werfen wollen und die Beschäftigung mit den Zeugnissen der innerakademischen Philosophie Platons befürworten. Die Zeit für eine erfolgversprechende Hinwendung zur indirekten Platon-Überlieferung wird dann gekommen sein, wenn eine hinreichend große Zahl von Interpreten erkannt haben wird, dass die bisher übliche Grundorientierung allem zuwiderläuft, was wir sonst als gesunde Methodik anerkennen. Im Folgenden soll nun zunächst gefragt werden, welches sachliche Gewicht den Gründen zukommt, denen sich diese übliche Grundorientierung verdankt. Erst dann wird eine Vermutung erlaubt sein, ob diese Gründe wohl ausreichen werden, eine fruchtbare und breit gestreute Ein-

6 Es geht hier also nicht so sehr um die prinzipiellen Fragen der Platonhermeneutik (vgl. hierzu: Thomas Alexander Szlezák: Come leggere Platone. Milano 22004 [1991] sowie die unter Anm. 16 genannte Arbeit) als um Überlegungen von geringerem theoretischen Anspruch, die jedoch in der Realität der täglichen Arbeit des heutigen Platoninterpreten von größerem praktischen Gewicht sein dürften. Daß es Überschneidungen zwischen beiden Fragestellungen gibt, liegt in der Natur der Sache.

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beziehung der mündlichen Philosophie in die Interpretation der Dialoge auch künftig zu verhindern. 1.

Gerne spricht man von „Platons sogenannten ungeschriebenen Lehren“, mit Betonung auf „sogenannt“, und glaubt durch entsprechende ironische Nuancierung die ganze Frage schon entschieden zu haben – denn wozu sollte man sich mit so etwas Fragwürdigem wie sogenannten ungeschriebenen Lehren abgeben? Die Versuchung, sich durch subtile Ironie über die Gegenseite erheben zu wollen, mag ja verständlich sein. Dass man sich hierfür aber mit einer sprachlich sehr wenig subtilen – um nicht zu sagen: falschen – Übersetzung zufrieden geben muss, ist nicht ohne Ironie. Denn zu Unrecht glauben diejenigen, die die ‚sogenannten ἄγραϕα δόγματα‘ mit einem ironischen Lächeln erledigen möchten, sie könnten sich für ihre Haltung auf Aristoteles berufen. Dieser spricht zwar an einer mittlerweile berühmten Stelle der Physikvorlesung von Πλάτων ... ἐν τοῖς λεγομένοις ἀγράϕοις δόγμασιν (209 b14–15 = Test. Plat. 54 A Gaiser). Nur hat λεγομένοις im Kontext der Stelle nichts von der abwertenden Bedeutung, die in den modernen Sprachen mit den Ausdrücken ‚sogenannt‘, ‚so-called‘, ‚cosidetto‘ usw. verbunden ist. Während wir Heutigen diese Ausdrücke verwenden, um auszudrücken, dass etwas den Namen, den es hat, nicht wirklich verdient – so ist z. B. eine „sogenannte Freiheitsbewegung“ eine Bewegung, die nicht wirklich auf die Befreiung der Mitbürger zielt, sondern dies nur von sich behauptet, während sie in Wirklichkeit die alte Gewaltherrschaft durch eine neue ersetzen will – gebrauchten die Griechen die Partizipien λεγόμενος und καλούμενος in der Regel um auszudrücken, dass eine Sache faktisch mit einem bestimmten Namen belegt wird, ob nun zu Recht oder zu Unrecht (wozu aber der Sprecher durch die genannten Partizipien eben nicht Stellung nimmt). In dieser ‚objektiven‘ Bedeutung ist „το λεγόμενον Α“ zu übersetzen als „was mit dem Namen A belegt wird“ oder „was als A bezeichnet wird“ („what is being called A“, „ce qu’on appelle A“). Die Physikstelle spricht also von einer Bestimmung des ‚Aufnehmenden‘ (des μεταληπτικόν), die Platon „in dem, was man als (seine) ‚Ungeschriebenen Lehren‘ bezeichnet“ gegeben hatte. Aristoteles ironisiert hier nicht, worauf er sich beruft, – denn so könnte er es nicht gut als platonische Quelle neben dem Timaios benützen –, vielmehr gibt er uns die unparteiische Informati-

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on, dass der von ihm gemeinte Komplex platonischer Ansichten den Namen (Πλάτωνος) ἄγραϕα δόγματα trug.7 Gewiss können im Griechischen λεγόμενος und καλούμενος auch in der ironischen Bedeutung von ‚sogenannt‘ (‚so-called‘, ‚cosidetto‘, etc.) gebraucht werden, doch der gewöhnliche und charakteristische griechische Sprachgebrauch ist der genannte. Und dies ist beileibe keine neue Erkenntnis, vielmehr schon in der alten – freilich bis heute unübertroffenen – Grammatik von Kühner-Gerth nachzulesen. Da aber Kühner-Gerth keinen Beleg aus Aristoteles bieten, ist es nicht überflüssig, zusammen mit ihren Beispielen auch einige Stellen aus den Pragmatien (sowie aus Platons Dialogen) zu betrachten – was hier im Anhang zu diesem Beitrag geschehen soll (unten S. 172ff.).8 Diese Stellen führen auf das nicht überraschende Ergebnis, dass auch bei Aristoteles die ‚objektive‘ Bedeutung die überwiegende ist. In manchen Fällen fragt man sich aber, warum überhaupt λεγόμενον oder καλούμενον dabeisteht, wie etwa in Met. I 8, 1058 a21 πρὸς τὸ καλούμενον γένος. W. D. Ross übersetzt hier „that which is called the genus“9 und erklärt dazu in seinem Kommentar:10 „the technical meaning of γένος and εἶδος is not quite familiar, and καλούμενον introduces it with some diffidence“. Diese Art der ‚Distanzierung‘ von dem verwendeten Begriff mag auch für manche andere Stelle zutreffen, und wohl auch für unsere Physikstelle 209 b14. Eine darüber hinausgehende ironischabwertende Distanzierung anzunehmen, wo keine sachlichen oder sprachlichen Indizien dazu zwingen, ist bloße Willkür. Gleichwohl haben nicht wenige Interpreten in unserem Jahrhundert ohne weitere Prüfung vorausgesetzt, dass Aristoteles’ Erwähnung der λεγόμενα ἄγραϕα δόγματα in abwertendem Sinn zu verste-

7 Die Übersetzungen z. B. von Hans Wagner (Aristoteles: Physikvorlesung. Darmstadt 21972, 85: „in den sogenannten Ungeschriebenen Lehren“) und R. P. Hardie/K. Gaye (Physics. In: The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation. Hg. v. Jonathan Barnes. Princeton 1984, Bd. I, 315–446, hier: 356f.: „in his so-called unwritten teaching“) – um nur zwei der meistverbreiteten Übersetzungen zu erwähnen – wären also in diesem Punkt zu korrigieren. Richtig hingegen Henri Carteron (Paris 1966): „dans ce qu’on appelle les Enseignements non écrits“. 8 Die Kenntnis dieses Anhangs wird im Folgenden vorausgesetzt. 9 In: The Complete Works of Aristotle. Hg. v. Jonathan Barnes. Princeton 1985, Bd. II, 1671. 10 Aristoteles: Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary by W. D. Ross. Oxford 1924, II 302.

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hen sei. Womit sie nur zeigten, dass ihnen eine unvoreingenommene Beurteilung dieses Komplexes nicht möglich war.11 2.

„Ein dogmatischer Platon ist undenkbar und wäre mit der Haltung, der wir in den Dialogen begegnen, nicht vereinbar“. Es ist an der Zeit, auszusprechen, dass die weitverbreitete Ansicht, die esoterische Platondeutung würde auf einen ‚dogmatischen‘ Platon führen, auf einem ganz simplen sprachlichen Mißverständnis beruht: offenbar glaubt man, Platons ‚ágrapha dógmata‘ hätten aus ‚Dogmen‘ im neuzeitlich-christlichen Sinn bestanden. Bei diesem Verständnis muß sich in der Tat die Befürchtung einstellen, wir müßten uns Platon vorstellen wie den Papst von Rom, der sich – dum ex cathedra loquitur – für unfehlbar hält und auch von den Gläubigen verlangt, daß sie ihn dafür halten. Die scheinbare Schwierigkeit löst sich, sobald man ein wenig auf die Wort- und Begriffsgeschichte achtet. Die gefürchtete Bedeutung von ‚dogma‘ datiert aus den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jh. (auch wenn man sich auf katholischer Seite auf einen Autor des 5. Jh.s nach Christus, auf den nicht sehr bekannten Vincentius von Lerinum berufen konnte) und setzte sich vollends erst im 19. Jh. endgültig durch.12 Die von Aristoteles überlieferte Bezeichnung ἄγραϕα δόγματα impliziert wohl keinen stärkeren Anspruch als τὰ ἐμοὶ δοκοῦντα, die „(eigenen) Ansichten“, die Sokrates in der Politeia vom Guten zu haben gesteht (506 e2, 509 c3, vgl. 517 b6, 533 a3 sowie Timaios’ δοκοῦντα über die ἀρχαί Tim. 48 c6). Ob Platon, indem er sich für eine solch unprätentiöse Sprache entschied, zugleich für ein bloßes Meinen, für eine bloße ‚Doxastik‘ hinsicht-

11 Meine Kritik der üblichen Übersetzung von τὰ λεγόμενα ἄγραϕα δόγματα habe ich vor einem größeren Kreis von Platonikern vorgetragen anläßlich der Diskussion zu R. Ferbers Beitrag zum II. Symposium Platonicum in Perugia (September 1989). Ich freue mich, daß Ferber in der gedruckten Fassung seines Beitrags meine Anregung aufgegriffen hat, einschließlich des Hinweises auf Kühner-Gerth (Rafael Ferber: Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Plato die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben? St. Augustin 1991, 67 Anm. 3). Um so verwunderlicher, daß Ferber die zu Mißverständnissen Anlaß gebende herkömmliche Übersetzung weiterverwendet. 12 Martin Elze: Artikel ‚Dogma‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 2: D–F. Basel/Stuttgart 1972, 276.

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lich der Prinzipien optierte, wie einige Interpreten neuerdings meinen,13 ist eine Frage, die an anderer Stelle behandelt werden soll. Hier genügt es festzuhalten, daß die Bezeichnung ‚ágrapha dógmata‘ von sich aus keinen rigorosen Wahrheitsanspruch suggeriert, und uns überdies auch deswegen nicht auf ein bestimmtes Bild von Platons Art, mündlich zu philosophieren, festlegen kann, weil sie so gut wie sicher weder von Platon selbst noch von Aristoteles stammt, sondern wohl von (für uns) anonymen Hörern in der Akademie, deren Intentionen bei der Benennung wir nicht kennen. Nur soviel darf der Bezeichnung entnommen werden, daß es philosophische „Ansichten“ Platons gab, die ungeschrieben blieben, – dies allerdings nicht zufällig und bis auf weiteres, sondern grundsätzlich. Denn wenn es sich lediglich um gewisse ‚Restbestände‘ der laufenden Diskussionen gehandelt hätte, die zufällig im letzten Dialog Platons nicht mehr berücksichtigt werden konnten, wohl aber im nächsten Dialog drankommen konnten, so wäre es nicht zu einer eigenen Bezeichnung für diesen Bereich des platonischen Denkens gekommen, auf die man sich wie auf etwas Bekanntes (τὰ λεγόμενα ἄγραϕα δόγματα) berufen konnte. Entgegen weitverbreiteten Befürchtungen impliziert die esoterische Platondeutung keinen ‚Philosophiepapst‘ Platon. Es spricht nichts dagegen, uns Platon bei der mündlichen Diskussion seiner Prinzipientheorie nach dem Bild vorzustellen, das er selbst von Sokrates bei der Diskussion der Unsterblichkeit der Seele im Phaidon entworfen hat. Danach wäre der Gründer der Akademie zwar nicht bereit gewesen, über ἕν und ἀόριστος δυάς, über die Ideenzahlen und die Erklärung der Wirklichkeit aus den Prinzipien etwas zu publizieren; wohl aber war er bereit, seine ganze Theorie den Einwänden jüngerer Mitglieder der Akademie auszusetzen: unendlich geduldig, jeder ‚Misologie‘ abhold, immer begierig, Neues und Besseres zu lernen, diskutierte er völlig undogmatisch immer wieder die Schwierigkeiten der Ideen- und Prinzipienerkenntnis. Ob er bei seiner ehrlichen Bereitschaft, sich widerlegen zu lassen, wirklich auch widerlegt wurde? Wir wissen es nicht. Aber gesetzt den Fall, daß es ihm selbst nicht so schien: würde daraus folgen, daß er ‚dogmatisch‘ war? War Sokrates ‚dogmatisch‘, als er sich trotz redlicher Bereitschaft zum Umlernen weder von

13 So R. Ferber in der oben Anm. 11 zitierten Arbeit und Chr. Gill in seinem Beitrag zum vorliegenden Heft [Methexis VI (1993)], dessen Manuskript er mir freundlicherweise vor dem Druck zur Verfügung stellte.

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Kebes noch von Simmias davon abbringen ließ, daß die Seele unsterblich ist? 3.

„Ein System Platons ist inakzeptabel und mit dem offenen Philosophiebegriff der Dialoge nicht verträglich“. Wie sehr man sich über ein ‚System‘ Platons empören will, hängt davon ab, wie hoch man den Begriff System ansetzen will. Wir Heutigen haben die systematischen Entwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts sowie das Systemdenken des Deutschen Idealismus hinter uns. Durch Nietzsche und Heidegger, durch Wittgenstein und manch anderen Einfluß sind wir gegen systematische Ansprüche mißtrauisch geworden. Allzuleicht übersehen wir dabei, daß die prinzipielle Ablehnung des Systemgedankens eine Position ist, die nur an unserem philosophiehistorischen Ort möglich geworden ist.14 Und allzuschnell sind wir bereit, den infiniten Philosophiebegriff der deutschen Romantik auch Platon zu unterstellen.15 Eine Äußerung Platons, die die Erklärung der gesamten Wirklichkeit aus einheitlichen Prinzipien definitiv für unmöglich erklären würde, gibt es in den Dialogen nicht. Hingegen richtet sich Aristoteles’ Kritik an solchen Aspirationen (Met. Λ 4, 1070 b4ff.; A 10, 1075 a28ff.; A 9, 992 b18ff.) deutlich gegen Platon und die Akademie. In der Tat läßt sich schwer leugnen, daß die platonische ‚Dialektik‘ ihrem Begriff nach darauf angelegt ist, einen Weg zur Erfassung aller Bereiche der Wirklichkeit zu weisen (vgl. Politeia 511 b–d, 534 bc, Parm. 136 e), und daß dies insbesondere auch für das Dihairesis-und-Synagoge-Verfahren gilt. Voraussetzung für die Mög14 Dies wurde vor mehr als 25 Jahren von Klaus Oehler in einem sehr klarsichtigen Artikel dargelegt, der leider zu wenig Beachtung fand: Der entmythologisierte Platon. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 19 (1965), 393–420 [wiederabgedruckt in: Jürgen Wippern (Hg.): Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Darmstadt 1972, 95–129]. 15 Zum grundlegenden Unterschied des neuzeitlichen und des platonischen Philosophiebegriffs vgl. Hans Joachim Krämer: Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 583–621, sowie Karl Albert: Über Platons Begriff der Philosophie. Sankt Augustin 1989 [ital. Ausgabe: Sul concetto di filosofia in Platone. Milano 1991]. Krämer zeigt in detaillierten Analysen auf, wie der idealistisch-romantische Philosophiebegriff von Fichte und Schlegel über Schleiermacher das moderne Platonbild prägte, während Albert durch eine präzise Interpretation relevanter Dialogstellen nachweist, daß die Vorstellung, die Wahrheit sei dem Menschen grundsätzlich nicht erreichbar, nicht den Intentionen Platons entspricht.

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lichkeit solcher Erfassung ist die ontologische Grundüberzeugung Platons von der ‚Verwandtschaft‘ aller Dinge, die er schon im Menon ausdrückte (ἅτε γὰρ τῆς ϕύσεως ἁπάσης συγγενοῦς οὔσης, Men. 81 cd, vgl. Symp. 202 e6). Im übrigen kann man nicht leicht verkennen, daß etwa die Politeia mit ihren strengen Entsprechungen zwischen Seelenstruktur und idealer Staatsordnung, zwischen Menschentypen und Verfassungsformen, zwischen Erkenntnisvermögen und Seinsstufen ein deutliches Streben nach Zusammenfassung der unterschiedlichsten Erkenntnisse unter vereinheitlichenden Gesichtspunkten verrät. Ähnliches gilt auch für den Timaios. Wir haben Grund zu der Annahme, daß die in den Dialogen schon sichtbaren einheitsstiftenden Momente des platonischen Denkens in der mündlichen Philosophie verstärkt hervortraten: die gezielte Aussparung der Prinzipien in den Dialogen (vgl. z. B. Politeia 506 e, 509 c, 533 a, Tim. 28 c, 48 c, 53 d) weist darauf hin, daß im Schriftwerk die Einheit und Kohärenz der platonischen Konstruktion der Wirklichkeit absichtlich nicht voll entfaltet wird. Das richtige Verständnis der Dialoge selbst führt uns also zu der Einsicht, daß das Streben nach einer ‚systematischen‘ Einheit der Welterfassung nicht unplatonisch ist – wobei das Wort ‚systematisch‘ freilich nicht mit allen philosophischen Implikationen des neuzeitlichen spekulativen Systembegriffs belastet werden darf. 4.

„Geheime Lehren wären Platons nicht würdig, zudem undemokratisch und moralisch fragwürdig.“ Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Allerdings ergibt sich daraus kein Argument gegen die Beschäftigung mit der esoterischen mündlichen Philosophie Platons, denn diese bestand nicht in einer Geheimlehre. Geheimhaltung und Esoterik sind nun einmal nicht dasselbe. Man kann freilich gut verstehen, daß diese beiden Einstellungen zum Gebrauch der Schrift anfänglich nicht klar getrennt wurden, und zwar weder auf der ‚esoterischen‘ noch auf der antiesoterischen Seite. Denn für unsere moderne Schriftkultur, die ganz auf möglichst weite Verbreitung von Information und Wissen aller Art eingeschworen ist, ist jede restriktive Haltung gegenüber der ungehemmten Wissensverbreitung zunächst unverständlich. Unser historischer Abstand zu jenen Epochen, in denen die uneingeschränkte Publizität des Wissens und Forschens noch nicht selbstverständlich war, ist so groß, daß es uns schwerfällt, die für die Beurteilung jener Epochen nötigen Unterscheidungen zu treffen.

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Den tiefgreifenden Unterschied zwischen pythagoreischer Geheimhaltung und platonischer Esoterik habe ich an anderer Stelle zu beschreiben versucht.16 Ich kann mich hier daher kurz fassen. Geheimhaltung geht einher mit einem rigorosen moralischen Zwang der Gruppe gegen die einzelnen Mitglieder, das sie privilegierende Wissen niemandem preiszugeben. Der Gruppenzwang wird durch eidliche Bindung verstärkt, Verletzung des Eides zieht Sanktionen nach sich. Das geheimgehaltene Wissen wird verstanden als Grundlage und Bestandteil der Machtposition des Bundes: unerlaubte Verbreitung bedeutet Minderung des Einflusses der Gruppe. Ganz anders die esoterische Haltung. Sie verlangt keinen Eid, sondern appelliert an die Vernunft, somit an die freie Entscheidung der Gleichgesinnten. Auf die Verletzung der wünschenswerten Inhalte antworten nicht Sanktionen, sondern allenfalls menschliche Enttäuschung der Freunde (wie wir an Platons 7. Brief nachprüfen können). Wünschenswert ist die Zurückhaltung aber aus einer zweifachen Verantwortung heraus: einmal aus der Verantwortung gegen den Gegenstand des Denkens – es ist dies der Bereich des ‚Göttlichen‘ und ‚Immerseienden‘, dem sich der Mensch durch Philosophie ‚anzugleichen‘ hat: eine willkürliche Herabsetzung dieses Bereiches durch unzureichend Informierte wäre Platon offenbar nicht gleichgültig gewesen; sodann aus der Verantwortung gegen den Rezipienten: es ist für ihn nicht von Vorteil, wenn er Dinge hört, die er noch nicht voll verstehen kann, denn daraus resultiert Einbildung oder Verachtung für das nicht Verstandene, was ihn künftig hindern wird, ‚wahrhaft zu philosophieren‘ und sich so der dem Menschen möglichen Eudaimonie zu nähern. Aus Respekt also für ‚das Göttliche‘ einerseits, für den künftigen Philosophen andererseits wird der verantwortungsbewusste Philosoph nicht alles ‘hinauswerfen’ (Epist. 7, 344 d8), was ihm über ‚die höchsten Dinge‘ klargeworden ist. Was er zurückbehält, ist nicht ‚geheim‘, wohl aber ‚nicht vorzeitig mitteilbar‘: nicht ἀπόρρητον, wohl aber ἀπρόρρητον (Nom. 968 e3). Der Mangel einer klaren Unterscheidung zwischen ‚Esoterik‘ einerseits und ‚Geheimhaltung‘ andererseits hat zur Folge gehabt, daß die Mehrzahl der Interpreten der Vorstellung einer platonischen Esoterik mit derselben emotionalen Feindseligkeit begegnete, die wir als moderne Demokraten mit Recht gegen jede Geheimhaltung empfinden.

16 Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 400–405 (= ders.: Platone e la scrittura della filosofia. Milano 19923, 484–488).

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Nachdem die Verwechslung aber aufgeklärt ist, sollte die apriorische Hostilität irgendwann einmal abebben. Nebenbei sei bemerkt, daß sich Konrad Gaiser und Hans Joachim Krämer schon vor einem Vierteljahrhundert eindeutig von der Vorstellung einer „Geheimlehre“ bei Platon distanziert haben.17 5.

„Wir haben doch die Dialoge, und die sind reich genug an philosophischem Inhalt – wozu sollen wir uns für Ungeschriebenes interessieren?“ Der Versuch, das schriftliche Werk Platons gegen seine mündliche Philosophie auszuspielen, hat viele Spielarten. Unphilologisch sind sie alle, denn gute philologische Methode verlangt, beide Zweige der Überlieferung zu beachten. Eine bei philosophischen Interpreten beliebte Variante dieses Versuchs besteht darin, zu versichern, daß man „mit den Dialogen zufrieden“ sei, mit der ironischen Unterstellung, die Gegenseite sei damit „unzufrieden“, was selbstverständlich – das braucht gar nicht ausgesprochen zu werden – nur ein Zeichen mangelnden philosophischen Verständnisses sein kann. W. Wieland ging so weit, zu behaupten, das Interesse für den ungeschriebenen Platon erkläre sich aus dem unphilosophischen Verlangen nach eindeutiger Belehrung; da aber die Dialoge (angeblich) keinerlei propositionales Wissen anbieten, fühlten sich manche Leser veranlaßt, dergleichen anderswo zu erwarten, eben in den ἄγραϕα δόγματα.18 Leider wird diese ‚Erklärung‘ von der Geschichte der Forschung widerlegt: Platoniker, die sich in unserem Jahrhundert lebhaft für die ungeschriebene Prinzipientheorie interessierten, waren u. a. Léon Robin, Julius Stenzel, Heinrich

17 Konrad Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963], Nachwort 588; Hans Joachim Krämer: Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung. In: Hans-Georg Gadamer/Wolfgang Schadewaldt (Hg.): Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2/1968), 106–150, hier: 150. 18 Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, 39f. Gegen Wielands Leugnung eines Angebots an präpositionalem Wissen bei Platon halte man die Ansicht von Hegel: „aus seinen (sc. Platons) Dialogen geht seine Philosophie ganz deutlich hervor. [...] es ergibt ein Resultat als das Wahre“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt a. M. 1971 (Theorie-Werkausgabe, Bd. 19), 22).

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Gomperz, Paul Wilpert, Cornelia de Vogel, W. D. Ross – angesichts dieser beachtlichen Reihe von Interpreten wirkt Wielands Sicht der Dinge ein wenig uninformiert. Was aber die angebliche „Unzufriedenheit“ der Vertreter der esoterischen Platondeutung mit den Dialogen betrifft, so verfängt auch diese mehr rhetorische Unterstellung nicht. Nicht subjektive Unzufriedenheit einiger Leser, sondern objektive Strukturmerkmale der Dialoge selbst führen zu der Einsicht, daß Platon seine Schriften nicht als inhaltlich autarke Schöpfungen konzipiert hat.19 In der einen oder anderen Form macht jeder Dialog klar, daß er die Diskussion nicht bis an die Grenze führen wird, die von der Sache her nötig und dem Gesprächsführer auch erreichbar wäre. Sehr oft geschieht das in der Form von „Aussparungsstellen“, d. h. von Stellen, in denen ein Thema, das für die bisherige Diskussion von grundlegender Wichtigkeit wäre, benannt und gleichzeitig „für jetzt“ von der Behandlung ausgeschlossen wird. Das Bauprinzip der Dialoge besteht – auf die einfachste Formel gebracht – in der schrittweisen Höherverlagerung des Begründungsniveaus im Zuge einer ‚Hilfe für den Logos‘ als Antwort auf einen Angriff auf die Position des Dialektikers. Wir sehen überall in den Dialogen, daß der Gesprächsführer, wenn er sich verteidigen muß, sich dadurch ‚hilft‘, daß er die Frage grundsätzlicher stellt und somit näher an den Bereich der ἀρχαί heranführt. In der Schriftkritik im Phaidros heißt es nun aber, daß der Philosoph seinem Buch grundsätzlich mündlich ‚helfen‘ können muß. Im Lichte der Beispiele in den Dialogen kann das nur bedeuten, daß er in der Lage sein muß, über sein Geschriebenes inhaltlich hinauszugehen.20 Es sind also die Dialoge selbst, die überdeutlich über sich selbst hinausweisen. Die Antwort auf den hier erörterten Einwand muß also lauten:

19 Ihre literarisch-aesthetische Vollkommenheit und Autarkie bleibt von diesem Gedanken natürlich ganz unberührt. 20 Obige Ausführungen enthalten – in extremer Verkürzung – einige Grundgedanken meiner oben Anm. 16 genannten Studie, die der Struktur der Dialoge und ihrer Beurteilung im Lichte der platonischen Schriftkritik nachging. Vgl. auch meinen Beitrag: Was heißt „dem Logos zu Hilfe kommen“? Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Understanding the Phaedrus. Proceedings of the II Symposium Platonicum. Hg. v. Livio Rossetti. Sankt Augustin 1992, 93–107 (dieser Beitrag, in den Proceedings leider gekürzt, erschien ungekürzt in italienischer Übersetzung: Struttura e finalità dei dialoghi platonici. Che cosa significa “venire in soccorso al discorso”?. In: Rivista di Filosofia neo-scolastica 81 (1989), 523–542).

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eben weil wir die Dialoge haben, müssen wir, wenn wir sie richtig lesen wollen, zusätzlich auch auf die ἄγραϕα δόγματα achten. 6.

„Wer über Ungeschriebenes schreibt, verhält sich widersprüchlich und verstößt gegen das Zeugnis des 7. Briefes.” Der bedeutendste Vertreter dieses Einwandes war Harold Cherniss. „I can say only what I have said before: those who think that Plato wrote [Epist. 7] 341B7–C43 ought to refrain from saying or writing anything about his ‚serious philosophy‘, for he has repudiated their statements in advance, as he has also repudiated all that could be used as ‚evidence‘ for the nature of his ‚unwritten doctrines‘“, so Cherniss (mit Rückgriff auf seine früheren Ausführungen in The Riddle of the Early Academy).21 Streng genommen schließt diese Ansicht auch jede antiesoterische Interpretation der im 7. Brief gemeinten ‚Unsagbarkeit‘ (vgl. 341 c5 ῥητὸν γὰρ οὐδαμῶς ἐστιν ὡς ἄλλα μαθήματα) aus. Nun gibt es aber, wie wir alle wissen, eine große Zahl solcher Interpretationen, an deren Existenz und an deren Polemik gegen die esoterische Position niemand Anstoß nimmt – was spricht dann dagegen, daß auch die Gegenseite ihre Argumente vorträgt? Ein Recht, über die ἄγραϕα δόγματα zu reden und zu schreiben, hätte nach Cherniss nur, wer den 7. Brief für unecht erklärt. Hier ist nun daran zu erinnern, daß die esoterische Platonauslegung keineswegs auf die Anerkennung des 7. Briefes angewiesen ist.22 Es ist also denkbar, daß jemand den Brief aus bestimmten Gründen – sei es historischen, sei es stilistischen – verwirft und sich gleichwohl schriftlich mit den ἄγραϕα δόγματα beschäftigt (wozu ja sowohl die aristotelischen Texte als auch die Dialoge selbst uns zwingen). Diese Beschäftigung müsste dann sogar Cherniss’ Zustim-

21 Harold Cherniss: The Riddle of the Early Academy. Berkeley/Los Angeles 1945, 13. 22 Umgekehrt ist aber die antiesoterische Position letztlich auf die Athetese des Briefes angewiesen, da alle bisherigen Versuche einer esoterikfreien Interpretation dieses Dokumentes sich durch selektive Textbehandlung oder durch petitio principii (und häufig durch beides zugleich) auszeichnen und irgendwann einmal aufgegeben werden müssen. Vgl. meinen Beitrag: The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato’s Seventh Letter. In: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. C. J. Putnam (Hg.): Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 354–363 sowie meine Rezension von: Mauro Tulli: Dialettica e scrittura nella VII Lettera di Platone. Pisa 1989. In: Gnomon 63 (1991), 360–362.

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mung finden. Und sie würde, wenn richtig durchgeführt, auf die esoterische Position führen. Nebenbei sei bemerkt, daß es durchaus nicht feststeht, daß Epist. 7, 341 bc auch die wahrscheinlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Nachschriften von Περὶ τἀγαθοῦ (wie diejenige des Aristoteles und anderer Akademiker) abgelehnt werden. Solche internen Nachschriften könnten auch als ὑπομνήματα für die ‚Wissenden‘ eingeschätzt werden, gegen die auch Platon nichts einzuwenden hätte, wie Phdr. 276 d3–4 und 278 a1 zeigt; im 7. Brief ist hingegen das Sagen und Schreiben πρὸς τοὺς πολλούς (341 d5) als unmöglich betrachtet, was auf Aristoteles’ Nachschrift vielleicht gar nicht anwendbar war.23 Das Wichtigste aber ist, daß sich seit Platons Zeit die Verhältnisse geändert haben: wir können heute nicht gut als Anhänger der platonischen Prinzipienlehre schreiben, sondern betrachten sie mit dem distanzierten Blick des Historikers. Cherniss fordert im Grunde, daß diejenigen, die über Platons esoterische Philosophie schreiben, selbst Esoteriker sein müßten. Solch eine Forderung ist aber nicht sinnvoll: wenn nämlich grundsätzlich der Historiker zu den Sachen, um die es geht, dieselbe Einstellung haben müßte wie der Autor, den er behandelt, dann könnten wir getrost den weitaus größten Teil der historischen Literatur als illegitim beiseite setzen. 7.

„Eine Abwertung der Dialoge kann nicht hingenommen werden.“ Gegen diesen ‚Einwand‘ ist darauf hinzuweisen, daß die esoterische Platondeutung durchaus keine Abwertung der Dialoge impliziert. Da die Dialoge im Wortlaut erhalten sind, während die indirekte Überlieferung aus verkürzten und z. T. polemischen Berichten Anderer besteht, bleibt der hermeneutische Vorrang des Schriftwerks erhalten. Da aber Platon selbst den Gesprächsführer jeweils über den betreffenden Dialog hinausdeuten läßt, und da er selbst von der Notwendigkeit mündlicher ‚Hilfe‘ für das Geschriebene spricht (Phdr. 278 cd), ist es nicht sinnvoll, die Reste der mündlichen Philosophie Platons von der Interpretation seiner Schriften auszuschließen. Es ist nicht sehr hilfreich, die ‚Abwertung‘ der Dialoge als Missetat der bösen Esoteriker hinzustellen. Daß Platon in der Schriftkritik eine Abwer-

23 So schon Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 584f. Überhaupt sei auf seine lesenswerten Ausführungen zum Thema „Schreiben über Ungeschriebenes“ hingewiesen (ebd., 584–586).

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tung alles Schriftlichen vorgenommen und dabei auch seine eigenen Werke nicht ausgenommen hat, sollte nicht geleugnet werden – wie es lange Zeit geschah –, sondern bedarf der Interpretation. Daß der Philosoph bei der mündlichen ‚Hilfe‘ für seine Schriften diese als ‚phaûla‘ (von geringem Wert) erweisen wird, und in der Diskussion ‚timiótera‘ (Dinge von höherem Wert) vorbringen wird (Phdr. 278 c7/d8), wird heute selbst von Gegnern der esoterischen Auslegung auf den Inhalt bezogen, und etwas anderes lassen Wortlaut und Kontext der Stelle auch gar nicht zu.24 Platon seinerseits konnte also am Primat des Mündlichen festhalten. Für uns Heutige kann das aus dem schon erwähnten Grund nicht verbindlich sein. Nicht Abwertung der Dialoge gegen die ἄγραϕα δόγματα ist gefordert, aber auch nicht das Umgekehrte,25 sondern die interpretatorische Verknüpfung und gegenseitige Erhellung der beiden Bereiche.26 8.

„Aristoteles, unser Hauptzeuge für die ἄγραϕα δόγματα, ist ein unzuverlässiger Berichterstatter“. Die Frage des Wertes der aristotelischen Berichte kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht angemessen entfaltet, geschweige denn gelöst werden. Ein kurzer Hinweis zur Situation der Forschung möge jedoch erlaubt sein.

24 Vgl. Zum Kontext der platonischen τιμιώτερα. Bemerkungen zu Phaidros 278b–e. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 16 (1990), 75–85 (und schon: Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs „Phaidros“. In: Museum Helveticum 35 (1978), 18–32, 28, ferner Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 28. 25 Die einseitige Abwertung der indirekten Überlieferung liegt in der Konsequenz der von Schleiermacher herkommenden Dialoghermeneutik; diese Abwertung geht zusammen mit einer nachgerade irrationalen Überhöhung und Mystifizierung der angeblichen Fähigkeiten des geschriebenen Dialogs. Näheres hierzu vgl. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, Anhang I, 331–375, bes. 353–358 und 364–368 (= Platone e la scrittura della filosofia. 423–462, bes. 442– 447 und 452–455). 26 Auch in diesem Punkt bedarf das Bild, das man sich vielfach von H. J. Krämer und K. Gaiser macht, einer Korrektur: beide haben nicht nur vor langer Zeit schon programmatisch erklärt, daß eine Abwertung der Dialoge für sie nicht in Frage kommt (in Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre, 566–589 und Krämer: Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung, 150), sondern auch –was letztlich wichtiger ist – von Anfang an durch ihre Platonarbeiten gezeigt, daß die Interpretation der Dialoge ihr Hauptanliegen ist.

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Der große Angriff auf Aristoteles als philosophiehistorische Quelle erfolgte durch H. Cherniss in zwei Schritten: Aristotle’s Criticism of Presocratic Philosophy (1935) und Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy (Vol. I, 1944), wobei von vornherein der erste Schritt als Vorbereitung für den zweiten und als Testlauf für die Methode gedacht war. Während der erste Schritt keineswegs auf einhellige Zustimmung der Vorsokratiker-Forschung stieß – Werner Jaeger war nicht beeindruckt, und W. K. C. Guthrie legte höflichen aber bestimmten Widerspruch ein –27 und inzwischen einer im allgemeinen positiveren Beurteilung Platz machen mußte, überwog beim zweiten Schritt die Tendenz, Cherniss zu glauben, auch wenn man ihn nicht gelesen hatte. Es ist daher angebracht, an das Urteil des großen Aristotelikers W. D. Ross zu erinnern: „Aristotle was not the pure blunderer that Prof. Cherniss makes him out to have been (...) Prof. Cherniss has exposed many of them (sc. Aristotle’s faults) with great skill. But I do not think for a moment that he has established his case that all that Aristotle says about Plato that cannot be verified from the dialogues is pure misunderstanding or misrepresentation“.28 Man kann es auch so ausdrücken: so wie jene Art von Archaeologie, die das Auszugrabende bei der Ausgrabung zerstört, inzwischen als veraltet gilt, so ist es auch in der Platonforschung an der Zeit, eine Rekonstruktion der ἄγραϕα δόγματα zu beginnen, die beim Umgraben des aristotelischen Grabungsfeldes das zu Rekonstruierende nicht gleich zertrümmert.29 Keiner der Gründe gegen eine Beschäftigung mit Platons ungeschriebenen Lehren erwies sich als tragfähig. (Es mag noch weitere Gründe geben –ob es ‚bessere‘ gibt, darf bezweifelt werden.) Welche Vermutung ergibt sich nun für die Zukunft? Die in diesem Heft hoffnungsvoll begonnene Diskussion um die ἄγραϕα δόγματα wird nur dann die der Sache inhärenten Möglichkeiten ausschöpfen können, wenn die Bereitschaft, alte Vorurteile fallen zu lassen, weiterhin wächst. Ob das der Fall sein wird, wissen wir nicht. Aber angesichts 27 Werner Jaeger: Rezension von: Harold Cherniss: Aristotle’s Criticism of the PreSocratic Philosophy, in The American Journal of Philology 58/3 (1937), 350–356 (auch in: ders.: Scripta minora. Roma 1960, Bd. II, 161–168); W. K. C. Guthrie: Aristotle as Historian. In: Journal of Hellenic Studies 77 (1957), 35–41; man vergleiche auch die überwiegend ablehnenden Bezugnahmen auf Cherniss in Guthrie’s History of Greek Philosophy, vol. I–II. Cambridge 1962–1965. 28 William D. Ross: Plato’s Theory of Ideas. Oxford 1951, 143. 29 Einen Versuch in dieser Richtung unternahm ich in: Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N. In: Andreas Graeser (Hg.): Mathematik und Metaphysik bei Aristoteles, Akten des X. Symposium Aristotelicum (1984). Bern 1987, 45–67.

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eines bemerkenswerten Umschwungs in mehreren europäischen Ländern, und angesichts des sichtbaren Abbröckelns der alten Orthodoxie in anderen, wäre es doch zu früh zu behaupten, daß die Vorurteile gegen die mündliche Philosophie Platons niemals schwinden werden. Warten wir ab.

Anhang: Zur Bedeutung von λεγόμενος (oben S. 654-656) (a) Zunächst die Auskunft der Grammatik. Raphael Kühner/Bernhard Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Bd. II, 1. Hannover 19833, 271 (Anmerkung zu § 404): „Die Partizipien λεγόμενος und καλούμενος werden gebraucht, wo die Lateiner: qui dicitur, vocatur; quem dicunt, vocant usw., und die deutsche Sprache: so genannt setzen“. Man beachte, daß KühnerGerth „so genannt“ getrennt schreiben, was nach den orthographischen Regeln des Deutschen besagt, daß „die Vorstellung der Tätigkeit vorherrscht“, hier also der Tätigkeit des Benennens (Der Große Duden, Band 1: Rechtschreibung der deutschen Sprache, 161967, 43, orthographische Regel R 142). Die abwertende Bedeutung würde wegen der damit verbundenen adjektivischen Verwendung die Zusammenschreibung verlangen: Duden, ebd. Daß Kühner-Gerth die ‚objektive‘ Bedeutung meinen, zeigen die angeführten Beispiele: „Hdt. 6, 61, ἐν τῇ Θεράπνῃ καλεομένῃ, i. e. urbe, quae Therapne vocatur. Th. 1, 112 τὸν ἱερὸν καλούμενον πόλεμον. X. Comm. 1, 1, 11 ὁ καλούμενος ὑπὸ τῶν σοϕιστῶν κόσμος. Hier. 1.31. Pl. Civ. 493d ἡ Διομήδεια λεγομένη ἀνάγκη Diomedea quae dicitur necessitas“. (b) Einige Beispiele aus Aristoteles. Es dürfte klar sein, dass Aristoteles in An. Po. A 19, 81 b14 αἱ ἀρχαὶ καὶ αἱ λεγόμεναι ὑποθέσεις nicht von ‚sogenannten‘, also irgendwie unechten oder unbrauchbaren Hypotheseis redet, und dass er Meteor. A 3, 339 b5 mit τὰ λεγόμενα στοιχεῖα τῶν σωμάτων nicht die ‚sogenannten‘, sondern die wirklichen Elemente meint, ebenso wie kurz vorher (b3) mit τὸν καλούμενον ἀέρα die wirkliche Luft. Aus Part. an. III 3, 665 a9 μηχανησαμένη (sc. ἡ ϕύσις) τὴν καλουμένην ἐπιγλωττίδα sollten wir nicht schließen, daß die Natur nach Aristoteles eine nur ‚sogenannte‘, scheinhafte Epiglottis schuf. Im selben Kontext (665 a13) erfahren wir, daß Wahrnehmung und Bewegung ἐπὶ τὸ καλούμενον ἔμπροσθεν ausgerichtet sind, also „in the direction which we term forward“ (so die Übersetzung von W. Ogle in The Complete Works of Aristotle, Bd. I, 1036). EN X 7, 1177 a27 ἥ τε λεγομένη αὐτάρκεια περὶ τὴν θεωρητικὴν μάλιστ᾽ ἂν εἴη – hier, beim höchsten Punkt der Nikomachischen Ethik,

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spricht Aristoteles durchaus nicht von einer nur sogenannten Autarkie (treffend Franz Dirlmeier (Aristoteles: Nikomachische Ethik. Darmstadt 51969, 231): „das, was man ‚sich selbst genügende Unabhängigkeit‘ (Autarkie) nennt“). Auch brauchen wir bei den καλούμενοι ἐννέα ἄρχοντες Ath. pol. 55, 1 nicht an irgendwelche Usurpatoren zu denken, die sich zu Unrecht „die neun Archonten“ nennen ließen, sondern an die wirklichen Archonten Athens. Aristoteles’ οἱ καλούμενοι Πυθαγόρειοι (Met. A 5, 985 b23 u. ö.) wurden zwar als die „sogenannten Pythagoreer“ berühmt, doch hatte W. K. C. Guthrie wohl recht, wenn er sie wieder in „those who are called Pythagoreans“ umbenannte und dabei ausdrücklich vor der Übersetzung ‚so-called‘ warnte (A History of Greek Philosophy, vol. I. Cambridge 1978, 155 n. 1: „It is important to avoid translating the word καλούμενοι as ‘so-called’, for it carries none of the implications of spuriousness which the English phrase suggests“). Natürlich kann auch bei Aristoteles die ironisch-abschätzige Bedeutung begegnen. In einigen Fällen mag man zweifeln, welche Bedeutung zutrifft, wie in Met. B 3, 998 a7 τὰ μεταξὺ ταῦτα λεγόμενα. Ergänzend drei Beispiele aus Platon. Politikos 303 e4 τὸν λεγόμενον ἀκήρατον χρυσόν: hier lassen die Übersetzungen von Schleiermacher (Berlin 1825) und O. Apelt (Leipzig 1922, 104) λεγόμενον einfach weg, während R. Rufener (Zürich 1965, 305) sinnwidrig „das sogenannte ungemischte Gold in reinem Zustand“ schreibt; richtig C. Mazzarelli „quello che chiamiamo oro puro“ (in: Platone: Tutti gli scritti. A cura di Giovanni Reale. Milano 1991, 360); in Nom. 720 b6 δύο γένη τῶν καλουμένων ἰατρῶν will Platon nicht die ‚sogenannten‘ Ärzte, also die Scharlatane, in zwei Arten einteilen, sondern den Beruf, den wir „Arzt“ nennen; Nom. 701 c2 τὴν λεγομένην παλαιὰν Τιτανικὴν ϕύσιν: die Warnung, die Platon hier geben möchte, verlöre alle Kraft, wollte man die ‚alte titanische Natur‘ als eine nur ‚sogenannte‘ einstufen („die vielberufene alte Titanennatur“ Apelt, „das altbekannte Titanenwesen“ Rufener).

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1. Die frühen Einflüsse auf Platons Denken Die Zeit, da man Platon vorwiegend oder gar ausschließlich als Sokratiker betrachtete – wenn auch als den bedeutendsten und selbständigsten unter den Sokratikern – ist noch nicht allzu lange vorbei. Irgendwie schien es zwingend, den Mann, dem Platon in fast allen Dialogen die Gesprächsführung anvertraut und den er zum Idealbild eines Philosophen stilisiert hat, auch für die entscheidende oder gar einzige Triebkraft hinter den geistigen Bemühungen des Autors zu halten. Die allbekannte Tatsache, daß Platon nie in eigenem Namen spricht und daß er in der Gestaltung der historischen Figuren, die er auftreten läßt, mit größter dichterischer Freiheit verfährt, konnte eine weitgehende Identifikation der literarischen Figur ‚Sokrates‘ mit dem realen Lehrer und Ideengeber Platons nicht behindern. Denn diese Identifikation, die letztlich doch von einer recht naiven Art der Lektüre zeugt, wurde noch befördert durch das methodisch anspruchsvolle Bemühen, der geistigen Entwicklung Platons auf die Spur zu kommen. Es ist die Grundüberzeugung des Historismus, daß man eine Sache oder eine Person erst dann versteht, wenn man weiß, wie sie geworden ist, was sie ist. Geht es um das Verständnis eines Autors, so möchte man erstens wissen, was seinem Schreiben voranging und was ihn zum Schreiben trieb, zweitens aber, welche seiner Schriften welchen anderen voranging. Im Falle Platons glaubte man die eine Frage, die der Vorgeschichte und der Veranlassung seiner schriftstellerischen Tätigkeit, aus den sokratischen Dialogen direkt entnehmen zu können. Platon wäre demnach zum Denker und zum philosophischen Autor geworden, weil er in seinen jungen Jahren dem offenen Fragen des Sokrates, wie er sie in den aporetischen Dialogen schildert, ausgesetzt war. Blieb die andere Frage, die nach der * Deutscher Originaltext des Vortrags, der am 20. Oktober 2006 in französischer Sprache auf der von Jean-Luc Périllié organisierten Tagung „Platon et les Pythagoriciens. Hiérarchie des savoirs et des pratiques. Musique – Science – Politique“ an der Université Paul Valéry de Montpellier III gehalten wurde (inzwischen unter dem Titel „Le témoignage d’Aristote“ erschienen in: Platon et les Pythagoriciens. Sous la direction de Jean-Luc Périllié. Bruxelles 2008 (Cahiers de philosophie ancienne No. 20), 93–115).

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Chronologie der Dialoge. Trotz intensivster Bemühungen erreichte man in ca. 150 Jahren keine gesicherten Ergebnisse – abgesehen von der Ausgrenzung einer Gruppe von Spätdialogen, die 1867 L. Campbell und 1881 W. Dittenberger unabhängig von einander vornahmen;1 für alles übrige bleibt es bis heute bei einem ungefähren Konsens hinsichtlich der Abfolge der Dialoge, mit dem sich zwar gut arbeiten läßt, der aber beileibe nicht „mit eisernen und stählernen Gründen“ gefestigt ist. Und dieser Konsens in der Frage der Chronologie scheint die Auffassung zu bestätigen, daß Platon erstens als Sokratiker begann, d. h. als einer, der vor allem fragend vorgeht und definitive Antworten auf seine Fragen lieber vermeidet, und daß er zweitens in gewissem Sinne immer Sokratiker blieb, mindestens aber bis in seine konstruktive ‚mittlere‘ Schaffensphase hinein. Die unausgesprochene Voraussetzung dieser Rekonstruktion des Entwicklungsweges Platons aus der rekonstruierten Chronologie seiner Schriften war, daß jede Schrift präzise über den letzten Stand des Fortschritts im Denken des Philosophen Rechenschaft gibt. Was Platon jeweils erreicht hatte an neuen Einsichten, setzte er, wie man glaubte, alsbald in einen Dialog um. Die Dialoge hatten so den Wert von Protokollen seiner Entwicklung, vielleicht sogar den von Bekenntnissen. In Wirklichkeit bestand schon immer Anlaß, dieses Bild von Platon dem Sokratiker in Frage zu stellen. Diogenes Laertios berichtet, es habe geheißen, Platon sei mit 20 Jahren Schüler des Sokrates geworden (D. L. 3.6). Auch wenn Diogenes nur eine anonyme Quelle nennt (φασίν) und seine darauffolgenden Angaben über Schülerverhältnisse und Reisen Platons teilweise unglaubwürdig sind, so scheint doch die Altersangabe „mit 20 Jahren“ (γεγονὼς εἴκοσιν ἔτη) zu spezifisch, um frei erfunden zu sein. Wenn wir annehmen, daß sie zutrifft, so erhebt sich sofort die Frage, welche philosophische Schulung oder Orientierung Platon hatte, bevor er sich Sokrates anschloß. Diogenes und Aristoteles geben übereinstimmend die Auskunft, daß die herakliteische Philosophie am Anfang seines Denkweges stand, wobei Aristoteles auch den Namen des Lehrers nennt: Kratylos.2 Nur die Fixierung auf das erwähnte entwicklungsgeschichtliche Schema und der naive Glaube, alles Erlebte müsse seinen unmittelbaren Nieder-

1 Lewis Campbell: The Sophistes and the Politicus of Plato. Oxford 1867; Wilhelm Dittenberger: Sprachliche Kriterien für die Chronologie der platonischen Dialoge. Berlin 1881 (Hermes, Bd. 16), 321–345. 2 Aristoteles, Metaphysik A6, 987 a32–b1. Diogenes läßt Platon ebenfalls „herakliteisch“ beginnen, doch ist seine Darstellung in zwei Punkten unglaubwürdig: der herakliteische Anfang wird in der Akademie lokalisiert (D. L. 3.5), und der Herakliteer Kratylos sei Platons Lehrer geworden erst nach dem Tod des Sokrates.

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schlag in der Schrift finden, konnten dazu führen, daß man diese Angabe des Aristoteles angezweifelt hat: da Kratylos erst in einem Dialog der ‚mittleren‘ Periode porträtiert wird, und mit wenig Respekt, könne er nicht der erste Lehrer und der prägende Faktor der frühen Entwicklung Platons gewesen sein. Wolfgang Schadewaldt hat solch naive ‚Skepsis‘ gegen Aristoteles mit ruhiger Hand beiseite geräumt.3 Und was die Behauptung in Metaphysik A6 betrifft, die herakliteische Überzeugung vom ewigen Fluß der Dinge sei für Platon auch später bestimmend geblieben, so können wir ihre Wahrheit an den mittleren und späten Dialogen leicht nachprüfen (vgl. z. B. Politeia 476 aff., Tim. 27 d6–28 a4, Phil. 15a, Soph. 248 aff. usw.). Entgegen dem literarischen Bild der Dialoge mit ihrer dominierenden Sokrates-Figur spricht viel für die Ansicht, daß der frühe Platon nicht primär Sokratiker, sondern Herakliteer war, und dies auch blieb, insofern seine Ideenlehre die herakliteische Flußlehre, die Sokrates so nicht vertreten hat, integriert, um sie durch die Wendung zum Intelligiblen hinter sich zu lassen (oder „aufzuheben“, wie man hegelianisch doppelsinnig sagen könnte). Einen anderen, fast noch wichtigeren Ausgangspunkt für eine Korrektur des Bildes vom Sokratiker Platon bietet dieser selbst im Dialog Phaidon. Er legt dort seiner Figur ‚Sokrates‘ einen Bericht über seine philosophische Entwicklung in den Mund, der – wie man schon immer sah – unmöglich auf den historischen Sokrates zutreffen kann, führt er doch bis zu Platons ‚zweitbester‘ Fahrt (δεύτερος πλοῦς, Phdn. 99 c9–d1), zu seiner ‚Flucht zu den λόγοι῾ (99e5) und zur Hypothesenmethode (100 a–101 e), kurz: bis zur Überwindung der naiven Frageweise der vorsokratischen Naturphilosophie durch die Ideenlehre. Daß aber Sokrates keine transzendenten Ideen im Sinne Platons angesetzt hat, bezweifelt heute4 niemand, die ausdrückliche Bestätigung dieser Tatsache durch Aristoteles (Met. M4, 1078 b30) bräuchten wir im Grunde gar nicht. Sokrates, der diese fiktive intellektuelle Autobiographie vorträgt, kann also nicht ihr wirkliches Subjekt sein. Wer dann? Da sie bis zum spezifisch Platonischen führt, kann es sich nur um den Denkweg Platons selbst handeln. Hat also die Unzulänglichkeit der Nuslehre des Anaxagoras für eine teleologische Erklärung der Natur aus dem ‚Besten‘ Platon zur Entwicklung der Ideenlehre gebracht? Man

3 Wolfgang Schadewaldt: Platon und Kratylos. Ein Hinweis. In: ders.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Bd. I. Zürich 21970, 626–632. 4 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm ein so bedeutender Gelehrter wie J. Burnet noch an, Sokrates müsse der Schöpfer der Ideenlehre gewesen sein – so, wie der Phaidon es darstellt.

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könnte einwenden: die Geburt der Ideenlehre aus dem Ungenügen an der Nusphilosophie des Anaxagoras sei besser nicht-historisch, nicht-biographisch zu lesen und wolle nur soviel besagen, daß das neue Theorem – ungeachtet seiner Herleitung – auch die anaxagoreische Betrachtungsweise zu ersetzen geeignet ist. Schließlich habe man keine Nachricht über einen anaxagoreischen oder sonstwie vorsokratischen Lehrer Platons (außer dem Herakliteer Kratylos). Doch warum hat dann Platon die biographisch-narrative Form gewählt, wenn er jeden Gedanken an Entwicklung ausschließen wollte? Einen Anaxagoras nahestehenden Lehrer aber brauchen wir von vornherein nicht anzunehmen, denn ‚Sokrates‘ sagt ausdrücklich, daß er die Nusphilosophie des Klazomeniers zuerst durch eine Lesung aus dessen Buch kennenlernte, dann genauer durch eigene Lektüre des Buches (Phdn. 97 b8–c1, 98 b4–8). Mag Platon auch schwere Zweifel an der Möglichkeit philosophischer Erkenntnisvermittlung durch die Schrift gehegt haben (Phdr. 274 c–278 e), in der Schilderung des Erkenntnisweges des jungen Sokrates rechnet er klarerweise mit der Entwicklung neuer Ansätze aus der Auseinandersetzung mit Geschriebenem. Soll das für ihn selbst nicht gegolten haben? Mit dieser Möglichkeit sollten wir rechnen auch bei jenem anderen wichtigen Schritt im philosophischen Werdegang der fiktiven Gestalt ‚Sokrates‘, die der Parmenides schildert. ‚Sokrates‘ erscheint hier als ganz junger Mann (Parm. 127 c4–5) bereits im Besitz der Ideenlehre, die er offenbar selbst entwickelt hat (129 a–130 b). In dieser Phase – und das wäre, wenn man die Berichte im Phaidon und im Parmenides kombinieren wollte, seine post-anaxagoreische Phase – wird er mit der Dialektik Zenons vertraut gemacht durch eine Lesung durch den Autor selbst aus seinem Buch (127 c1–e1), danach mit der methodisch nicht verschiedenen (135 d7–8) Dialektik des Parmenides durch eine mündlich durchgeführte ‚Übung‘, die der alte Meister selbst leitet (137 cff.). Während eine Auseinandersetzung des historischen Sokrates in jungen Jahren mit dem Buch des Anaxagoras möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist (wenn auch gewiß ohne den platonischen δεύτερος πλοῦς), hat eine persönliche Begegnung mit den beiden Eleaten mit Sicherheit nie stattgefunden. Der fiktive Charakter der sokratischen intellektuellen ‚Autobiographie‘ ist hier noch weit deutlicher als im Phaidon. Da es wieder um die spezifisch platonische Ideenlehre geht, haben wir allen Grund, wieder – nach Entfernung des pseudohistorischen Rahmens – an eine Aussage über den Denkweg des Autors selbst zu denken. Platon scheint sagen zu wollen, daß die fortgeschrittene, eleatisch inspirierte Dialektik, die sich dem Problem des Einen und Vielen im Ideenbereich stellt, als ein zweiter Schritt zur ursprünglichen Ansetzung der Ideen hinzukommen muß. Doch wann diese Erkenntnis beim tatsächli-

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chen Urheber der Ideenlehre reifte, läßt sich der frei erfundenen Begegnung mit Parmenides nicht entnehmen. Aber so viel dürfen wir sagen, daß der Bericht über den fiktiven Urheber jedenfalls nahelegt, daß dieser Schritt auch bei Platon selbst sehr früh erfolgte. Aus der biographischen Überlieferung über Platon bei Aristoteles und Diogenes und aus den pseudobiographischen Berichten über ‚Sokrates‘ in den Dialogen kennen wir Platon nun als Herakliteer, dem die Unbeständigkeit der Sinnenwelt die Grundlage seines Weltbildes liefert, als Anaxagoreer, der die Erklärung der Welt aus dem Nus und dem ‚Besten‘ beibehalten will und deshalb Anaxagoras mittels der Ideenlehre hinter sich läßt, sowie als Eleaten, der die Problematik des Einen und Vielen durchdenkt, um die Ideenlehre dialektisch verteidigen zu können. Keiner der bisher betrachteten Texte legt es nahe, den historischen Sokrates für die geistige Formation Platons für wichtiger zu halten als Heraklit oder Anaxagoras oder Parmenides. Damit will ich nicht sagen, daß die Bedeutung des Sokrates für Platon allein in seiner charakterlichen Vorbildlichkeit und in seiner Ironie bestand, die ihn so geeignet machte, als literarische Figur und Maske für ihm fremde Positionen zu fungieren. Mit seiner Frage nach der Arete und seinem Bemühen um Definitionen (vgl. Arist. Met. A 6, 987 b1– 4 und M 4, 1078 b17–19) nahm Sokrates ganz unzweifelhaft einen bestimmenden Einfluß auch auf den Inhalt der platonischen Philosophie.

2. Platons Nähe zu den Pythagoreern Zu all dem kommt nun die doxographische Einordnung durch Aristoteles in die unmittelbare Nähe des philosophischen Ansatzes der Pythagoreer. Die wesentlichen Punkte der platonischen Metaphysik und Prinzipienlehre seien nicht sehr verschieden, so behauptet Aristoteles in Metaphysik A 6, von den Lehren der Pythagoreer. Die Dialoge scheinen auf den ersten Blick diese Sicht nicht zu bestätigen. Das ‚pythagoreische‘ Argument von der Seele als Harmonie, das Simmias, der in Theben Hörer des Philolaos gewesen war, vorträgt, wird im Phaidon bei aller Freundschaft doch klar zurückgewiesen (92 a–95 a). In der Politeia wird Pythagoras nur als Stifter einer Lebensweise erwähnt (600 b2), während die ‚Pythagoreer‘ zwar Zustimmung finden mit ihrer Auffassung, Musik und Astronomie seien ‚verwandt‘ (530 d6–9) und mit ihrer Suche nach zahlenmäßiger Bestimmtheit der hörbaren Harmonien, gleichzeitig aber wegen ihres Verhaftetseins an das nur Sinnliche kritisiert werden (531 b7–c4). Das klingt alles nicht nach großer Nähe zu dieser Richtung.

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Die biographische Tradition hingegen deutet auf mehrfache Berührung Platons mit Pythagoreern. Simmias und Kebes, Schüler des Philolaos, gehörten offenbar irgendwie zum Sokrates-Kreis.5 Der Dialog Phaidon gibt mit seiner Rahmenhandlung einen Verweis auf den Pythagoreismus, insofern Phaidon die letzten Stunden des Sokrates gerade dem Pythagoreer Echekrates von Phleius schildert. Nach Diogenes Laertios habe Platon nach Sokrates‘ Tod auch die Pythagoreer Philolaos und Eurytos in Italien aufgesucht (D. L. 3.6). Allbekannt ist ferner die Nachricht, Platon habe von den Verwandten des Philolaos für viel Geld dessen Buch erworben und daraus seinen Dialog Timaios gezimmert (D. L. 8.85 aus Hermippos, vgl. Timon, Suppl. Hell. 828). Diese Erzählung setzt voraus, daß er Philolaos selbst jedenfalls zum Zeitpunkt des Kaufs nicht begegnete. Hingegen war die persönliche Freundschaft mit Archytas von Tarent Platons letzte Hoffnung in der ausweglosen Situation, in die ihn seine dritte Sizilienreise gebracht hatte. Und in der Tat sandte Archytas ein Schiff und einen Gesandten, der Dionysios überredete, Platon freizulassen (7. Brief, 350 a6– b4). Gegen dieses scheinbar zwiespältige Bild der doxographischen Ferne und der persönlichen Nähe zum Pythagoreismus steht nun die erwähnte Versicherung des Aristoteles, Platon habe in der Frage der letzten Prinzipien eine besondere Verwandtschaft zu dieser Richtung gezeigt. Es läge nahe, diese Einschätzung als wenig glaubwürdig beiseite zu schieben, wäre da nicht jener bedeutsame Passus im Philebos, wo Sokrates sagt, „die Alten“ (οἱ παλαιοί), die uns überlegen waren und näher bei den Göttern wohnten, hätten die Kunde überliefert, alles, was sei, bestünde aus Einem und Vielem und habe von Natur Grenze und Unbegrenztheit in sich. Worauf es ankomme, sei, nicht vage bei jedem Ding Einheit und Vielheit zu konstatieren, sondern genau zahlenmäßig festzulegen, wie viele Bestimmungen zu seiner Erfassung erforderlich sind (Phil. 16 c7–e2). Es geht im Kontext der Stelle um die platonische Dialektik als den sichersten Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Anders als die Ideenlehre im Parmenides (130 b) wird die Dialektik hier nicht als eine Errungenschaft des Sokrates, sondern als eine Gabe der Götter an die Menschheit hingestellt, deren Grundgedanken uns von „den Alten“ vermittelt wurden. Daß mit diesen „Alten“ nur die Pythagoreer gemeint sein können, wußte man schon in der Antike.6 Die Dialektik ist für Platon die μεγίστη ἐπιστήμη (Soph. 253 c4–5), die ei-

5 Vgl. Xenophon, mem. 1.2.48, 3.11.17. 6 Vgl. Syrianos, In Arist. Met. 9.37ff.; Proklos, Theologia Plat. I 5, p. 26.4–9 SaffreyWesterink; In Tim. I 84.4, 176,29, II 168.29; Damaskios, De principiis I 101.3 (= II

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nerseits alles Seiende, insofern es an Ideen teilhat, bis ins Einzelne genau erfaßt, andererseits die Prinzipien aller Dinge aufzuzeigen vermag. Wenn Platon hier seinen Sokrates sagen läßt, die göttliche Gabe der Dialektik gehe von der Grundeinsicht aus, daß allen Dingen Grenze und Unbegrenztheit eingewachsen sind, so bestätigt er damit die aristotelische Darstellung, die die platonische Prinzipienlehre in nächste Nähe zu der (oder zu einer) pythagoreischen bringt. Doch im Gegensatz zum Phaidon und zum Parmenides, die in (pseudo-)biographischer Manier die Entstehung der Ideenlehre bzw. der platonischen Dialektik aus einer zeitlich fixierten Situation heraus schildern, gibt der Philebos-Text keinen Hinweis auf eine chronologische Abfolge. War die Ideenlehre, die dem ‚Sokrates‘ des Philebos wie selbstverständlich zu Gebote steht (15 ab), schon immer mit der Annahme von πέρας und ἀπειρία als letzten Prinzipien verbunden? Im Text des Dialogs spricht nichts dagegen. Im Licht des Parmenides ist es eher unwahrscheinlich, denn die Begriffe πέρας und ἀπειρία sind aufs engste mit der Problematik des Einen und Vielen verbunden, die in jenem Dialog erst in einem zweiten Schritt, auf den der junge ‚Sokrates‘ nicht von selbst kam, durch Intervention des alten Parmenides fruchtbar gemacht wird. Hier zeigt sich nun die Wichtigkeit von Aristoteles‘ Zeugnis: er sagt mit aller Deutlichkeit, daß es zwei Stufen der Ideenlehre gab, eine frühere ohne und eine spätere mit einer Zahlentheorie (Met. M4, 1078 b9–12). Das „von einem Prometheus“ aus dem göttlichen Bereich unter die Menschen geworfene „hellste Licht“ der Dialektik (Phil. 16 c6–7) scheint die spätere Stufe zu meinen, in der die Betrachtung der Idee und die der Zahl zusammengehen. Aristoteles datiert freilich die beiden Stufen nicht. Seit wann verband Platon seine Ideenlehre mit einer pythagoreisierenden Prinzipienlehre? Ist aus der späten Bezeugung im Philebos zu schließen, daß es sich um eine Neuerung der „Altersphilosophie“ Platons handelte? Dieser Schluß wäre nur zulässig, wenn die schon erwähnte naive Annahme zuträfe, daß bei Platon das jeweils Neueste sofort in die Schrift gelangen mußte. Doch solch einen Automatismus gibt es nur im Zeitalter des „Publish or perish“. Der Umstand, daß der Philebos sehr viel weniger an konkreten Angaben über die Prinzipienphilosophie Platons mitteilt als Aristoteles, braucht uns gegen diesen nicht mißtrauisch zu machen: wer die Gründe Platons für seine Zurückhaltung in der Schrift besonders in Fragen der

p. 24.14–15 Westerink). Zu den philosophiegeschichtlichen Implikationen von Phil. 16 cd siehe Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Nürnberg 1962, 76– 81 (= Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Cambridge, Mass. 1972, 85– 90).

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Letztbegründung verstanden hat, konnte von Anfang an nichts anderes erwarten.

3. Das Pythagoreische im ἀρχή-Denken Platons Wie erwähnt, sieht Aristoteles eine große Nähe der platonischen Prinzipienlehre zur pythagoreischen. Einige Passagen lesen sich so, als wolle er sagen, Platon habe die Theorie der Pythagoreer nur oberflächlich abgeändert. Um zu sehen, daß es so doch nicht gemeint ist, empfiehlt es sich, zuerst zusammenzustellen, was Aristoteles über den Unterschied der beiden Erklärungsweisen sagt (a), um danach ihre behauptete Übereinstimmung zu betrachten (b). (a) Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß die Pythagoreer nach dem Zeugnis des Aristoteles die Zahlen nicht als von den Sinnendingen ontologisch getrennte Entitäten betrachteten. Diese fundamentale Feststellung kehrt mehrfach wieder, so Met. A 6, 987 b29–31: „Daß er (sc. Platon) nun das Eine und die Zahlen neben (d. h. getrennt von) den Dingen (παρὰ τὰ πράγματα) ansetzte, und nicht so wie die Pythagoreer, dies und die Einführung der Ideen erfolgte wegen der begrifflichen Frageweise“, ähnlich wenn Aristoteles die Zahlentheorie der Akademiker mit derjenigen der Pythagoreer vergleicht: M 8, 1083 b10–11: „Denn daß sie (sc. die Pythagoreer) die Zahl nicht als getrennt existierend ansetzen (τὸ μὴ χωριστὸν ποιεῖν τὸν ἀριθμόν), behebt viele Unmöglichkeiten“, ferner auch, neben anderen Stellen,7 M 6, 1080 b16–17: „Auch die Pythagoreer sagen, daß nur eine Zahl existiert, die mathematische, nur nicht getrennt (πλὴν οὐ κεχωρισμένον)“. An diesen Stellen verwendet Aristoteles mit Bedacht die Ausdrücke, die er sonst zur Charakterisierung der ontologischen Position Platons kritisch verwendet: παρὰ τὰ πράγματα, χωριστόν bzw. κεχωρισμένον. An dieser ontologischen ‚Separation‘ der intelligiblen Wesenheiten, in der Aristoteles den entscheidenden Fehler Platons sieht, haben die Pythagoreer also nicht teil. Gleichwohl sind ihre Prinzipien von anderer Art als die Sinnendinge, die sie erklären sollen. Sie sind aus dem mathematischen Bereich genommen, und dieser ist – abgesehen von der Astronomie – ohne Bewegung (Met. A 8, 989 b31–33), während die Natur primär durch ihre Bewegtheit bestimmt ist. Zwar dreht sich der ganze Diskurs der Pythagoreer um die Natur, sagt Aristoteles, „doch die Ursachen und die Prinzipien, die sie an-

7 N 3, 1090 a23, 29–31 und Phys. Γ 4, 203 a6–7.

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setzen, sind, wie gesagt, geeignet, um zu den höheren Seinsbereichen emporzusteigen, und sie passen dazu besser als zu den Erörterungen über die Natur“ (989 b33–990 a8). Die deutlich platonische Sprache der zuletzt zitierten Worte (ἀρχὰς ... ἱκανὰς λέγουσιν ἐπαναβῆναι καὶ ἐπὶ τὰ ἀνωτέρω τῶν ὄντων) zeigt, daß die ganze Kritik aus platonischer Sicht formuliert ist. Die Pythagoreer gehen von nichtsinnlichen Prinzipien aus, und das sollte den Aufstieg zu Höherem ermöglichen, doch sie „verbrauchen“ (990 a3) ihre Prinzipien ganz für das Wahrnehmbare. Aristoteles hätte auch sagen können: die Pythagoreer haben bereits, wie nach ihnen die Platoniker, intelligible Prinzipien, sind sich dieser Tatsache aber nicht bewußt. So bleiben sie ganz im Bereich der naturwissenschaftlichen Welterklärung, wie die ‚Naturphilosophen‘ (φυσιολόγοι), ohne indes die Welt der Bewegung und der Schwere (990 a10, 14) erklären zu können. Sie erklären die Erscheinungen aus den Zahlen, ja die Erscheinungen sind die Zahlen, aus denen sie erklärt werden sollen. Ganz platonisch postuliert Aristoteles, daß die Zahl, die die Erscheinungen begründet, eine andere sein müßte als die, die so begründet wird (990 a18–22), und erwähnt abschließend Platon, hier offenbar mit impliziter Zustimmung, der die begründende und die begründete Zahl auch ontologisch trennt als die intelligible und die wahrnehmbare (990 a29–32). Daß der Chrorismos, der für die platonische Ideenlehre so charakteristisch ist, auch in der Philosophie der Zahl allein Platon und der Akademie, nicht aber den Pythagoreern zugehört, dürfen wir Aristoteles gewiß glauben. Das Getrenntsetzen des Intelligiblen führte bei Platon zu zwei Arten von nichtsinnlichen Zahlen, bei Speusippos nur zu einer Art, der mathematischen, die auch bei ihm von den Sinnendingen (ontologisch) ‚getrennt‘ ist (κεχωρισμένον τῶν αἰσθητῶν, M 6, 1080 b15–16). Die eine Art von Zahl, die die Pyhagoreer anerkennen (1080 b16–17, s. o.), soll die mathematische Zahl sein, ist es aber doch nicht, insofern ihre Zahlen nicht ‚monadisch‘ sind, d. h. nicht aus bloßen Einheiten (μονάδες) bestehen, sondern Größe (μέγεθος) haben sollen – wie aber das erste Eine zu Größe gekommen ist, wissen sie nicht zu sagen (1080 b19–21). Die begrifflich nicht geklärte ‚Größe‘ bzw. Ausdehnung der Zahlen brauchen die Pythagoreer, weil sie den ganzen Kosmos aus Zahlen konstruieren (1080 b18f.), was Aristoteles so auslegt, daß sie die Zahl als Materialprinzip verstehen, freilich zugleich auch als Ursache von Eigenschaften und Zuständen, also letztlich der Form (A 5, 986 a17). An der zuletzt genannten Stelle, die vor der Behandlung Platons in A 6 liegt, benennt Aristoteles den Unterschied zu diesem nicht. Es wird sich aber zeigen, daß er Platon die Verwechslung bzw. Vermengung von Material- und Formursache nicht vorwirft. An dieser Vermengung aber und am ungeklärten Übergang von der (mathemati-

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schen) Zahl zur (physikalischen) Größe krankt die Theorie der Pythagoreer, die als ganze Kosmopoiie und Naturerklärung sein will (N 3, 1091 a18– 19), auch wenn diese Denker wegen ihres Mißverständnisses des Wesens der Zahl gerade die physikalischen Körper nicht herleiten können. (b) Aristoteles ist also weit davon entfernt, die platonische Position in der Frage der ἀρχαί mit der pythagoreischen zusammenzuwerfen. Er sieht jedoch eine große Strukturähnlichkeit beider Theorien und eine weitgehende Übereinstimmung der verwendeten Begriffe und Denkformen. Dadurch rückt Platon weit näher an die Pythagoreer heran als an jeden anderen Ansatz. Im einzelnen hält Aristoteles folgende Übereinstimmungen fest. (1) Im Pythagoreer-Kapitel von Metaphysik A spricht Aristoteles von einer Reduktion auf die Elemente (στοιχεῖα) in zwei Schritten: „Da also die übrigen Dinge in ihrer ganzen Natur den Zahlen nachgebildet schienen, die Zahlen aber (für sie) die ersten Wesenheiten der gesamten Natur waren, nahmen sie an, die Elemente der Zahlen seien die Elemente aller Dinge“ (A 5, 985 b32–986 a2). Zweifellos gewollt ist die Ähnlichkeit der Satzstruktur in der analogen Aussage über Platon: „Da aber die Ideen für die anderen Dinge Ursachen sind, glaubte er, ihre Elemente seien die Elemente aller Dinge“ (A 6, 987 b17–20). Zunächst sieht das nach bloßer Strukturähnlichkeit aus: die „übrigen Dinge“ (τἆλλα) werden auf einheitliche Ursachen – bei den Pythagoreern die Zahlen, bei Platon die Ideen – zurückgeführt, dann die Elemente dieser Ursachen ermittelt und so für die Elemente von allem schlechthin erklärt. Da aber die Ideen ihrerseits Zahlen sind und als Zahlen Ursachen der „anderen Dinge“ (987 b21–25), liegt mehr als eine bloß strukturelle Ähnlichkeit vor: es ist im Kern dieselbe Theorie, die sich erst dann in zwei Varianten differenziert, wenn man nach dem ontologischen Status der jeweils gemeinten Zahlen fragt. (2) Inhaltlich näher bestimmt werden diese letzten στοιχεῖα bei den Phytagoreern als „das Begrenzte und das Unbegrenzte“ oder auch als „das Unbegrenzte und das Eine“ (987 a15–16 und 18), bei Platon als das Eine und „das Große und das Kleine“, bzw. die „Zweiheit“ (δυάς) (987 b20, 26, 33, 988 a13). Völlige Gleichheit der Bezeichnungen der ἀρχαί liegt also nicht vor, deutlich ist aber wieder die begriffliche Entsprechung: zwar hat Platon das einheitliche Apeiron der Pythagoreer in eine Zweiheit umgewandelt, doch steht diese immer noch für das Unbegrenzte (987 b26 τὸ δ᾽ ἄπειρον ἐκ μεγάλου καὶ μικροῦ), und das Eine, das bei den Pythagoreern offenbar funktionsäquivalent ist mit dem Begrenzten, hat auch bei Platon begrenzende, d. h. formgebende Funktion. Die Aufspaltung des einen Apeiron in die Dyas bedeutet natürlich nicht, daß Platon nun mit drei letzten Prinzipien arbeiten würde. Wenn Aristoteles gelegentlich so argumen-

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tiert (z. B. Phys. 203 a15–16), als bestünde „das Große-und-Kleine“ aus zwei Entitäten, dem Großen und dem Kleinen, so ist das eine polemische Mißdeutung, die sich aus anderen Aristotelesstellen (z. B. Phys. 192 a6–12) eindeutig korrigieren läßt. (3) Stark betont wird von Aristoteles die Übereinstimmung auch hinsichtlich eines weiteren Punktes, in dem sich die Pythagoreer und Platon ganz klar von den Naturphilosophen abheben: das Unbegrenzte und das Eine sind für die Pythagoreer nicht zunächst etwas anderes, das sekundär das Prädikat „eines“ oder „unbegrenzt“ erhalten würde, sondern sie selbst sind letzte Wesenheiten und die οὐσία dessen, wovon sie ausgesagt werden (A 5, 987 a15–19), und ganz wie die Pythagoreer habe das Platon von seinem Einen gesagt (A 6, 987 b22–24). Platon und die Pythagoreer werden als Vertreter dieser Auffassung des Einen und des ὄν gemeinsam genannt auch bei Einführung der 11. Aporie in Buch B (996 a6, 1001 a9–10). In der Physik vollends dehnt Aristoteles den ontologischen Status des substanziellen An-sich-Seins auch auf Platons ἄπειρον aus, das er auch hier wieder als Zweiheit identifiziert (Phys. 203 a4–16). Diese Gleichsetzung der beiden Positionen unter dem Aspekt des ontologischen Status der Prinzipien müßte aus platonischer Sicht als nicht ganz zutreffend bezeichnet werden. Denn beide platonischen Prinzipien scheinen sich gegen die Einordnung als οὐσία zu sperren. Akzeptiert man nämlich die Gleichsetzung des ‚Einen selbst‘ mit dem ‚Guten selbst‘, die Aristoteles als akademische Lehre bezeichnet8 – und es gibt starke Gründe, diese Information auf Platon selbst zu beziehen – so steht man vor dem Problem, daß Aristoteles das platonische Eine als οὐσία einordnet, während Platon an berühmter Stelle mit größtem Nachdruck versichert, das Gute sei nicht οὐσία, sondern rage noch jenseits von οὐσία an Rang und Macht hinaus.9 Doch ergibt sich daraus bei nüchterner Betrachtung kein wirklicher Einwand gegen Aristoteles’ Bericht. Auf eine etwaige ontologische Differenz zwischen dem platonischen ersten Prinzip und den Ideen braucht Aristoteles hier umso weniger einzugehen, als Platon selbst sein ontologisch ‚jenseits‘ lokalisiertes Gutes an anderen Stellen ganz wie eine ‚normale‘ Idee zu betrachten scheint, indem er es zu den ‚seienden‘ Dingen, zu den ὄντα, rechnet (wenn auch mit superlativischen Adjektiven).10 Angesichts dieses Sprachgebrauchs Platons hätte Aristoteles auch als Platoniker 8 N 4, 1041 b13–15: …οί μέν φασιν αὐτὸ τὸ ἓν τὸ ἀγαθὸν αὐτὸ εἶναι…. 9 Politeia 509 b8–10: …οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ᾽ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος. 10 518 c9 τοῦ ὄντος τὸ φανότατον, 532 c6 τὸ ἄριστον ἐν τοῖς οὖσιν, 526 e3 τὸ εὐδαιμονέστατον τοῦ ὄντος.

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das Recht gehabt, Platons positives Prinzip als οὐσία zu bezeichnen. Entscheidend ist aber die Feststellung, daß Aristoteles im Sinne seiner eigenen Ontologie und mit deren Terminologie formuliert, in der es einen Status ‚jenseits von οὐσία‘ nicht gibt. Der leitende Gegensatz ist für ihn nicht ‚innerhalb von οὐσία‘ gegen ‚jenseits von οὐσία‘, sondern, wie Phys. 203 a4–5 zeigt, ‚an sich‘ gegen ‚als Akzidens‘, ‚καθ´ αὐτό‘ gegen ‚ ὡς συμβεβηκός‘. Bei Platons negativem Prinzip kann man sich erst recht fragen, ob es als ein ‚an sich Seiendes‘, als ein ‚καθ᾽ αὐτό ὄν‘ eingestuft werden kann. ‚Ansich-Sein‘ suggeriert stets den ontologischen Status von Definitheit und klarer Identität, und das deutet auf Formbestimmtheit. Das platonische ‚Große-und-Kleine‘ ist aber gerade als das absolute Gegenteil von Formbestimmthait konzipiert. Vielleicht hilft uns die χώρα des Timaios zu verstehen, was gemeint ist. Die χώρα ist zwar nicht identisch mit dem zweiten Prinzip – denn die Unbestimmte Zweiheit bzw. das Unbegrenzte findet sich sowohl im Ideenbereich als auch in der Sinnenwelt (Met. A. 6, 988 a11–14, Phys. Γ 4, 203 a9– 10) –, aber zweifellos ist sie dasjenige εἶδος des Großen-und-Kleinen,11 das nach Platon die Welt der Bewegung und der Vergänglichkeit als deren Materialprinzip verstehen läßt. Eine An-sich-Existenz vergleichbar der, die die Pythagoreer dem Apeiron außerhalb des Kosmos zuschreiben,12 hat die platonische χώρα nur, wenn man den kosmologischen Mythos des Timaios in zeitlichem Sinne versteht. Dann hat es die χώρα gegeben „auch bevor der Kosmos entstand“, καὶ πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι (Tim. 52 d3–4), und da es Platons Beschreibung der χώρα als ἀρχή (Tim. 48 e–52 c) ausschließt, sie als akzidentelle Bestimmung von etwas anderem zu begreifen, hatte sie bei dieser Deutung in vorkosmischer Zeit ein An-sich-Sein, war also eine οὐσία im aristotelischen Sinn. Bekanntlich hat Aristoteles die temporale Auslegung der Weltentstehung im Timaios vertreten, dies offenbar gegen den Rest der Akademie.13 Aus akademischer Sicht würde man sagen, daß Platons negatives Prinzip weder οὐσία ist, d. h in der Weise der Ideen ‚an sich‘ existiert, noch erkennbar ist nach Art von An-sich-Seiendem, sondern allenfalls – wie die χώρα – durch ‚eine Art unechten Schluß‘, λογισμῷ τινι νόθῳ (vgl. Tim. 52 b2).

11 Man vergleiche Aristoteles’ Redeweise von den εἴδη τοῦ μεγάλου καὶ μικροῦ M 9, 1085 a9, 12 und N 2, 1089 b11–14. 12 203 a7 καὶ εἶναι τὸ ἔξω τοῦ οὐρανοῦ ἄπειρον. 13 De caelo A 10, 279b 17–280 a10. Zur Geschichte der Timaiosexegese in der Antike vgl. Matthias Baltes: Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten I–II. Leiden 1976/78.

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(4) Nach Aristoteles bestand als weitere Übereinstimmung zwischen Platon und den Pythagoreern ihr gemeinsames Bemühen, das Gute als Ursache in den Zahlen zu finden. Das Eine als Prinzip der Zahlen ist bei Platon entweder aufs engste verbunden mit dem Guten, oder identisch mit ihm (A 6, 988 a14–15, Λ 10, 1075 a 35, M 8, 1084 a34–35, N 4, 1091 b13–15), bei den Pythagoreern steht es jedenfalls in der positiven Systoichie (A 5, 986 a23f.), zu der auch die positiv gewerteten Eigenschaften mathematischer Entitäten gehören wie das Ungerade (bei den Zahlen), das Gerade (bei den Linien), das Quadratische („gleich mal gleich“). Aristoteles argumentiert in N 6, 1093 b7–24., daß die Zahlen und ihre Verhältnisse auf keinen Fall als Ursachen und Prinzipien gelten können, und daß die Entsprechungen, die zwischen den Zahlen und den Phänomenen geltend gemacht werden, nur akzidentell sind und eine Einheit nur in dem lockeren Sinn der Analogie haben. Die Gegner, die er dabei im Blick hat, sind einerseits zeitgenössische Pythagoreer, andererseits – wie die Erwähnung der Ideenzahlen 1093 b21–24 zeigt – Platon und seine Anhänger.14 (5) Gemeinsam ist Platon und den Pythagoreern nach Aristoteles auch, daß sie eine ‚Erzeugung‘ oder ‚Entstehung‘ der Zahlen und der ‚Größen‘ (μεγέθη, d. h. von Punkt, Linie, Fläche und Körper) lehren. Aristoteles lehnt diese ganze Vorstellung ab: es sei abwegig, von Dingen, die außerzeitlich (ἀίδια) sind, eine Entstehung anzusetzen (N 3, 1091 a12–13). Die Pythagoreer verstanden unter dieser γένεσις vielleicht in naiver Weise eine ‚reale‘ Entstehung. Aristoteles möchte sie jedenfalls von der Kritik, die er an den Platonikern übt, ausnehmen, weil sie ja eigentlich Kosmopoiie betreiben und naturphilosophisch reden wollen (1091 a18–20).15 Bei Platon und den Platonikern meint die ‚Entstehung‘ zweifellos eine nur begriffliche ‚Konstruktion‘ der Zahlen und der Raumgrößen, die nichts anderes ist als die Umkehrung der ‚Analyse‘, d. h. der Suche nach immer einfacheren στοιχεῖα. Alexander von Aphrodisias, der bekanntlich noch Aristoteles’ Nachschrift der Vorlesung Περὶ τἀγαθοῦ einsehen konnte, erklärt diese Suche nach einfachsten Elementen als gemeinsames Anliegen Platons und der Pythagoreer. ‚Prinzip‘, ἀρχή, war für sie das jeweils ontologisch Frühere und Unzusammengesetzte bzw. weniger Zusammengesetzte, vor den Körpern aber seien die Flächen, vor den Flächen die Linien, vor den Lini-

14 Vgl. Léon Robin: La théorie platonicienne des Idees et des Nombres d’après Aristote. Paris 1908 [Nachdruck Hildesheim 1963], 557 note 512, 365 note 302 IV. 15 Diese Einschätzung ist konform mit der Darstellung und Kritik der pythagoreischen Position in Met. A 8, nach der in ihr nicht wirklich unterschieden wird zwischen der mathematischen und der wahrnehmbaren Zahl (990 a8ff., bes. a 15).

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en die Punkte, diese aber bezeichneten sie als Monaden, diese wiederum seien Zahlen, also seien die Zahlen das Erste unter den Dingen (Alex., In Ar. Met. 55.20–26 Hayduck). In den Einzelheiten lassen sich Unterschiede erkennen – z. B. hatte Platon (und wie es scheint nur er) Vorbehalte gegen den geometrischen Begriff des Punktes (στιγμή), den er durch die ‚unteilbare Linie‘ ersetzen wollte (Met. A 9, 992 a20–22) – insgesamt aber ist es kaum möglich, die mathematische Theorie Platons von derjenigen der Pythagoreer scharf zu trennen (außer natürlich in dem von Aristoteles häufig betonten Punkt, daß die Pythagoreer die Zahlen nicht ontologisch getrennt setzten).16 Mit größter Deutlichkeit zeigt sich Platons Anschluß an pythagoreische Zahlentheorie in seinem Gebrauch der Zehnzahl als vollkommene Zahl. Für Platon geht die Zahlenreihe nur bis zur Dekas, sagt Aristoteles in der Physik (Γ 6, 206 b32, ähnlich Met. M 8, 1084 a13, wo mit τινες Platon gemeint ist). Damit kann selbstverständlich nur die ‚Erzeugung‘ oder Konstruktion der Ideenzahlen gemeint sein. Wenn er in Λ 8, 1073 a19–21 sagt, die Vertreter der Ideenlehre faßten die Ideen als Zahlen auf, betrachteten diese aber bald als unbegrenzt, bald als begrenzt bis zur Dekas, so ist das kaum als Bericht über eine Unsicherheit Platons und der Platoniker hinsichtlich der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Zahlenreihe zu nehmen, sondern als polemische Unterlassung einer sachlich erforderlichen Unterscheidung: für Platon waren die mathematischen Zahlen unbegrenzt, die Idealzahlen hingegen beschränkt auf zehn. Der Grund für die Sonderrolle der Dekas lag für Platon wie für die Pythagoreer in der Überzeugung, die Zehn sie die vollkommene Zahl (M 8, 1084 a32). Diese Überzeugung beinhaltete wohl, daß in der Zehn alles keimhaft beschlossen ist, vergleichbar der Vorstellung in den ‚Goldenen Versen‘ der Pythagoreer, die Tetraktys sei die „Quelle der ewigströmenden Natur“ (...τετρακτύν, παγὰν ἀεναοῦ φύσεως, Carm. aur. 47f.). Unter dem Einfluß dieses Gedankens wollten Platon und die Platoniker alle für die Erklärung der Wirklichkeit wesentlichen Begriffe durch Anknüpfung an die beiden Prinzipien unmittelbar oder an die Idealzahlen „innerhalb der Dekas erzeugen“ (1084 a32–36). Die Tetraktys ist auch der Schlüssel zum Verständnis jenes wichtigen Textes, in dem Aristoteles auf seine Schrift Περὶ φιλοσοφίας verweist, in der er Platons Auffassung vom Parallelismus zwischen der Konstitution der Welt und den Erkenntnisfunktionen dargestellt hatte (De anima 404

16 Dies stellte bereits L. Robin fest, vgl. Robin: La théorie platonicienne, 228 note 231.

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b18–27). Sowohl ‚das Lebewesen selbst‘ (αὐτὸ τὸ ζῷον, b19f.), d. h. der Ideenkosmos als Urbild des sichtbaren Kosmos, als auch unsere Erkenntnisvermögen sind das, was sie sind, kraft der ersten vier Zahlen. (Daß diese als Tetraktys sich zur vollkommenen Zahl 10 addieren, in der alles enthalten ist, wird hier nicht ausgesprochen, obschon es für das Verständnis wesentlich ist – aber Aristoteles konnte darauf vertrauen, daß es seinen Hörern präsent war.) Aus dem Einen und den idealen Raumgrößen Länge, Breite und Tiefe konstituiert sich der Ideenkosmos (b19–21). Diesen ‚Größen‘, die, wie Aristoteles an anderen Stellen zeigt, aus den ‚Arten‘ des unbestimmten Prinzips des Großen-und-Kleinen entstehen,17 entsprechen die Zahlen 2, 3 und 4, die zu den Erkenntnisvermögen der Wissenschaft, der Meinung und der Wahrnehmung in Beziehung gesetzt werden: denn die Wissenschaft geht einsinnig und zielgerichtet vom Ausgangspunkt des Beweises zur Schlußfolgerung (μοναχῶς γὰρ ἐφ᾽ ἕν) wie auf einer Linie als der kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten, während die Meinung bald das Wahre trifft, bald vom Wahren abirrt zum Falschen (wie in einer durch drei Punkte definierten Ebene, in der die Richtung nicht vorgegeben ist), und die Wahrnehmung auf die vierdimensionale Sinnenwelt gerichtet ist. Alle Erkenntnis aber bedarf der einheitsstiftenden Rolle des Nus, der nicht wie die Episteme voranschreitet, sondern intuitiv und einheitlich sein Objekt erfaßt und daher dem Einen zugeordnet ist.18 Einen expliziten Hinweis auf die pythagoreische Inspiration dieses Philosophems hat sich Aristoteles an dieser Stelle gespart. Doch die Tetraktys ist philosophiegeschichtlich eindeutig festgelegt. Zwar haben wir kein Zeugnis von Platon des Inhalts, „die Alten“ hätten uns die Tetraktys überliefert oder „ein Prometheus“ hätte sie als „Gabe der Götter“ unter die Menschen geschleudert, doch angesichts der besprochenen Philebos-Stelle (s. o. S. 6f.) brauchen wir nicht zu zögern mit der Annahme, daß er sich mit der Übernahme dieses Grundgedankens der pythagoreischen Welterklärung ebenso eindeutig in die Gefolgschaft dieser „Alten, die uns überlegen waren und näher bei den Göttern wohnten“ stellen wollte wie mit seiner Verwendung von πέρας und ἀπειρία als letzten Prinzipien. Der De anima-Passus zeigt, daß die pythagoreische Tetraktys Platons Konzeption sowohl unter ontologischem als auch unter gnoseologischem Aspekt entscheidend mitgeformt hat.19 17 992 a10–13, 1085 a9–12, 1089 b11–14, vgl. 1090 b37 (mit dem Text der codd.). 18 Zum Nus als formalen, den anderen Vermögen als irgendwie ‚materialen‘ Elementen der Erkenntnis vgl. Robin: La théorie platonicienne, 308–312, bes. 310f. 19 Konrad Gaiser ist der Bedeutung der Tetraktys für die Philosophie Platons im einzelnen nachgegangen. Die Abfolge der Zahlen 1 – 2 – 3 – 4 erwies sich ihm als

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4. Platon und die philosophische Tradition der Griechen Vor hundert Jahren stellte Léon Robin am Ende seiner umfassenden Untersuchung zu den aristotelischen Berichten über Platons Theorie der Ideenzahlen fest: „Aristote nous a mis sur la voie d’une interpretation néoplatonicienne de la philosophie de son maitre“.20 Dieses Ergebnis schätzte er selbst als „assez imprévu“ ein. Unerwartet (und daher für unbewegliche Geister unglaubwürdig) war das Ergebnis vor 100 Jahren aber vor allem, weil man sich allzu unkritisch der eigenen Konstruktion vom „Sokratiker“ Platon verschrieben hatte und weil man zudem ein falsches Bild vom Neuplatonismus pflegte. Heute ist man weniger geneigt, den Abstand des Platonismus des 3.–6. Jh.s nach Christus – einer Denkschule, die sich selbst durchaus nicht als Neu- Platonismus sah – vom Gründer selbst für schlicht unüberbrückbar zu halten. Die Arbeiten von Forschern wie Philipp Merlan, Cornelia de

ideelles Paradigma der Abfolge Punkt – Linie – Fläche – Körper, die er unter dem Namen „Dimensionenfolge“ als den wichtigsten Schlüssel zur Psychologie, Gnoseologie und Ontologie Platons zu begreifen suchte (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. 21968 [1963]). – Über den Wert von De anima 404 b18–27 als Zeugnis für die mündliche Philosophie Platons gab es vor fast 50 Jahren eine Kontroverse zwischen H. D. Saffrey und H. Cherniss. Saffrey hat die überlange Rezension von Cherniss aus dem Gnomon 1959 der zweiten Auflage seiner Abhandlung „Le Περὶ φιλοσοφίας d’Aristote et la théorie platonicienne des Idées Nombres“ (Leiden 1971) als Appendix beigegeben, womit er in souveräner Weise zeigte, daß seine wohlfundierte Interpretation von der sterilen Hyperkritik des amerikanischen Gelehrten nichts zu befürchten hat. Wie J. Barnes bin ich der Ansicht, daß Cherniss mit seiner Ablehnung der aristotelischen Berichte über die mündliche Prinzipienlehre Platons nicht nur klarerweise im Unrecht war („patently false“), sondern seine Position überdies „uninterestingly false“ war (The Classical Review 45 (1995), 178). Aus diesem Grund habe ich im obigen auf eine Auseinandersetzung mit dieser Position verzichtet. Mit weit besserem historischen und philosophischen Verständnis hat den Komplex der platonischen ἄγραφα δόγματα behandelt Marie-Dominique Richard: L’enseignement orale de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme. Paris 1986 [édition revue et corrigée 2005]. Neben einer vollständigen Sammlung der Testimonien mit der ersten lückenlosen Übersetzung in eine moderne Sprache (248–381) bietet Richards Werk umsichtige quellenkritische Erörterungen und kompetente philosophische Interpretationen der Texte. Die Rezension von L. Brisson (Les Études philosophiques 1990, 95–105) wird der Bedeutung dieses wichtigen Forschungsbeitrags in keiner Weise gerecht. 20 Robin: La théorie platonicienne, 600.

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Vogel, Hans Joachim Krämer21 u. a. haben ein Ausmaß an Kontinuität sichtbar gemacht, das man früher nicht für möglich gehalten hätte. Wichtiger für unser Thema ist aber, daß Platons Werke selbst – wie wir auf den ersten Seiten dieses Beitrags sahen – allen Anlaß geben, ihn für mehr zu halten als den bloßen Fortsetzer der Bemühungen seines zweiten Lehrers. Schon der Timaios zeigt eine Art der Welterklärung, die mit Sokrates offensichtlich wenig zu tun hat, umso mehr aber mit dem Unterfangen des Anaxagoras, den Kosmos teleologisch aus dem Wirken des Nus zu erklären (auch wenn Anaxagoras selbst seinem Anspruch nicht gerecht wurde), sodann mit der Atomtheorie des Demokritos, die jedoch in pythagoreischem Geist vertieft wird zu einem mathematischen Atomismus, ferner mit der pythagoreischen Suche nach Analogie und Harmonie in allen Dingen. Beseelt wird aber der ganze Entwurf vom eigenen ontologischen Ansatz, der aus dem sichtbaren Kosmos ein Abbild seines intelligiblen Urbildes macht – auch diesen zentralen Gedanken verdankte Platon mit Sicherheit nicht seinem Lehrer Sokrates. Die mündliche Prinzipienlehre, die aus dem Timaios mit voller Absicht und mit aller Deutlichkeit herausgehalten wird,22 erweist sich dann in den Berichten der indirekten Überlieferung vollends als eine Theorie, in der die sokratische Suche nach der Arete zwar noch erhalten ist als die Frage nach dem Guten, in der aber die Antwort auf diese Frage nicht mehr als eine nur ethische, sondern eindeutig als eine ontologisch-gnoseologischaxiologische gegeben wird, mit einer Herleitung alles Seienden aus Prinzipien, die Platon selbst im Philebos mit dem Pythagoreismus verbunden hat, und dies mittels einer Zahlentheorie, die aus dem Geist der Ideenlehre geboren ist. Kein Wunder, wenn das Ganze einen Willen zur systematischen Vollständigkeit bekundet, der uns – zu Recht oder zu Unrecht – mehr an die Philosophie der Spätantike als an das tastende Fragen des Sokrates denken läßt. Nimmt man all die erwähnten Einflüsse zusammen – den herakliteischen, den sokratischen, den anaxagoreischen, den eleatischen, den atomis-

21 Philip Merlan: From Platonism to Neoplatonism. Den Haag 31968 [1953]; Cornelia de Vogel: Rethinking Plato and Platonism. Leiden 1988; Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Amsterdam 21967 [1964]. 22 Vgl. meinen Beitrag: Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios. In: Interpreting the Timaeus-Critias, Proceedings of the IV Symposium Platonicum. Hg. v. Tomás Calvo u. Luc Brisson. Sankt Augustin 1997, 195 – 203 [wiederabgedruckt in: Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004], 218–228.

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tischen und den pythagoreischen – und bedenkt dazu, was Platon aus Empedokles, aus der Orphik und Mysterienreligion, ferner aus der medizinischen und mathematischen Literatur übernommen und in sein Werk integriert hat, so wird endgültig klar, daß er nicht als der Erbe eines einzelnen Lehrers, sondern nur als der Vollender der gesamten hellenischen Tradition bis auf seine Tage angemessen verstanden werden kann.

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35. Hermeneutische Grundprobleme der Platondeutung (2019)

Die heute nicht mehr überall anerkannte, aber doch noch in weiten Bereichen der Platonforschung nachwirkende antiesoterische Platondeutung beruht auf der hermeneutischen Fehleinschätzung von vier Texten bzw. Textcorpora: 1. Platons Kritik der Schriftlichkeit (Phdr. 274 b–278e) – sie wird seit Friedrich Schleiermacher (1804) zu Unrecht antiesoterisch gelesen. 2. Die indirekte Überlieferung zu Platons innerakademischer Prinzipientheorie – sie wird systematisch unterschätzt und nicht ihrer Bedeutung gemäß gewürdigt. 3. Die Systementwürfe der Platon-Schüler Speusippos, Xenokrates und Aristoteles – ihre Herkunft aus der mündlichen Philosophie ihres gemeinsamen Lehrers wird zu wenig beachtet. 4. Die Botschaft, die Platon durch seine literarische Gestaltung des Bildes des Dialektikers vermittelt, wird nicht in ihrer philosophischen Tragweite erfaßt. Der vorliegende Beitrag läßt auf die Benennung der jeweiligen irrigen Vorentscheidungen und Interpretationsmängel Hinweise folgen, wie man von der einseitigen, voreingenommenen und vielfach textwidrigen antiesoterischen Position loskommen kann. Da jeder der vier Fragenkomplexe schwierig, vielschichtig und materialreich ist, kann nicht alles mit allem Detail ab ovo erörtert werden, vielmehr wird es sich immer wieder als notwendig erweisen, auf frühere Arbeiten des Verfassers zu verweisen.

1. Platons Kritik der Schrift als eines Mittels der philosophischen Erkenntnisgewinnung: Phaidros 274 b–278 e. Nachdem die Frage der ‚Kunstmäßigkeit‘ (technēi, lege artis) und Kunstlosigkeit oder Kunstwidrigkeit von logoi (Reden, Darlegungen, Erörterungen – mündlich oder schriftlich) gelöst ist, leitet Sokrates über zur Frage, worin der ‚geziemende‘ Gebrauch der Schrift (der graphē) bestehe (274 be–7). Der Gegensatz euprépeia – aprépeia bestimmt von nun an die Erörterung.1

1 Als Übersetzung von euprepeia/aprepeia wurde vorgeschlagen ‚Anständigkeit/Unanständigkeit‘ (Schleiermacher), ‚Schicklichkeit/Unschicklichkeit‘ (Apelt), ‘Angemessenheit/Unangemessenheit’ (Rufener). Da prepei soviel bedeutet wie ‚es geziemt

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1. Vorneweg benennt Sokrates den wohl wichtigsten Gesichtspunkt für alles Folgende: das Handeln und Reden des Menschen bezüglich der logoi muß Gott wohlgefällig sein, der Mensch muß theōi charizesthai (274 b9–10). 2. Hierzu weiß Sokrates eine Geschichte „von den Früheren“, aus Ägypten: der Gott Theuth zeigt seine Erfindungen dem König Thamous, u. a. Zahlen, Rechnen, Geometrie, Brettspiele und Würfelspiele – und die Schrift, grammata. Diese sei ein Mittel des Gedächtnisses und der Weisheit, mnēmēs te kai sophias pharmakon, es werde die Ägypter weiser und gedächtnisfähiger machen. Thamous stimmt dem Erfinder nicht zu: der eine kann eine Techne erfinden, doch ein anderer beurteilt ihren Schaden oder Nutzen. Die Schrift wird das Gedächtnis nicht stärken, vielmehr schwächen, weil das Sich-Erinnern nicht aus dem Inneren, sondern mittels der Seele äußerlichen Zeichen erfolgen wird. Haben die Menschen viel zusammengelesen ohne Unterweisung (aneu didachēs), werden sie glauben, kenntnisreich zu sein, sie werden aber nur scheinweise statt weise geworden sein (doxosophoi gegonotes anti sophōn). So weit ist das die platonische Version der Einsicht des Herakleitos: „Vielwissenheit lehrt nicht Vernunft haben (polymathiē noon echein ou didaskei, DK 22 B 40) – statt der Sentenz bietet Platon eine kleine Geschichte. Zusammengefaßt besagt sie, daß es einfältig wäre zu glauben, aus der Schrift könne klare und verläßliche Erkenntnis gewonnen werden. Die Schrift kann nicht mehr, als den schon Wissenden an das zu erinnern, wovon sie handelt. Sie ist lediglich ein Mittel des In-Erinnerung-Rufens (hypomnēseōs pharmakon, 275 a5, d1) (274 c1–275 d3). 3. Die Schrift (graphē) hat drei grundsätzliche Mängel: 1. sie sagt immer dasselbe, kann nicht auf Fragen antworten, 2. sie kann sich den richtigen Adressaten nicht aussuchen und spricht daher zu Verständigen und ebenso zu solchen, die die Philosophie nichts angeht, 3. sie kann sich im Falle eines Angriffs nicht verteidigen, sie bedarf dazu ihres ‚Vaters‘, d. h. des Autors. – Im Gegensatz zur Schrift steht die lebendige und beseelte Rede des ‚Wissenden‘, d. h. des Dialektikers, die all das kann, was die Schrift nicht kann, d. h. sie kann auf Fragen antworten, sie vermag zu reden und zu schweigen zu denen, zu denen man reden bzw. schweigen soll (epistemōn legein te kai sigan pros hous dei), und sie kann sich helfen. Der geschriebene logos kann als Abbild (eidōlon) da-

sich‘, kann ‚das Geziemende/Ungeziemende‘ als mindestens gleichwertige Übersetzung gelten.

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von bezeichnet werden. Gemeint sind Platons eigene Dialoge.2 (275 d4–276a9) 4. Es folgt ein Vergleich (Gleichnis): ein vernünftiger Bauer wird auf keinen Fall sein gesamtes Saatgut in Adonisgärten ausbringen. Ebenso der Dialektiker: er wird sein philosophisches Saatgut (seine Ideen, Erkenntnisse) nicht vollständig in seine Adonisgärten, d. h. seine Schriften bringen. Wenn er in Adonisgärten sät, d. h. wenn er schreibt, so tut er das zu seinem Vergnügen, als Spiel (paidia). Sein Ernst besteht in der mündlichen Dialektik, die er betreibt, indem er eine geeignete Seele dazu auswählt (labōn psychēn prosēkousan, 276 e6). 5. Nun folgt eine Zusammenfassung, die sowohl die Kunstgemäßheit von logoi als auch die Schicklichkeit bzw. das Geziemende des Schriftgebrauchs auf den Begriff bringt. Reden entsprechen der philosophischen Redekunst, wenn sie 1. auf der dialektischen Wesenserkenntnis der behandelten Gegenstände beruhen, 2. auf der Erkenntnis der Seelen bzw. Typen von Seelen, und 3. auf der Fähigkeit, jedem Typus von Seele die richtige Art von logos zuzuweisen. – Geziemend oder schicklich ist der Gebrauch der Schrift nur, wenn der Autor der naiven Illusion entgeht, die Schrift könne klare und sichere Erkenntnis vermitteln – andernfalls ist er ein oneidos, ein Schimpf. Schrift ist immer voll von paidia, Spiel, die wertvollsten Schriften sind Erinnerungshilfen für die, die schon wissen. Die wertvollsten Reden sind die, die vom Dialektiker lehrend, um des Lernens willen in die Seele des Lernenden geschrieben werden. Nur sie erzeugen Klarheit, nur sie sind des Ernstes wert. (277 a6–278 b6) 6. Aus all dem ergibt sich eine Botschaft an jeden, der die Schrift gebraucht: wenn ein Autor seine Schriften verfaßte im Besitz des Wissens um die Wahrheit, und im Besitz der Fähigkeit zu helfen, indem er in eine prüfende Erörterung eintritt über das, was er schrieb, und dabei in der Lage ist, das Geschriebene mündlich (legon autos) als geringwertig zu erweisen – dann muß man einen solchen Autor nicht mit einer Bezeichnung benennen, die von diesen Schriften genommen ist, sondern mit einer nach dem, worauf sich sein Ernst richtete. sophos, weise, wäre eine zu großartige Bezeichnung, aber philosophos oder so etwas könnte passen. Wer aber keine Dinge von höherem Wert, keine timiōtera, besitzt als das, was er in langer Zeit hin und her wendend zu-

2 Vgl. Thomas Alexander Szlezák: Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?. In: Museum Helveticum 66 (2009), 65–83.

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sammensetzte oder schrieb, der soll nach seinen Werken Dichter oder Redenschreiber oder Verfasser von Gesetzen heißen. (278 b7–e4)

2. Was die Schriftkritik vom philosophos verlangt Was ist hier verlangt vom platonischen philosophos, vom dialektikos (266 c1)? Was muß er können? 1. Er muß unterscheiden können zwischen geeigneten und ungeeigneten Adressaten. Zu den Ungeeigneten wird er einfach schweigen: er ist epistēmon legein te kai sigan pros hous dei. 2. Er betreibt Dialektik labōn psychēn prosēkousan, 276 e. Er trifft also eine Auswahl. 3. Er wird nicht sein gesamtes philosophisches Saatgut in seine Adonisgärten, d. h. seine Schriften, bringen. 4. Er ist in der Lage, sein Geschriebenes mündlich – legōn autos – zu überbieten, so daß das Geschriebene im Vergleich zu seiner mündlichen ‚Hilfe‘ als gering erscheinen wird: dynatos ta gegrammena phaula apodeixai. 5. Das kann er, weil er über timiōtera verfügt, d. h. über philosophische Inhalte von höherem Rang. Das ergibt zusammen eine klar esoterische Auffassung vom Philosophieren: – Dialektik wird mündlich betrieben, nach einer Auswahl der Geeigneten (labōn psychēn prosēkousan) und unter Ausschluß der Ungeeigneten (sigan pros hous dei), – publiziert wird auf keinen Fall alles – denn das wäre so wie wenn ein Bauer alles Saatgut in Adonisgärten täte; – das Publizierte kann der platonische Philosoph mündlich überbieten durch seine ‚Hilfe‘ (boēthein tōi logōi) – und das könnte er schon beim Schreiben: echōn boēthein ist grammatisch und sachlich gleichzeitig mit eidōs hēi to alēthes echei (278c4/5); – das, womit er hilft – wenn er hilft – sind timiōtera, d. h. Inhalte von höherem philosophischen Status: Begriffe, Konzeptionen, Hypothesen, Theorien und Prinzipien, die weiter tragen als die Begrifflichkeit des Publizierten.

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3. Schleiermachers Fehlinterpretation und die moderne Theorie des Dialogs Daß der Phaidros eindeutig verlangt, die Philosophie auf esoterische Art zu betreiben, erkannten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts zwei Philosophiehistoriker: Dieterich Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, 6 Bde, Marburg 1791–1797, und Wilhelm Gottlieb Tennemann, System der Platonischen Philosophie, 4 Bde, Leipzig 1792–1795, Ders., Geschichte der Philosophie, Leipzig 1798 – 1819. Tennemann ging so weit, daß er die Schriftkritik in beiden Werken über Seiten abdruckte – leider ohne Interpretation im einzelnen: es schien ihm einfach evident, was da gesagt wird. Tiedemann und Tennemann waren der Ansicht, daß Platon seine Philosophie der Prinzipien mit voller Absicht aus seinen Schriften heraushielt, also esoterisch verfuhr. Diese Haltung schien ihnen nachvollziehbar für die damalige Zeit – man schützt das Wichtigste vor Unverständnis und Verunglimpfung –, aber keine Option mehr für unsere moderne Schriftkultur. Dann kam Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Seine „Einleitung“ zum ersten Band (1804) seiner neuen Platon-Übersetzung ist ein Text von historischer Bedeutung. Schleiermacher zitiert Tennemann gleich anfangs, knüpft vielfach an ihn an.3 Aber dessen Begriff von ‚esoterisch‘ und ‚exoterisch‘ will Schleiermacher einer „kritischen Sichtung“ unterziehen (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Platons Werke. Ersten Theiles erster Band. Berlin 31855 [1804], 5–36, hier: 11). Was dabei herauskam, ist leider so unkritisch wie nur möglich. Schleiermacher ist überzeugt, „daß Platon doch auch den noch nicht wissenden Leser wollte zum Wissen bringen“ (ebd., 16), weswegen er ihn „zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens“ zwingen wolle durch Einsatz bestimmter ‚Künste‘, d. h. Kunstmittel der Darstellung, z. B. „daß das Ende der Untersuchung nicht geradezu ausgesprochen“ wird, oder daß „aus Widersprüchen ein Räthsel geflochten wird“ u. a. Daß diese angebliche Zielsetzung Platons in plattem Widerspruch zum Phaidrostext steht, der der Schrift nur die Funktion der Wiedererinnerung des Wissenden zugesteht, und daß sie überdies „durch eine falsche Interpretation“ gestützt wird, sprach schon Friedrich Nietzsche in seiner Basler Platon-Vorle-

3 Thomas Alexander Szlezák, Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann. In: Antike und Abendland 43 (1997), 46–62.

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sung im WS 1871/72 aus,4 blieb damit freilich ohne Breitenwirkung. Das Ergebnis von Schleiermachers Sichtung des Begriffspaares esoterisch – exoterisch war, „dass dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht“ (ebd., 17). Der Leser soll also die innere, nicht direkt ausgesprochene Wahrheit des Textes verstehen, dann ist er der esoterische Leser; wer an Äußerlichkeiten hängenbleibt, ist der exoterische. Esoterik wird also verinnerlicht, ganz wie es zur deutschen Romantik paßt: ein historisches Faktum, nämlich daß ein bestimmter Denker seine Prinzipienlehre weder veröffentlichte noch jedem Beliebigen darlegte, wird umgedeutet zu einem Vorgang im Inneren des Lesers. Schleiermachers Vorstellung, daß die Kunstmittel der platonischen Dialogschriftstellerei den Leser zum Denken und Verstehen „zwingen“ bzw. „nöthigen“, führte dann im Lauf des 19. und 20 Jahrhunderts zur modern Dialogtheorie, deren Hauptpunkte die folgenden sind (nicht alles davon ist schon bei Schleiermacher ausgesprochen):5 1. Platons Kritik ist gegen syngrammata gerichtet. syngramma bedeute „systematische Abhandlung“. Ein Dialog ist kein syngramma. 2. Daher treffen die drei Mängel der Schrift auf den Dialog gar nicht zu. Der platonische Dialog kann auf neue Fragen neue Antworten geben, kann zu den richtigen Adressaten reden oder schweigen, und er kann sich selbst Hilfe bringen. Der Dialog ist kein Buch wie jedes andere. 3. boēthein tōi logōi, dem Argument helfen, meint das, was wir alle tun nach einem Vortrag: man verdeutlicht das Gesagte und räumt Mißverständnisse aus. 4. Die timiōtera, über die der philosophos verfügen muß, meinen nichts als das lebendige Dialogführen der mündlichen Dialektik, und das war für Platon „a far more valubale activity than written composition“.6 5. Aus alle dem folgt: Platon verlangt vom philosophos nicht, daß er mündlich über sein Geschriebenes hinausgehen kann. Platons mündli4 Nietzsche, Friedrich: Werke, Band XIX, Dritte Abteilung: Philologica, Band III: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie. Hg. v. Otto Crusius u. Wilhelm Nestle. Leipzig 1913, 240. 5 Eine ausführliche Darstellung und Analyse der modernen Dialogtheorie gab ich in: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (= PSP). Teil I: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin/New York 1985, 331–375. Vgl. auch Thomas Alexander Szlezák: Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts. In: J. Rohls, G. Wenz (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur (Münchener Theologische Forschungen, Bd. 2). Göttingen 2004, 125– 144. 6 Gregory Vlastos, in: Gnomon 35 (1963), 653.

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che Philosophie enthielt keine zusätzlichen Inhalte über die Dialoge hinaus.

4. Widerlegung der modernen Theorie des platonischen Dialogs Zur Widerlegung dieser Dialogtheorie, die sich mit kleinen Varianten bei allen Interpreten des 20. Jahrhunderts findet, genügt es, Folgendes festzuhalten:7 1. Daß syngramma soviel bedeutet wie „systematische Abhandlung“, ist eine moderne Erfindung. Der griechische Sprachgebrauch widerlegt das glatt.8 Platon kritisiert auch nicht das syngramma als (angebliche) literarische und denkerische Form, sondern die graphē, die Schrift schlechthin. 2. Folglich kann auch keine Rede davon sein, daß Platon die eigenen Dialoge von der Kritik ausgenommen hätte. Was für alle graphē gilt, gilt auch für die eigene. 3. Die zitierte Auslegung von echein timiōtera, Wertvolleres besitzen, ist sprachlich unmöglich. Um auszudrücken, daß das Dialogführen als solches das Wertvollere ist, das der Philosoph haben muß, hätte Platon in 278 d8–9 schreiben müssen: ton mē echonta timiōterón ti tou syntithenai ē graphein, der Text lautet aber: ton mē echonta timiōtera hōn synethēken ē egrapsen. Es ist klar, daß Platon nicht eine Tätigkeit als solche, das Dialogführen, mit dem Produkt einer anderen Tätigkeit vergleicht, sondern das Produkt der einen Tätigkeit, nämlich des Schreibens, also die geschriebenen Werke, mit dem Produkt seiner anderen Tätigkeit, des mündlichen Philosophierens über die Prinzipien, und dieses Produkt sind die inhaltlichen Eckpunkte seiner Prinzipientheorie. Daß die timiōtera auf Inhalte zu beziehen sind, ergibt sich auch aus der Verwendung des Synonyms pleionos axia an einer früheren Stelle des Dialogs. In Phdr. 234 e–236 b ist die Frage, wodurch eine Rede ausgezeichnet sein muß, die die Eros-Rede des Lysias übertreffen soll. (Es liegt also dieselbe Frage vor wie in 278 cd: welche Bedingungen muß der bessere logos erfüllen). Die Antwort ist: sie muß beltiō und pleionos axia enthalten, philosophisch höher zu veranschlagende Inhal7 Eine detaillierte Kritik der modernen Dialogtheorie findet sich in Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil I, 336–375. 8 Dies ergab eine systematische Überprüfung des griechischen Gebrauchs von syngraphein, syngraphē und syngramma von den Vorsokratikern bis auf die Zeit Platons, vgl. ebd., 376–385.

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te. timiōtera und pleionos axia sind strikt synonym. Wer natürlich die Fernbeziehungen nicht erkennt, die Platon innerhalb des Dialogs gelegt hat, wird herumphantasieren über die Bedeutung von timiōtera9 und am Schluß erklären, sie meinten auf keinen Fall bedeutendere Inhalte. Doch genau das meinen sie. 4. Gibt es keine besonderen, über die Dialoge hinausgehenden Inhalte der mündlichen Prinzipientheorie? Das Gleichnis vom vernünftigen Bauern schließt es kategorisch aus, daß der Dialektiker sein gesamtes geistiges Saatgut in seine schriftlichen Adonisgärten sät. Denn täte er das, so stünde er im Gleichnis auf der Seite des unvernünftigen Bauern, der alle Saatkörner in Adonisgärten sät. Damit wäre Platons Gleichnis sinnwidrig in sein Gegenteil verkehrt. Moderne Interpreten wissen meistens einfach nicht, daß mit Adonisgärten prinzipiell kein Ertrag (griechisch karpos, vgl. enkarpa 276 b2) zu erzielen ist.10 Das ist der sachliche Grund, warum der vernünftige Bauer nicht alles Saatgut in Adonisgärten sät. Das Gleichnis verlangt zwingend, daß der Dialektiker mit seinem Saatgut ebenso verfährt. 5. Die Begriffe boēthein tōi logōi und sigan pros hous dei sind aus den Dialogen selbst zu erklären, denn der geschriebene logos wird ja als eidōlon, Abbild der lebendigen Rede des Dialektikers bezeichnet (276 a). Wie die platonischen Dialoge diese beiden Begriffe abbilden und illustrieren, will ich im letzten Teil meines Beitrags zeigen.

5. Die indirekte Überlieferung zu Platons Theorie der Prinzipien Friedrich Schleiermacher hat nicht nur die Begriffe esoterisch/exoterisch neu definiert, er hatte auch etwas zu sagen über die Bezeugung einer esoterischen Prinzipienlehre Platons bei Aristoteles, die Tiedemann und Tennemann ausgewertet hatten. Zu diesen Texten urteilte Schleiermacher, sie enthielten „keineswegs etwas in unseren Schriften (d. h. in den erhaltenen Dialogen) unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes“ (Schleiermacher: „Einleitung“, 13). Das führt uns auf die Frage der indirekten Überlieferung zu Platons Theorie der Prinzipien.

9 Wie G. Vlastos (oben Anm. 6), der hier stellvertretend für alle Vertreter der communis opinio genannt sei. 10 Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 176). Frankfurt a. M. 1986.

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Die relevanten Texte wurden unter dem Titel Testimonia Platonica gesammelt von Konrad Gaiser.11 Sehr brauchbar ist auch die Sammlung der Testimonien von Marie-Dominique Richard, die einige Texte mehr hat als Gaiser.12 Richard bietet außer dem griechischen Text auch eine präzise französische Übersetzung (Gaiser hat nur das Griechische). Richards Buch wurde 2008 ins Italienische übersetzt, einschließlich der Testimonien. Eine nicht vollständige, aber doch sehr instruktive Zusammenstellung von 50 Texten in englischer Übersetzung bot das Platonbuch von J. N. Findlay, während J. R. Arana in einer umfassenden Anthologie nicht nur die vollständigen Testimonien im engeren Sinn, sondern zusätzlich eine beträchtliche Anzahl weiterer, für das Platonverständnis relevanter Texte in spanischer Übersetzung vorlegte. Die antike Überlieferung zum mündlichen Platon liegt also seit Jahren in fünf Sprachen vor: Griechisch, Italienisch, Französisch, Englisch und Spanisch.13 Über diesen großen Komplex kann ich in diesem Rahmen noch nicht einmal einen Überblick geben. Aber ich kann ein Zeugnis herausgreifen. Die wichtigsten Texte stammen bekanntlich aus Aristoteles, und besonders instruktiv sind seine Ausführungen über Platon in seiner Übersicht über die älteren Prinzipientheorien bis auf seine Zeit im ersten Buch der Metaphysik: das Kapitel Met. A 6. Was hier über Platon gesagt ist, sei kurz referiert. Platons Philosophie schloß sich vielfach den Pythagoreern an, hatte aber auch viel Eigenes. Von Kratylos übernahm Platon die Grundüberzeugung des Heraklitismus vom ewigen Fluß der wahrnehmbaren Dinge, und behielt sie auch später bei. Von Sokrates, der nur Ethiker war, übernahm er das Interesse an Definitionen, doch müsse die Definition etwas anderes betreffen als das stets veränderliche Wahrnehmbare. Dieses andere nannte er die Idee. Die wahrnehmbaren Dinge existieren ‚neben‘ (para) den Ideen, d. h. die Ideen haben eine von den Sinnendingen unabhängige Existenz. Was die ‚Teilhabe‘ (methexis) der Sinnendinge an den Ideen bedeutet, blei11 Konrad Gaiser: Platons Ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 21968 [1963]; italienisch mit zusätzlichen Abhandlungen von Giovanni Reale, Milano 1998), Anhang S. 441–557: „Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons“. 12 Marie-Dominique Richard: L´enseignement orale de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme. Paris 1986 [édition revue et corrigée 2005]. 13 John N. Findlay: Plato. The Written and Unwritten Doctrines. London 1974, 413–454: „Appendix I: Translated Passages Illustrating Plato’s Unwritten Doctrines“. – J. R. Arana Marcos: Platón. Doctrinas no escritas. Antologia. Bilbao 1998.

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be unklar. Zwischen den Ideen und den Sinnendingen stehen nach Platon die Gegenstände der Mathematik: sie sind einerseits unzeitlich (wie die Ideen), andererseits sind sie jeweils viele (wie die Sinnendinge). – Die Ideen sind die Ursachen der anderen Dinge, folglich sind die Elemente (stoicheia) der Ideen die Elemente von allen Dingen. Prinzip (archē) im Sinne einer Materie ist ‚das Große und das Kleine‘ (to mega kai to mikron), im Sinne des Wesens (ousia) das Eine (to hen). Aus den Prinzipien werden zuerst die Ideen als Zahlen hergeleitet. Das Eine ist Substanz (ousia) und nicht zunächst etwas anderes und dann als Eines benannt, und das sei wie bei den Pythagoreern. Doch die Zweiheit (dyas) des Materieprinzips als mega kai mikron sei Platon eigentümlich, ebenso die ontologische Zwischenstellung der mathematika. Weiter spricht Aristoteles von der platonischen Erzeugung der Zahlen, und kritisiert diese. Zusammenfassend stellt er fest: Platon verwendete nur zwei Ursachenarten (aitiai), die des ‚Was es ist‘ und die der Materie. Das Eine ist Ursache für die Ideen, das Materieprinzip der dyas ist dieselbe für die Ideen und die Sinnendinge. Die beiden Prinzipien sind jeweils auch die Prinzipien von Gut und Schlecht. Zusammengefaßt behauptet Aristoteles hier über seinen Lehrer: (a) Philosophiehistorisch: Platon war Herakliteer von Anfang an und blieb es bis zum Schluß. Das Definieren hatte er von Sokrates, postulierte aber wegen seiner herakliteischen Grundhaltung eine neue Art von Definiendum, die er Idee nannte. In der Prinzipien- und Zahlenlehre schloß sich Platon den Pythagoreern an. In anderen Punkten berücksichtigte er auch Anaxagoras und Empedokles. (b) Sachlich: 1. Platon hatte eine Prinzipienlehre mit zwei Prinzipien: Formprinzip war für ihn to hen, Materieprinzip das mega kai mikron. 2. Sie sind die Ursachen von gut und schlecht. 3. Das Zusammenwirken der beiden Prinzipien bringt die Wirklichkeit hervor, zuerst die Zahlen. 4. Das Materieprinzip liegt auch den Ideen zugrunde. 5. Es gibt für Platon drei Arten von Wesenheiten: Ideen, Mathematika, Sinnendinge. Als Zusammenfassung der Zusammenfassung könnte man formulieren: Platon ist hier als Denker der archai, der Prinzipien, verstanden, der die Denktraditionen vieler Vorgänger, vor allem aber der Pythagoreer, aufnahm, wobei er im Rahmen einer dualistischen Prinzipienlehre eine Ontologie mit drei Substanzarten (Ideen, Mathematika, Sinnendinge) vertrat.

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Met. A 6 läßt sich unter zwei Fragestellungen betrachten, die in der Beantwortung eng mit einander verbunden sind: 1. Bietet die indirekte Überlieferung nichts über die Dialoge hinaus? 2. Kann es stimmen, was Aristoteles da erzählt? Schleiermacher also sagte, wie wir oben sahen, man könne da nichts „unerhörtes“, nichts von den Dialogen „gänzlich abweichendes“ finden. Es ist mir schlicht unerfindlich, wie Schleiermacher so etwas schreiben konnte. Hatte er Tennemann nicht gelesen, oder war ihm Met. A 6 unbekannt? Fast alles in Met. A 6 ist dem Dialogleser neu. Schleiermachers Unkenntnis der indirekten Überlieferung wurde in dieser krassen Form zum Glück nicht repräsentativ für die von ihm begründete Richtung. Aber die Tendenz, die agrapha dogmata loswerden zu wollen, blieb und ist bis heute spürbar. Groß ist die Scheu der philosophischen wie der philologischen Interpreten, sich mit diesem Zweig der Platonüberlieferung überhaupt näher zu befassen. Seit K. F. Hermann erklärte man, die in den agrapha dogmata bezeugten Ansichten seien Platons allerletzte Versuche gewesen, unfertig gebliebene und daher nicht veröffentlichte Spekulationen.14 Natürlich findet sich nichts davon bei Aristoteles. Bemerkenswert ist demgegenüber die Frühdatierung des platonischen Prinzipiendenkens hinauf bis in Platons viertes Lebensjahrzehnt durch H. Gomperz.15 Zwei Werke aus dem 20. Jahrhunderts zeigen exemplarisch zwei Arten, sich dem Problem zu nähern: Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres d’après Aristote, 1908 (1963), und Harold Cherniss, Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, vol. I, 1944. Cherniss wollte nachweisen, daß alle Behauptungen des Aristoteles über Platons Ansichten, die nicht direkt aus den Dialogen zu belegen sind, lediglich aus Mißverständnissen und Fehlinterpretationen des Aristoteles resultieren. Diese Vorstellung wies der große Aristoteliker David Ross schon

14 Karl Friedrich Hermann: Geschichte und System der platonischen Philosophie. Heidelberg 1839. Derselbe K. F. Hermann zeigte jedoch ein vertieftes Verständnis für die philosophische Bedeutung der Schriftkritik in seinem berühmten Aufsatz: Ueber Plato’s schriftstellerische Motive (1839). In: ders.: Gesammelte Abhandlungen. Göttingen 1849, 281–305 [Nachdruck bei Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim 1969, 33–57]. 15 Heinrich Gomperz: Platons philosophisches System. In: Proceedings of the Seventh International Congress of Philosophy. Hg. v. G. Ryle. London 1931, 426– 431 [Nachdruck in: Jürgen Wippern (Hg.): Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Darmstadt 1972, 159–165].

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wenige Jahre nach dem Erscheinen von Cherniss’ Buch zurück: „I do not think for a moment that he [Cherniss] has established his case that all that Aristotle says about Plato that cannot be verified from the dialogues is pure misunderstanding or misrepresentation“.16 Dennoch glaubte man Cherniss lange Zeit, vor allem bei den Angelsachsen, aber heute glaubt ihm auch dort niemand mehr. Stellvertretend zitiere ich Jonathan Barnes: Cherniss’ Position war „patently false“, und darüber hinaus auch „uninterestingly false“.17 Ganz anders das Buch von Léon Robin: ein Standardwerk von hohem wissenschaftlichen Rang. Robin interpretierte alle Stellen bei Aristoteles zur platonischen Ideen- und Zahlenlehre und konnte dabei zeigen, daß eine konsistente, philosophisch anspruchsvolle Konzeption vorliegt. (Dies gegen die weitverbreitete antiesoterische Propaganda, die agrapha dogmata seien dunkel, verworren, widersprüchlich, unverständlich, oder gar philosophisch irrelevant.) Daß die konsistente und philosophisch interessante Prinzipienlehre der agrapha dogmata nirgends im Widerspruch steht zu den Dialogen, ist aus den zitierten Werken von Robin, Ross und Findlay zu entnehmen. Daß die Dialoge eine Ontologie enthalten, die vielfach auf die Positionen der Prinzipienlehre verweist und nur von ihr her voll verstanden werden kann, zeigte Hans Joachim Krämer in seinem epochemachenden Buch Arete bei Platon und Aristoteles sowie in zahlreichen tief eindringenden Einzelstudien zu zentralen Stellen der Dialoge.18 Konrad Gaiser gab eine eigenständige, aber in den Grundzügen übereinstimmende Rekonstruktion der ungeschriebenen Philosophie Platons und zeigte hierbei, daß der mathematische Aspekt der Prinzipienlehre in weit stärkerem Maße in den Dialogen präsent ist als bisher angenommen.19 Daß speziell das reduzierte und absichtlich unvollständig gehaltene Bild der Prinzipien, das Platon in der Politeia den Sokrates vortragen läßt, sich bruchlos mit dem Bild, das Aristoteles in der Metaphysik entwirft, verbinden läßt, habe ich in einer Studie

16 William D. Ross,:Plato’s Theory of Ideas. Oxford 1951, 143. Reich an treffenden Bemerkungen ist auch die „Critical Note on the Views of Harold F. Cherniss“ in dem Platonbuch von Findlay (vgl. Findlay: Plato, 455–473). 17 Jonathan Barnes, in: The Classical Review 45 (1995), 178. 18 Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 6 (1959)). 19 Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre; ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Alexander Szlezák u. Karl-Heinz Stanzel. Sankt Augustin 2004.

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von 2002 nachgewiesen.20 In einer anderen Arbeit befaßte ich mich mit der von der Cherniss-Schule propagandistisch verbreiteten Auffassung, Aristoteles unterscheide nicht zwischen der Lehre Platons einerseits und den Ansichten seiner Schüler in der Akademie andererseits – es ließ sich anhand einer Analyse von Metaphysik M und N zeigen, daß diese Auffassung ein bloßes Gerücht ist, das auf Unkenntnis des Aristoteles-Textes beruht.21 – Was oben aus Met. A 6 referiert wurde, ergänzt die Dialoge, widerspricht ihnen aber nirgends. Daß Platon den Anschluß an die Philosophie der Pythagoreer suchte, wird durch die Dialoge Philebos und Timaios eindrucksvoll bestätigt. Selbst für die (unpythagoreische) Ansetzung eines ontologisch eigenen Seinsbereichs für die mathematika bietet sich in den Dialogen ein Anknüpfungspunkt: Politeia 526 a, 527 b.22

6. Prinzipiendenken bei Speusippos, Xenokrates, Aristoteles Nach der Schriftkritik und der indirekten Überlieferung ist nun, drittens, der Blick auf die metaphysischen Systeme der unmittelbaren Platon-Schüler zu richten. Deren bekanntester ist Aristoteles, und nur von ihm haben wir vollständige Schriften (von den anderen nur Fragmente und Testimonien). Wie wir sahen, verwendet Aristoteles, wenn er von Platons negativem Prinzip spricht, ohne weiteres seinen eigenen Begriff Hyle. Hyle heißt Materie, und Materie ist für den Nichtfachmann etwas Körperliches, Handfestes, Anfaßbares. Die aristotelische Hyle ist freilich nicht von dieser Art. Nicht einmal die prōtē hylē der Elemente, die prima materia der Naturphilosophie, ist etwas Körperliches, denn es gibt sie ja gar nicht als Naturphänomen, sie ist der Grenzbegriff, der angesetzt werden muß, um den Übergang der real existierenden Elemente in einander zu erklären. Und neben dieser ersten Materie der Physis gibt es noch andere Formen von Materie,

20 Thomas Alexander Szlezák: Die Idee des Guten als archē in Platons Politeia. In: Giovanni Reale/Samuel Scolnicov (Hg.): New Images of Plato. Sankt Augustin 2002, 49–68. (Der Beitrag wurde bisher in 6 Sprachen übersetzt.). 21 Thomas Alexander Szlezák: Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N. In: Andreas Graeser (Hg.): Mathematik und Metaphysik bei Aristoteles, Akten des X. Symposium Aristotelicum (1984). Bern 1987, 45–67. 22 Daß sich aus diesen Stellen, dazu etwa aus Phil. 56 e2, die von Aristoteles bezeugte ontologische Mittelstellung der Zahlen ergibt, sah schon James Adam: The Republic of Plato, Bd. II. Cambridge 1902, 159–161.

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so die hylē noētē, die intelligible Materie in zweifacher Bedeutung und die Ortsmaterie der Gestirne, die hylē pothen poi. Diese unterschiedlichen Formen der Materie sind aber nicht zusammenhanglos, wie Heinz Happ in seinem großen Hyle-Buch von 1971 gezeigt hat.23 Happ erkannte, daß dieses in allen Seinsbereichen wirksame Prinzip der Vielfalt, Veränderlichkeit und Potentialität, das selbst nicht Form hat, aber das Erscheinen von Form ermöglicht, nur als die aristotelische Entsprechung zur platonischen unbestimmten Zweiheit, der aoristos dyas, verstanden werden kann. Happ machte sich auch die Mühe, die Testimonien und Fragmente des Speusippos, Platons Neffen und Nachfolgers, sowie von dessen Nachfolger Xenokrates durchzuarbeiten, und konnte eine frappierende Ähnlichkeit der Systementwürfe aufweisen: diese Denker arbeiten mit einem Prinzipiendualismus, d. h. es gibt ein negatives Prinzip, das für Vielheit, Differenz, Wandelbarkeit steht und nicht vom positiven Prinzip der Einheit abgeleitet werden kann. Es gibt hierarchisch gestufte Seinsschichten, wobei die Zahlen eine besondere Bedeutung gewinnen, insbesondere bei Speusippos (jedoch nicht bei Aristoteles). Es gibt Unterschiede in der Terminologie (z. B. plēthos, Menge, für die aoristos dyas bei Speusippos) oder in der Erklärung von Gut und Schlecht (das hen ist bei Speusippos nicht ‘gut’), aber daß sich das Philosophieren auf ganz den gleichen Bahnen bewegt, ist unbestreitbar. Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen den Entwürfen von Aristoteles, Speusippos, Xenokrates läßt sich nicht auf je selbständige Konstruktion aus Platon Dialogen zurückführen, sondern weist auf gemeinsame Abkunft von Platons mündlicher Prinzpienphilosophie hin. Happs Ergebnis wurde eindrucksvoll bestätigt durch die völlig neue Aufarbeitung aller Testimonien durch Hans Krämer im neuen ‘Ueberweg’.24

7. Die uneinholbare Überlegenheit des Dialogführers: Der philosophische Sinn dieser Figurenkonzeption Kommen wir nunmehr, viertens, zur Form der Dialoge. Viel zitiert wurde Schleiermachers Credo „wenn irgendwo, so ist in ihr [sc. in Platons Philosophie] Form und Inhalt unzertrennlich“ (Schleiermacher: „Einleitung“,

23 Heinz Happ: Hyle. Studien zum Aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York 1971. 24 Hellmut Flashar (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet v. Friedrich Ueberweg. Die Philosophie der Antike, Bd 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos. Basel/Stuttgart 22004, darin 1–165: Hans Joachim Krämer: Die Ältere Akademie.

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14). Danach könnte man glauben, Schleiermacher habe viel zur besseren Erkenntnis der literarischen Form der Dialoge beigetragen. Das hat er nicht, denn unter der „ächt platonischen Form“ verstand er primär den Gebrauch jener „Künste“ oder Kunstmittel, durch die Platon „zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens“ zwingen wolle (ebd., 16). Im 20. Jahrhundert brachte das bedeutende Platonbuch von Paul Friedländer eine neue Aufmerksamkeit für die nichtargumentativen, nichtdogmatischen Elemente des platonischen Literaturdialogs, die auch zur typisch platonischen Form zu zählen sind. Aber sehr weit ging auch das nicht. Überdies führte Friedländers subtiles, ‚feinsinniges‘ Hinhören auf Nuancen im Gesprächston dazu, daß Interpreten, die ihn an Subtilität und ‚Feinsinnigkeit‘ noch übertreffen wollten, überall neue, philosophisch vermeintlich relevante Nuancen entdecken wollten, für die es keinerlei Grundlage im Text gibt.25 In dem Bestreben, Platon möglichst von angreifbaren ‚dogmatischen‘ Aussagen metaphysischen Inhalts zu befreien, entwickelte sich die Tendenz, Platons ‚Anonymität‘ zu betonen durch Herausarbeiten von Charakterzügen und bestimmten Aussagen der Gesprächspartner, die – nach dem Urteil des jeweiligen Interpreten – ‚unplatonisch‘ sind.26 Das entscheidende Gegenargument gegen die Auffassung, daß keine Figur in den Dialogen jemals als ‚mouthpiece‘ für Platon betrachtet werden könne, gab Lloyd Gerson: „The antimouthpiece theory gives us a Plato absconditus, a Plato hidden from view behind the dialogues. The theory is based on no evidence that is not question-begging about Plato’s intentions“.27 Mindestens ebenso sehr wie die von Gerson monierte petitio principii spricht gegen diese Richtung, daß ihre Vertreter ihre höchst idio-

25 Ein schönes Beispiel dafür bietet die Deutung der Figur des ‚Gastes aus Elea‘ im Sophistes und Politikos, der in der amerikanischen Sekundärliteratur – ausgehend von einer kryptischen Bemerkung von Paul Friedländer: Platon, Bd. I. Berlin 31964, 162 und ders.: Platon, Bd. III. Berlin 31975, 225) – zunehmend als negative Gestalt verstanden wurde (Stanley Rosen: Plato’s Sophist. The Drama of Original and Image. New Haven/London 1983; Francisco J. Gonzalez: The Eleatic Stranger. His Master’s Voice?. In: Gerald A. Press (ed.): Who Speaks for Plato? Studies in Platonic Anonymity. Lanham et al. 2000, 161–181). – Zur Widerlegung dieses verfehlten Ansatzes s. Thomas Alexander Szlezák: Die Aufgabe des Gastes aus Elea. In: Aleš Havliček/Filíp Karfik (eds.), Plato’s Sophist. Praha 2011, 11–34, bes. 14–21. 26 Der Sammelband von Gerald A. Press (ed.): Who Speaks for Plato? gibt anschauliche Belege für diese Tendenz. 27 Lloyd P. Gerson: Plato absconditus. In: Gerald A. Press (ed.): Who Speaks for Plato? Studies in Platonic Anonymity. Lanham et al. 2000, 201–210, Zitat 210.

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synkratischen Ergebnisse durch eine habituelle Nichtbeachtung der dramatischen Konzeption der Dialoge gewinnen. Die Dialoge sind Dramen. Das wurde schon tausendmal gesagt. Aber mit dieser Feststellung beginnt die Beschreibung der Form des Dialogs erst. Ein Drama gewinnt Gestalt vor allem durch zwei Dinge: durch die Handlung und die Figurenkonzeption. Diese Elemente versuchte ich möglichst genau und systematisch zu erfassen in Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, wovon der erste Teil 1985 erschien und die frühen und mittleren Dialoge behandelte, der zweite (2004) die späten. Es ging mir darum, das Bild, das Platon vom Philosophie treibenden Dialektiker zeichnet, ohne Verkürzungen und ebenso ohne eigene Zutaten nachzuzeichnen. Die Handlung der Dialoge kann sehr verschieden sein und ist für jeden Dialog getrennt zu etablieren. Die Figurenkonzeption hat bei den Gesprächspartnern ebenfalls eine große Variationsbreite (es gibt junge und alte Gesprächpartner, intelligente und weniger intelligente, wohlwollende und böswillige Charaktere usw.). Was aber immer gleich bleibt, ist die Konzeption des Gesprächsführers, des Dialektikers. Der kann sich zwar auch unterschiedlich gerieren: er kann als ‚Sokrates‘ im Theaitetos sagen, daß er nichts weiß, ja zu nichts auch nur eine Meinung äußere, oder er kann als der ‚Athener‘ in den Gesetzen auf seiner Erfahrung in der Dialektik insistieren, er kann wieder als ‚Sokrates‘ im Philebos von vornherein aussprechen, wohin die Reise geht und am Schluß verkünden, daß er sein Programm lückenlos durchgezogen hat, oder als Parmenides im gleichnamigen Dialog es bis zum Schluß im Dunkeln lassen, was das Ganze bezweckt. Solche Unterschiede gibt es in der Konzeption der Gesprächsführer durchaus. Aber eines bleibt gleich vom Hippias minor bis zu den Gesetzen, und gilt für alle Dialektikergestalten, wie sie auch heißen, ob Sokrates oder Parmenides, ob Diotima oder Gast aus Elea oder ‚der Athener‘: der Gesprächsführer ist dem Gesprächspartner immer philosophisch weit überlegen. Er ist nicht una lectione doctior, wie es vom schlechten Lehrer hieß, der seiner Klasse um eine Lektion voraus ist – der platonische Dialektiker ist seinem Partner immer meilenweit voraus. Es gibt bei Platon keine Gespräche unter philosophisch gleichrangigen Partnern. Die scheinbaren Ausnahmen sind Timaios und Parmenides. Doch der Dialog zwischen dem Lokrer Timaios und Sokrates beschränkt sich auf den einleitenden Teil, der Hauptteil ist ein Monolog des Lokrers. Im Parmenides sind zwar zwei überragende Philosophen im direkten Gespräch gezeigt, doch Sokrates ist hier als ganz junger, noch sehr unerfahrener Partner gezeichnet, so daß eine philosophische Parität zwischen ihm und dem alten Meister Parmenides nirgends gegeben ist. „Gespräche unter Ungleichen“ sind also die platoni-

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schen Dialoge.28 Der platonische Dialektiker kann auf Einwände immer antworten und kann den Partner stets zu der von ihm gewünschten Homologie führen. Und das ist auch kein Wunder, wenn wir es recht betrachten. Denn der geschriebene logos ist ein Abbild, ein eidōlon, der lebendigen und beseelten Rede des Wissenden (Phdr. 276 a). Das ist auf Platons eigene Dialoge zu beziehen.29 Sie bilden den Dialektiker in Aktion ab. Und der Dialektiker kann, dem im Phaidros gezeichneten Programm zufolge, folgende Dinge: Er kann bei einem Angriff seinem logos argumentativ zu Hilfe kommen. Bei dieser Hilfe wird er bedeutendere Konzeptionen, Hypothesen und Theorien vortragen, also timiōtera, als bei seinem ersten logos. So wird er selbst seinen ersten logos als geringfügig erscheinen lassen. Und er kann schweigen, wenn der intellektuelle und/oder moralische Zustand des Partners ein Weiterschreiten auf dem Weg in Richtung auf die Prinzipien als nicht ratsam erscheinen läßt. Daß diese Begriffe bzw. Vorgänge aus dem Phaidros, also das ‚Helfen‘ mittels ‚Wertvollerem‘ (das boēthein mittels timiētera) und das Schweigen zu denen man schweigen soll (das sigan pros hous dei) in den Dialogen vielfach abgebildet, illustriert sind, habe ich in meinem Buch von 1985 gezeigt. Dazu zwei Beispiele in aller Kürze. Die ersten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon haben Simmias und Kebes nicht endgültig überzeugt, sie machen noch Einwände. Es erhebt sich die bange Frage: kann Sokrates seinem logos für die Unsterblichkeit der Seele helfen? Das ist keine von außen an den Text herangetragene Fragestellung, vielmehr erscheint der Terminus boēthein tōi logōi im griechischen Text: 88 e. Und natürlich kann er seinem logos helfen (auch das ist im Text: 102 a). Aber wie macht er das? Nicht durch Verteidigung der ersten Unsterblichkeitsbeweise, sondern indem er seinen deuteros plous, seine zweitbeste Fahrt erzählt, seine Flucht in die logoi (d. h. ins begriffliche Argumentieren) und seine Argumentation von der Ideenlehre her. Daß diese Partien Wertvolleres, Bedeutenderes, also timiōtera enthalten als die ersten Beweise, wird niemand bestreiten wollen. Sokrates hat sich also als philosophos im Sinne der Schriftkritik erwiesen, indem er sei-

28 Thomas Alexander Szlezák: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und zur Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Antike und Abendland 34 (1988), 99– 116 [mit einer Ergänzung nachgedruckt in: Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, 40–61]. 29 Vgl. Szlezák: Abbild der lebendigen Rede (2009).

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nem logos nach einem Angriff mittels Wertvollerem erfolgreich zu Hilfe kam und so seinen eigenen ersten logos als gering erwies. In der Politeia bringen nach dem Sieg des Sokrates im Disput mit Thrasymachos in Buch I die Brüder Platons Glaukon und Adeimantos neue Argumente gegen die Gerechtigkeit vor (Buch II, Anfang). Sokrates muß nun der Gerechtigkeit ‚helfen‘. Der Terminus boēthein erscheint wieder im Text: 368 bc. Und wie hilft er der Gerechtigkeit? Indem er einen idealen Staat entwirft, was dazu führt, daß die dreiteilige Struktur der Seele geklärt wird und so die Gerechtigkeit definierbar wird. Das sind wahrhaft timiōtera im Vergleich mit dem ersten Disput über die Gerechtigkeit. Und ein analoges Vorgehen als ‚Helfen‘ durch ‚Wertvolleres‘ verlangt die Schriftkritik vom Philosophen im Verhältnis zu seinem Schriftwerk. Damit wir verstehen, was ‚dem Logos zu Hilfe kommen‘ und was ‚Wertvolleres‘ heißt, illustriert Platon das Helfen im Phaidon, in der Politeia und in anderen Dialogen.30 Die Ausbildung der Philosophenherrscher im Idealstaat wird weit ausgreifende Studien in Mathematik und Dialektik verlangen, die am Schluß zur vollen Erkenntnis der Idee des Guten führen werden. Diese Studien würden, wenn verschriftlicht, weit in Platons mündliche Prinzipienlehre hineinführen. In welcher Form sind sie in der veröffentlichten Schrift Politeia präsent? Nur als Fragen, nicht als Antworten. Sokrates macht aber zugleich klar, daß er eigene Antworten hat, daß aber deren Mitteilung hier und jetzt nicht sinnvoll ist. So in Politeia 506 de: Glaukon bittet Sokrates, seine Ansicht über das Wesen der Idee des Guten mitzuteilen. Sokrates lehnt das ab mit den Worten: „Aber, ihr Glücklichen, was das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt beiseite lassen – denn es scheint mir mehr als daß wir mit unserem gegenwärtigen Anlauf jetzt auch nur zu dem, was meine Meinung dazu ist, gelangen könnten“.31 So auch in Politeia 532 d–533 a: wieder ist es Glaukon, der Sokrates bittet, diesmal um eine detaillierte Skizze der Dialektik nach ihrer allgemei-

30 Nachweise in PSP I und II. 31 Politeia 506 d8–e3: all’, ō makarioi, auto men ti pot’ esti tagathon easōmen to nyn einai – pleon gar moi phainetai ē kata tēn parousan hormēn ephikesthai tou ge dokountos emoi ta nyn. Sokrates hat also eine eigene Ansicht über das Wesen des Guten, ein dokoun emoi. Bis zu dieser Ansicht zu gelangen, ginge jedoch über das hinaus, was mit dem ‚gegenwärtigen Anlauf‘, d. h. hier im Gespräch mit Glaukon und Adeimantos, erreicht werden kann. ta nyn e3 wird oft fälschlich zu tou dokountos gezogen; richtig J. Adam (oben Anm. 22) zur Stelle: „ta nyn should be taken with ephikestai“.

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nen Art (tropos), nach ihren Formen oder Teilen (eidē), und nach ihren Methoden (hodoi). Wieder lehnt Sokrates ab, wird aber diesmal deutlicher hinsichtlich seines Motivs für die Ablehnung: „Du wirst nicht mehr folgen können, lieber Glaukon – denn von meiner Seite würde es an Bereitwilligkeit nicht fehlen“.32 Was tut Sokrates an diesen beiden Stellen? Siga pros hous dei, er schweigt gegenüber denen, gegenüber denen man schweigen soll. Dies obwohl er in beiden Fällen eine eigene Ansicht, ein dokoun emoi, besitzt, und es ihm an prinzipieller Bereitwilligkeit nicht fehlen würde.33 Und was tut Platon der Schriftsteller an den genannten Stellen? Er illustriert in der Politiea das boēthein tōi logōi und das sigan pros hous dei durch den Dialektiker, damit wir verstehen, wie er selbst sich gegenüber seinem Schriftwerk zu verhalten gedenkt: obwohl er sich in der Lage fühlt, ihm durch eine höher ausgreifende Prinzipienlehre ‚zu Hilfe zu kommen‘, wird er das schriftlich nicht tun, und mündlich nur vor Hörern, die die nötige Vorbildung haben.

8. Vom fälligen Ende einer verfehlten Platonhermeneutik Von „hermeneutischen Grundproblemen der Platondeutung“ wollte dieser Beitrag handeln. Wir haben gesehen, daß die antiesoterische Platondeutung, die, von Schleiermacher und der deutschen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts herkommend, heute noch in einigen Ländern hochgehalten wird – während sie in zahlreichen anderen Ländern bereits als obsolet erkannt ist – in vier wichtigen Bereichen der Platonforschung gezwungen ist, gegen elementare Regeln wissenschaftlicher Hermeneutik zu verstoßen. Es ist hermeneutisch unzulässig, für einen antiken Begriff wie syngramma eine nirgends belegte moderne Sonderbedeutung zu erfinden, nur um

32 Politeia 533 a1–2: Ouket’ ēn d’egō, ō phile Glaukōn, hoios t’esēi akolouthein – epei to g’emon ouden an prothymias apolipoi. Anschließend macht Sokrates klar, daß er auch zur Dialektik eine eigene Ansicht hat: ho ge dē moi phainetai, 533 a3–4. 33 Die Adressaten sind keineswegs Feinde der Philosophie, und auch keineswegs prinzipiell unwürdig, weiter in das Denken des Sokrates eingeführt zu werden. Doch sie haben nicht die nötige Vorbildung, sie könnten nicht folgen, wie 533 a1 wörtlich gesagt ist. Das zwingt Sokrates zum Verstummen über die Themen, die nach dem ganzen Gang des Dialogs als die eigentlichen Kernthemen der Politeia bezeichnet werden müssen: das Wesen des Guten und die Struktur der Dialektik.

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die von vornherein abwegige These durchzufechten, Platon habe seine eigenen Dialoge von seiner Kritik allen Schriftgebrauchs ausnehmen wollen. Es ist hermeneutisch unzulässig, die Bedeutung von timiōtera als ‚philosophisch gewichtigere Inhalte‘, die Platon innerhalb des Dialogs durch die Parallele pleionos axia (Phdr. 234 e–236 b – synonym mit timiōtera) eindeutig geklärt hat, textwidrig auf die Tätigkeit des Dialogführens festlegen zu wollen (und dazu noch eine sprachwidrige Konstruktion von 278 d8–9 in Kauf zu nehmen). Es ist hermeneutisch unzulässig, die von Platon als Inbegriff der Unfruchtbarkeit eingeführten ‚Adonisgärten‘ so zu deuten, als wären sie Instrumente ertragreichen Landbaus. Es zeugt von hermeneutischer Blindheit, wenn man nicht sieht oder nicht sehen will, daß Kernbegriffe des Phaidros wie ‚Wertvolleres‘ (timiōtera), ‚dem logos zu Hilfe kommen‘ (boēthein tōi logōi), ‚schweigen, wo man schweigen soll‘ (siganpros hous dei) in anderen Dialogen illustriert werden in einer Weise, die die antiesoterische Interpretation definitiv ausschließt. Es zeugt von hermeneutischer Voreingenommenheit, wenn man Aristoteles, einem philosophiehistorisch einzigartigen Zeugen, die Glaubwürdigkeit abspricht, nur um die eigene antiesoterische Position nicht aufgeben zu müssen. Es zeugt von philosophiehistorischer Blindheit, wenn man nicht sehen will, daß die Philosophien der unmittelbaren Platon-Schüler auf seine mündliche Prinzipienphilosophie zurückweisen. Und es zeugt von einem bedauerlichen Mangel an literarischem Urteil, wenn nicht anerkannt wird, daß der platonische Dialektiker als Dramenfigur stets so angelegt ist, daß man ihm die Fähigkeit, dem vorliegenden schriftlichen Dialog mit timiōtera aus der mündlichen Prinzipienphilosophie zu Hilfe zu kommen, bedingungslos zutraut. Die unübersehbare Überlegenheit des Dialektikers, sein riesiger Vorsprung gegenüber dem gerade verfolgten Teilaspekt einer Frage will nichts anderes besagen als: „dieser Dialektiker könnte mehr bieten als er faktisch bietet“, oder anders gewendet: „dieser schriftlich fixierte Dialog ruht auf einem tragfähigen Fundament mündlicher Dialektik auf“, oder noch einmal anders: durch die prinzipiell überlegene Dialektikerfigur weist der platonische Dialog programmatisch über sich hinaus auf den mündlich philosophierenden Dialektiker Platon.

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Literaturverzeichnis Szlezák, Thomas Alexander: Rez. von: R. Ferber, Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben? (Sankt Augustin 1991). In: Gnomon 68 (1996), 404–411 [wiederabgedruckt mit kleinen Zusätzen in: Thomas Alexander Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern. Sankt Augustin 2003, 133– 146]. Szlezák, Thomas Alexander: Das Höhlengleichnis. in: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), 205–228. Szlezák, Thomas Alexander: Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann. In: Antike und Abendland 43 (1997), 46–62. Szlezák, Thomas Alexander: Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios. In: Interpreting the Timaeus-Critias, Proceedings of the IV Symposium Platonicum. Hg. v. Tomás Calvo u. Luc Brisson. Sankt Augustin 1997, 195–203 [wiederabgedruckt in: Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil II: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/New York 2004]. Szlezák, Thomas Alexander: Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert. Hg. von Fritz Graf. Leipzig 1998, 420–439. Szlezák, Thomas Alexander: Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8–4. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 259–267 [frz. Üb. in: Revue de philosophie ancienne 17/2 (1999), 3–62]. Szlezák, Thomas Alexander: Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“. In: Hegel e Platone. Atti del Convegno di Cagliari (20.–23. Aprile 1998). Hg. v. Giancarlo Movia. Cagliari 2002, 39– 76 und 77–115. Szlezák, Thomas Alexander: Die Idee des Guten als archē in Platons Politeia. In: Giovanni Reale/Samuel Scolnicov (Hg.): New Images of Plato. Sankt Augustin 2002, 49–68. Szlezák, Thomas Alexander: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern. Sankt Augustin 2003. Szlezák, Thomas Alexander: Sechs Philosophen über philosophische Esoterik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003), 74–93. Szlezák, Thomas Alexander: Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts. In: J. Rohls, G. Wenz (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur (Münchener Theologische Forschungen, Bd. 2). Göttingen 2004, 125–144. Szlezák, Thomas Alexander: Platons Gründe für philosophische Zurückhaltung in der Schrift. In: Francesca Alesse u. a. (Hg.): Anthropine sophia. Studi in memoria di Gabriele Giannantoni. Napoli 2008, 227–236.

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Literaturverzeichnis Szlezák, Thomas Alexander: „‚Was in vierzig Jahren Bedeutung hat...‘. Rückblick auf eine frühe Arbeit von Klaus Oehler“. In: Pragmata. Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag. Tübingen 2008, 95–107. Szlezák, Thomas Alexander: Le témoignage d’Aristote. In: Platon et les Pythagoriciens. Sous la direction de Jean-Luc Périllié. Bruxelles 2008 (Cahiers de philosophie ancienne No. 20), 93–115. Szlezák, Thomas Alexander: Abbild der lebendigen Rede. Was ist und was will ein platonischer Dialog?. In: Museum Helveticum 66 (2009), 65–83. Szlezák, Thomas Alexander: Von Brucker über Tennemann zu Schleiermacher. Eine folgenreiche Umwälzung in der Geschichte der neuzeitlichen Platondeutung“. In: A. Neschke (Hg.): Argumenta in dialogos Platonis I (2009), 389–411. Szlezák, Thomas Alexander: Platon in Syrakus: Politik, Philosophie, Eros. In: Perspektiven der Philosophie 36 (2010), 205–210. Szlezák, Thomas Alexander: Die Aufgabe des Gastes aus Elea. In: Aleš Havliček/ Filíp Karfik (eds.), Plato’s Sophist. Praha 2011, 11–34. Taplin, Oliver: Die Welt des Spiels und die Welt des Zuschauers in der Tragödie und Komödie des 5. Jahrhunderts, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 12 (1986), 57–71. Tarán, Leonardo: Speusippus of Athens. A Critical Study with a Collection of the Related Texts and Commentary. Leiden 1981. Tarrant, Harold: Middle Platonism and the Seventh Epistle. In: Phronesis 28 (1983),75–103. Taylor, Alfred Edward: A Commentary on Plato’s Timaeus. Oxford 1928 [1972]. Tennemann, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Philosophie, Band II. Leipzig 1799. Tennemann, Wilhelm Gottlieb: System der Platonischen Philosophie, Band I. Leipzig 1792. Theiler, Willy: Die Entstehung der Metaphysik des Aristoteles. Mit einem Anhang über Theophrasts Metaphysik. In: Museum Helveticum 15 (1958), 85–105 [auch in: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hg. v. Fritz-Peter Hager. Darmstadt 1969 (= Wege der Forschung, Bd. 206), 266–298]. Theiler, Willy: Philo von Alexandria und der Beginn des kaiserzeitlichen Platonismus, in: Parusia, Festgabe für J. Hirschberger, 1965. Theophrastus: Metaphysics. Ed. William David Ross and Franciscus Howard Fobes. With translation, commentary and introduction. Oxford 1929. Thomas von Aquin: In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Ed. Cathala-Spiazzi. Rom/Turin 1964. Thurnher, Rainer: Der siebte Platonbrief. Versuch einer umfassenden philosophischen Interpretation. Meisenheim am Glan 1975. Tiedemann, Dieterich: Geist der spekulativen Philosophie, Bd. II. Marburg 1791. Tigay, Jeffrey H.: The Evolution of the Gilgamesh Epic. Philadelphia 1982. Tigerstedt, Eugène Napoléon: The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. Helsinki 1974.

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Literaturverzeichnis Trabattoni, Franco: Scrivere nell’anima. Verità, dialettica e persuasione in Platone. Firenze 1994. Tragicorum Graecorum Fragmenta, Bd. 3: Aeschylus. Hg. v. Stefan Radt, Göttingen 1985; Bd. 4: Sophocles. Hg. v. Stefan Radt, Göttingen 1977. Ueberweg, Friedrich: Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften. Wien 1861. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Berlin 41969 [1919], 2 Bde. Usener, Knut: Beobachtungen zum Verhältnis der Odyssee zur Ilias. Tübingen 1990. Vernant, Jean Pierre/Vidal–Naquet, Pierre: Mythe et tragédie en Grèce ancienne. Paris 1977. Vischer, Wilhelm: Zu Sophokles Antigone. In: Rheinisches Museum 20 (1865), 444–454. Vlastos, Gregory: Platonic Studies. Princeton, New Jersey 1973, 21981. Vlastos, Gregory: Rez. von: H. J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg 1959). In: Gnomon 35 (1963), 641–655. Vogel, Cornelia J. de: La dernière phase du Platonisme et l’interprétation de M. Robin (1948). In: dies.: Philosophia I. Assen 1970, 243–255. Vogel, Cornelia J. de: Rethinking Plato and Platonism. Leiden 1988. Vögler, Armin: Interpretationen zur Datierung und zum Zeitverhältnis der beiden Elektren. Heidelberg 1967. Waldock, Arthur John Alfred: Sophocles the Dramatist. Cambridge 1951. Wallace, Nathaniel O.: Oedipus at Colonus. The Hero in His Collective Context. In: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 32 (1979), 39–52. Weil, Henri: Sept Tragédies d’Euripide. Paris 1868. West, Martin L.: The East Face of Helicon. West Asiatic elements in Greek poetry and myth. Oxford 1997. White, Nicholas P.: Plato on Knowledge and Reality. Indianapolis 1976. Whitman, Cedric H.: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge, Mass. 1951. Wieland, Wolfgang: Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1 (1976), 19–33. Wieland, Wolfgang: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982. Wilamowitz-Moellendorff, Tycho von: Die dramatische Technik des Sophokles. Berlin 1917. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen, Bd. II. Berlin 1893. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Excurse zum Oedipus des Sophokles. In: Hermes 34 (1899), 55–80. Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von: Platon, Bd. II Berlin 31962 [1919]. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Der Glaube der Hellenen. Berlin 1931. Wilpert, Paul: Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff. In: Philosophisches Jahrbuch 53 (1940), 3–16.

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Literaturverzeichnis Wilpert, Paul: Neue Fragmente aus Περὶ τάγαϑοῦ, in: Hermes 76, 1941, 225–250. Wilpert, Paul: Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre. Regensburg 1949. Winnington-Ingram, Reginald Pepys: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980. Winnington-Ingram, Reginald Pepys: The Electra of Sophocles. Prolegomena to an Interpretation. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 183 (1954/55), 20–26. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. v. Georg Henrik von Wright. Frankfurt a. M. 1977. Wippern, Jürgen (Hrsg.): Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beiträge zum Verständnis der platonischen Prinzipienphilosophie, 1972. Zanker, Graham: Beyond Reciprocity. The Akhilleus-Priam Scene in Iliad 24. In: Christopher Gill/Norman Postlethwaite/Richard Seaford (Hg.): Reciprocity in Ancient Greece. Oxford 1998, 73–92. Zeitlin, Froma I.: Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama. In: Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context. Hg. v. John J. Winkler/Froma I. Zeitlin. Princeton 1990, 130–167. Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Theil, erste Abtheilung: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die Alte Akademie. Leipzig 51922. Zuntz, Günther: The Political Plays of Euripides. Manchester 21963 [1955].

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Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák

Die in diesen Band aufgenommenen Arbeiten sind durch * gekennzeichnet. Stand Mai 2019

I Bücher (1) (2) (3) (4) (5)

(6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)

Pseudo-Archytas über die Kategorien. Texte zur griechischen Aristoteles-Exegese, hrsg., übersetzt und kommentiert von Th. A. Szlezák, Berlin / New York 1972. Platon und Aristoteles in der Nus-Lehre Plotins, Basel / Stuttgart 1979 [it.: Platone e Aristotele nella dottrina del Nous di Plotino, Mailand 1997; port.: Platão e Aristóteles na doutrina do nous de Plotino, São Paulo 2010]. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin / New York 1985 [it.: Platone e la scrittura della filosofia, Mailand 1988, 31992; port.: Platão e a escritura da filosofia, São Paulo 2009]. Oralità e scrittura della filosofia. Il nuovo paradigma nell’interpretazione di Platone, Neapel 1991 [ND in: G. Reale (Hrsg.), Autori Vari. Verso una nuova immagine di Platone, Mailand 1994, 93-126]. Platon lesen, Stuttgart 1993 [it.: Come leggere Platone, Mailand 1991, Bologna 2004; frz.: Le plaisir de lire Platon, Paris 1996; span.: Leer a Platón, Madrid 1997; poln.: Czytanie Platona, Warschau 1997; engl.: Reading Plato, London 1999; schwed.: Platon och läsaren, Stockholm 1999; ung.: Hogyan olvassunk Platónt?, Budapest 2000; kroat. mit Aufsätzen Nr. 35 und 37: Citati Platona, Zagreb 2000; korean.: Platon ilgi, Seoul 2001; jap.: Puraton wo yomu, Tokyo 2002; bulg.: Da tschetem Platon, Sofia 2002; gr.: Πως να διαβαζουμε τον Πλατωνα, Thessaloniki 2004; port.: Ler Platão, São Paulo 2005; russ.: Как щитат Платона, St. Petersburg 2008; chin.: Du Bolatu, Peking 2008; rum.: Cum sa-l citim pe Platon, ClujNapoca 2008]. Platone politico, Le radici del pensiero filosofico, Vol. VIII, Rom 1993. Aristoteles, Metaphysik. Übersetzt und eingeleitet von Th. A. Szlezák, Berlin 2003. Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern, Lecturae Platonis 3, Sankt Augustin 2003 [mit ND der Aufsätze Nr. 37, 55; it.: La Repubblica di Platone. I libri centrali, Brescia 2003]. Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Teil II, Berlin / New York 2004 [port.: A imagem do dialéctico nos diálogos tardios de Platão, São Paulo 2011]. O nowej interpretacji platońskich dialogów, Kety 2005 [poln. Übersetzung der Aufsätze Nr. 1, 15, 17, 18, 21, 24, 32, 35, 44, 52, 55]. Noul Platon. Cercetări despre doctrina esoterică, 2 Bd., Cluj Napoca 2007/2008 [rum. Übersetzung der Aufsätze Nr. 3, 4, 18, 25, 33, 35, 49, 55, 62, 64, 65 (= Vol. I) sowie Nr. 15, 17, 21, 32, 37, 43, 44, 47, 59 (= Vol. II)]. Was Europa den Griechen verdankt. Von den Grundlagen unserer Kultur in der griechischen Antike, Tübingen 2010 [serbisch: Sta Evropa duguje Grcima, Beograd 2012; griechisch: Τι οφειλει η Ευρωπη στους Ελληνες, Athen 2012; tschechisch: Za co vdeci Evropa Rekum. O základech nasi kultury v recké antice, Prag 2014; spanisch: Lo que Europa debe a los Griegos, Madrid 2019].

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Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák (13) (14) (15)

Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung, München 2012 [ungarisch: Homérosz. A nyugati irodalom születése, Budapest 2016]. Aufsätze zur griechischen Literatur und Philosophie, Baden-Baden 2019. Platon. Sein Leben, sein Werk, sein Denken. (Ca. 500 Seiten. Erscheint voraussichtlich 2020)

II Herausgebertätigkeit, Einleitungen, Vorworte u.a. (1) (2)

(3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21)

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Wehrli, Fritz: Theoria und Humanitas. Gesammelte Schriften zur antiken Gedankenwelt, hrsg. von H. Haffter und Th. A. Szlezák, Zürich 1972. Platon, Die großen Dialoge. Übersetzung von R. Rufener. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Th.A. Szlezák, München 1991 [Teilnachdruck in: Platon, Symposion, Düsseldorf / Zürich 2002, Platon, Apologie Kriton Phaidon, Düsseldorf / Zürich 2004 und Platon, Protagoras, Düsseldorf / Zürich 2005]. Platon, Der Staat. Übersetzung von R. Rufener. Mit einer Einführung von Th.A. Szlezák und Erläuterungen von O. Gigon, München 1991. Vorwort zu: M. Migliori, L’uomo fra piacere, intelligenza e Bene. Commentario storicofilosofico al Filebo di Platone, Mailand 1993, 9-13. Vorwort zu: E. Cattanei, Enti matematici e metafisica, Mailand 1996, XIII-XIV. La nuova interpretazione di Platone. Un dialogo di Hans-Georg Gadamer con la Scuola di Tubinga e Milano e altri studiosi, hrsg. von G. Girgenti, Mailand 1998. Platon, Der Staat. Politeia. Griech.-dt. Übersetzt von R. Rufener, Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von Th.A. Szlezák, Düsseldorf / Zürich 2000 [ND in: Platon. Der Staat, Düsseldorf / Zürich 2003]. Vorwort zu: P. Moraux, L´Aristotelismo presso i Greci, Vol. I: La rinascita dell´Aristotelismo nel I secolo a.C., Mailand 2000, XV-XXIV. Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, hrsg. von Th. A. Szlezák unter Mitwirkung von K.-H. Stanzel, Spudasmata, Bd. 82, Hildesheim 2001. Platon, Symposion und Phaidros, Übersetzung von R. Rufener. Mit einer Einführung von Th.A. Szlezák, Düsseldorf / Zürich 2001. Konrad Gaiser, Gesammelte Schriften, hrsg. von Th. A. Szlezák unter Mitwirkung von K.H Stanzel, International Plato Studies 19, Sankt Augustin 2004. Wolfgang Schadewaldt und die Gräzistik des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Th.A. Szlezák unter Mitwirkung von K.-H. Stanzel, Spudasmata, Bd. 100, Hildesheim 2004. Vorwort zu: F. Mié, Dialéctica, Predicación y metafísica en Platón. Investigaciones sobre el Sofista y los diálogos tardíos, Córdoba 2004, 9-10. Vorwort zu: S. Lavecchia, Una via che conduce al divino. La «homoiosis theo» nella filosofia di Platone, Mailand 2006, V-X. International Plato Studies 1-25, hrsg. von L. Brisson, Chr.J. Rowe, Th.A. Szlezák u.a., Sankt Augustin 1992-2007. Vorwort zu: Plotin et le Néoplatonisme, Chora. Revue d´ études anciennes et médievales. Philosophie, théologie, sciences 5, 2007, 9-12. Burkert, Walter: Kleine Schriften VIII. Philosophica, hrsg. von Th. A. Szlezák und K.-H. Stanzel, Göttingen 2008; Vorwort von Th. A. Szlezák: pp. VII-IX. Vorwort zu: Jean-Luc Périllié, Mystères socratiques et Traditions orales de l´ eudémonisme dans les Dialogues de Platon, Sankt Augustin 2014, 11-13. Vorwort zu: Claudia Luchetti, Tempo ed Eternità in Platone. Il primo passo verso il Timeo: Analisi dei nessi Essere-Eterno, Diveniente-Tempo nel Fedone ed esposizione della loro orgine dialettica, Sesto San Giovanni 2014, 9-12. Nachruf Heinz Happ, in: Gnomon 87, 2015, 89-94 (Koautorin: Beate Noack). Hans Krämer (1929 – 2015), in: Platonic Investigations (Moscow – Sankt Peterburg) II, 2015, 7-11, russisch 12-17.

Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák (22) (23) (24)

Nachruf Hans Joachim Krämer, in: Gnomon 88, 2016, 376-381. Zu Konrad Gaisers Aufsatz über Platons Vorlesung ´Über das Gute´, in: Platonic Investigations [Plato Philosophical Society, Moscow – Saint Petersburg], vol V (2016/2), 46-50 (russ.; ib. 51-55) [Vorwort zur russischen Übersetzung von Gaisers Aufsatz von 1980]. Biographical Memoirs on Walter Burkert, in: Proceedings of the American Philosophical Society, vol. 162, 2018, 116-119.

III Aufsätze (1) (2) (3)*

(4) (5) (6)* (7) (8) (9)* (10) (11)* (12) (13)* (14)*

(15) (16)

(17)

Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, Phronesis 21, 1976, 31-58 [poln. in Monographie Nr. 10, 101-126]. Plotin und die geheimen Lehren des Ammonios, in: H. Holzhey / W.Ch. Zimmerli (Hrsgg.), Esoterik und Exoterik der Philosophie, Basel / Stuttgart 1977, 52-69. Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs Phaidros, Museum Helveticum 35, 1978, 18-32 [poln.: Przeglad Filosoficzny, N.S., R. VI, Numer 3 (23), 1997, 173-186; korean.: The Chulhak-Ronchong 23, 2001, 355-377; rum. in Monographie Nr. 11, vol. I, 116-133; russ. in: Karl Albert, Über Platons Begriff der Philosophie, russ. Übersetzung von M. Bulanenko, Wladiwostok 2012, 88-117]. The Acquiring of Philosophical Knowledge According to Plato´s Seventh Letter, in: G.W. Bowersock u.a. (Hrsgg.), Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernhard M.W. Knox, Berlin / New York 1979, 354-363 [rum. in Monographie Nr. 11, vol. I, 175-186]. What one should know when reading “Helping the Writings”. A Reply to G.J. de Vries, Museum Helveticum 36, 1979, 164-165. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung. Zum Bild des φιλόσοφος in Platons Euthydemos, Antike und Abendland 26, 1980, 75-89. Bemerkungen zur Diskussion um Sophokles, Antigone 904-920, Rheinisches Museum 124, 1981, 108-142. Griechische Philosophie und Wissenschaft, in: Propyläen Geschichte der Literatur, Band I: Die Welt der Antike, Berlin 1981, 254-274. Sophokles’ Elektra und das Problem des ironischen Dramas, Museum Helveticum 38, 1981, 1-21. Zweiteilige Dramenstruktur bei Sophokles und Euripides, Poetica 14, 1982, 1-23. Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik, in: P. Moraux / J. Wiesner (Hrsgg.), Zweifelhaftes im Corpus Aristotelicum. Studien zu einigen Dubia, Akten des 9. Symposium Aristotelicum, Berlin 1983, 221-259. Aufbau und Handlung der platonischen Politeia, Antike und Abendland 30, 1984, 38-46. Mania und Aidos. Bemerkungen zur Ethik und Anthropologie des Euripides, Antike und Abendland 32, 1986, 46-59. Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristoteles’ Darstellung in Metaphysik M und N, in: A. Graeser (Hrsg.), Mathematik und Metaphysik bei Aristoteles, Akten des Zehnten Symposium Aristotelicum, Bern 1987, 45-67 [pol. in Monographie Nr. 10, 175-199; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 107-132]. Platons „undemokratische“ Gespräche, Perspektiven der Philosophie 13, 1987, 347-368. Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, Antike und Abendland 34, 1988, 99-116 [erweiterte Fassung in: G. Gabriel / Chr. Schildknecht (Hrsgg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, 40-61; pol. in Monographie Nr. 10, 3-30; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 32-60]. Platon und die neuzeitliche Theorie des platonischen Dialogs, Elenchos 10, 1989, 337-357 [ND: Dialog Schule-Wissenschaft, Bd. 23, 1989, 161-176; pol. in Monographie Nr. 10, 43-59; rum. in Monographie Nr. 11, vol. I, 247-264].

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Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák (18)*

(19) (20) (21) (22) (23)* (24)*

(25)*

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Das Höhlengleichnis (Buch VII 514a-521b und 539d-541b), in: O. Höffe (Hrsg.), Platon, Politeia, Klassiker Auslegen, Bd. 7, Berlin 1997, 205-228 [kroat. in Monographie Nr. 5, 103-120; ND in Monographie Nr. 8, 87-107, it. in Monographie Nr. 8, 135-161; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 61-83]. Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804. Ein Vergleich mit Tiedemann und Tennemann, Antike und Abendland 43, 1997, 46-62. Theaitetos und der Gast aus Elea. Zur philosophischen Kommunikation in Platons Sophistes, in: H.-C. Günther / A. Rengakos (Hrsgg.), Beiträge zur antiken Philosophie. Festschrift für Wolfgang Kullmann, Stuttgart 1997, 81-101. Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios, in: T. Calvo / L. Brisson (Hrsgg.), Interpreting the Timaeus - Critias, Proceedings of the IV Symposium Platonicum, International Plato Studies 9, Sankt Augustin 1997, 195-203. Ideenlehre, in: Der Neue Pauly, Bd. 5, Stuttgart 1998, 890-892. Intellekt, in: Der Neue Pauly, Bd. 5, Stuttgart 1998, 1027-1029. Notes sur le débat autour de la philosophie orale de Platon, Les Études philosophiques 1998, 69-90 [leicht überarbeiteter dt. Originaltext: Philotheos 5, 2005, 174-190; poln.: Przeglad Filozoficzny, N.S., R. IX, Nr. 4 (36), 2000, 177-198; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 5-31]. Von der τιμή der Götter zur τιμιότης des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte, in: F. Graf (Hrsg.), Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, Stuttgart / Leipzig 1998, 420-439 [pol. in Monographie Nr. 10, 141-161; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 84-106]. Aristoteles. Das Universalgenie. Über den Schüler Platons, den Lehrer Alexanders des Grossen und den Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft, in: Brockhaus, Die Infothek, Mannheim 1999 [www.brockhaus-infothek.de]. Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8-e4, Zeitschrift für philosophische Forschung 53, 1999, 259-267 [frz.: Revue de philosophie ancienne 17, 1999, 49-62; poln.: Kolokwia Platonskie: Fajdros, Wroclaw 2013, 143-156]. Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Perspektiven der Philosophie 25, 1999, 187-224 [ND und it. in: G. Movia (Hrsg.), Hegel e Platone. Atti del Convegno internazionale di Cagliari, Cagliari 2002, 39-76 und 77-115; rum. in Monographie Nr. 11, vol. II, 147-177]. Ödipus nach Sophokles, in: H. Hofmann (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 199-220. Polis - Arche - Adikia. Deutungen Athens bei Sophokles, Thukydides und Platon, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft, Jahrbuch 1998 (erschienen 1999), 31-42 [poln.: Meander 2, 2000, 95-107]. Er belebte die Antike. Gespräch mit Thomas Szlezák zum 100. Geburtstag von Wolfgang Schadewaldt, Schwäbisches Tagblatt, Mittwoch, 15. März 2000, 25. Die Handlung der Dialoge Charmides und Euthydemos, in: Th.M. Robinson / L. Brisson (Hrsgg.), Plato, Euthydemus, Lysis, Charmides. Proceedings of the V Symposium Platonicum, International Plato Studies 13, Sankt Augustin, 2000, 337-348. οὓς μόνους ἄν τις ὀρθῶς προσείποι φιλοσόφους. Zu Platons Gebrauch des Namens ϕιλόσοϕος, Museum Helveticum 57, 2000, 67-75 [pol. in Monographie Nr. 10, 162-171]. Platon, in: Der Neue Pauly, Bd. 9, Stuttgart 2000, 1095-1109 [serb. in: Agrapha dogmata, Lutscha 20/2, 2003, 30-40]. Philologia ancilla philosophiae?, Literatura vestnik 14.-20.3. 2001, 13.

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Wahrscheinlichkeit und Wahrheit, Rhetorik und Dialektik. Gespräch, öffentliche Rede und Schrift in Platons Phaidros, in: Argumentor. Proceedings of the Second International Conference on Argumentation and Rhetoric, Partium Press Oradea/Debrecen University Press 2012,217-234. The Tübingen Approach, in: The Continuum Companion to Plato, London-New York 2012, 303-305. Platons Politeia: Aufbau, Handlung, Philosophiebegriff, in: Dialogues on Plato´s Politeia (Republic), Selected Papers from the Ninth Symposium Platonicum, ed. by N.Notomi and L.Brisson, Sankt Augustin 2013, 41-48. Za wernostta kam antitschnata drama. (Zur Treue zum antiken Drama. Ein Gespräch mit Th.A.Szlezák. Interview: Nevena Panova, Übersetzung: Zornitsa Radeva). In: Literaturen Vestnik, No. 23 (19-25.06.) 2013, Seite 7. Das griechische Erbe, in: W. Böttcher (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens, 2014, 19-33. Tanja Staehler and the homonym “esoteric”, in: Journal of Ancient Philosophy (Engl. ed.), Sao Paulo, vol. 8, n.2., pp. 160-164. Zum Kontext der platonischen ἀπρόρρητα. Die Ausbildung der ´Philosophenkönige´ und des ´Nächtlichen Rates´ im Vergleich, in: R. Radice – G. Tiengo (eds.), Seconda navigazione. Omaggio a Giovanni Reale, Milano 2015, 643-659. Are There Deliberately Left Gaps in Plato´s Dialogues?, in: D. Nails – H. Tarrant (eds.), Second Sailing: Alternative Perspectives on Plato (Commentationes Humanarum Litterarum 132), Helsinki 2015, 243-256. The Dokounta of the Platonic Dialectician. On Plato´s Distinction between the insufficient “present discussion” and a satisfactory future one in: Peitho – Examina antiqua – Vol. 1 (6) 2015, 13-24. On the Meaning of the Key Concepts in Plato´s Criticism of Writing: A Philological Approach to Phaedrus 274 b – 278 e, in: Platonic Investigations [Moscow – Sankt Peterburg] III (2015/2), 80-91 (englische Fassung), 65-79 (russische Fassung). Sokrates´ Rollen im Symposion. Sein Wissen und sein Nichtwissen, in: Plato in Symposium. Selected Papers From the Tenth Symposium Platonicum. Ed. by M. Tulli and M. Erler, Sankt Augustin 2016, 461-468. Zur Bezeugung nicht verschriftlichter Ansichten bei Platon. In: A. Havlicek, Chr. Horn, J. Jinek (eds.), Nous, Polis, Nomos. Festschrift Francisco L. Lisi. Sankt Augustin 2016, 81-93. Auf dem Weg zum Guten: wie weit kommen Sokrates und Protarchos? In: Plato´s Philebus. Proceedings of the Ninth Symposium Platonicum Pragense [held in Prague on November 14-16, 2013], ed. by Jakub Jirsa, Filip Karfik and Stepan Spinka, Praha 2016, 13-27. Abschied von einem Klassiker. 50 Jahre nach Vlastos´ Rezension von Krämers “Arete bei Platon und Aristoteles”, in: Platonic Investigations [Plato Philosophical Society, Moscow – Saint Petersburg], vol. V (2016/2), 120-136. Erziehung im Zeichen der Prinzipientheorie. Warum für Platon der Staat die Erziehung überwachen muß, in: M.Knoll - F.L.Lisi (Hrsg): Platons Nomoi. Die politische Herrschat von Vernunft und Gesetz, 2017, 167-179. Ilias und Odyssee: zwei Epen, zwei Welten, in: Peitho – examina antiqua – 1 (8) / 2017, 39-51. Europäische Kultur und antikes Griechentum, in: Latein und Griechisch in Baden-Württemberg (Deutscher Altphilologenverband, Landesverband BW), , Mitteilungen, 46. Jahrgang, 20218, 21-32. Homers Menschenbild, in: Menschenbilder Ost und West, ed. H.-C. Günther, Nordhausen 2018, 335-361. Change and Stability of the State in Confucius and Plato, in: H.-C. Günther (ed.), Ethics, Politics and Law (East and West. Philosophy, ethics, politics ad human rights, Band 7), 2018, 9-30.

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Friedrich Schleiermachers´s Theory of the Platonic Dialogue and Its Legacy, in: Alan Kim (ed.): German Platonism. Brill: Leiden/Boston 2019, pp. 165-191. El laborioso progreso del génere humano hacia lo mejor, in: M. Giusti (ed.), El conflicto de las facultades. Sobre la universidad y el sentido de las humanidades. Lima, Fondo Editorial PUCP, 2019, 50-58. La imagen moderna de Platón y su origen en Friedrich Schleiermacher, in: Jeannet Ugalde Quintana (ed.), La apropiación alemana de Platón, Ciudad de México (UNAM), 2020, 7-21. Cómo es que la Republica de Platón apunta más allá de si, in: Jeannet Ugalde Quintana (ed.), La apropiación alemana de Platón, Ciudad de México (UNAM), 2020, 22-37. La justificación de Platón acerca de su renuncia filosófica a escribir en la sección filosófica en la Carta Séptima de Platón (Epist. 7, 3340 b – 345 c), in: Jeannet Ugalde Quintana (ed.), La apropiación alemana de Platón, Ciudad de México (UNAM), 2020, 38-51. Platon der Athener, in: T. Dangel (Hrsg.), Metaphysik – Religion – Kultur. Festschrift für Jens Halfwassen zum 60. Geburtstag, Tübingen 2020, . Zu Karl Kerényi´s humanistisch-existentiellem Platonismus, in: Kronos 2020

IV Rezensionen (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19)

D. Roloff, Plotin, 1970, Göttingische Gelehrte Anzeigen 224, 1972, 233-240. H. Happ, Hyle. Studien zum aristotelischen Materiebegriff, 1971, Göttingische Gelehrte Anzeigen 225, 1973, 183-217. H. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, 1971, Archiv für Geschichte der Philosophie 56, 1974, 98-102. H. Heitsch, Die Entdeckung der Homonymie, 1972, Gymnasium 81, 1974, 453-455. K. Wurm, Substanz und Qualität. Ein Beitrag zur Interpretation der Plotinischen Traktate VI 1,2 und 3, 1973, Göttingische Gelehrte Anzeigen 227, 1975, 216-225. Timaeus Locrus, De natura mundi et animae, hrsg. von W. Marg, 1972 und Timaeus Locrus, Über die Natur des Kosmos und der Seele, kommentiert von M. Baltes, 1972, Gnomon 48, 1976, 135-144. L. Elders, Aristotle’s Theology. A Commentary on Book Lambda of the Metaphysics, 1975, Göttingische Gelehrte Anzeigen 229, 1977, 45-57. Porphyrii sententiae ad intelligibilia ducentes, hrsg. von E. Lamberz, 1975, Gymnasium 85, 1978, 100f. Probleme der Platoninterpretation, Göttingische Gelehrte Anzeigen 230, 1978, 1-37 [Sammelrezension]. H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, 1978, Gnomon 52, 1980, 290-293. H. Meissner, Der tiefere Logos Platons, 1978, Gnomon 52, 1980, 301-304. M. Baltes, Die Weltentstehungslehre des Platonischen Timaios nach den antiken Interpreten, 2 Bd., 1976 / 1978, Gnomon 54, 1982, 254-258. M. Forschner, Die stoische Ethik, 1981, Museum Helveticum 39, 1982, 323f. D. Hellwig, Adikia in Platons Politeia, 1980, Museum Helveticum 39, 1982, 321f. K. Philipp, Zeugung als Denkform in Platons geschriebener Lehre, 1980, Museum Helveticum 39, 1982, 321. M.H. Miller, The Philosopher in Plato’s Statesman, 1980, Philosophische Rundschau 30, 1983, 135-138. Plato, Gorgias. Translated with notes by T. Irwin, 1979, Philosophische Rundschau 30, 1983, 138-141. A.D. Woozley, Law and Obedience: The Arguments of Plato’s Crito, 1979, Philosophische Rundschau 30, 1983, 132-135. A. Barker (Hrsg.), Greek Musical Writings, Vol. I: The Musician and His Art, 1984, Die Musikforschung 41, 1988, 288-290.

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Schriftenverzeichnis von Thomas Alexander Szlezák (20) (21) (22) (23) (24) (25) (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36)

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E. Heitsch, Platon über die rechte Art zu reden und zu schreiben, 1987, Gnomon 60, 1988, 390-398. H.J. Krämer / H. Flashar / F. Wehrli, Die Ältere Akademie - Aristoteles - Peripatos, 1983, Philosophische Rundschau 35, 1988, 48-62. Poseidonios. Die Fragmente, hrsg. von W. Theiler, Band I: Texte, Band II: Erläuterungen, 1982, Göttingische Gelehrte Anzeigen 240, 1988, 86-92. A. Graeser, Philosophische Erkenntnis und begriffliche Darstellung, 1989, Gnomon 63, 1991, 267f. M. Tulli, Dialettica e scrittura nella VII Lettera di Platone, 1989, Gnomon 63, 1991, 360-362. Mythos des Rationalen. Über die anthropologische Seite der Wissenschaft (zu: P. Feyerabend, Über Erkenntnis. Zwei Dialoge, 1992), Evangelische Kommentare 1, 1994, 51f. Papyrologica Herculanensia: Philodemos, Göttingische Gelehrte Anzeigen 247, 1995, 190-206 [Sammelrezension]. G. Cerri, Platone sociologo della comunicazione, 1989, Gnomon 68, 1996, 589-593. Skurriles vom Bad Boy. Paul Feyerabend erzählt die Geschichte seines Lebens (zu: P. Feyerabend, Zeitverschwendung, 1995), Evangelische Kommentare 3, 1996, 176f. L’audacia di educare alla concordia e all’amicizia (zu: M. Migliori, Arte politica e metretica assoluta. Commentario storico-filosofico al Politico di Platone, 1996), Il Sole - 24 ore, 2. März 1997, Nr. 60, 30. R. Ferber, Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Platon die ungeschriebene Lehre nicht geschrieben?, 1991, Gnomon 69, 1997, 404-411. J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Studien zu Platon und Plotin, 1992, Gnomon 69, 1997, 583-591. La parola batte la scrittura (zu: G. Reale, Platone. Alla ricerca della sapienza segreta, 1998), Il Sole - 24 ore, 21. Juni 1998, 23. K. Sier, Die Rede der Diotima. Untersuchungen zum platonischen Symposion, 1997, Museum Helveticum 55, 1998, 250. H. Dörrie / M. Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 1-6.2, 1987-2004, Gnomon 82, 2010, 389-404. A. Zierl, Wort und Gedanke. Zur Kritik sprachlicher Vermittlung bei Platon und Plotin, 2013, Philosophische Rundschau 61, 2014, 245-249. M. Burnyeat – M. Frede, The Pseudo-Platonic Seventh Letter. Edited by Dominic Scott , Oxford UP 2015, Gnomon 89, 2017, 311-323.

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Aischylos 54 – Agamemnon – 1646 54 – 1651ff. 97 – 1667 54 – Choephoren – 439 55 – 493 139 – 838ff. 46 – 924 42 – 1016f. 56 – 1054 42 – Hiketiden – 368–375 118 – 398–401 118 – Perser – 241f. 118 – Sieben gegen Theben – 617 56, 57 – 785–791 77 Alexander von Aphrodisias – In Aristotelis metaphysica commentaria – 55, 20–56,5 604 – 55, 20–56.35 572 – 56, 13–20 604 – 56, 13–20 235 – 56,13–21 602 – 136, 14–17 212 – 137, 5–9 212 – 138, 3 212 – 138, 6f. 212 – 138, 8 184, 202 – 148, 24f. 198 – 169, 15 216 – 169, 26ff. 203 – 169, 7 216 – 170, 5 203 – 174, 22f. 213 – 250, 17–20 629 – 778. 7–15 240 – 797.17 223 Aristoteles – Analytica posteriora – 71 b33 189 – 71 b9–11 197 – 71 b9–12 274 – 72 a25–37 219 – 72 b7–25 219

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– 81 b14 665 – 87 b32f. 274 – 88 a5 274 – 88 a5–8 274 – 99 b35 274 – 99 b36–100 b5 274 – 100 b5–17 274 – 100 b8 283 Ars poetica – 1460 b33f. 120 Athenaion politeia – 26,4 96 – 55, 1 666 – 58,3 96 De anima – 402 a11 186 – 402 a1–4 275 – 402 a5 202 – 402 a6 277 – 404 a23 192, 193 – 404 b18–27 681, 682 – 404 b19 465 – 404 b19–21 681 – 404 b22 588 – 404 b3–6 273 – 404 b6 273 – 411 a8 265 – 412 a4 189 – 413 a11 189, 191 – 413 a20 189 – 414 a31–32 274 – 414 b18 274 – 414 b19 273 – 429 b2–3 190 – 430 a18–19 277 – 432 a22ff. 273 – 432 a31–b3 274 – 433 b3 274 De caelo – 269 a18ff. 272 – 269 b16 271 – 270 b19 192 – 271 b6f. 202 – 279 a28–30 276 – 279b 17–280 a10 678 – 287 b 27f. 272 – 287 b34f. 272 – 288 a12 272

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– 288 a4–5 272 – 288 a8 272 – 288 b15–17 272 – 290 a32 272 – 293 a27–b1 273 – 298 b12 202 De generatione animalium – 732 a17 277 – 736 b31 271, 273 – 744 b12 273 – 762 a24–26 273, 277 De generatione et corruptione – 325 a17 202 – 330 b16 468 De incessu animalium – 706 b12 277, 416 – 706 b13 271 De motu animalium – 700 b34–35 271 De partibus animalium – 639 a2 271 – 641 b4–10 274 – 644 b22–645 a23 274 – 644 b25–645 a1 274 – 644 b32 274 – 645 a16 274 – 645 a3 274 – 658 a20–23 271 – 665 a13 665 – 665 a22–26 271 – 665 a9 665 De respiratione – 477 a16 271, 273 Eudemische Ethik – 1214 a10–12 194 – 1214 a15–1215 a25 195 – 1215 a26ff. 195 – 1215 a3 194 – 1215 b15 186 – 1216 32ff. 204 – 1216 b11–19 204 – 1216 b17 195 – 1216 b26ff. 204 – 1216 b3 195 – 1216 b32–35 189 – 1216 b3–25 204 – 1216 b35–39 204 – 1216 b39 197 – 1216 b40–1217 a7 204 – 1217 a10–17 204 – 1217 a20ff. 205 – 1217 a7–10 204 – 1217 b25–1218 a1 272 – 1218 a24–26 562 – 1218 a24–31 572

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– 1242 a40–b1 101, 107 – Kategorien – 14 b4 277 – Magna Moralia – 1183 b20–21 270 – 1183 b25 271 – 1197 a33 198 – Metaphysik – 981 a12ff. 195 – 981 a24ff. 197 – 981 b13–25 192 – 981 b25 275 – 982 a13 275 – 982 a1–6 275 – 982 a25 205 – 982 a25–28 275 – 982 a26–28 276 – 982 a8ff. 186 – 982 b10 207 – 982 b11–24 192 – 982 b11ff. 195 – 983 a11–21 189 – 983 a24–33 207 – 983 a25 197 – 983 a26 210 – 983 a33 193, 208, 217, 218 – 983 a5–7 275 – 983 a9 207 – 983 b2 196 – 983 b20 265 – 983 b27–984 a3 265 – 983 b28f. 265 – 983 b4–6 192 – 984 a3–5 193 – 985 a5 193 – 985 b23 666 – 985 b23–986b8 601 – 985 b32–986 a2 676 – 986 a17 675 – 986 a22–26 629 – 986 a23f. 679 – 986 b27 193 – 987 a 32–33 512 – 987 a13–28 601 – 987 a15–16 676 – 987 a15–19 677 – 987 a18 676 – 987 a32–b1 668 – 987 b1–4 671 – 987 b14–16 242 – 987 b14–18 556 – 987 b16 199 – 987 b17–20 676 – 987 b17–22 611 – 987 b18–20 572

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987 b18–25 236 987 b20 676 987 b21–25 235, 676 987 b22–24 677 987 b25–27 604 987 b26 676 987 b29–31 674 987 b32f. 625 987 b33 676 987 b34 231, 572 988 a10–11 572 988 a10–14 235 988 a11–14 678 988 a12–14 613 988 a13 676 988 a14 558, 613 988 a14–15 572, 679 988 a19f. 196 988 a20–23 217 988 a21 192 988 a22 208 988 a23 193 988 a5–7 590 988 a7 573 988 a7–14 611 988 a8–10 246 988 b21 215 989 a10–11 193 989 a30ff. 212 989 a32 193 989 b31–33 674 989 b33–990 a8 675 990 a10 675 990 a14 675 990 a18–22 675 990 a29–32 675 990 a3 675 990 a8ff. 679 990 b17–22 396, 437 990 b2–4 193 991 b9 236 992 a10–13 235, 238, 604, 681 992 a10–24 225 992 a11f. 242 992 a19–22 225 992 a20–22 680 992 a22 245 992 b13–18 223, 238 992 b13f. 238 992 b15–16 236 992 b18–33 627 992 b18ff. 656 992 b33–993 a2 627 993 a11 208 993 a11–13 192, 217

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993 a11–24 211 993 a13 193 993 a13, 25 213 993 a14 246 993 a15f. 193 993 a24 212 993 a24f. 211 993 a25 212, 213, 215 993 a25–27 211 993 a26 212 993 a27 213 993 a30 196, 202, 209 993 a30–b11 209 993 a30–b7 185 993 a3f. 217 993 b10 186 993 b11 191, 201, 209 993 b11–19 185, 189, 193, 209 993 b1–2 202, 209 993 b12–13 198 993 b14 201 993 b18 198 993 b19 196, 209 993 b19–23 185 993 b19–31 209 993 b2 206 993 b20–21 194 993 b20–23 198, 200, 204 993 b20–31 189 993 b20f. 195 993 b23 186, 197, 204 993 b23–31 186, 219 993 b24 186 993 b26 191 993 b26–31 198 993 b27 200, 201 993 b27, 29f. 200 993 b28 198 993 b29f. 201 993 b3 192 993 b30 191, 198, 200 993 b30f. 200 993 b32 201 993 b33, 2 201 993 b33, 6–7 201 993 b5 189 993 b5, 9, 15 208 993 b6 189 993 b6–11 204 993 b7–11 185 993 b8 187, 188 993 b9–11 189 994 a1 212 994 a11–19 207 994 a19ff. 210

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994 a6–7 207 994 a8–10 207 994 b12 215 994 b15 207 994 b32–995 a12 203 994 b4 210 995 a14–20 202 995 a16 216 995 a16f. 216 995 a17 204, 206 995 a18 202, 206, 213 995 a19–20 213, 214 995 a19f. 214 995 a24–27 214 995 a26 213 995 a27–b4 214 995 a3–5 208 995 a9–12 208 995 b5 185, 213, 215 995 b6 215 996 a6 677 997 a13 283 998 a7 666 998 b14ff. 283 998 b21 283 1000 a 9–19 265 1001 a22 283 1001 a9–10 677 1001 b19–25 225 1001 b20–24 235 1001 b23 225 1003 b35f. 280 1004 a18 280 1004 a2 629 1004 a31–1005 a18 630 1004 a31–b10 283 1004 b15 630 1004 b9 199 1005 a1 629 1005 a11–18 280 1005 a14 630 1005 a31–33 202 1005 b11–23 283 1005 b5–8 283 1009 a36–38 199 1010 a32–35 199 1012 b29–31 199 1016 b18 283 1017 a29 199 1017 a31ff. 198 1020 b2–8 230 1021 a12–13 283 1025 b20 214 1025 b21ff. 197 1026 a15 199

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1026 a16–18 198 1026 a18f. 275 1026 a20 276 1026 a21 275, 284 1026 a27–30 214 1026 a30 276 1026 a6–8 197 1026 a8–16 275 1028 b19–21 242, 598 1028 b19–27 223, 239 1028 b21–23 239 1028 b24–27 239 1029 b10 191 1029 b3–12 189 1029 b4, 10 192 1029 b5–9 190 1029 b8 191 1037 a12 199, 201 1041 a7–9 201 1041 b13–15 677 1042 b6 208 1044 a32ff. 208 1044 b6–8 208 1051 a4–5 277 1052 b23–24 283 1053 b20 283 1054 a30 629 1058 a21 653 1059 b24–1060 a1 283 1059 b24–30 283 1059 b30 283 1060 a1 283 1064 b5–6 275 1069 a30–b2 206 1069 a31 198 1069 a33–36 199 1069 a36f. 206 1069 b26 208 1069 b32–34 228 1069 b3–7 228 1070 b25–26 228 1070 b4ff. 656 1071 a15 207 1071 b27 265 1071 b3–4 206 1072 a30–32 277 1072 a31–32 283 1072 b13–14 276 1072 b14 277 1072 b30–1073 a3 277 1073 a14–23 199 1073 a18–19 236 1073 a19–21 231, 680 1073 b3–6 206 1073 b3–8 276

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

1074 b1–14 192 1074 b26 271, 277 1075 a28ff. 656 1075 a35 613, 679 1075 b26 265 1076 a12f. 221 1076 a13 193 1076 a15f. 193 1077 a36–b2 282 1077 b1–2 590 1077 b15f. 200 1077 b4 282 1078 a33–b5 246 1078 a9 283 1078 a9–13 282 1078 b17–19 671 1078 b25f. 625 1078 b9–12 673 1080 b15–16 675 1080 b16–17 674, 675 1080 b18f. 675 1080 b19–21 675 1080 b23–25 223 1080 b25 238 1080 b37 229 1080 b9 228 1081 a12–17 234, 236, 237 1081 a12f. 230 1081 a17–21 229 1081 a17–b33 229 1081 a24 223 1081 a24f. 233 1081 a35–37 228 1081 a5ff. 230 1081 a7 236 1081 b1–10 229 1082 a14–15 607 1082 a20–22 226 1082 a23–25 612 1082 a35 230 1082 b23–26 236 1082 b23f. 230 1082 b24–26 229, 230 1082 b25 230 1082 b25f. 230 1082 b26 230 1082 b32f. 230 1083 a10–11 230 1083 a11 231 1083 a1–17 229 1083 a13 607 1083 a18 236 1083 a20 229 1083 a31–36 229, 230 1083 a4–8 231

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1083 b10–11 674 1083 b23–36 224 1083 b24 233 1083 b36 607 1083 b36–1084 a7 233 1083 b36ff. 231, 233 1084 a10–12 231 1084 a11 231 1084 a12–25 235 1084 a12f. 231 1084 a13 680 1084 a31f. 232 1084 a32 680 1084 a32–36 245, 680 1084 a34–35 679 1084 a35 613 1084 a36 234 1084 a5 233 1084 b18 234 1085 a12 225, 678 1085 a19–20 239 1085 a7 238 1085 a7–14 604 1085 a7–9 223 1085 a7–b4 239 1085 a9 225, 678 1085 a9–12 235, 681 1085 b11 226 1085 b11f. 227 1085 b4–12 226 1086 a11–12 236 1086 a11–13 598 1086 a24–26 221 1086 a5–9 244 1087 a5 235 1087 b5 223 1087 b9 223 1087 b9–12 223, 612 1088 a5 612 1088 a7–8 283 1088 b14–17 228 1088 b17–28 228 1089 b11–14 225, 678, 681 1089 b11–15 235 1089 b14 246 1089 b8–15 224, 225 1089 b9 226 1090 a16 236 1090 a23 674 1090 a29–31 674 1090 b13–1091 a5 238 1090 b13–20 237 1090 b16 238 1090 b16–20 242 1090 b20 238

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1090 b20–24 237 1090 b20–29 241 1090 b20ff. 238, 242 1090 b21–21 242 1090 b21–22 225 1090 b21–24 225, 238, 242 1090 b21–32 225 1090 b22 225 1090 b24–26 238 1090 b24–28 242 1090 b28–32 238, 242 1090 b32 238 1090 b32–35 242 1090 b32ff. 233 1090 b33 243 1090 b33f. 246 1090 b36f. 242 1090 b37 681 1090 b37f. 225, 235, 242 1091 a12–13 233, 679 1091 a13–20 246 1091 a13–22 233 1091 a18–19 676 1091 a18–20 679 1091 a23 233 1091 a23–24 234 1091 a23–25 232 1091 a24 233 1091 a28f. 227 1091 a29–b6 277 1091 a34–b8 265 1091 a9–12 233 1091 b13–15 572, 679 1091 b14 558 1091 b14–15 282 1091 b26 236 1091 b35 612 1092 a17–20 241 1092 a17–21 240 1092 a17f. 241 1092 a20 241 1092 a21–22 241 1092 a21–b8 226, 228 1092 a21ff. 226 1092 a24ff. 227 1092 a26f. 227 1092 a29 226 1092 a30 227 1092 a31–32 228 1092 a31f. 228 1092 a32–b3 227 1092 a8 236 1092 b1 226, 612 1092b3–5 228 1093 b21–24 679

– 1093 b7–24 679 – 1214 a12 194 – 1216 b17 194 – Meteorologie – 339 b27–29 192 – 339 b3 665 – 339 b5 665 – 353 a35 265 – Nikomachische Ethik – 1094 a18–22 194 – 1094 a1–b11 203 – 1094 a28 ~ α 3, 994 b32ff. 204 – 1094 b11 194 – 1094 b11–1095 a13 205 – 1094 b13 ~ 995 a15 203 – 1094 b14–22 203 – 1094 b22–1095 a2 203 – 1095 a12 204 – 1095 a14ff. 204 – 1095 a15ff. 205 – 1095 a30–b13 205 – 1095 a30–b3 573 – 1095 a30ff. 204 – 1095 a31–b2 469 – 1095 a32–33 459 – 1095 b14 204 – 1095 b23 269 – 1095 b23–26 270 – 1095 b2–4 189, 204 – 1095 b26–30 270 – 1095 b4–13 204 – 1095 b6–9 197 – 1095 b9ff. 209 – 1096 a23–34 272 – 1098 b12–15 270 – 1101 b13 270 – 1101 b19 269 – 1101 b22 269 – 1101 b22–23 269 – 1101 b27–31 271 – 1101 b31 270 – 1102 a1 270 – 1102 a15 274 – 1102 a20–21 274 – 1102 a28–32 273 – 1103 a9–10 270 – 1123 b18 270 – 1123 b20 270 – 1123 b35 270 – 1124 a20–25 270 – 1128 b10–33 139 – 1139 b20–24 198 – 1139 b31 274 – 1140 b31–35 198 – 1141 b20 275

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– 1141 b3 275 – 1145 a26 269 – 1167 b17ff. 269 – 1177 a27 665 – 1178 a1 271, 274 – 1178 a1–2 280, 396 – 1178 b31 275 – 1183 b27 270 Physik – 184 a10–16 197 – 184 a18 188 – 187 b7ff. 218 – 189 a12–17 218 – 191 a24 202 – 192 a6–12 677 – 194 b20–22 213 – 194 b21f. 214 – 198 a 28f. 214 – 198 a22 213, 214 – 198 a27ff. 214 – 198 a29–31 214 – 202 b36 466 – 203 a15–16 677 – 203 a15f. 224 – 203 a4–16 677, 678 – 203 a4–5 678 – 203 a6–7 674 – 203 a7 678 – 206 b27–29 224 – 206 b27–33 231 – 206 b32 680 – 209 b11–16 242 – 209 b13–15 242 – 209 b14 653 – 209 b14–15 652 – 209 b15 459, 468 – 209 b16–17 240 – 210 a2 242 – 212 a5f. 241 Poetik – 1452 b34–1453 a12 65 Politik – 1253 a27–29 100 – 1273 a39 271 – 1283 a36 271 – 1299 b31–36 146 – 1323 a6–9 146 – 1329 b25–31 192 – 1340 a1 271 Rhetorik – 1361 a28 269 – 1361 a30ff. 269 – 1361 b28–30 269 – 1419 a25ff. 146

– Topik – 100 b21–22 278 – 118 b25–26 271 – 157 a9–10 275 Aristoxenos – Elementa Harmonica – II p. 30–31 Meibom 194, 244, 622, 646 Asklepios von Tralleis – In Aristotelis Metaphysicorum libros A–Z – 4, 17–22 182 Damaskios – De principiis – I 101.3 672 Demosthenes – 19,246f. 102 Diogenes Laertios – Vitae philosophorum – 2.106 647 – 3.37 458 – 3.5 512, 668 – 3.6 647, 668, 672 – 5.22 622 – 5.5 647 – 8.25 607 – 8.85 672 Euripides – Alkestis – 600f. 135 – 602 136 – 981 135 – Andromache – 52 134 – 421f. 138 – 445ff. 86 – 465ff. 101 – 595ff. 86 – 1106 134 – 1153 134 – Bakchen – 251ff. 124 – 263 124 – 265 124 – 266ff. 124 – 326 124 – 360 134 – 441 124 – 854 127 – 1344–1348 134 – 1349–1351 135 – 1367 140 – Elektra – 27f. 54 – 43ff. 133 – 253ff. 133

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Stellenregister

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– 258 134 – 275–281 54 – 290f. 138 – 294f. 136 – 367ff. 135 – 382 126 – 960ff. 39 – 971 41 – 1105–1110 54 – 1105ff. 50 – 1175ff. 49 – 1203 49 – 1225 39 – 1233ff. 50 – 1245f. 41 Hekabe – 1265 129 Herakles – 285f. 127 – 299–301 136 – 557 134 – 585f. 127 – 1151f. 127 – 1202 139 – 1220 139 – 1234 139 – 1400 139 Herakliden – 1–11 140 – 6 140 – 29f. 140 – 444 127 – 458–460 136 Hiketiden – 403ff. 118 – 404f. 118 – 426ff. 118 – 762–767 138 – 768 138 – 911 135 Hippolytos – 47–50 130 – 117–120 134 – 130–140 130 – 141–144 123 – 214 123 – 237 123 – 241–249 123 – 385 135 – 385f. 136, 137 – 391ff. 130 – 729 127 – 1332 134 Ion – 336f. 134

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– 436ff. 140 – 657f. 136 – 861 140 – 863 140 – 895 134, 140 – 977 136 – 1045–1047 127 – 1557 134 – 1557f. 140 – Iphigenie in Aulis – 380 135, 136 – 431f. 130 – 543–589 124 – 547 124 – 558ff. 135 – 561–563 135 – 563–567 136 – 821 134 – 873f. 129 – 981f. 133 – 983f. 138 – 998ff. 138 – 1013f. 130 – 1040 133 – 1251f. 129 – 1256 129 – 1284 130 – 1341ff. 138 – 1372f. 138 – 1378ff. 86 – 1392 138 – 1400 86 – Medea – 8 131 – 104–108 137 – 108 131 – 176 137 – 271 137 – 348–351 136 – 348f. 136 – 383 127 – 395ff. 127 – 447 137 – 471f. 137 – 590 137 – 635ff. 131 – 809f. 127 – 865 131 – 1021–1080 137 – 1047 129 – 1049 127 – 1056f. 131 – 1078–1080 137 – 1078f. 131 – 1079 131

Stellenregister – 1079f. 137 – 1250 131 – Orestes – 866ff. 87 – 902ff. 87 – 1625ff. 50 – Phönikerinnen – 88ff. 139 – 193ff. 139 – 1276 139 – 1489 139 – 1691f. 139 – Troerinnen – 987–992 132 Gilgamesch-Epos – Taf. 1a 27 – Taf. 1b, c 27 – Taf. I, I 16–21 21 – Taf. I, II 1 24 – Taf. I, IV 21 18, 19 – Taf. I, V 36, 47 29 – Taf. I, VI 12 29 – Taf. I, VI 19 29 – Taf. II 5 31 – Taf. II 19, 31 – Taf. III 22 31 – Taf. III 19 – Taf. III, I 29–30 30 – Taf. III, II 10–14 30 – Taf. III, VI 8 19 – Taf. V, II 8–14 19 – Taf. V, III 14–15 19 – Taf. V, V 10 19 – Taf. VI 13 31 – Taf. VI 147–150 19 – Taf. VI 160 19 – Taf. VI 176–187 19 – Taf. VI 20ff. 35 – Taf. VI 7–9 19 – Taf. VI 80–95 19 – Taf. VII 23 – Taf. VIII, I 31 – Taf. VIII, II 25–27 20 – Taf. IX, I 3 20, 31 – Taf. IX, II 14–16 24 – Taf. IX, II 1–3 20 – Taf. IX, III 3 20 – Taf. X 31, 35 – Taf. X, I 1ff. 20 – Taf. X, III 48 20 – Taf. X, VI 19–25 20 – Taf. XI 230–233 35 – Taf. XI, 199 20 – Taf. XI, 230–233 20 – Taf. XI, 303–307 21

– Taf. XII, 78ff. 23 Hesiod – Werke und Tage – 138f. 266 – 318 136 Hesiodos – Theogonie – 74 266 – 203 266 – 412ff. 266 – 462 266 – 491 266 – 885 266 – 904 266 Hiketiden – 368–375 144 – 398–401 144 Homer – Hymnus an Aphrodite – 37 266 – Hymnus an Demeter – 311f. 267 – 327f. 266 – 351 267 – 353 267 – 366 266 – 461f. 266 – Hymnus an Hermes – 516 266 – Ilias – 1.1–10 171 – 1.498 266 – 2.204 95 – 3.383–447 29 – 4.85ff. 29 – 6.392–502 29 – 9.22–24 106 – 9.336 96 – 9.342f. 29 – 9.410–416 35 – 9.485 24 – 9.494 24 – 14.153–353 29 – 18.202–238 23 – 18.468–617 29 – 19.297–299 29 – 19.298 96 – 21.34–138 34 – 22.437–515 29 – 23.62–107 23 – 23.80 24 – 24.140 27 – 24.23–76 23 – 24.258f. 269 – 24.44f. 136

747

Stellenregister – 24.483 24 – 24.486 24 – 24.527–533 32 – 24.541–2 36 – 24.552 24 – 24.628–632 33 – 24.723–746 29 – Odyssee – 1.29–43 42 – 1.298–300 42 – 3.193–200 42 – 3.304–310 42 – 3.309f. 42 – 8.325 278 – 10.495 511 – 11.205/207 511 – 11.602 511 Horaz – Ars poetica – 148 28 Isokrates – Antidosis-Rede – 271 196 Kant – Kritik der reinen Vernunft – A 348 511 Philippos von Opus – Epinomis – 984 d5–6 278 – 985 dff. 278 – 987 a7–8 278 – 991a 237 Philodemos – De Pietate – 72 265 Platon – Apologie des Sokrates – 29 e–30 b 279 – 31 d–32 a 153 – 32 b6 153 – 36 c4 153 – 36 d9–e1 153 – Charmides – 155 e 478 – 163 d 608 – 166 d 461 – 169 a1–5 634 – Euthydemos – 272 b3 535 – 273 c4 535 – 273 d9 535 – 273 e7 ~ 293 a2 536 – 274 de 540

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275 b5 533 275 d–277 c 532 277 c 540 277 d6–e2 532 277 de 533 277 e2–3 532 278 c1–4 532 278 c4 540 278 c4 536 278 cd 541 278 d1 540 278 d5 535 282 e 540 283 b10 532 285 a5 ~ 293 a7 532 287 d1 534 287 d5 536 288 a6 535 288 b 540 288 b4–d2 532 288 c2 534 288 c6 536, 540 289 c7 539 289 d10 539, 540 290 cd 539 291 a4 540 293 a1–2 536 293 a1–8 532 293 a2 543 293 a2–4 543 293 b2 543 293 b8 535 293 b–e 537 294 a4 540 294 a–e 537 294 b1–3 532 294 e–296 d 537 295 b4 537 295 e2 535 296 e–297 a 534 298 b–d 538 298 b–e 531 300 e1 532 300 e2 535 301 a 538 301 c2 534 303 c 540 303 c5 535 303 d2–3 535 303 e5 535 303 e6 535 304 a/b 532 304 a2–3 535 304 a4 535 304 b 531

Stellenregister – 304 c2 535 – Eutyphron – 11 bc 300 – 15 b 300 – Gorgias – 469 cff. 126 – 474 a1 153 – 482 bc 461 – 487 a3 302 – 487 e5 302 – 493 d3 314 – 497 c 636 – 505 d1 385 – 513 cff. 153 – 515 dff. 153 – 519 a 153 – 521 aff. 153 – 523 aff. 314 – Hippias maior – 301 b8 633 – Kratylos – 401 b7 317 – Kriton – 49 b 126 – Lysis – 204 d 315 – 205 a 315 – 218 a 537 – Menexenos – 249 e4 405 – Menon – 76 e 636 – 80 c8–d1 443 – 80 dff. 537 – 81 c 537 – 81 c9–d1 538, 562 – 81 cd 537, 657 – 85 d9–86 b4 537 – 87 bc 608 – 98 a7 281 – Minos – 317 a7–b1 405 – Nomoi – 626 d5–6 390 – 701 c2 666 – 709 e 341 – 712 a 323 – 719 c 128 – 720 b6 666 – 723 d3 407 – 810 b 315 – 811 cd 406 – 811 d2 462 – 822 c4 644 – 822 c4–5 643

– 858 c 315 – 890 d 311 – 890 e2 594 – 891 a 311 – 891 a6 427 – 891 b–899 c 417, 458 – 891 c2 312 – 891 c2–6 417 – 891 d 311 – 891 d7–e3 458 – 891 d8–e1 427 – 891 e5 312, 599 – 894 e–896 b 522 – 895 a6 523 – 896 b1 599 – 897 c7–8 599 – 898 a3–b3 588 – 898 b3 552 – 898 d9–e2 632 – 899 b6 599 – 900 d2 599 – 959 a4–b5 515 – 965 b10 558 – 965 c d 301 – 967 e2 632 – 968 d3 335, 642 – 968 d3–4 593 – 968 e2–5 335, 478, 642 – 968 e3 642, 658 – 968 e4–5 397, 594 – Parmenides – 127 c1–e1 670 – 127 c4–5 670 – 129 a1–130 a2 625 – 129 a–130 b 670 – 129 b1–d6 625 – 130 a3–7 625 – 130 b 672 – 130 c5–e4 279 – 135 a2–3 626 – 135 b5–c2 627 – 135 b5–c3 625 – 135 c–137 b 635 – 135 c2 625 – 135 d1 626 – 135 d3–7 613 – 135 d5 317 – 135 d7–8 670 – 135 d7–e4 625 – 135 e8–136 a2 628 – 136 a4–b1 628 – 136 b1–c5 628 – 136 c4–5 613 – 136 c6 628 – 136 e 656

749

Stellenregister – 136 e1–2 626, 635 – 136 e1–3 588, 596 – 136 e2 589 – 137 c–141 e 629 – 137 cff. 670 – 140 b6–d8 612 – 140 b-c 612 – 142 d1–9 611 – 142 d2–3 612 – 142 e4 611 – 143 a2 611 – 155 e–157 b 608 – 157 b6 610 – 157 e4–5 610 – 158 b1–4 610 – 158 b5 610 – 158 c1 611 – 158 c2 611 – 158 c4 611 – 158 c5–6 611 – 158 c5–7 611 – 158 d3–5 611 – 158 d6 611 – 158 d6–8 611 – 158 e2 611 – 159 b–160 b 609 – 159 b6 609 – 159 d1 609 – 159 d3–4 609 – 159 d4–7 609 – 159 d7–160 b1 610 – 160 b5 608 – 164 b5 608 – 164 c8–d1 608 – 164 d1–2 609 – 165 a2 609 – 165 a5 609 – 165 a7–8 609 – 165 b5 609 – 165 b5–6 609 – 165 c1–2 609 – 165 c2 609 – 165 c5 609 – 165 d1 609 – 165 d8 609 – 165 e1 609 – Phaidon – 61 c2–6 439 – 61 c8–9 439 – 64 a4 439 – 65 d13–e1 439 – 65 e2 439 – 65 e3 439 – 65 e6ff. 439 – 66 a 2–3 439

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66 a1–2.e1–2 439 66 a8 439 66 b2 439 66 b7 439 66 c6 154 66 e 350 66 e4–67 a2 440 67 b4 439 67 d4–5 439 67 d7–8 439 67 e 333 67 e4 439 68 b2–3 439 69 d2 439 70 c–77 d 522 75 a2 562 75 b1 562 76 c11–13 350 76 d8 461 78 b–80 b 522 78 b–80 c 523 79 dff. 391, 564 81 a5 279 81 c–d 515 88 cff. 330 88 de 426 88 dff. 417 88 e 426, 701 88e2 331 91 a 461 91 a1–9 461 92 a–95 a 510, 671 95 a7–b5 580 95 b5–6 581 97 b8–c1 670 98 b4–8 670 98 b–99 c 461 98bff. 330 99 c5–6 562 99 c5–e1 549 99 c9–d1 669 99 e6–100 a3 552 99e5 669 100 a–101 e 669 100 b5 461, 542 101 de 331 102 a 701 102 b–107 b 522 107 b 331 107 b1 581 107 b9 581 107 c 526 107 c2–4 435 107 e2 527 109a–111c 547

Stellenregister – 109e 547 – 111b 547 – 115 c–116 a 514 – 115 c3–d3 515 – 115 e6 333, 644 – 117 c2 527 – Phaidros – 227 a–230 e 383 – 227 ab 391 – 228 a 318 – 228 a1–2 383 – 229 e5–6 391 – 230 a5 387 – 230 e–234 c 423 – 230 e–257 b 384 – 234 c–237 b 423 – 234 e–235 b 318 – 234 e–236 b 691, 704 – 234 e3 332, 396, 415, 423–425, 535 – 234 e3–4 428 – 235 b4–5 332, 396 – 235 b6–9 318 – 235 c1 535 – 235 d6 415, 425, 535 – 235 d6–7 396, 423 – 236 a8–b2 332 – 236 b2 396, 415, 423, 425, 535 – 236 b7 318 – 236 d5 423 – 236 e5 432 – 237 a4 644 – 237 a5 393 – 237 b–241 d 404, 424 – 237 b3–5 393 – 237 d8–9 386 – 238 aff. 386 – 238 b6–7 461 – 238 bc 424 – 238 d 392 – 241 c5–6 279, 396 – 241 e 392 – 242 bc 386, 389 – 242 c7–b2 644 – 243 b3–7 644 – 243 e 4–8 393 – 243 e–257 b 404 – 244 a–245 c 387 – 245 a5–8 392 – 245 c–246 a 522 – 245 c5–9 522 – 245 c–e 389, 599 – 245 d1–e2 522 – 245 d8–e2 523 – 245 e2–246 a2 522 – 246 a 318, 319, 397, 484

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246 a4–5 632 246 a4–6 620 246 a6–7 518 246 a–b 514 246 b4 519 246 b6 389, 599 246 d–250 d 453 246 d6–e 2 388 246 d6–e1 389 246 d6–e4 279 246 d7 440 247 b6–c2 523 247 c 387 247 c3 440 247 c7 389 247 c7–8 387 247 d1–3 391 247 e2–4 523 248 c2ff. 435 248 d 327 248 d2–3 391, 440 249 b5 333, 537 249 b5–250 c6 279 249 b5–6.e4–5 435 249 c 327, 387, 440 249 c1–d3 453 249 c4 279 249 c4–5 388, 440 249 c4–6 389 249 c4–8 391 249 c5–6 453 249 c6 453, 637 249 c6–7 453 249 c6–8 596 249 c7–8 395, 638 249 c8 440 249 cff. 405, 636 249 d5–6 424 249 d8 453 249 e1 424 249 e5 333 250 a5 388 250 b1–2 396 250 b2 279 250 b5–c6 395 250 b8–c4 533 250 e2 527 251 a1 394 251 b7 279 252 d7 616 252 e–253 a 391 253 a1–2 391 253 a–c 536 253 d–e 514 254 e–256 a 516

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Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

752

256 ab 394 256 b4 279 257 ab 394 257 b 423, 424 257 b–258 d 392 257 b–279 c 384 257 c 387, 403 258 a–d 387 258 d 9–11 388 258 d 315, 388 258 d7–11 316 258 d9–10 405 259 e 388 259 e5 388 260 c6 388 261 a4 388, 392 261 b 388 261 e1–2 388 262 ab 389 262 b7–8 388 262 c10–d6 624 262 d 392 262 d1 401 262 d2–6 393 262 d–263 d 393 262 d7 389 263 d 392 264 c 385 265 b 387 265 d–266 b 327 265 d–266 c 405, 631 265 d3–266 c1 421 265 d3–e3 389 265 d7 558 265 dff. 394 266 b3–5 627 266 b4–5 389 266 b5–c1 558, 635 266 b6–7 616, 638 266 b7 389 266 c1 688 268 b7 534 270 a 317 270 a1 317 270 c 389 270 c10–d7 626 270 c1–2 633 270 d 318 270 d6 633 270 d9–e1 626 270 e 535 271 a 535 271 b7–c1 626 271 d 318 271 e–272 a 535

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272 a4 535 272 bc 535 272 d 390 272 d3 390 272 e4 544 273 d 389 273 d8–274 a3 645 273 de 535 273 e1 633 273 e–274 a 393 273 e5–274 b10 645 273 e7–8 645 273 eff. 638 274 a 390, 397, 493 274 a2 535, 620 274 a2–3 637 274 a–278 e 324 274 b2–4 409 274 b–278 e 317, 321, 353, 493 274 b–278e 685 274 b9 420 274 b9–10 389, 393, 686 274 be–7 685 274 c1–275 d3 686 274 c–275 d 493 274 c–278 e 670 274 c5–275 d2 410 275 a3–4 327, 459 275 a5 686 275 a5–9 460 275 a7 420, 431, 477, 494 275 a8 506 275 ab 293, 529 275 b2 494 275 c6 497 275 d1 686 275 d1–2 476 275 d–276 a 449 275 d4 414 275 d4–276 a9 410, 429 275 d4–276a9 687 275 d4–9 449 275 d4–e5 303, 328, 398, 407 275 d5–6 402 275 d6 401 275 d8–9 641 275 d9–e3 449 275 de 493 275 e 480, 529, 566, 620 275 e1 621 275 e1–2 643 275 e1–3 294, 407, 517, 518, 642, 644 275 e2 302, 322, 332, 333, 418, 430, 436, 535, 566, 644 – 275 e3 333, 535

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

275 e3–5 449 275 e4 336 275 e5 543, 641 276 a 6–7 333 276 a 493, 529, 692, 701 276 a1–b1 316 276 a5 327, 539, 641 276 a5–8 641 276 a6 535, 543, 545 276 a6–7 294, 303, 407, 417, 428, 517, 644 276 a7 544, 641, 645 276 a8 389, 477 276 a8–9 327, 449, 517 276 a9 382, 402, 416, 429 276 b 338 276 b1–2 381, 414, 430 276 b1–277 a5 400, 410 276 b1–8 381, 452 276 b1–c10 451, 641 276 b1–c9 430 276 b1–e7 618 276 b2 430, 452, 692 276 b2–3 381, 400, 430 276 b–277 a 493 276 b3 452 276 b3–4 430 276 b4 415, 451 276 b5 381, 452 276 b6 381, 382, 400, 452 276 b6–7 449, 534 276 b6–7∼e5 401 276 b7 535, 546 276 b–c 452 276 c 293, 529 276 c3–5 401 276 c4–5 400 276 c7 400, 401, 452 276 c7–10 400 276 c8–9 620, 640 276 c9 303, 304, 477 276 d1–8 462 276 d1–e3 534 276 d2 381, 452, 462 276 d3 315, 462, 623 276 d3–4 476, 662 276 d4–5 458 276 d8 462 276 e 313, 454, 534, 539, 688 276 e2–3 402, 403 276 e–277 a 394, 539 276 e4–277 a4 534 276 e5 535 276 e5–277 a4 382 276 e5–6 382

– 276 e5f. 625 – 276 e6 303, 430, 454, 535, 621, 641, 687 – 277 a1 543, 545 – 277 a3–4 638 – 277 a6–278 b6 411, 687 – 277 b5 388 – 277 bc 425 – 277 d1 420 – 277 d6–7∼258 d9–11 404 – 277 d7 405, 412 – 277 d7–8 282 – 277 d8–9 497 – 277 e–278 a 293 – 277 e5ff. 473 – 277 e9 420, 431 – 278 a1 462, 477, 623, 662 – 278 a2 420 – 278 a2–5 477 – 278 a3 539 – 278 a4–5 497, 641 – 278 b7 403 – 278 b7–e4 688 – 278 b8–e4 399 – 278 c 395 – 278 c1 404 – 278 c3–4 405 – 278 c4 405, 412, 420, 441 – 278 c4–5 329, 389, 417, 421, 453, 688 – 278 c4–d6 329, 428, 517 – 278 c4–e2 453 – 278 c4–e4 404 – 278 c5 420, 453, 543 – 278 c5–6 330, 426, 545 – 278 c6 420 – 278 c6–7 310, 329, 416, 420, 422 – 278 c6–7/d8 423 – 278 c7/d8 663 – 278 cd 222, 383, 390, 536, 543, 662, 691 – 278 c–e 433 – 278 c–e 390, 441, 458, 493 – 278 d 281 – 278 d1 420 – 278 d3–6 536 – 278 d4 453 – 278 d4–5 420 – 278 d8 399, 415, 423, 425, 535, 543, 545 – 278 d8–9 330, 405, 420, 422, 691, 704 – 278 d9–e1 458 – 278 de 395 – 279 a3–b1 404 – 279 a8 396, 535 – 279 bc 394

753

Stellenregister – Philebos – 14 c1–15 c3 625 – 15 d–16a 463 – 15 e–16 a 624 – 15a 669 – 16 b5–7 635 – 16 c 603 – 16 c2–3 638 – 16 c5 635 – 16 c5–6 638 – 16 c6–7 673 – 16 c7–e2 672 – 16 cd 673 – 16 cff. 590 – 16 d8 633 – 17 d6–7 626 – 17 e5 633 – 18 c5 633 – 19 a1 633 – 22 d–26 c 599 – 25 b11–12 596 – 29 e4–30 a2 596 – 30 a1 596 – 56 dff. 556 – 56 e2 555, 697 – 57 e3–58 a5 626 – 57 e7 625 – 58 ef. 554 – 61 ef. 554 – 65 b3–4 461 – Politeia – 327 a1 575 – 327 c1–14 576 – 327 c9 576 – 335 e 126 – 344 b3 302 – 344 b5–6 302 – 344 d7–8 303 – 357 a–367 e 426 – 362 d9 312 – 362 e2 628 – 368 bc 312, 313, 329, 330, 702 – 368 bff. 417 – 368 c1 426 – 368 c4 426 – 368 c7 426 – 376 b8 439 – 376 bc 565 – 376 d 314 – 376 d9 402 – 377 dff. 265 – 379 a5 265 – 379 b15 578 – 379 c5–6 612 – 379 c6–7 579, 633

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– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

423 b6 563 427 b1 405 427 d1–e5 576 427 e 312 427 e4 576 428 e 154 428 e5 585 430 c3 563 432 c1–6 576 433 bc 312 435 a2 282 435 b 484 435 c9–d3 620 435 c9–d5 346 435 cd 403, 592 435 c–d 346–352, 354 435 d 334, 480 435 d1 281, 535 435 d1–2 595 435 d1–5 645 435 d3 281, 349, 577, 632, 635 435 d6–7 349, 577 435 e 521 435 e–441 c 348 435ff. 319 436 b–441 c 519 439 d4–8 349 439 d5 563 439 e2 563 443 c–e 426 443 e1 563, 588 445 c5–6 588 453 c7–9 576 461 e–466 d 563 462 ab 588 462 b2 563 464 d–465 b 563 472 a4 549 473 ab 568 473 c11–e5 437 473 cd 152 473 d 323 473 d5–6 152 474 a6–b2 576 474 b–480 a 554 474 b–480 a 434, 437 474 c1–3 436, 438 474 c2 281 475 e4 436 475 e9–476 a7 434 476 a5–6 588 476 a9–b2 434 476 aff. 669 476 b10–11 434 476 b11 585

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

476 b1–2 433 476 b6–8 333, 434 476 bl–2 333 476 c2–4 434 476 c2–d6 436 476 c3–4 333 476 c9–d2 434 479 a3–5 436 479 d1 191 479 e2 333, 434 480 a4 436 484 a2 435 484 b3–6 435 484 c6–d7 281 484 d1 281 485 a 503 485 a10–487 a8 643 485 a–487a 620 485 b 565 485 b1 589 485 b2 280 485 b–487 a 302, 565 485 b6 280, 396 486 b3 585 487 a 503 487 a7–8 438 487 b2–c4 627 487 b–497a 585 487 d–500 e 646 488 a7–489 a2 586 488 e4 317 489 c10 645 490 a3 585 490 a8–b7 589 490 b 636 490 b2 589 490 b3 589 491 b 154, 585 492 d7 648 494 a 154 494 a 520 494 a1 436 494 a12 645 494 a4 302, 585, 644 495 b2 585 495 c–496 b 432 495 d1 585 496 a11 585 496 a5 566 496 b–e 586 496 c5 585 498 c3 570 498 d8–e2 432 499 a 323 499 b5 567

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

499 c1 567, 585, 645 499 c2 589 499 c–d 521 499 d 635 499 d–502 c 154 499 de 585 500 a 154 500 a1 645 500 a5–7 647 500 b 432 500 b 432 500 b8–d2 616 500 c 503, 526 500 c2 278 500 c2–5 562 500 c6 616 500 c9 279, 303, 333, 436, 616 500 cd 637 500 d6 511, 548, 616 500 d6–8 567 500 d8 563 501 e 314 501 e4 402 502 c 521, 635 502 c10–d2 354 502 c5 405 502 c–541 b 354 502 c9–d2 571 503 b7 585 503 d 154, 520 503 d11 585 503 d7–9 621 503 d8–9 281, 333, 431, 454, 566, 586 503 e–521 b 437 504 a3–d1 438 504 a–506 b 438 504 b 592 504 b1–d1 620, 645 504 b1–d3 632 504 b2 281, 577, 635 504 b5 281, 535 504 b5–8 577 504 bc 438 504 b–d 351, 403 504 c9 281 504 c9–d3 438, 577, 579 504 d2–3 569 504 d–505 a 394 504 d6 438, 577 504 d7 438 504 d8–e3 281 504 e2–3 626 504 e4–5 569 504 e4–507 a6 583 504 e4–6 571, 580

755

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

756

504 e7–505 a4 461 505 a 637 505 a2 560, 569 505 a6–7 569 505 a6–b1 427 505 b5–c11 581 505 b9 396 505 d11–506 a7 427 505 d11–e1 569 505 d11–e2 561, 588 505 d11–e4 560 505 d2–506 b1 281 505 d–e 516 505 e4–506 a3 560 505 e4–506 a6 569 506 a 637 506 a1–3 579 506 a5 567 506 a6–7 569 506 ab 561 506 b2–c1 352 506 c11 581, 583 506 c11–d1 581 506 c2–5 580 506 d2–5 352 506 d3–5 438, 577 506 d3–6 577 506 d–507 a 351 506 d8–e1 577, 586 506 d8–e3 351, 438, 620, 702 506 d8–e5 438 506 de 334, 481, 501, 702 506 e 354, 356, 403, 417, 418, 592, 633, 657 506 e1 352 506 e1–3 557, 571, 577, 579 506 e1–5 560 506 e2 428, 577, 595, 654 506 e2–3 351 506 e3 280, 562, 569 506 e–507 a 557 506 e6 280, 573 506 e6/e3 569 506 ef. 300 506 eff. 436 506e 578, 585 507 a4–5 581 507 a5–b11 553 507 a6–b11 581 507 a8 581 507 b 437 507 b6–7 588 507 c10–e3 570 507 c1–508 a3 582 507 e6–508 a2 280

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508 a4 584 508 a4–b11 582 508 a9–b7 569 508 b12 582 508 b12–13 280, 583 508 b13 562, 569, 587 508 b9–10 557 508 c2 553 508 c4–d10 570, 583 508 c6 190 508 d4 582 508 e1 200 508 e1–4 569 508 e1–509 c2 585 508 e3 280, 582 508 e3–4 557 508 e4 280, 570 508 e–509 a 199 508 e5–e6 588 508 e6 583 508 e6–509 a4 582 508 e6–509 a5 588 509 a3 558, 587 509 a4 200 509 a4–5 280, 396, 582, 583 509 a7/6 584 509 a9 577, 585 509 a9–10 582 509 b 190 509 b3 562 509 b6 569 509 b6–7 280 509 b6–8 200, 280 509 b7–8 569 509 b8–10 280, 677 509 b8–9 589 509 b9 200, 396, 397, 427, 556, 559, 583, 584, 632 509 b9–10 569, 582 509 c 481 509 c 331, 334, 353, 354, 403, 592, 657 509 c1 585 509 c10 353 509 c1–11 351, 352 509 c1–2 584 509 c1–4 584 509 c2 583 509 c3 579, 595, 654 509 c5–10 300, 438, 560, 571 509 c5–7 352 509 c6 577 509 c7 428, 577, 579, 589 509 c8–10 352 509 c9–10 352, 353, 577 509 d1 582

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

509 d1–510 a10 553 509 d2 280, 553, 562 509 d2–3 570 509 d7 582 509 d8 553 510 a3–4 582 510 a5 582 510 a6 198, 200 510 b2 582 510 b4 554 510 b7 198 510 cff. 198, 539 510 d7–8 555 511 a3 554 511 a6 553 511 b2 612 511 b3 582 511 b5–c2 570 511 b6 570 511 b6–7 305 511 b7 559, 562, 570, 625, 648 511 b8 579 511 b–d 656 511 c3–e4 200 511 c5 625 511 c5–6 554 511 d4 555 511 d6–e2 553 511 d8 582 511 e2 582 511 e2–4 553 511 e3 626 513 d3 550 514 a1 582 514 a1–2 279 514 a2 396 514 b1 565 514 b1–2 642 514 c1 556 515 c1–2 549 515 c4 582 515 c6 549, 565, 642 515 c6–8 642 515 d3 548 515 d6 548, 565 515 e1 549 515 e6 549, 565 515 e6–8 565 516 a8 556 516 ab 190 516 b 520 516 b10 562, 569 516 b4–7 440, 548, 549, 556, 559, 570 516 b5 559 516 b6–7 558

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

516 b8 558 516 c1–2 570 516 c2 561, 562 516 e3 582 516 e3–4 549 516 e4 575 516 e4ff. 550 517 a4 557 517 a4–6 575 517 a5–6 550, 648 517 a5–7 615 517 a8–518 b5 553 517 b1 552, 582 517 b1–4 553 517 b2–6 553 517 b4 636 517 b4/5 553 517 b4–5 635 517 b6 654 517 b6–7 560 517 b7 580 517 b7–c4 548 517 b7–c5 440, 556 517 b8–c1 557, 570 517 c 3–5 561 517 c1 558 517 c1–4 559 517 c2 280, 561, 570, 578 517 c3 280, 562, 569, 570 517 c4 562 517 c4–5 579 517 c8 ff. 549 517 d 550 517 d 550 517 d4–e2 553 517 d7–9 548 518 b7–d5 279 518 c d 302 518 c10 559 518 c–519 b 348 518 c7 565 518 c8 333, 350, 564, 643 518 c8–9 463 518 c8–d1 440 518 c9 191, 548, 559, 677 518 c9–10 548, 558, 570, 635 518 d3–4 279 518 d4 564, 643 518 d9–e4 563 518 e2 387 518 e–519 a 526 518d–519b 548 519 a9–b4 350 519 ab 564 519 b1 565

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Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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519 c2–4 561, 563 519 c3–4 588 519 c5 570 519 c–520 d 153 519 c8–d1 565 519 c9 556, 559, 560 519 d 635 519 d1 635 519 d1–2 560, 570 519 d2 635 519 d4–520 a4 566 519 dff. 548 520 a1 567 520 a4 563 520 a8–b4 570 520 b2 153 520 c3–6 560 520 c5 563 520 d1 440 520 e2 561 520c–521b 549 521 a 635 521 a1 567 521 b2 585, 645 521 c 6 302 521 c2–3 589 521 c6 279, 564 521 c6–8 463 521 c7–8 585 522 c–531 d 355, 356, 617 523 e3 581 525 d–526 a 555 526 a 697 526 a3 555 526 e3 559, 677 526 e4 560, 579 527 a1–b8 228 527 b 697 527 b7 555 527 e–528 a 461 529 a2 527 529 c7–530 d5 282 529 c8–d2 282 530 d6–9 671 531 b7–c4 671 531 c9–d4 632 531 cff. 539 531 d7/8 588 531 d7–8 355 531 e2 585 532 a1–535 a1 553 532 a2–b2 553 532 a5–b2 548, 556, 570 532 a7–b2 636 532 b1–6 559

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

532 b2 548 532 b4 635 532 b6–7 553 532 b7/c1 555 532 c1–2 553 532 c4 553 532 c6 548, 559, 677 532 d–533 a 356, 438, 615, 702 532 d6–7 577 532 d6–e1 617 532 d6–e3 645 532 d7 355 532 d8 354, 625, 627 532 de–533a 586 532 e1–3 556 532 e2–3 559, 570 532 e3 461 533 a 481 533 a 331, 334, 351, 417, 592, 657 533 a1 355, 418, 428, 645, 703 533 a1–10 438 533 a1–2 354, 578, 579, 595, 617, 703 533 a1–4 571 533 a2 356, 620 533 a2–3 577 533 a2–5 580 533 a3 436, 654 533 a3–4 703 533 a3–5 560 533 a3–535 a1 438 533 a5 436 533 a8–10 436, 577 533 a8–9 570 533 c7 625, 637 533 c7–8 626 533 c7–d1 354, 437, 577 533 c7–d4 570 533 d1–3 589 533 d2 565 533 d4 553 533 d4–6 555, 626 533 d7–e8 550 533 e 608 533 e1–3 428 533 e4 626 533 e7–534 a5 553 533a 403, 585 534 a2–7 553 534 a5–6 ≈ 511 e2–3 554 534 a7–8 588 534 b3– c5 596 534 b3–d1 570 534 b8–c5 627 534 b8–d1 557 534 bc 656

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

534 bc 394 534 c1–3 587 534 c2 589 534 c7–d1 589 534 d3–7 560 534 d9 627 534 e3 625 535 a1 559 535 a–537 d 643 535 a–539 d 454 535 a–539 d 333, 431 535 a–540 a 565 535 aff. 503 535 b7 565 536 b4–5 438 536 c 503 536 c2–5 333 537 b–540 a 641 537 b–540 c 520 537 bff. 302 537 c1–3 632 537 c2–3 562 537 c4 437 537 c7 437, 558, 632 537 d3–7 631 537 d5 625 537 dff. 437 537 e1–2 454, 621 537 e1–539 d7 644 537 e–539 d 566, 624 539 a9 281 539 b 463 539 b1 281, 455, 586, 621, 624 539 b1, d3 566 539 b1–d7 586 539 b–d 503 539 c8 645 539 c8–d1 586, 621, 645 539 cd 585 539 d1 281, 333, 455, 566, 645 539 d3 281, 586 539 d3–6 282, 333, 566 539 d4–5 621 539 d5 281 539 d5–6 333, 454, 621, 644 539 d6 436, 566 539 eff. 548 539d–541b 549 540 a4 565 540 a4–9 556 540 a4–b2 631 540 a4–c2 438 540 a6 548 540 a6–8 560 540 a6–9 560

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

540 a7–8 565 540 a8–9 440 540 a9 562 540 a9–b1 567 540 ab 437, 579 540 b1 548, 562, 616 540 b2 567 540 b4 561 540 b6–c2 570, 616 540 d 521, 635 540 d2 568 540 d2–3 567 540 e5–541 a2 568 543 c8 453 544 a1 421, 453 548 b8–c1 585 549 c–550 b 515 571 b–d 516 580ff. 319 585 b–d 200 588 b–e 515 588 bff. 387 589 a7 515 589 d1 387 589 e4 387 592 a7–8 153 592 a8–9 567 592 b3 616 595 c1–2 13 595 c7–596 a4 576 596 a6 588 597 e 554 598 d8 13 598 dff. 265 600 b2 671 607 b5 265 608 c–611 a 522, 564 608 c9–d1 435 608 c–d 526 611 a10–612 a6 281 611 b1 153 611 b10–612 a6 616 611 b2–3 349 611 b6 281, 518 611 b–612 a 481 611 b–612 a 319, 334, 348, 349, 351, 403, 435, 484, 564, 592 611 b–612 350 611 c2–7 595 611 c–d 514 611 d 527 611 d1–7 565 611 d2 153, 564 611 e 637 611 e2 391, 436, 564, 616

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Stellenregister – 611 e2–3 279, 643 – 611 e3 349 – 611 e3–612 a3 349 – 612 a3 281, 349, 564 – 612 a4 350 – 613 ab 637 – 617 eff. 435 – 619 e3 527 – Politikos – 269 d6 279 – 284 d1–2 633 – 285 e4 278, 279, 396 – 286 a5–6 279 – 295 bff. 315 – 299 b7 317 – 303 a 647 – 303 a 155 – 303 e4 666 – 306 b 124 – 309 b1 125 – 309 d3 125 – 310 d8/10 124 – Protagoras – 348 c 461 – 349 a2 593 – 360 e 461 – Siebter Brief – 324 e2 647 – 325 b4–5 647 – 326 d 341 – 331 d 155 – 337 c1 341 – 339 d2 622 – 339 e2–3 622 – 340 b–341 a 324 – 340 b4–341 a7 622 – 340 b5 338, 534 – 340 b7–c1 622 – 340 b8 338 – 340 c2–3 535 – 340 c6 636 – 341 a8–b1 338 – 341 b1 535, 546 – 341 b2 338 – 341 b3–5 338, 340, 623 – 341 b5 340 – 341 bc 662 – 341 c 314, 581 – 341 c1 336, 340, 592 – 341 c1–2 414 – 341 c–342 a 529 – 341 c4–5 324, 623 – 341 c5 414, 534, 661 – 341 c5–6 337 – 341 c6 282

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341 c6–7 535, 588 341 c6–d2 282 341 c7 337, 622, 636 341 c7–d1 337, 636 341 cd 340 341 d2–3 337 341 d4 644 341 d4–5 337 341 d5 662 341 de 397, 503 341 e3 565 341 e3–342 a1 480 341 e3–342 b1 645 341 e4 646 342 a 640 342 a–344 d 640 342 a7–344 d 323 342 a–e 289 342 d2 289 342 e2 289 342 e2–343 e1 641 343 a1–4 619 343 c5–344 c1 620 343 c5–e1 463, 644 343 d2–344 b1 282 343 e1–2 636 343 e3 302 344 a2 535 344 a2–3 302, 435 344 a2–b1 620, 643 344 a5–6 535, 643 344 a8–b1 641 344 b2 641 344 b3 535 344 b7 282, 337, 636 344 c 397 344 c1–d2 323, 619 344 c2/6 619 344 c4 641 344 c6 382, 535, 546 344 c7–8 623 344 cd 338 344 c–e 503, 529 344 d 566, 640 344 d–345 c 340 344 d4–5 340, 592, 641 344 d7 324, 480, 644 344 d7–8 340 344 d7–9 620 344 d8 338, 644, 658 344 e 397 344 e2 645 350 a6–b4 672 351 c1 534

Stellenregister – Sophistes – 230 d7 630 – 235 c4–6 626 – 248 aff. 669 – 248 e6–249 a2 637 – 251 b 463 – 253 b8–c5 626 – 253 c4–5 336, 672 – 253 c–e 633 – 253 d1 618 – 253 d2–3 625 – 253 d5–e2 618 – 253 de 631 – 254 b3–4 618, 633 – 254 c2–4 280 – 254 c3–4 629 – 254 cff. 631 – 254 d4 280, 629 – 254 e3–4 633 – 255 c12–13 633 – 259 cd 463, 624 – 259 e5–6 627 – 265 d8–e2 565 – 266 bc 554 – Symposion – 190 c4–5 267 – 202 e6 657 – 203 b–e 524 – 203 e 444, 524 – 203 eff. 537 – 206 a 561 – 206 a11–12 516 – 207 a–d 562 – 210 a1ff. 636 – 210 a–212 a 395 – 210 b7 279 – 210 e4 558, 636 – 211 c2 635 – 211 d1–3 440 – 212 a6 596 – 212 al–7 440 – 212 589 – 215 a6–b3 448 – 216 c1 616 – 219 b3–d2 448 – 221 d7–222 a6 448 – 221 e6–222 a1 448 – 222 a1–2 448 – Theaitetos – 143 a1–5 315 – 150 d4 620, 635 – 151 a2–5 620 – 151 e 514 – 174 a1 626 – 176 a8 527

– 176 b1 616 – 176 e4 279 – 184 b–186 e 513 – 184 d2 513 – 184 d3–4 513 – 184 d4 513 – 185 d1 633 – 185 e1 513 – 185 e3–8 513 – 186 e9–12 514 – 195 bc 317 – Timaios – 17 b1–4 592 – 17 c–19 b 592 – 17 592 – 20 a1–5 592 – 20 a6–b1 592 – 20 b 592 – 20 b1–4 592 – 20 d1–3 592 – 22 b4–5 15 – 24 a4–b3 521 – 26 d5–27 a1 592 – 27 a3–5 592 – 27 b 592 – 27 b7–8 592 – 27 b7–c1 599 – 27 d6–28 a4 669 – 28 a4 593 – 28 a6 593 – 28 c 600, 657 – 28 c, 48 c 600 – 28 c. 334 – 28 c3–5 590, 593, 620, 633 – 29 b5 595 – 29 b5–c1 281 – 29 b7 281 – 29 bc 281 – 29 d5 593 – 29 e1–3 590 – 29 e2 593 – 29 e–30 a 599 – 29cd 595 – 30 a 597 – 30 a1 600 – 34 c–36 d 599 – 35 ab 525 – 35 a–b 350 – 38 e1–3 455 – 41 d1 350 – 48 27 dff. 597 – 48 a-c 604 – 48 b5–c2 596 – 48 c 657 – 48 c. 334

761

Stellenregister – 48 c2–6 590, 594, 633 – 48 c3 595 – 48 c4–6 595 – 48 c5 620 – 48 c6 654 – 48 d1–2 595 – 48 e2 597 – 48 e2–3 598 – 48 e4–5 597 – 48 e–52 c 678 – 48c 600 – 49 a2 597 – 50 c6 598 – 50 c7 598, 599 – 51 e5–6 596 – 52 b2 595, 609, 678 – 52 d3–4 678 – 52 dff. 597 – 52 e1–2 592 – 53 b1 597 – 53 b4–5 597 – 53 c8–d6 596 – 53 d 334, 600, 657 – 53 d5 596 – 53 d6 246, 390 – 53 d6–7 590, 595, 596, 633 – 68 d2–7 600 – 69 b1 385 – 69 c8 350, 519 – 87 b8 455 – 90 a5 391, 564 – 90 a6–b1 435 – 90 a–d 435 – 90 b1–d7 616 – 90 c1 279 – 90 d 527 – 90 d5 153 – 532 e1 396 Plutarch – Perikles – 12,1–2 102 – 14,1 102 – 28,3 104 – 37,2 96 Proklos – Theologia Platonica – p. 26.4–9 672 Pythagoras – Carmen aureum – 47f. 680 Quintilian – Institutio oratoria – 8.6.64 458

762

Sextus Empiricus – Adversus mathematicos – 10.248–280 431 – 10.248–284 235 – 10.249–257 604 – 10.254 606 – 10.258 602, 604, 605 – 10.260 605 – 10.261 605, 607 – 10.262 602 – 10.263 634 – 10.263–265 606 – 10.263–269 601 – 10.263–275 604 – 10.263–276 235 – 10.263ff. 573 – 10.265 602 – 10.268 602 – 10.270 573, 606 – 10.271–273 602 – 10.272 602 – 10.273 606 – 10.275 606 – 10.276 606 – 10.276ff. 573 – 10.277 606, 607 – 10.281 602 – 10.282 607 – 10.283 607 Simplikios – In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria – 151, 8–10 244, 622 – 181.10 607 – 247, 30–248, 15 634 – 247, 30–248,15 604 – 453, 27–30D. 244 – 453, 28–30 622 – 453f. D. 224 Sophokles – Aias – 148–156 96 – 154–157 97 – 158–160 97 – 158–161 97, 147 – 158f. 97 – 161 97 – 254 97 – 254f. 97 – 445f. 95 – 721–728 97 – 749–779 97 – 760 147 – 760ff. 98 – 767–769 98

Stellenregister – 774f. 98 – 838 95 – 844 95 – 859–861 94 – 900–902 97 – 1067 95 – 1088 95 – 1100–1104 94 – 1102 94 – 1129–1131 97 – 1135f. 95 – 1136 95 – 1159f. 95 – 1211–1215 97 – 1216–1222 94 – 1243 95, 96 – 1258ff. 95 – 1259–1263 148 – 1260f. 96 – 1263 94 – 1339–1341 95 – 1340 99 – 1343 147 – 1343f. 97 – Antigone – 8 102, 111 – 32 102 – 34 102 – 44/45f. 107 – 45 107 – 48 107 – 61 53 – 73 107 – 175–190 102 – 332–375 108 – 332–383 148 – 347 120 – 360 108, 120 – 365ff. 108 – 369 148 – 370f. 108 – 371 108 – 449 102 – 454 102 – 454f. 105, 148 – 455 48 – 456f. 105 – 461 102 – 471 107 – 635f. 106 – 688–700 106 – 705–709 106 – 728 106 – 733 106 – 734–739 106

– 745 106 – 747 106 – 749 106 – 904–920 107 – 1113f. 107 – Elektra – 3 112 – 4 112 – 9 112 – 11 54 – 17f. 42 – 22 59 – 37 49 – 59–61 50 – 60 53 – 67–72 54 – 70 39, 48, 49 – 75 59 – 112 42 – 113f. 59 – 173ff. 54 – 175 49 – 179 59 – 189–291 54 – 209–212 54 – 219f. 54 – 236ff. 52 – 249f. 48 – 254 50, 51 – 257 51, 52 – 272–274 51 – 276 42 – 305 51 – 307–309 52 – 307f. 51 – 330 59 – 337 49 – 338 114 – 338–340 113 – 339f. 52 – 379–382 52, 54 – 406 54 – 411 54 – 433 54 – 445 55 – 453–458 54 – 459f. 56 – 476 49 – 477 59 – 489 42 – 499 56 – 502 56 – 516 52 – 516–518 51 – 519 59

763

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

764

528 48 540 59 549–551 50 561f. 51 580 48 580ff. 48 585–594 51 586–589 51 601 54 604f. 51 607 51 609 51 613f. 51 614–621 52 616 50, 53 617f. 51 621 51 622 51 625 51 637–659 54 766ff. 55 773ff. 52 780ff. 51 782 59 791 54 791/3 55 792 54 814 54 816 56 824 49 824ff. 54 911f. 54 916–919 59 947ff. 39 968ff. 52 970 52 971 56, 113 973–985 99 976–985 113 978 113 982 113 985 53 989 51 990f. 49 997 53 1023 52 1042 49 1051 52 1063ff. 54 1080 42 1081 52 1090ff. 54 1095 48 1097 49, 53 1133 54

– 1192 54 – 1195f. 51 – 1196 54 – 1255 59 – 1256 52, 113 – 1264–1270 39, 48, 53 – 1265–1270 49 – 1273 59 – 1292 59 – 1300 52 – 1301ff. 39 – 1338 59 – 1340 56 – 1345 56 – 1348–52 54 – 1368 59 – 1374f. 54 – 1376–1383 54 – 1384ff. 38 – 1388 42 – 1407 42 – 1411 54 – 1413 112 – 1413f. 113 – 1415f. 57 – 1423 42, 49 – 1424 113 – 1425 39, 56, 58 – 1434 57 – 1442–1504 38 – 1458–1463 112 – 1459 112 – 1464f. 59 – 1477 42 – 1488 57 – 1497f. 58 – 1498 57 – 1504 38 – 1505–1508 38 – 1508–1510 109 – 1508f. 113 – Oidipus auf Kolonos – 44 71 – 44f. 70 – 67 118 – 75f. 69 – 79f. 70 – 84 70 – 86–95 70 – 94f. 70, 79 – 96–101 71 – 102 70, 71 – 104 70 – 118–257 74 – 174–178 71

Stellenregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

226 71 229–233 71 237 71 240 71 246f. 71 254f. 72, 73 255 63 258–291 71 265–274 72 266f. 65, 73 287 71 288 72 292–295 71 329 79 367–370 78 369 78 371 78 385f. 79 394 81 408ff. 117 421 78 421f. 78 461 63 461f. 72, 73 462f. 72 466 72 469–490 72 490–492 72 507–509 73 521 73 521–550 72 521f. 65 548 65 556 63, 73 560 76 560–561 74 562–566 74, 77 567 74 569 69, 74 596 78 634–637 119, 145 637 117, 119 643 117 653–667 119, 145 668–680 178 668–719 119, 144 691–693 119 707–719 119 728–760 75 741–742 75 759–760 75 761–762 75 774 75 814ff. 75 887ff. 75

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

919–923 119 929 119 939–950 75 945f. 75 947–949 75 960–1002 75 962–964 76 962f. 78 965 78 987 76 998 76 1014 70 1014f. 70, 76 1042 69 1104–1105 79 1127 118 1173f. 76 1175–1176 77 1175f. 78 1178 77 1184 77 1185–1186 77 1185f. 78 1189–1191 76 1201 77 1254–1270 77 1267 77 1298f. 78 1299 78 1311ff. 77 1326–1334 77 1335 77 1342 77 1346f. 78 1377 77 1382 77 1403 78 1416f. 78 1417f. 78 1424f. 78 1434 78 1455 81 1456ff. 79 1472f. 79 1489f. 80 1508ff. 80 1518–1534 119 1531 119 1537 120 1542ff. 79 1560-1564 80 1565–1567 81 1584 80 1589ff. 79 1597–1605 79

765

Stellenregister – 1611 79 – 1617f. 79, 80 – 1620 79 – 1623 79 – 1627f. 80 – 1636 69 – 1639 79 – 1671f. 78 – 1678 80 – 1700–1703 80 – 1704f. 80 – 1713f. 80 – 1720 80 – 1751–1753 80 – 1764–1767 80 – Oidipus Tyrannos – 33 111 – 56f. 84 – 91–94 119 – 93 593 – 95–100 110 – 96–101 109 – 241 109 – 309 109 – 411 96 – 800–813 72 – 865 48, 148 – 886 84 – 889 84 – 891 84 – 896 120 – 901 56 – 1095 148 – 1186–1196 74 – 1329 46 – 1382 109 – 1410f. 109 – 1436ff. 109 – 1515ff. 109 – Philoktetes – 99 116 – 385–388 115, 145 – 436f. 116 – 456f. 116 – 524–529 114 – 633f. 116 – 833ff. 114 – 1226 114 – 1243 114 – 1250 114 – 1257f. 114 – 1415 115 – Trachinierinnen – 34 100 – 40 99

766

– 756–758 100 – 772–785 101 – 904 100 – 1221ff. 101 – 1270 100 Supplementum Hellenisticum – Timon – 828 672 Syrianus – In Aristotelis metaphysica commentaria – 98, 4–10 Kr. 191 – 181, 20–24 Kr. 234 Theophrastos – Metaphysik – 5 b22 278 – 6 a15–b17 572, 573 – 6 b1 243 – 6 b11–15 236, 243 – 6 b11–16 599 – 6 b12 243 – 6 b15 243 – 6 b28 278 – 6 b9 243 – 6b 13ff. 237 – 7 b14 278 – 9 b11–13 190 – 10 a8 216 – 10 b26 278 – 11 a10 278 – 11 a12 278 – 11 a23 278 Thukydides – 1.126.2–127.2 110 – 1.22.4 152 – 1.70.9 121 – 1.70–71 149 – 1.86.1 143 – 2.37.1 149 – 2.37.1–2 149 – 2.37.2 149 – 2.38.1 149 – 2.40.1 143 – 2.40.2 117, 121, 150 – 2.40.2–3 149 – 2.41.1 149 – 2.47 84 – 2.63.2 150 – 2.65.8 152 – 2.65.9 111, 119, 152 – 3.82.2 152 – 3.87 85 – 5.105 150 – 5.16.1 121 – 5.89 150 – 5.91 150

Stellenregister – – – – – – – – – – – –

5.97 150 6.1.1 151 6.13.1 151 6.24.4 151 6.25.2 151 6.60.2 151 6.60.4–5 151 6.8.4 151 6.8–14 121 7.77.7 84 8.1.1 150 8.1.3 146

– 8.47 115 – 8.75 115 – 8.97.2 152 Xenophon – Anabasis – l, 6 50 – Memorabilia – 1.2.48 672 – 1.7.16–33 115 – 3.11.17 672 – 3.5 115

767

Sachregister

Anagnorisis 46, 60 Analytische Philosophie 510 Anamnesis 301, 327, 390, 405, 440, 453, 524, 532, 537, 538, 540–542, 544, 546, 627 Ananke 596, 597 Antilogik 621, 624 Archaische Zeit 16 Arché 390, 522, 674, 678, 679 Archidamischer Krieg 87 Arete 50, 135, 139, 140, 269–271, 448, 460, 462, 533, 588, 671, 683 Atomtheorie (Demokrit) 683 Atrahasis-Epos 267 Bestattung 32 Bilgamesch (Gilgamesch) und Akka (Agga) von Kisch 23, 28, 30 Bundesgenossenkrieg 646 Carmina Burana 159 Christentum 54, 60, 61, 76 Chrorismos 675 Demiurg 334, 456, 519, 525, 562, 590, 591, 593, 594, 596, 599 Denken, noetisches 588 Dialektik 280–282, 301, 303, 305, 309, 313, 317, 326, 327, 334, 336, 354–356, 381–383, 389, 394, 396, 401–403, 410, 424, 425, 428, 429, 431, 436–438, 454–456, 503, 506, 508, 510, 517, 534, 535, 539–542, 546, 553, 555, 558, 559, 565, 566, 570, 576, 577, 579, 586, 588, 592, 596, 615–618, 620–638, 645, 656, 670, 672, 673, 687, 688, 690, 702–704 Dianoia 551, 553, 555, 625 Dihairesis 194, 391, 394, 405, 598, 599, 626, 630, 631, 656 Dike 40, 48, 49, 51, 53, 55, 77 Drama, Dramatisches 575 Drama, ironisches 38, 575 Dualismus 578 Dynamis 510 Einheit der Handlung 25, 26 Elenktik 557, 558 Energeia 283 Episteme 195, 514, 625, 626, 631, 634, 681 Epithymetikon 348, 349, 519–521

Eristik 586, 621 Erkennen, intuitives 561 Erkennen, noetisches 570 Erkennen, sinnliches 570 Erkenntnis des Guten (Platon) 548, 556–558, 561, 634, 635 Erkenntnis, dialektische 558, 570 Eros 516, 523–525 Esoterik (Platon) 282, 290, 291, 297, 304, 305, 469–471, 474, 475, 480, 482, 483, 500–502, 504, 505, 507, 530, 533, 546, 594, 600, 646, 650, 658, 662 Ethik, politische 37 Eudaimonie 194, 205, 207, 271, 275, 277, 394, 440, 542, 570, 636, 638, 658 Eusebeia 48, 49, 51–53, 113, 118, 127 Existenzphilosophie 511 Faust, das Faustische 31, 35, 68 Finalursache (causa finalis) 570, 573, 587 Formursache (causa formalis) 246, 562, 675 Französische Revolution 291 Furcht und Mitleid 63 Gilgamesch (Epos) 15, 17, 18, 21, 23–32, 35, 36 Gottesbeweis, ontologischer 522 Handlung (Drama) 575 Handlung und Schicksal (Epos) 17 Hegelianismus 284 Held (Tragödie) 25, 45, 46, 60, 61, 65, 66, 80, 81, 156 Heldenepos 25 Hermenfrevel (415 v. Chr.) 145 Hikesie 33, 34, 71, 76, 77 Höhlengleichnis (Platon) 190, 191, 200, 218, 279, 396, 438, 520, 547–554, 556, 557, 559, 561–563, 575, 582, 615, 634, 636, 642, 647 Homerische Hymnen 266 Humanismus 35, 36 Humanität 27, 35, 61, 140, 170 Hybris 56, 84, 386 Hyle 225–227, 697, 698 Idee der Besonnenheit 396 Idee der Gerechtigkeit 396, 438, 550, 564 Idee des Guten (Platon) 199, 279, 280, 313, 331, 334, 336, 394, 396, 426, 427, 437,

769

Sachregister 438, 444, 456, 461, 481, 501, 503, 508, 510, 516, 520, 521, 548, 552, 553, 557–562, 569, 570, 577, 578, 582–584, 586, 587, 589, 615, 627, 631, 632, 635, 637, 642, 643, 702 Idee des Schönen (Platon) 434, 440, 558 Ideenerkenntnis, noetische 589 Ideenlehre (Platon) 193, 225, 237, 242, 282, 301, 313, 324, 327, 330, 331, 333, 388, 390, 426, 437, 438, 441, 443, 444, 457, 461, 538, 544, 554, 566, 581, 598, 631, 633, 634, 644, 648, 669–673, 675–678, 680, 681, 683, 696 Ideenzahlen 226, 229–233, 242, 556, 572, 579, 633, 655, 679, 680, 682 Ilias (Homer) 94, 96, 106 Intellektuelle Anschauung 557, 636 Ironie, dramatische 41, 448 Ironie, Ironisches 38, 40–47, 59, 60, 317, 533, 581, 583, 671 Judentum 33 Kategorien (Aristoteles) 277 Kategorienlehre (Platon) 633 Keilschrift 15 Kontrast, pathetischer (Campbell) 46 Kosmopoiie 676, 679 Kritik der politischen Oekonomie (Marx) 15 Kritik der reinen Vernunft 511 Liniengleichnis (Platon) 438, 547, 551–554, 556, 561, 562, 582, 598, 632 Logistikon (Denkseele) 153, 154, 348, 435, 484, 515, 519–521, 523, 525–527, 559, 563–565, 567, 643 Metaphysik (Aristoteles) 182, 184, 191, 192, 196, 203, 211, 214, 216, 221, 229, 275–277, 292, 601, 602, 625, 626, 629, 676, 696 Metaphysik (Theophrastos) 236, 278 Methexis 693 Monade 229, 230 Monismus 578 Mysterienreligion 684 Naturphilosophie, vorsokratische 669 Nemesis 54, 56 Neuplatonismus 265, 284, 557, 605, 614, 682 Noetón 510 Noêsis 553, 555 Nus 189, 271, 273, 274, 277, 280, 283, 309, 317, 387, 396, 459, 512, 555, 588, 596, 597, 599, 637, 671, 681, 683 Nuslehre, Nusphilosophie 669, 670

770

Oidipus auf Kolonos (Sophokles) 60 Orphik 684 Parusieproblem 538 Pathos, tragisches 46 Peloponnesischer Krieg 85, 87, 92, 116 Physik (Aristoteles) 184, 188, 192, 193, 197, 211, 213, 214, 240, 292, 470, 677, 680 Prinzipienlehre (Platon) 222, 226, 243, 246, 293, 304, 320, 321, 323, 326, 338, 340, 343, 390, 437, 438, 459, 462, 463, 466, 479, 542, 544, 546, 603, 622, 629, 631, 633, 634, 655, 659, 662, 671, 673, 674, 682, 685, 691, 692, 694, 696, 698, 702–704 Psyche-Harmonia-Theorie 510, 671 Pythagoreismus 501, 672, 683 Pythagorika Hypomnemata 607 Rhetorik 269 Samischer Krieg 102 Schein, tragischer 59 Schlacht von Oinophyta (457 v. Chr.) 84 Seelenlehre (Platon) 319, 386, 389, 390, 435, 456, 511, 517, 524, 537, 564, 576, 633 Seelenwanderung 512 Sintflutgeschichte (Gilgamesch-Epos) 15 Sittlichkeit, Prinzip der 38 Sonnengleichnis (Platon) 191, 200, 218, 280, 427, 428, 501, 516, 547, 551, 553, 556, 557, 561, 562, 578, 580, 582 Sophrosyne 52 Stoffursache (causa materialis) 208, 246, 675 Techne 314, 448, 685, 686 Testimonia Platonica 571, 573, 578, 693 Thymoeides 348, 349, 519, 520 Tragik, Tragisches 45, 47, 50–52, 55 Tragödie, attische 64, 88, 89, 117 Tragödientheorie, aristotelische 66 Transzendentalphilosophie 502 Unbestimmte Zweiheit 225, 234, 235, 239, 240, 243, 292, 466, 479, 503, 572, 578, 605–608, 612, 613, 678 Unbewegter Beweger 196, 198, 199, 201, 207, 273 Vier-Ursachenlehre 184, 209, 212, 213, 217–219 Weltseele 523, 525 Wirkursache (causa efficiens) 562 Zahlentheorie 231, 233, 242, 673, 674, 676, 680, 683, 694, 696 Zweckursache (causa finalis) 246

Sachregister Zwölftafel-Epos (Gilgamesch) 18, 28

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Namensregister

Adam, James 432, 453, 552 Adkins, Arthur W. H. 125, 126, 139 Aischines 102 Aischylos 13, 37, 41, 46, 47, 50, 55, 60, 62, 64, 77, 85, 86, 90, 95, 99, 117, 118, 143–145, 159, 161, 651 Albert, Karl 656 Alexander Polyhistor 607 Alexander von Aphrodisias 182, 184, 210–214, 216, 223, 235, 239, 505, 601, 604, 629, 679 Alexanderson, Bengt 43 Alkibiades 91, 115, 151 Anaxagoras 193, 273, 309, 317, 510, 512, 523, 669–671, 683, 694 Anaximenes 196 Annas, Julia 240 Antiphon 105 Apelt, Otto 666, 685 Apollonios von Rhodos 162 Archidamos II. 87 Archytas von Tarent 622, 672 Aristophanes 103, 107, 159, 267 Aristoteles 63, 65, 66, 101, 139, 144, 146, 182, 183, 185, 187, 188, 190–197, 199–201, 203–205, 207, 208, 210, 211, 214, 217, 218, 221–246, 265, 267, 269, 271–278, 280, 282–284, 291, 292, 298, 300, 323, 324, 326, 329, 331, 344, 345, 356, 396, 416, 431, 437, 455, 458, 459, 465–471, 474, 479, 491, 502, 505, 545, 556, 558, 571, 578, 587, 590, 598, 601, 602, 604, 607, 611–614, 622, 625–627, 629–631, 647, 651–656, 662–666, 668, 669, 671–681, 685, 692–698, 704 Aristoxenos 244, 431, 574, 622 Arndt, Adreas 495 Asklepios von Tralleis 182, 210 Assurbanipal (669–627 v. Chr.) 18 Auffahrt, Christoph 267 Barnes, Jonathan 209, 219, 682, 696 Bärthlein, Karl 198–200 Benz, Hubert 408, 452, 453 Bernard, Wolfgang 66, 79, 80 Berti, Enrico 205, 219 Bleicken, Jochen 92 Bloch, Ernst 329, 521 Boeckh, August 489, 494, 500–502, 504

Bogner, Hans 161 Bollack, Jean 65 Bonitz, Hermann 182, 183, 205, 206, 210, 224, 227, 230, 233, 242, 356 Böttger, Johann Friedrich 321 Brandis, Christian August 240, 300 Bremer, Dieter 161 Brisson, Luc 340, 351, 352, 356 Brucker, Jakob 345 Bruhn, Ewald 84 Burkert, Walter 16, 17, 341, 416, 602–604 Burnet, John 669 Burnyeat, Myles 342, 414 Buschor, Ernst 161, 179, 180 Butti de Lima, Paulo 342 Calvo, Tomás 323 Campbell, Lewis 46, 668 Carter, L. B. 150 Cerri, Giovanni 105 Chen, Ludwig C. H. 554, 589 Cherniss, Harold 225, 237, 238, 245, 335, 343, 344, 602, 661, 662, 664, 682, 695–697 Crilly, William Humbert 193, 197, 208, 215–218 Crombie, I. M. 450 Dareios I. 86 Davidson, John 62 Dawe, Roger David 40, 53 Décarie, Vianney 213, 214 Demokrit 510, 683 Demosthenes 102 Descartes, René 545 Diano, Carlo 84 Diderot, Denis 345 Diogenes Laertios 668, 671, 672 Diogenes von Apollonia 196 Diogenes von Oinoanda 271 Dion von Syrakus 324, 341, 342 Dionysios I. von Syrakus 672 Dionysios II. von Syrakus 324, 336, 338, 340, 622, 646 Dirlmeier, Franz 101, 271 Dittenberger, Wilhelm 668 Dobson, William 344, 347, 500 Donini, Guido 117, 118 Dönt, Eugen 161

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Namensregister Dornseiff, Franz 16, 161 Dryden, John 165 Düring, Ingemar 188, 218, 219, 450 Duris von Samos 103, 104 Ebener, Dietrich 161, 162, 173–176 Echekrates von Phleius 672 Edelstein, Ludwig 339, 342 Ehrenberg, Victor 91, 110, 111 Eigenbrodt, Karl-Wilhelm 161 Empedokles 193, 218, 268, 512, 684, 694 Ephialtes 92, 143 Epikur 267, 271, 651 Eudemos 209 Eudoros von Alexandria 607 Eudoxos von Knidos 270, 271 Euklid von Megara 646 Euklid 233 Euripides 14, 41, 47, 50, 54, 55, 57, 60, 64, 85, 86, 88, 90, 99, 101, 103, 104, 117–119, 123–134, 136, 138–141, 143–145, 160, 162 Eurytos 672 Färber, Hans 162 Ferber, Rafael 397, 634, 654, 655 Ferguson, Alexander Stewart 550, 551, 554 Fichte, Johann Gottlieb 457, 465, 656 Ficino, Marsilio 499 Findlay, John N. 693, 696 Frede, Dorothea 295, 498–500 Frede, Michael 342 Freud, Sigmund 511 Friedländer, Paul 320, 429, 450, 482, 530, 538, 539, 699 Fritz, Kurt von 163 Gadamer, Hans-Georg 164, 195, 343, 450, 568, 578, 581 Gaiser, Konrad 232, 237, 245, 295, 336, 344, 483, 490, 504, 506, 571, 572, 602–604, 630, 646, 659, 663, 681, 693, 696 Galen 315 Geibel, Emanuel 166 Gellie, George H. 56 Gerson, Lloyd 699 Giannantoni, Gabriele 639 Glei, Reinhold 162 Goethe, Johann Wolfgang von 164, 166, 168–170 Gohlke, Paul 203, 215, 216, 218, 220 Goldhill, Simon 89 Gomperz, Heinrich 296, 660, 695 Graeser, Andreas 324, 640 Gresseth, Gerald K. 24, 25, 35 Grimm, Jacob 164

774

Guthrie, William Keith Chambers 314, 340, 413, 450, 664, 666 Hackforth, Reginald 430 Halfwassen, Jens 437 Hampe, Roland 161, 173–177 Hansen, Mogens Herman 92 Happ, Heinz 698 Hausmann, Manfred 161 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 64, 107, 298–301, 304, 532, 533, 544, 545, 582, 601, 659 Heidegger, Martin 31, 160, 162–164, 166, 167, 510, 656 Heine, Heinrich 166 Heinze, Richard 238, 601 Heitsch, Ernst 408, 453 Herakleides 622 Heraklit 196, 265, 512, 547, 671, 686 Hermann, Karl Friedrich 222, 347, 489, 497, 529, 542, 695 Hermippos 672 Hermodoros von Syrakus 601, 602, 604 Herodot 14 Hesiod 14, 134, 161, 192, 193, 265, 651 Hestiaios 622 Hippokrates 309 Hippon 193 Homer 13–15, 28–30, 32, 34, 94–96, 106, 125, 133, 139, 161, 170, 174–177, 181, 265, 269, 311, 399, 405, 406, 411, 420, 441, 511 Hösle, Vittorio 64, 98 Iamblichos 187, 188, 196 Isokrates 196, 404, 432 Jackson, Henry 551, 554 Jaeger, Werner 182, 184, 203, 209–213, 215, 220, 225, 242, 315, 602, 664 Jaspers, Karl 450 Jebb, R. C. 40, 50, 52, 56, 57, 68, 71, 74, 110 Johannes Philoponos 192, 465 Johansen, Holger Friis 41, 43, 50 Jünger, Friedrich Georg 161 Kahn, Charles H. 507 Kaibel, Georg 40, 50, 52, 56, 112 Kallimachos 162 Kamerbeek, Jan C. 41, 91 Kant, Immanuel 288–291, 305, 511, 545, 650 Kebes von Theben 672 Kells, John H. 41, 43, 49, 55 Kelsen, Hans 329 Kerényi, Karl 163

Namensregister Kimon 96 Kirkwood, Gordon M. 44 Kitto, Humphrey Davy Findley 68, 81 Klein, Jacob 530 Kleist, Heinrich von 169 Kleisthenes 96 Knab, Rainer 341 Knox, Bernard 85, 111, 112 Koch, Anton Friedrich 457 Königshausen, Johann-Heinrich 457 Krämer, Hans Joachim 222, 244, 295, 315, 321, 331, 332, 412, 419, 421, 422, 429, 431, 437, 465, 498, 506, 556, 587, 602, 631, 656, 659, 663, 683, 696, 698 Kühn, Wilfried 398–408, 414, 415, 419, 452, 619 Lang, Paul 240 Lange, Georg 161 Lasson, Adolf 184, 203, 220 Lausberg, Heinrich 216 Le Beau (Lebeau) 91 Lefèvre, Eckard 66, 110 Lesky, Albin 16, 55, 60, 63, 68, 134, 139 Leumann, Manu 163 Lewis, R. G. 103, 104 Linforth, Ivan Mortimer 58 Livius Andronicus 13 Locke, John 466 Lurje, Michael 63, 66 Luther, Martin 164, 169 Luther, Wilhelm 314, 402 Lysias 399, 404–406, 420, 441 Marx, Karl 15 Marót, Károly 16 Meier, Christian 93, 94, 102, 106 Melchinger, Siegfried 118 Melissos 193 Menander 159 Merkelbach, Reinhold 494 Merlan, Philip 241, 682 Merton, Robert K. 640 Mette, Hans Joachim 105 Miller, D. Gary 16 Mitcham, Carl 220 Moderatos von Gades 605, 607, 614 Moraux, Paul 191 Mörike, Eduard 166 Mühll, Peter Von der 163 Müller, Gerhard 104 Musaios von Athen 162 Natorp, Paul 478, 524 Natzel-Glei, Stephanie 162 Nehamas, Alexander 415, 430

Nietzsche, Friedrich 164, 291, 295–297, 477, 505, 510, 656, 689 Nikias 151, 156 Nonnos von Panopolis 160, 162 Norden, Eduard 385 Oehler, Klaus 656 Ogle, William 665 Orff, Carl 159 Ostwald, Martin 92 Parmenides 442, 670, 671, 673 Pasikles von Rhodos 182, 209, 210 Perikles 87, 91, 96, 102–104, 110, 111, 115, 116, 119, 121, 143, 149, 150, 152, 153, 156, 309, 317, 318 Périllié, Jean-Luc 667 Philippos von Opus 278, 331, 416, 458 Philolaos 671, 672 Pindar 161, 170, 512 Platon 13, 107, 124–128, 141, 144, 152–156, 167, 221–226, 228, 229, 231–233, 236–246, 265, 267, 272, 273, 278–285, 289–353, 356, 357, 381–383, 385–392, 395–407, 409, 411–417, 432–439, 441–460, 462, 463, 465–485, 488–497, 500–513, 515–524, 526–530, 532–534, 536, 537, 539–543, 545–560, 562, 564–568, 573–575, 578, 580, 582, 584, 588, 590–593, 597–605, 608, 611, 612, 614–625, 627, 629–632, 634–683, 685–687, 689–704 Plotin 443, 557, 559 Plutarch 102, 104, 111, 168 Pohlenz, Max 68 Popper, Karl 329, 509, 649, 650 Porphyrios 224 Proklos 529 Protagoras 510 Pythagoras 466, 603, 671 Quintus von Smyrna 160 Raaflaub, Kurt 92, 111 Radermacher, Ludwig 115 Radt, Stefan 87 Ramsauer, Georg 208 Ravaisson-Mollien, Jean Gaspard Félix 182, 240 Reale, Giovanni 212, 216, 230, 295, 437, 572, 693 Reinhardt, Karl 68 Richard, Marie-Dominique 465, 572, 682, 693 Riemer, Peter 63 Robin, Léon 233, 236, 296, 344, 506, 659, 680, 682, 695, 696

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Namensregister Rohde, Erwin 55, 64, 67, 68, 511 Rolfes, Eugen 230 Rösler, Wolfgang 86 Ross, William David 191, 212, 213, 216, 222–224, 226, 227, 233, 234, 236, 238, 242, 273, 296, 653, 660, 664, 695, 696 Rowe, Christopher J. 341, 348–351, 356, 416, 430, 458 Rüdiger, Horst 161 Rufener, Rudolf 666, 685 Rupé, Hans 161, 173–176 Ruthrof, Horst 343 Saffrey, Henri Dominique 238, 682 Salmon, A. 41, 42 Schachermeyr, Fritz 111 Schadewaldt, Wolfgang 65, 157–172, 174–178, 180, 181, 669 Scheffer, Thassilo von 161, 162, 172, 174–176 Scheibner, Gerhard 161, 171, 174–177, 181 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 489 Schiller, Friedrich 166 Schilling, Kurt 161 Schlegel, Friedrich 465, 495, 496, 656 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 164, 222, 290–299, 301, 304, 306–308, 310, 319–321, 325, 326, 328, 343–347, 351, 382, 411, 429, 445–449, 464, 465, 467, 468, 471–485, 488–501, 503–508, 528, 529, 542, 545, 575, 600, 656, 663, 666, 685, 689, 690, 692, 695, 698, 699, 703 Schmitt, Arbogast 65, 110 Schröder, Rudolf Alexander 161, 172, 174–176 Schrott, Raoul 18 Schudoma, Ingeborg 160 Schwarz, Franz F. 230 Scott, Dominic 342 Segal, Charles P. 38, 41, 42, 52, 53, 56, 59 Seidl, Horst 193, 212, 216 Serranus, Johannes 499 Sextus Empiricus 601–603 Sheppard, John 40, 41, 43, 49, 50 Shorey, Paul 529 Simmias von Theben 671, 672 Simplikios 224, 244, 465, 466, 468, 604, 605, 607, 622 Sinleqeunnini 18 Sokrates 126, 139, 153, 156, 228, 279, 300, 301, 308, 309, 312, 313, 316, 318, 329–334, 341, 346, 348–356, 383–390, 392–394, 399, 401, 403–405, 409–411, 415, 417, 420, 423–428, 431, 432, 434, 436–439, 443, 445, 447–449, 455–457, 459–462, 477, 478, 501, 508, 510,

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512–515, 521, 530–540, 543–546, 556–558, 560, 563, 565–567, 569–571, 573–587, 589, 590, 592, 595, 602–605, 607, 613–622, 624–628, 630, 632, 634–636, 638, 644–648, 654, 655, 667–673, 683–686, 693, 694, 696, 700–703 Solmsen, Friedrich 340 Solon 126, 399, 404, 405, 420 Sophokles 37–42, 44–50, 52–58, 60–62, 64, 66–69, 71, 73–81, 84, 85, 87, 88, 90–94, 96–105, 107, 109–112, 116–121, 128, 143–148, 152, 156, 159, 161, 163, 165, 170, 171, 178, 180, 181, 593 Spalm, Peter 86 Speusippos 196, 223, 225, 226, 232, 233, 237, 239–242, 277, 278, 331, 416, 458, 622, 675, 685, 697, 698 Staiger, Emil 161–163, 179–181 Stein, Charlotte Freifrau von 31 Stein, Heinrich von 449, 489, 506 Steiner, Peter M. 498–500 Stélla, Luigia Achillea 16 Stenzel, Julius 296, 315, 506, 659 Stoeßl, Franz 161 Störig, Hans Joachim 164 Striker, Gisela 219 Suhrkamp, Peter 159 Syrianos 234 Taplin, Oliver 85 Tarán, Leonardo 233, 335 Tarrant, Harold 340 Taylor, Alfred Edward 598 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 291, 292, 297, 298, 300, 307, 320, 344, 345, 347, 447, 465, 467–475, 479–481, 483–485, 494, 496, 501–503, 532, 600, 647, 689, 692, 695 Thales von Milet 192, 265 Theiler, Willy 213, 278, 284, 602 Themistokles 96, 105 Theodoros von Kyrene 616 Theophrastos 191, 216, 236, 237, 243, 278, 331, 416, 505, 571, 599 Thesleff, Holger 357 Thukydides 84, 119, 121, 143, 144, 146, 149, 151–153, 156 Tiedemann, Dieterich 344, 345, 347, 447, 465–469, 501, 502, 600, 647, 689, 692 Tigerstedt, Eugène Napoléon 498–500 Timon von Phleius 672 Trabattoni, Franco 471, 472 Tränkle, Hermann 432, 441 Treu, Max 161 Tricot, Jules 184, 212, 230, 233, 234

Namensregister Ueberweg, Friedrich 489, 497, 498 Usener, Knut 18 van Raalte, Marlein 278 Vegetti, Mario 354–356 Vergil 13, 165 Vlastos, Gregory 222, 310, 311, 317, 331, 332, 395, 412, 419, 421–423, 425–431, 602, 692 Vogel, Cornelia de 296, 558, 660, 683 Vuillemin-Diem, Gudrun 210 Waldock, Arthur John Alfred 38, 59, 73 Waser, Herbert Friedrich 161 Werner, Oskar 161 West, Martin L. 16, 25 Wieland, Wolfgang 353, 356, 550, 659, 660 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 87, 90, 103, 104, 134, 139, 160, 165, 166, 339, 432, 529, 538 Willige, Wilhelm 179–181

Wilpert, Paul 183, 236, 296, 601, 602, 604, 660 Winnington-Ingram, R. P. 41, 56, 59 Wittgenstein, Ludwig 285–288, 290, 291, 299, 304, 305, 319, 337, 642, 656 Wolde, Ludwig 161 Woodruff, Paul 415, 430 Xenokrates 223, 225, 233, 238, 239, 242–244, 529, 601, 622, 685, 697, 698 Xenophanes 193, 265 Xenophon 115, 144 Yunis, Harvey 419, 430 Zedler, Johann Heinrich 345 Zeller, Eduard 222, 233, 234, 522 Zenodotos 175 Zenon von Elea 329, 625, 627–629, 670 Zinn, Ernst 163

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