Ökologismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2020, Heft 04 [1 ed.] 9783666800337, 9783412517564, 9783525800331

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Ökologismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2020, Heft 04 [1 ed.]
 9783666800337, 9783412517564, 9783525800331

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 4 | 2020 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Ökologismus Wolfgang Kraushaar  Zur existenziellen Dimension der Klimaproteste  Birgit Schneider  Zukunftsvorstellungen in Zeiten des Klimawandels  Karl-Werner Brand  Die Neurahmung der ökologischen Herausforderung  Oliver Richters u. Andreas Siemoneit  Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang?

VOR DEN MENSCHEN STERBEN DIE BÄUME Jost Hermand Brennpunkt Ökologie

Kulturelle und gesellschaftspolitische Interventionen 2020. 262 Seiten mit 32 s/w- und farb. Abb., gebunden € 40,00 D ISBN 978-3-412-51756-4 Auch als e-Book lieferbar Angesichts der immer prekärer werdenden ökologischen Krisen sollte jede Bewegung, jedes Buch, jede öffentliche Äußerung, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert für ein naturschonendes Verhalten ausgesprochen hat, ernst genommen werden. Dieser Band geht jenen Zeugnissen nach und versucht, sie für die Gegenwart relevant zu machen. Neben politischen und sozioökonomischen Aspekten beschäftigen sich Jost Hermands Spurensuchen vor allem mit jenen Protagonisten innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften, die sich, sei es in Tierschutzvereinen, als Vegetarier, in der Lebensreformbewegung, im Heimatschutz oder in der Partei »Die Grünen« mit gesamtgesellschaftlichem Verantwortungsgefühl in den Chor jener Stimmen einzumischen versuchten, die sich im Hinblick auf das Überleben künftiger Generationen für die Aufrechterhaltung der in der Natur vorgegebenen Grundlagen eines menschenwürdigen Daseins eingesetzt haben.

EDITORIAL Ξ  Luisa Rolfes und Matthias Micus

Die Welt ist dem Abgrund nahe, daran besteht wenig Zweifel. Das nächste Jahrzehnt, schreibt ein großes deutsches Nachrichtenmagazin, wird das Schicksal der Menschheit stärker beeinflussen, als es zuvor Jahrhunderte vermocht haben. »Gigantische Hungerkatastrophen«, eine »in Kürze unumkehrbar[e] […] Umweltzerstörung« und ein längst destruktiv gewordener Fortschritt verleihen der »Zeitspanne eines Jahrzehnts eine neue, bedrohliche Dimension«. Derartige Untergangsszenarien sind kein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Medien- und Debattenlandschaft. In den USA sekundieren die Pendants zum Spiegel, gegen Ende des Jahrzehnts erzwinge die Luftverschmutzung das Tragen von Gasmasken in den Städten, das Niveau der CO2-Emissionen führe zu massiven Überflutungen und der Klimawandel resultiere in einer Klimakatastrophe. In der rasch zum globalen Bestseller avancierten Publikation einer Expertengruppe schließlich wird erstmals in der Geschichte die Apokalypse nicht nur düster raunend beschworen, sondern anhand verschiedener Szenarien und gestützt auf ein computerisiertes »Weltmodell« wissenschaftlich fundiert berechnet. Kurzum: Rasant verbreitet sich das Wissen, dass der Vorrat an irdischen Ressourcen begrenzt und der Planet endlich ist. Wer jetzt freilich auf der Suche nach dem erwähnten Artikel die letzten Ausgaben des Spiegel durchstöbert, der wird nicht fündig werden. Denn die Titelgeschichte, auf die hier verwiesen wird, erschien im Januar 1970, auch die anderen Katastrophenprognosen entstammen dieser Zeit, und als schicksalhaftes Jahrzehnt fungieren nicht die 2020er, sondern die 1970er Jahre.1 Umso verblüffender die Parallelen. Heute wie damals beruft sich der Öko-Aktivismus auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Akademische Ratgeber und Experten mit Insiderwissen spielen für die Bewegung der 1970er Jahre ebenso wie der Gegenwart eine wichtige Rolle, der Kopf überwiegt den Bauch, obwohl sich mit dem Bewusstsein, an einer existenziellen Wegscheide zu stehen, ja auch heftige Emotionen wie Angst und Verzweiflung verbinden. Einerseits sticht also die Bedeutung der Wissenschaft für die Umweltbewegung hervor. Andererseits konnte zumindest in der Vergangenheit 1  Die Ausführungen stützen sich auf Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021, S. 15 ff.

von einer Sicherheit der alarmistischen Klimaprognosen keine Rede sein. Der Alarmismus, zitiert Joachim Radkau etwa den schwedischen Klimaforscher Bert B ­ olin, war vielfach zuallererst »ein verzweifelter Schrei nach

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politischer Aktion ohne adäquate wissenschaftliche Analyse«.2 So wurde in den 1970er Jahren mit Bezug auf den Klimawandel noch vor der Bedrohung einer neuen Eiszeit gewarnt. Die Beeinflussung der aktuellen Klimawandelprognosen durch die kurzfristigen Effekte vereinzelter heißer Sommer ist in der Tat bemerkenswert – nicht zuletzt deshalb, weil die entsprechende Forschung sich mit Vorliebe auf nicht weniger als den Zeitraum der gesamten Erdgeschichte bezieht. Auch die Entwicklungsrichtung, ihre Entstehung in Basisbewegungen, ihr Wachstum durch den »Aktivismus von unten« in vor Ort entstandenen Bürgerinitiativen und Hierarchiefreiheit postulierenden Umweltschutzgruppen verbindet die Umweltbewegung über die Zeiten hinweg. Ebenso wie ihre gleichzeitig beobachtbaren elitären Züge. Was sich als Subkultur präsentierte, war und ist in Wahrheit weitgehend ein Segment der Hochkultur. Die Fridays-For-Future-Aktivisten sind, sofern im Schulalter, weit überwiegend Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Noch deutlicher – und zugleich erstaunlicher – ist die Präsenz von Vertreterinnen und Vertretern der gehobenen Statusgruppen in der Umweltbewegung der 1970er Jahre: Der Generalsekretär der Weltumweltkonferenz in Stockholm war der Geschäftsmann Maurice Strong; der erste Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen ( UNEP) kam aus der Mineralöl- und Kraftwerksbranche; und der starke Mann des Club of Rome war mit Aurelio Peccei ein Mitglied der Firmenleitungen von Fiat und Olivetti In den 1970er wie auch den 2020er Jahren fördern die kennzeichnenden Eigenschaften der ökologischen Krise, ihr ebenso apokalyptischer wie diffuser Charakter, den Bedarf an charismatischen Führungsgestalten, mit denen sich wider alle nüchterne Vernunft die Hoffnung auf einen Durchschlag des Gordischen Weltzerstörungsknotens verbinden kann. Und damals wie heute sind die Helden der Umweltbewegung oft weiblich. Sei es, weil sich die weibliche Natur, wie es die Vordenkerinnen des Ökofeminismus behaupten, durch ein spezifisches Verantwortungsbewusstsein, seinen Kindern eine lebenswerte Umwelt zu erhalten, auszeichnet; sei es, dass die Ökokrise ihre Auflösung weniger durch den revolutionären Straßenkampf als durch Achtsamkeit, Vorsicht, Nachhaltigkeit erfährt, durch weiblich anmutende Umsicht eher denn die männlich konnotierte Faust. Und seit nunmehr fünfzig Jahren schon gilt zudem, dass die Umweltschützer bei aller Kritik an einer blinden Wachstumsmanie doch von einem gehörigen Maß Planungsoptimismus und dem Ehrgeiz beseelt sind, in die Politik Wissenschaft und System hineinzubringen. Schließlich: Wie die Aktivisten des Earth Day am 22.4.1970, so glauben auch die Klimaaktivistinnen

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2  Hierzu und im Folgenden Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, hier S. 597.

und -aktivisten unserer Gegenwart in geschichtsblinder Selbstverklärung, sie seien die ersten, die die akute Bedrohung der Natur entdeckt haben. Aus der Langzeitperspektive einer historisch fundierten Protestforschung spricht insofern vieles dafür, mit Blick auf die Ökologiethematik von einem neuen Bewegungszyklus auszugehen, in dem periodisch wiederkehrende Engagementwellen ebenso regelhaft von Aufmerksamkeitsdellen abgelöst werden. Indes lässt sich auf die aktuellen Ereignisse auch aus einem anderen Blickwinkel schauen, wenn das Interesse stärker dem Anlass, der Dynamik und den Eigenheiten der gegenwärtigen Klimaproteste gilt. Seit nunmehr über 25 Jahren treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen jährlich zur Weltklimakonferenz und demonstrieren damit ebenso deutlich wie gebetsmühlenartig, dass einem globalen Phänomen nur global begegnet werden kann. Und doch brauchte es die weltweiten Proteste von Schülerinnen und Schülern sowie die eindringlichen Worte einer jungen Klimaaktivistin, um die Ökologie wieder als Politikum ins Feld zu führen. How dare you! So sehr im Übrigen die Reden Greta Thunbergs viral gingen, so unmittelbar riefen sie auch jene auf den Plan, die die Dringlichkeit des Klimawandels im politischen Tagesgeschäft relativieren, gar den Klimawandel als menschengemachtes Phänomen leugnen. Und auch das klimabewusste Spektrum tritt ideologisch keineswegs geschlossen auf, wie etwa die Interessendivergenzen zwischen Klimaaktivistinnen und Umweltschützern verdeutlichen. Umweltschutz und Klimagerechtigkeit, grünes Wachstum und sozialökologische Transformation – die Mannigfaltigkeit der Themen und Schlagworte verbietet es, hinter ihnen eine geschlossene ideengeschichtliche Strömung zu vermuten. Freilich lohnt es sich gerade darum, nach den Ursprüngen und Konfliktlinien, Motiven und Widersprüchen, Kontinuitäten und Brüchen einer Weltanschauung zu fragen, die sich selbst als Ökologismus bezeichnet. Es ist auch noch aus weiteren Gründen naheliegend, dass sich die vorliegende Ausgabe der INDES dem Themenfeld der Ökologie widmet. Erstmals in der politischen Geschichte der Bundesrepublik sind in diesem Jahr neben den Sozialdemokraten und Konservativen auch die Grünen mit einiger Aussicht auf Erfolg in das Ringen um das Kanzleramt eingestiegen. Die zwischenzeitlichen Träume von einer grünen Kanzlerschaft sind zwar in einem durchwachsenen Wahlkampf zerplatzt, in den die Partei mit einer wenig Strahlkraft entfaltenden Spitzenkandidatin gezogen war, der obendrein ein geringes Geschick bei der Auswahl ihrer Berater und in der letztlich entscheidenden Frühphase ihrer Kampagne auch die eigene Unerfahrenheit zum Verhängnis wurde. Und dennoch gehören im Jahr 2021 breite Bevölkerungsschichten zum Wählerpotential der Grünen, einer Partei, die 1980 noch als politisches EDITORIAL

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Sprachrohr der Subkultur von Umwelt-, Emanzipations- und Friedensbewegten gegründet worden ist. Ist das bloß eine Folge der sich verschärfenden Klimakrise? Oder aber der Ausdruck einer neuartigen Verschiebung im Feld der gesellschaftlichen Konfliktlinien? Nicht zuletzt hat sich die INDES in eigenen Heftschwerpunkten bereits mit dem Konservatismus, dem Liberalismus und der Sozialdemokratie beschäftigt und damit die drei übrigen ideen- wie parteigeschichtlichen Strömungen behandelt. Die oben genannte Reihe schließen wir nun vorläufig mit einem grünen Heft ab – natürlich nicht bloß der Vollständigkeit halber, sondern auch weil uns die Frage umtreibt, was das Grüne eigentlich ausmacht, verbindet und von den anderen genannten Strömungen unterscheidet. Zu guter Letzt an dieser Stelle noch ein paar Anmerkungen in eigener Sache. Die Geschichte der INDES als Zeitschrift des Göttinger Instituts für Demokratieforschung (GIfD) endet mit dieser Ausgabe. Wir arbeiten gerade daran, die INDES größer, besser, reichweitenstärker zurückzubringen. Aber eben nicht in Göttingen und nicht am GIfD. Als sich Ende 2020 die Trennung von INDES und GIfD, Zeitschrift und Institut abzuzeichnen begann, war das für uns zunächst durchaus ein Schock. Beide waren in der Vergangenheit elementar miteinander verbunden, teilten ein gemeinsames Selbstverständnis, die wissenschaftliche Herangehensweise und den tief verinnerlichten Anspruch, die in der universitären Forschungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse aktiv in eine interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln. Die INDES sollte ein interessantes Periodikum sein, das den Abonnentinnen und Abonnenten bei der Lektüre nicht nur keine Qualen bereitet, sondern im Gegenteil mit Gewinn und auch mit Vergnügen gelesen wird. Wir wollten mit der Zeitschrift zum Nachdenken anregen und wichtige gesellschaftspolitische Debatten um eigene Perspektiven und Deutungsmuster bereichern, indem virulent werdende Themen frühzeitig von uns intuitiv erspürt und in den wechselnden INDES-Schwerpunkten dann facettenreich aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert wurden. Und ja, auch das: Die INDES sollte optisch ansprechend gestaltet sein, weil wir Bücher lieben und

die nachlässig zusammengeklebten Wissenschaftspublikationen vielfach allein schon ästhetisch ein Graus sind. Und trotzdem ist die Trennung vom GIfD folgerichtig. Die Göttinger Schule der Politikwissenschaft, die sich selbstbewusst methodenoffen im Schnittfeld von Politikwissenschaft, Sozialgeschichte und Kultursoziologie verortete, gehört auch im GIfD der Vergangenheit an. Wir halten den allgemeinen Trend in der deutschen Politikwissenschaft für fatal, der nun auch am GIfD nachvollzogen wird und sich vielleicht so charakterisieren lässt:

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geschichtsvergessen, modellfixiert, auf computergestützten Rechenoperationen basierend. Natürlich wäre es zu einfach, die aktuelle Situation am GIfD ausschließlich in tiefschwarzen Farben zu malen – und alles davor in ein reines Weiß zu tauchen. Richtig ist, dass der Auszehrungsprozess des GIfD schon über eine längere Zeit läuft. Eine glänzende Stilistik und inspirierende Publizistik ersetzen nicht dauerhaft jede fach- und universitätsinterne Vernetzung sowie die beständige (Weiter-)Arbeit an der strategischen (Neu-)Ausrichtung eines Instituts mit drei Dutzend Beschäftigten. Oftmals ist der Keim des Scheiterns ausgerechnet bereits im größten Erfolg angelegt. So oder so: Für eine Fortsetzung der INDES am Standort Göttingen hätten beide Seiten, die GIfD-Leitung wie die INDES-Redaktion, sich selbst verbiegen müssen. Sie war daher weder von den einen noch den anderen gewollt. Für die INDES endet damit eine Geschichte. Aber wo etwas aufhört, fängt zumeist auch etwas Neues an. In diesem Sine wünschen wir viel Vergnügen bei der Lektüre der vorliegenden Ausgabe der INDES zum Schwerpunkt »Ökologismus«.

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INHALT





Editorial >> ANALYSE 9  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation? 1

Die Neurahmung der ökologischen Herausforderung

Ξ Karl-Werner Brand

23 Welche Bilder für welche Welt?

Zukunftsvorstellungen in Zeiten des Klimawandels zwischen Kollaps, Techno Fix und Transformation

Ξ Birgit Schneider

39 Klimaberichterstattung und Krisenbewusstsein Wie der Journalismus dazu beiträgt, dass die Klimakrise politisch unterschätzt wird

Ξ Sara Schurmann

49 Nach der Notbremse greifen?

Zur existentiellen Dimension der Klimaproteste

Ξ Wolfgang Kraushaar

72 Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang? Eine Utopie jenseits des Kapitalismus

Ξ Andreas Siemoneit / Oliver Richters

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82 Verzicht für Gesundheit und Umwelt Zur Resonanz der Lebensreform bis heute

Ξ Eva Locher

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Umweltschutz von rechts

Antidemokratische Deutungsmuster in ökologischen Diskursen Ξ Frederik Abrahams

103 Der Griff nach dem Zentrum der Macht Die Grünen als Bündnispartei

Ξ Lothar Probst

PERSPEKTIVEN 113 Konspirative Manöver

Verschwörungstheorien in der COVID-19-Pandemie

Ξ Marco Bitschnau

122 Mehr Liberalität

Ein Zusammenschluss und vier Appelle

Ξ Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse

Inhalt

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SCHWERPUNKT: ÖKOLOGISMUS

ANALYSE

NACHHALTIGE ENTWICKLUNG ODER SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION? DIE NEURAHMUNG DER ÖKOLOGISCHEN HERAUSFORDERUNG Ξ  Karl-Werner Brand Zu Beginn der neunziger Jahre, mit der UNCED-Konferenz in Rio 1992, wurde die Umweltdebatte durch das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung neu gerahmt. Die folgenden Ausführungen gehen den Gründen und den Folgen dieser Neustrukturierung der Umweltproblematik nach. Sie rekonstruieren die Kontroversen und Verschiebungen in der Nachhaltigkeitsdebatte und fragen, welche Zukunft dieses Leitbild angesichts der wachsenden Dramatik des Klimawandels und der multiplen Krisen- und Umbruchsdynamiken hat, die sich derzeit auf nationaler wie internationaler Ebene vollziehen. 1. DIE KRISE DES UMWELTPARADIGMAS Anfang der neunziger Jahre befand sich die Umweltbewegung in einer Krise.1 Seit Mitte der Achtziger waren die alternativen Milieus der Neuen Sozialen Bewegungen in raschem Tempo zerfallen. Die »ökologistischen« Narrationen, die diesen Bewegungen für ein Jahrzehnt lang einen vagen, identitätsstiftenden Rahmen für ihren Kampf gegen das »etablierte System« verliehen hatten, verloren ihre integrative Kraft. Der in den späten sechziger Jahren ansetzende langanhaltende Mobilisierungszyklus dieser Bewegungen kam an sein Ende. Die gegenkulturellen Bewegungsimpulse hatten das Alltags1  Vgl. zur deutschen Entwicklung die empirische Studie von Karl-Werner Brand u. a., Ökologische Kommunikation in Deutschland, Wiesbaden 1997, S. 183–239.

leben inzwischen in vielen Bereichen durchdrungen. Die inhaltlichen Forderungen der Bewegungen hatten deutliche Spuren im politischen Leben hinterlassen. Ein Teil der Bewegungen, insbesondere die Umweltbewegung, hatte einen raschen Institutionalisierungsprozess durchlaufen. Sowohl die

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aus dem Bewegungsmilieu erwachsenen, neuen, als auch die ökologisch modernisierten alten Umweltorganisationen gewannen gegenüber Basisbewegungen wieder an Bedeutung und wurden zu geschätzten Gesprächspartnern der Umweltpolitik. Die Grünen, der parteipolitische Flügel der Umweltbewegung, wurde 1980 als Bundespartei gegründet und konnte auf den verschiedenen politischen Ebenen rasch Fuß fassen. Auch die Wirtschaft begann sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre um ein besseres Umweltimage zu sorgen und öffnete sich verstärkt für Dialoge mit Umweltakteuren. Nach einem Jahrzehnt heftigster Auseinandersetzungen um den Bau von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen schuf die Atomkatastrophe von Tschernobyl eine bis weit in konservative Kreise reichende Bereitschaft zum – zumindest mittel- oder langfristigen – Ausstieg aus der Atomkraft. Der zentrale Konflikt der westdeutschen Umweltbewegung war damit entschärft. Diese Institutionalisierungsprozesse der Umweltbewegung beflügelten auf der einen Seite Visionen und Reformdynamiken einer umfassenden ökologischen Modernisierung der Gesellschaft, die zugleich als Modernisierung der Demokratie verstanden wurde. Auf der anderen Seite wurden damit radikale ökologische Visionen einer grundlegenden Transformation der konsumistischen, naturzerstörerischen Industriegesellschaften in eine neue gesellschaftliche Ordnung, die die Grenzen des Wachstums respektiert und ein Leben in Einklang mit der Natur ermöglicht, marginalisiert.2 Das setzte auch die Grünen einem internen Zerreißprozess zwischen »Fundis« und »Realos« aus, der endgültig erst in den neunziger Jahren zugunsten letzterer entschieden wurde. Diese ökologische Modernisierungsdynamik stieß Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre jedoch an deutliche Grenzen. Das gilt insbesondere für Deutschland. Die Dramatik der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs des Ostblocks überlagerte rasch die Umweltthematik und führte zum (vorübergehenden) Ausscheiden der (westdeutschen) Grünen aus dem Deutschen Bundestag. In den Folgejahren waren es dann die sozialen und wirtschaftlichen Folgeprobleme der deutschen Vereinigung sowie die wirtschaftlichen Globalisierungsdynamiken, die die Arbeitslosigkeit in die Höhe trieben und ökologische Belange in die Defensive drängten. In Deutschland wurde eine ökonomische »Standortdebatte« dominant. Die Förderung wirtschaftlichen Wachstums erlangte wieder oberste Priorität. Die viel gepriesene »Versöhnung von Ökonomie und Ökologie« und die damit verbundenen neuen Dialogstrategien der Umweltverbände gerieten in die Krise. Unter Umweltakteuren machte sich Enttäuschung breit; eine strategische Neuorientierung wurde gefordert.

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2  Andrew Dobson, Green Political Thought, London 2000.

Zugleich gewannen globale Umweltprobleme (Ozonloch, Klimaveränderung) und deren Bearbeitung im Rahmen internationaler Umweltregime eine wachsende Bedeutung. Die Umweltdebatte verlagerte sich zunehmend auf die Seite der Produkte, auf die Frage der Belastbarkeit natürlicher Systeme durch Stoffströme, Produkte und Abfälle, durch Konsum und Lebensstile. Die in Deutschland bisher dominanten ordnungsrechtlichen Strategien des technischen Immissionsschutzes verloren damit an Relevanz. Gefordert wurde stattdessen der Übergang von einer nachsorgenden hin zu einer vorsorgenden, medienübergreifenden, integrativen Umweltpolitik, die auch neue ökonomische und partizipative Steuerungsinstrumente notwendig mache. Das im Rahmen der »Weltkommission für Umwelt und Entwicklung« entwickelte, auf der Rio-Konferenz 1992 als neues Leitbild globaler Entwicklung institutionell verankerte Konzept der nachhaltigen Entwicklung erfüllte genau diesen Bedarf. Es wurde deshalb ab Mitte der neunziger Jahre vonseiten der (institutionalisierten) Umweltbewegung wie der Umweltpolitik mit einer gewissen Euphorie aufgegriffen. 2. NACHHALTIGE ENTWICKLUNG: DIE NEURAHMUNG DER UMWELT- UND ENTWICKLUNGSPROBLEMATIK3 Der Diskurs zu nachhaltiger Entwicklung hatte einen längeren Vorlauf auf der internationalen Ebene. Er ist geprägt durch den institutionellen Kontext der Vereinten Nationen, ihrer Organisationen, Konferenzen und Kommissionen. Auch wenn 1972 in Stockholm bereits eine erste große UN-Umweltkonferenz stattfand, so war und ist der Hauptfokus der Vereinten Nationen allerdings doch, neben der Friedenssicherung und der Verbreitung der Menschenrechte, auf die Beseitigung von Armut und »Unterentwicklung« in den Ländern des globalen Südens gerichtet. Im Rahmen des damals dominanten, am westlichen Industrialisierungsmodell orientierten Paradigmas der »nachholenden Entwicklung« galt wirtschaftliches Wachstum dabei noch als zentrale Voraussetzung für die Beseitigung von Unterentwicklung, von Hunger, Armut und Krankheiten. Umstritten waren zunächst nur die wirtschaftlichen und politischen Strategien, dieses Ziel zu erreichen (sozialistische, planwirtschaftliche vs. kapitalistische, marktliberale Strategien). Die wachsende Bedeutung öko3  Die nachfolgenden beiden Abschnitte greifen auf Ausführungen eines kürzlich erschienenen Beitrags in Leviathan zurück; vgl. Karl-Werner Brand, »Große Transformation« oder »Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit«? In: Leviathan Jg. 49 (2021), H. 2, S. 1–26.

logischer Probleme und der hohe Stellenwert, den das Konzept der »Grenzen des Wachstums« in der Umweltdebatte erlangt hatte, stand somit in einem expliziten Gegensatz zu den Erwartungen der Länder des globalen Südens auf Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum. Eine erste Brücke zwischen umwelt- und entwicklungspolitischen Zielsetzungen schlug der im Rahmen des UNEP (United Nations Environment

Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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Programme) in den 1970er Jahren entwickelte, primär auf arme, ländliche Regionen des globalen Südens zugeschnittene Ecodevelopment-Ansatz, der die Befriedigung von Grundbedürfnissen, Ressourcen- und Umweltschutz sowie die Partizipation der Betroffenen bei der Konkretisierung entsprechender Maßnahmen forderte. 1980 verabschiedete dann die IUCN (International Union for the Conservation of Nature) eine neue World Conservation Strategy, in der der Begriff Sustainable Development zum ersten Mal an prominenter Stelle auftauchte. Neben einem verantwortungsvollen Umgang mit der Biosphäre und ihren Ressourcen wurde darin auch der Armutsbekämpfung eine zentrale Rolle zugewiesen. Damit war konzeptionell die Bühne für die 1983 installierte World Commission on Environment and Development (Brundtland-Kommission) bereitet, deren Ziel explizit darin lag, die bis dahin getrennt und in Opposition zueinander verlaufenden ökologischen und entwicklungspolitischen Diskursstränge systematisch zu verknüpfen. In ihrem Abschlussbericht erfuhr der Begriff Sustainable Development dann seine bis heute geltende Rahmung als neues globales Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung.4 Die Verknüpfung der bislang konträren Umwelt- und Entwicklungsinteressen gelang im WCED-Bericht vor allem durch drei diskursive Verschiebungen. Erstens wurden soziale, wirtschaftliche und ökologische Problemlagen nicht als Ergebnis separater Entwicklungen, sondern als eng miteinander verflochtene globale Problemlagen definiert, für die es nur integrative Lösungen gebe. Zweitens wurde das bisherige, auf die dauerhafte Nutzung von Umweltressourcen fokussierte Nachhaltigkeitskonzept in ein auf die dauerhafte Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (heutiger und zukünftiger Generationen) bezogenes Nachhaltigkeitsverständnis transformiert. Dem entspricht die viel zitierte Definition von nachhaltiger Entwicklung als »development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs«.5 Überragende Bedeutung wurde dabei den »essential needs of the world’s poor«, der Frage einer gerechteren Verteilung der Wachstums- und Wohlstandschancen zwischen Nord und Süd beigemessen. Der anthropozentrische Fokus dieses Nachhaltigkeitsverständnisses ist offenkundig. Anders als in ökozentrischen Weltbildern stellt die Erhaltung der Funktionsfähigkeit natürlicher Systeme in diesem Rahmen nur eine, wenn auch zentrale Voraussetzung für die Erfüllung menschlicher Entwicklungsziele dar. Drittens wurde das Konzept der ökologischen Grenzen wirtschaftlichen Wachstums in ein Konzept transformiert, das die Grenzen bisheriger Technologien und gesellschaftlicher Organisationsformen betont, die Fähigkeiten der Natur zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu nutzen. Technologische und institutionelle Faktoren gelten aber grundsätzlich

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4  WCED (World Commission on Environment and Development), Our ­Common Future, Oxford 1987. 5  WECD 1987, S. 41.

als gestaltbar; nicht die ökologischen »Grenzen des Wachstums«, sondern nur die bisherigen, umweltbelastenden Formen von Produktion und Konsum seien das Problem. Daraus ergab sich die Forderung nach einer ökologischen Moderni­sie­r ung von Technologie, Wirtschaft und globalem Ressourcenmanagement, um ein »nachhaltiges Wachstum« zu ermöglichen. Seine institutionelle Verankerung erfuhr das Leitbild nachhaltiger Entwicklung in einer Reihe zentraler internationaler Dokumente und Rahmenkonventionen, die auf der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 verabschiedet wurden (Rio-Deklaration, Agenda 21, Klimaschutz- und Biodiversitätskonvention, Walddeklaration). Das setzte einen äußerst heterogenen, auf den unterschiedlichsten Ebenen ansetzenden Prozess der Konkretisierung und Umsetzung dieses Leitbilds in Gang, der auf verschiedenen UN-Nachfolgekonferenzen bilanziert und in unterschiedlichen Weisen weiter konkretisiert wurde (zuletzt in den siebzehn Sustainable Development Goals der »Agenda 2030«). Auch wenn damit das Spannungsverhältnis zwischen

Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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Ökologie und sozialer Gerechtigkeit nicht beseitigt war, so hat es im Rahmen dieses Leitbilds doch eine neue, an der Verknüpfung beider Ziele orientierte Verlaufsform gefunden. International besteht deshalb auch ein breiter Konsens darüber, dass sowohl die zukunftsorientierte, intergenerative als auch die globale, intragenerative Gerechtigkeitsperspektive einen zentralen Stellenwert für das Leitbild nachhaltiger Entwicklung besitzen. Die hegemoniale, am Konzept ökologischer Modernisierung orientierte Rahmung des Leitbilds stieß allerdings von Anfang an auf heftige Kritik vonseiten umwelt- und entwicklungspolitischer Akteure. Diese Kritik speiste sich zum einen aus einem ökozentrisch geprägten Naturverständnis, das den Eigenwert der Natur, die Einbindung menschlichen Lebens in natürliche Kreisläufe und die Grenzen menschlicher Naturnutzung betonte (Radikale Ökologie, Bioregionalismus, Deep Ecology, Ökofeminismus etc.). Sie speiste sich zum anderen aus verschiedenen, vor allem aus der Perspektive des globalen Südens formulierten Kritiksträngen am herkömmlichen Modell kapitalistisch-industrieller Entwicklung (marxistische Kritik, Politische Ökologie, Postdevelop­ment-Ansätze). Insgesamt zeigte sich so rasch, dass hinter der hochgradig konsensfähigen Formel nachhaltiger Entwicklung sehr unterschiedliche Zielvorstellungen und Entwicklungskonzepte stehen. Positionen, die ökologischen Zielen absoluten Vorrang einräumen (starke Nachhaltigkeit, Leitplankenmodell) stehen solche gegenüber, die soziale oder wirtschaftliche Nachhaltigkeitsaspekte priorisieren oder nachhaltige Entwicklung als Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Interessen und Belangen begreifen (schwache Nachhaltigkeit, Drei-Säulen-Modell). Technisch-ökonomische konkurrieren mit sozio-kulturellen Lösungsansätzen (Effizienz- vs. Suffizienzstrategie). Gemeinschaftsorientierte stehen weltmarktorientierten Lösungsstrategien gegenüber. Daraus ergab – und ergibt sich bis heute – ein spannungsreiches Diskurs- und Handlungsfeld nachhaltiger Entwicklung mit sehr kontroversen Bedeutungszuschreibungen, Prioritätensetzungen und Umsetzungsstrategien.6 Die Offenheit dieses Konzepts schuf allerdings auch Raum für die unterschiedlichsten Utopien und Zukunftsvisionen nachhaltiger Gesellschaften. In Deutschland lieferte insbesondere die vom Wuppertal Institut erstellte Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« viele Anregungen und Anstöße für die weitere Debatte um die Konkretisierung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung. Insgesamt schien es den Weg aus den Blockaden der achtziger Jahre, aus der Konfrontationen zwischen Wirtschaft und Ökologie, zwischen »harten« und »sanften« Technologien, zwischen staatlichem Kontrollanspruch und gesellschaftlicher Selbstorganisation, zwischen weltwirtschaftlichen Dynamiken

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6  Vgl. Karl-Werner Brand, Sustainable Development, in: James D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 23, Oxford 2015, S. 812–816; Carlos J. Castro, Sustainable Development. Mainstream and Critical Perspectives, in: Organization & Environment, Jg. 17 (2004), H. 2, S. 195–225; Armin Grunwald u. Jürgen Kopfmüller, Nachhaltigkeit. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2012.

und »fairen« Entwicklungschancen für den globalen Süden zu weisen. Es ließ den engen Fokus des technischen Umweltschutzes hinter sich und begriff die ökologische Problematik als eine Frage der gesellschaftlichen Lebens- und Wirtschaftsweise. 3. VON DER NACHHALTIGKEITS- ZUR TRANSFORMATIONSDEBATTE Für den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Institutionalisierung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung gewann zum einen das große Wohlstandsgefälle zwischen dem globalen Norden und Süden eine zentrale Bedeutung. Während sich die Nachhaltigkeitsdebatte in den westlichen Industrieländern zunehmend auf Probleme der ökologischen Nachhaltigkeit konzentrierte und sich der Begriff der nachhaltigen Entwicklung in der fachlichen und öffentlichen Debatte zunehmend auf den der Nachhaltigkeit verengte, erlangten in Schwellen- und Entwicklungsländern die in den Millennium Development Goals von 2000 noch einmal präzisierten sozialen Entwicklungsziele eine wesentlich größere Bedeutung. Zum anderen veränderten sich auch im zeitlichen Ablauf das Verständnis und die Umsetzungsstrategien von Nachhaltigkeit. Das hatte sowohl mit ihren Institutionalisierungsdynamiken als auch mit den sich verschiebenden Problemdebatten und Krisenerfahrungen zu tun. Nach einer von breiten Aufbruchsstimmungen und hohem zivilgesellschaftlichen Engagement (insbesondere im Rahmen »Lokaler Agenda 21«-Prozesse) getragenen ersten Phase der Konkretisierung und Institutionalisierung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung verlor das Nachhaltigkeitskonzept in den 2000er Jahren mit seiner fortschreitenden Normalisierung und Ausdifferenzierung erheblich an Schwung. Das Leitbild der Nachhaltigkeit wurde zu einer positiv besetzten Allerweltsformel, die in Bildungs- und Parteiprogrammen festgeschrieben wurde und eine zentrale Bedeutung für das Image von Politik und Unternehmen, aber auch für Lebens- und Konsumstile – und entsprechende Distinktionsstrategien gewann.7 Zeitgleich wurde das Nachhaltigkeitsthema auf der weltpolitischen Ebene durch islamistische Terroranschläge und den von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« in den Hintergrund gedrängt. 2007 erlangte mit der Veröffentlichung des vierten IPCC-Berichts der Klimawandel zwar eine zentrale Rolle für die Nachhaltigkeitsdebatte; bereits ein Jahr später wurde 7  Vgl. Sighard Neckel, Der Streit um die Lebensführung. Nachhaltigkeit als sozialer Konflikt, in: Mittelweg 36, H. 6/2020, S. 82–100.

die Klimaproblematik aber wieder durch die Weltfinanzkrise, ihre wirtschaftlichen und politischen Folgen aus den Schlagzeilen verdrängt. Der Rio+20Gipfel in Johannesburg 2012 verlief entsprechend enttäuschend. Die zentrale Strategie zur Realisierung nachhaltiger Entwicklung wurde hier allerdings

Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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noch einmal dezidiert als Entwicklung einer Green Economy bestimmt, die nicht nur als neuer Wachstumsmotor, sondern auch als Mittel zur Behebung von Armut dienen sollte.8 Seit den 2010er Jahren vollzog sich im Gefolge der Weltfinanzkrise und der Verschärfung der Klimaproblematik gleichwohl wieder eine Radikalisierung der Nachhaltig­keits­debatte, die seither trotz der Häufung von Krisen unterschiedlichster Art eine hohe Sichtbarkeit behielt. In klimapolitisch aktiven wie in kapitalismuskritischen Kreisen wurde nun mit hoher Emphase eine neue »Große Transformation« gefordert, wenn auch mit verschiedenen Begründungen und Zielsetzungen. In Paris gelang der Staatengemeinschaft Ende 2015 eine Einigung auf ein Klimaabkommen, das in rechtlich verbindlicher Form die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad (im Vergleich zum vorindustriellen Niveau) forderte, was eine drastische Reduktion von Treibhausgasemissionen nötig macht. Auch auf UN-Ebene wurde 2015 ein neuer, sehr viel stärker konkretisierter Aktionsplan unter dem Titel »Transforming our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development« verabschiedet. Zugleich blühten Postwachs­tums­­ debatten und Degrowth-Bewegungen auf. Seit 2018 erlangte auch eine neue Klima-Jugendbewegung wachsende Bedeutung, die in der Mobilisierungswelle der Fridays-for-Future-Bewegung 2019 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Ihr gelang es, die Dramatik des sich vollziehenden Klimawandels medienwirksam ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und die Politik mit der Forderung nach radikaleren klimapolitischen Maßnahmen zur Erfüllung des Pariser Abkommens unter Druck zu setzen. Die Nachhaltigkeitsdebatte hat sich so in eine sehr viel dringlichere Transformationsdebatte verwandelt. Wissenschaftlich weiter entwickelte klimapolitische Modelle sowie das breit rezipierte Konzept der »planetaren Grenzen«9 verliehen dabei auch ökologistischen Weltbildern und Narrationen wieder eine breitere Resonanz. Dieser Trend wurde durch die Corona-Krise zunächst gebrochen, scheint mit deren absehbarem Ende gleichwohl wieder an Fahrt aufzunehmen. Mit der Intensivierung der Bemühungen um eine konsequentere Klimapolitik ist allerdings auch eine Vertiefung der in den vergangenen Jahren aufgebrochenen und mit den Corona-Demos weiter vertieften politischen Konfliktlinien zu erwarten. Lokale NIMBY- und rechtspopulistische Protestbewegungen wachsen dabei zunehmend zusammen.10 Auch wenn Nachhaltigkeit in den vergangenen dreißig Jahren somit einen hegemonialen Stellenwert als gesellschaftliches Leitbild erlangt hat, so haben sich dessen Bedeutungskontexte und Handlungsimplikationen in Reaktion auf jeweils neue Problemlagen und Krisenerfahrungen doch beständig

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Ökologismus — Analyse

8  Arthur Mol u. a. (Hg.), The Ecological Modernisation Reader. Environmental Reform in Theory and Practice, London 2009; UNEP, Towards a Green Economy. Pathways to Sustainable Development and Poverty Eradication, Nairobi 2011. 9  Will Steffen u. a., Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, Science Jg. 347 (2015), H. 6223; Hans Joachim Schellnhuber, Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbe­­­­zie­hung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München 2015. 10  Fritz Reusswig u. a., Abschied vom NIMBY. Transformationen des Energie­wendeProtests und populistischer Diskurs. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 33 (2020), H. 1, S. 140–160.

verändert. Die Vielfalt und Unabschließbarkeit von Bedeutungszuweisungen ist für das Leitbild nachhaltiger Entwicklung ebenso typisch wie für andere großformatige Begriffe wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Menschenwürde.11 Es gibt weder die Möglichkeit, eine bestimmte Definition oder Theorie von Nachhaltigkeit inhaltlich als einzig richtige zu begründen, noch sie praktisch als verbindlich durchzusetzen. Möglich ist nur, ein aus gesellschaftlichen Debatten und Verhandlungsprozessen gewonnenes vorläufiges Einverständnis, wie die in Rio 1992 eingegangene Verpflichtung der Weltgemeinschaft auf die Umsetzung des (inhaltlich hinreichend diffusen) Leitbilds nachhaltiger Entwicklung oder die Selbstverpflichtungen des Pariser Klimaabkommens, als Ausgangspunkt weiterer problembezogener Umsetzungsdebatten zu verwenden. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass das im BrundtlandBericht skizzierte, in den Rio-Nachfolgeprozessen stärker institutionalisierte Modell eines ökologisch modernisierten »nachhaltigen Wachstums« heute keineswegs mehr, zumindest nicht mehr unbestritten, als Garant einer umweltverträglichen und global gerechten Entwicklung gilt. Inzwischen steht nicht nur das fossile Modell gesellschaftlicher Industrialisierung, sondern auch die Kopplung gesellschaftlicher Wohlfahrt an das industrielle Modernisierungs- und das kapitalistische Wachstumsmodell zur Debatte. Was »Fortschritt«, »Entwicklung«, »Wohlfahrt«, »Gutes Leben« oder auch »Nachhaltigkeit« bedeutet, wird heute wesentlich anders diskutiert als in den neunziger Jahren. Die Frage ist, ob damit das Paradigma der nachhaltigen Entwicklung nicht ebenso an seine Grenzen stößt wie das des Umweltschutzes Ende der achtziger Jahre. Die fortschreitende Institutionalisierung von Nachhaltigkeitsprinzipien in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten hat zwar deutliche Spuren im gesellschaftlichen Leben hinterlassen. Sie hat neue Problemwahrnehmungen und Problemdiskurse, neue normative Maßstäbe, neue Formen der Governance, neue Produkte, Technologien, Infrastrukturen und Alltagspraktiken geschaffen. Die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wurde 11  Armin Grunwald, Nachhaltigkeit verstehen. Arbeiten an der Bedeutung nachhaltiger Entwicklung. München 2016. 12  Gabriele Köhler, Die Millenniums-Entwicklungsziele – ein kritischer Rückblick und optimistischer Ausblick, in: Vereinte Nationen Jg. 63 (2015), H. 6, S. 243–248; UN, The Millennium Development Goals Report, New York 2015.

ein Stück vorangetrieben. Auch im Bereich der Reduktion von Armut, der Verringerung von Mütter- und Kindersterblichkeit, des Zugangs zu Trinkwasser und sanitärer Versorgung, der Verbreitung von Primärbildung und der Geschlechtergleichstellung wurden in vielen Ländern des globalen Südens bis 2015 durchaus bemerkenswerte Verbesserungen erreicht12 – auch wenn sich Armut und Ungleichheit im Gefolge der Corona-Pandemie wieder drastisch verschärft haben. Gleichwohl besteht ein breiter Konsens darüber, dass in zentralen Problemfeldern, im Bereich des Klimawandels, des Bio­ diversitätsverlusts, der Bodendegradation, der Verknappung von Trinkwasser

Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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oder der fortschreitenden Verschmutzung der Meere (z. B. durch Plastik), aber auch im Bereich sozialer Ungleichheiten und der Bedrohung von Freiheitsund Menschenrechten problemverschärfende Entwicklungstrends nahezu ungebrochen fortwirken oder sich weiter beschleunigen. Das nährt in ökologisch und sozial engagierten Kreisen eine vehemente Kritik an der »Nachhaltige(n) Nicht-Nachhaltigkeit«.13 Verschiedentlich wurde deshalb gefordert, das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als gesellschaftliches Leitbild gänzlich aufzugeben, weil es zu sehr mit überholten ökologischen Stabilitätsvorstellungen und mit überkommenen wirtschaftlichen Wachstumskonzepten verknüpft sei; in seiner Konkretisierung als Green Economy schreibe es die »imperiale Lebensweise« des Westens und der globalisierten neuen Mittelklassen darüber hinaus nur in einer neuen, ökologisch modernisierten Form fest.14 Aus ökologischer Perspektive wurde wiederum das Resilienz-Paradigma als realistischere Alternative ins Spiel gebracht. Dieses geht nicht mehr vom Ziel des Erhalts und der nachhaltigen Bewirtschaftung eines bestimmten Ressourcenbestands aus, sondern vom Modell eines flexibel anpassungsfähigen Systems, das sich auf komplexe, ungewisse, nicht-lineare Entwicklungsdynamiken einstellen kann, sich von Tipping Points aber möglichst fernhalten soll.15 Das mag in der Tat ein aus ökologischer Sicht sinnvolles Leitbild sein. Aber es übersieht, dass das globale Leitbild nachhaltiger Entwicklung ein auf ökologische und soziale Problemdimensionen, auf eine umfassende Vision guten, menschenwürdigen Lebens auf der Erde bezogenes Leitbild ist und gerade daraus seine Legitimation gewinnt; Resilienz sagt dagegen nichts über die soziale Verteilung von Lebenschancen aus. Die grundsätzliche Kritik am Konzept nachhaltiger Entwicklung übersieht auch, dass es ein diffuses, für unterschiedliche Interpretationen offenes Leitbild darstellt, das auf seine bislang dominanten Rahmungen nicht fixiert ist. Auf UN-Ebene wird es vielmehr immer expliziter als eine auf die globalen ökologischen, sozialen und politischen Problemlagen bezogene Aktualisierung der Menschenrechte verstanden.16 Inwieweit dieses Konzept für die anstehende beschleunigte sozial-ökologische Transformation moderner Industriegesellschaften noch seine Leitbildfunktion bewahren kann, ist allerdings eine offene Frage. 4. DIE ZUKUNFT DER NACHHALTIGKEIT Was lässt sich aus dieser Entwicklung lernen? Welche generellen Muster zeigen sich in den Verschiebungen der Umweltregime und der in ihrem Rahmen immer wieder neu aufbrechenden Konflikte? Was sind die treibenden Kräfte hinter diesen Transformationen?

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Ökologismus — Analyse

13  Ingolfur Blühdorn u. a., Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet, Bielefeld 2020. 14  Ulrich Brand u. Markus Wissen, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017. 15  Vgl. Melinda Morgan u. Robin K. Craig, The End of Sustainability, in: Society and Natural Resources, Jg. 27(2014), H. 7, S. 777–782; Andreas Folkers, Resilienz als Nomos der Erde, in: Henning Laux u. Anna Henkel (Hg.), Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän, Bielefeld 2017, S. 137–160. 16  So auch Uwe Schneidewind, Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a. M. 2018.

Zunächst zeigt sich, dass ökozentrische Weltbilder ihre Bedeutung durchaus behalten, mit der Verschärfung des Klimawandels und anderer globaler Umweltprobleme vermutlich sogar wieder ein stärkeres Gewicht in den gesellschaftlichen Transformationsdebatten gewinnen. Postwachstums­debatten haben inzwischen die gesellschaftlichen Nischen verlassen. Das suggestive Bild der planetaren Grenzen hat Eingang in das öffentliche Bewusstsein gefunden. Dasselbe gilt allerdings auch für zentrale Argumente der kapitalismuskritischen Transformationsdebatte. Die Kritik an den ungebremsten Dynamiken globaler kapitalistischer Landnahme, an der Ökonomisierung und Finanzialisierung der Natur, an der umfassenden Vermarktlichung des gesellschaftlichen Lebens, an den ökologisch und sozial desaströsen Folgen moderner Lebensstile bei einer gleichzeitig sich immer weiter verschärfenden Kluft zwischen Reich und Arm findet sich heute in allen öffentlichen Fachdebatten, im Qualitätsjournalismus und in politischen Enquete-Berichten. Dass sich beide Argumentationsstränge heute immer mehr verbinden, hat wesentlich mit der Problementwicklung selbst und der Einsicht zu tun, dass technische End-of-Pipe-Lösungen zwar lokale Verschmutzungsprobleme lindern, nicht aber die Ursachen, die treibenden Faktoren wachsender globaler Umweltprobleme beheben können. Diese sind vielmehr eine Folge der derzeit dominanten, fossil basierten kapitalistisch-industriellen Produktions-, Konsum-, Lebens-, Wohn- und Mobilitätsformen und ihrer global-expansiven Dynamiken. Diese naturintensiven Wirtschafts- und Lebensweisen des globalen Nordens sind eng mit kolonialen Hypotheken, globalen Ungleichheiten und Machtverhältnissen verknüpft. Um menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Menschen, im Norden wie im Süden, herstellen zu können, ist es deshalb notwendig, integrative Lösungen für die ökologische und die soziale Problematik gesellschaftlicher Entwicklung zu finden. Das ist die zentrale Botschaft des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung, das Anfang der neunziger Jahre das Paradigma des Umweltschutzes abgelöst hat. Aus ökologischer Perspektive lässt sich diese Entwicklung als ein durch die Problementwicklung selbst getriebenen Prozess der stufenweisen Integration der gesellschaftlich externalisierten Umwelt-Probleme in die Strukturen und Funktionsprinzipien moderner Industriegesellschaften begreifen. Die Umweltproblematik ist damit zur Gesellschaftsproblematik, zu einer gesellschaftlich, national wie international, hoch umstrittenen Frage der wünschenswerten Lebens- und Wirtschaftsformen geworden. Da ist aber nur der eine Teil der Geschichte. Der andere, für die Zukunft der Nachhaltigkeit entscheidendere ist, dass sowohl die Entwicklung der Probleme als auch der Leitbilder und Paradigmen ihrer Bearbeitung aufs Engste Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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mit den historisch jeweils dominanten Gesellschaftsmodellen verknüpft sind. Die Regulierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist nur die Kehrseite gesellschaftlicher Ordnungsmodelle, ihrer technisch-ökonomischen Strukturen, polit-ökonomischen Regulierungsformen und kulturellen Leitbilder. Diese Gesellschaftsmodelle entwickeln sich in langfristigen, mit den Dynamiken des kapitalistischen Weltsystems verbundenen Zyklen und sind ihrerseits in hegemonialen geo-politischen Macht- und Ordnungsstrukturen verankert.17 Sie durchlaufen dabei einen bestimmten Lebenszyklus. Nach der Phase ihrer Durchsetzung und Stabilisierung produzieren ihre internen Entwicklungsdynamiken immer wieder neue Nebenfolgen, Widersprüche, Problemlagen und Konflikte, die sich im Rahmen dieser Gesellschaftsmodelle ab einem bestimmten Punkt nicht mehr bearbeiten lassen, sich vielmehr krisenhaft verdichten und zu umfassenderen Kämpfen um die Neustrukturierung gesellschaftlicher Regulationsmodelle führen. Das gilt auch für die mit ihnen jeweils verknüpften sozial-ökologischen Regime und Umweltparadigmen. Diese Perspektive wirft ein neues Schlaglicht auf die oben skizzierten umweltpolitischen Entwicklungsdynamiken. Die Entstehung des Umweltschutz-Paradigmas in den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist eng mit den Folgeproblemen des fordistischen Gesellschaftsmodells verbunden. Dieses sozialstaatlich regulierte, an der generellen Verbreitung von Wohlstand orientierte Modell kapitalistischer Entwicklung basiert auf industrieller Massenproduktion und Massenkonsum; es ist mit der neuen Welt der Petrochemie und der Kunststoffe, mit Massenmotorisierung, der Technisierung der Haushalte und der flächendeckenden Industrialisierung der Landwirtschaft verbunden. Getragen von dem langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahrzehnte führte seine Entfaltung nicht nur zu einem bisher nicht gekannten Wohlstandsniveau (Konsumgesellschaft), sondern auch zu einem exponentiellen Anstieg von Umweltbelastungen.18 Vor dem Hintergrund gleichzeitig wachsender Ansprüche an die Lebensqualität verschob sich die Aufmerksamkeit so vom Schutz der externen Natur (Naturschutz) auf den Schutz der Menschen vor den selbst produzierten Umweltfolgen wachsenden Wohlstands (Umweltschutz). Ökosystemtheorie und Raumfahrt, der neue Blick auf den blauen Planeten, schufen zugleich eine neue Sensibilität für die prekäre Verknüpfung von menschlichem Leben und natürlichen Lebensbedingungen. Die Umweltproblematik wurde damit in einem ersten Schritt gesellschaftlich internalisiert. Sie wurde zunächst allerdings nur mit den Mitteln des technischen Umweltschutzes bearbeitet. Das Umweltschutz-Paradigma bleibt auf die Output-Seite, auf den Emissionsschutz fokussiert und schafft zugleich

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Ökologismus — Analyse

17  Vgl. Karl-Werner Brand, Disruptive Transformationen. Gesellschaftliche Umbrüche und sozial-ökologische Transformationsdynamiken kapitalistischer Industriegesellschaften – ein zyklisch-struktureller Ansatz, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 28 (2018), H. 3, S. 479–509. 18  Will Steffen u. a., The trajectory of the ­Anthropocene: The Great Acceleration, in: The Anthropocene Review, Jg. 2 (2015), H. 1, S. 81–98.

neue Externalisierungen (Sondermüllexporte). Die Input-Seite der industriellen Produktions- und Lebensweise, aber auch die wachsenden internationalen Ungleichheiten im Umweltverbrauch blieben dabei außer Betracht. Das bot Ansatzpunkte für grundlegendere ökologistische Gesellschafts­k ritik und Gegenentwürfe. Das in den achtziger Jahren entwickelte Leitbild der nachhaltigen Entwicklung reagierte auf diese Defizite des Umweltschutz-Paradigmas. Es integriert die Input-Seite der Problemerzeugung in die Lösungsperspektive. Es thematisiert ökologische Probleme aus einer globalen, intergenerativen Perspektive und verbindet die Umweltproblematik sowohl von ihrer Entstehungsseite wie vonseiten ihrer Bearbeitung systematisch mit sozialen Entwicklungsproblemen, mit dem Ziel der Beseitigung von Armut, Hunger und extremer Ungleichheit. Das zielt auf ein verändertes, umwelt- und sozialverträgliches Wirtschaftsmodell, auf ein nachhaltiges globales Ressourcenmanagement und neue, partizipative Formen der Sustainability Governance.19 Die aus dieser Neurahmung der Umweltproblematik resultierenden gesellschaftlichen Bearbeitungsstrategien erfahren ihre Konkretisierung allerdings im Kontext des seit den achtziger Jahren sich verbreitenden, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks weltweit hegemonial werdenden neuen Regulationsmodells des Neoliberalismus. Diese Rahmenbedingungen prägen die vorherrschenden Verständnisse von Entwicklung, von effizienten Organisationsformen und geeigneten Problemlösungsstrategien. Die Entfesselung globaler Marktdynamiken gilt dabei als Garant für die allgemeine Verbreitung von Wohlstand. Green Growth wird so zum Fixpunkt der institutionellen Umsetzung nachhaltiger Entwicklung in den 1990er und 2000er Jahren. Zugleich wird das Internet zur Grundlage neuer Visionen einer dezentralen Vernetzung der Welt, zum Treiber von Globalisierungsdynamiken und der Ausdifferenzierung von Wertschöpfungsketten. Schwellenländer wie China werden zur neuen Werkstatt der Welt. Eine neue globale Mittelklasse bildet sich heraus. Globale Informations-, Kapital-, Waren- und Menschenströme vervielfältigen sich. Der globale Tourismus boomt. All das erhöht den Energieund Naturverbrauch, die Umweltbelastungen, Abfallmengen und Emissionen drastisch. Globale Umweltprobleme rücken damit immer stärker in den Vordergrund. Die ungebremsten Marktdynamiken verschärfen in gleichem Maße aber auch die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, sowohl auf nationaler wie auf globaler Ebene. So ist es wenig verwunderlich, dass alle Bemühungen um ökologische wie um soziale Nachhaltigkeit nur sehr be19  Neil Adger u. Andrew Jordan (Hg.), Governing Sustain­ ability, Cambridge 2009.

grenzte Erfolge erzielen und generelle Trends der Problemverschärfung nicht zum Stoppen bringen. Sowohl die Fokussierung auf technisch-ökologische

Karl-Werner Brand  —  Nachhaltige Entwicklung oder sozial-ökologische Transformation?

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Modernisierungsstrategien als auch die dominante neoliberale Verantwortungszuschreibung für (nicht-)nachhaltige Entwicklung auf den individuellen Konsumenten20 lässt zentrale Rahmenbedingungen und Treiber nicht-nachhaltiger Entwicklung außer Betracht. Es sind diese Defizite der neoliberalen Rahmung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung, an der die verschiedenen Bewegungen und Kritikstränge der sozial-ökologischen Transformationsdebatte ansetzen. Die Zukunft dieses Leitbilds ist insofern Teil der aktuellen Auseinandersetzungen um die Gestaltung neuer, post-neoliberaler Gesellschaftsmodelle. Diese müssen nicht nur für den digitalen Umbruch von Wirtschaft und Gesellschaft und eine soziale Wiedereinbettung der entfesselten Dynamiken des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus einen adäquaten Rahmen bieten, sondern auch für die beschleunigte Dekarbonisierung moderner Industriegesellschaften. Welche Regulationsmodelle dafür am besten geeignet erscheinen, ist zentraler Gegenstand der gesellschaftlichen Kämpfe der kommenden Jahre. Diese Auseinandersetzungen erhalten eine besondere Brisanz durch ihre Verknüpfung mit dem Ende der westlichen Hegemonie und dem globalen Aufleben neuer Hegemonialkonflikte. Diese Umbrüche haben auch nationalistisch orientierten, rechtspopulistischen Bewegungen und Regimen weltweit Auftrieb verliehen. Ob – und in welchen veränderten, im globalen Norden und Süden evtl. auch unterschiedlich konkretisierten Formen – das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in diesen Auseinandersetzungen seine Gestaltungskraft als Leitbild beschleunigter sozial-ökologischer Transformationsprozesse bewahren kann oder ob es anderer, mobilisierungsfähigerer Leitbilder bedarf, wird sich zeigen.

Prof. Dr. Karl-Werner Brand, geb. 1944, Prof. (i. R.) für Soziologie an der TU München. Arbeitsschwerpunkte: Umweltsoziologie, sozial- und politikwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung, historischer und internationaler Vergleich sozial-ökologischer Transformationen. Jüngste Buchveröffentlichung: Die sozialökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch, Frankfurt 2017.

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Ökologismus — Analyse

20  Anna Henkel u. a. (Hg.), Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung, Bielefeld 2018.

WELCHE BILDER FÜR WELCHE WELT? ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN IN ZEITEN DES KLIMAWANDELS ZWISCHEN KOLLAPS, TECHNO FIX UND TRANSFORMATION Ξ  Birgit Schneider

Wie können Bilder dazu beitragen, den gesellschaftlichen Wandel in Zeiten ökologischer Krisen zu gestalten? Wie können sie dabei helfen, Visionen für eine CO2-neutrale Gesellschaft zu entwickeln und die Vorstellungskraft zu inspirieren? Inwiefern können Bilder zu einer antreibenden Kraft werden, Wissen vermitteln und eine Brücke vom Wissen zum Handeln schlagen? »Wir wollen ein fossilfreies Leben innerhalb einer Generation ermöglichen.« So lautet der Text auf einer Serie von Werbetafeln der Firma Vattenfall an einem der meistbefahrenen U-Bahn-Gleise einer deutschen Großstadt. Die Bebilderung der Kampagne zeigt junge Menschen an einem deutschen Strand, grüne Energiewendelandschaften. Ein Energieunternehmen wirbt damit, sich selbst auf dem Weg in eine fossilfreie Zukunft neu zu erfinden. Wieso ersinnen dessen Werbestrategen eine Zukunftskampagne für ein fossilfreies Deutschland, als würden sie das Bundes-Klimaschutzgesetz bewerben, in dem genau diese Ziellinie als Gesetz formuliert ist? Zunächst lässt sich feststellen, dass es bei der Festlegung der Klimaziele in den meisten gesellschaftlichen Gruppen inzwischen keine grundlegenden Dissonanzen mehr gibt. Was Fridays for Future fordern, klingt ebenfalls nicht überzogen: Sie möchten eine Welt, die weiterhin vielfältig und gesund ist, in der es Naturräume gibt, Extremwetterereignisse niemanden vertreiben und das Prinzip der Generationengerechtigkeit gilt. Das deutsche Bundes-Klimaschutzgesetz wiederum normiert die Klimaziele, wie sie im Pariser Abkommen beschlossen wurden, gesetzlich, damit diese Zukunft ermöglicht wird. Bis 2030 sollen die deutschen Treibhausgasemissionen um mehr als die Hälfte verringert werden – im Vergleich zum Jahr 1990. CO2-neutral soll das Land bis 2045 werden. Die Einsparungen werden für die verschiedenen Sektoren festgelegt. Was 2030 und 2045 sein soll, das Ziel der Kur, ist also definiert. Allein, das Ziel steht im Weg, oder genauer: Wer sagt denn, dass der Weg vom Ziel zum Handeln nicht weiterhin ebenso neblig ist wie der Weg vom Wissen zum

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Handeln? Welche Maßnahmen garantieren zukünftig, dass die Ziele erreicht werden? Für einen Kurplan ist die Umsetzung der Maßnahmen recht vage: Die Politik setzt auf CO2-Bepreisung und möchte das Energiegeld sozial verträglich gestalten. Der Ausstieg aus Kohle und Kernkraft ist beschlossen. Wie aber soll der Energiebedarf zukünftig gedeckt werden? Zwischen einem numerischen Ziel wie den 55 Prozent CO2-Einsparungen in den kommenden acht Jahren und der politischen Frage, wie eine Gesellschaft dorthin kommt, stehen nach wie vor viele Fragezeichen. Es sind die anvisierten Wege zum Ziel, die die verschiedenen politischen Gruppierungen trennen. Dies erinnert an eine Bergwanderung, bei der über den besten Weg zum Gipfel gestritten wird: Soll man den steilen Weg wagen, wozu man eine ganz neue Ausrüstung braucht? Oder lieber den Weg entlang der sich langsam bergan windenden Serpentinen wählen, bei dem die Höhenmeter nicht ganz so spürbar sind? Wird der Weg unter besonderer Rücksicht der sozialen, der ökologischen oder der ökonomischen Aspekte gewählt? Kann das Ziel überhaupt mit einem Kompromiss dieser drei Bereiche erreicht werden? Bei welchem Weg wird die Welt, wie sie Fridays for Future zum Maßstab nehmen, Wirklichkeit bleiben? Im Folgenden werde ich, aufbauend auf meinen Forschungen zu Bildern des Klimawandels in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, einige Aspekte dessen benennen, was Bilder im Bereich von Klimawandel und Zukunftsvorstellungen bewirken können und was nicht. ENGE BILDWELTEN DER GLOBALEN ERWÄRMUNG Zunächst gilt es zu konstatieren, dass die Bildwelten des Klimawandels, wenn man journalistische Medien der letzten dreißig Jahre heranzieht, recht standardisiert erscheinen. Sie lassen sich grob in sieben Typen einteilen. Die Bilderwahl ist der Aufmerksamkeitslogik des Journalismus und insbesondere den Entscheidungen der unter Zeitdruck arbeitenden Bildredaktionen unterworfen, welche Ereignisse möglichst spektakulär, eingängig oder emotional vermitteln möchten. Unter den Bildern von Klimawandelfolgen und -vorboten (1) dominieren Motive wie vertrocknete Böden, Überschwemmungen und Sturmschäden, Waldbrände, schmelzende Gletscher und Pole. Die Ursachenbilder (2) zeigen in der Regel Schlote von Braunkohlekraftwerken oder Fabriken, stark befahrene Autobahnen und Kreuzfahrtschiffe. Wenn auf den Bildern zu den Folgen des Klimawandels Menschen abgebildet sind, dann eher »Opfer« aus dem globalen Süden (3). Porträts von Akteuren (4) zeigen meist Politiker*innen auf Konferenzen. Erst 2018 traten Bilder von Klimaaktivist*innen und Protesten hinzu (5). Als symbolische und metaphorische

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Ökologismus — Analyse

Bilder (6) dienen Eisbären oder brennende Weltkugeln. Lösungen werden in Energiewendelandschaften verbildlicht (7). Insgesamt sind Fotografien, wie es für den Journalismus ebenfalls üblich ist, vorherrschend, obwohl es noch unzählige andere Bildformen gibt. DIE TRAGISCHE KLIMAX DER KURVEN Mit den Bildern verknüpft sich ein ums andere Mal eine Erzählung, die seit der griechischen Poetik Tragödie heißt. Der Sündenfall einer CO2-intensiven Lebensweise verursacht verheerende Katastrophen, die wie biblische Plagen erscheinen. Die Katharsis erfolgt in technischen Antworten, die den Untergang der Helden aufhalten sollen. Diese Erzählung können wir auch in den Kurven des Klimawandels finden: Die Handlung folgt einer ansteigenden Kurve, die nach der erwünschten Klimax (der Gegenwart) rapide abfällt. Der Heldenmoment der Umkehr in dieser Tragödie wird bei jeder Klimakonferenz neu gesetzt und besteht im immer neuen Versprechen, dass nun (beim nächsten Klimagipfel, dem COP1 1995, COP2 1996, …, COPx 20xx) der Weg in Richtung Umkehr eingeschlagen werde. Indes, die CO2-Kurven flachen nicht ab, der Scheitelpunkt bewegt sich Jahr für Jahr weiter in die Zukunft. Die Storyline ist so klar wie der Gang der Kurven, auch das Ziel – Bruch mit der Aufwärtstendenz – ist unstrittig. Um die Maßnahmen jedoch, wie dieses Ziel erreicht werden soll, wird heftig gestritten. Betrachten wir die Bilder, mit denen mögliche Klimazukünfte dargestellt werden. Dies sind vor allem rot schattierte Weltkarten und Kurven. Die Kurven der Forschung vergegenwärtigen uns das Business-as-usual-Szenario als rot ansteigende Kurve in eine Vier-bis-Fünf-Grad-Welt. Das Best-CaseSzenario, bei dem die Kurve langsam abflacht, ist blau; sie wäre der Weg in die politisch vereinbarte 1,5-Grad-Welt. Das rote Szenario strebt niemand an und trotzdem folgt unser gemeinsames Schiff dem Kurs genau dieser Linie seit Jahren weiter. Obwohl jedes Kind weiß: Je später ich einen Umweg korrigiere, desto später gelange ich ans Ziel. Oder die Ziele lassen sich gar nicht mehr erreichen. Welche Vorstellungen von Zukunft, vom Gang der Welt und der Menschenheit verknüpfen sich mit derartigen Kurven kulturell, wenn sie den wissenschaftlichen Kontext verlassen? Mit kulturwissenschaftlichem Blick würde ich sagen, dass die Vorstellungen nicht beliebig sind. Wie bei den farbigen Klecksen eines Rorschachtests, in die wir Bilder hineinsehen, die bereits in uns vorhanden sind, setzen auch die Klimakarten und -kurven in den Köpfen der Rezipient*innen bestimmte Bilder frei, aller Abstraktion zum Trotz. Bilder aus dem kulturellen Gedächtnis schießen ein, lagern sich in Schichten über Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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die Bilder der roten, ansteigenden Karten und Kurven. Für viele sind es die Bilder der biblischen Apokalypse, einer höllischen Heißzeit oder einer Welt ohne Menschen, welche die roten Kurven und Weltkarten evozieren, also die kulturell gelernten Mythen, denen auch Nicht-Bibelkundige in zahlreichen Erzählungen und Katastrophenfilmen begegnen. So ist es in den letzten Jahren zu einer Überlagerung der eigenen Wahrnehmungen mit den Interpretationen des Wetters durch die Wissenschaften gekommen. Laut Ralf Konersmann hat das »statistische Gitterwerk der Diagramme und Zeichen […] alle übrigen Wahrnehmungen des Klimas und mit ihnen die metaphysischen, mythologischen, symbolischen und ästhetischen Deutungstraditionen verbannt«1. Ich würde ergänzen, dass auch Dokumentarfilme wie etwa An Inconvenient Truth (2006), Hollywoodproduktionen von The World After Tomorrow (2004) bis Snowpiercer sowie Computerspiele mit eingebautem Klimakollaps die eigenen Wahrnehmungen des Wetters in ihrer Überwältigungsästhetik mit einfärben. DIE BESCHRÄNKTE GESCHICHTE DER ZUKUNFT An dieser Stelle gilt es sich zu vergegenwärtigen, wie sich Menschen überhaupt Zukünfte vorstellen können, von welchen Bildern und Geschichten hier überhaupt Inspiration zu erwarten ist. Zukunftsvorstellungen sind nämlich

1  Ralf Konersmann: Unbehagen der Natur. Veränderungen des Klimas und der Klimasemantik, in: Petra Lutz, Thomas Macho (Hrsg.): 2 °. Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, S. 32–73, hier S. 32.

immer bereits von der Geschichte und von kulturell tief eingegossenen Weltsichten und Mythen geprägt – die Moderne etwa vom Glauben an Wachstum, Fortschritt und individuelle Freiheit. Die Geschichte der Zukunft hat gezeigt:2 Etwas komplett Neues lässt sich gar nicht denken, da die Zukunft immer aus Erfahrungen und Erzählungen der Vergangenheit gestaltet wird. Dies klingt für alle Visionssuchenden zunächst nach einer schlechten Nachricht, wenn es doch in Anbetracht ökologischer Krisen darum geht, etwas neu zu denken, und sie dann damit konfrontiert sind, dass immer wieder das Alte das Neue prägt und begrenzt. Umso wichtiger ist es, die Kräfte aus der Vergangenheit zu erkennen, welche die heutigen Zukunftsvorstellungen fest im Griff haben. Hinzu kommt, dass sich Menschen generell schwertun, sich weit entfernte Ereignisse – und sei es nur den eigenen Renteneintritt – vorzustellen. Wer sich also damit befasst, woher unsere Zukunftserzählungen und -bilder kommen, kann diese kritisch hinterfragen und auf diese Weise veraltete und unangemessene Vorstellungen aufbrechen. DIE DREI ZUKÜNFTE DER MODERNEN Ich möchte diesen Gedanken mit einem Cartoon von Robert Crumb weiterführen, der mich bereits seit langem im Nachdenken über diese Fragen

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2  Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. Dass Zukunftsvorstellungen eine Geschichte haben, machte der Historiker Reinhart Koselleck in seinem 1979 erschienenen Buch »Vergangene Zukunft« erstmals zu einem breiten Forschungsthema. In diesem Rahmen betrachtete der Historiker die Zukunftsvorstellungen vergangener Gesellschaften in Europa. Koselleck analysierte, wie sich Begriffe und Vorstellungen von Zukunft sowie Hoffnungen und Ängste vor der Zukunft vom 16. Jahrhundert bis zur französischen Revolution entwickelten. In der historischen Betrachtung wird deutlich, wie stark sich jeweils verändert hat, was und wie über Zukunft gedacht wird – aber auch, wie die Vorstellungen von Zukunft seit dem 18. Jahrhundert eine zunehmend konkrete und auf das Diesseits ausgerichtete Bedeutung erhielten.

Abb. 1: Robert Crumb, A Short History of America, 1979/1980. Zukunft als ökologische Krise, als Techno Fix oder Ökotopie. © Robert Crumb, 1979, used by permission from Agence Littéraire Lora Fountain & Associates.

begleitet. Im Jahr 1979 erschien im US-amerikanischen Magazin Co-Evolutionary Quarterly ein zweiseitiger Comicstrip mit dem Titel »A Short History of America« (Abb. 1).3 Auf nur zwölf Bildfelder komprimierte Crumb kommentarlos die Veränderung Nordamerikas seit der Ankunft der Europäer bis in die Gegenwart der 1970er Jahre. Die Bilderzählung beginnt mit dem Blick auf ein vermeintlich unberührtes Stück Natur aus Wald und Wiesen, das in den darauffolgenden Panels sukzessive in eine technische Infrastruktur um3  Das Magazin war der Nachfolger vom Whole Earth Catalogue und wurde ebenfalls von Stewart Brand herausgegeben. Es erschien von 1974 bis 1985.

gewandelt wird, in der rauchende Züge, Landstraßen, Straßenbahnen, Oldtimer und schließlich die Cadillacs der 70er Jahre das Bild bestimmen. Der letzte Baum verschwindet im neunten Panel zugunsten von neuen Straßenlaternen, Ampeln, Telefondrähten und Werbeschildern. Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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Zwei Jahre nach dem ersten Erscheinen kolorierte Crumb den Comic und fügte seiner Erzählung die drei untersten Bildfelder hinzu. Diese sind hier von besonderem Interesse, da sie drei prototypische Zukunftsvisionen der Modernen besonders eindringlich veranschaulichen. Die erste Version trägt den Titel »Worst case scenario, ecological disaster« (Worst-case-Szenario, ökologische Katastrophe). Sie knüpft am deutlichsten an die vorherigen Panels an. Die Straßenkreuzung ist nach einer ökologischen Katastrophe zu sehen. Die Geschichte des modernen Lebensstils ist an ihr Ende gekommen – der Himmel ist gelb, die Zivilisation liegt in Ruinen und es scheint kein Leben mehr zu geben. Die zweite Vision heißt »The fun future: Techno-Fix on the march« (Die Spaß-Zukunft: Die Tech-Lösung greift um sich). Bunte Autos fliegen am blauen Himmel über geschwungene futuristische Häuser, die in sauber geplanten Vorgärten stehen. Der werkende Mensch, der Homo Faber, hat alles im Griff. Die dritte Version zeigt »The ecotopian solution« (Die ökotopische Lösung). Die Bewohner*innen dieser Zukunft verzichten auf alle strom- und spritbetriebenen Geräte. Sie leben in einer intensiven Verbindung mit dem Wald, der in seinem üppigen Wildwuchs an die Wälder vor der Invasion der Europäer*innen erinnert – die Prinzipien von Evolution und Wachstum haben sich in dieser Zukunft ins Phantasma des biologischen Wachstums einer bunten Urzeitkommune verkehrt. Crumbs Alternativen möglicher Zukünfte setzen die drei maßgeblichen Zukunftsvorstellungen wie drei legitimierte »Meistererzählungen« (Jean-François Lyotard) prägnant ins Bild. Sie zeigen holzschnittartig die drei logischen Ableitungen aus der Geschichte der Moderne und ihres wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Die prophezeiten Zukunftsbilder, die dieser Geschichte entwachsen, sind entweder katastrophaler Kollaps aufgrund weltzerstörender Technik, bunter Technikoptimismus oder aber das Prinzip von Schrumpfung und der Umkehr des Fortschritts. Alle drei Visionen erscheinen plausibel und haben ihre Anhänger*innen. Wer welcher Ansicht anhängt, lässt sich eventuell mit einem Schema der Kulturtheorie fassen, das unterscheidet, wie verschieden Menschen über »die Natur« auch innerhalb ein und desselben Kulturkreises denken und wie sich dies auf die eigene Risikowahrnehmung auswirkt. Manche glauben an eine gutmütige Natur, andere an eine duldsame, wieder andere gehen davon aus, dass die Natur ohnehin unberechenbar sei, oder sehen sie als fragil und zerbrechlich an.4 Naturschützer*innen werden eher von einer zerbrechlichen Natur ausgehen, während Technikoptimist*innen typischerweise die Natur als duldsam, gutmütig oder unberechenbar ansehen.

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Ökologismus — Analyse

4  Die Kulturtheorie hat diese Vorannahmen mit dem »Grid-group«-Schema untersucht und die Risikowahrnehmungen in fatalistisch, hierarchisch, individualistisch und egalitär unterschieden, die jeweils zu anderen Einstellungen gegenüber der Natur und der Zukunft führen. Diese Unterscheidungen gehen auf Mary Douglas und Aaron Wildavsky zurück. Vgl. dies., Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technical and Environmental Dangers, Berkeley 1983. Mike Hulme hat dieses Schema auf die Wahrnehmung von Risiko und Klimawandel angewendet, vgl. ders., Why we disagree about climate change, Cambridge 2009, S. 186. Ein Fatalist wird eher denken, dass er selbst nichts ausrichten kann und Spielball ist, während eine hierarchische oder individualistische Haltung nahelegt, den Problemen mit technischen Lösungen zu begegnen, um die eigenen Errungenschaften zu schützen; egalitäre Einstellungen stellen die ökologischen Gefährdungen in den Vordergrund und verlangen politische Konsequenzen. Dass die Deutungshoheit in diesen Fragen auf mehreren Ebenen stark umkämpft und ideologisch geprägt ist, hängt mit diesen unterschiedlichen Blickwinkeln zusammen.

Ich würde behaupten, dass sich auch die meisten der heutigen, vierzig Jahre später angestellten Zukunftsimaginationen einer Welt im Klimawandel immer noch innerhalb der Typologie der drei schemenhaften Visionen, wie Crumb sie zeichnete, entfalten. Eine lebendige Zukunftsvision außerhalb dieser drei Visionen scheint es bislang nicht zu geben. Und dies, obwohl gegenwärtig eine neue Vision der großen Transformation beschworen wird, die gerade in Deutschland eine wichtige Rolle spielt. Diese wird von Crumbs drei Typen gar nicht wirklich abgedeckt. Deshalb werde ich im Folgenden auf die kritischen Anteile der drei Zukunftsvorstellungen weiter eingehen. Doch würde ich auch hinzufügen, dass die Szenarien kein Entweder-oder sind, wie es die Logik der Bildfelder bei Crumb nahegelegt. Sie sind keine Optionen, bei denen man beim plausibelsten Bild oder der Wunschzukunft sein Kreuzchen machen könnte. Stattdessen bestehen alle drei Zukünfte bereits im Heute, wo kleine Kommunen und Selbstversorgerbetriebe, Energielandschaften und Smart Cities sowie verwüstete Regionen und ruinierte Landschaften nebeneinander existieren, sodass eine konkrete Ahnung auf die weitere Entfaltung der Zukunft bereits zu erlangen ist. WELTUNTERGANG Es sind die Katastrophenszenarien, die seit langem die meisten und auch die am stärksten beeindruckenden Bilder liefern. Für eine Welt im Klimawandel (Crumbs Katastrophe ist wohl eher die Welt nach einem Atomschlag) sind dies die Bilder bereits eingetretener Klimawandelfolgen, von verheerenden Waldbränden, Überflutungen und Dürren. Die Erkenntnis des Klimawandels sowie diese Vorboten einer drastisch voranschreitenden Erderwärmung verbinden sich wie ein Vorstellungszwang mit der kraftvollen, doch gleichzeitig höchst problematischen Erzählung der Apokalypse, wie sie die großen Religionen westlicher Gesellschaften teilen. Zu einer solchen bildgewaltigapokalyptischen Erzählung, wie sie etwa in der Offenbarung des Johannes auftaucht, gehört die Idee von Strafen durch naturgewaltige Plagen in Form von Stürmen und Überschwemmungen sowie einer Pest. Der Mythos ist bis heute prägend. Hollywoodproduktionen staffieren ihn immer wieder überbordend aus. Das Charakteristikum der Erzählung seit der Offenbarung des Johannes ist: Sie überwältigt uns emotional, indem sie an unsere Ängste appelliert. Sie hat in dieser Hinsicht propagandistische Anteile. Denn sie wirft uns in ein Wechselbad der Gefühle aus Hoffnung und Angst, aus dessen Strudel man nur schwer wieder herauskommt. Wobei mit dieser Kritik nicht der Ernst der derzeitigen ökologischen Krisen negiert werden kann. Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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Die Kritik am Weltuntergangsnarrativ als einer problematischen Rahmung, die politischem Handeln im Wege steht, wird seit vielen Jahren geäußert. Der Psychologe Per Espen Stokness etwa hat die unterschiedlichen Barrieren der Klimawandelwahrnehmung untersucht, die dem Weg vom Wissen zum Handeln im Weg stehen.5 Ein zentrales Hindernis sieht er in der Omnipräsenz der apokalyptischen Einordnung der Erderwärmung. Neben der Distanz und der Abstraktion ist es das Weltuntergangsnarrativ, das zu einem Gefühl des Unheimlichen und der Machtlosigkeit führe oder gar zum Leugnen als einem Ausweg aus Angst und Schuld. Ich würde jedoch noch weitergehen und hinzufügen, dass in Erzählungen im Schema der Apokalypse der Konflikt auf verschiedene Dualismen und eine übergeordnete Moral heruntergebrochen wird, die ebenso wenig hilfreich sind: Im Mythos kämpfen das Gute gegen das Böse, die Ordnung gegen das Chaos, der Himmel gegen die Erde, Gott gegen den Teufel. Die Idee eines falschen Lebensstils und einer radikalen Umkehr sowie die Zuweisung massiver Schuld an der totalen Zerstörung durchtränken konsequenterweise das Bild der Zukunft als Apokalypse. Für komplexere Problemzusammenhänge oder für die stummen, lokalen Natur-Ruinen, die ganz ohne das Spektakel der Apokalypse bereits heute immer größere Regionen prägen, ist in dieser totalen Erzählung des Weltuntergangs kein Platz. TECHNO FIX Die Zukunft als Techno Fix wiederum leitet sich nahtlos aus der modernen Idee einer Welt ab, die durch den Menschen kontrolliert wird und mit technischen Innovationen im Sinne des Fortschrittsimperativs stetig verbessert werden kann. Dieses Narrativ denkt technische Entwicklung als »evolutionär«, indem diese quasi »natürlich« auf neue Problemstellungen reagiert. Der Techno Fix ist die angenehmste Erzählung für die Modernen, denn er ist gleichermaßen das plausibelste und das wünschenswerteste der drei Szenarien, weil es das Bekannte fortschreibt. Das Narrativ erscheint »natürlich«. Ausgehend von Crumbs bunter Zukunft aus den 1970er Jahren lässt sich das Techno-Fix-Szenario heute weiter auszudifferenzieren. Gegenwärtig werden der Technik für die Zukunft nämlich verschiedene Rollen zugeschrieben, die es genauer zu fassen gilt. Nicht alle, die der Techno-Fix-Lösung anhängen, streben das gleiche an. So gibt es unterschiedliche Typen von Techno Fix, die vom alleinigen Verfolgen der Energiewende bis zu den großskaligen und gezielten Eingriffen in die Atmosphäre durch Geo-Engineering reichen. Wobei das Geo-Engineering als »Rettungsanker« für eine Welt präsentiert wird, die es nicht geschafft hat, die Erderwärmung einzudämmen.

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Ökologismus — Analyse

5  Per Espen Stokness, What We Think About Global Warming When We Try Not To Think About It, White River Junction, Vermont 2015.

Abb. 2: Verschiedene Ideen zur großskaligen Beeinflussung des Klimas durch Geoengineering, wie sie entwickelt werden. © Kiel Earth Institute, Rita Erven, 2011

Ein aktuelles Beispiel für den großskaligen Techno Fix sind Negative-Emissionen-Technologien, also Techniken, die das jährlich ansteigende CO2 aus der Luft ziehen und in den Boden verpressen. Für diese Art des Techno Fix stehen Gallionsfiguren wie Elon Musk, der einen mit hundert Millionen Dollar dotierten Preis für eine solche Technik auslobte, oder Bill Gates. Beide treiben die Entwicklung von Negative-Emissionen-Technologien unternehmerisch voran. Auf der Seite dieses Techno Fix steht der feste Glaube, dass sich das Problem nicht anders lösen und der gesellschaftliche Wandel sich auf die Maschinen und eine vermeintlich »natürliche« Eigenlogik des Marktes übertragen lasse. Die technische Innovation fungiert hier als weiteres Startup. Bevor wir unseren Energieverbrauch im Heute verändern, so die Idee, finanzieren wir lieber Forschung, um in Zukunft ganz neue technische Lösungen für Probleme von heute zu haben. Die Probleme von heute werden auf diese Weise jedoch in die Zukunft verschoben. In die blauen Kurven einer CO2neutralen Welt sind die noch gar nicht vorhandenen Techniken bereits mit eingerechnet, da aufgrund der fehlenden Handlungen in der Vergangenheit das 1,5-Grad-Ziel sonst gar nicht mehr erreicht werden könnte. Der Klimawandel wird in dieser Vorstellung zu einem weiteren Geschäft, sodass gleich Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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zweimal verdient werden kann: am Erhalt der bestehenden Infrastrukturen inklusive des CO2-intensiven Lebensstils einerseits und an der Lösung der dadurch verursachten Klimaprobleme andererseits. Einer ähnlichen Logik folgen die Szenarien weiterer Varianten des GeoEngineerings, die derzeit entwickelt werden, um Eingriffe ins Klimasystem der Erde zu ermöglichen (Abb. 2). Die Fun Future, die die Zukunft im Modus des technischen Fortschritts entwirft und das Bild einer technisch zunehmend durchmöblierten Landschaft zeigt, wird auch für die Energiewende ausformuliert (Abb. 3). In dieser bunten Spielzeuglandschaft gibt es weiterhin Autos und Einfamilienhäuser auf dem Land, wobei die Landwirtschaft durch eine Energiewirtschaft ergänzt wird. In dieser – in Deutschland dominanten – Vision setzt man bekanntermaßen darauf, CO2-intensive Technologien durch CO2-neutrale Techniken wie Windkraft, Elektromotoren, Solarenergie oder Bio-Treibstoff restlos zu ersetzen, unter der Annahme, dass sich die Biosphäre und die Technosphäre großflächig verbinden.

Abb. 3: Bunte Welt der »Smart Energy made in Germany«. Erkenntnisse zum Aufbau und zur Nutzung intelligenter Energiesysteme im Rahmen der Energiewende, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2014. Quelle: BMWi 2014.

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In den Techno-Fix-Leitbildern soll die Erderwärmung durch die Logik der freien Märkte und durch politische Anreizsysteme gelöst werden. Natur wird kapitalisiert, die Ökonomie zu einer »grünen Ökonomie«. Statt Earth first oder Eco-Justice first gilt Economy first. Im günstigsten Fall geht das Leben nicht nur weiter wie bisher, sondern es wird noch besser und im Übrigen smarter, denn die Idee der Smart City, mit ihrem immer weiter steigenden Ressourcenverbrauch, wird ebenfalls als ökologische Idee vermarktet. Der Homo Faber hat weiterhin alles im Griff, die Technik und der freie Markt der Fortschrittsgesellschaften sind die Lösung. Widersinnigerweise sind Einsparungen oder gesellschaftlicher Wandel in der Regel nicht Teil dieser Visionen, auch wenn sich die Dissonanzen in dieser Erzählung bereits deutlich abzeichnen, wie z. B. die Knappheit und der Ressourcenkampf um seltene Erden, die Rebound-Effekte, wenn die Effizienz­ gewinne zu steigendem Verbrauch führen, der exzessive Verbrauch von flächenintensivem Bio-Treibstoff oder der steigende Ressourcen- und Energieverbrauch der zunehmenden Digitalisierung. ÖKOTOPIE Die dritte Zukunft, wie sie der Comic zeigt, muss ebenfalls für ihre Ambivalenz kritisiert werden. Auf den ersten Blick mag sie wie die Rückkehr in den Paradieszustand erscheinen. Das schlechte und anonyme Leben in der Stadt und die gekappte Verbindung zur Natur sind überwunden. Die Sünden der Zivilisation machen dem richtigen Leben wieder Platz. Die Menschen leben »im Einklang« mit der Natur, sie sind wieder mit dem Boden verwurzelt, der sie ernährt. Sie leben in einer dörflichen, vorindustriellen Gemeinschaft. Diese Vision ist der radikalste Ausstieg aus der gegenwärtigen Gesellschaft, zumindest bedeutet sie den größten Wandel in der Lebensweise der meisten. Und doch erscheint sie auf den ersten Blick wie die Heilung des großen Konflikts, vielleicht gerade, weil der Horizont, auf den hin diese Vision entwickelt ist, rückwärtsgewandt ist. Denn aus der Logik der Fortschrittsgesellschaften erscheint diese Vision nicht plausibel, nicht wünschenswert oder gar reaktionär. Der Entwurf steht dem Lebenswandel der Industriegesellschaften entgegen. Wohl deshalb sind derartige Vorstellungen bis heute eine Nischen-Utopie geblieben, die nur von wenigen so gelebt wird. Wegen der Rückwärtsgewandtheit und der großen Veränderungen, die dieser Entwurf verlangt, werden sich hinter dieser Vision nur wenige freiwillig versammeln. Ich möchte trotz meiner eigenen Sympathie gegenüber derartigen Lebensweisen auf eine weitere Ambivalenz aufmerksam machen, die mit diesen Vorstellungen implizit oder explizit verbunden ist. Die Sehnsucht nach Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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der Wiederherstellung einer Naturverbindung geht mit dem Idee einer natürlichen Verwurzelung von Menschen mit ihrer Umwelt einher. Ausgehend vom Earth-First-Gedanken lässt sich politisch entweder in einen Ökoanarchismus einbiegen, welcher kommunistischen Vorbildern folgt. Oder aber in die braune Ökologie. Beide Varianten folgen jeweils unterschiedlichen Ideen von Gesellschaft. Die rechte Ökologie verbindet die Naturverbundenheit seit über hundert Jahren mit der Idee von Heimatschutz im Sinne der organischen (Rück-)Verwurzelung in eine »eingeborene« Heimat, ihr Leitbild ist der Biologismus. Gesellschaftliche Vielfalt und Migrationen widersprechen dieser Idee. Das Vorbild der kalifornischen Ökotopie des Romans »Ecotopia« von Ernest Callenbach (1975) etwa, das Crumb vielleicht bei seinem Bild im Kopf hatte, schillerte hier bereits in beide Richtungen. Auch grüne Urzeitkommunen können deshalb nur ein brüchiges Vorbild für neue Visionen sein, auch wenn dieses Zukunftsmodell, anders als der Techno Fix, das einzige ist, das die Menschen nicht mehr als Autofahrer*innen ins Bild setzt. MISCHUNGEN AUS TECHNISCHER ÖKOTOPIE UND WALDSTADT Wenn man gegenwärtige Entwürfe betrachtet, die Stadt neu zu denken, lässt sich seit einigen Jahren eine zunehmende Verquickung von Fun Future und Ökotopie beobachten, in die, anders als bei der Waldkommune, Stadtplaner*innen heute große Hoffnungen setzen. Eine Mischung aus Techno Fix und Waldleben findet sich zum Beispiel in den auffällig vielen, aktuellen Architekturvisionen, die Pflanzen und Häuser zu einer Dritten Natur verbinden. Ganz ähnliche Zukunftsvorstellungen finden sich in der Vereinigung technologischer Lösungen und urbaner Landwirtschaft als einer neuen Landschafts- und Stadtplanung. Die visionären Entwürfe von Architekten wie Vincent Callebaut, der realisierte »Bosco Verticale« von Stefano Boeri sowie der Stadtpark »Trees by the Bay« in Singapur (Abb. 4) verkörpern den Traum eines gesunden Zusammenwachsens von Bäumen mit Häusern und technischen Strukturen. Sie verraten die immer noch wirksame Sehnsucht einer Heilung des Bruches von Natur und Zivilisation, von Stadt und Wald – den Traum von der Möglichkeit eines symmetrischen Verhältnisses zwischen diesen beiden Sphären. Ich würde behaupten, Architektur, Natur und Menschen finden auch in diesen CAD-Glossy-Visionen einer Smart City, die das Bewusstsein um die Empfindsamkeit der Umwelt mit allwissender Technik verbindet, nicht in der gebotenen Weise zusammen. Stattdessen erscheinen sie als eine weitere Form des ikonischen Bauens und des Stadtmarketings, das eine Lösung der Probleme nur symbolisch angeht.

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Abb. 4: Verbindung von Natur, Architektur und Smart Technologies. »Supertree Grove« im »Garden by the Bay« in Singapur. Foto: www.designsigh.com.

DIE ZUKUNFT DER TRANSFORMATION Das Buch von Maja Göpel, inzwischen in der 15. Auflage und lange auf der Bestsellerliste des Spiegel, trägt den Titel »Unsere Welt neu denken.« Das Buch lädt die Leser*innen dazu ein, ihre kulturell erlernten, auf den alten Erzählungen eines endlosen Wachstums und ungebremsten technischen Fortschritts sowie dem Menschenbild eines homo oeconomicus gründenden Vorstellungen zu überwinden. Es tut dies, indem es zeigt, wieso diese Leitbilder in der Frage der ökologischen Krise nicht weiterführen. Was Göpel als Mythen entlarvt, sind die Fundamente unserer modernen Vorstellungswelten, aus denen auch die drei recht engen Zukünfte von Robert Crumb abgeleitet sind. Dass ihr Buch von so vielen gelesen wird, zeigt, wie groß der Wunsch nach neuen Gedanken ist. Dabei zeigt das Buch gar nicht auf, wie der Weg in eine klimagerechte und CO2-neutrale Welt genau gelingen könnte, sondern bloß, wie brüchig die Fundamente sind, auf denen wir stehen, und wie sehr es nötig ist, »einen Blick auf die Box zu gewinnen« oder »sogar etwas an der Box selbst zu verändern«.6 In diesem Sinne frage ich: Wenn wir die mythischen Barrieren hinter uns lassen und unsere nicht-zukunftsfähigen Vorstellungen gezielt »verlernen«, können wir auf dieser Basis dann »die Welt neu denken«? Wo finden sich 6  Maja Göpel, Unsere Welt neu denken, Berlin 2020, S. 182.

heute plastische Narrative und Bilder für eine Ökotopie der Transformationsgesellschaft und des Postwachstums? Oder schlittern wir in alter Gewohnheit Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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immer wieder in das Narrativ eines Techno Fix, bei dem darauf vertraut wird, dass die dynamisierten Märkte im Sinne von Angebot und Nachfrage die CO2-Problematik in den kommenden acht Jahren auf den Lösungspfad bringen? Und wenn wir dem Weg technischer Lösungen in eine CO2-neutrale Zukunft allein nicht vertrauen: Wie sieht sie aus, die große Transformation? Welche Leitbilder haben wir, um uns diese vorzustellen? Wie könnten Bilder aussehen, die sogar Lust auf diese Zukunft machen? Im Vergleich zu den spektakulären und buntglänzenden Bildfindungen der Zukunft als Katastrophe oder technische Lösung fällt auf, dass sich für die Vision des Postwachstums kaum Bilder finden lassen. Wo in den anderen Bereichen eine Fülle an Bildern auszumachen ist, herrscht hier eine auffällige Knappheit. Wenn es Bilder gibt, sind es jene bereits seit langem eta­ blier­ten Symbole, die die Systemgrenze der Erde aufzeigen – also Weltkugeln und Stoppschilder, nicht jedoch plastische Visionen, wie das Postwachstum selbst aussehen könnte. Hier existiert, wohl aufgrund einer Systemgrenze des herrschenden Zukunftsdenkens, ein blinder Fleck des Imaginären. Die Vision entbehrt, so scheint es, des Spektakulären, Neuen, Bunten und Glänzenden. Besitzt die

Abb. 5: Doppelseite aus dem Buch »Fatimas fantastische Welt – In eine Welt ohne Erdöl«, 2019. © Jakob Winkler.

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Vision des Postwachstums also keinen Horizont nach vorne, an dem sich Zukunftsvorstellungen entzünden können? Gibt es letztlich nichts Neues in der Welt ökotopischer Visionen, die die Kurven der Wissenschaft mit den Zukunftsvorstellungen einer neuen Gesellschaft und Kultur anreichern? Dabei hat die Geschichte der fossilen Energieträger gezeigt, dass man Gesellschaften nicht allein von ihrer politischen Verfasstheit, sondern auch von ihren Energiesystemen aus erzählen kann.7 Denn hier zeigt sich, dass die modernen Vorstellungswelten nicht nur Vorstellungswelten sind, sondern vielmehr immer neue, in Material gegossene Realitäten hervorbringen. Hier gilt es anzusetzen und von einer Gesellschaft zu erzählen, die aufgehört hat, einen CO2-intensiven Lebensstil zu pflegen. Schnell wird klar werden, dass es in dieser Erzählung um fast alles geht, was unser Leben derzeit ausmacht: Streaming-Dienste und ihren Ressourcenverbrauch, Mobilität und Straßen aus Teer, Flugreisen, die globalisierte Ernährungswirtschaft, Müll und Fast Fashion. An diesem Punkt setzen visuell nur wenige Beispiele überzeugend an. Diejenigen, die ich gefunden habe, sind keine Computergrafiken, sondern erinnern im Stil an gezeichnete Kinderwimmelbücher. Zu nennen ist das großformatige Buch »Fatimas fantastische Welt« des Illustrators Jakob Winkler (2019), das auf mehreren Seiten eine Welt ohne Erdöl visuell bis ins Kleinste ausbuchstabiert (Abb. 5). Winkler lotet zeichnerisch bereits existierende Ideen aus und lässt diese auf dem Papier real werden, indem er zum Beispiel illustriert, wie eine Welt ohne Öl für Stadt und Land, Hausbau oder Landwirtschaft aussehen würde. Der Reflex ist, derartige Zeichnungen als »naiv« und »vereinfacht« abzutun, weil sie an Kinderbücher erinnern. Ich würde aber behaupten, dass dieser Vorwurf ganz im Gegenteil vielmehr den Computergrafiken von Energie­wende und Geo-Engineering gemacht werden kann. Ich sehe in »Fatimas fantastische Welt« einen der seltenen Versuche, auch das Soziale in die technischen Öko-Visionen einzubeziehen, um denkbar zu machen, wie eine lebenswerte und umweltverträgliche Zukunft für die Menschen aussehen könnte. 7 

Jean-Claude Debeir, Daniel Hémery, Jean-Paul Deléage, Prometheus auf der Titanic: Geschichte der Energie­systeme, Frankfurt 1989.

WELTEN MACHEN »Utopien muss man anschauen können«8, sagt Harald Welzer. Wenn wir uns Utopien anschauen wollen, müssen wir uns zunächst die problematischen

8  Dies ist einer der »Merksätze zum neuen Realismus« aus Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Frankfurt a. M. 2019., S. 295.

Fundamente unserer bisherigen Zukunftserzählungen bewusst machen. Insofern brauchen wir viel mehr Utopien, die von sehr viel unterschiedlicheren Akteur*innen entwickelt und zugleich betrachtet werden. Denn es kann für die Gesellschaft nicht das eine Bild, die eine Erzählung geben, die alles löst. Birgit Schneider  —  Welche Bilder für welche Welt?

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Dies wäre wie bei Hans Memlings Triptychon, welches die gesamte Kosmologie der Apokalypse darzustellen beansprucht, der alles weitere untergeordnet wird. So wie es nicht ratsam ist, auf die eine technische Lösung zu hoffen, muss es auch viele Bilder mit vielen Lösungen geben. Es braucht mithin unzählige Bilder, nämlich ein heterotopisches Pluriversum an Perspektiven, also sehr unterschiedliche Bilder, die eine CO2-neutrale Welt spekulativ nicht nur technisch, sondern auch sozial beschreiben. Hier könnte der Pfad betreten werden, den Arturo Escobar in seinem Buch »Designs for the Pluriverse« angelegt hat, in dem er fragt, ob »die modernistische Tradition des Designs von ihrer Abhängigkeit von der lebensfeindlichen dualistischen Ontologie der patriarchalischen kapitalistischen Moderne hin zu relationalen Formen des Wissens, des Seins und des Handelns umorientiert werden« kann.9 Denn wenn man die Deutungshoheit der alten Fundamente nicht infrage stellt, können die Fragen nur entlang bereits bekannter und gefestigter »Geländer« verlaufen, wie Hannah Arendt feststellte. Oder es werden – wie Alain Badiou es formulierte – weiterhin nur solche Fragen gestellt, deren Antworten im bereits bestehenden Denkrahmen oder Paradigma der Fragen selbst liegen.10 Auch ich biete mithin keine Lösungen an, plädiere aber dafür, alles, was da ist, auf den Tisch zu legen, um auswählen, ausschneiden und rekombinieren zu können, was weiterhin gewollt ist und was nicht. Hierzu braucht es auch die schlechten, veralteten Bilder, damit wir diese überhaupt erst einmal kritisieren können, um von ihren Unzulänglichkeiten ausgehend andere Bilder zu entwickeln. Dies habe ich in meinem Beitrag zu zeigen versucht. Wenn es gelingt, die erstarrten Leitbilder in Bewegung zu versetzen und andere Visionen zu entwickeln, die uns auch wirklich überzeugen, die durchaus kleinteilig und lokal sein können, kann dies helfen, das Denken zu verändern. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn Bilder rein symbolische Lösungen werden, wenn diese in falscher »Brüderlichkeit« einen neuen Konsens rein visuell wie in der Werbung versprechen.11 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wir uns schöne Bilder von einer Welt machen, die dann aber nie Wirklichkeit wird, sondern einfach als Bild versteinert; oder wenn allein die Benennung eines Ziels das Handeln ersetzt und das Gewissen beruhigt. Erst ein neues Denken über die alten Bilder bringt neue Bilder hervor, die dann wie eine hin- und herschwingende Spindel wieder neue Gedanken ermöglichen. Prof. Dr. Birgit Schneider, geb. 1972, lehrt als Professorin für Wissenskulturen und mediale Umgebungen an der Universität Potsdam. Ihre ­Arbeitsschwerpunkte verbinden kunst- und medienwissenschaftliche Fragestellungen, ihre aktuellen Veröffentlichungen befassen sich mit Bildern und Wahrnehmungsweisen von Umwelt und Klimawandel, insbesondere mit Diagrammen, Datengrafiken und Karten.

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9  Arturo Escobar, Design for the Pluriverse. Radical Inter­ dependence, Autonomy, and the Making of Worlds, London 2018. 10  Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, Wien 2010, S. 76. 11  Jacques Rancière, Politik der Bilder, Berlin 2019, S. 70

KLIMABERICHTERSTATTUNG UND KRISENBEWUSSTSEIN WIE DER JOURNALISMUS DAZU BEITRÄGT, DASS DIE KLIMAKRISE POLITISCH UNTERSCHÄTZT WIRD Ξ  Sara Schurmann

Warum wird progressive und effektive Klimaschutzpolitik immer wieder verhindert? Warum werden auch 2021 noch Gesetze beschlossen, die nicht ansatzweise ausreichen, um die Klimakrise rechtzeitig abzubremsen? Die Antwort ist überraschend einfach: Weil die Klimakrise als Problem gesellschaftlich nicht ausreichend verstanden ist. Es gibt (mindestens) drei grundlegende Missverständnisse zur Klimakrise, die wirklich sinnvolle Maßnahmen immer wieder verhindern.1 MISSVERSTÄNDNIS NR. 1: 1,5 GRAD SIND NICHTS GUTES Weder in weiten Teilen der Politik noch in vielen Redaktionen und damit im öffentlichen Diskurs insgesamt wurde verstanden, was 1,5 und zwei Grad globale Erwärmung für die Erde und unser eigenes Leben auf ihr bedeuten. Schon bei 1,2 Grad globaler Erwärmung sehen wir heute dramatische Auswirkungen, auch in Deutschland: drei Jahre Dürren und Ernteausfälle hintereinander, massives Waldsterben, austrocknende Seen in Brandenburg, immer wieder Niedrigwasser etwa in Elbe und Rhein, messbar mehr Tote bei Hitzewellen, immer größer werdende sogenannte Todeszonen in Nord- und Ostsee, in denen nichts mehr lebt außer Bakterien. Selbst wenn jemandem »die Umwelt« egal sein sollte, ist mittlerweile offensichtlich, dass nicht nur die deutsche Land- und die Forstwirtschaft schon heute Einbußen aufgrund der Klimakrise erleiden. Die Erderhitzung auf 1,5 Grad oder zumindest »deutlich unter zwei Grad« zu begrenzen, wie im Pariser Klimaabkommen festgeschrieben, ist bereits ein Kompromiss. Er soll noch sehr viel massivere irreversible Schäden abwenden. Etwa das Erreichen 1  Hinzu kommen Lobbyinteressen, vgl. hierzu das kluge und unbedingt empfehlenswerte Buch von Annika Joeres u. Susanne Götze, Die Klimaschmutzlobby. Wie Politiker und Wirtschafts­ lenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen, München 2020.

des Kipppunktes des Grönländischen Eisschilds, dessen Abschmelzen zu einem prognostizierten Meeresspiegelanstieg von sieben Metern führen wird. MISSVERSTÄNDNIS NR. 2: WIR HABEN KEINE DREISSIG JAHRE ZEIT Vielen ist nicht klar, wie wenig Zeit bleibt, um das Klimaabkommen einzuhalten und unsere Lebensgrundlagen zu sichern. Um dem IPCC zufolge das

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1,5-Grad-Limit zu halten, müssen die Emissionen global bis 2030 halbiert, spätestens 2050 effektiv auf Null gesenkt werden. Westliche Industrie­staaten müssten diese Ziele aufgrund ihres weit überproportionalen Ausstoßes eigentlich sogar sehr viel schneller erreichen2. Viele haben das sicher schon gehört, doch was das konkret bedeutet, scheint noch lange nicht allen klar zu sein: Es heißt, dass ein Großteil der nötigen Transformation in zehn Jahren geschafft (!) sein muss. Bereits seit 2020 müssten die Emissionen jährlich um rund sieben Prozent gesenkt werden – was im ersten Jahr nur aufgrund der Beschränkungen durch die Corona-­ Pandemie gelang3. Entsprechend lagen die Emissionen im Dezember 2020 schon wieder über jenen des Vorjahres4. Der Vergleich mit dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft während der Corona-Krise verdeutlicht, von welcher Größenordnung die nötigen Maßnahmen sein müssten, um Emissionssenkungen des erforderlichen Ausmaßes gesteuert hinzubekommen. Das aber ist derzeit nirgendwo in Sichtweite. Dieser extrem begrenzte Zeitrahmen erklärt übrigens auch, warum wir nicht auf irgendwelche Erfindungen hoffen können, um die Klimakrise zu lösen. Ja, technologischer Fortschritt ist absolut nötig, um zahlreiche bisher ungelöste Probleme zu lösen, etwa emissionsfreies Fliegen. Die Hoffnung auf künftige Erfindungen darf aber keine Ausrede sein, nicht schon heute alles Menschenmögliche zu tun, um die Emissionen unverzüglich zu senken. Denn neue Technologien kriegen wir nicht bis 2030 entwickelt und global in großem Maßstab umgesetzt. MISSVERSTÄNDNIS NR. 3: KLIMASCHUTZ IST KEIN SELBSTZWECK Vielen Menschen scheint nicht klar zu sein, was die Alternative zu effektivem Klimaschutz ist, welche Konsequenzen eine eskalierende Klimakrise haben wird und vor allem: wie schnell die Folgen unzureichender Gegenmaßnahmen eintreten. Ein Szenario für Deutschland 2030 beschreibt das Grünbuch Öffentliche Sicherheit, herausgegeben von Mitgliedern sämtlicher Fraktionen des Deutschen Bundestages mit Ausnahme der AfD-Fraktion5: »Die Stadt glüht in der Mittagshitze. Das Thermometer klettert auf 45 Grad Celsius – im Schatten. In diesem August 2030 deutet alles auf einen neuen Rekord hin. […] Alles, was für uns normal ist, unser Alltag, unsere Routinen – das ist nicht ausgelegt für ein Leben mit 45 Grad Celsius, denkt Frau Weber. Aber würde eine Klimaanlage wirklich etwas nützen? Seit dem Stromausfall vorige Woche in Teilen Deutschlands mit vielen Hitzetoten dürfen Klimaanlagen aufgrund des hohen Stromverbrauchs vorerst nicht mehr eingeschaltet werden. Die

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Ökologismus — Analyse

2  Christian Mihatsch, #showyourbudgets, URL: https:// www.showyourbudgets.org/ [eingesehen am 20.06.2021]. 3  Pierre Friedlingstein et al, Globale CO2-Bilanz 2020 veröffentlicht: Rekord-Rückgang der fossilen CO2-Emissionen – IOW lieferte Daten aus der Ostsee, in: idw Nachrichten, 11.12.2020, URL: https://nachrichten.idw-online.de/2020/12/11/ globale-co2-bilanz-2020-veroeffentlicht-rekord-rueckgangder-fossilen-co2-emissionen-iowlieferte-daten-aus-der-ostsee/ [eingesehen am 20.06.2021]. 4  IEA, 02.03.2021, URL: https://www.iea.org/news/aftersteep-drop-in-early-2020-global-carbon-dioxide-emissionshave-rebounded-strongly [eingesehen am 20.06.2021]. 5  André Hahn et al., Grünbuch 2020 zur öffentlichen Sicherheit, in: ZOES, 2020, URL: https:// zoes-bund.de/wp-content/uploads/2020/12/201130_Gruen­ buch_2020_digital-BF.pdf [eingesehen am 20.06.2021].

Nachrichten melden, dass ausgewählte U-Bahn-Stationen für Obdachlose offengehalten werden sollen. Wie das Trinkwasserproblem gelöst wird, ist allerdings noch nicht klar.« Sich anzuschauen, welche Auswirkungen die Klimakrise wissenschaftlichen Szenarien zufolge bereits in wenigen Jahren in Deutschland haben könnte, macht scheinbar abstrakte Diskussionen wie jene über den Kohleausstieg 2038 persönlich (be)greifbar und unmissverständlich klar, warum Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen kritisieren: 2038 ist viel zu spät. Freilich scheinen sich bisher nur wenige der drohenden Gefahren wirklich bewusst zu sein. Das liegt auch daran, dass es an einer Bigger-PictureBerichterstattung zu den unmittelbaren Auswirkungen der Klimakrise fehlt. Es gibt viele Berichte zu einzelnen Veränderungen. Beiträge dagegen, die einen Gesamtüberblick über die bereits heute spürbaren Folgen der Klimakrise und ihre Entwicklung in den kommenden zehn, zwanzig, dreißig Jahren vermitteln, gibt es nur wenige.6 Weil längst nicht allen klar ist, welche Folgen die Klimakrise auf ihr eigenes Leben haben wird, wie groß und grundlegend sie sind und wie wenig Zeit verbleibt, diese abzuwenden, wird Klimapolitik sowohl von Politiker:innen als auch von vielen Journalist:innen noch immer wie ein normales politisches Problem behandelt. Wissenschaftler:innen repräsentieren in dieser Perspektive eine Meinung von vielen. Ein Gesetzespaket, das aus wissenschaftlicher Sicht auf sinnvollen Maßnahmen beruht, wie der Vorstoß des EU-Parlaments zum EU Climate Law, erscheint dann wie eine großspurige Forderung, an der man beliebig herumverhandeln kann. Dabei ist es faktisch betrachtet eine Minimalforderung, die es uns (mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit!) ermöglichen soll, unter 1,5 Grad zu bleiben und dadurch unsere Zukunft zu sichern – und idealerweise weit genug entfernt von fatalen Kipppunkten zu bleiben. POLITIKJOURNALISMUS ALS PROBLEM FÜR KLIMAPOLITIK 6  Mittlerweile ist dazu ein sehr gutes und anschauliches Buch herausgekommen, das erstmals schaut: Wie wird Deutschland 2050 aussehen? Die Ergebnisse zeichnen mit 1,5 Grad globaler Erwärmung den derzeit sehr unwahrscheinlichen Best Case – doch es wird schnell klar, dass selbst dieser nichts Gutes ist: https://www.kiwi-verlag.de/buch/ toralf-staud-nick-reimer-deutschland-2050-9783462000689

Journalistisch wird dieses Denken oft sogar befördert – zumindest wird ihm zu selten etwas entgegengesetzt. Denn Klimapolitik wird journalistisch oft mit klassischem Politikjournalismus begegnet, was dazu beiträgt, dass der politische Klimaschutz-Diskurs zum großen Teil von wissenschaftlichen Fakten entkoppelt ist. Wie das sein kann? Politikjournalismus geht im Wesentlichen davon aus, dass es zu einem Thema mehrere legitime politische Meinungen gibt. Diese einfach gegeneinanderzuhalten, erzeugt demnach Ausgewogenheit in der Berichterstattung, manche würden es sogar als »Objektivität« bezeichnen. Sara Schurmann  —  Klimaberichterstattung und Krisenbewusstsein

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Was diese Sicht jedoch zum großen Teil ignoriert, sind die wissenschaftlichen Fakten, die der Klimakrise zugrunde liegen. So wie das Coronavirus Ursachen und Eigenschaften hat, die sich epidemiologisch erforschen lassen und keine Frage von Meinungen sind, so verhält es sich auch mit dem Klima. Anders als bei Covid-19 jedoch kennen zu wenige Politik- und Wirtschaftsredakteur:innen die Klimafakten. Zu Beginn der Corona-Pandemie war allen klar, dass sie nichts über das Virus wissen, die Krise jedoch von so großer Tragweite ist, dass sie alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft. Entsprechend mussten sich mehr oder weniger alle Journalist:innen in kurzer Zeit in dessen Grundlagen einarbeiten, auch wenn sie in der Sport-Redaktion arbeiteten. Das führte nicht nur dazu, dass Journalist:innen alsbald selbst einzuschätzen vermochten, wie angemessen etwa die Aussagen von Politiker:innen zur Coronakrise waren. Es half auch, in der Redaktion informiert über alle möglichen Aspekte zu diskutieren und deren Relevanz zu bewerten.7 Von der Klimakatastrophe sprechen wir seit mindestens fünfzig Jahren. Auch wenn den meisten Journalist:innen klar sein dürfte, dass sie keine Expert:innen auf dem Gebiet sind, nehmen viele an, grundsätzlich durchaus einschätzen zu können, wie akut die Krise ist. Schließlich beschäftigen sie sich jeden Tag mit den Problemen der Welt. Dies führt allerdings zu einer nur geringen Priorisierung von Klimaberichterstattung, auch weil Journalist:innen oft das Gefühl haben, dass ohnehin ständig über die Klimakrise berichtet wird8. Zudem müssen sich Klimaredakteur:innen in Redaktionskonferenzen mit ihren Themen gegen andere durchsetzen – und landen damit selten im Aufmacher-Bereich, auf der Titelseite oder im Hauptprogramm. Die Situation ist paradox: Die Klimafakten werden durchaus immer wieder

7  Wobei es während der zweiten Welle in der öffentlichen Debatte zunehmend zu False Balance durch mediale Berichterstattung kam, vgl. Christian Drosten, Herr Drosten, woher kam dieses Virus?, in: Republik, 05.06.2021, URL: https://www. republik.ch/2021/06/05/herrdrosten-woher-kam-dieses-virus [eingesehen am 20.06.2021].

von einzelnen Klima- oder Wissenschaftsjournalist:innen gut aufbereitet. Aber sie bekommen meist keine größere Aufmerksamkeit. Weite Teile der Politikund Wirtschaftsberichterstattung ignorieren sie gar, anders als bei ­Covid-­19, komplett. Vielen Politik- und Wirtschaftsjournalist:innen scheint nicht ausreichend bewusst zu sein, was ihre Themengebiete mit der Klimakrise zu tun haben und dass politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die heute getroffen werden, die Klimakrise in allen möglichen Bereichen beeinflussen. Dass die Klimakrise eher wie ein politisches als wie ein naturwissenschaftliches Problem behandelt wird, führt tendenziell dazu, dass die Ansichten unterschiedlichster Parteien und Akteure einander gleichberechtigt gegenüber- und somit als gleichermaßen legitime politische Meinungen dastehen.9 Einzelne Politiker:innen-Statements, etwa zu Erdgas als notwendiger »Brückentechnologie« oder einem vermeintlichen »Systemwechsel« in der

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8  Stefan Niggemeier, Was die ARD unter »sehr, sehr viel KlimaBerichterstattung« versteht, in: Übermedien, 22.03.2021, URL: https://uebermedien.de/58510/ was-die-ard-unter-sehr-sehr-vielklima-berichterstattung-versteht/ [eingesehen am 20.06.2021]. 9  Ein Grund, warum das Problem so verbreitet ist: So funktioniert auch ein Großteil von Nachrichtenagentur-Beiträgen, etwa der dpa, zur Klimapolitik. Aus ihrem Material bedienen sich viele Redakteur:innen. Wer selbst nicht im Thema steckt, vertraut deren Expertise.

EU-Agrarpolitik, werden dabei allzu oft nicht kritisch genug hinterfragt, mit den Fakten abgeglichen und entsprechend eingeordnet. Oft, aber lange nicht immer, folgt in entsprechenden Beiträgen der Absatz: »Naturschützer:innen/ Wissenschaftler:innen kritisieren, das reiche nicht raus.« Die wissenschaftlichen Grundlagen werden so als eine Sicht unter vielen wiedergegeben, dabei weder besonders prominent noch ausführlich. Journalist:innen und Politiker:innen spiegeln sich so vor allem gegenseitig, weswegen die Politik selten in die Verlegenheit kommt, ihre Positionen kritisch hinterfragen zu müssen. Wie weit sie von den realen Problemen und deren Lösung entfernt sind, merken viele daher nicht. Dabei geht es um nichts geringeres als die Frage, ob wir alle, jede:r einzelne von uns, in den nächsten Jahrzehnten eine lebenswerte Zukunft vor uns haben. Und ob wir unsere Zivilisation sowie für Menschen lebenswerte Bedingungen auf unserem Planeten erhalten werden. Es gibt viele hervorragende Kolleg:innen, die auch in den Politikredaktionen seit Jahrzehnten (!) immer wieder deutlich auf die Auswirkungen und Gefahren der Klimakrise hinweisen. Nur werden deren auf Klimafakten basierende Artikel allzu oft als eine Perspektive unter anderen in einem breiten Spektrum legitimer Ansichten begriffen. Zu wenigen scheint klar, dass ein Großteil der Politik- und Wirtschaftsberichterstattung die Klimafakten einfach ignoriert und so den Eindruck von der Gefahr der Klimakrise vollkommen verzerrt. Aufgrund der Ignoranz ebenso grundlegender wie eindeutiger Klimafakten wird politisch und medial immer noch regelmäßig diskutiert, wie viel Klimaschutz wir uns leisten können und wollen – und damit die Frage gestellt: Klimaschutz, jetzt oder später? Stattdessen sollten wir eigentlich seit mindestens dreißig Jahren darüber reden, welche Maßnahmen wir wie schnell umsetzen können. Und wie wir Klimaschutz sozial gerecht gestalten, um uns Menschen und unsere Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen zu schützen. Das sind gesellschaftliche und politische Fragen, die eine Diskussion erfordern und zu denen man unterschiedliche Standpunkte haben kann. Nur: An dieser Stelle sind wir in der öffentlichen Debatte noch lange nicht. WAS GEMEINT IST, WENN ÜBER DEN »KLIMAWANDEL« GESPROCHEN WIRD Wenn wir über den Klimawandel, die Klimakrise oder die Klimakatastrophe reden, nutzen wir dafür nicht einfach unterschiedliche Worte, welche die einen für verharmlosend, die anderen für übertrieben halten. Wir sprechen über sehr unterschiedliche Dimensionen von Gefahren, die es abzuwehren Sara Schurmann  —  Klimaberichterstattung und Krisenbewusstsein

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gilt, und entsprechend über unterschiedliche Ansätze, wie viel und was genau wie schnell zu tun ist. Die einen halten die globale Erwärmung für eine ferne, abstrakte Bedrohung. Sie sprechen noch immer konsequent von »Klimawandel« und nehmen wohl an, der »Wandel« vollziehe sich langsam und halte womöglich auch ein paar positive Überraschungen bereit. Diese Menschen haben oft noch nichts von den sogenannten Kippelementen10 gehört; Wie wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise abzudämpfen, ist ihnen nicht klar. Andere halten die »Klimakrise« für eine nicht ganz so abstrakte, aber immer noch ausreichend ferne Bedrohung. Sie erkennen an, dass die globale Erwärmung bereits massive Auswirkungen hat und noch dramatischere folgen werden, wenn keine ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen getroffen werden. Viele gehen dennoch weiterhin davon aus, dass die wirklich schlimmen Konsequenzen frühestens ihre Enkel:innen treffen werden und wir die Krise bis 2050 schon irgendwie gelöst bekommen. Nur wenige sind sich bewusst, wie sehr die Klimakrise konkret und akut unsere heutigen Lebensgrundlagen bedroht. Dass die Klimakatastrophe eine reale Gefahr ist und ihre eigene Sicherheit sowie die gesellschaftliche Stabilität in den kommenden zehn, zwanzig, dreißig Jahren gefährdet. Der Einfluss von Klimawandelleugner:innen ist heute vergleichsweise gering. Das viel größere Problem sind Politiker:innen, die vorgeblich die Dringlichkeit und Größe der Klimakrise anerkennen, ihre Reichweite aber tatsächlich nicht verstanden haben. Sie sind es, die heute maßgeblich effektiven Klimaschutz verzögern und verhindern, auch weil viele von ihnen offenbar ernsthaft glauben, Handeln habe noch Zeit. Grund dafür ist nicht nur mangelndes Faktenwissen. Selbst einige Expert:innen, Fachpolitiker:innen und Klimajournalist:innen, die die Graphen und Daten sehr gut kennen, scheinen sich der Klimakatastrophe nicht bewusst zu sein. Denn Faktenwissen allein reicht nicht aus, um die Qualität der Klimakrise zu erfassen. Man muss auch den Gedanken zulassen können, dass sie etwas mit dem eigenen Leben zu tun hat. Und es gibt mächtige psychologische Abwehr- und Selbstschutzmechanismen, die das verhindern. Was nicht ins eigene Weltbild passt, wird oft abgeblockt und verdrängt. Um das Ausmaß der Klimakrise zu begreifen, muss man sich a) bewusst sein, welche realen Auswirkungen 1,5, zwei oder drei Grad globale Erwärmung haben werden, und b) muss man die Jahreszahlen mit dem eigenen Lebenslauf oder dem möglicher Kinder verknüpfen. Selbst wenn man sehr oft gelesen hat, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass wir die Zwei-GradMarke 2050 durchbrechen, heißt das nicht, dass einem klar ist, was zwei

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10  Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Kipp­elemente – Achillesfersen im Erdsystem, URL: https://www.pik-­potsdam. de/de/produkte/infothek/ kippelemente/kippelemente [eingesehen am 20.06.2021].

11  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Langzeitstudie Medien-vertrauen, 25.02.2020, URL: https://medienvertrauen. uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2019/; PwC, Studie: Vertrauen in Medien, URL: https://www.pwc.de/de/ technologie-medien-und-telekommunikation/studie-vertrauen-in-medien.html#welchenmedien-vertrauen-die-deutschen; Bernhard Weidenbach, Umfrage zur Glaubwürdigkeit einzelner Medien in Deutschland, in: statista, 14.10.2020, URL: https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/814312/umfrage/ glaubwuerdigkeit-einzelnermedien-in-deutschland/ [alle eingesehen am 20.06.2021].

Grad für das eigene sechzigjährige Ich und die Welt bedeuten. Angesichts dessen, wie emotionslos diese Daten oft medial behandelt werden und wie ambitionslos viele Regierungen mit dem Pariser Klimaabkommen umgehen, kann man schnell annehmen: Hier geht es um nichts sonderlich Dramatisches. Zumindest nicht für Menschen im globalen Norden. Diese Reaktion begünstigt auch das vergleichsweise große Vertrauen in die Qualitätsmedien in Deutschland.11 Viele Menschen vertrauen darauf, dass Krisen und gesellschaftliche Probleme entsprechend ihrer Relevanz medial behandelt werden. Würde die Klimakrise akut unsere eigenen Lebensgrundlagen bedrohen, stünde dies natürlich auf den Titelseiten, oder? Ein Grundvertrauen in das plurale Mediensystem und die parlamentarische Demokratie lässt viele Menschen dieses unangenehme und komplexe Thema immer wieder wegschieben. Selbst wenn ihnen grundsätzlich klar ist, dass die Lage ernst ist.

Sara Schurmann  —  Klimaberichterstattung und Krisenbewusstsein

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WARUM ES SO SCHWER IST, ÜBER DAS WAHRE AUSMASS DER KRISE ZU SPRECHEN Das ist kein Versagen einzelner, sondern ein strukturelles Problem. Die Ursachen sind komplex, die Verdrängung ist global. Es auf die »Schuld« einzelner Journalist:innen zu reduzieren, würde dem nicht gerecht. Es geht darum, eingespielte und im journalistischen Alltag nicht ausreichend hinterfragte Mechanismen, die dieses Problem aufrechterhalten, zu erkennen und zu durchbrechen. Dafür, dass die Darstellung der Dringlichkeit der Klimakrise in ihrer Gesamtheit so verzerrt ist, gibt es viele unterschiedliche Gründe. Ein Faktor sind redaktionelle Probleme, etwa ein Mangel an Krisenbewusstsein in Chefredaktionen, fehlende Ressourcen sowie Missverständnisse im journalistischen Selbstverständnis; ein anderer sind kollektive psychologische Hemmnisse wie Verdrängung und die Abwehr von Informationen, die sicher geglaubtes Wissen irritieren. Das Ausmaß der multiplen ökologischen und der klimatischen Krise ist dem öffentlichen Bewusstsein so fern, dass klare Kommunikation dazu wie Übertreibung wirkt und schnell als solche abgetan wird. Deutlich zu erkennen ist das etwa mit Blick auf die Grünen: Sobald sie ein Problem ansprechen, dessen Dimensionen sich viele nicht voll bewusst sind, etwa Fleischkonsum oder Flächenversiegelung, und dafür – übrigens nicht im Ansatz ausreichende – Lösungen präsentieren, werden sie als »Verbotspartei« verunglimpft. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl der Veggieday, vor Kurzem war ähnliches bei der Eigenheim-Debatte oder mal wieder beim Benzinpreis zu beobachten. Den Grünen wird dann schnell »Ideologie« vorgeworfen, obwohl sie es sind, die naturwissenschaftlich nachweisbare Probleme ansprechen. Daran zeigt sich, dass das Ausmaß von Klimakrise und Artensterben gesellschaftlich bisher nicht ansatzweise verstanden worden ist. Jeder Vorstoß in Richtung realistischer Problemlösung wird infolgedessen ausgebremst, seit Jahrzehnten. Die Krisen verschärfen sich derweil.12 Wenn das ein Großteil der Politikjournalist:innen weder durchschaut noch darüber aufklärt, wird daraus ein demokratisches Problem. Denn wenn sowohl die Reichweite und die Intensität des Problems unklar sind als auch die angebotenen Lösungen unzureichend – wie sollen sich Wähler:innen dann angemessen entscheiden? Es heißt ja gern: »Die Wähler:innen wollen offenbar nicht mehr Klima- und Umweltschutz.« Aber wie stellt man sich das vor? Sollen die sich alle einzeln zu Hause hinsetzen und politische Diskurse mit wissenschaftlichen abgleichen? Wäre genau das nicht die Aufgabe von Journalismus?

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12  Weswegen sich die Grünen m. E. über die Konkurrenz der Klimalisten freuen sollen. Allein schaffen sie es offenbar nicht, den Diskurs zu verschieben.

Journalist:innen jedoch, die naturwissenschaftliche Fakten und ihre Bedeutung klar kommunizieren und verständlich herunterbrechen, gelten unter Kolleg:innen schnell als Aktivist:innen (z. B. Dirk Steffens13, Teile der taz, Online-Magazine wie Klimareporter.de, vermutlich auch ich). Wissenschaftsferne politische Meinungen eindeutig als solche einzuordnen, wird (aufgrund der oben beschriebenen Missverständnisse) als einseitig wahrgenommen. Entsprechende Berichte werden oft als interessengeleitet abgestempelt, ihre Objektivität und Expertise wird angezweifelt oder zumindest weniger ernst genommen und anerkannt. Also kommunizieren viele Journalist:innen, Politiker:innen und Expert:innen im Rahmen des öffentlich Akzeptierten und Sagbaren, um überhaupt gehört zu werden und über die Inhalte sprechen zu können – anstatt sich immer wieder Aktivismus-Diskussionen aufzuhalsen. Sie hoffen, mit Argumenten durchzudringen, was teilweise ja auch gelingt. Allerdings wird oft nicht hinreichend klar, wie dringend und massiv das Klimaproblem ist und wie schnell und umfassend man handeln muss, um es wirksam einzudämmen. Was auch nicht klar wird: dass viele Forderungen keine Maximalforderungen sind, sondern eher Minimalforderungen; von denen dann wiederum nur ein Teil umgesetzt wird, sodass die Probleme nicht ausreichend gelöst werden. Solange Expert:innen im öffentlich akzeptierten Rahmen kommunizieren und die Diskrepanz nie direkt angesprochen wird, denken alle anderen, sie hätten das Problem verstanden – und dass ja gehandelt werde. Vielleicht nicht komplett so, wie die Ökos mit ihren Fledermäusen, Bäumen und dem Klima es wollen. Aber die können schließlich auch nicht alles haben. Mithin wird, wer den Rahmen des öffentlich Sagbaren durchbricht, in die Spinner/Öko-Ecke gestellt. Wer dagegen im Rahmen des Sagbaren bleibt, kommt der Lösung allenfalls in kleinen Schritten näher. Und voraussichtlich nicht schnell genug, um den verschiedenen Kipppunkten der diversen Ökosysteme fernzubleiben. WIE DIE KLIMAKRISE SELBSTBILD UND WELTBILD INFRAGE STELLT Gerade für Journalist:innen und Politiker:innen, selbst solche, die sich viel mit der Klimakrise beschäftigt haben, kann es besonders schwer sein, zu erkennen, dass die Klimakrise akuter ist als bisher von ihnen angenommen. Einerseits kennen sie z. B. die Kipppunkte, wissen, dass die Klimaschutzmaß13  Dirk Steffens, »Die Dimension der Krise ist gewaltig«, in: journalist, 31.08.2020, URL: https://www.journalist. de/startseite/detail/article/die-­ dimension-der-krise-ist-gewaltig [eingesehen am 20.06.2021].

nahmen immer radikaler ausfallen müssen, je länger wir mit der Umsetzung ernsthafter Maßnahmen warten. Andererseits kritisieren sie die Kompromisslosigkeit etwa von Fridays for Future, als würde diese Bewegung nicht einfach nur die planetaren Grenzen aufzeigen und die Physik verteidigen, die keine Kompromisse kennt. Sara Schurmann  —  Klimaberichterstattung und Krisenbewusstsein

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Das Problem: Es handelt sich nicht allein um einen logischen Widerspruch. Um ihn aufzulösen, muss man sich wie beschrieben eingestehen, dass die Klimakrise das eigene Leben oder zumindest das der eigenen Kinder und Enkel:innen hart treffen wird. Journalist:innen und Politiker:innen, die qua Job gesellschaftliche Verantwortung tragen, müssen sich zudem noch stärker als andere Menschen eingestehen, dass sie das Problem bisher nicht adäquat beurteilt und damit selbst dazu beigetragen haben, die Lösungen hinauszuschieben und die Krise zu verschärfen. Für sie ist diese Einsicht jedoch besonders schwer, da sie dem eigenen Selbstbild widerspricht. Viele von ihnen beschäftigen sich jeden Tag mit wichtigen gesellschaftlichen Problem, sind umfassend informiert und tragen – so glauben sie jedenfalls und reklamieren das vielfach auch für sich – dazu bei, die Welt zu verbessern. Dass sie selbst, viele ihrer Kolleg:innen und die Mehrheit ihrer Counterparts (je nachdem: Journalist:innen oder Politiker:innen) etwas so Zentrales wie die wirkliche Dringlichkeit der Klimakrise übersehen haben könnten, scheint undenkbar. Selbst wenn mehr als 27.000 Wissenschaftler:innen als Scientists for Future Alarm schlagen. Die Anerkennung des vollen Ausmaßes der Klimakrise zerstört bei Politiker:innen und Journalist:innen zum Teil also nicht nur das Welt-, sondern auch das Selbstbild. Und nun? Wichtig ist nicht (mehr), was wir bisher kollektiv falsch gemacht oder verpasst haben. Sondern was wir nach und mit dieser Erkenntnis machen.

Sara Schurmann, geb. 1988, arbeitet seit zehn Jahren als Journalistin, vor allem als Textchefin und Redaktions­leiterin. Sie war unter anderem tätig für den »Tages­spiegel«, Gruner+Jahr, »Vice«, »Zeit Online« und funk. 2018 wählte sie das »Medium Magazin« unter die »Top 30 bis 30«. Sie beschäftigt sich seit vier Jahren intensiv mit der Klimakrise, das ganze Ausmaß wurde ihr aber erst vor einem Jahr bewusst. Daraufhin veröffentlichte sie einen offenen Brief an ihre Kolleg:innen, um eine Diskussion über die Klima­bericht­erstattung anzustoßen.

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NACH DER NOTBREMSE GREIFEN? ZUR EXISTENTIELLEN DIMENSION DER KLIMAPROTESTE Ξ  Wolfgang Kraushaar

Kein Zweifel, als sich die 15-jährige Greta Thunberg im August 2018 vor den schwedischen Reichstag setzte, hat sie etwas in Gang gebracht, womit niemand hatte rechnen können. Ihr ist es in kurzer Zeit gelungen, eine internationale Bewegung für nachhaltigen Klimaschutz zu initiieren – die unter dem Namen Fridays for Future wöchentlich demonstriert. Doch was die Hunderttausenden, ja Millionen bewegt, die sich von ihr haben inspirieren lassen, ist nur begrenzt mit dem identisch, was ihre Initiatorin bestimmt. Thunberg hat eine existentielle Dimension mit ins Spiel gebracht, die nicht wenigen ihrer Anhängerinnen und Anhänger aller an den Tag gelegten Entschiedenheit zum Trotz wohl eher fremd sein dürfte. Diese Einstellung hat sich aber eine britische Aktionsgruppe auf eine solch demonstrative Weise zu eigen gemacht, dass sie die Bewegung in Misskredit bringen oder gar spalten könnte. Mit dieser Gefahr sind zwei Probleme verbunden: zum einen die Frage, mit welchen Mitteln Fridays for Future ihre Ziele überhaupt erreichen will und zum anderen, wie sie auf dem Weg dorthin zur Demokratie steht. I. DIE EXISTENTIELLE RHETORIK Um die Notwendigkeit ihres Anliegens zu verdeutlichen, verweist Thunberg zunächst auf die zwingende Immanenz ihrer Forderungen. Es gehe ihr darum, stellte sie fest, dass die Politik die von ihr auf dem Pariser Klimagipfel 2015 selbst beschlossenen Aufgaben einhalte und die durch die Emission von Treibhausgasen bedingte Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C senke. Hochrechnungen machen klar, dass selbst die 2 °C-Grenze deutlich verfehlt wird und sich das Klima bei Beibehaltung der globalen Industrie-, Energie-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine Heißzeit mit irreversiblen Schädigungen verwandeln dürfte. Als Autorität werden von Thunberg die Naturwissenschaften, insbesondere Klimaforscher zitiert und für ihre Mission in Anspruch genommen. Dass dies ein überzeugender Weg ist, haben Abertausende von Wissenschaftlern bestätigt, die sich zur Vereinigung Scientists for Future zusammengeschlossen

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und Thunbergs Initiative sowie die von ihr initiierte Bewegung insgesamt ausdrücklich begrüßt haben. Aus einzelnen ihrer Reaktionen geht sogar hervor, dass sie außerordentlich dankbar seien, nun in der jüngeren Generation so viele Mitstreiter gewonnen zu haben. Mittlerweile hat sich dem auch der berühmte, 1968 gegründete Club of Rome angeschlossen, der bereits 1972 mit seinem Bericht über »Die Grenzen des Wachstums« die internationale Öffentlichkeit ermahnte, mit der industriellen Entwicklung nicht ungebremst weiterzumachen, sondern sich nachhaltig für den Schutz des Ökosystems einzusetzen.1 Um die mit der Klimakrise verbundenen Gefahren der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, hat Thunberg häufig besonders drastische Metaphern verwendet. Sie sollten signalisieren, dass die letzte sich bietende Chance genutzt werden muss, um die drohende Katastrophe noch abzuwenden. Dabei bediente sie sich implizit wie explizit einer existentiellen Rhetorik. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos etwa sprach sie von einem brennenden Haus und drohte ganz unverhohlen damit, dass Erwachsene sich keine (unbegründeten) Hoffnungen machen, sondern lieber »in Panik geraten« sollten. Auf der UN-Klimakonferenz in Kattowitz hatte sie den dort anwesenden Politikern vorgehalten: »Ihr sprecht nur von grünem, ewigen Wirtschaftswachstum, weil ihr zu viel Angst habt, euch unbeliebt zu machen. Ihr sprecht nur darüber, mit den immer gleichen schlechten Ideen weiterzumachen, die uns in diese Krise geführt haben. Und das, obwohl die einzige vernünftige Entscheidung wäre, die Notbremse zu ziehen.«2 Sie gebrauchte diese Metapher, ohne sie weiter zu spezifizieren, als ginge es ihr darum, den sich im Gang befindlichen, auf eine Katastrophe globalen Ausmaßes zusteuernden Prozess der Erderwärmung mit seinen unkontrollierbaren Folgen für das Gesellschafts- wie das gesamte Ökosystem ebenso umgehend wie umfassend zu stoppen. II. DIE METAPHER VOM GRIFF NACH DER NOTBREMSE Das ähnelt einem Gedanken, den sich Walter Benjamin 1940 im Moment seiner höchsten Gefährdung notiert hatte. Der vor den Nazis auf der Flucht befindliche deutsch-jüdische Philosoph schrieb nur wenige Monate, bevor er sich an der französisch-spanischen Grenze das Leben nahm, dass Marx gesagt

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1  Dennis L. Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 2  Greta Thunberg, Rede bei der 24. UN-Klimakonferenz in Kattowitz im Dezember 2018, in: dies., Ich will, dass ihr in Panik geratet! Meine Reden zum Klimaschutz, Frankfurt am Main 2019, S. 37–39; hier: S. 37 f.

habe, Revolutionen seien die Lokomotive der Weltgeschichte. Dem wäre aber möglicherweise gänzlich anders. »Vielleicht«, gab er zu bedenken, »sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Als er das festhielt, hatte er mit dem Fortschrittsdenken und den damit verknüpften Produktivitätsvorstellungen gebrochen, die für den Marxismus und auch für die Sozialdemokratie als maßgeblich galten. Für ihn war die für das 19. Jahrhundert klassische Vorstellung, dass es für das von Kapitalismus wie Kommunismus gleichermaßen geforderte Wirtschaftswachstum die Natur sozusagen gratis gebe, zunehmend verwerflicher geworden.3 Damit war er, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen sein dürfte, auch zu einem Vordenker der Ökologie geworden. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Thunberg von dieser von Benjamin zu einer revolutionären Allegorie erweiterten Notbremsen-Metapher schon einmal etwas gehört hat. Es spricht jedoch einiges dafür, dass sie von der Vorstellung eines in einem Zuge befindlichen Menschengeschlechts, dem zu seiner Rettung nichts anderes als die sofortige Unterbrechung der Reise übrigbleiben würde, fasziniert sein und sie als Erweiterung ihres eigenen Gedankens begrüßen würde. Doch darf man eine solche Idee überhaupt wörtlich nehmen? Denn selbst für diejenigen, die die von den Klimaexperten ausgebreiteten Krisen-Szenarien teilen, würden sich umgehend Fragen aufdrängen: Wie soll eigentlich die praktische Konsequenz aus dieser Warnung aussehen? Kann es überhaupt eine Art Notbremse geben, um die destruktiven Klimaeffekte zu stoppen? Ist das nicht eine ziemlich naive Vorstellung, die viele der von Thunbergs konservativen Kritikern geäußerten Vorbehalte nur unfreiwillig bestätigen würde? Falls ein solcher »Griff« wider Erwarten doch zu lokalisieren wäre, wer sollte dann von ihm Gebrauch machen? Nach der Notbremse zu greifen, um einen Zug zu stoppen, ist eigentlich ein Akt der Hilflosigkeit. Es bedeutet nichts anderes, als die Fahrt abzubrechen und das Ziel nicht oder nur mit großer Zeitverspätung zu erreichen. Die Alternative wäre jedoch, einfach weiterzureisen und vor den Gefahrenpotentialen die Augen zu verschließen. Wer dies nicht tut, der nimmt eine Abwägung vor und fragt sich, was denn wichtiger sei – sein Reiseziel pünktlich und wie geplant zu erreichen oder Risiken aus dem Weg zu gehen bzw. möglichst ganz zu beseitigen. 3  Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 691–703; hier: S. 699.

Wer all diese Varianten von Gefahren im Zugverkehr durchzudenken versucht, dem wird bewusst, dass es sich dabei um mehr als nur eine Metapher dreht. Eher schon handelt es sich um eine Allegorie auf die Gefahren der Mobilität, der Technik, des Tempos, des Fortschritts, der bedrohten Moderne insgesamt. Im 20. Jahrhundert hat die Menschheit nicht nur erfahren müssen, Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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wie trügerisch die technischen Errungenschaften sein können, wenn sie unter militärischen oder terroristischen Vorzeichen als Kräfte der Zerstörung und der Vernichtung eingesetzt werden. Zwei Weltkriege und ein Zivilisationsbruch wie die massenindustriell betriebene Vernichtung der europäischen Juden haben zu grundsätzlichen Zweifeln am historischen Fortschritt geführt. Mit Günther Anders hat ein anderer deutsch-jüdischer Philosoph deshalb schon 1956 Produktivität, Fortschritt und Zivilisation so weit in Zweifel gezogen, dass er – wie bereits im Titel seines Hauptwerks – von der »Antiquiertheit des Menschen« sprach4 und angesichts der damit unmittelbar in Verbindung stehenden, kaum noch zu kontrollierenden Risikopotentiale eindringlich vor der »Apokalypse-Blindheit« warnte. Für ihn bestimmte die Tatsache, dass die Menschheit seit 1945 dazu in der Lage war, sich selbst auszulöschen, wie nichts anderes die Epoche. Mit den ersten beiden Atombombenabwürfen habe eine neue Zeitrechnung begonnen – entweder würde die Gattung Mensch fortexistieren oder aber sie würde überhaupt aufhören, zu existieren. Tertium non datur – eine andere, eine dritte Möglichkeit sei nicht gegeben.5 Auch diese Formel würde bei Greta Thunberg, die immer wieder darauf bestanden hat, dass es für sie nur Schwarz oder Weiß und keine Abstufungen dazwischen gebe, vermutlich auf Zustimmung stoßen. III. DAS POLITISCHE VAKUUM Als am 20. September 2019 der Global Climate Strike For Future stattfand, beteiligten sich weltweit vier Millionen überwiegend junge Leute in mehr als 150 Ländern an über zweitausend Demonstrationen. Damit war der bisherige Zenit im Protestgeschehen erreicht. Allein in Deutschland war es an diesem Tag zu 575 Demonstrationen und Kundgebungen mit 1,4 Millionen Teilnehmenden gekommen. Warum eine einzelne, erst 15 Jahre alte schwedische Schülerin, die mit ihrem Anliegen noch in ihrer eigenen Schulklasse auf taube Ohren gestoßen war, eine internationale Massenbewegung auslösen konnte, ist vielen noch immer ein Rätsel. Über Thunberg sind inzwischen viele Vermutungen und Verwünschungen in die Welt gesetzt worden. Eines ist sicher – sie war die Initiatorin und ohne sie hätte es diesen globalen Sturm des Protests vielleicht nicht gegeben. Natürlich hat es dabei nicht an medialen Multiplikatoren gefehlt und insbesondere mit einem enormen Glaubwürdigkeitsdefizit staatlicher Politik im Hinblick auf den Klimaschutz eine günstige Gelegenheit dafür gegeben. Man mag darüber streiten, ob es angemessen ist, von ihr als einer Ikone zu sprechen oder nicht, aber sie war von Anfang an das Gesicht dieser Bewegung und ist es noch immer.

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4  Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. 5  Günther Anders, Thesen zum Atomzeitalter, in: ders., Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, S. 93–105.

Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass es in den Reihen der jungen Bewegung erhebliche Orientierungsprobleme gibt. Vor allem ist unklar, auf welchem Weg man die Politik auch tatsächlich dazu bewegen kann, die Vereinbarungen des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Hinzu kommt, dass es kaum eine Bewegung schafft, über viele Monate, ja Jahre hinweg eine Dauermobilisierung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite aber sollte nicht verkannt werden, dass diese Bewegung viel mehr erreicht hat, als irgendjemand hätte erwarten dürfen. In einer ganzen Reihe relevanter Länder ist nicht nur der Diskurs verändert worden, sondern auch die unter Druck geratenen Regierungen haben damit begonnen, neue Klimaschutzziele auf ihre Agenda zu setzen. Auch wenn diese – wie etwa an dem von der Bundesregierung geschnürten »Klimapaket« abzulesen ist – viel zu schwach sein mögen und von Fridays for Future vielleicht sogar zu Recht als Bankrotterklärung zu verurteilen sind, so dürfte das dennoch mehr als ein bloßer Achtungserfolg sein. Gleichwohl scheint den meisten Experten, die dazu tendieren, die geharnischte Kritik an den Maßnahmen zu teilen, klar zu sein, dass die Pariser Klimaziele damit selbst bei der Annahme günstiger Rahmenbedingungen nicht erreicht werden können. Es dürfte nach wie vor äußerst schwierig sein, auf staatliches Handeln so weit Einfluss zu nehmen, um effektive Veränderungen in der Klimapolitik zu bewirken. Hinzu kommt, dass sich an der Umsetzungsbereitschaft der in Paris vereinbarten Maßnahmen gravierende Zweifel aufdrängen. Nicht ohne Grund bezeichnen zwei so renommierte Klimaforscher wie Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber in ihrer Monographie »Der Klimawandel« den Pariser Vertrag als »ein Falschdokument«, dem man nur »im Zustand der schweren Schizophrenie« Glauben schenken könne. Denn die dort erreichte Zustimmung der UN-Mitgliedsstaaten zu der als notwendig erkannten »radikalen Dekarbonisierung der Weltwirtschaft« basiere auf der Freiwilligkeit der einzelnen Nationen. Die beiden Wissenschaftler haben deshalb die Vereinbarung von 2015 auf eine Formel gebracht, die voller Sarkasmus lautet: »Wir beschließen alle gemeinsam, dass jeder selbst beschließt, welchen Beitrag er zum Vorhaben Weltrettung beitragen möchte.«6 Diese Umschreibung verrät, auf welch tönernen Füßen das sonst so überschwänglich gefeierte Paris Agreement in Wirklichkeit steht. Da der Verpflichtung kein Handlungszwang zukommt, läuft sie Gefahr, so weit ausgehöhlt zu werden, dass sie sich als bloße Phrase desavouiert. 6  Stefan Rahmstorf/Hans Joachim Schellnhuber, Der Klimawandel: Diagnose, Prognose, Therapie, München 2006, S. 122.

Angesichts dieses Dilemmas drängt sich die Frage auf, ob es nicht an der Zeit ist, den Kurs des bloßen Appellierens zu verlassen und stattdessen andere Praktiken zu entwickeln. Nicht wenige Beobachter sind jedenfalls davon Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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überzeugt, dass Fridays for Future in politischer Hinsicht mittlerweile kaum mehr als ein Vakuum darstellt. Zwar sind von der Bewegung eine Reihe von plausiblen Forderungen im vorpolitischen Raum aufgestellt worden, aber man verfügt naheliegenderweise über keine Mittel und Wege, sie auch machtpolitisch umzusetzen. Das sind angesichts des unverkennbaren Ernstes der Lage wahrlich finstere Aussichten. Was also müsste geschehen, um die monatelangen Mobilisierungserfolge auch in ein angemessenes politisches Handeln umzusetzen – zunächst in Deutschland, dann in der Europäischen Union und schließlich Zug für Zug auch in den anderen Erdteilen? Schließlich sind es fast alle der 197 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gewesen, die das Pariser Abkommen unterzeichnet haben. Hat man nicht allzu oft seit der Gründung der UN erleben müssen, welch zahnloser Tiger das Bündnis letzten Endes gewesen ist? Verbirgt sich der Mangel an Entschlossenheit nicht bereits im Text der 2015 getroffenen Vereinbarung? IV. VORSTOSS EINER ENDZEIT-GRUPPIERUNG Dieses Dilemma scheinen sich Strömungen innerhalb der Massenbewegung zur Verhinderung des Klimakollapses zunutze zu machen, die für sich beanspruchen, einen konsequenteren Kurs verfolgen zu wollen. Unter ihnen sticht eine Gruppierung hervor, die etwa genauso jung ist wie Fridays for Future selbst: die am 31. Oktober 2018 in Großbritannien gegründete Extinction Rebellion, kurz XR genannt. Auch sie ist unter existenziellen Vorzeichen gegen die drohende Katastrophe angetreten. Das gleich in doppelter Hinsicht: Schon ihrem bloßen Namen nach geht es ihr um einen Aufstand gegen das Aussterben – von Pflanzen und Tieren ebenso wie letztlich auch der Menschen. Mit ihrem Logo, einer in einem Kreis, der den Globus bzw. die Erde symbolisiert, befindlichen Eieruhr, mahnt sie an, dass die für die Rettung zur Verfügung stehende Zeit unerbittlich ausläuft. XR ist insofern durch und durch apokalyptisch bestimmt und muss angesichts ihrer Finalisierungsdimension als eine Endzeitgruppierung angesehen werden. Gegründet wurde XR von der 47-jährigen Biophysikerin und Aktivistin Gail Bradbrook und ihren beiden Mistreitern Simon Bramwell und Roger Hallam, einem rasch zur Galionsfigur aufgestiegenen ehemaligen Studenten der London School of Economics und späteren Biobauern. Sein ComingOut als ökologischer Protestakteur scheint besonders eindrucksvoll gewesen zu sein. Der 53-jährige Waliser hatte offenbar ein Urerlebnis, das ihn zum Klima­aktivisten gemacht hat. Nachdem er über drei Jahrzehnte hinweg Saison für Saison sein Gemüse anbaute, spülte ihm irgendwann ein siebenwöchiger Dauerregen förmlich die gesamte Ernte weg. Dadurch hätten 25 Menschen

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ihre Arbeit und er selbst mehrere Hunderttausend Pfund verloren. Angesichts dieser Katastrophe, so schildert er später sein Unglück, wäre er fast verrückt geworden. Seitdem ist er überzeugt davon, dass es durch solch extreme Wetter­lagen in der Landwirtschaft zur »Ausrottung der Menschheit« kommen könne. Die globale Politik sei völlig unfähig, einen radikalen Wandel herbeizuführen, der die bevorstehende Katastrophe noch verhindern könne.7 Seit 1990 seien die CO2-Emissionen allen Willensbekundungen der Regierenden zum Trotz, etwas dagegen unternehmen zu wollen, um 60 Prozent angestiegen. Hallam arbeitete sich gründlich in das Thema des zivilen Ungehorsams ein, um sich ein Bild von der Organisation möglicher Widerstandsaktionen zu machen. Mittlerweile hat er im Selbstverlag ein 79 Seiten umfassendes Büchlein verfasst, mit dessen Titel »Common Sense for the 21st Century: Only Nonviolent Rebellion Can Now Stop Climate Breakdown and Social Collapse« er in große Fußstapfen zu treten versucht.8 Kein Geringerer als Thomas Paine, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, hatte 1776 mit seiner Schrift »Common Sense« die Unabhängigkeit von seinem Geburtsland Großbritannien und eine demokratische Regierungsform propagiert, die auf den Prinzipien der Menschenrechte basieren müsse.9 Das, was der der Aufklärung verpflichtete Paine für das 18. Jahrhundert geleistet hat, das will Hallam mit seinen Ideen für eine gewaltlose Rebellion nun offenbar für das 21. Jahrhundert leisten. 7  Mitbegründer von »Extinction Rebellion« Roger Hallam: »Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant« Aus London berichtet Raphael Thelen, Spiegel Online vom 13. September 2019. 8  Vgl. Sandra Laville, Extinction Rebellion founder cleared over King’s College protest, The Guardian vom 30. Juni 2019.

Von dem in einer parlamentarischen Demokratie für die Herbeiführung politischer Reformen üblichen Weg hält er hingegen nichts. Er ist überzeugt davon, dass die Demokratie in einer Zeit, in der die Gesellschaft »so unmoralisch« handle, »irrelevant« geworden sei. Ebenso wenig hält er von Lobbyarbeit und klassischen Protestformen. Petitionen und Demonstrationen sind für ihn wie E-Mail-Kampagnen nichts anderes als »Schrott«, im Grunde genommen kaum mehr als Zeitverschwendung. Bewirken könne man mit diesen konventionellen Methoden nichts. Um die zerstörerischen Prozesse zu stoppen, gebe es für ihn keine andere Protestform mehr als die Durchführung

9 

Thomas Paine. Common Sense, Philadelphia 1776. Dt. Ausgabe unter demselben Titel: Stuttgart 1982.

10  Mitbegründer von »Extinction Rebellion« Roger Hallam: »Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant« Aus London berichtet Raphael Thelen, Spiegel Online vom 13. September 2019.

direkter Aktionen.10 Um dies zu leisten, sei er nicht nur bereit, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, sondern, falls nötig, auch ins Gefängnis zu gehen. Mittlerweile soll XR auf sechs Kontinenten in über fünfzig Ländern mit mehr als 350 Ortsgruppen vertreten sein, allein in Deutschland mit über siebzig. Zu ihren aufsehenerregendsten Aktionen gehörte der am 17. November 2018 durchgeführte »Rebellion Day«, an dem in London 6000 Demonstranten Themse-Brücken blockierten, um den Autoverkehr lahmzulegen. Zu ihrem inzwischen vielerorts erprobten Repertoire zählen auch Hafenblockaden, Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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Flashmobs, Trauermärsche und sogenannte Die-Ins, bei denen sich Demonstranten auf ein bestimmtes Signal hin gemeinsam zu Boden fallen lassen, um so das Massensterben zu symbolisieren. Damit setzen die Aktivistinnen und Aktivisten auf ein in der Politik nur schwer zu beherrschendes Mobilisierungselement: das der Emotionalisierung, und zwar in einer möglichst schonungslosen Form. Sie wollen die Öffentlichkeit schockieren, ihr Publikum wachrütteln, um es zur Teilnahme an ihren Aktionen zu gewinnen. Was durch Appelle und Petitionen nur schwer zu erreichen ist, soll nun durch die Inszenierung von Angst und Schrecken geschafft werden. Doch wer sagt überhaupt, dass man durch das kübelweise Vergießen von Kunstblut Menschen mobilisieren kann? Dürfte es nicht eher abstoßend sein, sich mit Szenarien konfrontieren zu lassen, wie sie eher für Schlachthöfe typisch sind? Könnte nicht genau das wiederum zu Gegenreaktionen führen, sodass sich die Adressaten angeekelt abwenden? Allerdings generiert XR nicht nur extreme Bilder, sondern auch möglichst extreme Worte. Um die drohende Auslöschung der Gattung im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe an die Wand zu malen, ist man sich nicht zu schade, sich einer brachialen Rhetorik zu bedienen. Manches spricht dafür, dass man in dieser Hinsicht in eine Art Überbietungswettbewerb eingetreten ist. Den Vogel dürfte dabei Roger Hallam abgeschossen haben. So stellt er etwa fest, dass in den nächsten beiden Generationen Milliarden von Menschen wegen der Klimakrise sterben würden. Als Beispiel für diese Prognose führt er in einem Spiegel-Interview an, dass man wegen der weiter zunehmenden Wetterextreme in absehbarer Zeit nicht mehr genügend Getreide anbauen könne. Das würde zu Hungerepidemien führen, zu einem Massensterben, auf das ein Völkermord oder eine Massenmigration bzw. eine Kombination von beidem folgen würde. Angesichts dessen käme es zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch. Auch die Verantwortlichen für diese angeblich genozidale Politik glaubt er gefunden zu haben: »Die Eliten haben die bewusste Entscheidung getroffen, die nächste Generation zu zerstören, um an der Macht bleiben zu können.« Man sei gerade dabei, »die Kinder der Welt zu ermorden«. Nun scheut er sich nicht, die drohende Klimakatastrophe in den Kontext der Judenvernichtung zu stellen und zu behaupten: »Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt. Es ist nur der Mechanismus, durch den eine Generation eine andere tötet.«11 Hier werden im Übertreibungsmodus gleich drei bizarre Vorgänge miteinander vermengt: die Verbindung des Klimawandels mit dem monströsesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, dessen Funktionalisierung als ein Element im Vernichtungsakt sowie die Behauptung, dass das alles

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11  »Scheiß nicht auf Deine Kinder!« SPIEGEL-Gespräch mit Roger Hallam, dem Mitiniator von »Extinction Rebellion«, Der Spiegel vom 22. November 2019.

ein gigantischer Mordakt sei, in dem eine Generation eine andere umbringe, die ältere die jüngere. Dieses an seinem eigenen Gigantismus zu ersticken drohende Metapherngebräu passt nun andererseits wiederum überhaupt nicht zu einer Verharmlosung und Relativierung des Holocausts, die Hallam zuvor in einem anderen Interview, einem mit der Wochenzeitung Die Zeit, an den Tag gelegt hat. Dort hatte er die von den Nazis auf industrielle Weise betriebene Vernichtung der europäischen Juden in einem schmälernden Duktus als ein »fast normales Ereignis« in der Geschichte der Genozide bezeichnet und geschmacklos – als wolle er insgeheim mit einer Äußerung des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland in Konkurrenz treten – hinzugefügt, dass der Holocaust »nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte« sei.12 Das hatte umgehend eine entschiedene Reaktion zur Konsequenz: Die deutsche XR-Vertretung wusste sich nicht anders zu helfen, als sich von der internationalen Galions­ figur ihrer Gruppierung in aller Entschiedenheit zu distanzieren. Eine derartig verharmlosende und relativierende Äußerung zum Holocaust, hieß es, sei »in Diktion und Inhalt« nicht tragbar. Hallam könne deshalb von der Bewegung in Deutschland nicht mehr willkommen geheißen werden.13 Als XR am 31. Oktober 2018 auf dem Parliamentary Square in London ihre »Declaration of Rebellion« vorstellte, um die Tatenlosigkeit der britischen Regierung in Sachen Umweltschutz anzuprangern, trat dort auch Greta Thunberg als Rednerin auf. Sie sagte: »Wir können die Welt nicht ändern, indem wir uns an die Regeln halten. Denn die Regeln müssen geändert werden. 12  Mitbegründer von Extinction Rebellion nennt Holocaust »weiteren Scheiß«, Die Zeit vom 20. November 2019. 13  Karin Geil, XR Deutschland: Deutsche Aktivisten distanzieren sich von Roger Hallam, Die Zeit vom 20. November 2019. 14  Greta Thunberg, Rede zur »Declaration of Rebellion« in London am 31. Oktober 2018, in: dies., Ich will, dass ihr in Panik geratet! Meine Reden zum Klimawandel, Frankfurt am Main 2019, S. 24–29; hier: S. 28 f. 15 

Zit. nach: Markus Wehner/ Eckart Lohse, Protest gegen Klimapolitik. Rebellion mit Rolls Royce, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 2019.

Alles muss sich ändern. Und das muss heute anfangen. […] Jetzt ist es an der Zeit für zivilen Ungehorsam, es ist Zeit zu rebellieren.«14 Es schien ganz so, als würden XR und die Stockholmer Schülerin an ein- und demselben Strang ziehen, verbunden durch eine gemeinsame, in ihrem Kern existentiell begründete Grundhaltung. In einem solchen Zusammenhang ist nun auch die frühere Seenotretterin Carola Rackete zu betrachten, die auf einem von XR in Berlin am 7. Oktober 2019 zu Beginn der Woche der »Internationalen Rebellion« organisierten Klima­camp als Hauptrednerin aufgetreten ist. Sie ging dabei in ihrer auf dem Großen Stern gehaltenen Ansprache so weit, der Bundesregierung Mitschuld am Tod von infolge der Klimakrise gestorbenen Menschen vorzuwerfen. In offenkundiger Anspielung auf die Tausenden von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen erklärte die ehemalige Kapitänin der Sea-Watch 3: »Es ist die Untätigkeit der deutschen Regierung, die Menschen überall auf der Welt zum Tod durch unterlassene Hilfeleistung verurteilt.«15 Das war zweifelsohne eine Zuspitzung, die ganz im Sinne der XR-Aktivisten gewesen sein dürfte. Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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Zuvor hatte sie bereits erklärt, dass die Bundesregierung »die existentielle Bedrohung der ökologischen Krise« offenlegen und umgehend den Klimanotstand ausrufen müsse. Alle politischen Entscheidungen, die der Bewältigung dieser sich abzeichnenden Katastrophe entgegenstünden, müssten revidiert werden.16 V. ZUM EXISTENTIALISMUS VON SELBSTVERBRENNUNGSAKTIONEN Auch wenn es erhebliche Unterschiede zwischen der heutigen Klimaschutz­ bewegung Fridays for Future und der gegen den NATO-Nachrüstungs­ beschluss gerichteten Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre gibt, so bietet sich ein Vergleich dennoch an. Das liegt nicht allein an der quantitativen Dimension, die die umfassendste Protestbewegung der alten Bundesrepublik mit der vielleicht größten im vereinten Deutschland verbindet. Es liegt vor allem an der apokalyptischen Stimmung, die damals den Ton bestimmt hat und sich heute unter den Klimaaktivisten auszubreiten begonnen hat, sowie dem daraus resultierenden Hang zu einem existentiellen Radikalismus. Um dieser Figur ein wenig Gestalt zu verleihen, empfiehlt es sich, die Dramatisierung des Politischen anhand eines einzigen Ereignisses in Erinnerung zu rufen. Als die Proteste gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss auf ihren Höhe­ punkt zusteuerten, spitzten sich am Vormittag des 10. Juni 1982 Protest und Politik in der Bundeshauptstadt Bonn wie in einer Parallelinszenierung zu. Auf der einen Seite hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt im Plenarsaal des Bundestages den US-Präsidenten Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher begrüßt. Auf der anderen Seite versammelten sich zur selben Zeit in Bonn-Beuel Rüstungsgegner zur bis dahin größten Friedensdemonstration in der deutschen Geschichte. Nachdem die Union fünf Tage zuvor unter der Parole »Gemeinsam für Frieden und Freiheit«, angeführt von Oppositionsführer Helmut Kohl, zu einer Kundgebung für den NATO-Nachrüstungsbeschluss aufgerufen hatte, bei der sich knapp 100.000

Menschen versammelten, kamen nun in den Rheinwiesen mehr als viermal so viele zusammen, um das Gegenteil zu erreichen. Sie forderten nicht nur die Rücknahme des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979, sondern auch die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Als Hauptredner traten auf der Kundgebung der ehemalige Bundeswehrgeneral Gert Bastian und die Theologin Dorothee Sölle auf, die sich dagegen verwahrten, dass ihr Protest als Zeichen eines grassierenden Antiamerikanismus missverstanden werde. Bis dahin war die Großdemonstration ohne

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16  Zit. nach: Jan Petter/ Raphael Thelen, Extinction Rebellion in Berlin. »Streiken reicht anscheinend nicht«, Spiegel Online vom 7. Oktober 2019.

irgendeinen Zwischenfall verlaufen. Doch plötzlich trat Unruhe auf. An einer Stelle züngelten aus der Menge Flammen empor, Qualm war zu sehen. Einer der Demonstranten hatte sich mitten im Gedränge mit Benzin übergossen und angezündet. Und um sicher zu sein, dass ihn das von ihm beabsichtigte Fanal auch das Leben kostete, stieß er sich noch ein Messer in die Kehle. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen 35-jährigen Studenten der Ingenieurwissenschaften, den aus Wedel bei Hamburg stammenden Dietrich Stumpf. Die Umstehenden waren entsetzt. Während einige wie gelähmt wirkten, versuchten andere das Feuer zu ersticken. In Panik riefen sie nach einem Rettungsdienst. Doch die Sanitäter konnten sich nur mit Mühe einen Weg durch die Menge der 400.000 Menschen bahnen. Der Pilot eines eilends alarmierten Rettungshubschraubers lehnte es wegen vieler in der Luft befindlicher Luftballons aus Sicherheitsgründen ab, überhaupt aufzusteigen. Schließlich wurde der lebensgefährlich verletzte Student mit einem Rettungswagen in die Bonner Universitätsklinik transportiert.17 Zwei Tage später traf bei der Kieler Rundschau ein Abschiedsbrief ein, in dem Stumpf die Motive für seine Selbstverbrennung nannte. Er brachte darin seine Überzeugung zum Ausdruck, dass der »Rüstungswahnsinn […] direkt auf den nächsten Weltkrieg« zusteuern würde. Die »Atomtechnologie« könne »auf einen Schlag Europa auslöschen«. Wie in einem letzten verzweifelten Ausruf hieß es: »[…] ich halte es nicht mehr aus.«18 Am 2. Juli erlag der Student schließlich auf der Intensivstation der Bonner Klinik seinen schweren Verletzungen. Die meisten Kommentatoren glaubten sich damals darin einig sein zu können, dass es sich bei der Selbstverbrennung zwar um die Verzweiflungstat eines Einzelnen gehandelt habe, der mit einem Fanal die Gesellschaft habe wachrütteln wollen, dass sich in dieser existentiellen Form jedoch auch etwas von der apokalyptischen Stimmung manifestiert habe, die große Teile der Friedensbewegung durchzog. Ein Fanal zu setzen, ist allerdings etwas erheblich anderes als eine Notbremse zu ziehen. Im ersten Fall geht es um einen tragisch konnotierten kommunikativen Akt, durch den eine gewissermaßen als Schicksalsgemeinschaft verstandene Massenbewegung dazu veranlasst werden soll, der Gefährdung gegenüber möglichst angemessen zu handeln. In dem zweiten um den Voll17  Für das Überleben verloren. Schriftstellerin Karin Struck zum Tod des Demonstranten Dietrich Stumpf, Der Spiegel vom 11. Juli 1982. 18 

Zit. nach: ebenda.

zug einer solchen Handlung. Das eine ist mehr als nur ein Zeichen, eher ein selbstzerstörerischer Appell, das andere ein aktives Eingreifen und ein Akt der Rettung, jedenfalls der Versuch, einen solchen einzuleiten. Sollte Helmut Schmidt etwas von dem tragischen Tod des jungen Mannes mitbekommen haben, dann wird er sich vielleicht auch an eine andere Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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Selbstverbrennungsaktion erinnert haben, die sich ebenfalls gegen seine Politik gerichtet hatte. Es war die des 47-jährigen Tübinger Lehrers Hartmut Gründler, der sich am 16. November 1977 während des damaligen Bundesparteitages der SPD in Schmidts Heimatstadt Hamburg ebenso mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Dieser wollte damit gegen wiederholte »regierungsamtliche Falschinformationen« in der Energiepolitik, insbesondere zur Nutzung der Atomenergie und der ungelösten Frage der Endlagerung protestieren. Er wollte seine Aktion, an der er ebenfalls ein paar Tage später in der Klinik starb, nicht als Verzweiflungsakt verstanden wissen, sondern als eine »des Widerstandes und der Entschlossenheit«. Wie aus dem Flugblatt, das er zwei Tage vor seinem Suizid verteilt hatte, außerdem hervorging, begriff er seine Aktion als »Appell gegen [die] atomare Lüge«.19 2018 hat sich in den USA auf eine ganz ähnliche Weise ein Rechtsanwalt das Leben genommen, um damit gegen das Kernproblem des Klimawandels, die Verbrennung fossiler Energieträger, zu protestieren. Der 60-jährige David Buckel hatte sich am 14. April im Prospect Park in Brooklyn angezündet und seine Aktion in einer an die New York Times gerichteten E-Mail mit den Worten begründet, dass sein vorzeitiger Tod nur das widerspiegeln würde, was man sich selber im Zuge der Energieverwendung antue. Die meisten Menschen atmeten die Luft, die durch die Verbrennung fossiler Energieträger vergiftet werde, wieder ein und viele von ihnen würden daran in der Folge sterben. Die Luftverschmutzung zerstöre letztlich den gesamten Planeten.20 Wohl jeder, der sich selbst anzündet, dürfte die Hoffnung hegen, dass die Öffentlichkeit durch diesen existentiellen Akt wachgerüttelt wird und Maßnahmen gegen eine schier übermächtige Gefahr ergreift. Die Aktionsform, die durch den Fall des buddhistischen Mönches Thích Quang –Duc, der sich am 11. Juni 1963 in Saigon angezündet hatte, um gegen das von den Amerikanern lange Zeit gestützte Diêm-Regime zu protestieren, und der die internationale Öffentlichkeit so sehr schockierte, dass ihr der Stellenwert eines Menetekels zuerkannt wurde,21 ist seitdem bei unterschiedlichen Anlässen Hunderte von Malen wiederholt worden. Die damit verbundenen Erwartungen dürften jedoch – wie schon an der Häufigkeit ihres Auftretens zu erkennen ist – vergebens gehegt worden sein. Einer der einflussreichsten Klimaforscher der Welt ist Hans Joachim Schellnhuber, der bis September 2018 Direktor des von ihm gegründeten Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung war und noch immer dem Welt-

19  Zit. nach: Frank Buchmeier, Atomprotest. Ein Aufruf zur Wachsamkeit, Stuttgarter Zeitung vom 12. April 2011. 20  Zit. nach: Prominent gay rights’ attorney dead after apparent selfimmolation, police say, CBS News vom 15. April 2018.

klimarat der Vereinten Nationen ( IPCC) angehört, der international wichtigsten Einrichtung auf diesem Gebiet. Sein 2011 erstmals erschienenes Hauptwerk hätte ursprünglich »Stühlerücken auf der Titanic« heißen sollen. Der

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21  Vgl. David Halberstam, The Making of a Quagmire, London 1965, S. 211.

Bertelsmann Verlag empfand das aber offenbar als zu provokativ und entschied sich schließlich für den doppeldeutigen Titel »Selbstverbrennung«. Das Werk behandelt – wie aus dem Untertitel hervorgeht – »die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff«. Schellnhuber stellte in seinem Vorwort fest, er wolle mit dem Haupttitel möglichst angemessen die »kollektive Torheit« charakterisieren, die den Wärmetod unzähliger Kreaturen verursache.22 Schellnhuber war durchaus klar, dass man damit auch die selbstzerstörerischen Aktionen derjenigen bezeichnen konnte, die in aller Öffentlichkeit den Tod suchen, um ihre Mitmenschen dazu zu bringen, etwas zu unternehmen und eine bevorstehende Katastrophe doch noch abzuwenden. Er wies deshalb auch kurz auf die Serie tibetischer Mönche hin, die für die Unabhängigkeit ihres Landes von China meinten, ihr Leben opfern zu sollen. Doch diese Bedeutung hielt er für ein Missverständnis und wollte sie unbedingt von Vornherein ausgeschlossen sehen.23 Der erwähnte Fall David Buckels hat gewissermaßen eine Verbindung zwischen den beiden Semantiken hergestellt. Indem Buckel seine eigene »Selbstverbrennung« mit dem Protest gegen die klimatische Selbstverbrennung unseres Planeten zu begründen versuchte, hat er die Suizidaktion mit ihrer Verursachung kurzgeschlossen. Beides hat die Gestalt ein- und desselben Wortes angenommen und damit den Eindruck einer Koinzidenz erweckt, bei der es sich – jedenfalls rein physikalisch betrachtet – um ganz ähnliche Prozesse der Vernichtung bzw. Zerstörung handelt. VI. DER KLIMAWANDEL ALS HYPER-OBJEKT Greta Thunbergs Aufruf, zur Rettung des Klimas in den Schulstreik zu treten, war ebenso simpel wie genial. Er bestand lediglich darin, die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu fordern. Ihr Appell wirkte – nicht nur unter ihren Gleichaltrigen. Gerichtet war er an die Erwachsenen, vor allem aber an die Politik und darunter wiederum die staatliche Exekutive. Die Regierenden sollten dafür sorgen, dass die von Menschen gemachte Erwärmung des Globus gegenüber den vorindustriellen Werten auf deutlich unter 2 ° C begrenzt bliebe. Angesichts der Tatsache, dass diese Klimarahmenkonvention von fast allen in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten unter22  Hans Joachim Schellnhuber. Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlestoff, München 2015, S. 6. 23  Ebenda.

zeichnet worden war, ist das ein Ansatz, der seinem ersten Anschein nach auf einem übergreifenden Konsens basiert. Niemand kann ihr unter dieser Voraussetzung vorwerfen, dass sie etwas Einseitiges oder Parteiisches fordern würde. Sie tut nichts anderes, als die Weltgemeinschaft beim Wort zu nehmen und zu verlangen, dass ihre Beschlüsse gefälligst auch in Taten umgesetzt Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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werden müssen. Das allerdings mit einer beispiellosen Konsequenz. Diese Gradlinigkeit und Entschlossenheit rechtfertigen nicht den Vorwurf, dass die damit verbundene Haltung mit einer besonderen Radikalität verbunden sei. Alle Versuche, sie als Extremistin hinzustellen, sind deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Die zunächst von rechter, wie von konservativer Seite erfolgten Angriffe prallten, ohne größere Probleme zu verursachen, an ihr ab, weil der Extremismusvorwurf durch eine Form immanenter Radikalität neutralisiert war. So radikal die zur Klimarettung aufgeführten Erfordernisse auch immer erscheinen mochten, sie waren in die Logik eines international legitimierten Beschlusses eingebunden. Dass der Appell eines 15-jährigen Schulmädchens nun aber eine solche Wirksamkeit entfalten konnte, hing neben der Selbstverständlichkeit, dass es analoger wie digitaler Medien bedurfte, um ihre Message über die Landesgrenzen hinaus zu verbreiten, auch mit dem hohen Maß an Selbst­ evidenz zusammen, die die Klimakrise mittlerweile angenommen hat. Kaum jemand kann noch die Augen davor verschließen, dass die Folgen der durch CO2-Emissionen maßgeblich bestimmten Erhitzung des Klimas immer bedrohlichere Züge angenommen haben: Wetterturbulenzen, Waldbrände und Sturmfluten, Dürreperioden, Wasserknappheit und Ernteausfälle, Artensterben, Gletscher- und Polkappenschmelzen sowie andere klimatische Extremereignisse beherrschen die Nachrichten ein ums andere Mal, nicht ohne das Publikum begleitend von immer neuen Hitzerekorden zu unterrichten. Bezeichnenderweise hatte sich Thunberg direkt nach ihren Sommerferien vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm niedergelassen. Sie war vom Rekordsommer 2018, der selbst die ansonsten nicht gerade mit hohen Temperaturen verwöhnten Skandinavier hatte aufstöhnen lassen, so sehr getroffen, dass sie nun unbedingt etwas gegen eine weitere Steigerung der Hitzegrade und andere zerstörerischen Folgen für das Klima unternehmen wollte. Obwohl im Laufe des darauffolgenden Jahres, durch die allwöchentliche Massenmobilisierung von Fridays for Future ausgelöst, weltweit erhebliche Bewegung in die Klimapolitik gekommen ist, hat sich gezeigt, dass die Appelle keineswegs ausreichend sind, um einen wirklichen Schwenk in der Politik zu erzielen. Auch in Deutschland, wo die Bewegung zu den stärksten überhaupt gehört, ist mit dem von der schwarz-roten Bundesregierung verabschiedeten und von ihr selbst als ambitioniert angesehenen »Klimapaket« und der auf ihm basierenden Klimagesetzgebung unmissverständlich klar geworden, dass die für das Jahr 2030 angesetzten Pariser Klimaziele wohl weit verfehlt werden. Von den großen Industrienationen ohnehin, aber auch von den Schwellenländern und selbst von jenen, die aus westlicher Perspektive

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herablassend als Entwicklungsländer bezeichnet werden. Angeblich sind mit Gambia und Marokko nur zwei afrikanische Länder dazu in der Lage, die Ziele von 2015 einzuhalten. Das bedrohliche Szenario, das sich hinter dem so undramatischen Ausdruck »Klimawandel« verbirgt, der von seiner Semantik her eine ganz allmähliche, sich über Jahrhunderte abspielende Entwicklung suggeriert, stellt keinen single issue und Fridays for Future keines dieser single-issue-movements dar, wie sie in der Erforschung von Protestbewegungen häufig als Standardfall behandelt werden, sondern – wie es der US-amerikanische Publizist Timothy Morton einmal benannt hat – ein Hyper-Objekt.24 Also ein regelrechter Komplexitätskoloss mit unglaublich vielen Faktoren, Determinanten und Rückkopplungseffekten, die sich in fortwährenden Interaktionen befinden, und der in seinen Haupt-, Unter- und Querdynamiken kaum zu fassen ist. Weil die Entwicklung nur schwer zu prognostizieren ist, wird in den Hochrechnungen nicht ohne Grund zwischen Best-Case- und Worst-Case-Szenarien unterschieden, die die Grenzen der Möglichkeitsfelder markieren sollen. Der New Yorker Journalist David Wallace-Wells hat in seinem Band »Die unbewohnbare Erde« große Teile der Fachliteratur zur Klimaforschung ausgewertet und anschaulich beschrieben, was sich hinter diesen so harmlos anmutenden Steigerungsraten von nur wenigen Hitzegraden verbirgt. Selbst wenn die Entwicklung ungefähr so weitergehen würde wie es in Paris anvisiert worden ist, dann würden bei 2 °C immer noch die Eisschilde verschwinden, die auf der Höhe des Äquators liegenden Großstädte wegen Überhitzung unbewohnbar werden, mehrere hundert Millionen an Wassermangel leiden und selbst in den nördlichen Breitengraden Tausende von Menschen an den weiter zunehmenden Hitzeperioden sterben. Das wäre noch das BestCase-Szenario.25 In seinem Worst-Case-Szenario geht der Weltklimarat hingegen von einer Steigerung auf 8 °C aus. Das würde bedeuten, dass rund um den Äquator praktisch kein Mensch mehr leben könnte, weil es so heiß geworden wäre, dass sich dort niemand mehr im Freien bewegen könnte, ohne daran zu Grunde zu gehen. Die Unwetter würden noch weitaus turbulenter ausfal24  Timothy Morton, Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End oft the World, Chicago 2013. 25  David Wallace-Wells, Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung, München 2019, S. 79–88.

len als das, was wir zuletzt ohnehin erlebt haben. Die Wälder würden von ­wahren Feuer­stürmen und die Küsten von extremen Wirbelstürmen heimgesucht. Der Meeresspiegel würde um 60 Meter ansteigen und zur Folge haben, dass weltweit rund zwei Drittel der größten Städte in den Fluten versunken wären. Das Schlimmste dieser so überaus schrecklichen Resultate besteht vielleicht darin, dass diese Horrorprozesse von Dauer und insofern als irreversibel zu betrachten sind. Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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Als am wahrscheinlichsten wird jedoch eine Steigerung von 4 °C angenommen. Die Folgen für die »Hitzekammer Erde« wären selbst dann immer noch überaus dramatisch. Das wird allein schon deutlich, wenn man sich auf den Aspekt Überschwemmungen konzentriert. In Bangladesch würden sich die durch über ihre Ufer tretende Flüsse verursachten Schäden verdreißigfachen, in Indien verzwanzig- und in Großbritannien gar versechzigfachen. Wollte man alle zerstörerischen Folgen bilanzieren, dann käme man auf eine Schaden­summe von 600 Billionen Dollar, womit das gegenwärtig auf der Welt vorhandene Gesamtvermögen übertroffen würde. Zudem gehen die Forscher davon aus, dass sich die Anzahl der in der Folge der Klimakatastrophe ausgelösten Kriege und Konflikte verdoppeln würde.26 Allerdings sollte bei all diesen Szenarien darauf hingewiesen werden, dass es sich um komplexe Hochrechnungen mit einer Menge an Variablen handelt und dass das, was uns vielleicht oder aber wahrscheinlich bevorsteht, in einem nicht geringen Maße auch von der Interaktion zwischen dem Ökosystem und staatlicher Politik abhängig ist, die wiederum von gesellschaftspolitischem Handeln beeinflusst werden kann. VII. DIE UNVERMEIDLICHKEIT DER SYSTEMFRAGE Eines der wichtigsten Elemente der Biosphäre ist der Kohlenstoff. Er ist in allen Lebewesen vorhanden und nach dem Sauerstoff das bedeutendste Element, alles lebende Gewebe ist aus organischen Kohlenstoffverbindungen aufgebaut. Die bekanntesten Kohlenstoffvorkommen sind die fossilen Rohstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas. Diese stellen allerdings keine reinen Kohlenstoffverbindungen dar, sondern Mischungen aus verschiedenen organischen Verbindungen. Sie sind unter hohem Druck durch die Umwandlung pflanzlicher und tierischer Überreste entstanden. Während Kohle das Resultat pflanzlicher Ablagerungen ist, sind Erdöl und Erdgas aus tierischen Ablagerungen entstanden. Kohlenstoff kommt außerdem in der Luft als Kohlenstoffdioxid vor. CO2 entsteht beim Verbrennen kohlenstoffhaltiger Verbindungen, etwa bei der Atmung, und wird durch den sich bekanntlich in Pflanzen abspielenden Prozess der Photosynthese verwertet. Die Forschung hat ergeben, dass 2015 in der Atmosphäre rund 830 Milliarden Tonnen Kohlenstoff vorhanden waren. Da durch die mit der Industrialisierung einsetzende Verbrennung fossiler Energieträger der Umwelt langfristig gebundenes CO2 hinzugefügt wurde, ist der Anteil an der Zusammensetzung der Luft fortwährend weiter angestiegen. Im Jahr 2015 belief er sich auf 400 ppm. Das wiederum stellt einen Anstieg von rund 120 ppm gegenüber dem vorindustriellen Wert dar, der bei 280 ppm lag.

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26  Ebenda, S. 146–152.

Insgesamt sind seit dem Beginn der Industrialisierung rund 530 Mrd. Tonnen Kohlenstoff durch fossile Energieträger freigesetzt worden. Davon blieb etwa die Hälfte in der Atmosphäre zurück und jeweils ein Viertel ist von den Ozeanen und den Landökosystemen absorbiert worden.27 Kohlendioxid ist neben seiner Rolle als Bestandteil des globalen Kohlenstoffzyklus ein natürlicher Bestandteil der Luft, und zwar in der Gestalt des in der Erdatmosphäre vorkommenden Treibhausgases. Vor allem durch die von Menschen betriebene Verbrennung fossiler Energieträger ist der Anteil in der Erdatmosphäre von ca. 280 ppm zu Beginn der Industrialisierung auf inzwischen rund 415 ppm angestiegen. Dieser weiter fortschreitende Zuwachs verstärkt den Treibhauseffekt, der wiederum die Ursache für die aktuelle globale Erwärmung ist.28 Diverse Untersuchungen des Klimawandels in den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, dass der im Laufe der letzten 30 Jahre ökonomisch weltweit durchgesetzte Neoliberalismus sich als ein wahrer Brandbeschleuniger erwiesen hat. Wenn die Indizien für eine nahende Klimakatastrophe stimmen, dann geht es nicht einfach mehr um ein politisches Gegensteuern, sondern um nichts anderes als die Systemfrage. Sie lautet: Kann es angesichts der schon 1972 vom Club of Rome konstatierten »Grenzen des Wachstums« überhaupt eine Abwendung der Klimakatastrophe geben? Das ist angesichts der von Großindustrie, Finanzkapital und nicht zuletzt von den führenden US-amerikanischen Internet-Giganten verfolgten Direktiven eine durchaus grundsätzliche Frage. Denn es ist nicht erkennbar, wie eine auf die permanente Generierung neuen Wachstums setzende Ökonomie die Absorption begrenzter Naturvorräte berücksichtigen und sich der Endlichkeit solcher Ressourcen anpassen können sollte. Wirtschaftliches Wachstum und wissenschaftlich-technischer Fortschritt müssen infrage gestellt werden, wenn kein anderer Ausweg aus dem Dilemma in Sicht ist. Im Zuge des sich weltweit durchsetzenden Neoliberalismus hatten sich die Gewichte in der Weltwirtschaft grundlegend verschoben. Ihre wichtigsten Merkmale waren und sind zum Teil noch immer die Selbstregulierung des 27  Vgl. Markus Reichstein, Universell und Überall. Der terrestrische Kohlenstoffkreislauf im Klimasystem, in: Jochen Marotzke/Martin Stratmann (Hg.), Die Zukunft des Klimas. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, München 2015, S. 125–127.

Arbeitsmarktes, die Reduktion von Spitzensteuersätzen, die Verschlankung

28  Ebenda.

Steuer­politik herbeigeführte grundlegende Umverteilung von unten nach

des Staates durch eine weitgehende Privatisierung seiner Großbetriebe, die Abwicklung wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen und die Marginalisierung der Gewerkschaften als der wichtigsten Organisationsform zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Zu den Folgen der Deregulierungs- und Privatisierungspolitik zählen die zunehmende Durchdringung der Gesellschaft mit Marktimperativen wie Rivalität und Konkurrenz, eine durch die

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oben sowie eine damit einhergehende tiefgreifende Spaltung zwischen Arm und Reich. Vor der Durchsetzung eines derart radikalen und umfassenden liberalökonomischen Prozesses hatte der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi bereits in seinem während des Zweiten Weltkriegs verfassten Grundlagenwerk »The Great Transformation« inständig gewarnt. Er vertrat darin die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes »eine krasse Utopie« bedeute: »Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt.«29 Und genau diese Schreckensprognose steht seit nunmehr über dreißig Jahren weltweit wieder im Raum. Die Durchsetzung der Marktimperative dürfte sich nicht nur als verheerend für die Gesellschaft, sondern auch für die Umwelt, insbesondere das Klima, erwiesen haben. Hatte der mit der Industrialisierung einhergehende Kapitalismus seine Vorherrschaft nicht schon von Anfang an der Ausbeutung fossiler Brennstoffe verdankt, so nahm diese seit Beginn des Neoliberalismus noch dramatisch zu. Das Dilemma besteht seitdem nicht einfach nur darin, dass die begrenzten Ressourcen von Erdöl, Kohle und Erdgas irgendwann aufgebraucht sein werden, sondern dass durch die sich anbahnende oder bereits längst im Gang befindliche Klimakatastrophe die Rahmenbedingungen eines globalisierten Turbokapitalismus so sehr beschädigt werden, dass dies in zerstörerischer Weise auch auf diesen selbst zurückwirken könnte. Schon vor über dreißig Jahren hatte sich der Gedanke aufgedrängt, ob die sich unablässig weiter zuspitzende Klimakrise des auf fossilen Energieträgern basierenden Kapitalismus die Natur und Gesellschaft gleichermaßen enormen Problemen aussetzen würde – neben den umweltzerstörerischen auch in gravierender Weise sozialen. Die Frage erscheint jedenfalls dringlicher als je zuvor, ob eine Wirtschaftsform, die auf der permanenten Generierung von Wachstum gründet, überhaupt (über)lebensfähig ist – von der romantisch anmutenden Vorstellung, eine Versöhnung mit der Natur herbeiführen zu wollen, ganz zu schweigen. Wenn hier nun die These vertreten wird, dass sich die Klimakrise ganz offensichtlich zur Systemfrage ausgewachsen hat, dann sollte dabei betont werden, dass diese nicht mit den seitens der radikalen Linken in der Vergangenheit üblichen Reaktionen beantwortet werden kann. Denn nichts weist darauf hin, dass irgendeine Form von Sozialismus oder Kommunismus die Gesellschaft vor jenem Strudel bewahren könnte, den uns der Raubbau an der Natur beschert hat. Im Gegenteil, alle Staaten und Regime, die sich auf

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29  Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1957, S. 17.

derartige Modelle berufen haben, sind aufgrund der ihnen immanenten Vorstellung von einer unablässigen Produktivitätsmaximierung selbst von einer maßlosen Umweltzerstörung durchdrungen gewesen. Schon allein aus diesem Grund haben sie ihre vermeintliche Vorbildfunktion, von der seit der Aufdeckung der stalinistischen Massenverbrechen ohnehin keine Rede mehr hätte sein dürfen, längst eingebüßt. Nach allen ökonomischen, sozialen und politischen Turbulenzen, die das bis 1990 andauernde bilaterale Zeitalter geprägt haben, spricht vieles dafür, dass es keine Alternative zum Kapitalismus, sondern lediglich eine in ihm gibt. Jedenfalls sind die traditionellen Verfechter einer linken Gesellschaftsutopie bislang immer noch den Beweis schuldig geblieben, dass es – einmal ganz abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz – einen funktionierenden Gegenentwurf gibt. Worum es heute allein gehen kann, das ist ein embedded capitalism, der uns gleichermaßen vor den Auswüchsen des Marktfundamentalismus in Natur und Gesellschaft bewahren könnte.30 Oder wie es der Sozialphilosoph Jürgen Habermas 2008 im Angesicht der internationalen Finanzkrise in einem Interview einmal formuliert hat: »Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik gehen.«31 Das aber würde einer entschiedenen staatlichen Steuerung wirtschaftlicher und umweltpolitischer Prozesse bedürfen, die die zivilgesellschaftlich artikulierten Interessen, zumal der in klimapolitischer Hinsicht, zu befördern hätte. VII. WOHIN FÜHRT DER EXISTENTIELL AUFGELADENE PROTEST? Die Metapher, dass es »fünf Minuten vor zwölf« sei, kennt jedes Kind. Die Tatsache jedoch, dass es seit 1947 eine Doomsday Clock, eine Weltuntergangsuhr gibt, mit der darauf hingewiesen werden soll, wie nah die Gefahr einer globalen Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerückt ist, dürfte weitaus weniger bekannt sein. Eingeführt hatte sie eine hochrangige Gruppe von Naturwissenschaftlern, darunter mehrere Nobelpreisträger, die nach dem Beginn des Atomzeitalters mit dieser in dem Fachmagazin Bulletin of the Atomic Scientists abgebildeten und seitdem mit dem Minutenzeiger im30  Vgl. Kathleen Thelen/Ikuo Kume, The Future of Nationally Embedded Capitalism: Industrial Relations in Germany and Japan, Ithaca/New York 2003.

mer wieder neu eingestellten symbolischen Uhr der Öffentlichkeit den Ernst vor Augen führen wollte. Jedes Mal wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten die Gefahr, dass es zum Ausbruch eines Atomkrieges kommen würde, verschärft hatte, rückte der Minutenzeiger näher an die magische Zahl Zwölf heran. Nachdem man 1947 mit einer Einstellung »sieben vor zwölf« begonnen

31  Peter Leusch, Kapitalismuskritik in der Diskussion, Deutschlandfunk vom 29. März 2012.

hatte, näherte man sich dem Limit, nachdem die USA und die Sowjetunion im Jahre 1953 Wasserstoffbombentests durchgeführt hatten, mit »zwei vor Wolfgang Kraushaar  —  Nach der Notbremse greifen?

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zwölf« auf bedenkliche Weise. Eine ähnliche Gefahrenkonstellation ist mit derselben Zeigerstellung erst 2018 und 2019 erreicht worden. Interessanterweise nun aber nicht mehr allein wegen der Gefahr eines Nuklearkrieges, sondern zugleich wegen der einer drohenden Klimakatastrophe. Es heißt nun, dass die Menschheit durch »zwei existentielle Gefahren bedroht« sei: durch Nuklearwaffen und den Klimawandel. Es ist bemerkenswert, wie sich auch aus Sicht der Atomwissenschaftler diese beiden Gefährdungsherde miteinander vermischt und zugleich potenziert haben. Allerdings sind die Bedrohungsszenarien von ganz unterschiedlicher Beschaffenheit. Am signifikantesten tritt diese Diskrepanz in Erscheinung, wenn man sich auf die ihnen jeweils inhärente Zeitstruktur konzentriert. Während sich ein Atomschlag in einem Modus der Punktualisierung zutrüge, ginge es bei einer Klimakatastrophe um einen Modus der Kumulierung und Verdichtung. Diese Differenz, die sich in gravierend unterschiedlichen Zeitformen niederschlägt, stiftet zugleich auch höchst unterschiedliche Wahrnehmungsformen, die wiederum für jegliches Handeln zur Vernichtungsabwehr folgenreich sind. Während es im ersten Fall darauf ankäme, den Ausbruch einer Atomkatastrophe mit allen nur erdenklichen Mitteln von Anfang an zu verhindern, wäre es im zweiten Fall schwierig, überhaupt einen Soll- oder Scheitelpunkt zu bestimmen, von dem aus von einer bereits im Gange befindlichen und als irreversibel anzusehenden Klimakatastrophe gesprochen werden könnte. Schließlich geben die unter den Klimaforschern in Umlauf befindlichen Krisenszenarien keine exakte Auskunft darüber, was wann und wo an Verheerungen der Fall wäre. Die Zeit- ebenso wie die Raumkoordinaten lassen sich in diesen Entwicklungs- und Verdichtungsprozessen nur sehr bedingt vereinheitlichen.

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Was ist also angesichts dieser prognostischen Kalamität zu tun? Was können Politik und Protest in der Konfrontation mit diesen ökonomisch und finanzpolitisch determinierten Prozessen überhaupt ausrichten? Was wäre überhaupt gewonnen, wenn sich nur das eigene Land als fähig erweisen würde, die Pariser Ziele einzuhalten? Auch wenn es zuletzt an Absichtserklärungen seitens der Bundesregierung oder neuerdings auch der Europäischen Union, in der die Klimapolitik von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als politische Priorität herausgestellt wurde, ja nicht gefehlt hat, so bleibt die Blockadehaltung besonders gewichtiger internationaler Player wie China unter Xi Jinping, Indien unter Narendra Modi und Brasilien unter Jair Bolsonaro unübersehbar. Solange die von autoritären Präsidenten errichteten Schranken nicht beiseite geräumt sind, wird es für eine wirkungsvolle Wende in der globalen Klimapolitik kaum eine realistische Chance geben. Ob die klimapolitische Kehrtwende des Trump-Nachfolgers Joe Biden nach seinem Amtsantritt als neuer US-Präsident dafür ausreicht, wird sich erst zeigen müssen. Wohin die Reise gehen soll, hat vor einiger Zeit der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland ( BUND) verraten. Angesichts der ökologischen Probleme hat er mit der Bemerkung, dass es falsch wäre, in dieser Hinsicht länger noch auf Berlin und damit die Bundesregierung warten zu wollen, Hamburg mit durchaus exemplarischen Absichten einen »Klimakrisenplan« vorgelegt. Um den CO2-Ausstoß möglichst rasch zu senken, heißt es darin, müsse die Hansestadt alles Erforderliche tun, um bis 2035 klima­neutral zu werden. Um das zu erreichen, soll Hamburg bis zu diesem Jahr weitgehend autofrei werden.

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Ausnahmen würden dann nur noch für den Transport von Kranken und Behinderten gemacht werden. Begleitet werden soll das außerdem damit, dass von Anfang an auf den Neubau weiterer Straßen verzichtet und der öffentliche Parkraum für Privatfahrzeuge abgeschafft werden soll. Das Urteil, das sich aufdrängt, lautet: Der »Klimakrisenplan« des BUND ist nicht einfach nur dirigistisch, sondern in seinem Kern bereits Ausdruck einer ökodiktatorischen Gesinnung. Der Versuch, ihn umzusetzen, würde zu einer massiven Konfrontation mit Autofahrern, die keine Aussätzigen, sondern ebenfalls Bürgerinnen und Bürger sind, sowie in letzter Konsequenz wohl zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. Das einzige Land, in dem ein solch rigides Vorgehen denkbar wäre, dürfte China sein. Dort hat man es vor fünf Jahren fertiggebracht, Millionen von Motorrollern fast wie auf Knopfdruck durch Elektroroller zu ersetzen. Möglich war das aber nur, weil es sich bei der dortigen Volksrepublik um ein System handelt, in dem zwei Komponenten miteinander kombiniert worden sind. Die in den letzten zwanzig Jahren zu beobachtende Entfesselung eines Turbokapitalismus hat sich unter den von einer kommunistischen Staatspartei gestifteten und unablässig kontrollierten Rahmenbedingungen vollzogen. So vernünftig und begrüßenswert die Umstellung auf Elektromobilität für das bevölkerungsreichste Land der Welt, das insbesondere in seinen Metropolen unter einem exorbitanten Smog leidet, auch gewesen sein mag, so wenig ist davon zu abstrahieren, dass dies das Resultat eines diktatorischen Regimes ist. Und das kann ja wohl nicht der Preis sein, um die befürchtete Klimakatastrophe zu verhindern: nun auch das eigene Land in eine Ökodiktatur zu verwandeln. Wenn es aber tatsächlich zutreffen sollte, dass der Klimawandel von keiner demokratisch legitimierten Institution mehr – auch nicht von der in den Vereinten Nationen zwar miteinander verbundenen, aber eben nicht zu einer wirklichen Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten – umgesetzt, kontrolliert oder durch einzelne Gegenmaßnahmen gesteuert werden kann, dann zeigt das auf, in welchem Illusionsraum wir uns bewegen. Sei es dem der Politik oder einer globalen Protestbewegung, die zwar über erhebliche Legitimationsressourcen, aber eben über keine Machtmittel verfügt. Um auf die eingangs erörterte, von Greta Thunberg ins Spiel gebrachte existentiell aufgeladene Rhetorik zurückzukommen: Eine Notbremse ist ganz gewiss nicht in Sicht. Aus einer Metapher lässt sich jedenfalls keine Handlungsoption ableiten. Das Sprachbild suggeriert eine Konkretion, für die es in keiner der skizzierten Krisensituationen eine Entsprechung gibt. Auch die messianisch gestiftete, sich auf Walter Benjamin berufende Hoffnung auf eine religiös begründete Rettung im allerletzten Moment dürfte ins Leere stoßen.

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Die erwähnten Existentialien sind am ehesten dazu geeignet, Verzweiflungsakte wie etwa Selbstverbrennungen auszulösen, aber in kaum einer Weise, irgendeine Form demokratisch legitimierter Politik in Gang zu setzen. Die klimapolitischen Erfordernisse kollidieren mit den Voraussetzungen einer repräsentativen Demokratie. Sie sind mit einem Absolutheitsanspruch verknüpft, für den es offenbar kein demokratisch legitimierbares Äquivalent gibt. Die unter der Drohkulisse des Klimadesasters formulierten Imperative vertragen sich schlichtweg nicht mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des parlamentarischen Systems. Wenn alles der Verhinderung weiterer CO2-Emissionen unterworfen werden soll, um Ziele zu erreichen, für die nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Lebensform auf dramatische Weise verändert und eingeschränkt werden müsste, dann kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Gefährdung der Demokratie. Dann wären wir nicht nur mit einem anwachsenden Rechtspopulismus konfrontiert, sondern auch mit einem Klimafundamentalismus, der kein Pardon mehr kennt. Eines der Signalworte, die Greta Thunberg bei ihrer nicht ganz unumstrittenen New Yorker UN-Rede hervorgebracht hatte, lautet: »Unstoppable!« Damit wollte sie die Überzeugung, dass die Fridays-for-Future-Bewegung nicht mehr aufzuhalten sei, pointiert zum Ausdruck bringen. In Wirklichkeit jedoch dürfte sich diese Formel weniger auf die weltweit Protestierenden beziehen als auf die unter turbokapitalistischen Vorzeichen abspielenden systemischen Prozesse in Industrie, Technologie, Wirtschaft und Finanzökonomie. Sie scheinen jedenfalls bis auf Weiteres nicht zu stoppen zu sein – und zwar weder vom Protest noch von der Politik. Wenn jemand nach der Notbremse gegriffen und diese auch gezogen hat, dann war es der Ullstein Verlag, in dem die deutsche Ausgabe von »Common Sense«, Roger Hallams Vademecum zur Klimakatastrophe, hätte erscheinen sollen. Wegen seiner bereits erwähnten Holocaust-Relativierungen hatte das von einem jüdischen Verleger im vorletzten Jahrhundert während der wilhelminischen Gründerzeit etablierte und durch seine liberale Tradition profilierte Unternehmen die Auslieferung mit sofortiger Wirkung gestoppt.32 Die 32  Ullstein Verlag zieht Hallam-Buch zurück, Spiegel Online vom 20. November 2019.

Geschwindigkeit, mit dem dieser Schritt vollzogen wurde, mag zwar überraschend gewesen, aber doch als unumgänglich angesehen worden sein.

Dr. Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, promovierter Politikwissenschaftler, studierte an der Universität Frankfurt am Main Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik und ist seit 1987 Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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MARKTWIRTSCHAFT OHNE WACHSTUMSZWANG? EINE UTOPIE JENSEITS DES KAPITALISMUS Ξ  Andreas Siemoneit / Oliver Richters

Mehrere planetare Grenzen sind überschritten – Klimawandel, Massensterben der Arten und eine Destabilisierung von Ökosystemen schreiten voran.1 Die globale Herausforderung besteht darin, den ökologischen Fußabdruck vor allem der Industrienationen deutlich zu reduzieren und gleichzeitig soziale Spannungen zu vermeiden, was vor allem bedeutet, die Arbeitslosigkeit gering zu halten. Der populärste Lösungsvorschlag lautet: »Grünes Wachstum« in einem marktwirtschaftlich organisierten System. Neue Technologien sollen die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung ermöglichen, Jobs schaffen und den Übergang in eine ressourcenleichte »Wissensökonomie« oder »Dienstleistungsgesellschaft« einleiten.2 In jüngerer Zeit haben jedoch

1  Will Steffen u. a., Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, in: Science 347.6223 (2015), 1259855. 2  Michael Jacobs, Green Growth, in: Robert Falkner (Hg.), The Handbook of Global Climate and Environment Policy, Oxford 2013, S. 197–214.

internationale Studien dargelegt, dass es nirgendwo belastbare empirische Hinweise auf eine solche Entkopplung gibt.3 Laut Umweltprogramm der UN wächst der Materialverbrauch sogar schneller als die Wirtschaftsleistung. Die Förderung und Verarbeitung von Rohstoffen ist für 90 Prozent des Biodiversitätsverlusts und der Wasserbelastung sowie für die Hälfte der Treibhausgasemissionen verantwortlich.4 Viele Aktivist:innen halten »Grünes Wachstum« ohnehin für ein paradoxes Konzept. Für sie ist Marktwirtschaft die Ursache eines Spannungsfeldes zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialer Gerechtigkeit. Sie lehnen nicht nur Märkte, sondern auch Geld, Gewinn, Wettbewerb, Zins oder »die Tauschlogik« ab und wollen Marktwirtschaft durch ein anderes System ersetzen. Gemeinwohlökonomie oder Solidarische Ökonomie, die Entkopplung von

3  Helmut Haberl u. a., A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights, in: Environmental Research Letters 15.6 (2020), 065003; Timothée Parrique u. a., Decoupling debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability, European Environmental Bureau (Hg.), Brüssel 2019. 4  UNEP International Resource Panel, Global Resources Outlook 2019, Nairobi, 2019.

Arbeit und Einkommen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung oder die Wiederbelebung von Karl Marx’ Analysen des Kapitalismus sind einige Punkte der aktuellen Debatte. Doch die Konzepte existieren entweder nur in Ansätzen oder sind historisch bereits gescheitert, weshalb sie stets mit dem Vorwurf des Utopischen konfrontiert sind. Utopien sind in der Tat erforderlich. Wir werben für eine soziale Utopie, die wir im Buch »Marktwirtschaft reparieren« und einigen Fachartikeln ausgearbeitet haben,5 nämlich eine »echte« Marktwirtschaft, die einfach, robust, effizient und gerecht sein kann und damit erheblich realistischer als

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5  Oliver Richters u. Andreas Siemoneit, Marktwirtschaft reparieren: Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie, München 2019; Making Markets Just: Reciprocity Violations as Key Intervention Points. ZOE Institute for Future-Fit Economies Discussion Paper 8, Bonn 2021; https://www.marktwirtschaftreparieren.de/forschung.htm

ihre Alternativen. Zunächst stellen wir dar, warum das umstrittene »Leistungsprinzip« das maßgebliche Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit ist (und sein soll). Anschließend strukturieren wir die breite Debatte um die Wachstumszwänge moderner Ökonomien und fokussieren dabei auf die materielle Grundlage. Es ist vor allem unser Materialverbrauch, der nicht nur ökologische, sondern auch viele ökonomische und soziale Probleme verursacht. Abschließend erläutern wir, wie man unter Rückgriff auf das Leistungsprinzip Politikmaßnahmen begründen kann, die mit bewährten Mitteln ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Stabilität und soziale Gerechtigkeit verbinden können, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT Die Debatte um Verteilungsgerechtigkeit orientiert sich an den drei »Fokalpunkten« Verdienst, Bedarf und Gleichheit – wobei deren Gewichtung und besonders die Rolle des Verdienstes umstritten sind.6 Das Verdienstprinzip besagt, dass wer den Aufwand hat, auch den Ertrag genießen soll, oder andersherum, dass Erträge nicht auf Kosten anderer erzielt werden dürfen. Eigentum als das Recht am Ergebnis des eigenen Tuns findet in dieser Lesart seine Begründung. Im sozialen Austausch erfordert das Prinzip eine Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung (Reziprozität), worunter auch Markteinkommen fallen: Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen. Das bedeutet allerdings auch, dass zunächst einmal jeder selbst für seinen Unterhalt sorgen muss. Dieses Leistungsprinzip war und ist eine der wichtigsten sozialen Gerechtigkeitsnormen überhaupt. Es ist als soziale Notwendigkeit von Gabe und Gegengabe in allen Kulturen und zu allen Zeiten zu finden. Der soziologische Begriff der Reziprozität beschreibt eine Form der »mentalen Buchhaltung«, welche registriert, wer womit bei wem »in der Schuld steht«. Diese Buchhaltung ist weder exakt noch unbestechlich, sondern stark sozial geprägt, arbeitet aber im Großen und Ganzen ziemlich verlässlich. Das Bedarfsprinzip (Sozialprinzip) zielt darauf ab, dass jene, die nicht oder nicht angemessen für ihren Unterhalt sorgen können, nicht ihrem Schicksal überlassen bleiben dürfen. Moderne Gesellschaften haben dieses Prinzip in der Regel als »sozialstaatliche Leistungen« institutionalisiert. Das Gleichheitsprinzip spielt im politischen Alltag vor allem dort eine Rolle, wo es um 6  David L. Miller, Principles of Social Justice, Cambridge 1999; Andreas Siemoneit, Justice as Social Bargain and Optimization Problem, ZOE Institute for Future-Fit Economies Discussion Paper 7, Bonn 2021.

Teilhabe, Schutz vor Diskriminierung und prozedurale Gerechtigkeit geht (Gleichheit vor dem Gesetz, »one person, one vote«). Als Verteilungsprinzip im Sinne von »ungleicher Aufwand, gleicher Ertrag« wird Gleichheit in aller Regel nicht als gerecht empfunden, wiewohl es starke gesellschaftliche Widerstände gegen ungezügelte Ungleichheit gibt. Andreas Siemoneit / Oliver Richters  —  Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang?

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Kombiniert man das Leistungsprinzip mit dem Sozialprinzip, dann entspricht dies dem Gerechtigkeitsverständnis der meisten Menschen, quer durch alle Bevölkerungsschichten und Parteien.7 Sie erkennen als grundlegendes Gerechtigkeitsprinzip an, dass jene mehr Einkommen erhalten sollen, die kompetent und fleißig sind. Ein wesentliches Problem ist, dass »Leistung« sich weder objektiv definieren noch messen lässt – Leistung ist stark kontextabhängig und wird letztlich immer von den Empfänger:innen bewertet, nicht von jenen, die sie erbringen. Diese praktischen Bestimmungsschwierigkeiten haben manche zu dem Schluss verleitet, es handele sich lediglich um eine »kapitalistische Ideologie«, mit der eine systematische Machtasymmetrie zwischen Arbeit und Kapital verschleiert werde. Ironischerweise wird das Leistungsprinzip jedoch auch von seinen Kritiker:innen vehement eingefordert. Gerade die Empörung über überzogene Boni oder schlecht bezahlte Arbeit zeigt, wie wichtig den Menschen Leistungsgerechtigkeit ist.8 Sogar das marxistische Konzept der kapitalistischen Ausbeutung als ungerechtfertigte Aneignung des Mehrwertes bezieht sich implizit auf das Leistungsprinzip. Was also tun, wenn Leistung einerseits eine soziale Fundamentalnorm ist, sich aber andererseits nicht objektiv bestimmen lässt? Was wir hier theoretisch anbieten, ist eine Umkehrung der Beweislast und gleichzeitig eine Rehabilitierung von Marktwirtschaft.

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7  Jule Adriaans u. a., A comparison of earnings justice through­ out Europe, in: DIW WeeklyReport 9.44/45 (2019), S. 397–404. 8  Miller 1999; Siemoneit 2021.

DIE SOZIALE UTOPIE DER MARKTWIRTSCHAFT Marktwirtschaft ist eigentlich ein brillantes Konzept. Dank der Nutzung von Geld gehorcht auch ein komplexes Austauschgeflecht ziemlich simplen Regeln, und Preise dienen der gegenseitigen Kommunikation über den Wert von materiellen und immateriellen Leistungen. Die dezentrale Koordination über Geld erlaubt es, Tauschhandel auch mit Menschen zu betreiben, die weit außerhalb der begrenzten Reichweite persönlicher sozialer Beziehungen leben. Verschiedene Unternehmensformen, gemeinnützige und staatliche Einrichtungen können auf diese Weise dezentral koordiniert miteinander interagieren. Die Verteilung der Entscheidungen auf viele Haushalte und Unternehmen ermöglicht flexible Anpassungsprozesse. Im Gegensatz zur Forderung »Kooperation statt Konkurrenz« der Solidarischen Ökonomie setzt Marktwirtschaft auf »Kooperation durch Konkurrenz«: Im Idealbild der volkswirtschaftlichen Theorie begrenzt Wettbewerb jede Macht9  Oliver Richters u. Andreas Siemoneit, Marktwirtschaft reparieren, 2019.

konzentration. Politik setzt die Regeln, alle Unternehmen halten sich daran,

10  Bspw. Ulrike Herrmann, Der Sieg des Kapitals, Frankfurt a. M. 2013.

Tauschmittel. Die Vorstellung einer »unsichtbaren Hand« besagt nichts an-

niemand hat die Möglichkeit, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Alle Einkommen sind auch wirklich verdient, und Geld ist dabei ein neutrales deres, als dass eine Orientierung an den eigenen Interessen nicht im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen muss. Wenn das Leistungsprinzip gewährleistet ist, dann kann eine Marktwirtschaft sich über Angebot und Nachfrage selbst steuern. Zusammengenommen ergibt dies eine im besten Sinne utopische Vorstellung.9 Da die Realität ganz offensichtlich von diesem Idealbild abweicht, wird die Theorie insgesamt als unrealistisch zurückgewiesen.10 Aus unserer Sicht ist jedoch nicht die Theorie gescheitert, sondern eine gesellschaftliche und politische Praxis, die »leistungslose Einkommen« toleriert – und damit meinen wir nicht die staatliche Grundsicherung, sondern unverdiente Markteinkommen, die ihren Ursprung nicht in der Leistung des Einzelnen haben, sondern in den Leistungen anderer, der Allgemeinheit oder der Natur. Leistungslose Einkommen sind die eigentliche Achillesferse von Marktwirtschaften, und damit ist ein Weg gewiesen für die Suche nach einer gerechten Wirtschaftsordnung: Zwar ist umstritten, was »Leistung« (alles) ist, aber viel leichter lässt sich Konsens darüber erzielen, was definitiv keine Leistung ist. Wenn das Leistungsprinzip eine fundamentale Gerechtigkeitsnorm ist, dann kann die politische Aufgabe in einer Marktwirtschaft negativ formuliert werden als die Suche nach den Quellen leistungsloser Einkommen, die trockenzulegen sind. Eine solche Analyse kann nicht nur zu mehr Gerechtigkeit führen, sondern auch zu einem Verständnis, woher die politische Obsession mit Andreas Siemoneit / Oliver Richters  —  Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang?

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dem Wirtschaftswachstum kommt – das einer nachhaltigen Gesellschaft offenkundig im Wege steht. WAS IST EIGENTLICH EIN WACHSTUMSZWANG? Ist Wachstumspolitik nur eine politische Modeerscheinung, ein Relikt des Kalten Krieges mit seiner Systemkonkurrenz, oder besitzt das gegenwärtige Wirtschaftssystem einen inhärenten Wachstumszwang? Es ist wichtig, hier die Mikroebene der Individuen und die Makroebene der Gesellschaft auseinanderzuhalten, denn das Problem beginnt auf der Mikroebene. Wann unterliegt ein Individuum einem Wachstumszwang?11 Das Wort Wachstumszwang suggeriert Alternativlosigkeit, aber bei gesellschaftlichen Zwängen handelt es sich praktisch nie um Alternativlosigkeiten. Man wird nicht gewaltsam gezwungen, etwas Bestimmtes zu tun, aber wenn man es nicht tut, vergrößern sich kontinuierlich die Schwierigkeiten. Soziale oder ökonomische Einflüsse als Wachstumszwang zu bezeichnen, halten wir nur dann für gerechtfertigt, wenn ihre Nichtbeachtung existentielle Konsequenzen hätte, beispielsweise den Verlust des Einkommens oder den völligen Verlust sozialer Beziehungen (soziale Exklusion). Wir definieren dementsprechend, dass ein sozialer Zwang nur dann vorliegt, wenn äußere Umstände (wie soziale Normen, Preise, technische Infrastrukturen) die Entscheidungsspielräume für die Alternativen einer existentiellen Notwendigkeit systematisch und massiv in eine Richtung verschieben. Ein individueller Wachstumszwang (auf der Mikroebene) ist folglich vor allem dann gegeben, wenn ein Akteur ständig seine ökonomischen Anstrengungen erhöhen muss, um sein Einkommen zu sichern. Ein (schwächerer) Wachstumstreiber liegt vor, wenn keine existentiellen Konsequenzen zu befürchten sind, sondern individuelle Wünsche, soziale Konformität oder schwacher sozialer Druck die Handlungsmotive beeinflussen. Mit dieser engen Definition von Wachstumszwang wollten wir ergründen, warum sich letztlich auch diejenigen für Wachstum entscheiden müssen, denen das eigentlich egal ist. Wir bestreiten nicht, dass es viele Wachstumstreiber gibt, aber wenn man sich individuell vom Wachstum abkoppeln könnte, dann sollten wir mehr solcher Beispiele in der Gesellschaft beobachten – bei Unternehmen ebenso wie bei Konsument:innen. DER INDIVIDUELLE WACHSTUMSZWANG Zu den ältesten Verdächtigen für einen systemischen Wachstumszwang zählen die Gewinnmaximierung von Unternehmen sowie zinsbehaftetes Geld. Unternehmen und Banken seien stets gezwungen, einen Teil ihrer Profite

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11  Oliver Richters u. Andreas Siemoneit, Growth imperatives: Substantiating a contested concept, in: Structural Change and Economic Dynamics 51 (2019), S. 126–137.

zu reinvestieren, Kapital zu akkumulieren und die Produktion auszudehnen.12 Allerdings gibt es in der ökonomischen Theorie zwei Gewinnbegriffe. Ein Unternehmen kann durchaus profitabel sein, wenn es jedes Jahr einen buchhalterischen Gewinn erwirtschaftet und diesen an die Eigentümer:innen ausschüttet, die ihn für den Lebensunterhalt verwenden. Ein ökonomischer Gewinn liegt vor, wenn über den Lebensunterhalt hinaus noch Geld für das Unternehmen übrig bleibt (Wachstum durch Investitionen). Der scheinbare Wachstumszwang durch Gewinnmaximierung entsteht durch eine unzulässige (oder geschickte) Vermischung der beiden Gewinnbegriffe: Gewinne seien notwendig für das Überleben eines Unternehmens, würden aber zwangsläufig zu Wachstum führen.13 Ähnliche konzeptionelle Fehler werden bei vermuteten Wachstumszwängen durch Kreditzinsen und die Gewinne von Banken gemacht.14 Bleibt noch 12  Mathias Binswanger, Der Wachstumszwang, Weinheim 2019; Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Hamburg 1867. 13  Richters u. Siemoneit, Growth Imperatives, 2019. 14 

Oliver Richters u. Andreas Siemoneit, Consistency and stability analysis of models of a monetary growth imperative, in: Ecological Economics 136 (2017), S. 114–125. 15  Joseph A. Schumpeter, Capitalism, socialism and democracy, New York 1942.

16  Mario Pianta, Innovation and employment, in: Jan Faberberg u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Innovation, Oxford 2006, S. 568–598. 17  Robert U. Ayres u. Benjamin Warr, The economic growth engine, Cheltenham 2009; Reiner Kümmel, The Second Law of Economics, New York 2011. 18  Richters u. Siemoneit, Growth Imperatives, 2019.

die kapitalistische Konkurrenz. Bereits Schumpeter wies darauf hin, dass Unternehmen sich gezwungen sehen, ständig zu investieren und zu expandieren, um mit dem technischen Fortschritt mitzuhalten und dem Wettbewerbsdruck standzuhalten.15 Die »schöpferische Zerstörung« vor allem durch technische Innovationen lässt ganze Industrien untergehen.16 Erst neue Produktionsverfahren und technischer Fortschritt machen dauerhaftes Wachstum überhaupt möglich, lehrt die ökonomische Wachstumstheorie. Technischer Fortschritt gilt vielen nun als unabänderlich, als geradezu naturhaftes Wachstum von Wissen, Bildung und Ideen. Aber Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Wachstum und Energieverbrauch17 zeigen, dass die tiefere Logik schlichter ist. Die menschlichen Einfälle konzentrieren sich systematisch auf die ressourcenintensive Steigerung von Effizienz in allen Bereichen: in der Produktion, beim Transport, in der Datenverarbeitung, bei Dienstleistungen. Technologie ist ökonomisch attraktiv, weil sie teure menschliche Arbeit durch Maschinen und ihren preiswerten Rohstoffverbrauch ersetzt oder aufwendige Arbeitsschritte erst erschwinglich macht.18 Man kann sich im Markt durch den intelligenten Mehrverbrauch von natürlichen Ressourcen systematisch besserstellen, was sich beispielsweise für die MINT-Berufe19 empirisch in einer niedrigeren Arbeitslosigkeit und höheren Einkommen äußert. Sie profitieren von ihrer Fähigkeit, natürliche Rohstoffe in Produktionsfaktoren zu verwandeln und Naturleistungen am Markt als eigene Leistungen auszugeben (skill-biased technical change). In ökologischer Hinsicht äußert es sich vor allem in Rebound-Effekten, also der überraschenden Erkenntnis, dass Rohstoffe zwar an verschiedenen Stellen

19  Ein Akronym aus Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Technik

erfolgreich eingespart werden, aber nur, um anderswo umso zielführender verbraucht zu werden. Dementsprechend steigt der Rohstoffverbrauch in Andreas Siemoneit / Oliver Richters  —  Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang?

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enger Korrelation mit der Wirtschaftsleistung an, und Verbesserungen der Rohstoffeffizienz in einzelnen Ländern sind vor allem mit der Verlagerung materialintensiver Produktion ins Ausland zu erklären.20 Für unsere Analyse ist vor allem ein Punkt wesentlich: Wer ressourcenintensive Technologien einsetzt, betreibt im wirtschaftlichen Wettbewerb eine Art »materielles Doping«, eine Leistungssteigerung, die vom Konzept der Reziprozität systematisch nicht erfasst werden kann. Das postulierte marktwirtschaftliche Verteilungsprinzip »Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen« lautet in der Realität eher »Es verdient mehr, wer Ressourcen marktgerechter verbraucht«. Die kapitalistischen Zwänge und ihre Akkumulationsdynamik sind somit nicht einfach im System angelegt, sondern bedürfen einer sehr physischen Basis, ohne die sich die Wettbewerbsfähigkeit nicht laufend steigern ließe.21 Auch Haushalte müssen bei technischen Entwicklungen von Autos, Computern oder Smartphones mithalten, um nicht ökonomisch und sozial abgehängt zu werden (»Effizienzkonsum«).22 Effizienz ist demnach ein Angebot, das man weder als Unternehmen noch als Konsument:in ablehnen kann. DER POLITISCHE WACHSTUMSZWANG Die beschriebenen technischen Innovationen vernichten gering qualifizierte Arbeitsplätze und die zugehörigen Arbeitseinkommen, was die Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben im Steuersystem und in der Sozialversicherung gefährdet. Da zudem die Norm des Leistungsprinzips fordert, dass jeder grundsätzlich für seinen Unterhalt selbst sorgen muss, entsteht hier ein gesellschaftliches Dilemma, welches Politiker:innen dazu nötigt, Wachstum zu forcieren, um eine hohe »technologische Arbeitslosigkeit« zu verhindern. Der politische Wachstumszwang entsteht also aus dem Spannungsdreieck steigender Arbeitsproduktivität, der sozialen Notwendigkeit eines MindestLebens­standards für alle und des Leistungsprinzips als fundamentaler Sozialnorm, das einer Umverteilung Grenzen setzt. Wird keine dieser drei Annahmen in Frage gestellt, dann bleibt Wachstumspolitik die einzige realistische Option. Die meisten Wachstumskritiker:innen stellen das Leistungsprinzip in Frage, erscheint ihnen dieses doch als kulturell kontingent. Wir haben versucht, deutlich zu machen, dass es das gerade nicht ist. Wo aber dann ansetzen? DIE QUELLEN LEISTUNGSLOSER EINKOMMEN TROCKENLEGEN Gesucht wird ein Lösungsansatz, der sowohl Verletzungen des Leistungsprinzips verhindert, als auch den ökologisch gefährlichen Wachstumszwang überwindet und Wege aufzeigt, wie Wirtschaft und Gesellschaft auch ohne Wachstum politisch stabilisiert werden können. Diese Transformation ist

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Ökologismus — Analyse

20  Heinz Schandl u. a., Global Material Flows and Resource Productivity: Forty Years of Evidence, in: Journal of Industrial Ecology 22.4 (2018), S. 827–838; Thomas O. Wiedmann u. a., The material footprint of nations, in: PNAS 112.20 (2015), S. 6271–6276. 21  Richters u. Siemoneit, Growth Imperatives, 2019. 22  Andreas Siemoneit, An offer you can’t refuse: Enhancing personal productivity through ›efficiency consumption‹, in: Technology in Society 59 (2019), 101181.

weniger eine kulturelle Frage als eine der ökonomischen Rahmenbedingungen. Bedeutet das also mehr staatliche Eingriffe in die Wirtschaft? Wir sind der Auffassung, dass man mit wenigen, aber zielgenauen Maßnahmen der Utopie von selbststeuernden, gerechten Märkten näherkommen kann. Im Kern geht es darum, die wichtigsten Quellen systematisch leistungsloser Einkommen (auch ökonomische Renten genannt) trockenzulegen, und da sehen wir vor allem drei Baustellen.23 Einem Wachstumszwang, für den Technologie und die eng damit verbundene Ausbeutung natürlicher Ressourcen verantwortlich sind, lässt sich mit 23  Richters u. Siemoneit, Marktwirtschaft reparieren, 2019. 24  Catherine M. Kunkel u. Daniel M. Kammen, Design and implementation of carbon cap and dividend policies, in: Energy Policy 39.1 (2011), S. 477–486; Paul Segal, Resource Rents, Redistribution, and Halving Global Poverty: The Resource Dividend, in: World Development 39.4 (2011), S. 475–489.

geeigneter Rohstoffpolitik begegnen. Man könnte den Ressourcenverbrauch über einen Lizenzhandel (»Cap & Trade«) begrenzen und die Erträge aus der Nutzung natürlicher Ressourcen als ökologisches Grundeinkommen ausschütten (»Cap & Dividend«). Durch die Rückgabe der Einnahmen aus dem Lizenzhandel würden Preissteigerungen für ressourcenintensive Produkte »sozial neutralisiert«, allerdings würden (erfreulicherweise) vor allem jene mit einem ressourcenleichten Lebensstil profitieren.24 Weitere leistungslose Einkommen lassen sich bei Grund und Boden identifizieren. Der Wert eines Grundstücks ergibt sich vor allem aus der Lage,

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deren Wert von öffentlichen Investitionen und der Nähe anderer Menschen abhängt. Dieser Wert kann heute vom Eigentümer als leistungsloses Einkommen (Standort- oder Bodenrente) privatisiert werden. Stattdessen könnten die Bodenwerte über Bodenwertsteuern für die Allgemeinheit nutzbar gemacht werden, beispielsweise um jene öffentlichen Investitionen zu finanzieren, die den Bodenwert überhaupt erst erzeugen.25 Eine dritte wesentliche Quelle leistungsloser Einkommen ist die Macht großer Unternehmen und sehr reicher Personen, politische Entscheidungsprozesse zugunsten ihrer Interessen zu beeinflussen (rent-seeking, regulatory capture). In der Regel läuft das darauf hinaus, dass Wunschmärkte politisch gestaltet werden, um Wettbewerb zu unterbinden und leistungslose Einkommen erzielen zu können. Staatliche Garantien, Subventionen und Rettungsgelder für Großkonzerne sind weder demokratisch noch ökonomisch akzeptabel. Dem gilt es entgegenzuwirken, indem die Größe und ökonomische Macht von Unternehmen und privaten Vermögen begrenzt wird, beispielsweise über eine progressive Einkommen- und Vermögensteuer. Dass Marktwirtschaft und damit Gerechtigkeit, wenn sie selbststeuernd sein sollen, nur in machtarmen Strukturen funktionieren können, betonten schon die Väter der »sozialen Marktwirtschaft«.26 Gegen ökonomische Renten politisch vorzugehen, dürfte eine Forderung sein, hinter der sich ein großes Bündnis verschiedener Strömungen und Organisationen versammeln könnte, von Gewerkschaften über Kritiker:innen von Mietsteigerungen, städtischen Verdrängungsprozessen und unbegrenzter Konzernmacht bis hin zu Sozialliberalen, die sich noch an die Freiburger Thesen der FDP von 1971 erinnern. FAZIT Unsere Vorschläge bestehen vor allem in der klugen Setzung von grundsätzlichen Grenzen: Gesellschaftliche Obergrenzen für wirtschaftliche Macht und ökologische Obergrenzen für Rohstoffverbrauch. Grenzen haben speziell bei Liberalen keinen guten Ruf – sie stehen im Verdacht, das Gegenteil von Freiheit zu sein. Aber Grenzen können auch Freiheiten schaffen, nämlich neue und bessere Handlungsalternativen.27 Unsere drei Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit basieren auf der gemeinsamen normativen Grundlage, leistungslose Einkommen zu verhindern. Anstatt mittels Besteuerung, Subventionen und Sozialpolitik eine nachträgliche Umverteilung der Markteinkommen gegen vielfältige Widerstände durchzusetzen (Sekundärverteilung), würde man von vornherein die Gerechtigkeit der Markteinkommen verbessern (Primärverteilung).

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25  Ottmar Edenhofer u. a., Hypergeorgism: When Rent Taxation Is Socially Optimal, in: FinanzArchiv: Public Finance Analysis 71.4 (2015), S. 474–505; Mason Gaffney, The hidden taxable capacity of land: enough and to spare, in: International Journal of Social Economics 36.4 (2009), S. 328–411. 26  Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1940. 27  Karl Homann, Anreize und Moral: Gesellschaftstheorie – Ethik – Anwendungen, Münster 2003.

Das Ergebnis wären Einkommen durch »ehrliche Arbeit« statt durch Ressourcenverbrauch und Marktmacht, und vor allem Einkommen für alle, ohne eine hohe Sockelarbeitslosigkeit, die überwiegend auf »technologischer Arbeitslosigkeit« beruht. Damit wäre auch die oben angesprochene Machtasymmetrie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht mehr so selbstverständlich wie heute. Leistung soll sich lohnen – das klingt sehr marktradikal, aber gerade die Vertreter eines wirtschaftlichen Liberalismus haben völlig falsche Vorstellungen davon, wo heutzutage das Leistungsprinzip verletzt wird. Durch die Umsetzung der von uns vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Krisenursachen wirksam bekämpft, allerdings in einer eher indirekten Art und Weise. Wenn Leistungsgerechtigkeit sichergestellt ist, dann kann eine Marktwirtschaft sich selbst steuern, weil keine »Wirtschaftspolitik« im engeren Sinne und auch keine kleinteiligen Eingriffe in den Markt erforderlich sind. Politik hat die primäre Aufgabe, dafür den Rahmen zu setzen, und das mit aller politischen Macht. Aus den Details kann sie sich dann aber weitgehend heraushalten. Insofern könnte die alte liberale Forderung, die Politik möge nicht in den Markt eingreifen, Sinn ergeben – aber erst, wenn die Politik einen vernünftigen Markt geschaffen hat. Eine echte Marktwirtschaft kann eine solche Selbststeuerung über den Preismechanismus eigentlich leisten, vorausgesetzt, die Preise sagen etwas über die Leistung der Menschen aus. Man kann einwenden, dass sich der Kapitalismus nie in dieser Weise begrenzen lassen wird. Dann muss man aber auch erklären, warum andere, weitaus utopischere, kompliziertere und willkürlichere Modelle höhere Erfolgschancen haben sollen. Wir halten die soziale Utopie einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Marktwirtschaft insofern für die realistischste aller unrealistischen Ideen.

Dr. Oliver Richters, geb. 1986, ist studierter P ­ hysiker und hat am Lehrstuhl für internationale Wirtschaftsbeziehungen der Carl-von-­Ossietzky-Universität Oldenburg in Wirtschafts­ wissen­schaften promoviert. Er ist Fellow des Instituts für zukunftsfähige Ökonomien (ZOE). twitter: @RichtersOliver. Andreas Siemoneit, Physiker und Wirtschafts­ingenieur, ar­ beitet als Software-Architekt und System­berater in Berlin. Im Nebenberuf befasst er sich mit den großen sozialwissenschaftlichen Kontro­versen und promoviert am Lehrstuhl für Ökologische Ökonomie der Carl-von-Ossietzky-­Universität Oldenburg in Wirtschafts­wissen­schaften. Er ist Fellow des ­Instituts für zukunfts­fähige Ökonomien (ZOE). Gemeinsame Website zum Thema: www.marktwirtschaft-reparieren.de

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VERZICHT FÜR GESUNDHEIT UND UMWELT ZUR RESONANZ DER LEBENSREFORM BIS HEUTE Ξ  Eva Locher

Im Frühling 2021 fällt auf öffentlichen Plakatwänden in der Schweiz ein Sujet auf: Ein junges Paar steht vor einem Grill, auf dem große Fleischstücke und Würste braten. Er blickt – entspannt mit Bierflasche in der Hand – lächelnd auf das Fleisch. Sie balanciert in der einen Hand ihr Getränk, während sie sich mit der Zange in der anderen Hand vorfreudig um die Steaks und Würste kümmert. Der Grill wirft jedoch einen denkwürdigen Schatten, da er verkohlte und abgesägte Baumstrünke an eine rosa Wand projiziert. Die Botschaft der Plakatkampagne von kirchlichen Organisationen ist klar: »Weniger Fleischkonsum – mehr Regenwald«.1 Dieses Wissen um die Verzahnung von individueller Ernährung und globalen ökologischen Fragestellungen hat sich mittlerweile in beträchtlichen Teilen der Gesellschaft etabliert und schlägt sich in einem immer größeren Angebot an pflanzlichen Lebensmitteln sowie einer breiten, fortschreitenden Akzeptanz der fleischlosen Ernährung nieder. Der Anspruch, durch den Verzicht auf Fleisch oder auf tierische Produkte etwas für die Umwelt zu tun, stößt bei vielen Menschen auf Anklang oder transformiert sich gar zu einem Imperativ. Diese Verknüpfung von Ernährungsweise und Umweltbewusstsein ist indes ebenso wenig neu wie der Vegetarismus an sich. Bereits die Lebensreform trat seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für eine Lebensgestaltung im Einklang mit der Natur ein, identifizierte das Individuum als Antrieb für gesellschaftliche Veränderung und rückte die Ernährung – vor allem den Fleischverzicht – ins Zentrum. Sie koppelte den Vegetarismus insbesondere nach 1945 immer stärker an ökologische Argumente. NATÜRLICH UND GESUND Die Lebensreform – hier verstanden als soziale Formation und als Idee – entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert und umfasste verschiedene Strömungen und Sozialreformbestrebungen. Zum engeren Kreis werden meist der Vegetarismus, die Naturheilkunde und die Freikörperkultur gezählt.2 Lebensreformer3 um 1900 empfanden die engen Wohnverhältnisse, die Lärm- und Luftverschmutzung in den Städten oder die Beschleunigung des Alltags im

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1  Brot für alle/Fastenopfer/ Partner sein, Ökumenische Kampagne, https://sehen-undhandeln.ch/kampagnenvorschau/ [eingesehen am 01.05.2021]. 2  Diese Kategorisierung geht auf Wolfang Krabbe zurück, vgl. Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974. 3  Hier werden die männliche und weibliche Form in beliebigem Wechsel verwendet, wenn Personengruppen beide Geschlechter umfassen.

Kontext von Industrialisierung und Urbanisierung als Zumutung und krankmachend und wollten dieser Entwicklung ein selbstbestimmtes, einfaches und insbesondere gesundes und naturbewusstes Leben entgegenstellen. Die von ihnen propagierte »naturgemäße Lebensweise« umfasste den Appell, dass sich jede und jeder selbst optimieren und möglichst gesund und natürlich leben müsse. Nur durch den Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin lasse sich das gesunde Leben erreichen, so die Überzeugung. Die angestrebte Selbstreform, die immer an erster Stelle stand, sollte in einem zweiten Schritt zu einer Verbesserung und Veränderung der Gesellschaft führen. Nahm die historische Forschung bislang vor allem die Lebensreform in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick, setzt sich neuerdings die Erkenntnis durch, dass die Lebensreform auch nach 1945 große Wirkung entfaltete und auffällige Kontinuität aufwies. Ihr sozialreformerischer Anspruch und das Ziel des gesunden und an der Natur ausgerichteten individuellen Lebens blieben während des gesamten 20. Jahrhunderts aktuell; sie passte die Begründungen für die »naturgemäße Lebensweise« an den jeweiligen Kontext an. So kritisierten Lebensreformer nach 1950 verschiedene Aspekte der Wachstums- und Konsumgesellschaft und sorgten sich um die zunehmende Umweltverschmutzung. Die Lebensreform bestand während des gesamtem 20. Jahrhunderts aus verschiedenen Vereinen und Einzelpersonen. Die unterschiedlichen Gruppierungen setzten zwar jeweils thematische Schwerpunkte – beispielsweise auf die Ernährungsreform, die Naturheilkunde oder die Freikörperkultur –, ihre Forderungen überlappten sich aber. Ihre Anhängerschaft kombinierte meist verschiedene Praktiken im Alltag und war oftmals in mehreren Vereinen aktiv. Reformorganisationen popularisierten ihr Wissen in unzähligen Zeitschriften, Büchern oder Kursen. Sie sprachen vor allem den Mittelstand an. Es engagierten sich überwiegend Personen, die bereits eine berufliche Position erlangt und Familien gegründet hatten. Diese Menschen mittleren Alters waren zum einen mit den nötigen finanziellen Ressourcen ausgestattet, um sich den spezifisch reformerischen und teuren Konsum der möglichst naturbelassenen Lebensmittel, Körperpflegeprodukte und Alltagsgegenstände leisten zu können. Zum anderen verfügten Angehörige der Mittelschicht über den nötigen Bildungsgrad, um für die typischen reformerischen Krisendiskurse und Bewältigungsstrategien empfänglich zu sein. Galt zunächst Deutschland als Wiege der Lebensreform, zeigt die neuere Forschung, dass lebensreformerische Aktivitäten sich auch in anderen Ländern wie etwa in den USA , in Frankreich, den Niederlanden, in Skandinavien, Österreich und in der Schweiz manifestierten. Die Lebensreformerinnen Eva Locher  —  Verzicht für Gesundheit und Umwelt

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standen über Ländergrenzen hinweg in engem Kontakt. Sie übersetzten und veröffentlichten gegenseitig ihre Schriften, tauschten sich in Kursen und Ferientreffen aus oder waren in grenzüberschreitenden Gremien aktiv, sodass sich die reformerischen Diskurse und Praktiken über Ländergrenzen hinweg verschränkten.4 ARGUMENTE FÜR DEN VEGETARISMUS Den Kern der »naturgemäßen Lebensweise« machte die Ernährung aus. Reformer stellten von Anfang an den aufgrund neuer Produktions- und Verarbeitungsweisen immer stärker verarbeiteten Speisen natürliche und unverfälschte Nahrungsmittel gegenüber und propagierten Produkte nach gesundheitsfördernden Aspekten. Zentral war der Fleischverzicht. Als in der Nachkriegszeit im Zuge der »Fresswelle« das Essen immer reichhaltiger wurde, der Massenkonsum durchbrach und ein großes Angebot von Produkten sowie Fleisch als Wohlstandsindikator jederzeit für die breiten Bevölkerungsschichten verfügbar waren, setzten Reformerinnen weiterhin auf Mäßigkeit, Natürlichkeit und Gesundheit und konsumierten möglichst unverarbeitete Lebensmittel aus ihrem eigenen Produktions- und Distributionsnetzwerk der Reformhäuser. Damit grenzten sie sich stark von den gesellschaftlichen Essgewohnheiten ab.5 Der Vegetarismus nahm in der Lebensreform einen besonderen Stellenwert ein, bekannten sich doch die meisten Adepten der »naturgemäßen Lebensweise« dazu. Zunächst sprachen aus ihrer Sicht vor allem gesundheitliche Gründe für den Fleischverzicht. Für sie stellte Fleisch keinen Energielieferanten und keine Nährwertquelle für den Körper dar, sondern es machte die Menschen im Gegenteil krank und schlapp. Sie propagierten die laktovegetabile Ernährung als für den Menschen geeigneter und besser, weil nur sie Gesundheit fördere. Ebenso brachten die oftmals pazifistisch eingestellten Lebensreformer ethische Motive vor. Da der Fleischkonsum zwingend das Töten von Tieren voraussetzt, hielten sie eine fleischhaltige Ernährung für ethisch nicht vertretbar. Seit den 1960er Jahren lässt sich in der Lebensreform jedoch auch eine stärkere Hinwendung zu ökologischen Überlegungen beobachten, die renommierte Lebensreformer wie beispielsweise Ralph Bircher (1899–1990) vorbrachten. Ralph Bircher war als Sohn des international bekannten Zürcher Arztes Maximilian Bircher-Benner (1867–1939), dem Erfinder des reformerischen Exportschlagers »Birchermüsli«, ein Reformer der zweiten Generation. Sein Vater Bircher-Benner hatte ein eigenes Ernährungskonzept entwickelt, das anstelle von gekochten Speisen und tierischen Proteinen die Rohkost

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4  Zur Lebensreform in Deutschland vgl. Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001; Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreform im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017. Für die Schweiz und aus transnationaler Perspektive vgl. Eva Locher, Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt New York 2021; Stefan Rindlisbacher, ­Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen. Die Lebensreform in der Schweiz (1850–1950), unveröff. Dissertation Fribourg 2020. 5  Zur Ernährungsreform vgl. Judith Baumgartner, Ernährungsreform. Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893, Frankfurt a. M.1992; Eva Barlösius, Naturgemässe Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1997; Corinna Treitel, Eating Nature in Germany. Food, agriculture, and environment ca. 1870 to 2000, Cambridge 2017.

propagierte.6 Ralph Bircher pflegte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das väterliche Erbe. Der promovierte Ökonom war Redakteur der von seinem Vater gegründeten Reformzeitschrift Der Wendepunkt im Leben und im Leiden, verlegte die Bücher seines Vaters neu und publizierte zahlreiche eigene reformerische Werke.7 Als Redakteur legte er seiner Leserschaft wiederholt die Gründe für eine vegetarische Ernährung dar. Wie die eingangs erwähnte Plakatkampagne von 2021, die wegen der Verbindung von Fleischkonsum in den westlichen Industrieländern und der Zerstörung des Regenwalds zur Gewinnung von Weideflächen in den Ländern des globalen Südens zum Fleischverzicht auffordert, sah Ralph Bircher einen engen Zusammenhang zwischen globalen Entwicklungen, ökologischen Problemen und Vegetarismus. Die Hungerkrisen in Afrika in den 1970er Jahren führte er etwa darauf zurück, dass die westlichen Industrienationen 6  Zu Maximilian BircherBenner vgl. Albert Wirz, Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg, zwei Pionieren der modernen Ernährung in der Tradition der moralischen Physiologie – mit Hinweisen auf die Grammatik des Essens und die Bedeutung von Birchermues und Cornflakes, Aufstieg und Fall des patriarchalen Fleischhungers und die Verführung der Pflanzenkost, Zürich 1993.

ihre eigene falsche Ernährungsweise – technisch veränderte Nahrungsmittel, fetthaltige Speisen oder Genussmittel wie Alkohol – in die Länder des globalen Südens exportiert hätten. Diese »Zivilisationskost« habe die angeblich fleischlose und deshalb gesündere Ernährungsweise der lokalen Bevölkerung verdrängt.8 Konventionelle Lösungen wie etwa die »grüne Revolution« erschienen Bircher zur Überwindung der Ernährungsprobleme jedoch nicht zielführend. Unter diesem Etikett arbeiteten Wissenschaftler an der Hochzüchtung von Getreidearten, um die weltweite landwirtschaftliche Produktion zu maximieren. Diese Agrikultur zeichnete sich auf vergrößerten Anbauflächen durch massiven Einsatz von chemischen Düngemitteln aus. Weil damit neue Umweltprobleme einhergingen, konnte dieser Weg für Bircher

7 

Zu Ralph Bircher vgl. Ulrich Linse, Ralph Bircher in den 1950er und 1960er Jahren. Von den »Zivilisationsschäden« zur Umweltkrise. Perspektiven einer alternativen »Lebenswissenschaft« aus konservativem Geiste, in: Eberhard Wolff (Hrsg.), Lebendige Kraft. Max BircherBenner und sein Sanatorium in historischem Kontext, Baden 2010.

und andere Reformer nicht akzeptabel sein, um Hungerkrisen zu überwinden. Bircher stellte vielmehr als Reaktion auf die globalen Herausforderungen die reformerische »Mäßigung« in den Mittelpunkt und forderte eine grundlegende Änderung der Ernährungsweise in den westlichen Industrienationen, darunter selbstverständlich den Verzicht auf Fleisch. Statt Bodenfläche zur Produktion von »schlechter Zivilisationskost« zu vergeuden, könnte auf dieser Fläche mit traditionellen Anbautechniken mehr pflanzliche Nahrung für die gesamte Welt produziert werden. Auch die Rückbesinnung auf wild-

8  Ralph Bircher, Gefasel um den Welthunger, in: Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 52 (1975), H. 11, S. 505–507. 9  Ralph Bircher, Grünblattreichtum zur Welternährung, in: Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 55 (1978), H. 5, S. 216–218.

wachsende Knollen oder Blätter erschien Ralph Bircher als valable Alternative zur Überwindung globaler Herausforderungen.9 Mit der Kopplung von globalen Entwicklungen und Ernährung nahm Bircher einen Topos des alternativen Milieus bzw. der jungen Gegenkultur auf, die in den 1960er und 1970er Jahren Ernährung unter ökologischen und sozialkritischen Gesichtspunkten zu verhandeln begann. So rezipierte er den 1971 erschienenen Bestseller »Diet for a small planet« der amerikanischen Eva Locher  —  Verzicht für Gesundheit und Umwelt

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Wissenschaftlerin Frances Moore Lappé (geb. 1944), die den Fleischkonsum als sozial unverträglich und ökologisch katastrophal einstufte.10 Umgekehrt stützten sich die jungen Alternativen auf lebensreformerische Kochbücher, verwendeten Produkte aus Reformhäusern und lernten in Kursen direkt von den Reformern. In den 1970er Jahren überschnitten sich der lebensreformerische Diskurs und Argumentationen aus der Gegenkultur immer stärker. Aber nicht nur in den 1970er Jahren verbreiteten sich reformerische Positionen in breiteren Kreisen, Ralph Birchers Argumentation weist darüber hinaus Parallelen zur Gegenwart auf: Heute zirkuliert das Wissen, dass Ernährungsgewohnheiten in einem globalen Bezugsrahmen stehen und das ökologische Gleichgewicht beeinflussen. Brachte bereits die Lebensreform die »Mäßigung« als Lösungsansatz vor, werden auch heute Stimmen laut, welche die Hinwendung zu einem bescheideneren Lebens- und Ernährungsstil im Sinne von »Weniger ist mehr« für unumgänglich halten. GESUNDE UMWELT – GESUNDES LEBEN Die Lebensreform propagierte nicht nur den Vegetarismus als zentrales Element eines naturbewussten Lebensstils, sondern beinhaltete verschiedene ökologische Ideen und Handlungsweisen, orientierte sie sich doch in allen Bereichen an der Natur und den Naturgesetzen. In der Nachkriegszeit sahen die Lebensreformer ihre Bemühungen um ein gesundes Leben immer stärker bedroht oder gar verunmöglicht, als sich im Wirtschaftsaufschwung die Produktionsweisen und der Lebensstil grundlegend wandelten und die von Menschen verursachte Umweltverschmutzung zunahm. Immer deutlicher forderte die Lebensreform ein harmonisches Miteinander von Mensch und Umwelt, denn das erstrebte individuelle gesunde Leben lasse sich nur in einer intakten Umwelt verwirklichen. Der naturheilkundliche »Schweizerische Verein für Volksgesundheit« beispielsweise setzte den Umweltschutz Mitte der 1970er Jahre auf die gleiche Stufe wie die seit Jahrzehnten propagierte individuelle Gesundheitsprävention und die Förderung der Naturheilkunde. In seiner Prinzipienerklärung von 1975 führte er neu den Absatz »Umweltgefahren« auf, mit dem er auf die aktuellen Herausforderungen reagierte. So sprach sich der Volksgesundheitsverein gegen Atomkraftwerke aus, prangerte den Zusatz von Bleiverbindungen in Treibstoffen an und sah sich einem »möglichst umfassenden Umweltschutz« sowie dem »naturgemäßen Landbau« verpflichtet.11 Diese Prinzipienerklärung nimmt auf, was besorgte Lebensreformer in ihren Publikationen seit den 1950er Jahren immer deutlicher artikulierten. Verschiedene Autoren beschrieben in Reformzeitschriften ein Konglomerat

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10  Ralph Bircher, Das große Wetterleuchten am Fleischhimmel. Ende der Lebensreform oder Aufstieg?, in: Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 50 (1973), Nr. 10, S. 433–440. 11  Schweizerischer Verein für Volksgesundheit, Prinzipienerklärung des Schweiz. Vereins für Volksgesundheit, in: Die Volksgesundheit 69 (1975), H. 2, S. 9 f.

von Gefahren, das durch den technischen Fortschritt bedingt war und Mensch und Umwelt bedrohte. Sie erwähnten etwa die künstliche Nahrungsmittelkonservierung, chemische Zusatzstoffe in Produkten, Schadstoffe aus Autoabgasen oder den Einsatz von Pestiziden.12 Solche Risiken identifizierten sie als Faktoren, die eine drohende »Apokalypse« auslösen würden. Die Lösungsstrategien, mit denen die Lebensreform auf solche Bedrohungen reagierte, adressierten zunächst vor allem das Individuum, an das sich der Appell der Selbstreform in erster Linie richtete. Insbesondere der Ernährung kam aus Perspektive der Reformerinnen eine fundamentale Bedeutung zu, um die Gesundheitsrisiken aus der Umwelt zu minimieren. Mittels Nahrungsaufnahme galt es zu steuern, ob überhaupt, welche und wie viele Giftstoffe in den Körper gelangten. Nach Ansicht von Ralph Bircher sollte man erstens knapp essen. Damit inkorporiere man bereits weniger Pestizide und halte zugleich die »Ausscheidungs- und Entgiftungsorgane« des Organismus leistungsfähiger. Zweitens forderte Bircher auch im Zusammenhang mit der »Chemisierung« den Verzicht auf Alkohol und Tabak, drittens die körperliche Aktivierung und viertens die rein pflanzliche Ernährung, weil Lebensmittel tierischer Herkunft viel mehr Giftstoffe enthielten als pflanzliche Produkte, befänden sich doch die giftigen Rückstände vor allem im Fett. Man tue deshalb gut daran, sich pestizidfreie und biologische Produkte zu beschaffen oder sie gleich selbst anzubauen.13 Vor dem Hintergrund neuer Gefahren seit Mitte des 20. Jahrhunderts, die durch den technischen Fortschritt ausgelöst wurden, legitimierten Reformer die seit Jahrzehnten an der Natur ausgerichtete Lebensweise neu und sprachen ihr eine große Dringlichkeit zu. 12 

Vgl. E. Meyer, Jahresbericht der Delegiertenversammlung vom 2. Mai 1964 in Montreux, in: Jahresberichte des Schweizerischen Vereins für Volksgesundheit 1964, o. O. 1964, S. 3–6. 13  Ralph Bircher, Wie man Pestizide meiden kann!, in: Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 51 (1974), H. 8, S. 355–350. 14 

Schweizerischer Verein für Volksgesundheit, Einladung zur Gründung einer Dachorganisation zwecks Koordination bei Aktionen der Mitglieder-Verbände, März 1964, Archiv für Zeitgeschichte, NL Heinrich Schalcher/14.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat immer deutlicher hervor, dass die Selbstreform und die Praktiken der »naturgemäßen Lebensweise« allein nicht mehr ausreichten. In einer verschmutzten Umwelt konnte der einzelne Mensch nicht gesund leben. Reformerinnen setzten sich deshalb immer stärker auch für die Veränderung der Strukturen ein und kooperierten im Umweltschutz mit anderen Akteursgruppen. In der Schweiz entstand im Umfeld der Lebensreform 1964 beispielsweise die »Schweizerische Liga für biologische Landesverteidigung«, die aufgrund der neuen Gesundheitsrisiken durch den technischen Fortschritt breitenwirksam auf die Gefahren der Umweltzerstörung aufmerksam machen und sie bekämpfen wollte. Die Liga ging aus einer Initiative des naturheilkundlichen »Schweizerischen Vereins für Volksgesundheit« hervor, der eine Dachorganisation mit dem Ziel »gesunde Umwelt – gesundes Leben!« forderte.14 Mit dem Namen ihrer Organisation spielten die Gründer auf das Konzept der »geistigen Landesverteidigung« an. Diese staatstragende Ideologie aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs Eva Locher  —  Verzicht für Gesundheit und Umwelt

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sollte die als schweizerisch definierten Werte stärken und sich von jeglichen Spielarten des Totalitarismus abgrenzen. Die Wortschöpfung der »biologischen Landesverteidigung« knüpfte im Kontext des Kalten Krieges daran an und betonte, dass sämtliche kulturellen oder militärischen Bemühungen hinfällig würden, wenn die »Heimat« durch Umweltzerstörung bedroht werde. Die Liga versammelte verschiedene lebensreformerische Organisationen wie etwa den Verband Schweizer Reform- und Diätfachgeschäfte, KneippVereine oder ernährungsreformerisch ausgerichtete Gruppierungen. Außerdem beteiligten sich Jagd- und Fischereiverbände, Bienenzüchtervereine, Tierschutzgruppen, Produzentenvereinigungen aus der biologischen Landwirtschaft sowie Personen aus der Politik. Die Liga verfolgte die Strategie, die Bevölkerung für die Umweltgefährdung zu sensibilisieren. Zum einen unterstützte die Liga behördliche Maßnahmen oder ergriff Initiativen, um ihre Themen auf die politische Agenda zu setzen. Zum anderen betrieb sie eine aktive Öffentlichkeitsarbeit, um das Thema Umweltbedrohung in den Medien prominent zu platzieren. Somit war sie aktiv, bevor das öffentliche Bewusstsein für Umweltprobleme zu Beginn der 1970er Jahre einen Höhepunkt erreichte.

Als jedoch die moderne Umweltbewegung an Fahrt aufnahm, sich die Öffentlichkeit für ökologische Fragestellungen sensibilisiert zeigte und Umweltschutz unter dem Schlagwort der »ökologischen Revolution« zu einem dominierenden Thema avancierte, nahmen die Aktivitäten der Liga seit Anfang der 1970er Jahre kontinuierlich ab. Je populärer ihre Anliegen wurden und je mehr Gruppierungen sich ökologischer Fragestellungen annahmen, desto

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weniger Bedeutung hatte die lebensreformerische Organisation. Legten die neu entstehenden Umweltorganisationen der 1970er Jahre mit ihren jungen Aktivistinnen nebst wissenschaftlicher Expertise auch Wert auf neue Oppositionsformen wie Besetzungen, Demonstrationen oder direkte Aktionen, verzichteten die Liga und andere Reformorganisationen mit ihrer Trägerschaft in fortgeschrittenem Alter weiterhin auf diese Mittel. Sie mobilisierte ausschließlich mittels wissenschaftlicher, politischer und publizistischer Kanäle. Dies dürfte zu ihrem Ende beigetragen haben, schienen ihre Aktionsformen bis in die 1970er Jahre doch nicht mehr attraktiv und wirksam genug. Allmählich obsolet geworden, verschwand die »Liga für biologische Landesverteidigung« 1973 still und heimlich von der politischen und medialen Bühne. Auch wenn das Ende der auf Umweltzerstörung und Gesundheitsrisiken ausgerichteten Organisation damit zusammenhängen mag, dass neue Gruppierungen in den 1970er Jahren ihre Anliegen effizienter bewirtschafteten, hatte sie es dennoch geschafft, die Risiken der »Chemisierung« und die Dringlichkeit des Umweltschutzes auf die politische Tagesordnung zu setzen und zu einem Gesprächs- und Medienthema werden zu lassen. Dadurch bereitete sie neuen Umweltorganisationen den Boden. DIE GROSSE RESONANZFÄHIGKEIT DER LEBENSREFORM Diese Beispiele für die enge Verzahnung von Gesundheits- und Umweltbewusstsein illustrieren, dass die Lebensreform hinsichtlich eines ökologischen Lebensstils wichtige Impulse gab und als Vorläuferin der modernen Umweltbewegung gelten kann. Seit den 1970er Jahren konvergierten lebensreformerische Positionen immer stärker mit der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft, als ein natürliches und einfaches Leben angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung für breite Kreise attraktiv wurde. Dass immer mehr Organisationen, Vereine und Komitees gegründet wurden, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen schrieben, kommentierte der Redakteur der naturheilkundlichen Zeitschrift Die Volksgesundheit anlässlich der Delegiertenversammlung des Vereins 1971 folgendermaßen: »Es wäre natürlich billig, wenn wir jetzt einfach sagen würden: Wir haben es ja immer gesagt! Wir haben Euch gewarnt! […] Es ist zwar wahr, dass wir schon vor Jahrzehnten eine genaue, exakte Analyse dessen gegeben haben, was wir heute erleben. 15  Ernst Steiger, Unser Weg. Der Schweiz. Verein für Volksgesundheit als Wegbereiter zur modernen  Gesundheits­vorsorge, in: Die Volksgesundheit 64 (1971), H. 6, S. 5–8, hier 7. Hervorhebung im Original.

[…] Man hat unsere Befürchtungen als masslos übertrieben bezeichnet, und wir wurden als Sektierer und Gesundheitsapostel verschrien. […] Leider haben sich unsere Warnungen nicht nur bewahrheitet, sie wurden durch die Wirklichkeit noch übertroffen. […] Wir können diesem Treiben nur lächelnd zusehen und sagen: Spät kommt ihr, doch ihr kommt!«16 Eva Locher  —  Verzicht für Gesundheit und Umwelt

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Dass reformerische Ideen und Verhaltensweisen eine so große Resonanz erlangten und sich seit den 1970er Jahren zunächst in umweltbewussten Kreisen und danach in der Gesamtgesellschaft verbreiteten, wirft die Frage auf, welche Rückwirkungen dieser Diffusionsprozess auf die Lebensreform selbst hatte. Die reformerischen Organisationen konnten das gesteigerte Interesse an ihren Themen nicht dazu nutzen, mehr Mitglieder zu gewinnen oder den drohenden Bedeutungsverlust abzuwenden, als die eigenen Schwerpunktthemen von anderen übernommen wurden. Dass sich andere Gruppen lebensreformerische Anliegen aneigneten, beschleunigte vielmehr die Erosion reformerischer Strukturen. Auch wenn gewisse reformerische Verbände, Firmen oder Initiativen bis heute bestehen, verzeichneten die Reformorganisationen seit Ende der 1970er Jahre schwindende Mitgliederzahlen und wichtige Protagonisten der Lebensreform traten von ihren Funktionen zurück oder starben aus Altersgründen. Das organisatorische Geflecht franste zusehends aus und der Begriff »Lebensreform« verblasste, sodass sich in der Geschichte der Lebensreform um 1980 eine Zäsur ausmachen lässt. Die reformerischen Praktiken und Ideen lösten sich jedoch nicht etwa auf, sondern verlagerten sich äußerst erfolgreich in andere Kontexte. Unter neuen Schlagworten wie beispielsweise Gesundheitsprävention, Naturverbundenheit oder Achtsamkeit lassen sich heute zahlreiche Verhaltensweisen beobachten, die sich auf die Lebensreform zurückführen lassen. Ob wir nun möglichst lokal einkaufen, nur biologisch angebautes Gemüse essen oder um die Wirkung von Fleischkonsum auf den Regenwald wissen – in unserem Alltag führen wir verschiedene lebensreformerische Ideen und Verhaltensweisen fort.

Eva Locher, Dr. phil., geb. 1986, studierte Geschichte und Soziologie und promovierte in Zeitgeschichte an der Uni­ versität Freiburg (Schweiz) mit einer Arbeit zur Lebens­ reform in der Schweiz nach 1945. Am Departement Zeitgeschichte der Universität Freiburg war sie Lehr­beauftragte. Nach verschiedenen Tätigkeiten in der Wissensvermittlung arbeitet sie zurzeit in der Hochschulpolitik.

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Ökologismus — Analyse

UMWELTSCHUTZ VON RECHTS ANTIDEMOKRATISCHE DEUTUNGSMUSTER IN ÖKOLOGISCHEN DISKURSEN Ξ  Frederik Abrahams

Umwelt- und Naturschutz, Umweltpolitik und ökologisches Denken werden in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit in der Regel mit einem progressiven, emanzipatorischen Demokratieverständnis verbunden. Allerdings zeigt der Blick in die Geschichte des deutschen Umweltschutzengagements, dass seine Wurzeln über weite Strecken eher im rechten politischen Spektrum, vom Konservatismus bis hin zum Rechtsextremismus, zu finden sind. In der Wissenschaft ist die Diskussion über Berührungspunkte und eine möglicherweise gefährliche Nähe zwischen ökologischen, konservativen und/oder rechtsextremen Akteuren und Argumentationsmustern punktuell immer wieder aufgeflammt, denn »tatsächlich lassen sich solche Berührungszonen und Überschneidungen sowohl auf politisch-organisatorischer wie auf theoretisch-­ argumentativer Ebene beobachten«1. Der vorliegende Beitrag soll die Verbindung von konservativen und rechtsextremen Denkwelten mit Themen des Umwelt- und Naturschutzes näher beleuchten und so zu ihrer Aufklärung beitragen. Zentral sind dabei die Fragen nach den historischen und gegenwärtigen Verbindungslinien sowie den Argumentations- und Deutungsmustern, welche von konservativen und rechtsextremen Akteuren in ökologischen Diskursen verwendet und gepflegt wurden und werden. DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN UMWELTSCHUTZENGAGEMENTS Einen einzelnen konkreten Zeitpunkt oder ein gesondertes Ereignis als den 1  Thomas Jahn und Peter Wehling, Ökologie von rechts. Nationalismus und Umweltschutz bei der Neuen Rechten und den »Republikanern«, Frankfurt am Main 1990, S. 41.

Beginn des deutschen Umweltschutzengagements zu definieren, ist nicht möglich. Jedoch stellt der Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund der Veränderung der Umweltprobleme infolge der Industrialisierung eine markante Trennlinie dar, wenngleich vereinzeltes Umweltschutzengagement bereits im Mittelalter oder der Vormoderne zu finden ist.2 Im

2  Vgl. Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010, S. 4.

Zuge der immer stärkeren Nutzung bis hin zur Übernutzung der natürlichen Ressourcen und der damit einhergehenden Folgen, wie unter anderem der

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Verlust an Artenvielfalt, kam es im 19. Jahrhundert zu einem starken industriezeitlichen Landschaftswandel.3 Die massiven Veränderungen betrafen allerdings nicht nur die Natur, sondern auch die gesellschaftliche und sozialräumliche Ebene, ablesbar unter anderem an der Entwicklung des dörflichen Lebens. So gingen infolge des Wandels vermehrt althergebrachte Traditionen wie lokale Bauweisen, Trachten und Dialekte verloren oder veränderten sich massiv. Als Reaktion darauf entwickelte sich im Übergang zum 20. Jahrhundert eine äußerst heterogene Vereinslandschaft, aus der sich die Heimat- und Umweltschutzbewegung speiste. Deren Vereine und Verbände und ihre Mitglieder standen immer auch im Austausch mit reaktionären Ideen des damaligen Zeitgeistes, etwa völkischen Vorstellungen oder dem grassierenden Antisemitismus.4 Vor diesem Hintergrund verschaffte Ernst Rudorff, der auch heute noch »als die ideologische Lichtgestalt sowohl des Natur- als auch des Heimatschutzes gilt«5, einer weit verbreiteten Unzufriedenheit in bürgerlichen Kreisen Ausdruck. In seinen Veröffentlichungen argumentierte er einerseits auf einer ästhetischen Ebene, andererseits aber auch auf einer völkischen. So sollten beispielsweise »in dem innigen und tiefen Gefühl für die Natur […] die Wurzeln für das germanische Wesen liegen«6. Die von Rudorff ab 1897 veröffentlichten »Heimatschutz-Aufsätze« richteten sich wie andere seiner Schriften gegen die zunehmende Urbanisierung, die vermeintliche Entwurzelung des städtischen Proletariats, gegen die »Verschandlung« und »Verödung« der Landschaft im Zuge der ökonomischen Nutzung und weiterer modernetypischer Entwicklungen wie dem zunehmenden Tourismus. Als Remedur empfahl Rudorff seine Vision der Rückkehr zur ständischen Agrargesellschaft mit dem Ideal des »ewigen Bauern«, der über Generationen hinweg das eigene Land bestellt und dabei in die dörflichen Strukturen eingebunden ist.7 Dieses mystisch aufgeladene Narrativ vom »ewigen Bauern« wird auch heute noch von rechten und konservativen Umweltschützer*innen in vergleichbarer Weise verbreitet und bedient.8 UMWELT- UND NATURSCHUTZ IM NATIONALSOZIALISMUS Der bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik völkisch ausgerichtete Naturschutz erwies sich ab 1933 als anknüpfungsfähig an die Ideologie des NS-Regimes. Der Politik-Bereich Naturschutz erlebte nach 1933 einen fulminanten Aufschwung, der sich in dem 1935 erlassenen Reichsnaturschutzgesetz ( RNG) und weiteren Bemühungen des Regimes kristallisierte, wie beispielsweise der Ausweisung zahlreicher neuer Naturschutzgebiete und der Realisierung entschädigungsloser Enteignungen für Zwecke des

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3  Vgl. Klaus-Dieter Hupke, Naturschutz. Ein kritischer Ansatz. Berlin 2015, S. 10 ff. 4  Hans-Werner Frohn, Naturschutz und Demokratie. Vom Hang zu ›starken Männern‹ und lange Zeit bewusst verschwiegenen Traditionen 1880 bis 1970, in: Gudrun Heinrich et al. (Hg.): Naturschutz und Rechtsradikalismus. Gegenwärtige Entwicklungen, Probleme, Abgrenzungen und Steuerungs-möglichkeiten. Bonn 2015, S. 73–8, hier S. 75. 5  Ebd., S. 74 6  Zitiert nach ebd., S. 74. 7 

Vgl. Geden, S. 22.

8  Vgl. u. a. Sebastian Hennig, Der Bauer ist kein Spielzeug, in: Sezession 11 (2013), H. 56, S. 8–11.

Naturschutzes. Weiter erfolgte im Einklang mit der NS-Ideologie eine biologistische und sozialdarwinistische Interpretation der Natur als Raum, in dem sich »Überlebenskämpfe [und] das Durchsetzen mit Stärke und Kampf […] manifestieren«9. Eine erweiterte mystische Aufladung des Naturschutzes im Nationalsozialismus zeigt sich unter anderem in seiner Verknüpfung mit Ritualen des Germanenkults, wie der Wiedererrichtung von sogenannten »Thing-Stätten« und dem Zelebrieren von Sonnenwendfeiern, sowie der romantischen Verklärung des »deutschen Waldes« oder der »deutschen Eiche«. Die deutsche Umweltschutzbewegung ihrerseits fügte sich ohne große Konflikte in das NS-Regime und seine ideologische Ausrichtung des Umweltund Naturschutzes ein. Und das, obwohl dem NS-Regime ein substanzielles Interesse an ökologisch determiniertem Umweltschutz spätestens mit der Wiederaufrüstung nicht mehr attestiert werden kann, weshalb die »staatliche Naturschutzarbeit […] 1943/44 konsequenterweise eingestellt«10 wurde. Der völkisch aufgeladene ideologische Wertebezug des Umweltschutzes des NSRegimes mit Motiven des Antimodernismus, des Sozialdarwinismus und der Soziobiologie sollte jedoch auch in der jungen BRD fortbestehen. UMWELT- UND NATURSCHUTZ NACH 1945 Diese Kontinuität zeigte sich auch personell. Hans Klose, der ab 1938 im NS-System die zentrale Stelle des staatlichen Umweltschutzengagements innehatte, blieb aufgrund der Tatsache, nie in der NSDAP gewesen zu sein, auch im Nachkriegsdeutschland bis 1954 Leiter der »Zentralstelle für Naturschutz« beim Bundesamt für Naturschutz und Landschaftspflege, wie die vormalige »Reichsstelle für Naturschutz« nun genannt wurde. In dieser Position unterstützte er tatkräftig die Entnazifizierungsverfahren alter Gefährten, mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass »nahezu alle, die vor 1945 eine führende Stellung innehatten, spätestens 1947/48 wieder in Amt und Würden [waren]«11. 9  Uwe Pfenning und Bigna Fink, Naturschutz in der der Klemme. Zur Soziologie des Naturschutzes im Nationalsozialismus, in: Nils Franke und Uwe Pfenning (Hg.), Kontinuitäten im Naturschutz, Baden-Baden 2014, S. 247. 10 

Geden, S. 27.

11 

Frohn, S. 79.

Infolgedessen bestimmten auch nach 1945 eher die autoritären statt demokratischen Grundprinzipen das Klima im staatlichen Umweltschutz. Das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 wurde in der Aufbauphase der BRD bis auf die Präambel nicht als nationalsozialistisch eingeschätzt und blieb, bis es durch das Bundesnaturschutzgesetz 1976 ersetzt wurde, weiterhin in Kraft. In den 1970er Jahren begann dann international und auch in Deutschland eine neue Epoche im Umweltschutz. Symptome des Aufstiegs umweltpolitischer Themen in der öffentlichen und auch staatlichen Wahrnehmung waren zum Beispiel die durch den Club of Rome 1972 herausgegebene Studie Frederik Abrahams  —  Umweltschutzvon rechts

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»Die Grenzen des Wachstums«, die immer stärker werdende Anti-Atomkraft-­ Bewegung sowie die erste internationale Umweltkonferenz der Vereinten Nationen 1972. Damit einher ging eine verstärkte Organisierung und Institutionalisierung des zivilgesellschaftlichen Umweltschutzengagements. Bis in die 1980er Jahre überwogen im verbandlichen Naturschutz allerdings noch »die traditionellen Kräfte bis hin zu den elitären kulturkritischen Denkmustern der Gründungszeit um 1900«12. Parallel vergrößerte sich die Umweltbewegung durch den Zulauf linker Akteure und Gruppierungen nicht nur erheblich, es veränderten sich dadurch auch die Organisations- und Aktionsformen innerhalb der Bewegung erneut, die sich seither im linken Neue-Soziale-Bewegungs-Spektrum verortet. Zusammenfassend zeigt die historische Betrachtung, die an dieser Stelle nur stark verkürzt vorgenommen werden konnte, dass das Umweltschutzengagement auf programmatisch-inhaltlicher Ebene nie rein naturwissenschaftlich inspiriert gewesen ist, sondern immer auch starken kulturellen, ästhetischen und ideologischen Einflüssen unterworfen war. Wenngleich der Umweltschutz spätestens seit den 1970er Jahren weitestgehend in der pluralistischen Demokratie angekommen war und zunehmend mit einem emanzipatorischen Fundament untermauert wurde, prägten konservative bis rechtsextreme Traditionslinien die gesamte Entstehungsgeschichte des deutschen Umweltschutzengagements. ÖKOLOGISCHE DISKURSE VON RECHTS Um sich dem erläuterten Erkenntnisinteresse einer expliziteren Analyse und Darstellung der Verknüpfung von konservativen und rechtsextremen Konzepten mit ökologischen Elementen anzunähern, bietet sich eine akteurs- und diskurszentrierte Vorgehensweise an. Dies geschieht in dem folgenden Abschnitt beispielhaft an Personen aus dem Gründungsmilieu der Grünen sowie an zwei aktuellen Publikationen der sogenannten »Neuen Rechten« zu Themen des Umweltschutzes, anhand derer ein Eindruck über zeitgenössische, konservative, ökologische Diskurse, Anknüpfungspunkte und Argumentationslinien gewonnen werden soll. Vor dem Hintergrund der sich über lokale Bezüge hinaus entwickelnden Wahrnehmung einer ökologischen Krise während der 1970er Jahre, welche in dem Topos der nahenden »Apokalypse« gipfelte, fanden sich im Januar des Jahres 1980 interessierte Personen verschiedenster politischer Couleur auf dem Gründungsparteitag der Partei Die Grünen zusammen. Darunter Anarchist*innen und Kommunist*innen mit konservativen Ex-CDU lern,

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12 

Uekötter, S. 33.

Anthroposoph*innen mit radikalen Feminist*innen, DDR-Dissident*innen mit völkischen Ökobauern. Bezogen auf konservative bis rechtsextreme Akteure im Gründungsprozess der Grünen unterscheidet Silke Mende zwischen dem Netzwerk der sogenannten »Bewahrer«, die in ihrem politischen Umweltschutzengagement die Traditionslinie des Konservatismus verkörperten, und dem Netzwerk der sogenannten »Gemeinschaftsdenker«, die ihre ökologischen Überzeugungen teilweise mit biologistischen und völkischen Ideen verknüpften.13 Zu ersterem zählte der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl, dessen 1975 erstmals veröffentlichtes Buch »Ein Planet wird geplündert« maßgeblich für die bundesdeutsche Ökologiedebatte der 1970er Jahre war. Es ist getragen von der apokalyptischen Perspektive, die Menschheit würde aufgrund ihres Umgangs mit der Natur sowie dem zunehmenden Bevölkerungswachstum vor dem Untergang stehen.14 Gruhl übte scharfe Kritik an der Lebensweise moderner Industriegesellschaften und bezog gegenüber Wachstums- und Fortschrittsideen eine klare Gegenposition. Eine Lösung, den drohenden Untergang abzuwenden und in seiner Perspektive das Überleben der Menschheit noch zu retten, sah Gruhl nur in einer »mit diktatorischen Vollmachten ausgestatten Weltregierung«15, die unter anderem rabiate globale Geburtenkontrollen durchführen und die Maxime des Verzichts durchsetzen müsse. Gruhls Thesen und Lösungsvorschläge stehen beispielhaft für jenen Argumentationsansatz, der ökologische Forderungen im Kontext einer radikalen Fortschritts- und Zivilisationskritik mit einer Affinität zu autoritären Staats- und Gesellschaftsvorstellungen verknüpft und zugleich eine vermeintliche Überbevölkerung zum Problem erklärt. Dem zweiten Netzwerk konservativer und rechtsextremer Akteure bei den Gründungsgrünen, welches die Vision einer harmonischen und organischen Gemeinschaft verbindet, lässt sich neben der deutschen Sektion des Weltbunds zum Schutz des Lebens auch der Öko-Bauer Baldur Spring13  Vgl Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 32 f. 14  Vgl. Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt am Main 1978, S. 2 ff.

mann zurechnen.16 Springmann wurde 1912 als Sohn eines Industriellen im Ruhrgebiet geboren, lehnte es aber ab, das Familienunternehmen fortzuführen. Inspiriert durch seine Zeit in der Weimarer Jugendbewegung entschloss er sich, Bauer zu werden. In den Zwischenkriegsjahren bewegte sich Springmann im völkisch-nationalistischen Dunstkreis der SA, der SS und der Organisation »Stahlhelm«. Während des Zweiten Weltkriegs war Springmann Mitglied des sogenannten »Reichsnährstands«, einer NS-

15 

Vgl. ebd., S. 301.

16  Vgl. zu Springmann im Folgenden Mende, S. 244 ff.

Bauernorganisation, die sämtliche Akteure in der Landwirtschaft zusammenfasste und sich schwerpunktmäßig mit Agrarpolitik und Agrarwirtschaft auseinandersetzte. Frederik Abrahams  —  Umweltschutzvon rechts

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Die zeitgenössische industrielle Konsumgesellschaft galt auch Springmann als das größte Übel. Er stellte ihr das Modell einer agrarisch geprägten Gemeinschaft entgegen, in der die Rolle des Bauern wieder den höchsten Rang einnehmen sollte. Springmanns Ansichten sind durchdrungen von biologistischen Motiven. So sprach er beispielsweise von der »Seuche der Urbanisierung« und der »Seuche der Entfremdung«. 1981 verließ er die Grünen, um gemeinsam mit Herbert Gruhl und weiteren Ökokonservativen die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) zu gründen. Gegen Ende seines Lebens – er verstarb 2003 – wandte sich Springmann zunehmend offen rechtsextremistischen Kreisen zu und »propagierte ein diffuses Gemisch aus nationalistischen, völkischen und neuheidnischen Positionen, was mit einer Orientierung an nordisch-germanischer Mythologie einherging«17. AKTUELLE DISKURSE, ARGUMENTATIONEN UND AKTEURE Zahlreiche konservative und rechtsextreme Veröffentlichungen besprechen auch nach der Jahrtausendwende noch regelmäßig in unterschiedlich starker Auflagenzahl das Thema Umweltschutz, so etwa das NPD-nahe Magazin Umwelt & Aktiv, welches 2019 eingestellt wurde. Im Folgenden werden beispielhaft Artikel zweier jüngerer Magazine, Die Kehre – Zeitschrift für Naturschutz und Recherche Dresden, hinsichtlich der Verknüpfung von konservativen Ideen mit ökologischen Konzepten untersucht. Die Kehre wird angesichts ihrer Nähe zum Institut für Staatspolitik und der in rechtskonservativen Kreisen populären Zeitschrift Sezession im neurechten Milieu verortet. Leitender Redakteur und Geschäftsführer des vierteljährlich erscheinenden Magazins, das durch den Oikos-Verlag in Dresden herausgegeben wird, ist Jonas Schick, der auch Mitglied der rechtsextremen Gruppierung Identitäre Bewegung ist.18 Dem Selbstverständnis des Magazins zufolge werden getreu der zivilisationskritischen Traditionslinie eines konservativen Ökologie-Verständnisses Klima- und Naturschutz antithetisch gegenüberstellt, zum Beispiel, wenn es heißt, der Klimaschutz »gerät durch seinen industrialisierten Technikcharakter in scharfe Konkurrenz zum Naturschutz: Windkraftanlagen schreddern Vögel, Fledermäuse und Insekten«19. In dieser Logik weist das Magazin dem Klimaschutz in der ersten Ausgabe mehrfach eine vernachlässigbare Rolle zu und positioniert sich vehement gegen eine vermeintlich hysterisch geführte Klimadebatte. Nach eigener Angabe hat es sich das Magazin zur Aufgabe gemacht, die

17  Zitiert nach Mende, S. 245. 18 

Vgl. Speit.

Ökologie entgegen einer Verengung auf den Klimaschutz vermeintlich ganzheitlicher zu verstehen: als die »Lehre von der gesamten Umwelt [, die sowohl] […] die Kulturlandschaften, Riten und Brauchtum, als auch Haus und

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19  Jonas Schick, Editorial, in: Die Kehre. Zeitschrift für Naturschutz, H. 1/2020, S. 1.

Hof […] einschließt«20. In charakteristischem Duktus wird in beinahe jedem Artikel Kritik an den Grünen sowie an der Industrie- und Überflussgesellschaft geübt. So ist etwa die Rede von den Grünen und den »sie hofierenden Mainstream-Medien«21, von der »Verspargelung der Natur« durch Windkraftanlagen sowie der »Techniklandschaft [, die im Gegensatz zur Kulturlandschaft] keinen Raum mehr zum freien Atmen« lasse.22 Ein bemerkenswerter Artikel aus der zweiten Ausgabe trägt den Titel »Regionalität wirkt! – Nachdenken über Bioregionalismus« und wurde von Hagen Eichberger verfasst.23 Unter Verweis auf Niko Paech sympathisiert er mit der Forderung der »Deglobalisierung«. Kurz gefasst geht es beim Thema Bioregionalismus vor allem um den Rückbau globalisierter Wirtschaftskreisläufe und die damit einhergehende Stärkung regionaler und lokaler Produktions- und Wertschöpfungsketten. Das Thema ist insofern anschlussfähig an konservative bis rechtsextreme Perspektiven, als es die Möglichkeit der Bedeutungsaufladung ethnischer Identitäten bietet. So legt Eichberger in seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten des Bioregionalismus einen Fokus auf strukturell biologistische Argumentationen. Hinsichtlich der Rezeption des Themas Bioregionalismus durch das sogenannte »national-alternative« Milieu drückt er beispielsweise sein Bedauern darüber aus, dass die Thesen von Dieter Clemens – seinerseits Mitglied der Unabhängigen Ökologen Deutschlands, einer Abspaltung der ÖDP – zu dem Thema in Vergessenheit geraten seien. Eichberger reproduziert die kritikwürdige biologistische Auffassung von Clemens, wonach eine Bioregion (der geographische Bezugspunkt des Bioregionalismus) vor allem durch die ansässigen »autochthonen« Menschen geprägt sei und dadurch einen einzigartigen Charakter bekomme. Die Bioregion nach Clemens gestaltet sich in letzter Instanz 20  Ebd.

als ethnisch-kulturell homogenes Gebiet, welches Schutz vor der Globalisierung und internationalen Konzernen bieten soll. Dadurch läuft das Konzept

21  Konstantin F. Meyer u. Hagen Eichberger, Elektromobilität: Mogelpackung oder Heilsbringer?. Zukunftstechnologie auf dem Prüfstand, in: Die Kehre. Zeitschrift für Naturschutz, H. 1/2020. S. 38–47, hier S. 40. 22  Schick, S. 22.

zwangsläufig auf Argumentationen hinaus, die sich in fremdenfeindlicher Konnotation gegen Zuwanderung oder für die Forderung, Arbeitsplätze zunächst an die »einheimische« Bevölkerung zu verteilen, aussprechen. In diesem Geiste weist Eichberger auf die Rezeption des Themas durch Akteure der sogenannten »neuen Rechten« im europäischen Kontext hin, die in ihren Texten von »›Ethnopluralismus‹, ›Europa der Regionen‹ [und von der] spirituellen Heimat eines Volksstammes« sprechen. Den Abschluss des Artikels

23  Hierzu und im Folgenden Hagen Eichberger, »Regionalität wirkt!«. Nachdenken über Bioregionalismus, in: Die Kehre. Zeitschrift für Naturschutz, H. 2/2020, S. 14–19.

bildet ein Plädoyer für eine Revitalisierung der »rechten« Interpretation des Themas Bioregionalismus »gepaart mit antikapitalistischen und ethnopluralistischen Impulsen«, bei dem die Kehre laut Eichberger eine bedeutende Rolle einnehmen möchte. Frederik Abrahams  —  Umweltschutzvon rechts

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Der Infobrief der Denkfabrik für Wirtschaftskultur, wie sich das Magazin Recherche Dresden auch selbst nennt, erscheint seit 2018 viermal im Jahr und beschäftigt sich hauptsächlich mit ökonomischen Themen. Hauptverantwortlicher Autor und Herausgeber ist Felix Menzel, der bereits die neurechte Zeitschrift Blaue Narzisse gegründet hat, ebenfalls gut mit der Identitären Bewegung vernetzt ist und als Stammautor für die neurechte Zeitschrift Sezession schreibt.24 Die »sieben Thesen für eine konservativ-ökologische Wende«, die im Vorfeld der November-Ausgabe von 2019 durch eine nicht weiter benannte Redaktion der Recherche Dresden online veröffentlicht wurden,25 beginnen mit dem häufig verwendeten Slogan rechter Umweltschutzakteure: »Umweltschutz ist Heimatschutz«. Unter positiver Bezugnahme auf die historische Lebensreformbewegung werden hier das eigene konservative Ökologie-­ Verständnis dargelegt und die rechten Wurzeln der Ökologie betont, denn laut Recherche Dresden ist »Kritik an der modernen Technik-, Fortschritts-, und Wachstumshybris, die die Natur zerstört, […] Kernstück konservativen Denkens seit 200 Jahren«. Hier werden bereits einige zentrale Thesen vorweggenommen, die in der Print-Ausgabe breiter ausgeführt sind, so etwa: »Die Überbevölkerung ist die Mutter aller Umweltprobleme«, »Atomenergie mit innovativer Endlagerung ist eine Zukunftsoption« oder »Sichere Grenzen sind die beste Umweltpolitik«. Im Dossier zum Thema Umweltschutz aus der 2019er Ausgabe des Infobriefs wird wie bei der Kehre direkt zu Beginn die Verantwortung des Menschen für die Klimaerwärmung in Zweifel gezogen, wenngleich die Veränderung des globalen Klimas eingeräumt wird.26 Dass es infolgedessen zu neuen Migrationsbewegungen kommen kann, wird hingegen deutlich und polemisch betont. Eine Debatte über den Zusammenhang von Industrialisierung und Erderwärmung umgehend, bietet Recherche Dresden das Thema »Überbevölkerung« als alternativen Erklärungsfaktor an. So solle dem »Kampf gegen die Überbevölkerung in Afrika aus ökologischen Gründen höchste Priorität« eingeräumt werden. Dass diese Argumentation besonders für rechte Parteien attraktiv sein kann, stellt auch Recherche Dresden fest und empfiehlt folgerichtig der AfD, »ihre einwanderungskritische Agenda mit ökologischen Bedenken zu begründen«. Darüber hinaus sei der Schutz von Lebensräumen schon immer ein urkonservatives Anliegen gewesen, wobei dieser Schutz laut Recherche Dresden »dann allerdings nicht nur für Pflanzen und Tiere [gelte], sondern für Völker ebenso«.

24  Vgl. Christian Fuchs und Paul Middelhoff, Das Netzwerk der neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern, Hamburg 2019, S. 185, 194 f. 25  Hierzu und im Folgenden Recherche Dresden-Redaktion, Sieben Thesen für eine konservativ-ökologische Wende, 07.06.2019, URL: https://recherche-dresden.de/ sieben-thesen-fuer-eine-konservativ-oekologische-wende/ [eingesehen am 15.01.2021].

Zusammenfassend lässt sich bilanzieren, dass die aktuellen Publikationen zum Thema Umweltschutz aus dem Spektrum der neuen Rechten geprägt sind von den klassischen Motiven der rechten Zivilisations- oder

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26  Hierzu und im Folgenden das Dossier in: Recherche Dresden, H. 7/2019. S. 8 ff.

Fortschrittskritik. Beide hier kurz vorgestellten Publikationen nehmen eine starke Position gegen die These des menschengemachten Klimawandels ein, ohne aber die Veränderung des Klimas zu leugnen. Manche Artikel zeichnen eine apokalyptische Perspektive aufgrund der Umweltzerstörung, andere argumentieren gegen diese. Der polemische Ton und die Überzeugung, vermeintliche Tabuthemen anzusprechen, sind für beide Publikationen stilbildend. Die ökologischen Debatten, zu denen sich geäußert wird, sind vielfältig und reichen von der klassischen Kulturkritik über die Besprechung von Landschaftsbildern bis hin zum Thema Energiewende. Auffällig ist die Betonung von Traditionen, in der das Motiv des Bewahrens zum Ausdruck kommt, sowie die Fokussierung auf das Thema »Überbevölkerung«, das häufig mit dem Thema Migration auf mindestens latent fremdenfeindliche Art und Weise verknüpft wird. KONSERVATIVE UND RECHTSEXTREME ANKNÜPFUNGS­ PUNKTE, DEUTUNGS- UND ARGUMENTATIONSMUSTER IM THEMENFELD ÖKOLOGIE Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass auf theoretischer Ebene »mögliche Berührungspunkte zwischen ökologischen, konservativen und rechtsextremen Argumentationen […] in einer gemeinsamen Nähe zu und Anfälligkeiten für naturalistische Deutungsmuster von Gesellschaft, sozialer Ordnung und ökologischer Krise«27 liegen. Häufig werden dabei genuin naturwissenschaftliche Kategorien auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen. Bereits 1984 wies Peter Dudek im Zusammenhang mit dem Milieu der Gründungsgrünen auf die Schnittmengen der Deutungsmuster rechtsextremer Zivilisations- und Kulturkritik mit ökologischen Positionen hin.28 Diese bestünden erstens in der organischen Betrachtungsweise von Individuum, Natur und Gesellschaft, weshalb Fragen nach Herrschaft, sozialer Ungleichheit und »der historischen Wandelbarkeit ethischer, moralischer und kultureller Standards nur unter der Perspektive von ›Zerfall‹ [und] ›Zersetzung‹ eines ursprünglich harmonischen Verhältnisses bzw. Gleichgewichts von Mensch und Natur« beantwortet werden können. Ein zweites Deutungsmuster, das 27  Jahn u. Wehling, S. 44. 28  Hierzu und im Folgenden Peter Dudek, Konservatismus, Rechtsextremismus und die »Philosophie der Grünen«, in: Thomas Kluge (Hg.): Grüne Politik. Der Stand einer Auseinandersetzung. Frankfurt am Main: S. 90–108, hier. S. 96.

Dudek in diesem Zusammenhang anführte, ist das eines irrrationalistischen Naturalismus, bei dem die Natur »das Ursprüngliche, Echte, Gesunde, Wertvolle« sei, was sich unter anderem in der »Frontstellung von ›lebendiger Gemeinschaft‹ und ›mechanistischer Gesellschaft‹« niederschlage. Als drittes potentiell verbindendes Deutungsmuster benannte Dudek eine anti-materialistische und anti-rationale Geschichtsauffassung, deren Grundlage ebenfalls eine statische, naturhaft-organische Vorstellung bilde, in der gesellschaftlicher Frederik Abrahams  —  Umweltschutzvon rechts

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Wandel oder Veränderung bspw. im Werte- und Normengefüge zwangsläufig immer zu Kritik führen müsse. Eine solche Geschichts- und Gesellschaftsauffassung ist Dudek zufolge nicht grundsätzlich wissenschaftsfeindlich, das Primat der Naturgesetze werde in der ökologischen Debatte von konservativen und rechtsextremen Akteuren durchaus anerkannt. Vielmehr hätten naturwissenschaftliche Erkenntnisse in rechtsextremen und konservativen Argumentationen die Funktion, biologistische Deutungsmuster und Argumentationslinien zu stützen. So könne die Bezugnahme auf die Natur im Sinne klassisch anti-aufklärerischer Positionen genutzt werden, indem »politische und gesellschaftliche Emanzipationsansprüche und Demokratisierungspostulate im Namen der Natur« zurückgewiesen und abgelehnt würden. Gleichzeitig bilden ökologische Krisen für rechte Agitatoren »einen entscheidenden Kristallisationspunkt zur Artikulation umfassender gesellschaftlicher Krisenerfahrung und apokalyptisch eingefärbter Bedrohungsgefühle […], die als ›fundamentale Existenzkrise des Volkes‹ interpretiert werden«29. Zweckdienlich, so Jahn und Wehling, sei hierbei der Bezug auf die ökologische Krise, weil sie sich als »Störung einer ›natürlichen Ordnung‹ von Gesellschaft« einfach in das persönliche Deutungsmuster einfügen lässt und darüber hinaus auch die Option des Anschlusses an aktuelle politische Konflikte und reale gesellschaftliche Krisenerfahrungen eröffnet. Auch die rassistischen Ressentiments rechter Akteure könnten über ökologische Bezüge verbreitet und reproduziert werden, so zum Beispiel, wenn über die »ausländerfeindliche und latent rassistische Verknüpfung von ›Ökologie‹ und ›Überfremdung‹ [die] gesellschaftliche Ausgrenzung (von Ausländern, Juden, Frauen, Linken…) vorbereitet und quasi wissenschaftlich ›legitimiert‹« werde. Als Basistheorem rechter Ökologie-Vorstellungen identifizieren Jahn und Wehling die ausländerfeindliche und nationalistische Zusammenführung von Umwelt-, Lebens- und Volksschutz, gestützt von einer Vision des Menschen als Teil der Natur, der urtümlich mit dem Boden und dem Raum, dem er »entstammt«, verbunden sei. Diese Deutungsmuster liefern Hinweise auf die vielfältigen konkreten Anknüpfungspunkte zwischen ökologischen, konservativen und rechtsextremen Konzepten und Ideen. Zuvorderst ist hier die stark verbreitete Zivilisationsund Fortschrittskritik zu nennen, die sich einerseits auf Umweltzerstörung bezieht, sich gleichzeitig aber auch auf gesellschaftlichen Wandel und die jeweils vorherrschende Werte-Architektur der Gesellschaft beziehen kann. Das Thema der »Überbevölkerung« als ein vermeintliches ökologisches Bedrohungsszenario stellt eine weitere Verbindung dar. Durch den Fokus auf

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29  Für diesen Absatz vgl. Jahn u. Wehling.

dieses Thema öffnen sich Debattenräume, in denen erneut ethnische Bezüge zu relevanten erklärt werden können. Auch an dem Thema Bioregionalismus hat sich die Verbindung ökologischer Schwerpunkte mit der Betonung ethnischer Identitäten gezeigt, welche durch die Vorstellung einer festen Einheit von Menschen und dem Raum, in dem diese leben, strukturell an die »Blut-und-Boden« Ideologie der historischen Nationalsozialisten anschließt. Der Bezug auf die ökologische Krise bietet überdies die Möglichkeit des Plädoyers für autoritäre oder totalitäre Staats- und Gesellschaftsvorstellungen. FAZIT In der Zusammenfassung lässt sich attestieren, dass im deutschen Umweltund Naturschutz, seit seiner Entstehung vor circa 140 Jahren und bis heute anhaltend, eine wirkmächtige konservative bis rechtsextreme Traditionslinie besteht. Schaut man sich die ideologischen Kernelemente und Überzeugungen konservativer und rechtsextremer Weltbilder an, überrascht diese Verbindung wenig. Ausgelöst durch einschneidende gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen, wie die Industrialisierung, die Liberalisierung der Gesellschaft, die Entstehung eines modernen demokratischen Systems sowie dem generellen Wertewandel innerhalb der Gesellschaft, entwickelte und entwickelt sich bei konservativen und rechtsextremen Akteuren ein Bedrohungsgefühl, auf das reagiert wird und wurde. Dieses Bedrohungsgefühl kann bis hin zu apokalyptisch geformten Perspektiven reichen, die sich einerseits auf eine reale Ebene (die konkrete Umweltverschmutzung oder ökologische Krise), andererseits aber immer auch auf eine theoretisch-gesellschaftliche Ebene (Kritik am Wandel der Gesellschaft und des vorherrschenden Wertegefüges) beziehen. Auch das Ideologie-Element der bewahrenden Haltung führt zu einer Nähe dieser Akteure zu Fragen des Umwelt- und Naturschutzes. Darüber hinaus bietet das Themenfeld Umwelt- und Naturschutz für konservative bis rechtsextreme Akteure die Option, ihr Menschen- und Weltbild, welches tief geprägt ist von der Vorstellung des Menschen als fehlbares Wesen, das zwingend auf Ordnung und Hierarchie angewiesen ist und sich im besten Fall harmonisch in die Gemeinschaft einfügen soll, scheinbar »naturwissenschaftlich« zu legitimieren und zu verbreiten. Dabei transportieren und betonen konservative und rechtsextreme Akteure in ökologischen Diskursen ebenfalls häufig eine ethnische Dimension. Ordnungs- und Bezugsrahmen ist in der Regel die Nation, das »Volk« oder gar die organische Gemeinschaft. Die zentrale Verbindungslinie zwischen ökologischen Themen und konservativen bis rechtsextremen Akteuren stellt die markante Fortschritts- und Zivilisationskritik dar. Aber auch ökologische Krisen bieten Anknüpfungspunkte, Frederik Abrahams  —  Umweltschutzvon rechts

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da diese möglicherweise Anschluss für die sonstigen Krisen-Narrative dieser Akteure versprechen. Als maßgebliche Motive und Deutungsmuster konservativer und rechtsextremer Akteure in ökologischen Diskursen lassen sich der Biologismus, das Motiv »back to nature« und das Streben nach autarken oder autoritären Gesellschaftsmodellen nachzeichnen. Der Biologismus kommt unter anderem in der naturalistischen Deutung von Gesellschaft und sozialer Ordnung sowie der organischen Betrachtung des Individuums zum Ausdruck. Das Motiv »back to nature« spiegelt sich in der Sehnsucht nach einem Leben im »Einklang mit der Natur« in der kleinbäuerlichen Idylle oder dem Leitmotiv des »ewigen Bauern« wider. Durch die (sich eigentlich widersprechenden) Forderungen nach autarken Wirtschaftskreisläufen oder einer autoritären Weltregierung, die die liberalen Freiheiten beschneiden soll, wird einerseits der Kritik an der Globalisierung, andererseits aber auch der Kritik am vorherrschenden liberalen Wertegefüge Ausdruck verliehen. Insofern liegt das Fazit nahe, dass der Umwelt- und Naturschutz auf tiefen politischen Überzeugungen konservativer und rechtsextremer Akteure basiert und als komplementärer Bestandteil mit vielen Verbindungslinien und eigenen Deutungsmustern eingebettet ist in das Weltbild dieser Akteure. Angelehnt an Gedanken von Oliver Geden lässt sich abschließend festhalten, dass Umwelt- und Naturschutz in seiner Geschichte immer im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen stand und auch weiterhin steht. Dabei wurde das Themenfeld häufig durch konservative und rechtsextreme Ideologien stark beeinflusst und hat dadurch wiederum zur Reproduktion konservativer und rechtsextremer Ideen und Konzepte beigetragen. Ob dieser Mechanismus auch gegenwärtig und zukünftig anhält, hängt davon ab, wie sich rechte Ökologiekonzeptionen entwickeln, anpassen und schließlich Anschluss an gesamtgesellschaftliche Diskurse finden. Daher scheint es auch weiterhin von großer Bedeutung, rechte Akteure im Feld der Ökologie genau zu beobachten und ihre Argumentationsmuster zu analysieren, um das tatsächliche Potential des Phänomens »Umweltschutz von rechts« einschätzen zu können.

Frederik Abrahams, geb. 1990 in Saarbrücken, setzte sich im Rahmen seines Studiums der Politikwissenschaft an der Georg-August Universität Göttingen – wie auch im Privaten – schwerpunktmäßig mit Gegenständen und ­Phänomenen des politischen Konservatismus und Rechtsextremismus auseinander.

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DER GRIFF NACH DEM ZENTRUM DER MACHT1 DIE GRÜNEN ALS BÜNDNISPARTEI Ξ  Lothar Probst

Wer erinnert sich noch an das letzte Wahlergebnis der Grünen bei der Bundestagswahl 2017? Mit einer Kraftanstrengung und den beiden Spitzenkandidaten Kathrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir kamen die Grünen gerade so auf 8,9 Prozent und wurden damit zum dritten Mal nacheinander bei einer Bundestagswahl nur kleinste Fraktion. Und wer erinnert sich an die noch gar nicht so alte Diskussion über die Frage, ob die Grünen eine Chance haben, den zweiten Platz im Parteiensystem zu erobern?2 Seitdem haben die Grünen eine unglaubliche Erfolgsgeschichte hingelegt. Mit herausragenden Wahlergebnissen bei vielen Landtags-, Kommunal-, Landrats- und Bürgermeisterwahlen haben sie eindrucksvoll bewiesen, dass sie mehr sind als eine Milieupartei. Bei der letzten nationalen Wahl, der Europawahl 2019, wurden sie nicht nur in fast allen Großstädten über 500.000 Einwohner*innen stärkste Partei, sondern stießen auch in kleineren ländlichen Gemeinden in neue Wählerschichten vor. Außerdem konnten sie weit ins Spektrum der anderen Parteien, vor allem der Union ausgreifen, wie die Wählerwanderungsanalysen belegen. Das eigentlich Überraschende der jüngeren Entwicklung im Parteiensystem ist jedoch die Tatsache, dass die Grünen ihre Position als zweitstärkste Partei seit Beginn der Corona-Pandemie behaupten konnten, obwohl diese das zwischenzeitlich dominierende Klimathema fast vollständig überlagert hatte. Hinzu kommt, dass die Grünen – von einigen Differenzen abgesehen – sowohl als Regierungspartei in den Ländern als auch als Oppositionspartei 1 

Ich danke Arne Jungjohann, Hermann Kuhn und Helga Trüpel für kritische Kommentare und Anmerkungen zu einer ersten Version des Textes. Fertiggestellt im Juli 2021. 2  Vgl. Lothar Probst, Der Kampf um Platz zwei. Das deutsche Parteiensystem im Wandel, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 8/2018, Heft 2, S. 114–121.

im Bund den Kurs der Großen Koalition in der Pandemiebekämpfung mitgetragen haben. DAS STRATEGISCHE ZENTRUM Der Quantensprung der Parteientwicklung seit 2017 verdankt sich einer Reihe von Faktoren: den ernsthaften und gut vorbereiteten Sondierungsgesprächen über eine Jamaika-Koalition nach der letzten Bundestagswahl, der Dynamik der neuen Klimabewegung und vor allem dem neuen Führungsduo. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck wurde nicht nur ein neuer Führungsstil

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etabliert, sondern auch ein neuer Sound in die Partei und Öffentlichkeit getragen: weg vom Image der belehrenden Besserwisser- und Verbotspartei hin zu einer Partei, die sich offen und nicht selbstgerecht mit den Problemen der Bundesrepublik auseinandersetzt und nach Lösungen sucht.3 Baerbock und Habeck haben sich innerhalb von nur drei Jahren zum unangefochtenen strategischen Zentrum entwickelt, hinter dem die Partei und ihre verschiedenen Strömungen so geschlossen stehen wie selten in der Geschichte der Grünen. Das liegt auch daran, dass beide nicht in erster Linie als Strömungsvertreter*innen agieren und wahrgenommen werden, sondern als kluge Köpfe, die als Team funktionieren und leidenschaftlich, entschieden und fachlich bewandert für einen Kurswechsel in der Klimapolitik eintreten. Nur dieser Umstand hat es ihnen ermöglicht, die Frage der Kanzlerkandidatur untereinander so zu klären, dass daraus keine parteiinterne Zerreißprobe wurde. Sie konnten sich damit wohltuend von dem klassischen Machtspiel abheben, das sich zeitgleich innerhalb der Union beobachten ließ. Die Entscheidung für Baerbock empfand Habeck zwar als »bittersüß«, doch ließen beide keinen Zweifel daran aufkommen, die Partei weiterhin als Tandem in den Wahlkampf zu führen. Schon kurz nach dieser Entscheidung ist der Wahlkampf der Grünen allerdings unter die Räder gekommen. Die anfängliche Euphorie in der Partei über die Nominierung Baerbocks musste schnell

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3  Vgl. Lothar Probst, Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis, in: Uwe Jun/Oskar Niedermayer (Hg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017. Wiesbaden 2020, S. 187–221.

der Erkenntnis weichen, dass sie und ihr Team unterschätzt hatten, mit welcher Wucht die politischen Gegner auf ihre Kanzlerkandidatur und steigende Umfragewerte für die Grünen reagieren würden. Zumal Baerbock selbst die größte Angriffsfläche bot: Offensichtlich hatte man versäumt, ihren Lebenslauf und ihre finanzielle Situation vorher auf Herz und Nieren zu prüfen, sodass eine Reihe von Ungereimtheiten ans Tageslicht kam, die ihren Nimbus als »frische« und politisch unverbrauchte Kanzlerkandidatin – konkurrierend mit zwei altgedienten Männern im Politikbetrieb – schnell verblassen ließ. Als dann noch mitten im Wahlkampf ein Buch von ihr erschien, das aufgrund von Plagiatsvorwürfen ihre Glaubwürdigkeit ein weiteres Mal erschütterte, gingen auch die Umfragewerte der Grünen in den Keller. Ob die schockierenden Bilder der Flutkatastrophe an Ahr und Erft im Juli dem Wahlkampf der Grünen neuen Schwung verleihen und sie sich in den Umfragen wieder auf Schlagdistanz zur Union nähern, ist mehr als fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass sie den Kampf um Platz zwei im Parteiensystem bis zur Bundestagswahl werden weiterführen müssen. Gleichwohl haben sich die Grünen trotz dieser den Walhkampf belastenden Fehler von ihrem früheren Image emanzipiert und ein neues Kapitel in ihrer Parteigeschichte aufgeschlagen. Das betrifft sowohl ihr Verhältnis zur Macht als auch zur Gesellschaft.

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EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON MACHT Mit dem von Annalena Baerbock und Robert Habeck seit ihrer Wahl als Parteivorsitzende praktizierten Führungsstil geht ein neues Verständnis von Macht einher, zu der die Grünen lange Zeit ein ambivalentes Verhältnis pflegten. Seit den Anfängen der Partei hatte politische Macht nicht nur einen negativen Klang, sie wurde sogar als Verrat an grünen Prinzipien angesehen. Auch wenn sich bereits nach den ersten Koalitionen mit der SPD die Machtfrage etwas entspannt hatte, blieb die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man sich an Regierungskoalitionen beteiligen sollte, lange Zeit umstritten. Obwohl die Grünen in ihrer gut vierzigjährigen Geschichte nicht nur in einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene, sondern auch in vielen Landesregierungen Machterfahrungen sammeln konnten, wäre in der Vergangenheit niemand in der Partei auf die Idee gekommen, nach der Macht im Kanzleramt zu greifen. Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, dass die Grünen seit einigen Jahren als Scharnierpartei in der Mitte des Parteiensystems eine strategisch günstige Position einnehmen und in aktuell zehn Landesregierungen mit unterschiedlichen Koalitionspartnern immer mehr zu einem Machtfaktor geworden sind. Vor allem Robert Habeck hat in den letzten Jahren daran gearbeitet, Macht für die Grünen neu zu definieren. Er sucht dabei philosophische Anleihen bei Hannah Arendt, die als eine der wenigen politischen Denkerinnen Macht und Gewalt strikt voneinander unterschieden hat. Macht positiv zu denken – als Fähigkeit, das Mögliche Wirklichkeit werden zu lassen –, das ist ein Ansatz, der bei den Grünen zuvor höchstens vom Arendt-Kenner Winfried Kretschmann beherzigt worden ist. Macht ist etymologisch das »Vermögen«, etwas zu tun. Das klingt auch in den lateinischen Entsprechungen potestas und ebenso im Spanischen potencia bzw. im Französischen pouvoir an. Sie ist die menschliche Befähigung, trotz unterschiedlicher Identitäten und sozialer Gruppenzugehörigkeiten politisch gemeinsam zu handeln. Das meint Arendts Diktum »to act in concert«. Tatsächlich eröffnet erst diese Sichtweise einen politischen Handlungsraum, in dem die Grünen Politik als Gestaltungsaufgabe für das »Ganze« begreifen und von einem »Wir« sprechen können – beides neue Vokabeln im Wortschatz des grünen Führungsteams. Habeck spricht in diesem Zusammenhang in seinem im Januar 2021 erschienenen Buch Von hier an anders von einer »neuen Kultur der Gemeinsamkeit«.4 Man kann in diesem Ansatz das Bemühen der Grünen erkennen, sich von der Vorstellung einer Milieupartei, die sich vor allem auf Gruppenidentitäten bezieht, zu verabschieden. Gleichzeitig symbolisiert diese andere

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4  Robert Habeck, Von hier an anders. Eine politische Skizze, Köln 2021, S. 307.

Herangehensweise an Politik die Hinwendung zu einem neuen Verständnis von grüner Partei, die für die Vielen Politik macht und daraus etwas Gemeinsames formt: E pluribus unum. Die Grünen würden damit, sofern sich dereinst bilanzieren lässt, dass die Gemeinsamkeitspostulate über die Sphäre des Rhetorischen hinaus auch ihre politische Praxis prägen, nicht nur der Pluralität und Heterogenität der heutigen Gesellschaft gerecht werden, sondern auch Bündnisse jenseits von Gruppeninteressen ermöglichen – seien sie ökonomischer, sozialer oder kultureller Art. DIE GRÜNEN ALS BÜNDNISPARTEI DER MITTE Auch dafür hat Robert Habeck einen innovativen Begriff gefunden: Die Grünen als Bündnispartei. Politikwissenschaftlich gibt es dafür im Gegensatz zur Volkspartei bisher kein ausgearbeitetes Konzept, aber trotzdem ist nachvollziehbar, warum Habeck die Grünen lieber als Bündnis- denn als Volkspartei verstanden wissen will. Volksparteien haben sich als Ankerpunkte des Parteiensystems zweifelsohne große Verdienste für die Stabilität der Demokratie und die Integration breiter Wählerschichten erworben. Man muss auch kein Anhänger der These vom »Ende der Volksparteien« sein, das in der Politikwissenschaft in regelmäßigen Abständen immer mal wieder ausgerufen wurde5, um zu begreifen, dass sie den vollzogenen gesellschaftlichen Wandel heute nicht mehr ausreichend abbilden. In der Politikwissenschaft gibt es ein Set von Kriterien, um Volksparteien zu definieren: Ideologiearmut und Pragmatismus, Vorrang taktischer und kurzfristiger Erwägungen, Stimmenmaximierung um jeden Preis, Wahlergebnisse über dreißig Prozent, Entwertung der Mitglieder und Herrschaft der Parteioligarchie, Verbindung zu den unterschiedlichen Einflussgruppen der Gesellschaft, Macht- und Medienorientierung.6 Manchmal werden vor diesem Hintergrund auch die Grünen (nicht nur) in Baden-Württemberg als »neue Volkspartei« etikettiert. 5  Vgl. Niedermeyer, Die Kontroverse um die Entwicklung der Volksparteien in Deutschland, in: Alexander Gallus, Thomas Schubert, Tom Thieme (Hg.), Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse. Baden-Baden 2013, S. 523–535; Matthias Micus, Patient Volkspartei? Über den Niedergang und deren Verkünder, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 0 (2011), S. 144–151. 6  Vgl. Niedermeyer, S. 525.

Gleichwohl wäre es gerade mit Blick auf diese Kriterien nicht nur unpassend, sondern würde auch zu kurz greifen, die Grünen seit ihrem Aufstieg zur zweitstärksten Partei in diese Kategorie einzuordnen. Resultiert die virulente Krise der Volksparteien doch daraus, dass sie als politische Formationen historisch an ihre Grenzen gelangt sind. Als innerparteiliches Bündnis von gesellschaftlichen Großgruppen brechen sich Volksparteien an der neuen Vielfalt von Lebensformen, Lebensstilen und Milieuausprägungen. Folgt man der (nicht unumstrittenen) Einschätzung, dass wir in einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) leben, dann stellt sich die Frage, wie man sich überhaupt noch auf »Gemeinsames« einigen kann. Lothar Probst  —  Der Griff nach dem Zentrum der Macht

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Gerade hier liegt die Stärke der Grünen mit ihrer historisch gewachsenen Kernkompetenz: dem Kampf um die Überlebensfähigkeit unseres Planeten und der auf ihm lebenden Menschen durch den Schutz der Ökosysteme. Das ökologische Paradigma gehört seit ihren Anfängen zur DNA der Grünen. Es begründet den Anspruch, mehr zu sein als eine Milieupartei für gesellschaftliche Gruppen, die vor allem auf individuelle Selbstverwirklichung abzielen. Gleichzeitig ist das ökologische Paradigma mehr als nur Umwelt- und Klimapolitik. Alle großen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen – innergesellschaftliche und globale Gerechtigkeit, Schutz der Demokratie, nachhaltiges Wirtschaften und digitale Teilhabe –, können letzten Endes nur aus der Perspektive des sozial-ökologischen Umbaus der Gesellschaft angegangen werden. Es wird nun darauf ankommen, dass die Grünen im Bundestagswahlkampf diesen Trumpf ausspielen und eine Allianz für eine entschiedene Klimapolitik ins Zentrum rücken. Die Erfahrungen der globalen Klimakrise, die zuletzt auch in Deutschland in der verheerenden Flutkatastrophe einen sichtbaren Kulminationspunkt gefunden hat, verstärken die Bedeutung und Notwendigkeit einer solchen Allianz. Das Konzept der Bündnispartei leistet in diesem Zusammenhang wichtige Hilfsdienste. Es greift unter anderem die Erfahrungen der ostdeutschen Bürgerbewegungen auf, die sich 1993 als Bündnis 90 mit den Grünen vereinigt haben. Christoph Kleemann, der 1989 das Neue Forum am Runden Tisch in Rostock vertrat, fasste das dort Erlebte einmal folgendermaßen zusammen: »Es war für mich eine einmalige Erfahrung, dass alle zu gleichen Teilen am Tisch sitzen, alle das gleiche Recht haben und sich dann plötzlich herausstellt, dass die Wahrheit aus einer ganz anderen Ecke kommt, als man vermutet. Das war der tiefere, wichtigste Sinn des Runden Tisches, dieses Demokratieerlebnis: Wir alle haben miteinander Verantwortung«.7 Drei Jahrzehnte später beziehen sich Robert Habeck und Annalena Baerbock auf diesen Gedanken, wenn sie schreiben: »Wenn man aber in einer Demokratie etwas verändern will, braucht es logischerweise Mehrheiten. Und der Begriff Bündnis bedeutet nun mal, mit Menschen eine Allianz einzugehen, die nicht alle exakt die gleichen Vorstellungen und Ziele haben wie man selbst«8. Dieser Ansatz stellt der Heterogenität der Gesellschaft das Gemeinsame gegenüber, er will Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und Milieus. Dahinter steckt die Idee, Widersprüche nicht als etwas Ausschließendes zu denken, sondern als »produktive Spannungen« und sich »bedingende Pole«. Habeck führt diesen Gedanken in seinem Buch Von hier an anders weiter aus, wenn er schreibt: »Die freiheitliche Demokratie lebt vom Zuhören und

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7  Vgl. Lothar Probst, Lothar, »Der Norden wacht auf«. Zu Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989, Bremen 1993. 8  Robert Habeck und Annalena Baerbock, Nur ein geschlossenes Weltbild kennt keine Wider­sprüche, in: DIE ZEIT, 15.10.2020.

Hinterfragen. Davon, dass der andere recht haben könnte. […] Widersprüche auszuhalten, nicht jede Frage gleich mit einer Antwort niederzumachen, selbstkritisch zu sein, Fehler auch mal einzuräumen ist schwer. […] Dennoch liegt hier […] der Schlüssel für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit, für die Macht eines neuen gesellschaftlichen Zentrums«9. Auch wenn sich die Grünen spätestens seit der Kanzlerkandidatur nicht mehr mit der Rolle des Juniorpartners in einer zukünftigen Regierung zufriedengeben wollen, ist es für die politische Umsetzung der Idee und des Konzepts der Bündnispartei nicht entscheidend, ob die Grünen 20 oder 28 Prozent der Wähler*innenstimmen erreichen und ob sie per Mehrheit einen Führungsanspruch in einer Koalition erheben können. Elementar ist vielmehr, dass sie das diskursive Zentrum bzw. das politische Herz einer Gewinnkoalition sind. Das heißt, auch als kleinerer Partner kann eine Bündnispartei eine führende Rolle wahrnehmen, wenn es ihr gelingt, gesellschaftliche Mehrheiten jenseits politischer Mehrheiten einer Koalition zu mobilisieren. Kein Thema eignet sich besser als die Ökologie und die Bekämpfung der Klimakatastrophe, solche gesellschaftlichen Mehrheiten zu gewinnen. Dabei kommt den Grünen zugute, dass die Mitte der Gesellschaft ökonomisch und sozial zwar kleiner, politisch aber breiter und zugleich heterogener geworden ist. Der grüne Angriff auf die politische Führungsrolle der Union erfolgt in dem Bewusstsein, einen veränderten, maßgeblicheren Platz in Gesellschaft und Parteiensystem einzunehmen. Die Grünen repräsentieren heute eine gesellschaftliche Mitte, die sowohl nach links als auch rechts anschlussfähig ist. Man kann darüber streiten, ob es eine glückliche Metapher von Robert Habeck ist, diese Mitte mit dem seit Gerhard Schröder »verbrannten« Begriff der »neuen Mitte« zu bezeichnen. Es ist auf jeden Fall eine Mitte, die sich in den letzten Jahren bei Wahlen verstärkt den Grünen als Alternative zu den klassischen Volksparteien zugewandt hat. BEWAHREN – AUFBRECHEN – VERÄNDERN Ohne Frage: Die Grünen stehen an einer entscheidenden Weggabelung ihrer bisherigen Geschichte. Mit der Nominierung einer eigenen Kanzlerkandidatin vollziehen sie einen Rollen- und Strategiewechsel, der natürlich ihre Wahrnehmung durch die Wähler*innen, Medien und Mitbewerber verändert. Die ersten Reaktionen geben einen Vorgeschmack darauf, dass den Grünen und ihrer Kanzlerkandidatin bis zur Bundestagswahl noch harte Auseinandersetzungen bevorstehen. Nicht nur die FDP, die sich infolge der gescheiterten 9 

Habeck, Von hier an anders, S. 313 f.

Jamaika-Sondierungsgespräche zunächst ins Abseits manövriert hatte und jetzt erfolgreich die Unzufriedenheit mit dem Pandemie-Management der Lothar Probst  —  Der Griff nach dem Zentrum der Macht

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Großen Koalition auf ihre Mühlen lenkt, sondern auch andere Teile der Öffentlichkeit und politischen Konkurrenz warten nur darauf, dass die Grünen im Wahlkampf weitere Fehler machen. Wahrscheinlich wird trotz der Flutkatastrophe, die im Juli die Schlagzeilen beherrschte, die Corona-Pandemie bis zur Bundestagswahl das beherrschende Thema bleiben. Aber nach einer relativen Normalisierung der Lage im Sommer und mit steigender Impfquote werden möglicherweise nicht mehr die jetzt noch akuten Probleme bei der Bekämpfung der Pandemie im Zentrum stehen, sondern deren wirtschaftliche, finanzielle und soziale Folgekosten. Es besteht dadurch die Möglichkeit, die Klimakrise als strukturelles Problem wieder stärker auf die politische und vor allem auch öffentliche Agenda zu setzen, um eine neue Wahldynamik zu entfalten. Auch andere Themen werden wahrscheinlich mit neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung zurückkehren: Bildung, Verteilungs- und Chancengerechtigkeit, Digitalisierung und Arbeit sowie die Gestaltung von Wirtschaftsabläufen. Der Anspruch der Grünen ist es, die Republik zu modernisieren und den Status quo zu überwinden. Das weckt aber Ängste, denn die technologischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die in unserer Gesellschaft fortwährend stattfinden, schaffen auch ohne politische Ambitionen auf eine Änderung des Status quo Unsicherheit und Unübersichtlichkeit. Die Grünen wollen diesen Ängsten mit der Aussicht auf massive Investitionen in die Infrastrukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge begegnen, um das Wohlstandsversprechen im Zuge einer ökologischen Transformation einzulösen. Wie das finanziert werden soll und was das für die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse bedeutet, ist bereits Gegenstand der politischen Auseinandersetzung mit den Mitbewerbern. Ebenfalls in Angriff nehmen muss eine von den Grünen mitgestaltete Koalition Reformen des Staates und seiner Verwaltungsstrukturen, die zunehmend selber zum Problem- und Sanierungsfall geworden sind, wie die Corona-Pandemie schonungslos offengelegt hat. Manchmal atmet der Staat in Deutschland noch den behäbigen Geist des preußischen Verwaltungsstaates. Die strukturellen Defizite bei der Digitalisierung, die im Fax-Austausch der Gesundheitsämter mit dem Robert Koch-Institut ihren anachronistischsymbolischen Ausdruck gefunden haben, sind dabei nur ein Problem. Der Staat muss effizienter, schneller, gerechter und demokratischer werden, um zukünftig auf Krisen adäquat reagieren zu können. Das ist nicht nur ein technisches Problem, welches sich über Investitionen in die Digitalisierung lösen lässt, sondern ein Problem, das einen tiefgreifenden Mentalitätswandel erfordert. Jede zukünftige Regierung wird daran gemessen werden, ob es ihr

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gelingt, die staatlichen Strukturen so zu modernisieren, dass sie krisenfester und zugleich demokratischer werden. ANGRIFFSPUNKTE UND OFFENE FRAGEN Die Grünen sind mit der Kanzlerkandidatur auch ein Risiko eingegangen, wie der bisherige Verlauf der Wahlkampagne gezeigt hat. Bleiben sie bei der Bundestagswahl weit hinter den jetzigen Umfragewerten zurück, wird man nachträglich die Kandidatur als Ausdruck politischer Vermessenheit interpretieren. Die größte Gefahr aber geht von der Partei selber aus und den hohen Erwartungen, die von der Basis an eine Regierungsbeteiligung der Grünen geknüpft werden. In den letzten Jahren haben die Grünen einen unglaublichen Zulauf von neuen Mitgliedern erlebt, der sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf über 110.000 Mitglieder katapultiert hat. Darunter sind viele junge Mitglieder, die eine starke Affinität zu einer umstrittenen Identitätspolitik haben, vor allem im Bereich der Migrationspolitik, des Minderheitenschutzes und der Political Correctness. Darüber hinaus genießt eine Koalition mit der SPD und der Linkspartei an der Basis immer noch hohe Sympathien, während die politische Führung gerade mit der Linkspartei aufgrund ihrer außen- und sicherheitspolitischen Orientierung sowie ihrer relativ unkritischen Russlandpolitik Schwierigkeiten hat. Die Grünen verfolgen im Gegensatz dazu mit ihrer klaren Haltung zum Ukraine-Konflikt, zum Giftanschlag auf Alexander Nawalny und zu Nord Stream 2 eine eigene Linie, die in und außerhalb Europas auf Zustimmung stößt. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Fragen, zu denen sich die Grünen noch nicht klar oder noch nicht abschließend positioniert haben. Das betrifft eine gemeinsame, auch militärisch gestützte europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das zukünftige transatlantische Verhältnis zu den USA und die Sicherheit der europäischen Außengrenzen sowie, damit verbunden, eine geregelte Zuwanderungspolitik. Die Grünen tun gut daran, an der Klärung dieser Fragen einschließlich der Finanzierung ihrer Wahlkampfversprechen zu arbeiten, denn sie werden ihnen im weiteren Verlauf des Wahlkampfes mit Sicherheit gestellt werden. Lothar Probst; Prof. Dr. (pensioniert), geb. 1952, ehemaliger Leiter des Arbeitsbereichs Wahl-, Parteien und Partizipationsforschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen und ehemaliger Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien am Fachbereich 8 der Universität Bremen.

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PERSPEKTIVEN

KONSPIRATIVE MANÖVER VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN IN DER COVID-19-PANDEMIE Ξ  Marco Bitschnau

Seit mehr als einem Jahr1 zwängt die COVID -19-Pandemie (vulgo: Corona) nun schon die verschiedenen Teilbereiche unserer Gesellschaft in ein immer engeres Handlungs- und Rationalitätenkorsett. Die Wirtschaft hat sie großflächig lahmgelegt, die Politik paralysiert und das Soziale in digitale Räume ausgelagert. Im Sport sorgte Corona für leere Zuschauertribünen, in der Kunst für leere Galerien, in der Unterhaltungsbranche für leere Konzerthallen und im Unterrichtswesen für leere Klassen- und Seminarräume. So allgegenwärtig ist dieses Virus und so verstörend diese Allgegenwart, dass man immer mehr Stimmen raunen hört, das alles könne doch unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Kaum anzunehmen, dass Corona von alleine in die Welt gekommen sei; vielmehr müsse es da jemanden geben, der oder die den Siegeszug der Pandemie von langer Hand geplant habe und nun Nutzen aus der Schreckenskombination von Wirtschaftsmisere und Alltagsverödung ziehe. Mit anderen Worten: Die Pandemie sei das Resultat eines Plans, einer Absprache, einer klandestinen Übereinkunft, kurz: einer Verschwörung. Dass man solche Gedankengänge derzeit vermehrt antrifft, es sich bei ihnen also keineswegs um Grenz- oder Ausnahmeerscheinungen handelt, wurzelt zuvörderst in dem schlichten Umstand, dass sich Corona gesundheits- wie gesellschaftspolitisch als Krise manifestiert, als Moment syste1  Dieser Beitrag wurde im Mai 2021 fertiggestellt.

mischer Überforderung und Ungewissheit. Krisen sind Zeiten, »in which a relevant number of […] actors lose confidence in their ability to interpret the signs of the outer world«2; Zeiten der Labilität, in denen sich das Ver-

2  Hansjörg Siegenthaler, Learning and its Rationality in a Context of Fundamental Uncertainty, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Jg. 153 (1997), H. 4, S. 748–761, hier S. 748. 3  Wolfgang Wippermann, Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin 2007, S. 2.

trauen in tradierte Modi der Alltagsbewältigung abnutzt und ehedem feste Gewissheiten aufweichen. Aber auch Zeiten der Opportunität, in denen sich alternative Welterklärungsmuster mit besonderer Leichtigkeit in öffentlichen Debattenräumen einnisten und unsere kollektive Wahrnehmung unmittelbar beeinflussen können. Insofern gilt: »Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten«3 – und waren es immer schon, denn aus dem krisenimmanenten Verlorenheitsgefühl erwächst beinahe automatisch der Drang, zu verstehen, enträtseln, entschlüsseln und dechiffrieren; kurzum, das obskur-bedrohliche

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Wesen der Krise in das Delta des Sinnhaften einmünden zu lassen und dadurch Orientierung und Klarheit zurückzugewinnen. KONSPIRATION-19 IN DREI VARIANTEN Dabei wäre es jedoch zu kurz gegriffen, Verschwörungstheorien und ihre Verbreitung zum bloßen Krisenphänomen herabzustufen. Die Situation ist ungleich komplexer und die Bewertung eines Sachverhalts als Krise ohnehin nicht immer konsentiert. Und doch zeigt sich in Corona-Zeiten ein verschwörungstheoretischer Krisenkomplex, der einer näheren Betrachtung lohnt. Nur, wo genau beginnen? Fraglos wäre es wenig sinnvoll, sich den gewaltigen Scherbenhaufen der Pandemiekommunikation zu besehen und dann aufs Geratewohl passend erscheinende Splitter herauszuziehen und zusammenfügen zu wollen. Ein auch nur annähernd wirklichkeitsnahes Mosaik käme so wohl schwerlich zustande, zumal besagter Scherbenhaufen mit jedem neuen Tag weiter anwächst. Doch getreu dem in konspirationistischen Kreisen gerne referenzierten Freimaurermotto ordo ab chao lässt sich vielleicht aus der Vogelperspektive eine gewisse Grundübersicht gewinnen. Ausgangspunkt ist dabei, dass ein jeder Splitter von dem abweicht, was im Verschwörungsorbit als die »offizielle Version« der Ereignisse bekannt ist. Ein trügerischer Ausdruck, denn natürlich ist eine solche Version nur in wenigen Fällen im näheren Sinn offiziell; vielmehr bezieht sich der Term auf ein politisch wie medial dominantes Erklärnarrativ. Wenn zum Beispiel die Ansicht, dass die von Passagierflugzeugen erzeugten Kondensstreifen tatsächlich Kondensstreifen sind und nicht mit todbringenden Chemikalien versetzte Chemtrails4, als offizielle Version tituliert wird, dann nicht, weil es dazu in einer Schreibtischschublade des Bundesverkehrsministeriums eine amtliche Stellungnahme gäbe. Stattdessen gilt als offiziell, was allgemein akzeptiert ist und eben gerade nicht auf das Evozieren verschwörerischer Umtriebe zurückgreifen muss. Offizielle Version, das ist jene Position, die keiner Begründung mehr bedarf, weil sie bereits fest im Herzen der Ereignisorthodoxie ankert.5 Im Falle von Corona geht die offizielle Version in etwa so: Die Krankheit existiert, hat vermutlich ihren Ursprung im Tierreich und verbreitet sich über virushaltige Partikel, die beim Husten, Niesen oder Sprechen infektiöser Personen freigesetzt werden. Sie kann sowohl asymptomatisch als auch symptomatisch verlaufen und ist potenziell tödlich, wobei Gewicht, Alter und gesundheitliche Vorbelastungen relevante Risikofaktoren darstellen. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit selbst kann mit dem Einhalten relevanter Hygienevorschriften, dem Vermeiden sozialer Kontakte und natürlich einer Impfung minimiert werden. All diese Punkte entsprechen dem

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Perspektiven — Analyse

4  Vgl. Rose Cairns, Climates of suspicion. ›chemtrail‹ conspiracy narratives and the international politics of geoengineering, in: The Geographical Journal, Jg. 182 (2016), H. 1, S. 70–84. 5  Einschränkendes – im Hinblick auf das vor allem historische Phänomen der Verschwörungstheorie als offizieller Version – bei Michael Butter, »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018, S. 49–50, 77–83.

gegenwärtigen Forschungsstand und werden insofern von Politik und Gesellschaft als gegeben (und mithin offiziell) aufgefasst, als sie den Unterbau aller Eindämmungsstrategien und Maßnahmenbündel darstellen. Zugleich sind sie aber auch alle Verschwörungstheorien6 unterworfen – der eine Aspekt mehr, der andere weniger. Demgegenüber eine konsistente Typologie der verschwörungstheoretisch unterfütterten »nichtoffiziellen Versionen« zu entwickeln ist keineswegs einfach, schon alleine aufgrund des raschen Wandels, dem sich sowohl die Krise als auch die auf sie erfolgenden Reaktionen ausgesetzt sehen. Und doch kann es durchaus nutzbringend sein, zumindest den Versuch einer Klassifizierung zu unternehmen und zwischen drei distinkten Gruppen von Corona-Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Zunächst sind da jene, die beim Ursprungsort oder Auslöser der Pandemie ansetzen und somit die Virusherkunft thematisieren; also der Eingangsfrage nachgehen, wie Corona denn nun in die Welt gelangt ist. Wirklich auf natürlichem Wege – oder hat der Mensch (in Gestalt eines Geheimdienstes oder eines Konglomerats mächtiger Privatpersonen) nicht doch ein wenig nachgeholfen und die Pandemie absichtlich losgetreten? Mutmaßungen dieser Art haben einige Tradition, wurde doch schon das HI-Virus als aus den Fugen geratenes Laborexperiment oder, wie von Milton William Cooper7, als Regierungsvorhaben zur gezielten Vernichtung Homosexueller und Schwarzer gedeutet – mit beacht6  Zum Theorie­begriff ebd., S. 52–56. 7  Vgl. Milton W. Cooper, Behold a Pale Horse. Flagstaff 1991. 8  Vgl. beispielhaft Elizabeth A. Klonoff u. Hope Landrine, Do Blacks believe that HIV/AIDS is a government conspiracy against them?, in: Preventive Medicine, Jg. 28 (1999), H. 5, S. 451–457. 9  Ein vermeintlich unausweichlicher Konflikt zwischen dem aufstrebenden China und den stagnierenden Vereinigten Staaten ist inzwischen zum geläufigen Sujet geopolitischer Fundamental­analysen und Konflikt­erwartungen avanciert. Vielleicht am prominentesten in Graham T. Allison, Destined for War? Can America and China Escape Thucydides’s Trap?, New York 2017.

lichem Erfolg.8 Im Falle Coronas ist die Zuschreibung von Verantwortlichkeit indes noch bedeutsamer. Denn sollte sich morgen herausstellen, dass das HI-Virus tatsächlich in US-Militäreinrichtungen herangezüchtet worden ist, dann wäre das wohl nur ein – wenn auch erschreckender – Ausweis für die Regierungsamoralität vergangener Tage. Sollte sich aber herausstellen, dass Corona aus einer solchen Einrichtung stammt, dann erhielten die angestauten Frustrations­erfahrungen von Millionen Betroffenen ein verantwortungstaugliches blame object und wir stünden wohl mit einem Bein in einem neuen Kalten Krieg. Apropos Kalter Krieg: Die seit einigen Jahren mit zunehmender Intensität hervorbrechenden sino-amerikanischen Spannungen9 strukturieren das geopolitische Fundament der Theorien zur Virusherkunft in besonderem Maße. Zumeist kommt dabei der Volksrepublik China die Rolle des Buhmanns zu. Da sich der erste signifikante Corona-Ausbruch in der dortigen Provinz Hubei ereignet hatte, wurde vor allem in den USA alsbald der Verdacht laut, das »China virus« (so der damalige US-Präsident Trump) sei in einem Geheim­ labor der Volksbefreiungsarmee entwickelt worden und habe originär militärischen Zwecken gedient. Der lange als primärer Infektionsort gehandelte wet Marco Bitschnau — Konspirative Manöver

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market der Stadt Wuhan sei dagegen nur Tarnung; nichts als eine brüchige Fassade, ein Potemkinsches Dorf, hinter dem Chinas Kommunistische Partei ihr Herumwerkeln mit biologischen Kampfstoffen zu verschleiern suche. Neben diesem vermeintlichen Militärlabor ist auch das nachweislich existierende Wuhan Institute of Virology in die Schusslinie der Herkunftstheoretiker geraten – darunter des vormaligen US-Außenministers Mike Pompeo. Umgekehrt ist von chinesischer Seite zu hören, die CIA habe das Virus entwickelt und nach China einschleusen lassen, um so die Reputation des kommenden Weltmachtrivalen nachhaltig zu schädigen. Eine zweite, besonders häufige Gruppe befasst sich mit der Virusabsicht – der klassischen verschwörungstheoretischen Frage nach dem cui bono, dem hier freilich noch ein quid bonum vorgeschaltet ist. Zwar mag die Annahme naheliegen, dass Verschwörungstheorien zur Virusherkunft solche zur Virusabsicht quasi zwangsläufig nach sich ziehen, doch das ist nicht notwendigerweise der Fall. So kann man durchaus der Auffassung sein, dass Corona nicht durch Zooanthroponose (also die Erregerübertragung vom Tier auf den Menschen), sondern tatsächlich im Untergeschoss des Wuhan Institute entstanden sei, und dennoch einen gesteuerten Pandemieausbruch mit fester Zielsetzung für unwahrscheinlich halten (»Warum sollten die Chinesen ihre eigenen Leute infizieren?«). Die Verschwörungskomponente beschränkt sich in solch einem Fall ausschließlich auf den Entstehungsprozess, wohingegen die Interpretation der weiteren Ereignisse durchaus der offiziellen Version folgen kann. Anders bei Theorien zur Virusabsicht, die sich grob in zwei distinkte Lesarten untergliedern lassen. Zum einen eine bestätigend-gesundheitsorientierte, nach der das Virus existiert, gefährlich ist und mit dem Ziel freigesetzt wurde, schwerwiegende Gesundheitsschäden herbeizuführen, bis hin zur Durchseuchung ganzer Völkerschaften zwecks einer angestrebten Verringerung der Weltbevölkerung.10 Diese Sicht war insbesondere in der Frühphase der Pandemie gängig, hat seither aber einiges an Strahlkraft verloren. Mutmaßlich, weil recht offensichtlich geworden sein dürfte, dass Corona für eine Komplettentvölkerung des Planeten nicht allzu viel taugt. An ihrer Stelle dominiert daher nun eine negierend-gesellschaftsorientierte Variante. Dieser zufolge existiert das Virus entweder nicht (Leugner-Hypothese) oder ist ungefährlich (Panikmache-Hypothese) und entfaltet lediglich als Einfallstor für handfestere konspirative Vorhaben Relevanz. Besagte Vorhaben können sowohl politisch-wirtschaftlicher als auch esoterisch-spiritueller Natur sein. Weit verbreitet ist etwa die Einordnung als Testballon für einen kommenden Überwachungsstaat oder ersten Schritt in einen solchen: Indem unter dem Vorwand des Bevölkerungsschutzes und der

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Perspektiven — Analyse

10  Hierbei wird (wie auch in vergleichbaren Zusammenhängen) gerne auf die Georgia Guidestones verwiesen, die eine solche Bevölkerungsreduktion angeblich ankündigen.

Gesundheit Bürgerrechte beschnitten und Zwangsimpfungen durchgeführt würden, betrete man Orwell’sche Gefilde und weise einem neuen Totalitarismus den Weg. Einige verschwörungstheoretische Aktivist:innen wie der Celebrity-Koch Attila Hildmann gehen demgegenüber noch weiter und warnen, die Impfung sei dazu gedacht, mittels Nanotechnologie zunächst das menschliche Ego einzusaugen, um es dann anschließend in ein komplexes Cloudsystem hochzuladen; ein perfider Plan Satans, um die Seelen an die physische Welt zu binden und so letztlich vom Eingang ins Paradies abzuhalten. Es sei ohne jede Pathologisierungsabsicht dahingestellt, ob der Begriff Verschwörungstheorie für derart sonderbare Realitätsinterpretationen noch angemessen ist. Die meisten anderen Konspirationsideen zur Virusabsicht sind jedenfalls deutlich zahmer und bewegen sich entlang einer klaren Achse an vermuteten Macht-, Herrschafts- und Finanzinteressen. In vielen Fällen fusionieren sie dabei mit populistischer Elitenkritik, rechtsautoritärer Gegenkultur und fundamentaler Wissenschaftsskepsis11 und lokalisieren die Verschwörer:innen an wenig überraschenden Orten: in der Beletage des Berliner Kanzleramts, wo Angela Merkel Corona zum Machtausbau nutze; in Seattle, wo Jeff Bezos die globale Amazon-Hegemonie am Reißbrett plane; in den Vorstandsbüros der großen Pharmaunternehmen, wo jede Impfzulassung mit Schampus begossen werde; oder auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos, wo Klaus Schwab mit diabolischer Unermüdlichkeit am Great Reset und damit an der Post-Corona-Ordnung tüftele. Eine besonders exponierte Rolle nimmt auch der Microsoft-Mitbegründer 11  Vgl. Jaron Harambam u. Stef Aupers, Contesting epistemic authority. Conspiracy theories on the boundaries of science, in: Public Understanding of Science, Jg. 24 (2015), H. 4, S. 466–480.

Bill Gates ein, der inzwischen weithin als Urheber des Pandemiegeschehens identifiziert wird.12 Dies zum einen aufgrund des philathropischen Engagements seiner »Bill and Melinda Gates Foundation«, die jährlich hunderte Millionen Dollar in den weltweiten Zugang zu Gesundheitsleistungen (darunter: Impfungen) investiert; zum anderen aber auch, weil Gates das verminte Ge-

12  Vgl. Matthias Eder, Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie, in: Daria Pezzoli-Olgiati u. Anna-Katharina Höpflinger (Hg.), Religion, Medien und die Corona-Pandemie. Paradoxien einer Krise, Baden-­Baden 2020, hier S. 111–113. 13  Vgl. Bill Gates. 2020. Responding to Covid-19 – A Once-in-a-Century Pandemic? New England Journal of Medicine, 382, 1677–1679. 14 

Ebd. S. 1678.

lände halböffentlicher Stellungnahmen keineswegs meidet. So publizierte er noch in den ersten Pandemiewochen einen Gastbeitrag13 im renommierten New England Journal of Medicine, in dem von einem »need to invest in disease surveillance, including a case database that is instantly accessible to relevant organizations« die Rede war, ferner davon, »to […] develop safe, effective vaccines and antivirals, get them approved, and deliver billions of doses«, sowie notwendigen »efforts to drive international collaboration and data sharing.«14 Was im Binnenkontext dieses Artikels unverfänglich erscheinen mag, gerät bei verschwörungstheoretischer Disposition zum wahren Reizwortfeuerwerk. Das Bild des Kontrollfreaks mit Weltherrscherallüren zeichnet sich fast von allein. Marco Bitschnau — Konspirative Manöver

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Dass Gates immer mehr ins Zentrum der verschwörungstheoretischen Aufmerksamkeit rückt, liegt auch in den jüngsten Schwerpunktverschiebungen innerhalb der negierend-gesellschaftsorientierten Theorieansätze begründet. So hat vor allem die Impfthematik seit Ende 2020 spürbar an Relevanz gewonnen und zuvor vorherrschende Konspirationsvermutungen abgelöst oder zumindest modifiziert. Das Sujet selbst ist dabei keinesfalls neu, lassen sich verschwörungstheoretische Vorbehalte gegenüber Vakzinen doch bis in das Zeitalter Edward Jenners und der ersten Pockenimpfungen zurückverfolgen. In der Corona-Krise kommt dem Impfkomplex aber eine herausgehobene Bedeutung zu, die auf der übersteigerten Heilserwartung der Öffentlichkeit gründet und dadurch gleichfalls übersteigerte Gegen­reaktionen geradezu provoziert. Denn wie die eine Seite eine Soteriologie der Nadel bemüht, muss die andere hinter staatlichen Impfprogrammen beinahe zwangsläufig das Endgame der Corona-Verschwörer:innen sehen. Sei es, weil diese sich tatsächlich als satanische Ego-Sauger betätigen; sei es, weil nach Lage der Dinge mit Impfungen der größte Krisenprofit einzufahren ist. Multidimensionalität und Eklektizität sind Schlüsselcharakteristika dieser Vorstellungslandschaften, in denen ein überschaubarer Verschwörer:innenkreis zwischen variablen und sich vielfach überkreuzenden Motivlagen changiert. Die dritte und letzte, vergleichbar unscheinbare Theoriegruppe beschäftigt sich schließlich mit dem, was unter den Begriff des Virusmanagements fällt. Also mit allen die Bekämpfung der Pandemie betreffenden Maßnahmen, wobei es bisweilen schwerfällt, eine doppelte Abgrenzung vorzunehmen: Zu Polemik gegenüber einer als unkritisch empfundenen Rezeption der regierungsseitigen Krisenarbeit auf der einen Seite; und zu den auf die Virusabsicht zielenden Theorien auf der anderen. Eine gewisse Trennlinie lässt sich zumindest für den zweiten Fall dennoch ausmachen. Denn Verschwörungstheorien zur Virusabsicht implizieren ja eine Gesamtintentionalität, wohingegen solche zum Virusmanagement es beim geschickten Ausnutzen einer Gelegenheitsstruktur belassen können. Man muss Corona schließlich nicht selbst zu verantworten haben und noch nicht einmal ein genuines Interesse am Krisenverlauf haben, um etwaige Möglichkeiten wahrzunehmen – etwa, indem man sich unter dem Deckmantel der Corona-Hilfen Geld ins eigene Portemonnaie schaufelt. Verschwörungen dieser Art bauen demnach weniger auf einem ausgefeilten Masterplan auf, sondern sind immer auch abhängig von Entwicklungen und Koinzidenzen jenseits des direkten Einflussbereichs ihrer Urheber:innen. Nicht Weltbeherrschungspläne, sondern kaltes politisches Kalkül, im Rahmen der Krisenantwort zu lügen und vertuschen, steht in ihrem Zentrum.

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Perspektiven — Analyse

WAS IST DIESMAL ANDERS? Ob nun zu Virusherkunft, Virusabsicht oder Virusmanagement: Verschwörungstheorien zu Corona sind vielfältig und tendenziell nicht weniger mutabel als das Objekt ihrer Aufmerksamkeit. Doch bedeutet vielfältig nicht zwangsläufig auch originell. So hat beispielsweise Michael Butter zurecht darauf verwiesen, dass die meisten dieser Theorien kaum neuartige Inhalte transportieren. In manchen Fällen kopieren sie lediglich bestehende Muster, in anderen bauen sie die Pandemie »direkt an bereits existierende Narrative an und erzählen [sie] als das neuste Kapitel eines längeren Komplotts.«15. Diverse Fremdtheorien entsprechend aufzubereiten ist häufig kein besonders schwieriges Unterfangen, denn dass Bill Gates nichts Gutes im Schilde führt und die Menschheit mit RFID-Chips kontrollieren will, ist in konspirationistischen Kreisen lange bekannt; die Pandemie letztlich wenig anderes mehr als eine kontextbedingte Konkretisierung dieser Idee und als solche problemlos vermittelbar. Unabhängig von derlei Kontinuitäten gibt es aber auch in der Corona-Krise einige Verschwörungsspezifika, die zum Nachdenken anregen. Zum Ersten zeigt uns die Pandemie als Weltereignis, wie sich konspirative Annahmen quasi in Echtzeit auf der internationalen Bühne spiegeln. Denn so wie bekanntlich die Syphilis in früheren Jahrhunderten in England als French disease und in Frankreich als maladie anglaise galt, ist Corona für US-Verschwörungstheoretiker:innen eine kommunistische Biowaffe, für ihre chinesischen Gegenüber ein amerikanisches Todesvirus, für Antisemit:innen ein Beweis für den jüdischen Vernichtungswillen gegenüber allen »goyim« und für religiöse Zionist:innen ein Kontroll- und Überwachungswerkzeug dunkler säkularer Kräfte. Wie auch sonst üblich sind die Verschwörer:innen, ob nun von innen oder außen kommend, die anderen und man selbst das leidtragende Opfer. Doch spielen sich solche Täter-Opfer-Konstellationen diesmal vor dem Hintergrund globaler Gleichzeitigkeit und Dezentralität ab. Konventionelle Grenzen verschwörungstheoretischer Wahrnehmung verblassen angesichts einer Ereigniskaskade, die, nicht anders als das Virus, um das sie kreist, ortlos geworden zu sein scheint. Im Verschwörungsmetier hat das in dieser Deutlichkeit durchaus einen gewissen Neuigkeitscharakter. Zum Vergleich: Als vor bald zwanzig Jahren die Türme des World Trade Centers einstürzten, war damit zugleich eine der wirkmächtigsten Verschwörungstheorien der jüngeren Geschichte geboren, deren line of argument – die Bush-Regierung habe die Anschläge selbst ausgeführt oder aber wissentlich geschehen lassen – alles bot, was das Verschwö15  Michael Butter, Verschwörungstheorien, S. 225.

rungstheoretiker:innen-Herz begehrte: Ein Großereignis ersten Ranges, eine unterstellbare Absicht, eine Verbindung in höchste Regierungskreise und jede Marco Bitschnau — Konspirative Manöver

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Menge technischer Details, deren minutiöse Aufarbeitung den Eindruck kritischer Sachorientiertheit hervorragend nachzuahmen wusste.16 Doch trotz alledem blieb das dahinterstehende Theoriengeflecht doch immer ein überwiegend US-amerikanisches. Konzeption und Struktur der Verschwörung waren amerikanisch, wie auch der vermeintliche Schuldige und die aus einer Tradition kultivierten Staatsmisstrauens gespeiste Verarbeitungslogik. Die auf allen Kontinenten zeitgleich auftretende Weltdisruption Corona unterliegt keinem solchen Prägeeffekt und keiner entsprechenden nationalnarrativen Einfriedung. Zum Zweiten sind Corona-Verschwörungstheorien der erste konspirationistische Großkomplex, der voll und ganz in die Ära eines verfestigten (Rechts-)Populismus fällt und mit diesem in gewisser Symbiotik verbunden zu sein scheint. Der Konnex zwischen Konspirationismus und Populismus ist dabei evident. Beide entspringen einem Bedürfnis nach Einfachheit17 und Klarheit in der Wahrnehmung der Außenwelt, einem Unbehagen gegenüber Ambiguitäten und einer Neigung zu Auserwähltheitsfantasien. Erfolgreicher Konspirationismus besteht im Wesentlichen darin, dort Muster erkennen zu können, wo anderen aufgrund ihrer Konditionierung oder ihres Unvermögens der Blick versperrt bleibt; erfolgreicher Populismus darin, dort Leidenschaften und Zurückgesetztheitsgefühle zu wecken, wo den Menschen die Notwendigkeit dieser Regungen nicht unbedingt instinktiv ersichtlich ist. Verschwörungstheoretiker:innen bestellen also das Feld der Wahrheits-

16  Die Literatur zu den Anschlägen und ihrer kulturellen (d. h. auch verschwörungstheoretischen) Rezeption ist enorm. Ein kritischer Abriss auf Deutsch findet sich etwa in Tobias Jaecker, Von »Petronazis« und der »Kosher Nostra«. Verschwörungstheorien zum 11. September, in: Thomas Jäger (Hg.), Die Welt nach 9/11: Auswirkungen des Terrorismus auf Staatenwelt und Gesellschaft, Wiesbaden 2012.

findung, haben sie doch tiefer gebohrt als all die trägen »Schlafschafe« um sie herum. Populist:innen bestellen dagegen das Feld der Willensfindung, sind sie doch die Seismografen, die diesen Willen erspüren und in politisches Handeln umsetzen können. Und häufig genug kommt am Ende beides im Rahmen einer wechselseitigen Affinität zweier Underdog-Ideologien zusammen.18 In der Folge zeigt sich eine beachtliche Korrelation19, aus der sich allerhand Fragen ableiten lassen. Etwa: Zeigt sich an Corona, inwieweit populistische Parteien bereit sind, sich auf verschwörungstheoretische Wahrheiten einzulassen? Kann eine solche Adaption nachhaltig gelingen oder scheitert sie notwendigerweise am Widerspruch zwischen einer zunehmenden verschwörungsgläubigen Wählerschaft und dem Bedürfnis, einen Rest an parlamentarischer Anschlussfähigkeit zu wahren? Die in die Pandemie-Erzählung eingewobenen Verschwörungstheorien werden den Populismus kaum dauerhaft beschädigen – aber Einfluss auf seine nächste ideologische Metamorphose nehmen, das könnten sie je nach weiterer Entwicklung durchaus. Zum Dritten haben sich Verschwörungstheorien zur Corona-Krise als unüblich durchschlagskräftig und breitenwirksam herausgestellt. Unüblich

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Perspektiven — Analyse

17  Verschwörungstheorien müssen nicht notgedrungen einfach im Sinne reduzierter Komplexität sein. Sie vereinfachen Realität aber insofern, als sie klare Schuldzuschreibungen auf Grundlage einer (in der Regel übergroß) imaginierten Handlungsmacht einzelner Akteure ermöglichen. 18  Siehe dazu als Übersichtsarbeit auch Eirikur Bergmann, Conspiracy & Populism: The Politics of Misinformation, Cham 2018. 19  Vgl. Dominik A. Stecula u. Mark Pickup, How populism and conservative media fuel conspiracy beliefs about COVID-19 and what it means for COVID-19 behaviors, in: Research & Politics, Jg. 8 (2021), H. 1, S. 1–9.

insofern, als etwa Theorien zu »9/11« lange Zeit ein Schattendasein in den Kommentarspalten dubioser YouTube-Videos fristen mussten und kaum in der Lage waren, größere und noch dazu genuin apolitische Bevölkerungsschichten zu erreichen. Ähnlich auch Theorien über »Eurabia« oder den »Großen Austausch«, mit denen man allenfalls im Dunstkreis von Identitärer Bewegung und AfD auf mehr als nur kursorisches Interesse stieß. Corona aber ist anders. Sei es die oft als widersprüchlich wahrgenommene Informationspolitik staatlicher Stellen, sei es die Sogwirkung des Themas, seine diskursive Alleinherrschaft oder die intuitive Nähe zum Reizdreieck Herrschaft-Freiheit-Tod: Die öffentliche Sichtbarkeit konspirationistischer Neigungen ist in dieser Krise unwahrscheinlich groß. Dass mit dem zwar desavouierten doch noch immer erfolgreichen Xavier Naidoo und dem auf Massenappeal schielenden Michael Wendler zuletzt zwei Künstler der Primetime-Kategorie zu Feldzeichenträgern des Pandemiemisstrauens aufgestiegen sind, ist da nur das sprichwörtliche Icing on the Cake. Auch die öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen sogenannter Querdenker, die Präsenz von verschwörungstheoretischem Gedankengut in Berichten und Satireformaten sowie die zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik deuten auf ein neues Sensibilisierungshoch hin. Allerdings, auch hier ist Butter zuzustimmen20, lässt sich diese Sichtbarkeit nur bedingt mit einer erhöhten Zustimmung zu verschwörungstheoretischen Annahmen (die im Zeitverlauf recht stabil zu sein scheint)21 gleichsetzen. Nur weil man das erste Mal mit kruden Gates-Verdächtigungen und »Plandemie«Erzählungen konfrontiert wird, glaubt man ja noch lange nicht daran. Aber vielleicht wachsen mit zunehmendem Krisenfrust die Zweifel an der offiziellen Version. Vielleicht wird man mürbe und ärgerlich und kommt zu der Erkenntnis, dass wer nur für die richtige Sache kämpft, auch sonst irgendwie richtig liegen wird. Man mag es unter den strengen Vorbehalt des Anekdotischen stellen, doch wenn Menschen, deren konspirativer Horizont bislang an den Ausläufern der nächstbesten Who-shot-Kennedy-Dokureihe endete, 20  Butter, Verschwörungstheorien, S. 229 f. 21  Langzeiterhebungen aus den USA für den Zeitraum 1890–2010 zeigen, dass es zwar konspirative Diskursspitzen gibt, sich aber keine generelle Entwicklungstendenz ablesen lässt. Vgl. Joseph E. Uscinski u. Joseph M. Parent, American Conspiracy Theories, New York 2014, S. 105–113.

auf einmal »corona bargeldabschaffung great reset« googlen, dann kann und sollte das abseits aller demoskopischen Erkenntnisse nachdenklich stimmen. Wie in unserem Jahrzehnt üblich, ist in diesem Zusammenhang auch der Einfluss sozialer Medien nicht zu unterschätzen. Plattform-Platzhirsche wie Facebook und YouTube mögen zwar inhaltssensitiver reagieren als noch vor einigen Jahren, doch dafür blüht das Verschwörungsdenken in niedrigschwelligen Telegram- und WhatsApp-Gruppen auf. Auch größere Personengruppen können hier bequem erreicht werden, ohne ihnen dabei ein Zuviel an Eigenrecherche abverlangen zu müssen. Verschwörungstheorien im Marco Bitschnau — Konspirative Manöver

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Abonnement quasi: anonym und doch getragen von gediegenem Widerstandsgeist und dem dezidierten Kollektivbewusstsein, zur auserlesenen Schar der wirklich gut Informierten zu gehören. Zum Vierten lädt uns der verschwörungstheoretische Ansturm gegen die politisch-wissenschaftlichmedialen Mauern etablierter Corona-Interpretationen schließlich auch dazu ein, einen genaueren Blick auf seine Eigenschaft als Medium der Krisenverarbeitung zu werfen. Der Hauptzweck von Verschwörungstheorien liegt (wie der Hauptzweck jeder Ereignisbewertung) bekanntlich in der Sinnproduktion – und ebendiese zeigt sich im Fall Corona in einer ungleich plastischeren Form als in vergleichbaren Gegenwartskrisen.22 So war die Eurokrise eine zutiefst abstrakte Krise der Abakusse und des Bildzeitungszorns über »faule Sirtaki-Griechen«; die sogenannte Flüchtlingskrise23 nur an den Orten plastisch, an denen sich tatsächlich in großer Zahl Asylsuchende einfanden; und die andauernde Klimakrise baut sogar fast vollständig auf Projektion, allenfalls durchbrochen vom gelegentlich aufscheinenden Bild des abschmelzenden Berggletschers, des traurig auf seiner Scholle wegtreibenden Eisbären oder glutofenheißen Jahrhundertsommers. Nichts davon kam und kommt in Sachen Erlebnisintensität einer Pandemie mit verwaisten Innenstädten, maskierten Schulklassen und vielen weiteren Alltagsirritationen gleich. Ergo ist auch das Verlangen nach Kompensation durch Sinnproduktion bei Corona größer und sorgt, wo es erfolgt, nicht selten für ein gewisses Maß an psychosozialer Stabilität durch Kontroll- und Schuldzuschreibung. Anders ausgedrückt: Der Glaube an Verschwörungstheorien hilft nicht nur dabei, einen tieferen Krisensinn zu finden, sondern erfüllt auch eine entlastende Funktion – denn er hält jene Illusion von Beherrschbarkeit aufrecht, die von einer in jede Ritze des Lebens eindringenden Corona-Suprematie eindrücklich untergraben wird. Dass dunkle Mächte aus Profitgier oder Machtstreben eine Pandemie inszeniert haben sollen, mag durchaus beunruhigend sein; doch ist die Gegenvorstellung, dass der »homo technicus« des 21. Jahrhunderts sich außerstande sieht, ein unsichtbares (und dadurch gerade nichtplastisches) Virus unter Kontrolle zu bringen, noch beunruhigender und psychologisch fataler. Denn wer weiß, dass er Bill Gates als Feind hat, der hat zugleich Macht über den Sinnhorizont der Ereignisse und kann den alltäglich erlebten Kontrollverlust in der Krise an einem menschlichen Charakter-

22  Vgl. Marco Bitschnau, Corona: Full House im Gesellschaftspoker?, in: Corona & Society-Blog des Progressiven Zentrums, 10.09.2020, URL: https://www.progressives-­ zentrum.org/corona-full-houseim-gesellschaftspoker/ [zuletzt eingesehen am 27.09.2021].

defekt festmachen. Wer dagegen auf die offizielle Version vertraut, der sieht sich der Unbill einer launischen und tödlichen Natur ausgesetzt, einer Art Krisentheodizee, auf die keine befriedigende Antwort zu finden ist. Ironischerweise wirkt dieser Effekt beidseitig stabilisierend und so kann es auch der Politik zugutekommen, wenn populäre Verdächtigungen ihren Zielen

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Perspektiven — Analyse

23  Der Begriff der Flüchtlingskrise ist ob der damit verknüpften Annahme, die Flucht von Menschen sei als solche krisenhaft, stark umstritten. Der Autor schließt sich dieser Kritik an.

und nicht ihrer Handlungsfähigkeit gelten. In der populären Animationsserie »South Park« wird das schön in einer Storyline dargestellt, in der sich die US-Regierung als Urheberin der 9/11-Theorien entpuppt (und so die Verschwörungstheorie zum eigentlichen Sujet der Verschwörung erhebt). »People need to think we are all-powerful«, räsoniert da George W. Bush mit spürbarer Resignation in der Stimme, »That we control the world. If they know we weren’t in charge of 9/11 then … we appear to control nothing.«24 Abseits all dieser Beobachtungen kommt Corona-Verschwörungstheorien aber auch noch eine weitere, recht unmittelbare und besorgniserregende Eigenschaft zu: Sie verlangsamen nämlich die Eindämmung der Pandemie, indem sie die Glaubwürdigkeit der zu diesem Zweck verfügten Gesundheitsmaßnahmen in Zweifel ziehen.25 Als Zyniker:in könnte man darin eine Selbstschutzstrategie erkennen, entspinnt sich aus Verschwörungstheorien zum Virus ja nur mit dem Virus ein gewisser Sinngehalt. Ist der Spuk vorbei, dann haben die Verschwörer:innen ihr Ziel erreicht, sind gescheitert oder waren nie existent – in jedem Falle stehen sie außerhalb eines vermittelbaren Relevanzbereichs. Als simpler Beobachter:in sieht man hier jedoch 24  South Park, S10 E9: Mystery of the Urinal Deuce 25  Vgl. Daniel Romer & Kathleen Hall Jamieson. 2020. Conspiracy theories as barriers to controlling the spread of COVID-19 in the U.S. Social Science and Medicine, 263, 1–8.

auch die ganz reale Gefahr, die konspirationistischem Denken entströmen kann. Sollten unsere Egos bis zum Ausbruch der nächsten Großkrise nicht bereits auf einem unzugänglichen Höllenserver schmoren, so wäre der Politik nachdrücklich zu empfehlen, entsprechende Störeffekte frühzeitig in ihr Krisenkalkül einzupreisen. Für Corona als »Black Swan« kommt dieser Rat indes wohl zu spät.

Marco Bitschnau MPhil, geb. 1993, studierte Politik­ wissenschaften, Soziologie und Volkswirtschaft in Friedrichshafen, Paris und Cambridge. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Forum für Migrationsund Bevölkerungsstudien (SFM) der Universität Neuenburg und Fellow im SNF-Projekt NCCR – on the move.

Marco Bitschnau — Konspirative Manöver

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MEHR LIBERALITÄT EIN ZUSAMMENSCHLUSS UND VIER APPELLE Ξ  Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse Mitte vergangenen Jahres wurde in den USA die Academic Freedom Alliance (AFA) gegründet. Diesem strikt überparteilichen Zusammenschluss US-amerikanischer Universitäts- und Collegeprofessoren, unter ihnen so bekannte Gelehrte wie Bruce Ackermann von der Yale University, Andrew Hall von der Stanford University, Gary King von der Harvard University und Peter Singer von der Princeton University, gehören mittlerweile mehrere Hundert aktive und emeritierte Hochschullehrer an. Ihr gemeinsames Ziel: die Verteidigung der akademischen Freiheit und der ideologiefreien Suche nach Wahrheit und Erkenntnis. Insbesondere wendet sich die AFA gegen die Anwendung ideologischer Tests, gegen Versicherungen und Eide, die US-amerikanische Universitäten und Colleges von Mitgliedern des Lehrkörpers unter dem Zeichen von Anti-Rassismus, Genderismus, Wokeness und Political Correctness zunehmend verlangen.1 Wer sich dem nicht unterziehen will, dem droht Kaltstellung, Mobbing und im Extremfall sogar Entlassung. Hierfür gibt es Hunderte gut belegter Beispiele.2 Etwa um die gleiche Zeit erregte ein Aufruf (»A Letter on Justice and Open Debate«) große Aufmerksamkeit, unterzeichnet von 153 namhaften, vornehmlich US-amerikanischen Intellektuellen, erschienen in »Harper’s Magazine«, »Le Monde«, »La Repubblica« und »Die Zeit«. Die vorwiegend linksliberalen Autoren – zu den Erstunterzeichnern gehören Margaret Atwood, Ian Buruma, Noam Chomsky, Francis Fukuyama, Salman Rushdie und Michael Walzer – warnen vor grassierender Illiberalität: Deren Kräfte »nehmen weltweit Fahrt auf und haben in Donald Trump einen mächtigen Verbündeten, der die Demokratie ernsthaft bedroht. Aber Widerstand darf nicht – wie unter rechten Demagogen – zum Dogma werden. Die demokratische Inklusion, die wir wollen, kann nur erreicht werden, wenn wir uns gegen das intolerante Klima wenden, das überall entstanden ist.«3 Die Verfasser prangern Intoleranz gegenüber Andersdenkenden ebenso an wie eine in bedrückender Weise verengte Debattenkultur. Sie nennen dafür Beispiele: »Herausgebern wird gekündigt, weil sie kontroverse Inhalte veröffentlichen; Bücher werden zurückgezogen wegen angeblicher mangelnder Authentizität; Journalisten werden am Schreiben über bestimmte Themen gehindert; Professoren müssen sich für das Zitieren literarischer Werke in ihren Seminaren rechtfertigen; einem

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1  https://academicfreedom. org/ [eingesehen am 25.3.2021]. 2  https://www.nas.org/blogs/ article/tracking-cancel-culturein-higher-education#caseslist [eingesehen am 23.3.2021]. 3  Widerstand darf kein Dogma sein. 153 Intellektuelle plädieren für mehr Liberalismus in den Debatten, in: Die Zeit, 08.07.2020.

Forscher wurde gekündigt, weil er eine von Kollegen überprüfte und gutgeheißene Forschungsarbeit herum schickte; und die Vorstände von Organisationen werden wegen ungeschickter Formulierungen aus dem Amt gejagt.«4 Knapp zwei Monate später erging im deutschen Sprachraum ein »Appell für freie Debattenräume«, initiiert von den Publizisten Gunnar Kaiser und Milosz Matuschek. Das politische Spektrum der Erstunterzeichner (u. a. Götz Aly, Norbert Bolz, Harald Martenstein, Dieter Nuhr, Cora Stephan, Günter Wallraff) ist breit und nicht wie der Aufruf in den USA von Linksintellektuellen dominiert. Doch der Tenor fällt ähnlich aus, vielleicht noch deutlicher: Der Meinungskorridor werde verengt, der demokratische Protest sei bedroht. »Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral.«5 Zumal das »unselige Phänomen der Kontaktschuld«6 als tadelnswert gilt. Im Februar 2021 trat das »Netzwerk Wissenschaftsfreiheit« mit einem Manifest an die Öffentlichkeit. In ihm sahen zunächst siebzig Wissenschaftler die Freiheit von Forschung und Lehre durch moralisch oder ideologisch begründete Frageverbote bedroht. Mittlerweile sind ihm mehrere Hundert Wissen4  Ebd. 5  Appell für freie Debattenräume, 01.09.2020, URL: idw-europe.org [eingesehen am 22.02.2021].

schaftler beigetreten. In dem Manifest heißt es u. a.: »Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen.«7 Konformitätsdruck führe dazu, wissenschaftli-

6  Ebd. 7  Manifest des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit, 04.02.2021, URL: https://www. netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ [eingesehen am 09.03.2021]. 8  Vgl. die folgende Dokumentation: Bedrohte Wissenschaftsfreiheit: Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum, URL: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/dokumentation/ [eingesehen am 12.04.2021]. 9  Vgl. Ulrike Guérot/Jürgen Overhoff/Markus Gabriel/Hedwig Richter/René Schlott, Für die offene Gesellschaft. Manifest, in: der Freitag, 24.03.2021, S. 14.

che Debatten im Keim zu ersticken. Das Netzwerk, zu dessen Leitungsteam neben der Migrationsforscherin Sandra Kostner als Sprecherin die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, die Philosophin Maria Sibylla Lottar, der Historiker Andreas Rödder und der Jurist Martin Nettesheim gehören, will die Wissenschaftsfreiheit sichern, den wissenschaftlichen Pluralismus fördern und für eine offene Debattenkultur eintreten, frei von moralischer Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung und beruflicher Benachteiligung.8 Und am 24. März 2021 veröffentlichte ein fünfköpfiges Autorengespann, Ulrike Guérot, Jürgen Overhoff, Markus Gabriel, Hedwig Richter, René Schlott, in der Tageszeitung »Die Welt« und in der Wochenzeitung »der Freitag«, also in einem eher liberal-konservativen und einem linken Organ, ein Manifest »Für die offene Gesellschaft« im Zusammenhang mit den vergifteten Diskussionen über Covid-19.9 Es sei Zeit, sich endlich ruhig und angstfrei auszutauschen. Dabei geht es zwar um die Corona-Politik, aber die Argumente sind ganz ähnlich wie in den vorgenannten Aufrufen: Die Initiatoren zielen auf eine Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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Versachlichung der Diskussion, »um im Rahmen des demokratischen Spektrums den Raum für einen freien Dialog zu schaffen und offenes Denken verstärkt zu ermöglichen«. Sie wollen »weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-WeißDenken. Gefragt ist eine grundsätzliche Offenheit auch für den möglichen Irrtum, in der grundlegenden Annahme, dass auch das Gegenüber im Streit von besten Motiven geleitet sein und grundsätzlich recht haben kann.«10 Prominente aus der Politik, der Wissenschaft und der Kultur unterstützen das Manifest. Diese Aufrufe lösten, wie könnte es anders sein, unterschiedliche Reaktionen aus. Wer sie kritisiert, etwa wegen Alarmismus oder Überzogenheit, ist selbstverständlich noch kein Freund von Illiberalität. Ein Feind von Libera­ lität aber ist, wer verkappte Denkverbote verficht – und das Gegenüber unter Zuhilfenahme moralisierender Argumente pauschal diskreditiert.11 DEUTSCHLAND UND USA IM VERGLEICH12 Die mittlerweile weit fortgeschrittenen Kampagnen der Illiberalität vor allem in den USA unterscheiden sich bis jetzt deutlich von denen in Deutschland. So sind in bestimmten Universitäten und Zeitungsredaktionen wie der »New York Times« gewisse Aussagen, etwa über das Geschlecht, die Hautfarbe oder die Religion eines Menschen, schlicht untersagt, damit keiner der Anwesenden sich verletzt fühle. Philosophen, Komponisten, Politiker und Entdecker, deren Äußerungen, und seien sie noch so marginal, heutigen Moralvorstellungen nicht genügen, sollen aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, ihre Denkmäler beseitigt, ihre Schriften aus dem Lektürekanon von Universitätsseminaren entfernt werden. Wer bestimmte informelle, von den Hütern der Political Correctness mit geradezu missionarischem Eifer verfochtene Sprachregelungen missachtet, läuft Gefahr, Opfer maßloser Entrüstungskampagnen und in deren Rahmen moralisch diskreditiert zu werden. Die in Verlagen und Zeitungsredaktionen immer stärker Fuß fassende Woke-Kultur etabliert sich zunehmend auch in bestimmten akademischen Fächern und bedroht deren Wissenschaftlichkeit. Aus dem verständlichen, ehrenwerten Bestreben, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und deren Erfahrungen zu berücksichtigen, erwächst das Postulat, ausschließlich deren Perspektive sei bei der Analyse sie betreffender Gegenstände legitim. Das Konzept von Safe Spaces in Bildungsinstitutionen aller Art, in denen man geschützt vor den Erwartungen und Zumutungen der Mehrheitskultur unter sich bleiben könne, zählt ebenso zur Wokeness-Kultur wie die Trigger-Warnung vor Positionen, Filmen oder literarischen Werken, die als unliebsam oder die eigenen Gefühle verletzend gelten.13

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Ebd.

11  Letztgenannte Auffassung findet sich wiederholt bei Patrick Bahners. Vgl. jüngst ders., Mut zur Zumutung, in: FAZ, 26.03.2021, S. 9. 12  Der Text greift einige Formulierungen aus dem folgenden Text der Autoren auf: Räume der Freiheit statt Safe Spaces, in: Cicero, Heft 8/2021, S. 40–44. 13  Ein jüngstes Beispiel aus Deutschland ist die Entfernung des Wortes »Indianerhäuptling« aus einem Talk mit der Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bettina Jarasch, bei der Wahl des Abgeordnetenhauses. In der YouTube-Version des Gesprächs steht statt des inkriminierten Begriffs ein Warnhinweis: »An dieser Stelle wurde im Gespräch ein Begriff benutzt, der herabwürdigend gegenüber Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen ist. Wir haben diesen Teil daher entfernt.« Jarasch war nach ihren früheren beruflichen Ambitionen gefragt worden, bevor sie Regierende Bürgermeisterin werden wollte. Ihre Antwort: Als Kind wäre sie gern Indianerhäuptling geworden. Vgl. Claus Christian Malzahn, Die Selbstzensur der Grünen, in: Welt am Sonntag, 28.03.2021, S. 5.

Der lange in den USA lebende Religionsphilosoph Ingolf Dalferth berichtet von einem bedrohlich wachsenden Klima der Illiberalität. »Tribales Denken, die Ideologisierung von Auseinandersetzungen und das Verdrängen fallibler Erkenntnisse durch infallibles Besserwissen greifen überall um sich. Gehört man nicht zur richtigen community, hat man schlechte Karten.«14 Der Autor schildert die wenig erquicklichen Erfahrungen an seiner Universität, der Clare­mont Graduate University (CGU). Diese könne u. a. aufgrund von Missmanagement mit den Spitzenuniversitäten nicht mehr mithalten und werbe im Kampf gegen die White Supremacy um Studenten mit indigenen und afroamerikanischen Wurzeln. »An der CGU kann man sich auf keine akademische Stelle bewerben, ohne ein diversity statement abzugeben und seine richtige Gesinnung zu dokumentieren. Wer eine Stelle hat, muss regelmäßig ein sexual harassment training absolvieren, das gesetzlich vorgeschrieben ist. Der mehrstündige interaktive online-Kurs lässt sich nur zu Ende bringen, wenn man die festgesetzten ›richtigen‹ Antworten gibt. Enthaltung wird nicht 14  Ingolf Dalferth, Ideologische Selbstzerstörung. Kritische Anmerkungen zur allgemeinen Entwicklung an den Universitäten in den USA, 04.01.2021, URL: zeitzeichen.de [eingesehen am 14.01.2021], S. 1, Herv. i. O.

akzeptiert. Jeder ist ein potenzieller Übeltäter, und alle müssen ihre richtige Einstellung jederzeit unter Beweis stellen. Dabei ist man nicht nur für sich, sondern auch für andere verantwortlich. Sollte ich – so eines der Beispiele des Kurses – zufällig in einem Café in Kairo einen Kollegen am Nebentisch sexistische Bemerkungen machen hören, dann habe ich die Pflicht, das in Claremont der vorgesetzten Stelle zu melden und ein Verfahren gegen den

15 

Ebd., S. 2, Herv. i. O. – Für eine Auflistung buchstäblich Hunderter solcher Vorfälle an höheren Bildungsinstitutionen der USA, URL: https://www.nas. org/blogs/article/tracking-cancel-culture-in-higher-education [eingesehen am 28.03.2021].

Kollegen anzustrengen.«15 Die Illiberalität feiert in den USA nicht nur an den Universitäten Triumphe, sondern auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wie Sandra Koster zeigt, protestierten Afroamerikaner in den 1960er Jahren für Gleichberechtigung und gegen Rassentrennung; heute spielen bei der von Weißen unterstützten Black-Lives-Matter-Bewegung identitätspolitisch ausgerich-

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Sandra Kostner, Schuld und Sühne. In den USA radikalisiert sich die Identitätspolitik, 03.03.2020, URL: https://www. ipg-journal.de/regionen/nordamerika/artikel/schuld-und-suehne-4501/03.08.2020 [eingesehen am 22.02.2021]. Siehe auch dies., Wenn Wissenschaft Ressentiment wird, in: NZZ, 01.12.2020, S. 32.

17  Zitiert nach Sarah Pines, So humorlos können nur Erwachsene sein. In Amerika ist Dr. Seuss jedem Kind in Begriff – nun verschwinden manche seiner legendären Bücher aus den Regalen, in: NZZ, 05.03.2021, S. 30.

tete Personen eine Rolle, die für einen politischen Systemwechsel plädieren. »Der Bruch mit den Idealen der Bürgerrechtler um Martin Luther King, die dafür kämpfen, dass Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe bewertet werden, könnte nicht größer sein.«16 Verwundern muss die jüngste Meldung aus den USA , die Nachlassverwalter zögen mindestens sechs der bekannten Kinderbücher von Dr. Seuss aus dem Verkehr. Noch 2015 hatte Barack Obama hingegen erklärt, »die Werke hätten ihn zu einem besseren, empathischeren Menschen gemacht.«17 Und kaum mehr nachzuvollziehen ist hierzulande der Fall der farbigen Journalistin Alexis McCommond. Sie war für eine Führungsposition bei der Zeitschrift »Teen Vogue« vorgesehen. Da sie sich als 17-Jährige in Tweets krass negativ über Asiaten geäußert hatte, protestierten Redaktionsmitglieder ebenso Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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gegen die Einstellung wie die »Asian American Journalist Association« und einflussreiche Anzeigenkunden – trotz ihrer früheren Entschuldigung für die Tweets. Angesichts des starken Drucks zog Alexis McCommond die Konsequenzen: »Ich hätte nicht twittern sollen, was ich getan habe, und ich habe die volle Verantwortung dafür übernommen.«18 Die »Vogue«-Chefin Anna Wintour soll nun wegen des langen Festhaltens an der Personalie wohl selbst um ihren Posten bangen. Dem nicht speziell auf diesen Fall bezogenen Urteil des »Zeit«-Mitherausgebers Josef Joffe ist schwerlich zu widersprechen: »Statt Individualität herrscht Identität.«19 In Deutschland ist ein solches Ausmaß an Illiberalität bisher ausgeblieben, obwohl es ebenfalls irritierende Tendenzen gibt, sei es beim Umbenennen von Straßen, sei es beim sprachlichen Gendern, sei es bei der Identitätspolitik.20 So betreiben Lesben- und Schwulenverbände zunehmend einen wahren Opferkult. Der frühere Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Alexander Zinn beklagt: »Die größte Gefahr der linksidentitären Ideologie ist, dass sie die Werte der Aufklärung, insbesondere die universelle Gültigkeit der Menschen- und Bürgerrechte, in Frage stellt.«21 Bereits 2017 hatte der Soziologe Armin Nassehi die Identitätspolitik von links und rechts aufs Korn genommen.22 Für uns besteht, den expressionistischen Dichter René Schickele paraphrasierend, kein Zweifel: Wohlgemeintes »regiert, was gut begann, zum Bösen«.23 Begriffsverbote führen zu Frageverboten und diese zu Denkverboten. Das ist das Gegenteil davon, was einer pluralistischen Gesellschaft Not tut und zumal wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt erst ermöglicht. Eine Gesellschaft, die dies hinnimmt, verliert ihre Offenheit. Wissenschaft, die sich den Geboten der Political Correctness, der Zensur der Cancel Culture und der erkenntnishemmenden Gefühligkeit der Wokeness unterwirft, genügt den eigenen Ansprüchen nicht mehr.

18  Zitiert nach dem Artikel: Wegen zehn Jahre alter Tweets – US-Journalistin verliert Job bei »Teen Vogue«, 19.03.2021, URL: https://www.welt.de.de/ kultur/medien/article228700935 [eingesehen am 20.03.2011]. 19  Josef Joffe, Liberalismus, ade, in: NZZ, 29.03.2021, S. 10. 20  Vgl. Eckhard Jesse, Die Bilder-Stürmer, in: Politik & Kommunikation, Heft 3/2020, S. 38–42. 21  So Alexander Zinn, Einfalt statt Vielfalt, in: FAZ, 16.03.2021, S. 11.

Die lange Tradition der Illiberalität in Deutschland umfasst dabei nicht nur das Dritte Reich und die DDR. Auch im Kaiserreich und selbst in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, gab es illiberale Tendenzen, ebenso in der Schönwetterdemokratie der 1950er Jahre mit ihrer Verbotsmentalität. Die Gefahr ging dabei vom Staat aus. Sorgte die Protestbewegung Ende der 1960er Jahre einerseits durch Nonkonformismus für mehr Liberalität und andererseits durch neuen Konformismus für mehr Illiberalität, dominieren heute gesellschaftliche Kräfte, denen es schwerfällt, als anstößig empfundene Positionen zu tolerieren. Die Liberalität der offenen Gesellschaft steht aus verschiedenen Richtungen unter Beschuss. Nach 1990 forderten Antikommunisten ein Verbot von DDR-Emblemen. Und nicht nur

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22  Vgl. Armin Nassehi, Hautfarbe, Geschlecht, Nation, in: FAZ, 31.08.2017, S. 13; siehe die ausführliche Fassung: Zwischen Orthofonie, Bullshit und sozialem Wandel, in: Kursbuch, Heft 191/2019, S. 113–127. 23  René Schickele, Abschwur, in: Kurt Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1959 [1919/1920], S. 311. Wörtlich heißt es dort: »Gewalt regiert, Was gut begann, Zum Bösen«.

in der Wolle gefärbte Antifaschisten verlangen, eine Antifa-Klausel in die Verfassungen aufzunehmen.24 WERT DER LIBERALITÄT Dieses Lamento ist die eine – betrübliche – Seite. Die andere: Die Klage über Auswüchse reicht nicht aus. Wer für die unbegrenzte und von keinen noch so wohlgemeinten Verboten eingeengte Freiheit des Denkens eintritt, für Freisinn, plädiert für gesellschaftliche Offenheit und Eigenverantwortung, lehnt jede Form von Dogmatismus ab. Das ist nicht parteipolitisch gemeint, obwohl im Deutschen Kaiserreich links- wie rechtsliberale Parteien das Wort »freisinnig« in ihrem Namen führten25, und in der Schweiz, wo diese Strömung ohnehin stärker war, bis 2009 die Freisinnig-Demokratische Partei existierte, die mit der Liberalen Partei zur FDP.Die Liberalen fusionierte. Freisinn meint Liberalität, Gemeinsinn und Eigensinn zugleich. In dem Begriff steckt Gemeinschaft ebenso wie Individualismus. Wer freien Sinnes ist, erweist sich als neugierig, nicht als autoritär. Freisinn entspricht einer grundsätzlichen Geisteshaltung. Das liberale System ist eine pluralistische Gesellschaftsform, die grundlegende Gegensätze austarieren will, ohne das Gemeinwesen zu gefährden. Innerhalb der liberal-demokratischen Ordnung verkörpert der Liberalismus eine Ideenströmung, die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben hat. »Liberal« weist vielfach eine positive Konnotation auf, »neoliberal« hingegen eine negative gleichwie »liberalistisch«. Und rechter wie linker Libertarismus, der sich von staatsautoritären Positionen absetzt, muss nicht in Libertinage aus24  Vgl. Eckhard Jesse, Antifaschismus – gestern und heute, in: Totalitarismus und Demokratie, Heft 1/2021, S. 87–117. 25  Die Deutsch-Freisinnige Partei, hervorgegangen aus der Liberalen Vereinigung, einer Abspaltung der Nationaliberalen, und der Deutschen Fortschrittspartei, bestand von 1884 bis 1893. Aus ihr erwuchsen die Freisinnige Vereinigung und die Freisinnige Volkspartei. Beide vereinigten sich 1910 gemeinsam mit der Deutschen Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, der späteren Deutschen Demokratischen Partei in der Weimarer Republik. 26  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1913, S. 268.

arten. Liberalisierung wohnt ein doppelter Gehalt inne: Zum einen zielt sie auf gesellschaftliche Öffnung und den Schutz vor staatlicher Bevormundung (Verfassungsliberalismus), zum anderen auf staatliche Deregulierung (Wirtschaftsliberalismus). Die »Liberalität der Denkungsart«26, von der Immanuel Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« gesprochen hat, findet sich nicht nur bei Liberalen, sondern auch bei Linken und Konservativen. Und umgekehrt ist Illiberalität nicht nur bei diesen vertreten, sondern auch bei jenen. Was freilich nicht überraschen darf: Liberale mit ihrem Freiheits-Credo verfechten insgesamt weniger illiberale Positionen. Liberalität drückt sich im Wesentlichen in zwei Punkten aus: Zum einen propagiert eine solche Position Offenheit, und sie weiß um die Beschränktheit des eigenen Wissens; zum anderen respektiert sie davon abweichende Sichtweisen, könnten diese doch ebenfalls recht haben. Kennzeichnend für Liberalität ist damit Toleranz gegenüber Kritik. Wer sie bejaht, weist polarisierendes Dissensdenken ebenso zurück wie uniformes Konsensdenken. Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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Dagegen verträgt sich Liberalität nicht mit einer – zumal in Deutschland – unzureichend entfalteten Streitkultur: allen wohl und keinem weh! Ein Ausdruck dieses Mangels ist der Terminus »umstritten«, der Personen anhaftet, die nicht dem Zeitgeist frönen. Doch Fortschritt gelingt gerade durch Rede und Widerrede, durch Konfliktbewusstsein, so der große Liberale Ralf Dahrendorf.27 Das permanente Warnen vor gesellschaftlicher Spaltung lässt eine unbegründete Furcht vor Konflikten erkennen. Liberalität bedeutet keineswegs, eine andere Position gutzuheißen. Wer sich bedeckt hält, kann nicht »umstritten« sein. Und wer mit offenkundig unhaltbaren Thesen aufwartet (die Mondlandung oder die Covid-19-Pandemie seien ein Fake, die Kondensstreifen am Himmel Indizien für das Versprühen von Chemikalien, die unfruchtbar machten), verdient das Attribut »obskur« oder »dubios«, nicht das Prädikat »umstritten«. Unsere Gesellschaft droht den angemessenen Umgang mit gegensätzlichen Positionen zu verlieren. Zwei große Krisen in jüngster Zeit illustrieren dies: die Migrations- und die Coronakrise. Bestimmte Reaktionen auf staatliche Maßnahmen lassen Liberalität vermissen. Dies gilt auch für jene der politisch Verantwortlichen, die Kritik an ihrer Politik schnell ins antidemokrati-

27  Vgl. etwa Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; ders., Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, München 1972; ders., Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992.

sche Abseits stellen und dazu den Popanz der Alternativlosigkeit beschwören. Was heute beinahe unvorstellbar wäre: Vor fast vierzig Jahren fand sich der linke Literat Erich Fried bereit, mit dem überzeugten Neonationalsozialisten Michael Kühnen einen Briefwechsel zu führen, dazu noch in freundlicher, ja in freundschaftlicher Form.28 In der politischen Bildung erlangte der Beutelsbacher Konsens von 1976 ein hohes Maß an Akzeptanz.29 Der darin niedergelegte Grundsatz der Kontroversität, der Indoktrination vorbauen will, ist auch ein wichtiges Gebot für Liberalität. Vielen mangelt es an der Fähigkeit oder dem Willen zu einer unverzerrten Wiedergabe nicht geteilter Positionen. Dieses Prinzip läuft keineswegs auf ein Neutralitätsgebot hinaus. Wissenschaftler, Journalisten und

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28  Vgl. dazu Thomas Wagner, Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft, Stuttgart 2021; siehe auch Tilman von Brand, Öffentliche Kontroversen um Erich Fried, Berlin 2003. 29  Vgl. dazu Armin Scherb, Der Beutelsbacher Konsens, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hg.), Strategien der politischen Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Baltmannsweiler 2007, S. 31–39.

Politiker dürfen, sollen und müssen Stellung beziehen, ohne dabei aber gegen Liberalität zu verstoßen. Die folgenden Kritikpunkte, die nicht auf Verallgemeinerung zielen, wollen auf illiberale Züge hinweisen. Wer zwischen Verbots-, Verdachts- und Bevormundungskultur einerseits sowie zwischen Wissenschaft, Medien und Politik andererseits strikt trennt, huldigt einer idealtypischen Vorgehensweise, sind doch die Grenzen fließend. VERBOTS-, VERDACHTS- UND BEVORMUNDUNGSKULTUR Zur Verbotskultur in der Wissenschaft: Selbstverständlich sind hier weder Verbote im rechtlichen Sinne gemeint noch alle wissenschaftlichen Disziplinen, sondern informelle Verbote in einigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern, in »Agendawissenschaften«, in denen bei bestimmten Themen Aktivismus wissenschaftliche Erkenntnis verdrängt, wobei doch »Perspektivenvielfalt das Lebenselixier der Wissenschaft«30 sein sollte. Der Nachwuchs spürt schnell den Gegenwind bei als heikel empfundenen Themen. Und er lässt die Finger davon, um sozialer Ächtung aus dem Weg zu gehen. Wissenschaftliche Neugier kommt zum Erliegen, und bei Drittmittelprojekten sind häufig diejenigen im Vorteil, die in herkömmlichen Bahnen argumentieren und womöglich den Genderstern in ihren Anträgen benutzen. Eine Atmo31  Vgl. etwa folgende Schrift: Ingo von Münch, Die Krise der Medien, Berlin 2017; siehe bereits ders., Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, Berlin 2017. 30  So Sandra Kostner, Der eindimensionale Akademiker. Wenn Wissenschafter eine Agenda verfolgen, verdrängen Macht und Moral an Hochschulen die Erkenntnis, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.01.2020, S. 25

sphäre der Liberalität kann so nicht gedeihen. Zur Verdachtskultur in Medien: Diese setzen oft auf »Haltung«.31 Ein Journalist, der sich mit einer Sache gemein macht, sucht zu erziehen und vernachlässigt die möglichst unparteiische Information. Betreutes Denken ist kein Indiz für argumentative Offenheit. Trägt der ohnehin schon »gesellschaftskritisch« ausgerichtete Journalist zu selektiver Wahrnehmung bei, fördert die ähnliche Ausbildung in Journalistenschulen weiter eine Art Gleichförmigkeit, die in den »üblichen Verdächtigen« die Schuldigen sieht. Wer die Herkunft von Tätern bei bestimmten Delikten verschweigt, um keine Vorurteile zu

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schüren, enthält dem Leser Informationen vor. Als der frühere Bundespräsident Joachim Gauck im Jahre 2019 für mehr Toleranz gegenüber rechts warb und »rechts« von »rechtsextrem« abgrenzte32, schlug ihm in der veröffentlichten Meinung heftige, nicht von Liberalität getragene Kritik entgegen. Gauck plädierte für Toleranz gegenüber rechten (nicht rechtsextremen!) Positionen, nicht für Zustimmung zu ihnen. Zur Bevormundungskultur in der Politik: Politiker neigen zunehmend zu Paternalismus. Die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel praktizierte »asymmetrische Demobilisierung« mag zwar vorübergehend erfolgreich gewesen sein, da sie Teile der Konkurrenz wie der Wählerschaft eingeschläfert hat, letztlich bis hin zur Wahlenthaltung. Aber eine derartige Strategie fördert Inhaltsleere. Wer Positionen des Gegners übernimmt, entmachtet ihn. Allerdings löst dies Unmut in den eigenen Reihen aus. Liberalität verlangt den Nachweis von Alternativen zur eigenen, eben nicht alternativlosen Position. Auf der einen Seite wird Diversität gefordert, auf der anderen Seite der politische Meinungskorridor eng gehalten. Soziale Diversität läuft eben nicht auf politische hinaus. IDENTITY POLITICS, POLITICAL CORRECTNESS, CANCEL CULTURE Insbesondere drei eng miteinander verwobene Missstände, deren Ursprünge jeweils in den USA liegen, springen für alle erwähnten Bereiche ins Auge – mit unterschiedlicher Gewichtung: Identity Politics, Political Correctness, Cancel Culture. Oft führt die gut gemeinte Absicht zu illiberalen Auswüchsen. Sind dies Wohlstandsphänomene? Eine moralisch gestimmte Gesinnung triumphiert bei allen dreien. Schwer entscheidbar dabei: Wo handelt es sich um Überzeugung, wo um opportunistisches Fellow-Travellertum? Die größte Gefahr für Liberalität droht seit einiger Zeit von rechter wie linker Identitätspolitik. Das Denken in – kulturellen, religiösen, ethnischen, sexuellen – Gruppenzugehörigkeiten ist ein Rückfall in überwunden geglaubte traditionelle Denkmuster. Opfer- wie Täterkollektivismus schwächen den für eine offene Gesellschaft charakteristischen Individualismus, fördern geradezu Spaltung. Identitätspolitik ist billig im mehrfachen Sinne: Sie kostet kein Geld, und Quoten lösen mit ihrem einfallslosen DiversitätsSchematismus keine Probleme. Wohlfeil ist sie aber keineswegs im Sinne von angemessen, trägt sie doch nicht dazu bei, gesellschaftliche Konflikte zu regeln, sondern verschärft sie. Mit Liberalität hat das nichts zu tun. Die LGBTBewegung (mittlerweile vielfach: LGBTQIA*33) verdient Toleranz (Kritik an ihrer sexuellen Identität verbietet sich), aber sie muss diese auch ihren Kritikern entgegenbringen, die Gesetzesentwürfe, den Reihen dieser Bewegung

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32  Vgl. Joachim Gauck in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch, Toleranz: einfach schwer, München 2019. 33  Lesbian, gay, bisexual, transgender, queer, intersexual, asexual. Das Sternchen steht für weitere Geschlechter.

entsprungen, nicht teilen. Insgesamt untergräbt partikuläre Identitätspolitik den Universalismus.34 Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe läuft nicht auf gleiches Interesse hinaus. Das ursprünglich hehre Anliegen von Political Correctness, Diskriminierungen zu vermeiden, führt mittlerweile zu politischer Intoleranz, mitunter zu einer Art »Sprachpolizeiwesen«: Wer seine Worte – tatsächlich oder vermeintlich – unangemessen wählt, kommt an den Pranger. Literatur wird umgeschrieben. So avanciert der Vater von Pippi Langstrumpf vom Negerkönig zum Südseekönig, gibt es ernsthafte Forderungen, die kleine sauerländische Gemeinde Neger umzubenennen, weil sich eventuell jemand vom seit dem 14. Jahrhundert beurkundeten Namen dieses friedlichen Dörfchens verletzt 34  Vgl. etwa die Kritik der Feministin Carolin Fourest, Generatiom beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer, Berlin 2020. 35  Vgl. hierzu die Beiträge in N. J. Block/Gerald Dworkin (Hg.), The IQ-Controversy. Critical Readings, New York 1976; ferner Peter Urbach, Progress and Degeneration in the IQ-Debate, in: British Journal of the Philosphy of Science, Heft 2/1974, S. 99–135 und Heft 3/1974, S. 235–259; J. Philippe Rushton/Arthur R.Jensen, Thirty years of research on race differences in cognity ability, in: Psychology, Public Policy, and Law, Heft 2/2005, S. 235–294. In Deutschland hat sich der »Zeit«-Journalist Dieter E. Zimmer darum bemüht, die teils tabuisierte Debatte zu popularisieren. Vgl. ders., Der Streit um die Intelligenz. IQ, ererbt oder erworben, München 1975; Der Mythos der Gleichheit. Erweiterte Fassung des ZEIT-Dossiers »Wir, die Ungleichen«, München 1980; Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung, Reinbek bei Hamburg 2012. 36  Einschlägige Äußerungen Kants finden sich in seiner »Physischen Geographie«. Vgl. zum vermeintlichen oder tatsächlichen Rassismus bei Kant: Ottfried Höffe, War Kant ein Rassist?, in: NZZ, 15.7.2020, S. 6.

fühlen könnte. Undenkbar wäre es, die einst mit großer Ernsthaftigkeit und mit Sachverstand betriebene Intelligenzdebatte in der amerikanischen Psychologie heute zu führen, in der es neben der Erblichkeit von Intelligenz unter anderem um die heiß umstrittene Frage ging, ob Afroamerikaner im Mittel einen etwas niedrigeren Intelligenzquotienten aufwiesen als der Durchschnitt der Bevölkerung (und im Gegenzug Amerikaner asiatischer Herkunft einen höheren).35 Ein weiteres Kennzeichen von Illiberalität ist die unter dem Schlagwort »Löschkultur« bekannt gewordene Tendenz zum Ausschluss von Autoren und ihren Meinungen aus der Debatte sowie zur Bilder- und Denkmalsstürmerei. George Orwell lässt grüßen. Die Diskussion macht mittlerweile nicht einmal Halt vor einem der größten deutschen Denker, Immanuel Kant. Der Protagonist der Universalität der Menschenrechte sei Rassist gewesen. Ganz Kind seiner Zeit war er das nach heutigen Maßstäben, etwa in seinen vorkritischen Schriften zur Anthropologie. In den »Kritiken« wie im »Ewigen Frieden« jedoch ist kein Platz mehr für Vorstellungen über die Ungleichwertigkeit der Rassen.36 Auch bei David Hume und Georg Wilhelm Friedrich Hegel finden sich Aussagen über die Inferiorität bestimmter rassisch definierter Menschengruppen. Postkolonialistische Ansätze sollten nicht aus dem Auge verlieren, dass keineswegs jede Missachtung von Menschenrechten auf eurozentrischen Perspektiven fußt. Freund-Feind-Denken ist ebenso wie eine gelähmte Diskussionskultur, die alle größeren Differenzen einebnet, kein überzeugender Ausdruck von Liberalität. KENNZEICHEN DER LIBERALITÄT Wodurch ist Liberalität, die nicht auf einer spezifischen Weltanschauung fußt, nun geprägt? Zu ihren Kardinaltugenden zählen: Friedfertigkeit, Konfliktbewusstsein, Akzeptanz von Pluralismus, Toleranz, ein realistisches Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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Menschenbild, Kompromissbereitschaft. Dabei kann ein Zielkonflikt bestehen, etwa zwischen Konfliktbewusstsein und Kompromissbereitschaft. Wer sich bloß gegen das Negative wehrt, vernachlässigt Positives. Das ist die Schwäche allenthalben grassierender Kritik an Übeln. Friedfertigkeit: Ballot, not bullet – so könnte dieses Prinzip metaphorisch zusammengefasst lauten. Der Verzicht auf aggressive Militanz ermöglicht einen respektvollen Umgang miteinander. Ein solcher ist ein charakteristisches Zeichen für Liberalität. Konfliktbewusstsein: To agree to disagree – in diesem Sinne ist der Grundsatz zu begreifen. Eine gelähmte Diskussionskultur, die wegen Interessenprüderie alle größeren Differenzen einebnet, kann ebenso wenig ein überzeugender Ausdruck von Liberalität sein wie ein Diskurs, der die Gegenseite ins moralische Abseits zu stellen sucht. Akzeptanz von Pluralismus: Erst ein breites Spektrum an Meinungen schafft eine angemessene Urteilsgrundlage. Ungeachtet der legitimen Vielfalt, die sich nicht in der Diversität von Gruppenmerkmalen erschöpft, muss ein agree­ment on fundamentals bestehen. Liberalität bedeutet nicht das Hinnehmen offenkundig abstruser Standpunkte oder undemokratischer Verhaltensregeln. Toleranz: Nur eine engagierte Person kann tolerant sein. Wer alle Positionen als gleich gültig ansieht, redet faktisch der Gleichgültigkeit das Wort. Toleranz läuft eben nicht auf Unverbindlichkeit und Beliebigkeit hinaus. Der Tolerante bekennt sich dazu, eine andere Sichtweise zu ertragen. Ausdruck von Liberalität ist der Verzicht auf Soupçon, der beim Kontrahenten ­Sinistres wittert. Realistisches Menschenbild: Wer den Menschen als des Menschen Feind ansieht, gemäß der bekannten Hobbesschen Formel, kann ihm so wenig unveräußerliche Rechte zubilligen wie derjenige, der einen »neuen Menschen« schaffen will – ein konstitutives Kennzeichen des Totalitarismus. Für den Anhänger von Liberalität kommt Menschenrechten mehr als eine instrumentelle Funktion zu. Kompromissbereitschaft: Freund-Feind-Denken, das wie ein ideologischer Schützengraben wirkt, ist Ausdruck von Polarisierung. Wer erkennen lässt, dass er bereit ist, zur besseren Verständigung mit dem Kontrahenten nach Kenntnis von dessen Position die eigene Sichtweise zu relativieren, unterläuft eine Konfrontation. Die Akzeptanz von Ambiguitätstoleranz zeichnet die Idee der Liberalität aus. Die ältere Theologie und Rhetorik haben zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Diskussionsformen unterschieden, der agonalen und der sym­-

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buleutischen.37 In einer agonal angelegten Debatte wollen beide Seiten unbedingt gewinnen, in der symbuleutischen streben die Diskussionspartner durch Austausch von Argumenten danach, gemeinsam neue Ideen zu erarbeiten und damit der Wahrheit näher zu kommen. Eine agonale Form der Diskussion ist an sich nichts Schlechtes. Sie erfüllt ein wichtiges pädagogisches Anliegen, aber sie darf nicht Selbstzweck sein. Die ideale Diskussionskultur der Wissenschaft hingegen ist symbuleutischer Natur – der Streit dient dem Erkenntnisfortschritt. Dass die Realität wissenschaftlicher Kontroversen nicht immer diesem Idealbild entspricht, steht auf einem anderen Blatt. Die Argumentationstechnik der Illiberalen ist stets agonaler und häufig moralisierender Natur. Anders als die symbuleutische Variante zielt die agonale unweigerlich auf Konfrontation, die nicht selten in Feindschaft mündet. WANDEL? Der Text soll nicht der Schwarzmalerei das Wort reden. Wie die Aufrufe belegen, wenden sich zunehmend mehr Kräfte, darunter auch prominente Stimmen38, gegen Illiberalität, ob diese nun im Gewand der Identitätspolitik, der politischen Korrektheit oder der »Löschkultur« daherkommt. Da manche Kritik in krasser Weise überzogen ist, bewirkt sie das Gegenteil und löst konträre Reaktionen aus. Ein jüngstes Beispiel, das Furore gemacht hat, mag dies erläutern. Wolfgang Thierse, von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident aus den Reihen der SPD, veröffentlichte in der FAZ eine Kritik an der Identitätspolitik, die zur Spaltung der Gesellschaft beitrüge: einerseits an rechten Repräsentanten mit ihrem Plädoyer für ethnische Homogenität, ohne dass Thierse Beheimatung und Nation als anachronistisch verwarf; andererseits, und das wurde zum 37  Vgl. zum Begriff u. a. Klaus Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen/ Basel 2005, S. 71 f., S. 273–275. 38  Vgl. Joachim Gauck, »Menschen, die die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte lieben, fragen nicht danach, ob jemand schwarz ist oder weiß«, in: Die Zeit, 31.03.2021, S. 55 f. 39  Wolfgang Thierse, Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft? Identitätspolitik darf nicht zum Grabenkampf werden, der den Gemeinsinn zerstört. Wir brauchen eine neue Solidarität, in: FAZ, 22.03.2021.

Stein des Anstoßes, an linken Repräsentanten mit ihrer Fixierung auf Diversität. Die eigene Betroffenheit dürfe nicht zum Ausschluss anderer Positionen aus dem Diskurs führen. »Wir erleben neue Bilderstürme. Die Tilgung von Namen, Denkmalstürze, Denunziation von Geistesgrößen gehören historisch meist zu revolutionären, blutigen Umstürzen. Heute handelt es sich eher um symbolische Befreiungsakte von lastender, lästiger, böser Geschichte. […] Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern. Das darf nicht Sache von Demokratien werden.« Thierse beklagte das Schwinden gesellschaftlichen Zusammenhalts durch »radikale Meinungsbiotope« 39. Kurz zuvor leitete Gesine Schwan, die Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, eine Online-Debatte mit der FAZ-Journalistin Sandra Kegel – diese hatte in einer Glosse die Benachteiligung von queeren Personen Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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im kulturellen Bereich bestritten und den Appell von 185 nicht heterosexuellen Schauspielern daher als wenig sinnvoll erachtet. In der überaus hitzigen Diskussion40 wurde eine nicht-binäre Person von Schwan aufgrund ihres Vornamens falsch angesprochen. Schwan geriet damit ins Kreuzfeuer ausgesprochen bösartiger Kritik. Nicht genug damit: Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland verlangte von der SPD eine Entschuldigung. Daraufhin schrieben die SPD-Vorsitzende Saskia Esken und ihr Vize Kevin Kühnert ausgewählten Repräsentanten der LGBT-Community einen Brief, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. In ihm hieß es u. a., »die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit einer Online-Debatte auf Einladung des SPD-Kulturforums und der SPD-Grundwertekommission, die fehlende Zu-

rückweisung von Grenzüberschreitungen und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen, manche Rechtfertigung im Nachgang – all das beschämt uns zutiefst.« Und weiter, nicht zuletzt auch auf Thierse gemünzt: »Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden«, zeichneten »insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD, das Eure Community, Dritte, aber eben auch uns verstört.«41 Die anbiedernden Reaktionen Eskens und Kühnerts stießen in meinungsbildenden Medien (nicht in sozialen Medien) nahezu unisono auf eine negative Resonanz42, während das »rückwärtsgewandte Bild« Schwans und Thierses, die sich offensiv verteidigten, große Unterstützung fand. Die Bilanz: eine klare Niederlage Eskens und Kühnerts, die halbherzig zurückruderten. Zudem kam vermehrt Kritik an anderen Verstiegenheiten auf. Das macht Hoffnung!

40  Jour Fixe – Kultur schafft Demokratie, 18.02.2021, URL: youtube.com [eingesehen am 22.02.2021]. 41  Zitiert nach dem Artikel: SPD-Spitze distanziert sich von Schwan und Thierse, 28.02.2021, URL: https://www.queer.de/ details.php?article_id=38247 [eingesehen am 11.03.2021].

Vielleicht bedeutet die fulminante Kritik von Sahra Wagenknecht an der Identitätspolitik, an der Cancel Culture sowie an der misslichen Debattenkultur eine Art Zäsur für die politische Kultur Deutschlands.* Die Autorin, von der man dies wohl so nicht erwartet hat, beklagt das vergiftete Meinungsklima, etwa bei Diskussionen über Zuwanderung, Gender, Sprache, Klima, Islamismus, und damit Illiberalität.43 Wagenknecht ist der Protoyp einer »Soziallinken«. Für sie fördert eine »Lifestyle-Linke« maßgeblich den Aufstieg des Rechtspopulismus. »Dass

42  Statt vieler: René Pfister, Wer schreit, gewinnt, 05.03.2021, URL: https://spiegel.de/kultur/ identitaetspolitk-wer-schreitgewinnt-a-67fa2f7c-1086-4d07a19a-bfd65044417c [eingesehen am 12.03.2021]; Christoph Prantner/Alexander Kissler, Mit dem »Fall Thierse« beschämt sich die SPD-Führung selbst, in: NZZ, 09.03.2021, S. 2.

laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 mehr als die Hälfte der Bundesbürger Sorge hat, außerhalb des Freundeskreises frei ihre Meinung zu äußern, ist im Lichte der zunehmenden Intoleranz, mit der solche Debatten geführt werden, nicht überraschend.«44

43  Vgl. Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt a. M. 2021.

Dieser Streit innerhalb linker Positionen ist kein Streit zwischen »stark links« und »nicht ganz so links«, verläuft doch die Scheidelinie zwischen

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44  Ebd., S. 31.

den »Kulturlinken«, die auf Kosmopolitismus setzen, und den »Soziallinken«, für die Antikapitalismus im Vordergrund steht.45 Cum grano salis ließe sich auch von einem »Duell der Generationen«46 sprechen. Die ältere Generation kann wenig mit Genderthemen anfangen. 45  Repräsentant der letzten Richtung ist etwa Bernd Stegemann, ein maßgeblicher Initiator der Sammlungsbewegung »Aufstehen«. Der langjährige Berater Sahra Wagenknechts hat mehrfach heftige Kritik an der Identitätspolitik geübt. Vgl. zuletzt: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Stuttgart 2021. 46  Xaver von Cranach u. a., Duell der Generationen, in: Der Spiegel, 06.03.2021, S. 24–26. 47  Vgl. Jochen Buchsteiner, Freier reden in Cambridge, in: FAZ, 17.02.2012, S. 5; Jan Ross, Toleranz statt Respekt, in: Die Zeit, 15.02.2021, S. 76.

Liberalität ist nötig, Illiberalität zwar allzu menschlich, aber unnötig. Die eingangs erwähnten Aufrufe richten sich gegen Positionen, die unter dem Deck­mantel wohlmeinender Liberalität Illiberalität protegieren. Sie müssen getragen sein von Freisinn, der gesellschaftliche Offenheit genießt, der rivalisierende Positionen nicht als abträglich für den Fortschritt ansieht und es für möglich hält, die andere Seite könne Recht haben. Edle Zwecke heiligen nicht verwerfliche Mittel. Deutschland ist, wie angemerkt, von den Missständen in den USA , gegen die die eingangs erwähnte Academic Freedom Alliance ins Leben gerufen wurde, bisher weit entfernt. Das Motto muss gleichwohl heißen: Wehret den Anfängen! Ob jedoch ein Gesetz gegen Cancel Culture, wie jetzt in Groß­ britannien geplant47, wirklich ein geeignetes Mittel wider »Non-Platforming« ist? Gesellschaftliche Offenheit dadurch zu sichern, stellt eher ein Armutszeugnis dar.

Prof. Dr. Jürgen W. Falter, geb. 1944, von 2000 bis 2003 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, lehrte zuletzt an der Universität Mainz.

Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, lehrte zuletzt an der Technischen Universität Chemnitz.

Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse  —  Mehr Liberalität

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

BEBILDERUNG

Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Luisa Rolfes (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Alexander Deycke, Michael Lühmann, Dr. Matthias Micus, Tom Pflicke, Marika PrzybillaVoß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung, unter [email protected] (Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder unter [email protected]. Jahresbezugspreis print + online € 73,– D; ermäßig ter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D; Inst.-Preis print + online ab € 150,– D Einzelheftpreis € 22,– D. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80033-7 ISSN 2191-995X © 2021 by Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress. www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Karl Rollwagen lebt in Leipzig, ist Grafiker und Tontechniker. www.karlrollwagen.com

Bildnachweise Portrait Sara Schurmann: Rebecca Rütten Portrait Oliver Richters: Luise Hamm Portrait Andreas Siemoneit: Luise Hamm

VERMITTELN MEDIALE BERICHTERSTATTUNGEN EIN EINDIMENSIONALES BILD DER GESELLSCHAFTLICH STARK KRITISIERTEN MASSENTIERHALTUNG?

Barbara Wittmann Intensivtierhaltung Landwirtschaftliche Positionierungen im Spannungsfeld von Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft 2021. 492 Seiten mit 1 Tab., gebunden

€ 75,00 D | € 78,00 A ISBN 978-3-525-31727-3 E-Book € 59,99 D | € 61,70 A

ISBN 978-3-647-31727-4

Intensivtierhaltung und die Art und Weise der Nahrungsmittelproduktion sind in den westlichen Industrienationen angesichts ökologischer, klimatischer und tierethischer Zusammenhänge in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Umgekehrt proportional zum Rückgang der Hofzahlen und Beschäftigten auf Bauernhöfen im ländlichen Raum ist der Beruf des Landwirts zu einer medial präsenten und kulturell aufgeladenen Projektionsfläche geworden. Barbara Wittmanns Untersuchung rückt die Landwirte und Landwirtinnen selbst in den Mittelpunkt und analysiert und kontextualisiert ihre Positionierungen zu Gesellschaft, ökonomischen, ökologischen sowie tierethischen Problemkomplexen. Sie zeigt, dass unser Bild von konventioneller Produktion sehr viel komplexer und weniger normativ gedacht werden muss.

CORONA - EINE ZWISCHENBILANZ

Manfried Rauchensteiner | Michael Gehler (Hg.) Corona und die Welt von gestern 2021. 300 Seiten mit 30 farb. Abb./ Grafiken, gebunden € 28,00 D | € 29,00 A ISBN 978-3-205-21258-4 E- Book | E-Pub € 22,99 D | € 23,70 A

Preisstand 22.04.2021

Seit Ausbruch der Pandemie ist Corona Gegenstand journalistischer Aufbereitung. Medien berichten nahezu rund um die Uhr über das Infektionsgeschehen, Fachzeitschriften diskutieren medizinische und juridische Aspekte. Was fehlt, ist eine historische Einbettung. Der vorliegende Band schafft Abhilfe. Der renommierte Historiker Manfried Rauchensteiner hat führende Intellektuelle unterschiedlicher Disziplinen versammelt, die jene Veränderungen analysieren, mit denen Corona uns konfrontiert. Die Perspektiven reichen von der Geschichte über Wirtschaftswissenschaften und Philosophie bis hin zur Literatur. Fundiert, aber gleichzeitig anschaulich, hilft uns dieser Essayband die Bedeutung von Corona für unsere Zeit zu verstehen.

VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT 2. Auflage

Brigitte Aulenbacher / Frank Deppe / Klaus Dörre / Christoph Ehlscheid / Klaus Pickshaus (Hrsg.)

Mosaiklinke Zukunftspfade

Gewerkschaft, Politik, Wissenschaft 2. Auflage 2021 – 418 Seiten – 40,00 € ISBN 978-3-89691-064-6

Joscha Metzger

Genossenschaften und die Wohnungsfrage Konflikte im Feld der Sozialen Wohnungswirtschaft

(Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis, Band 38) 2021 – 310 Seiten – 30,00 € ISBN 978-3-89691-068-4

Kai Lindemann

Die Politik der Rackets

Zur Praxis der herrschenden Klassen 2021 – 155 Seiten – 16,00 € ISBN 978-3-89691-067-7

Rackets und Neoliberalismus ist die Demokratiefeindlichkeit gemein. Kai Lindemann erweitert den fragmentarischen Racket-Begriff der Frankfurter Schule klassentheoretisch und reformuliert ihn staatstheoretisch. Er plädiert zur Überwindung der Racket-Gesellschaft für eine radikale Demokratisierung aller gesellschaft lichen Bereiche. Hierfür braucht es solidarische Gemeinwesen und starke Kollektive der Klassenpolitik, die das Kapitalverhältnis humanistisch und konsequent in seine Schranken weisen. WWW . DAMPFBOOT - VERLAG . DE

der Versuch, abseits der EU die verlorene Weltstellung zurückzugewinnen

Volker Berghahn Englands Brexit und Abschied von der Welt Zu den Ursachen des Niedergangs der britischen Weltmacht im 20. und 21. Jahrhundert 2021. 248 Seiten, gebunden € 29,00 D | € 30,00 A ISBN 978-3-525-30607-9 E-Book | E-Pub € 23,99 D | € 24,70 A

Preisstand 12.10.2021

Zwischen 2016 und 2020 stand der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) fast täglich in den Schlagzeilen der deutschen Medien. Indessen war das Brexit-Drama mit Emotionen und Erinnerungen verbunden, die im Lande in heftigen Debatten an die Oberfläche kamen. Volker Berghahn stellt den Brexit in eine langfristige historische Entwicklung. Er zeigt, dass dessen Wurzeln in den beiden von Deutschland ausgelösten Weltkriegen und des dadurch verursachten wirtschaftlichen und politischen Niedergangs Großbritanniens im 20. Jahrhundert liegen. War der Brexit also der Versuch, abseits der EU die verlorene Weltstellung im 21. Jahrhundert zurückzugewinnen?

Ihr Fachverlag für politische Bildung

Gert Krell

Klimadiskurs kontrovers Zwischen Alarmstimmung und Verharmlosung Extreme Wetterereignisse und die globale Fridays for FutureBewegung haben den Klimawandel zu einem beherrschenden politischen Thema gemacht. Eine Orientierung im Streit um den naturwissenschaftlichen Sachstand und die politischen und praktischen Perspektiven bietet dieser Band. Politikwissenschaftler Gert Krell analysiert und differenziert verschiedene Argumente, Deutungen und datenbasierte Interpretationen eines breiten Meinungsspektrums. Es werden zentrale pessimistische und optimistische Argumentationen gegenübergestellt. Der Band bietet eine hilfreiche Gesamteinschätzung zur Rolle Deutschlands beim Klimaschutz und zu den klimapolitisch erforderlichen Maßnahmen – auch mit Blick auf die Corona-Krise.

ISBN 978-3-7344-1067-3 136 S., € 12,90 PDF: 978-3-7344-1068-0, € 9,99

Klimakrise Trotz oder gerade wegen der Corona-Pandemie dürfen wir die zentrale Zukunftsaufgabe des Klimawandels nicht vergessen. Wie soll die Wirtschaft klimaneutral angekurbelt werden? Die neue POLITIKUM beleuchtet den Stand der Debatte um die Klimakrise. Wer diese Ausgabe liest, versteht die Diskrepanz von klimapolitisch erforderlichen und praktisch umgesetzten Prozessen besser. Expert*innen aus Natur- und Politikwissenschaft analysieren u.a., warum für realistische Prognosen auch gesellschaftliche Dynamiken berücksichtigt werden müssen. Das Heft bietet fundierte Hintergrundanalysen, eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen deutschen Klimapolitik, aber auch Hoffnungsschimmer, wie ein Umsteuern gelingen könnte. POLITIKUM 2/2020 Best.-Nr.: Pk2_20, 88 S., € 12,80 PDF: ISBN 978-3-7344-0991-2, € 9,99 EPUB: ISBN 978-3-7344-1076-5: € 9,99

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Nachhaltigkeit und Umweltkonflikte im Fokus der Wissenschaft Wettbewerb und Regulierung von Märkten und Unternehmen

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Studien zu Lateinamerika Latin America Studies

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Nachhaltigkeit in der Bankenbranche

Krisenklima Umweltkonflikte aus lateinamerikanischer Perspektive

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Nachhaltigkeit in der Bankenbranche Ansätze zur Integration des Nachhaltigkeitsgedankens in die bankbetriebliche Praxis Von Univ.-Prof. Dr. Gerd Waschbusch, Sabrina Kiszka und Philipp Strauß 2021, 212 S., brosch., 44,– € ISBN 978-3-8487-8393-9 (Wettbewerb und Regulierung von Märkten und Unternehmen, Bd. 47)

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Krisenklima Umweltkonflikte aus lateinamerikanischer Perspektive Herausgegeben von Prof. Dr. Stefan Peters, Prof. Dr. Eleonora Rohland, Prof. Dr. Olaf Kaltmeier, Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt und Christina Schnepel 2021, 186 S., brosch., 19,90 € ISBN 978-3-8487-7954-3 (Studien zu Lateinamerika | Latin America Studies, Bd. 41)

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ÜBER DIE MÖGLICHKEIT VON SINNERFÜLLTEM, „GELINGENDEM“ LEBEN UND DEN ZUSAMMENHANG MIT NACHHALTIGKEIT UND BEWAHRUNG DER NATUR

Martin Kolmar Grenzbeschreitungen

Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur 2021. 440 Seiten mit 31 meist farb. Abb., gebunden € 40,00 D ISBN 978-3-412-52298-8 Auch als e-Book lieferbar Wie wollen wir leben und wie können wir unserem Leben Sinn geben angesichts der drängenden Krisen der Gegenwart? Wie können solche Fragen überhaupt beantwortet werden, wenn eine säkulare Kultur scheinbar nur Antworten auf Fragen nach dem „wie?“, nicht aber nach dem „wozu?“ erlaubt. Martin Kolmar deutet im vorliegenden Buch die gegenwärtigen und bevorstehenden Krisen, allen voran die Klimakrise, als Krise der westlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen und versucht einen Ausweg daraus aufzuzeigen. Dazu beginnt er mit einer Analyse westlicher Vorstellungswelten aus der Perspektive des „Erhabenen“. Es zeigt sich, dass das „Erhabene“ als Grenzerfahrung überraschende und relevante neue Perspektiven auf die Gegenwart öffnet und zugleich einen Weg zu einer säkularen, rationalen Form der Sinnerfahrung erkennbar macht.

Vandenhoeck & Ruprecht

KLIMAWANDEL, KLIMAKRISE, KLIMAÄNGSTE: DIE EXISTENZIELLE BEDROHUNG RÜCKT NÄHER Martin Scherer / Josef Berghold / Helmwart Hierdeis (Hg.) Klimakrise und Gesundheit Zu den Risiken einer menschengemachten Dynamik für Leib und Seele Mit einer Einleitung von Martin Herrmann. 2021. 213 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert € 30,00 D ISBN 978-3-525-40771-4 Auch als e-Book lieferbar

Die Klimakrise läuft allen Verleugnungen und aller Ignoranz zum Trotz auf eine ökologische, ökonomische und soziale Katastrophe zu. Bestandsaufnahmen aus Klimaforschung, Geografie, Psychologie, Psychoanalyse und Medizin stellen die Frage, welche Folgen dies für die Gesundheit der Menschen schon hat und zunehmend haben wird. Besonderes Interesse gilt dabei den wachsenden Ängsten, ihren Ursachen und ihren Konsequenzen für Einzelne, für das gesellschaftliche Zusammenleben und für die Generationenverhältnisse. Die Beiträge machen deutlich: Auch im Hinblick auf die Auswirkungen der Klimakrise auf Leib und Seele und ihre Bewältigung wird sich erweisen, ob die Menschheit ausreichend Intelligenz und Entschlusskraft aufbringen kann, um ihren Fortbestand zu sichern.

ISBN 978-3-525-80033-1

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