Europa - Antike - Humanismus: Humanistische Versuche und Vorarbeiten [1. Aufl.] 9783839413890

»Humanismus« ist ein junger, offener - und daher umstrittener - Begriff. Hubert Cancik zeichnet in diesem Band die Wurze

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German Pages 524 Year 2014

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Europa - Antike - Humanismus: Humanistische Versuche und Vorarbeiten [1. Aufl.]
 9783839413890

Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeberin
I DAS THEMA
Europa – Antike – Humanismus
Orte der ›Antike‹ in einer ›europäischen Religionsgeschichte‹
Classical Tradition, Humanity, Occidental Humanism. Hellenic-Roman Civilization and its Claim for Universal Validity
Humanistische Begründung humanitärer Praxis. Antike Tradition – neuzeitliche Rezeption
II WORTE, AUSDRÜCKE, BEGRIFFE
Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis. Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe
Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹
Moralische tolerantia – wissenschaftliche Wahrnehmung des Fremden – religiöse Freiheit und Repression. Bemerkungen zum »Kulturthema Toleranz« in der griechischen und römischen Antike
Freiheit und Menschenwürde im ethischen und politischen Diskurs der Antike
Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität
»Schule der Humanität«. Johann Gottfried Herder über Ethik und Aesthetik der griechischen Plastik
III MENSCH ALS MENSCH – STOISCHE ETHIK UND HUMANISMUS
»Mensch als Mensch«. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen zu den antiken Grundlagen des Humanismus
Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen von Humanismus
Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte
Persona and Self in Stoic Philosophy
›Dignity of Man‹ and ›Persona‹ in Stoic Anthropology. Some Remarks on Cicero, de Officiis I 105-107
IV KRITISCHER HUMANISMUS
»Alle Gewalt ist von Gott«. Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren
Christentum und Todesstrafe. Zur Religionsgeschichte der legalen Gewalt
Antike Religionskritik im Colloquium Heptaplomeres
Antike – Christentum – Humanismus. Ein Versuch zu Grundbegriffen von Friedrich Heers europäischer Religions- und Geistesgeschichte
Der Ismus mit menschlichem Antlitz. ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ von Niethammer bis Marx und heute
Siglenverzeichnis
Verzeichnis der Erstpublikation
Register der Personen- und Ortsnamen
Register der Begriffe und Sachen

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Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus

Band 7

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Surendra Munshi (Kalkutta), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Hubert Cancik (Prof. Dr. phil. Dr. h.c.) lehrte Klassische Philologie an der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die antike Kulturwissenschaft, die Geschichte der antiken Religionen sowie die Rezeption der Antike. Hildegard Cancik-Lindemaier (Dr. phil. Dr. theol. h.c.) ist klassische Philologin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die antike Kulturwissenschaft sowie die Religionsgeschichte Roms und des frühen Christentums.

Hubert Cancik

Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten herausgegeben von Hildegard Cancik-Lindemaier

In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute of Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1389-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin | 7

I DAS THEMA Europa – Antike – Humanismus | 13 Orte der ›Antike‹ in einer ›europäischen Religionsgeschichte‹ | 43 Classical Tradition, Humanity, Occidental Humanism. Hellenic-Roman Civilization and its Claim for Universal Validity | 83 Humanistische Begründung humanitärer Praxis. Antike Tradition – neuzeitliche Rezeption | 93

II W ORTE, AUSDRÜCKE, BEGRIFFE Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis. Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe | 117 Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹ | 135 Moralische tolerantia – wissenschaftliche Wahrnehmung des Fremden – religiöse Freiheit und Repression. Bemerkungen zum »Kulturthema Toleranz« in der griechischen und römischen Antike | 151 Freiheit und Menschenwürde im ethischen und politischen Diskurs der Antike | 175 Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität | 191 »Schule der Humanität«. Johann Gottfried Herder über Ethik und Aesthetik der griechischen Plastik | 211

III MENSCH ALS MENSCH – STOISCHE ETHIK UND H UMANISMUS »Mensch als Mensch«. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen zu den antiken Grundlagen des Humanismus | 237 Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen von Humanismus | 255 Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte | 281 Persona and Self in Stoic Philosophy | 311 ›Dignity of Man‹ and ›Persona‹ in Stoic Anthropology. Some Remarks on Cicero, de Officiis I 105-107 | 327

IV KRITISCHER HUMANISMUS »Alle Gewalt ist von Gott«. Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren | 357 Christentum und Todesstrafe. Zur Religionsgeschichte der legalen Gewalt | 387 Antike Religionskritik im Colloquium Heptaplomeres | 439 Antike – Christentum – Humanismus. Ein Versuch zu Grundbegriffen von Friedrich Heers europäischer Religions- und Geistesgeschichte | 459 Der Ismus mit menschlichem Antlitz. ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ von Niethammer bis Marx und heute | 485 Siglenverzeichnis | 505 Verzeichnis der Erstpublikation | 509 Register der Personen- und Ortsnamen | 513 Register der Begriffe und Sachen | 517

Vorwort der Herausgeberin

Unter dem Titel »Europa – Antike – Humanismus« sind Aufsätze zu Geschichte, Begriff, Systematik von Humanismus zusammengestellt. Sie wurden im Zeitraum 1977 bis 2009 verfaßt; sie tragen die Spuren ihrer Entstehungszeit und werden hier ohne Retuschen und ohne Nachträge reproduziert.1 Die Texte wurden für ein weiteres Publikum geschrieben, zum größeren Teil auf interdisziplinären Veranstaltungen vorgetragen: in den Tübinger Religionswissenschaftlichen Ringvorlesungen; bei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer; in kulturwissenschaftlichen Vorlesungsreihen an der Freien Universität Berlin; auf Tagungen des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen im Projekt »Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung – ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur, Werte«; in von der Stiftung Mercator unterstützten Workshops zum Humanismus im 18. Jahrhundert (FU Berlin, mit Martin Vöhler); bei gemeinsamen Tagungen von Friedrich-Ebert-Stiftung und Humanistischem Verband (HVD). Die Aufgabe dieser Texte ist es vor allem, Daten zu liefern, Dokumente vorzustellen, Interpretationen und Argumente; deshalb sind sie mit den nötigen Nachweisen ausgestattet. Das Vorurteil, Fußnoten seien Ballast und wirkten abschreckend auf eine an sich interessierte Leserschaft, wurde nicht bedient. In den Titelworten wird das Phänomen »Humanismus« historisch verortet: seine Grundlagen in der Antike, die studia humanitatis in der europäischen Bildungsgeschichte, die Entwicklung von Natur- und Menschenrecht, der Aufbau humanitärer Praxis. Geschichtlichkeit impliziert Veränderlichkeit, Innovation, Wachstum, Gelingen und Schei-

1

Korrigiert wurden lediglich Sach- und Schreibfehler; einige formale Änderungen sind den Vorgaben des Verlags geschuldet.

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tern. Geschichtlichkeit des Humanismus bedeutet, daß die Bedingungen seiner Entstehung ebenso beachtet werden müssen wie die Umstände der Überlieferung, der jeweiligen Aneignung oder Abstoßung, Humanismuskritik und Antihumanismus. Untersuchungen über Entstehung und Geschichte des Humanismus sind zunächst ›eurozentrisch‹‚ in dem Sinne, daß sie auf Europa als den ersten Kontext konzentriert sind. Der klassische Philologe Uvo Hölscher hat für die Dialektik des Verhältnisses Europa – Antike die glückliche Formulierung »das nächste Fremde« gefunden.2 Die Spannung zu dem Universalismus, der dem Konzept eingeschrieben ist, rückt mit der weltweiten Codifizierung der Menschenrechte ins Zentrum der Diskussion. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Humanismus ist Anstoß zu einem Lernprozeß, in dem der offene, neugierige Blick auf das jeweils ›Andere‹ sich mit dem kritischen Blick auf das ›Eigene‹ verbindet. Die Untersuchung der ›Anfänge‹ bleibt eine Voraussetzung für die Prüfung der Tragfähigkeit und Zukunftsfähigkeit dieses Konzepts unter den Bedingungen der Moderne. Jene Frage, die Alfred Andersch 1980, im Jahre seines Todes, »in Verzweiflung zu stürzen« geeignet war – »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?« – ist nicht vergessen.3 Die Gruppierung der Beiträge dient einer allgemeinen Orientierung: In den Gruppen I und IV sind Aufsätze zu einigen der geschichtlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung und Funktion von Humanismus zusammengestellt, die beiden mittleren Gruppen sind mit der Klärung von Worten und Begriffen befaßt. Zum Zustandekommen dieser »Humanistischen Versuche und Vorarbeiten« haben viele beigetragen; einige unter ihnen sind als Herausgeber der Erstpublikationen kenntlich.4 Ihnen und den Ungenannten sei herzlich gedankt. Vor allen aber danken Autor und Herausgeberin Jörn Rüsen, der die Sammlung dieser Aufsätze angeregt und in das Publikationsprogramm seines von der Stiftung Mercator geförderten Projekts »der Humanismus in der Epoche der Globalisierung« aufge-

2

Uvo Hölscher, Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, München 1994.

3

Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders, Zürich 1980, »Nachwort an

4

Siehe die Nachweise am Ende des Bandes.

den Leser«, S. 136.

V ORWORT

DER

H ERAUSGEBERIN | 9

nommen hat. Großer Dank gebührt schließlich Angelika Wulff, die mit hohem Engagement die Erstellung des Satzes besorgt hat. Berlin-Lichterfelde, im Frühjahr 2011 Hildegard Cancik-Lindemaier

I Das Thema

Europa – Antike – Humanismus

§1 O RIENTIERUNG ›Humanismus‹ ist ein junger, ein offener, ein wenig fixierter Begriff. Das ist ein Vorteil, verführt aber auch zu Ungenauigkeit, Phrase, Festredengeschwätz. Das Wort stammt aus Universität und Schule. Der Begriff bezeichnet ursprünglich ein Programm zur Reform des Gymnasiums in Deutschland (Friedrich Immanuel Niethammer, 1808). Später charakterisiert er eine Epoche der italienischen Geschichte (14.-16. Jh., die sog. Renaissance). Schließlich meint Humanismus die Grundlage humanitärer Praxis in aller Welt. Das Wort ›Humanität‹ ist ein wenig älter. Es ist dem Französischen entlehnt (humanité). Johann Gottfried Herder (1744-1803) hat das Lehnwort in der deutschen Sprache legitimiert und in dem Begriffsfeld ›Menschheit, Menschenrecht, Menschenwürde, Menschenliebe‹ verankert. Beide Begriffe, ›Humanismus‹ und ›Humanität‹, sind abgeleitet von dem lateinischen Wort humanitas. Dieses Wort bedeutet ›Menschheit‹ und ›Menschsein‹, ›Bildung‹ und ›Barmherzigkeit‹. M. Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) bietet hierfür die klassischen Zitate. Der Name ›Europa‹ ist uralt, so alt, daß unklar ist, ob der Name griechisch sei oder semitisch. Er bezeichnet ursprünglich eine Gestalt der griechischen Sage, sodann verschiedene geographische Einheiten mit vielen Sprachen und Religionen (keltisch, germanisch, slawisch; jüdisch, christlich, islamisch; deistisch, pantheistisch; atheistisch, pagan). ›Europa‹ heißt schließlich das politische Prinzip, das nach dem Zweiten Weltkrieg (1945) und nach der Auflösung der Blöcke (1989) eine immer noch wachsende Europäische Union geschaffen hat.

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Das Wort ›Antike‹ meint eine Epoche und eine Norm: zum einen das Altertum der Hellenen und Römer (etwa 800 v.Chr. bis 800 n.Chr.), zum anderen das ›Klassische‹, den antiken ›Kanon‹, das Modell, das Beispiel derer, die »vor uns« (lat. ante nos) gegangen sind, der antiqui. Teile dieser Kultur und ihrer Geschichte gelten als gemeineuropäisches ›Erbe‹: Römer-Straßen (lat. stratum) und Stadtanlagen (Aachen, Köln, Mainz, Regensburg, Trier), die Schrift und das Geld, Ethik und Politik, Recht und Philosophie, Mythos, Kunst, Wissenschaft. Das Erbe wird rezipiert, genutzt oder abgestoßen; es wird verarbeitet, aktualisiert, in Volkssprache umgesetzt, nationalisiert, mit ›Neuem‹, ›Fremdem‹ synthetisiert. Diese Arbeit an der antiken Tradition ist eine Dimension der Religions- und Geistesgeschichte in allen nachantiken europäischen Kulturen. Aber nicht jede Antike-Rezeption ist als solche schon Humanismus.

§2 E UROPA §2.1 Myth-Historie ›Europa‹, ›die Weithin-Sehende‹ heißt eine phönizische Prinzessin aus Tyros (Libanon). Hellenen haben sie geraubt, so erzählt der ›Vater der Geschichtsschreibung‹ am Anfang seines Geschichtswerkes. Die antiken Chronographen datieren den Raub um das Jahr 1435 v.Chr. – das wäre der myth-historische Beginn von Europa. Der große Krieg zwischen Persern und Hellenen (500-479 v.Chr.) ist ihm ein Konflikt zwischen den Kontinenten Asia und Europa, zwischen Orient und Okzident. Deshalb erzählt Herodot (484-ca. 420 v.Chr.) ausführlich vom Frauenraub in mythischer Zeit: Phönizier rauben die Io, Hellenen die Europa; dann die Hellenen Medea aus Kolchis, und Paris aus Troia in (Klein-)Asien raubt sich Helena. Dieser Frauenraub eskaliert nun gegen jede politische Vernunft zu einem großen, dem Troianischen Krieg, um 1250 v.Chr. nach der Berechnung des Herodot. So tief in der fabulösen Frühgeschichte hebt der Historiker an, um die Bedeutung des zeitgenössischen Konflikts zwischen Hellenen und Persern im 5. Jahrhundert zu veranschaulichen. Herodot schafft dabei die Idee Europa. Der Historiker bildet sie aus Geographie und Mythos, aus Politik und Krieg. Er stellt griechische Freiheit gegen orientalische Despotie und gegen das Massenaufgebot aus Asien die List, das Freiheitspathos

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und den Todesmut der Wenigen bei Marathon (490), Salamis (480) und in den Thermopylen (480). Der Mythos von der Jungfrau auf dem Stier und Herodots Konstruktion der Idee Europa erinnern den Ursprung griechischer Kultur aus dem großen, reichen, fremden Orient und formieren den Eigensinn Europas. Diese Idee wird durch faszinierende Bilder und starke Texte vermittelt. Sie gehört zum Kernbestand des europäischen Humanismus. §2.2 Der Raum Das alte Europa ist ein Kontinent wie Asia und Libya (Africa). Die Grenze im Osten liegt, nach antiker Vorstellung, an den Dardanellen und am Tanais (Don, Rußland). Kleinasien (Türkei), obschon früh (2. Jahrtausend) und dicht von Griechen besiedelt, gehört zu Asien. Nachdem Kiew und Moskau das politische und religiöse Erbe des byzantinischen Reiches (»Zweites Rom«) und den Titel »Drittes Rom« reklamiert hatten, verlegte die Neuzeit die Grenze von Europa an den Ural. Der Name Europa haftet aber auch an einem kleinen Landstrich an den Dardanellen. Er bezeichnet das Territorium von Konstantinopel (Istanbul/Türkei), des »Neuen«, des »Zweiten Rom«. Die kleine Provinz Europa gehörte in der Spätantike zur Diözese Orient und zum Ostteil (praefectura Orientis) des römischen Reiches. Ausgerechnet das antike Europa liegt bis heute in der Türkei. Europa liegt im Westen, wo die Sonne zum Ozean hinabfährt (Okzident); hier liegt das Abendland (Hesperien). Nach astronomisch geographischer Logik ist es immer das Gegenstück zum Orient, zum Morgenland, wo die Sonne das Firmament hinauffährt. Europa ist ein kleiner Kontinent, der westliche Zipfel der riesigen Asia. Es ist ein kleinteiliger Kontinent. Dies verhinderte lange, daß sich große, zentralisierte Reiche wie im Zweistromland und am Nil entwickeln konnten. Viele Inseln, ein Meer in der Mitte, das nicht trennte, sondern zu Entdeckungsfahrten, Handel, Gründung von Kolonien einlud. Überall an den Küsten Pflanzstädte der Phönizier, Hellenen, Römer. Odysseus, der »Dulder«, »der vielgewandte«, ist der Mensch dieser Landschaft. Homer (Odyssee 1,3) rühmt ihn: »Er hat die Städte vieler Menschen gesehen und ihren Sinn erkannt (griech. égno)«. Odysseus steht am An-

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fang der Genealogie des europäischen Menschen;1 er sei, so heißt es, »der erste sich selbst bestimmende [...] Mensch der Weltliteratur«. Deshalb war Homer Schullektüre in Antike und Neuzeit, wurde Odysseus ein Paradigma des humanistischen Menschenbildes. §2.3 Das Imperium Die politisch-militärische und kulturelle Energie Europas hielt sich nicht an die Grenzen der Geographen. Das Reich Alexanders (336-323 v.Chr.) und seiner Nachfolger reicht über Syrien, Irak, Iran, Afghanistan bis an Indus und Ganges. Das römische Reich erfaßt Nordafrika und die westlichen Teile des Alexanderreiches. So wurde das Mittelmeer die Binnensee des Imperium. Pompeius triumphiert über alle drei Kontinente (61 v.Chr.). Aber römisches imperium will Macht ohne Grenzen. Vergil (Aeneis 1,278f.) dichtet: his ego nec metas rerum nec tempora pono, imperium sine fine dedi. Diesen (Römern) setze ich weder Zielsäulen der Macht noch Zeitabschnitte, Herrschaft ohne Ende gab ich.

Vergil wurde Schulautor schon in der Antike und bleibt es im lateinischen Westen bis in die Jetztzeit. Er vermittelt in den schönsten, von allen Humanisten immer wieder kommentierten Versen den Herrschaftsanspruch Europas. Vergil ist, auch deshalb, »Vater des Abendlandes«. Die ökonomische, politische, kulturelle Einheit des römischen Imperium wird durch zwei Spaltungen zerstört. Der griechische Ostteil trennt sich vom lateinischen Westen Europas (395 n.Chr.). Die politische Spaltung wird vertieft durch die religiöse. Das große Schisma (1054) trennt die römisch-katholische von den orthodoxen griechischen und slawischen Kirchen. Das Christentum konnte seinen übernationalen Anspruch nicht erfüllen. Es fixierte die nationalen Politiken und alte, tiefe kulturelle Unterschiede. Die zweite Spaltung des circummediterranen und multireligiösen römischen Reiches erfolgt durch die arabische Expansion nach Syrien

1

Bernard Andreae, Odysseus. Archäologie des europäischen Menschenbildes, Frankfurt am Main 21984, S. 18.

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und Ägypten (640 n.Chr.), Nordafrika und Spanien (711). Das verbindende Binnenmeer wird zu einem feindlichen. Diese horizontale Spaltung des römischen Imperium definiert um 800 das Ende der Antike. Die neuen Zentren Europas verlagern sich nach Norden, nach Osten, an die Küsten des Atlantiks. Der neue Caesar Augustus residiert in Aachen und Wien (bis 1806), das Zweite Rom (bis 1453) wird abgelöst von Moskau, dem Neuen, dem Dritten Rom (seit 1523/24). In riesigen Kolonialreichen auf vier Kontinenten verbreitet sich europäische Kultur aggressiv und unwiderstehlich über den Globus: mit Christentum und Technik, mit den Bildungssystemen und politischen Ideologien kommen auch antike Tradition, idealer (I. Niethammer) und realer Humanismus (K. Marx), die Begriffe von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Menschenrecht.

§3 ANTIKE §3.1 Die Epoche und das Modell 1. Die ›Antike‹ ist eine Epoche (ca. 800 v.Chr.-800 n.Chr.) und eine Idee (Ideal, Norm, Kanon, Modell). Sie ist gemeineuropäisches Erbe durch Geschichte, insofern viele Regionen Europas Teile des imperium Romanum waren, oder durch Rezeption, insofern alle Regionen Europas, auch die slawischen und zeitweise arabischen (Sizilien, Malta, Andalusien) antike Kultur aufgenommen haben. Die Antike ist als tatsächliche Geschichte und als Idee Grundlage und immer präsenter Antrieb für europäischen Humanismus in seinen vielen und widersprüchlichen Ausprägungen. ›Antike‹ ist ein Glücksbild, der Raum für gelingendes Menschsein, eine Sehnsucht, Arkadia und Utopia in einem: »Dahin, dahin will ich ...«. So viel enthusiastische Antikenliebe fördert Illusionen und Eskapismus, hemmt den Blick auf die tatsächliche Geschichte und die Aufgabe, Traum und Wirklichkeit, Antike und jeweilige Gegenwart zu vermitteln, ohne den Traum zu desavouieren. Die Antike faßt traumatische Erfahrungen von Inhumanität und Destruktivität, individuelle und kollektive, in prägnante Formen und überliefert sie in mythischen Konfigurationen (Antigone, Medea, Niobe), in Epos (Thebanischer und Troianischer Krieg) und tragischer Dichtung (Aischylos, Perser; Sophokles, Ödipus; Euripides, Hekabe), in Geschichtsschreibung und historischer Dichtung: Thukydides über

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die Pest in Athen, Tacitus über den Untergang der römischen Republik, Lucan über Caesars Bürgerkrieg. 2. Die griechische Antike beginnt als eine spätaltorientalische Randkultur und wird zum Zentrum der Méditerranée. In Mythos und Geschichtsschreibung haben die Griechen diese Abhängigkeit erinnert: Europa kommt aus Tyros, Priamos von Troia ist ein Vasall des Ninos, Königs von Assyrien. Thales, der erste Naturphilosoph (1. Hälfte 6. Jh. v.Chr.) soll vornehmer phönizischer Abstammung gewesen sein. Mit ihm beginnt die Wissenschaft von den Prinzipien der Natur und des Kosmos. Die drei Fremdworte – Prinzip (griech. arché), Natur (griech. physis), Kosmos (»geordnete Welt«) – umschreiben die Grundlage magiefreier, theoretischer Erkundung von Himmel und Erde. Die Griechen sind eine Lernkultur. Sie übernehmen alles von den Barbaren – und machen es besser. Sogar Götter und Riten haben sie von Ägyptern und Phöniziern »gelernt«. Auffällig, daß sie keine Fremdsprachen lernen; verständlich, daß ihnen »Erziehung das erste« ist (próton paídeusis)2 und die Technik der Rede (Rhetorik) zur Allgemeinbildung wird. Die Römer lernen von den Griechen – Sprache, Kunst, Mythos, Philosophie, Rhetorik, Geschichte – und versuchen, sie zu »übertreffen«. Damit sind sie ein Modell der europäischen Kulturen überhaupt. Aber auch dieses Prinzip, der Wettstreit (griech. agón), »immer der beste zu sein und herauszuragen vor andern«, ist griechisch (Homer, Ilias 6, 208). Der interkulturelle Dialog ist strukturierende Praxis der beiden antiken Kulturen. 3. Antike Kultur ist politisch und öffentlich. Der Mensch wird als »staatsbezogenes«, gesellschaftliches Lebewesen definiert (griech. zóon politikón, lat. animal sociale).3 Der öffentliche Raum ist groß und differenziert. Da ist der Markt (Agora), wo der Apostel Paulus Philosophen trifft, mit denen er über das Göttliche und die Auferstehung des Fleisches diskutieren kann; das Gericht (Areopag); die ›Theater‹, in denen sich das Kollektiv repräsentiert und feiert; sie sind Ort für Schauspiele, Empfänge, Prunkreden, Volksversammlungen. Die meis-

2

Antiphon, frg. 60 (Hermann Diels/Walther Kranz [Hg.], Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1952/60).

3

Aristoteles, Politik 3,6, 1278b: »Von Natur aus ist der Mensch ein ›politisches‹ Lebewesen«.

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ten Kultanlagen sind offen, auch für Fremde (Nichtbürger). Hier stehen Kunst und Weihegaben mit den Inschriften und Namen der Stifter, und viele können sie lesen. Das Muster (griech. parádeigma) ist Athen.4 Diese pólis (»Stadtstaat«) ist völlig autark und deshalb frei. In ihrer klassischen Epoche (5.-4. Jh. v.Chr.) erfindet sie verschiedene Typen der »Volksherrschaft« (griech. demo-kratía). Deshalb bietet Athen »die meisten Formen des Lebens«. Diese Stadt wird »Erziehungsanstalt« (griech. Paídeusis) für ganz Griechenland, die Antike und darüber hinaus. Neue Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit werden hier ausgebildet und praktiziert – nicht ohne Konflikt und Mißerfolg. In einer neuen Wissenschaft, der Politologie, werden sie untersucht und kritisiert: Welche ist die beste Verfassung, welche die besten Lebensformen für möglichst viele Staaten und Menschen?5 Welche Typen von Demokratie gibt es? Freiheit, so definiert Aristoteles, ist am meisten in der Demokratie, weil alle, gemäß dem für alle geltenden Gesetz, am Staate (griech. politeía) teilhaben in gleicher Weise. 4. Die Antike ist eine komplexe Kultur. In einigen Gebieten und Epochen bestehen ausgeprägte Geldwirtschaft, Arbeitsteilung, Manufakturbetrieb, Fernhandel, und damit typologisch frühneuzeitliche Strukturen. Die kulturellen Segmente – Rechtswesen, Kunst, Religion, Philosophie, Bildungswesen, Wissenschaften, Weisheit – sind differenziert, auch theoretisch begründet und in ihrer Geschichtlichkeit reflektiert. Eine ungewöhnliche Kreativität und Energie erschafft eine »zweite Natur« (Cicero). Prometheus, der den Menschen bildet, und Ikarus, der in die Sonne fliegt, sind bis heute mythische Zeichen ›titanischer‹ Kraft:6 »Ungeheuer ist vieles. Doch nichts/ Ungeheuerer als der Mensch«. Religion steht in einer losen Verbindung zu Kultur und Wissenschaft. Die Tempel haben geringe ökonomische Macht. Priester und Priesterinnen sind angesehen, bilden aber keinen organisierten Klerus. Die spekulative Theologie wird Sache der Philosophen. Es gibt kein heiliges Buch, keinen allgemeinen staatlich gestützten oder kirchlichen

4

Thukydides 2,37,1.

5

Aristoteles, Politik 4,11.

6

Sophokles, Antigone (aufgeführt ca. 442), 1. Standlied des Chores (V. 332375); Übersetzung von Friedrich Hölderlin.

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Religionsunterricht. Im Konflikt mit dem Judentum und Christentum werden religiöse »Privilegien« konstruiert und Religionsfreiheit als Menschenrecht (ius humanum) des Einzelnen gegen den Staat gefordert. Die Toleranzgesetze von Konstantin (306-337 n.Chr.) bis Julian (360-363) realisieren am Ende der Antike noch einmal – mit begrenztem Erfolg – eine multireligiöse Gesellschaft unter Einschluß der Christianer. §3.2 Widersprüche Die Antike ist die Kultur einer geschichteten Gesellschaft mit großen Unterschieden zwischen Stadt und Land, zwischen Griechenland und Rom, zwischen Polis und Imperium. Sie läßt sich nicht in einer knappen kulturphysiognomischen Skizze erfassen. Dekonstruktivistische Entzauberer hätten es leicht: Die Antike, den Griechen, den Römer gibt es nicht. Die Versuche zu Gleichheit und Freiheit, Demokratie und Toleranz lassen sich leicht als Ideologie und Fehlschlag entlarven oder durch antike Alternativen relativieren. Das demokratische Athen wurde von Sparta besiegt; die auf große Ungleichheit gebaute römische Adelsrepublik war militärisch und politisch überlegen; viele Philosophen priesen die Monarchie; christlicher Totalitätsanspruch verhinderte zum Ausgang der Antike die Religionsfreiheit einer multireligiösen Gesellschaft. Die Sklaverei wurde nicht abgeschafft, auch nicht bei Juden und Christianern; die Frauen erhielten nirgends weder aktives noch passives Wahlrecht. ›Die Antike‹ war weltzugewandt, biophil, mit Neugier und Lust auf Empirie. Aber sie erfand auch das Jenseits (griech. ep-ékeina), den Schnitt (chorismós) zwischen Welt und Ideenhimmel. ›Die Antike‹ ist leibfreundlich, sinnlich, erotisch; die Plastik ist ihre spezifische Kunst: die Gestalt der »reinen Person«, ohne Abzeichen und Uniform. Aber die Römer sind, so will es das Klischee, nüchtern, trocken, prüde und eher kunstfern, unmythisch. Die Götter der Antike sind menschenförmig und zahlreich. Aber die Philosophen denken den einen Gott, das »Ein und Alles« (hen kai pan), den Geist, der die Welt bewegt und lenkt. Das römische Recht ist eine kulturelle Revolution: keine Gottesurteile, Zurückdrängung entwürdigender und grausamer Strafen; Begründung des Rechts in den Prinzipien Gerechtigkeit, Billigkeit, Rechtssicherheit, Natur und Vernunft (Cicero, Über Gesetze). Aber es bleibt die Klassenjustiz, die Folter, die Strafe der Kreuzigung und ad bestias.

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Angesichts dieser und vieler anderer Widersprüche verwundert es nicht, daß sich ebenfalls antiker Autoritäten und Paradigmen bedient, wer den idealen oder realen, den ethischen oder emanzipatorischen Humanismus angreifen will. Das Altertum selbst, heißt es dann, sei der Beweis gegen den Humanismus überhaupt. Die Antike lehre ja, daß Sklaventum »zum Wesen einer Kultur« gehöre: »Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß gesteigert werden«, nicht etwa abgeschafft; die Rede von Menschenwürde und Grundrechten sei Illusion, Lüge; die Aufklärung »ungermanisch«, der Krieg notwendig, der Mensch der Jetztzeit verzärtelt. So sprach Friedrich Nietzsche,7 Lehrer und Professor für Griechisch in der großen alten Humanistenstadt Basel am Rhein.

§4 T RADITION – R EZEPTION – R ENAISSANCE §4.1 Italien 1. Um 1500 gibt es in vielen Städten Italiens, in Padua, Venedig, Pisa, Bologna, Mailand, Florenz und Rom, »Humanitätsstudien« (studia humanitatis). Hier unterrichtet der (h)umanista die antike Literatur und Rhetorik. Er ist der Fakultät der Artisten zugeordnet, wo die »Sieben freien Künste« gelehrt werden. Die Artistenfakultät ist eine »niedere Fakultät« mit propädeutischen Aufgaben. Sie bereitet auf das berufsbezogene Studium an den drei ›Hohen Fakultäten‹ vor (Medizin, Jurisprudenz, Theologie). Die niedere Stellung des umanista steht im Gegensatz zu den anspruchsvollen Gegenständen, die er lehren, und dem Ziel, das er erreichen soll: nichts weniger als Bildung (conformatio) zur Humanität an den Texten der antiken Redner, Geschichtsschreiber, Dichter, Philosophen. Der Name und das Lehrprogramm der studia humanitatis sind in Italien etabliert und antik legitimiert. Coluccio Salutati (1331-1406), Kanzler von Florenz (1375-1406) erläutert Carlo Malatesta, dem Herrn von Rimini, den Begriff ›Humanität‹ (hu-

7

F. Nietzsche, »Der griechische Staat. Weihnachtsgabe an Cosima Wagner, 1872«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München 1980, Bd. 1, S. 764777.

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manitas).8 Das Wort bedeute ›Bildung‹ (eruditio, litterae, scientia) und ›Milde‹ (mansuetudo, comitas, benignitas). Ebenso sagt es Cicero. Die »Humanitätsstudien« der italienischen Renaissance sind eine bewußte und legitime Aufnahme antiker Pädagogik und »Moralwissenschaft« (scientia moralis). Die studia humanitatis werden zwar erst sehr viel später mit einem ›Ismus‹ zum pädagogischen Systembegriff geadelt: »Humanismus« (1808). Aber: die doppelte Bestimmung von Humanität durch »(geistige) Entrohung« (eruditio) und durch »(tätige) Barmherzigkeit« (philanthropia), der Kern des Humanismus, ist in der italienischen Renaissance von Beginn an wirksam. 2. Der Ausbau der »Humanitätsstudien«, der langsame Aufstieg der Artistenfakultät zu einer Hohen philosophischen Fakultät ist ein Höhepunkt, ein terminologischer Fixpunkt, aber keineswegs der Anfang der humanistischen Bewegung in Italien (ca. 1300-1600). Der Aufstieg der italienischen Städte und Staaten, der Rückgang feudaler, der Erfolg der bürgerlichen Wirtschaftsformen, republikanischer und popularer Verfassungen in den Städten beginnt vor und unabhängig von dieser Bewegung. Francesco Petrarca (1304-1374) gilt als ihr erster Vertreter. Er hat Jurisprudenz studiert, steht zeitweise im Dienste des Kardinals Giovanni Colonna, reist im Auftrag der Visconti (Mailand) zu Kaiser Karl IV. nach Prag (1336). Petrarca erlernt die griechische Sprache bei Barlaam, einem Mönch aus Kalabrien, der lange in Konstantinopel gelebt hatte. Das Kapitol in Rom ist die Bühne für die Krönung des Dichters mit Lorbeer (poeta laureatus, 1341). Hier werden die antiken »Kapitolinischen Spiele« erneuert, ein kulturpolitisches Signal für ganz Europa gesetzt. Petrarca erhält nach antikem Brauch den Lorbeerkranz und das römische Bürgerrecht. Die antiken Ruinen der Ewigen Stadt werden ihm Zeichen einer Hoffnung, die weit über die Verbesserung des lateinischen Stils, die Bereicherung der italienischen Literatur, die weitere Erforschung von Ciceros Reden und Briefen hinausgeht. Er schreibt an Cola di Rienzo, der 1347 vom Volk der Stadt Rom zum Tribunen bestimmt worden war:9

8

Coluccio Salutati an Carlo Malatesta, 10. September 1401 (Epistel 12,18, in: Epistolario III, S. 534-536).

9

Petrarca an Cola di Rienzo, Epistolae variae 48; vgl. ders., Epistolae familiares 11,16,1 (Verteidigung Colas).

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»Brutus hat die Stadt von einem einzigen Tyrannen befreit, Du von vielen. Camillus ließ die Stadt aus noch vorhandenen, ja noch rauchenden Ruinen wieder neu erstehen, Du aus längst verfallenen Ruinen«.

Die neue Freiheit gründet auf der langen Abwesenheit von Kaiser und Papst, aber auch auf antiken Traditionen und Reliquien, wie jener Inschrift, die Cola di Rienzo im Lateran (Rom) auffand und als gutes altes Recht des römischen Reiches in der Lateran-Basilika veröffentlichte. Das »Gesetz über die Herrschaft Vespasians« aus der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zeigt der erstaunten Bevölkerung Roms die Majestät des römischen Volkes und die Macht des Senats, Kaiser zu bestätigen und sie durch Gesetze zu bändigen.10 Die alte römische Geschichte – Brutus, Camillus, Vespasian – lehrt neue Möglichkeiten der Politik: die Einigung des zerrissenen Italien. Petrarca schreibt an Cola di Rienzo: »Sei gegrüßt, Gründer der Freiheit, des Friedens, der Ruhe Roms«. Cola ist »der Prophet der lateinischen Renaissance« (F. Gregorovius).11 3. Der poetische und politische Einsatz der italienischen Renaissance, die Dichterkrönung Petrarcas (1341) und das Tribunat des Cola di Rienzo (1347), verbindet sich nicht zufällig mit der Stadt Rom. Deren monumentale Hinterlassenschaft war auch im 14. Jahrhundert noch enorm: überall antike Säulen, die ruinierten Aquädukte, das Straßensystem, die riesigen Thermen des Diocletian und des Caracalla, die aurelianische Mauer, die langen Gräberstraßen vor den Toren der Stadt. Ein späterer Besucher schreibt:12 » [...] an diesen Ort (sc. Rom) knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat«.

10 Die Inschrift ist publiziert: CIL VI 930; ILS 244; M. McCrum/A.G. Woodhead, Documents of the Principates of the Flavian Emperors (A.D. 68-96), Cambridge 1966, Nr. 1. 11 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859/ 1860), Darmstadt 1953/1957 (= dtv 1978), II 2, S. 744. 12 Goethe, Italienische Reise, 3. Dec. 1786, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Zürich 1977 (= 1950), Bd. 11, S. 160; vgl. S. 167; S. 179.

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Aber nicht nur in Rom und nicht erst im 14. Jahrhundert verdichtet sich die Rezeption antiker Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Geschichte, Poesie zu einer Wiedergeburt. Schon im 12. Jahrhundert hatte man die Vorstellung einer natürlichen Gotteserkenntnis und Moral entwickelt, hatte Plato, Cicero und Seneca als Künder von Vernunft, Natur und Tugend aus natürlicher Sittlichkeit vertreten (Abaelard, Johann von Salisbury, Wilhelm von Conches). Der Philosoph erscheint wieder und vertritt in dem Religionsgespräch mit Juden und Christianern eine eigene Stellung.13 Johann von Salisbury (ca. 1120-1180) überliefert einen Spruch Bernhards von Chartres (um 1126):14 Pigmei gigantum umeris impositi plus quam ipsi gigantes vident. Zwerge, auf die Schultern von Giganten gesetzt, sehen mehr als die Giganten selbst.

Der Spruch verbindet kurz und treffend das Selbstbewußtsein des Jahrhunderts mit der Achtung vor der Leistung Früherer, den Glauben an den Fortschritt (plus) mit der Notwendigkeit von Tradition (»auf die Schultern«). §4.2 Byzanz und der slawische Kulturraum 1. Byzanz, eine alte griechische Stadt an den Dardanellen, wird im vierten Jahrhundert Konstantinopel, das »Neue Rom«, das »Zweite Rom«.15 Die Stadt Konstantins, gegründet 330 n.Chr., gewinnt für den Ostteil des imperium eine ähnliche Bedeutung wie das Alte Rom für den Westen. Antike Traditionen werden von hier aus über das christliche Syrien an Perser, Araber und schließlich in die osmanisch-islami-

13 Abaelard (1079-1142), Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen. Lateinisch-deutsche Ausgabe: Peter Abailard. Hg. u. übertr. von Hans-Wolfgang Krautz, Darmstadt 1995. 14 Joh. v. Salisbury, Metalogicon 3,4 (900 C), (hg. C.C.J. Webb, Oxford 1929, S. 136). Vgl. R.K. Merton, Auf den Schultern von Riesen (1965), Frankfurt am Main 1983. 15 Themistios, Rede III; Rede XII. Vgl. Hildegard Schaeder, Moskau, das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, Darmstadt 21957 (Diss. Hamburg 1927; Erstdruck Prag 1929).

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sche Kulturregion vermittelt. Auf dem Balkan werden durch byzantinische Politik und Kultur Bulgaren und Slawen akkulturiert und christianisiert. Ihre glagolitische und kyrillische Schrift ist aus der griechischen entwickelt. Nach der Einnahme Konstantinopels durch Mohammed II. (1453) waren die Titel, die imperiale und kulturelle Idee ›Rom‹ wieder verfügbar. Auf das »Alte« und das »Zweite« folgt jetzt Moskau, das »Dritte Rom«. In den drei Sendschreiben des Philotheos von Pleskau (Filofei von Pskow, Rußland) an die russischen Großfürsten Michael G. Misjurʼ Munechim (gest. 1528), Vasilij III. (15031533), Ivan IV. (1533-1574) wird die Theologie und Ideologie des »Dritten« Rom entwickelt:16 »Denn zwei Rom sind gefallen, aber das Dritte steht, und ein Viertes wird es nicht geben«. Römische und christliche Tradition werden synthetisiert: »Das römische Reich ist unzerstörbar, denn der Herr (Christus) ist unter römischer Herrschaft registriert worden«. Das Dritte Rom – »das ist das Neue Große Rußland«. 2. Das hellenische Bildungssystem bleibt im byzantinischen Reich, ebenso wie im Westen, auch nach der Christianisierung von Herrscherhaus und Bevölkerung bestehen. Staatsdiener brauchen Allgemeinbildung (griech. enkyklios paideía, lat. studia liberalia). Denn »Literaturkenntnis«, so die Kaiser Konstantius und Julian, »ist die größte aller Tugenden«; wer sich hier auszeichnet, wird befördert.17 In Byzanz bleibt antike Literatur in großer Menge und Qualität erhalten. Der Diplomat, Kirchenfürst und Gelehrte Photios dokumentiert in seiner ›Bibliotheca‹ (abgefaßt um 845) die ihm erreichbare griechische Literatur.18 Er beschreibt und exzerpiert 239 christliche und jüdische Werke, 147 hellenische, darunter vielbändige Historiker wie Diodorus Siculus und Cassius Dio. 110 Werke, die Photios noch las, sind inzwischen vollständig verloren. Nicht in die ›Bibliotheca‹ aufgenommen sind, da allgemein bekannt, Schultexte und Standardliteratur: Homer, Hesiod, die drei Tragiker, Aristophanes, Pindar, Theognis; Thukydides und Xenophon, Plato und Aristoteles, Euklid und die Bibel. Diese Negativliste zeigt das ungewöhnliche Bildungsniveau der

16 Texte in deutscher Übersetzung bei H. Schaeder, a. a. O. 17 Vgl. Codex Theodosianus 14,1,1 (24. Feb. 357 [360]). 18 Warren T. Treadgold, The Nature of the ›Biblioteca‹ of Photius, Dumbarton Oaks 1980.

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byzantinischen Oberschicht. Deshalb ist es verständlich, daß Photios als ›Humanist‹ und seine Epoche als ›Makedonische Renaissance‹ (9.11. Jh.) bezeichnet werden. Die zeitliche Begrenzung ist jedoch unklar; Kriterien wie ›Autonomie des Individuums, Öffnung des christlich-mittelalterlichen Weltbildes, schöpferischer Aufbruch der Künste und Wissenschaften, neue Lebensformen‹ sind schwer zu erfassen. Ähnliches gilt für die »Proto-Renaissance« (11.-13. Jh.), die sogenannte Renaissance unter den Komnenen (11.-12. Jh.) und Palaiologen (13.-15. Jh.). Ohne eine präzise Typologie und Phänomenologie von ›Renaissance‹ ist über die Übertragbarkeit des Begriffs nicht zu entscheiden. Die Unterschiede zu der sozialen, politischen, kulturellen Entwicklung im Westen sind jedenfalls offenkundig, gerade weil der Westen den byzantinischen Gelehrten, Lehrern und Kopisten so viel zu verdanken hat. §4.3 Der arabisch-islamische Kulturraum 1. Syrien (mit Libanon, Palästina/Judäa), die Reiche der Arsakiden und Sasaniden in Mesopotamien (Iraq) und Iran sowie das westliche Zentralarabien waren seit Alexander und seinen Nachfolgern (Seleukiden und Ptolemäern) Teil oder Einflußgebiet der hellenistischen Kultur.19 Durch die Eroberungen seit dem Tode Mohammeds (632) fielen diese und weitere teilweise stark hellenisierte Regionen unter arabische Herrschaft. In diesem arabisch-islamischen Kulturraum entstand eine umfangreiche griechisch-syrisch-persisch-arabische Übersetzungsliteratur, deren Wirkung und Bedeutung allerdings umstritten ist. Die wichtigsten Autoren der »Wissenschaft der Alten« (Griechen) sind der arabischen Welt bekannt: Aflatun, Aristutalis, Arsimidis, Batlamyus, Buqrat, Galinus, Suqrat, Uqlidis.20 Während Wissenschaften, vor allem Medizin, und Philosophie, vornehmlich Aristoteles, übersetzt und bearbeitet wurden, fehlt die schöne Literatur, die große griechische Epik, Lyrik, Dramatik. Die arabische Rezeption unterscheidet sich dadurch deutlich von der römischen, die mit der Übernahme von Kunst und Mythos, Schrift und Recht, Homer und Theater beginnt.

19 Arsakiden (427 v.Chr. – 226 n.Chr.); mit Ardeschir I. (226-241) beginnt das Reich der Sasaniden (bis 651). 20 Platon, Aristoteles, Archimedes, Ptolemaios, Hippokrates, Galenos, Sokrates, Euklid.

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Die römische Kultur wurde zweisprachig. Die arabischen Bildungsschichten haben nicht das Bedürfnis, »zu den Quellen« (ad fontes) selbst zu gehen. Sie geben sich mit dem zufrieden, was ihnen Übersetzer, Philologen, Organisatoren wie Hunain ibn Ishaq (803-873) geschaffen haben.21 Hunain und seine Schule bilden durch ihre Übersetzungen die wissenschaftliche arabische Terminologie – eine ebenso nachhaltige wie unauffällige Nationalisierung (Arabisierung) der griechischen Tradition. Obschon die schöne (hohe) Literatur und die Mythen der Griechen nicht übernommen wurden, ist die Poetik des Aristoteles, als Teil des »Organon« und »logische« Schrift übersetzt worden. Ibn Sina (Avicenna; gest. 1027) und Ibn Rusd (Averroes; gest. 1198) haben sie bearbeitet und über die Bedeutung von »Vorstellungsvermögen« und »Nachahmung« (Mimesis) spekuliert. Hazim alQartaganni (gest. 1256) hat diese griechisch-arabische Tradition zur Grundlage seiner arabischen Poetik gemacht. Nur wenige dem arabisch-islamischen Kulturraum bekannte Autoren der jumatrija, asturnumija, falsafa/al-falasifah seien genannt: Euklid, Heron, Nikomachos, Archimedes, Arat, Dorotheos; Ptolemaios; Aristoteles (Analytica, Ethik, Metaphysik), Alexander von Aphrodisias, Polemon (Physiognomik), Porphyrios (Geschichte der Philosophie), Plotin, Proklos, Pseudo-Menander (Weisheitssprüche), PseudoPlutarch (»Lehren der Philosophen«), Pythagoras (»Goldene Worte«), Theophrast. Die gesamte medizinische Literatur der Griechen wird den Arabern bekannt: Galen (übersetzt von Hunain ibn Ishaq) und Hippokrates, Dioskurides (»Über Heilpflanzen«), Johannes Philoponos (»Über die Geschichte der Medizin«). Auch der »Eid des Hippokrates«, die Grundlage von Ethik und Humanismus der Ärzte, wurde übersetzt:22 »Ich schwöre bei Gott, dem Herrn des Lebens und des Todes, [...] und ich schwöre bei Asklepios [...]«.

21 Gotthelf Bergsträsser, Hunain ibn Ishaq und seine Schule, Leiden 1913. 22 Ibn Abi Usaibiah, Ujun al-anba (Geschichte der Medizin) I, S. 25-26. – Franz Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich/Stuttgart 1965, S. 250f.

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Die Verantwortungsethik, die Wissenschaftlichkeit, die Diskretion, der Primat des Patientenwohles sind hier festgeschrieben, Abtreibung und Euthanasie verboten. 2. Die Wirkung und Bedeutung dieser Rezeption griechischer Wissenschaft und Philosophie für den arabisch-islamischen Kulturraum ist umstritten. Die Suche nach dem »antiken Erbe« in den neuzeitlichen Kulturen Europas wird jedenfalls die Eigentradition und die Innovationen dieser Kulturen (Nationen, Ethnien) nicht übersehen. Das idealtypische Konstrukt aus besonderer Lebensform und Menschenbild, von Mitmenschlichkeit und Berufsethik der Lehrer, Schreiber, Beamten, Richter, Ärzte, Gelehrten, das im Westen ›Humanismus‹ genannt wird, läßt sich ja auch kulturspezifisch denken. So kann man beispielsweise von »salomonischem« oder »konfuzianischem« Humanismus sprechen. Nach Hans-Heinrich Schaeder (1896-1957) ist die Rezeption griechischer Kultur im Orient ›unfruchtbar‹ geblieben, eine wirkliche »Renaissance«, ein »dauerhafter Humanismus« sei nicht entstanden.23 Nach Franz Rosenthal (1914-2003), einem Schüler Schaeders, steht die Antike-Rezeption im Kalifenreich des 8.-10. Jahrhunderts »dem Geist und Wesen der europäischen Renaissance von all den Bewegungen, auf die man den Ausdruck ›Renaissance‹ in den letzten Jahrzehnten modisch angewandt hat, bei weitem am nächsten«; die »Renaissance des Islam« durch das griechische Erbe sei unübersehbar.24 Eine Entscheidung zwischen diesen gegensätzlichen Meinungen wird vermeiden, wer nicht Fachmann ist. Deshalb möge die Feststellung eines arabischen Philosophiehistorikers und die Fatwa eines Rechtgelehrten diese Problemskizze beschließen.25 Said al Andalusi (1029-1070) schreibt: »Die griechischen Philosophen gehören zur

23 Hans Heinrich Schaeder, »Der Orient und das griechische Erbe (1928)«, in: ders., Der Mensch in Orient und Okzident. Grundzüge einer eurasiatischen Geschichte, München 1960, S. 107-160. 24 Rosenthal 1965, bes. S. 28. – Vgl. Adam Mez, Renaissance des Islam, Heidelberg 1922; Joel L. Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, Leiden 21992; ders., Philosophy in the Renaissance of Islam, Leiden 1986. 25 a) Said al-Andalusi (1029-1070), Tabaqat al-umam 22-26 (bei Rosenthal 1965, 61). b) as-Subki (1284-1355), Taqi-ad-din: Fatawi as Subki, Kairo 1355-1356, II, 644f. (bei Rosenthal 1965, 116).

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höchsten Menschenklasse und zu den größten Gelehrten«. Und asSubki (1284-1355) entscheidet: »Jemand, der behauptet, daß die Logik unislamisch oder verboten sei, ist ein Dummkopf«.

§5 H UMANITÄT §5.1 Menschlichkeit 1. Das 18. Jahrhundert vollzieht eine zweite »Kopernikanische Wende«, die Wende zur »Anthropologie« (J.G. Herder, 1765). Das alte Orakel aus Delphi: »Erkenne dich selbst« (lat. nosce te ipsum) wird aktualisiert:26 »Know then thyself, presume not God to scan; The proper study of mankind is Man«.

In den europäischen Sprachen verbreitet sich mit Deismus, Freimaurerei und Aufklärung das positiv und emphatisch gebrauchte Wort humanity, humanité, Humanität, gummanostj, auch in den Volkssprachen: Menschlichkeit, lidskost, tschellawjatschnostj. Die gemeinsame Herkunft aus dem lateinischen humanitas und die fortdauernde Beziehung auf die klassischen Texte, vor allem Cicero, haben zur Folge, daß die Bedeutung in den verschiedenen europäischen Sprachen sehr ähnlich ist: (a) Wesen des Menschen (das Menschsein), (b) Menschheit (Menschengeschlecht), (c) Menschlichkeit (Sympathie, Verständnis, Barmherzigkeit, humanitäre Hilfe). In Frankreich wird humanité zu einem zentralen Begriff aufgeklärter Ethik. In der »Encyclopédie« ist definiert:27 »Humanité [...] c’est un sentiment de bienveillance pour tous les hommes, qui ne s’enflamme guère que dans une âme grande & sensible. Ce noble & sublime enthousiasme se tourmente des peines des autres & du besoin de les soulager, il voudroit parcourir l’univers pour abolir l’esclavage, la superstition, le vice & le malheur«.

26 Alexander Pope, Essay on Man (1733), II, 1-2. 27 Artikel »Humanité« (Mallet), in: Diderot/DʼAlembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Paris 17511780), Bd. 8, 1765, S. 438.

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2. Johann Gottfried Herder (1744-1803) hat, gegen deutliche Vorbehalte, das französische Lehnwort in Deutschland beheimatet und begrifflich bestimmt. Im 27. seiner »Briefe zur Beförderung der Humanität« (1792) schreibt Herder: »Sie fürchten, daß man dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde; könnten wir nicht das Wort ändern? Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe?«

Diese Befürchtungen werden in dem Brief zerstreut, und Herder schließt: »Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden«.

Die Rede von Humanität meint bei Herder die Idee von der Gleichheit und Würde der Menschen, ihrer Teilhabe an Vernunft und natürlichen Rechten, meint aber auch die Tatsache, daß weder Gleichheit noch Menschenrechte verwirklicht sind: »Das Menschengeschlecht«, sagt Herder, »wie es jetzt ist und wahrscheinlich noch lange sein wird, hat seinem größten Teil nach keine Würde. [...]« Es soll aber zum »Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden«. Die »Alten«, auf die Herder sich bezieht, sind vor allem Epiktet und Mark Aurel, Lukrez und Homer. Sie haben ihm zu seiner Bestimmung von »Humanität« folgende Elemente beigetragen: a) die Ausdrücke ›Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrecht, Menschenwürde, Menschenliebe‹; b) die Vorstellung, der Mensch sei unfertig, deshalb fortschrittsfähig und könne sich »den Charakter unseres Geschlechts anbilden«; (c) hierzu gehört weiterhin eine erhebliche Blütenlese aus antiken Autoren sowie (d) eine eigene Abteilung über die griechische Kunst, die sich Herder als »Schule der Humanität« deutet. §5.2 humanitas – »Entrohung und Barmherzigkeit« 1. Die Einheitlichkeit des Wortfeldes ›Humanität‹ in den europäischen Sprachen ist begründet im antiken Sprachgebrauch. Das lateinische

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Wort humanitas ist zuerst in der öffentlichen Rede am Anfang des 1. Jahrhunderts v.Chr. belegt.28 In der klassischen Literatur (Cicero, Seneca, Plinius) hat es folgende Bedeutungen: a) das Menschsein des Menschen (condicio humana), seine Sterblichkeit im Gegensatz zu den unsterblichen Göttern und seine Schwäche im Gegensatz zum (wilden, grausamen) Tier; der Mensch ist ausgezeichnet durch Vernunft (ratio), aber unfertig, wenn er auf die Welt kommt; b) die Menschheit, das Menschengeschlecht (genus humanum); c) die Menschlichkeit im Fühlen und Handeln: mitleidig, hilfsbereit, tolerant, taktvoll, geschickt im menschlichen Umgang, urban, mit Anstand und Witz. Diese Zuschreibungen sind universal, gelten für alle, Männer und Frauen. Seine Unfertigkeit und Schwäche zwingen den Menschen zum andauernden, lebenslangen Lernen, zur Vergesellschaftung (Sociabilität in Familie, Staat, Kosmopolis) und wechselseitiger Hilfe (mutuum auxilium). »Entrohung« und »Barmherzigkeit«, oder in neuerem Deutsch: »Bildung« und »humanitäre Praxis« sind die beiden, notwendig zusammengehörenden Bestimmungsstücke römischer humanitas und, dementsprechend, europäischer Humanität.29 2. Römische humanitas verbindet universal gültige Argumente philosophischer Anthropologie und Ethik mit gesellschaftlichen Standards der städtischen römischen Oberschicht. Die klassischen Zitate für diese Verbindung bietet Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.). Die Gestalt dieses wohlhabenden, hochgebildeten Anwalts, Politikers, Redners und Philosophen ist gut kenntlich. Sein umfangreiches und vielseitiges Lebenswerk in Briefen, Reden, Redelehre, philosophischen Dialogen und Traktaten machte ihn zum Sprachmuster und zu einer vielbenutzten Quelle für die westeuropäischen Humanisten. Bei Cicero fanden sie den frühesten Beleg für den Ausdruck »Menschenwürde« (dignitas hominis).30 Die deutsche Übersetzung Ciceros bietet deshalb den ersten Beleg für das Wort »Menschenwürde« in deutscher Sprache (J. Neuber, 1488). Sie fanden ein anschauliches Modell für den Aufbau der menschlichen ›Person‹

28 Auctor ad Herennium (ca. 84 v.Chr.) 2,16,23f.; 2,17,26; 2,31,50; 4,8,12; 4 (5), 16,23. – M. Tullius Cicero, Pro Sextio Roscio Amerino (80 v.Chr.), 154 (Schluß). 29 Vgl. Gellius, Noctes Atticae 13,17. 30 Cicero, de officiis (44 v.Chr.) 1,30, 106.

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aus universellen und individuellen »Masken« (lat. personae): die Maske Vernunft, die Proprietät (Singularität), Geschichtlichkeit, Wille. Cicero bot ihnen einen Überblick über die philosophischen Systeme der Griechen, in guter Sprache und konzentriert auf Ethik und Religion, Recht und Politik. Aus dem Naturrecht ließen sich die Menschenrechte entwickeln – »von Natur aus frei« –, aus der Allgemeinheit des Vernunftrechts das Weltbürgerrecht der Kosmopoliten.31 Ciceros Dialoge und Briefe boten Modelle für urbane Gesprächskultur – Villa mit Park und Bibliothek, für Kreisbildung (sog. Scipionenkreis) und eine Theorie der Freundschaft. Cicero war für die stadtrömischen Altpatrizier ein Aufsteiger (homo novus), der mit Bildung überkompensierte; ein Übersetzer und Vermittler griechischer Kultur mit volkserzieherischem Engagement; ein öffentlicher Mensch, der die vita civilis (activa) mit der contemplativa zu verbinden wußte. Cicero konstituiert die Rhetorik als Universalbildung. Er verlangt umfassendes Wissen von sehr vielen Dingen, vollkommene Sprachbildung, psychologische, literarische, philosophische, historische Kenntnisse, Fachwissen in Jurisprudenz und Übung im öffentlichen Auftritt (actio):32 das ist ein europäisches Bildungsprogramm. Seine religionsphilosophischen Schriften belehren über atomistische und pantheistische Theologie, milde Skepsis (Cicero) und einen staatstragenden konservativen Fideismus (Aurelius Cotta, Oberpontifex).33 Cicero formuliert die humanistische Begründung jeder humanitären Praxis:34 Natura praescribit, ut homo homini, quicumque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit. »Die Natur schreibt vor, daß der Mensch für den Menschen, wer immer es sei, gesorgt haben wolle, allein aus dem Grunde, weil der ein Mensch ist«.

§5.3 Philanthropie Die auf natürliche ›Menschenliebe‹ und ›Barmherzigkeit‹ begründete humanitäre Hilfe (›Mildtätigkeit‹, clementia) ist notwendiger Teil von

31 Cicero, de legibus (ca. 54-51 v.Chr.) 1,14,40; 1,15,43; 2,1,2. 32 Cicero, de oratore (verf. 55 v.Chr.), bes. 1,5,17-18 (Definition der Rhetorik). 33 Cicero, de natura deorum (44 v.Chr.). 34 Cicero, de officiis (44 v.Chr.) 3,6,27.

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Humanität. Dementsprechend verbreitet sich im 18. Jahrhundert mit dem Wort und Begriff ›Humanität‹ in den europäischen Sprachen auch das griechische Wort phil-anthrop-ía – ›Menschenliebe‹. Hohe Mythologie, einige Bibelstellen und tiefe Veränderungen im Verständnis von Armut, Bettel, Almosen in der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit beförderten eine neue Sprache des Euergetismus (griech. ›GutesWirken-Wollen‹).35 Immerhin war Prometheus, der die Menschen geformt und für sie das Feuer vom Himmel geraubt hatte, der erste ›Philanthrop‹ (Aischylos, Prometheus). Armut – im Unterschied zu ›Einfachheit‹, ›Schlichtheit‹ – ist in der griechisch-römischen Antike kein persönlicher religiöser Wert und kein gottgegebener Zustand. Den Humanisten und Philanthropen ist sie ein oft selbstverschuldeter Mißstand und kann, so hoffen sie, durch Erziehung und Disziplinierung beseitigt werden. Ein Weg führt über die Entklerikalisierung und Modernisierung der Schule. Die Gründung des »Philanthropin« in Dessau (1774) durch Johann Bernhard Basedow etabliert eine »moderne Pädagogik« – berufsbezogen, praxisnah, bürgerlich. Er fordert die Staatsaufsicht über das Bildungswesen, gründet Seminare für Lehrer, die nicht mehr Hofmeister oder Kleriker sind.36 Die Erfolge von Basedow, Joachim H. Campe, Christian G. Salzmann provozieren ein pädagogisches Kontrastprogramm: Friedrich Immanuel Niethammer benennt es mit einem damals neuen Wort – ›Humanismus‹.

§6 H UMANISMUS §6.1 Die pädagogische und die politische Bestimmung des Begriffs 1. Der Begriff ›Humanismus‹ wurde geprägt von dem Philosophen und Bildungspolitiker Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848). Dieser bezeichnet damit das von ihm reformierte traditionelle »Studium

35 Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Stuttgart/Berlin 1980. 36 Johann Bernhard Basedow, Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt (1768), Leipzig 1893 (Neudrucke pädagogischer Schriften 14).

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der Humaniora« an den höheren Schulen (§4.1.1). Der Titel seiner Programmschrift lautet:37 »Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit« (1808). Der pädagogische Begriff Humanismus ist die reflektierte Antithese zu der »modernen Pädagogik« der Philanthropen. Dieser Humanismus will nicht die schnelle, praxisnahe Vorbereitung des Zöglings auf Beruf oder Fachstudium, die Einpassung des Kindes in »das Maschinenwesen« der Zeit. Niethammers Humanismus will die allgemeine Bildung, die Bildung des ganzen Menschen (S. 276), von Vernunft und Humanität, »Menschenbildung« (S. 183): »die Bildung des Menschen als Menschen, abgesehen von aller Verschiedenheit individueller Beschaffenheit [...], oder die Bildung der Menschheit im Individuum«.

Die Unterrichtsgegenstände müssen »classische Form« haben; »wahre Classicität in allen Arten der Darstellung des Wahren, Guten und Schönen in ihrer größten Vollendung (wird) aber nur bei den classischen Nationen des Alterthums angetroffen« (S. 81). Niethammer zielt auf einen neuen »Stand der Gebildeten« aus allen Classen und Ständen, allerdings ohne die Frauen. Der moderne Staat braucht »gebildete« Staatsdiener, Wissenschaftler, Künstler. Das humanistische Gymnasium war, obschon bewußt »unmodern«, zunächst erfolgreich, wider Erwarten und gegen den wachsenden Widerstand der Vertreter mathematischer, naturwissenschaftlicher, technischer Fächer und der Gegner der elitären bürgerlichen Standesschulen, die mit ihrem Abiturprivileg Staatsdiener und die Geistesaristokratie des Bildungsbürgertums heranzogen. 2. Karl Marx (1818-1883) war ein Absolvent dieses humanistischen Gynmnasiums (Trier, 1830-35). Hier lernte er seine Maxime: nihil humani a me alienum puto; später las er seinen Kindern Homer vor und für sich jährlich die Tragödien des Aischylos. An einigen Stellen seiner Frühschriften (ca. 1843-1848) benutzt er den Ausdruck ›Humanismus‹. Er hat ihn von seiner pädagogischen und antikischen Bindung gelöst, seine humanitäre Energie radikalisiert, anthropologisch und ge-

37 Neuausgabe von Werner Hillebrecht, Weinheim 1968 (Kleine pädagogische Texte 29).

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sellschaftlich gefaßt, zu einem politischen Programm konkretisiert und modernisiert. Er nennt ihn »realen Humanismus«, um die Antithese gegen »Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus« zu betonen, »der an die Stelle des wirklichen, individuellen Menschen das ›Selbstbewußtsein‹ oder den ›Geist‹ setzt«.38 Das reale Individuum aber existiert in konkreten, oft destruktiven Umständen als »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlorenes, ein verächtliches Wesen«: Deshalb »muß man die Umstände menschlich bilden«.39 Die Umstände sind die arbeitsteilige Industriegesellschaft, der entwickelte Kapitalismus, die Ausbeutung des vierten Standes. Das Ziel aber ist »die wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen«, der »menschliche Mensch«.40 Marx hat den Begriff in seinen späteren Schriften nicht mehr verwandt, seinen Gebrauch bei Arnold Ruge (1803-1880) als »Phrase« angeprangert.41 Er hat den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit von der Kritik der idealistischen Philosophie verlagert auf Ökonomie, Geschichte, Technik. Aus dieser Verlagerung der Aufgabe ist nicht auf eine ›antihumanistische Wende‹ bei Marx zu schließen. Die Erforschung des Menschen in seiner »Entfremdung«, deren Entstehung und die Möglichkeit, sie aufzuheben, blieben Zentrum seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit. §6.2 Humanismus mit Adjektiv 1. Der Ausdruck ›Humanismus‹ war in Deutschland erfolgreich. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt neben den idealen, pädagogischen, realen der Epochenname ›Humanismus‹. Die Literaturwissenschaftler Karl Hagen (1841/44) und Georg Voigt (1827-91) bezeichnen damit die Anfänge der italienischen Renaissance. Voigts Titel ist plakativ: »Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder Das erste Jahr-

38 Friedrich Engels/Karl Marx, »Die heilige Familie (Paris/Brüssel 1844/ 1845)«, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 2, 7, Berlin 1959. 39 Ebd. 138f.; Siegfried Landshut (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 1964. 40 Karl Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844)«, in: MEW, 1968, Erg.-Bd., 1. Teil, S. 536 = Landshut (Hg.), 1964, S. 235. 41 Marx/Engels 1960: »Die großen Männer des Exils (Manchester 1852)«, in: MEW 8, S. 279.

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hundert des Humanismus« (1859).42 Der Titel vermeidet den von Jules Michelet eingeführten Epochennamen »la renaissance« (1855).43 Der Ausdruck ›Humanismus‹ ist offenbar selbstverständlich: Voigt glaubt, ihn nicht rechtfertigen zu müssen. Die neue Epoche nach dem »Zeitalter der Finsternis« (Petrarca) beginnt mit Petrarca (1304-1374) und schließt mit der Ausbreitung »des Humanismus« in den Republiken und Höfen Italiens um 1500. Mit ›Humanismus‹ meint Voigt das antike »Vermächtnis«, das in Italien wieder belebt werde, die Befreiung des Individuums, die Stärkung der Position der Laien gegen die Übermacht der Kirche. Voigts Konzeption ist literaturgeschichtlich – wenig Kunst, keine Ökonomie (vgl. §4.1). Aber das Buch war erfolgreich, auch außerhalb Deutschlands, es hat den jungen ›Ismus‹ internationalisiert. Die Vervielfachung der Humanismen jedoch erforderte nun Unterscheidung durch Adjektive und Zahlen. Friedrich Paulsen (1846-1908), Professor für Philosophie und Pädagogik in Berlin, war ein realistischer Kritiker des humanistischen Gymnasiums: zu wenig »national« sei es und nicht »modern«.44 In seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts hat er die beiden Humanismen als »Althumanismus« (15.-17. Jahrhundert) und »Neuhumanismus« (ab 1740) unterschieden. Diese Benennung zwang die Nachgeborenen, wenn sie ihrerseits einen neuen Humanismus propagieren wollten, zur Nummerierung. Eduard Spranger (1887-1963) ließ dem alten Ersten und neuen Zweiten einen »Dritten Humanismus« folgen (1921), einen, der modern und klassisch war, der das Irrationale, Dionysische, Politische der griechischen Geistesform besser als Goethe,

42 Die zweite, wesentlich erweiterte Auflage erschien in Leipzig 1880, die dritte, von Max Lehnardt bearbeitet, 1890; italienische Übersetzung: Firenze 1888; französische: Paris 1894. 43 Jules Michelet, Histoire de France, Bd. 7, Paris 1855; vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Frankfurt am Main 1989. 44 Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Berlin (1844; 21895) 3., erweiterte Auflage, hg. v. Rudolf Lehmann, Leipzig 1919-1921.

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Friedrich August Wolf, Wilhelm von Humboldt zu verstehen vermochte.45 Der zeitgleiche Aufstieg des »Dritten Reiches« brachte den Humanismus von Spranger und Werner Jaeger (1888-1961) mit seinem »Nähegefühl rassischer Verwandtschaft« (Jaeger) zwischen Griechen und Deutschen und seinem »wesentlich« politischen Verständnis von Humanität in unklare Verhältnisse.46 2. Die allmähliche Lösung des Begriffs »Humanismus« von seinem pädagogischen Ursprung, von Antike und Klassik macht ihn frei für vielerlei Kombinationen. Eine kleine Auswahl: abendländischer Humanismus, atheistischer, christlicher, dialektischer, ethischer, evolutionärer, existentialistischer, hebräischer, klassischer, kritischer, sozialistischer, weltlicher. Die Verbindungen von philosophischer Anthropologie oder Theologie oder Ideologie mit ›Humanismus‹ erbringen sehr verschiedene Ergebnisse: harmonische Synthesen; bloße Vereinnahmung und Neutralisierung einer erfolgreichen Marke; anspruchsvolle Entwicklung einer respektierten Tradition. Dementsprechend haben Humanismuskritik und strikter Antihumanismus mannigfache Ansatzpunkte: das humanistische Menschenbild; die unaufhebbare Spannung zwischen geschichtlicher Realität und dem normativen Anspruch einer alten Tradition; pädagogisches Programm und (Miß-)Erfolg des humanistischen Gymnasiums; die Vergeblichkeit humanitärer Bemühungen im Zeichen von offener struktureller Gewalt, religiöser Intoleranz, der »Mächte des Bösen«, der geglaubten Sachzwänge der Märkte und Monopole. Das Vertrauen auf das Gute im Menschen, das Utopische und Arkadische im Horizont von Welt und Geschichte, das Versprechen von Schönheit und Glück, von freiem, reichem, vollkommenem Leben, die Pflege der Persönlichkeit – all dies kollidiert mit der

45 Eduard Spranger, »Aufruf an die Philologie (1921)«, in: ders., Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, Leipzig 1922, S. 5-13. Die Rede ist Werner Jaeger (1888-1961) gewidmet, der im März 1921 Nachfolger von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff geworden war. 46 Werner Jaeger (mit Vorwort von 1935), Paideia. Die Formung des griechischen Menschen (1933/34; 21936), Berlin 41959, Bd. 1, S. 4; 9; 16; vgl. ders. (Hg.), Das Problem des Klassischen und die Antike (1933), Darmstadt 1951.

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harten Wirklichkeit von massenhafter Notdurft, dem Kampf um Wasser und billige Medizin, um Reis und ein bißchen Sicherheit. §6.3 Theorie und Praxis 1. Humanismus, das zeigt auch die Liste der Bindestrich-Humanismen, ist keine Philosophie, kein geschlossenes, nur mit sich selbst kompatibles System aus Anthropologie und Ethik, sondern die Lehre, »eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen«.47 Humanismus ist keine Religion, auch keine Ersatzreligion. Humanismus ist zunächst ein pädagogisches Programm und Teil europäischer Antikerezeption. Humanismus ist einerseits eine Bildungs- und Kulturbewegung, die eng mit den »freien Künsten«, den Geistes-, Kultur-, Human-, Geschichtswissenschaften (studia humaniora; humanities) verbunden ist, andererseits die Grundlage humanitärer Praxis. Die wichtigsten Trägerschichten waren/sind männliche und weibliche Lehrer (Pädagogen, Erzieher), Ärzte, Juristen (Richter, Notare, Verwalter), Gelehrte, Künstler, Intelligentsia. Humanismus ist eine immer umstrittene Tradition, ein andauernder Diskurs aus Texten und Bildern mit historischen Paradigmen (Athen, Sparta, Rom, Byzanz), Philosophemen (Natur, Vernunft, Freiheit) und der Erklärung der Menschenrechte, mit symbolischen Orten (Troia, Olympia, Kythera, Florenz, Wörlitz), mit Martyrern und Bekennern (Sokrates und Seneca, Erasmus und Thomas Morus), mit mythischen Bildern (Helena und Medea, Antigone und Medusa), spezieller Architektur (Parthenon in Athen, Pantheon in Rom, Brandenburger Tor in Berlin) und Kunst (Apoll vom Belvedere im Vatikan, Michelangelos David in Florenz). Nicht jede Rezeption von Antike ist Humanismus. Antike Errungenschaften (Grammatik, Logik, Rhetorik, Medizin) können zu inhumanen Zwecken gebraucht werden. Andererseits ist Humanismus ohne Athen und Stoa wie Christentum ohne Jerusalem und Tenach. 2. Kein Humanismus ohne Humanität, keine ›Bildung‹ ohne ›Barmherzigkeit‹, ohne humanitäre Praxis. Die Leiblichkeit, Unfertigkeit, Schwäche, Fragilität des Menschen erfordert prinzipiell und immer die unmittelbare, punktuelle, temporäre Hilfe, Belehrung, Heilung, Trost,

47 Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1883, S. 479.

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Schutz. Darüber hinaus ist humanitäre Praxis notwendig und zwiespältig verbunden mit den inhärenten Mängeln, der Destruktivität und Dysfunktionalität von Staat, Wirtschaft, Militär, Justiz, Gesellschaft. Rotes Kreuz und Roter Halbmond können Verwundete und Flüchtlinge versorgen, aber nicht Kriege und ethnische Säuberung verhindern. Die Welthungerhilfe kann humanitäre Katastrophen mildern, aber nicht Fehler der Agrarpolitik abstellen. Notwendigkeit und Ambivalenz humanitärer Praxis haben sich verstärkt infolge der Mängel des Sozialstaates und der Forderung nach einem schlanken, »deregulierten« Staat, der öffentliche Güter und Daseinsfürsorge (Bildung, Verkehr, Kommunikation, Wasser, Energie, Gesundheit) privaten Investoren zuführt. Die erfreulicher Weise zunehmende völkerrechtliche Verbindlichkeit von Menschenrechten ermöglicht, unter bestimmten Voraussetzungen, die »humanitäre Intervention« zur Abwendung »humanitärer Katastrophen«, aber damit auch die Möglichkeit zu einem mißbräuchlichen, humanitär getarnten weltweiten militärischen Interventionismus (Somalia, Kosovo, Birma).48 Mit diesen inneren und äußeren, europäischen und globalen, theoretischen und praktischen Aufgaben und Problemen humanitärer Praxis sind viele Einrichtungen befaßt: die »Europäische humanistische Föderation« (EHF, gegründet 1991), Humanistische Universitäten, Institute und Akademien (Brüssel, Utrecht, Essen, Berlin), zahlreiche nichtstaatliche Vereinigungen (NGO).

§7 10. D EZEMBER – H UMAN R IGHTS D AY 1. Vor sechzig Jahren, am 10. Dezember 1948, wurde in Paris, Palais de Chaillot, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« verkündet.49 Die Erklä-

48 Belege und Analyse bei Noam Chomsky, Der neue militärische Humanismus, Lektionen aus dem Kosovo, Zürich 2000 (engl.: The New Military Humanism, 1999). 49 Resolution 217 A (III), 10.12.48. Die UNO hat zu diesem Zeitpunkt 56 Mitglieder; 48 Stimmen für die Erklärung, 8 Staaten enthalten sich; keine Gegenstimme.

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rung gehört zu den Basistexten des modernen Humanismus. Der erste Artikel lautet: »All human beings are born free and equal in dignity and rights. They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in the spirit of brotherhood«.

Der Artikel und seine einzelnen Begriffe haben eine lange und multikulturelle Vorgeschichte. Die Kommission und das Sekretariat, das die Erklärung erarbeitet hat, waren kosmopolitisch besetzt. Auch China, der Nahe Osten, Südamerika und die Sowjetunion sind vertreten.50 Wie aus den Protokollen des Sekretariats, den Tagebüchern und Berichten von John Humphrey (1905-1995, Kanada), René Cassin (18871976, Frankreich), Charles Malik (1906-1987; Libanon/Saudi-Arabien) ersichtlich, wurde die rechtsgeschichtliche und philosophische Vorgeschichte der Menschenrechte durchaus eingebracht und reflektiert, philosophische, theologische, »spekulative« Debatten jedoch tunlichst vermieden. Die »philosophy behind« (Humphrey) wurde nicht expliziert. Deshalb gibt es 1948 keine Berufung auf die »Auspizien des Höchsten Wesens« oder die »Natur, die dem Menschen seine Rechte« verliehen hat, wie es in der Präambel der französischen »Déclaration des droits de l’homme et du citoyen« geschrieben steht. Und doch war die französische Erklärung von 1789 ein »Ausgangspunkt« (Cassin) und Modell für die Allgemeine Erklärung von 1948, die »natürlichen Rechte« des Menschen Ergebnis alter rechtsphilosophischer Arbeit. Die Religionsfreiheit (libertas religionis) beispielsweise wurde in der Antike als »Menschenrecht (humanum ius) und natürliche Fä-

50 Vgl. Yearbook of the United Nations, Special Edition – UN Fiftieth Anniversary, 1945-1995; John P. Humphrey, Human Rights and the United Nations: A Great Adventure, New York 1984; A.J. Hobbins (Hg.), On the Edge of Greatness: The Diaries of John Humphrey, First Director of the United Nations Division of Human Rights, Montreal 1995-2001; René Cassin, La pensée et l’action, [...]. (Auswahl von Texten Cassins durch François-Joachim Beer, u. a. über: »Eleanor Roosevelt«, S. 80-83; »Montesquieu et les droits de l’homme«, S. 89-95; »La tradition libérale occidentale des Droits de l’homme«, S. 139-150), Boulogne-sur-Seine 1972.

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higkeit für jeden Einzelnen« gegen den römischen Staat eingeklagt.51 Philosophische und juristische Texte der Antike liefern zentrale Begriffe des neuzeitlichen Diskurses: »Naturrecht« (ius naturale), »Menschenrecht« (ius humanum), »Menschenwürde« (dignitas hominis), Freiheit und Geichheit. »Nach dem natürlichen Recht«, sagt das römische Rechtsbuch, »sind alle Menschen frei geboren« und »alle gleich«.52 Die französische Erklärung sagte (Artikel 1): »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«. Die »Allgemeine Erklärung« der Menschenrechte formuliert (Artikel 1): »Alle menschlichen Wesen sind frei geboren und gleich nach Würde und Rechten«. Die »Allgemeine Erklärung« zeigt sowohl die Stärke der Tradition wie den gewaltigen, »revolutionären« (Humphrey) Fortschritt des modernen Völkerrechts und Sozialrechts, der Bürger- und Menschenrechte. Die Implementierung und Realisierung dieses Fortschritts stößt auf große Schwierigkeiten. Das Verbot der Folter (Art. 5) wird sogar von den Erstunterzeichnern der »Allgemeinen Erklärung« in Frage gestellt; weder die Todesstrafe noch entehrende, demütigende Körperstrafen sind abgeschafft.53 Nicht einmal die Freiheit, seine Religion zu wechseln, ist eine Selbstverständlichkeit geworden.54 Sechzig Jahre, nach der Verkündung dieser Erklärung verbinden sich Bewunderung und Genugtuung mit der Erkenntnis, daß viele Versprechen aus der Aufbruchsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht eingelöst und neue, große Bedrohungen für Menschenrechte, humanitäre Praxis, für europäischen und jeden anderen Humanismus entstanden sind.

51 Tertullian, Ad Scapulam (um 214 n.Chr.) 2; ders., Apologeticum (197 n.Chr.), 24,5-6. 52 Vgl. Ulpian, in: Digesten 1,1,4 = Justinian, Institutiones 1,5 pr.; 1,2,2: iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur. 53 Art. 5: »No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment«. 54 Art. 18: »freedom to change his religion or belief«.

Orte der ›Antike‹ in einer ›europäischen Religionsgeschichte‹

§1 D IE B ESTIMMUNG DES T HEMAS Am Ende der Antike, zu Beginn des Frühmittelalters, im 8. Jahrhundert n.Chr. gibt es im Westteil des einstigen Imperium Romanum vier antike Religionen, die verwandt und einander verhältnismäßig ähnlich sind: 1.

2. 3.

1

Das lateinische Christentum, mit vielen lokalen Varianten (irisch, merowingisch, römisch), ist die dominante, staatlich privilegierte Religion. Das Judentum wird toleriert und unterdrückt (Zwangstaufe, Verbot der Mischehe). Der Manichäismus ist verboten, verfolgt, im subantiken Westen vielleicht schon ›ausgerottet‹.1 Mani (geb. 216 bei Seleucia-Ktesiphon, gest. 277 Bet Lapat, Gundisapur) stammt aus jüdisch-christlichem Milieu Mesopotamiens; in sein Religionssystem gehören auch hellenistische Traditionen (voῦς – nous, ψυχή – psyche, ὕλη – hyle etc.). ›Manichäer‹ bleibt im Westen ein Schimpf- und Drohwort wie ›Epikureer‹. Siehe Johannes van Oort (Hg.), Augustine and Manichaeism in the Latin West: Proceedings of the Fribourg-Utrecht symposium of the International Association of Manichaeen Studies, Leiden 2001 (NHMS 49). Durch die antimanichäischen Schriften Augustins blieb Manis Lehre im Westen bekannt. Christliche Autoren verstanden den Manichäismus als christliche Häresie. Vgl. Codex Theodosianus (438 n.Chr.) 16,5,1. 7. 9. 35. 38 (Africa, 405 n.Chr.), 59 (423 n.Chr.), 62 (Manichäer in Rom, 425 n.Chr.), 65 u. a. m.; vgl. Peter Brown, »The Diffusion of Mani-

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4.

Der Islam expandiert in den nordafrikanischen und spanischen Provinzen des römischen Imperiums (713 Eroberung von Toledo), ja in Sizilien, der ältesten Provinz des Reiches.2

Die vier genannten Religionen und ihre Theologien sind (a) antik und (b) ein wichtiger Ort für die Aufnahme und Tradierung von Teilen der hellenisch-römischen Religion, des Rechts, der Philosophie in die europäische Religionsgeschichte. Ein Blick auf den Ostteil des Imperium zeigt dessen andauernde Verbindung mit dem Westteil: Nestorianische Christen übersetzen in Gundisapur wissenschaftliche Werke der Griechen ins Syrische (6.-7. Jh.); diese werden später aus dem Syrischen ins Arabische übersetzt und erreichen so (wieder) den Westteil des einstigen Imperium Romanum. Die klassische Antike wird von diesen Religionen nicht aufgesogen und ausgelöscht. Zwar ist die religiöse Praxis der Hellenen und Römer verboten, sie wird verfolgt und erlischt. Aber das antike Bildungswesen, Schule, Philosophie, Sprachen, Wissenschaften, und damit die klassischen Autoren, die Historiker, die Mythologie, die literarisierte Religion bleiben – mit vielerlei Verlusten und Restriktionen – bekannt und werden weiter benutzt. Vielerorts stehen Tempel, Grabanlagen, Kunstwerke, einst heilige, jetzt dämonisierte Plätze und Gegenstände. So bleibt neben den vier praktizierten modernen Religionen eine fünfte, die alte, verbotene, kaltgestellte, musealisierte Religion mit ihrem kulturellen Feld als kohärente Tradition dem Abendland erhalten.3

chaeism in the Roman Empire« (1969), in: P. Brown, Religion and Society in the Age of Saint Augustine, London 1972, S. 94-118. 2

Francesco Gabrieli/Heigrid Betz (Hg.), Mohammed und Karl der Große (ital. 1987), Stuttgart/Zürich 1993. Dieses Sammelwerk untersucht die Epochengrenze zwischen ›Antike‹ und ›Mittelalter‹ und die These von Henri Pirenne (1863-1935), die arabischen Eroberungen im Mittelmeerraum hätten der Antike das Ende bereitet, nicht die vorangehenden Invasionen der Germanen, die in die fortbestehenden Strukturen von Imperium, Provinzen, Militär und Religion resorbiert worden sind.

3

H. Cancik, »Nutzen, Schmuck und Aberglaube. Ende und Wandlungen der römischen Religion im 4. und 5. Jahrhundert«, in: H. Zinser (Hg.), Der Untergang von Religionen, Berlin 1986, S. 65-90.

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Diese Konstellation von dominanter, tolerierter, rivalisierender und überwundener, aber nicht ausgelöschter Religion ist m.W. einzigartig in der vorderasiatisch-mediterranen Religionsgeschichte.4 Die Hellenisierung und Romanisierung des Christentums sind voraussetzungsreiche, widersprüchliche, unabgeschlossene Prozesse von langer Dauer. Das hellenistische Judentum und ein ›prä-existentes Christentum‹ gehören zur ›Vorbereitung des Evangeliums‹.5 Die griechische Bibel der Juden, die stoischen Philosopheme bei Paulus, der Kaiser Augustus in der Geburtsgeschichte Jesu, der Centurio unter dem Kreuz zeigen, wie fest die neue Religion in das Imperium aus Römern, Hellenen, Orientalen eingebunden ist. Das westliche Christentum mit seinen drei heiligen Sprachen in Kult und Theologie spiegelt die Struktur des mediterranen Reiches. Die antike Kirche rezipiert Teile der griechischen und lateinischen Sakralsprache (mystérion [µυστήριov]; hostia; pontifex; sacramentum), organisatorische Konzepte (Kirche als imperium), Teile der Philosophie, Kunst, Architektur (Basilika) und Wissenschaft, die Worte ›Religion‹ und ›Theologie‹, ›Metaphysik‹ und ›Dogma‹. Die philologischen Techniken von Edition, Kommentierung und historischer Kritik werden von Origenes, Eusebios, Hieronymus rezipiert und auf die heiligen Schriften angewandt. Damit wird ein Prozess eingeleitet, der zur Entlarvung der ›Konstantinischen Schenkung‹ (Lorenzo Valla) und des seitdem mit einem ›Pseudo-‹ gezierten Dionysius Areopagita geführt hat, aber auch zu einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments (Erasmus), zur Entde-

4

Religion und Kultur der Kanaanäer sind in der hebräischen Bibel nur als feindlicher Gegenstand vorhanden. Die etruskische Religion ist von den Römern rezipiert worden, latinisiert und völlig zerstört; ihre Sprache und Träger in der Kaiserzeit sind verschwunden. Hellenische und römische Religion bleiben nebeneinander bestehen, die römische überwindet nicht etwa die hellenische. Vergleichbar sind, in einem anderen Großreich, die Beziehungen der vorislamischen Religionen in Arabien, Mesopotamien, Iran (Zarathustrier) zu Christentum, Judentum, Manichäismus, Islam: vgl. Carsten Colpe, »Alter Orient«, in: Lexikon der islamischen Welt (hg. von K. Kreiser u. a.), Bd. 1, Stuttgart 1974, S. 38-39 (= C. Colpe, Kleine Schriften 2, 45). Vgl. hier §5.1 zum Religionsgespräch am Hofe der Sasaniden.

5

H. Cancik, »Die Romanisierung des antiken Christentums. Zur Entstehung des römischen Katholizismus«, in: R. Faber (Hg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 35-50.

46 | E UROPA – ANTIKE – H UMANISMUS

ckung der Quellen der alten und neuen Bibel und zur »Leben-JesuForschung«.6 Die Rezeption der antiken Kultur in den verschiedenen Phasen und Orten der nachantiken westeuropäischen Religionsgeschichte ist der Gegenstand dieses Versuchs. Kompetenz und Umfangsvorgaben zwingen zur Beschränkung: Nicht nur ist der griechische (und östliche) Teil der europäischen Religionsgeschichte ausgespart, auch der westliche ist nur in wenigen Epochen, Regionen, Repräsentanten skizziert. Die Orientierung an typischen ›Orten‹ der Rezeption mag diesen Mangel mildern.

§2 S TAAT – K IRCHE §2.1 Das Constitutum Constantini Im 8. Jahrhundert n.Chr., an der Schwelle zum Mittelalter, steht die dominante Religion, das lateinische Christentum, auf dem Höhepunkt ihrer Romanisation. Schon im ersten Jahrhundert war die Stadt Rom ein Gravitationspunkt der neuen graeco-jüdischen Reformbewegung. Die Christianer hatten dann die lateinische Sprache übernommen, in der Theologie, später auch im Kult. Sie nutzen Ausdrücke des alten Kultes, der Philosophie (de natura et qualitate dei),7 des Rechts, fordern Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit als ius humanum und religio licita.8 Im achten Jahrhundert nun ergreift diese Transformation die Verfassung der römischen Kirche: Sie wird Kirchen-Staat, ja imperium. Das Constitutum Constantini dokumentiert diese erstaunliche Wendung. Die Rechtsfiktion, genannt »Konstantinische Schenkung« oder »Dekret Konstantins«, wurde um 750/60 n.Chr. in Rom hergestellt, al-

6

Joseph B. Trapp, Erasmus, Colet and More: The Early Tudor Humanists and their Books, London 1991 (Wirkung des Origenes; Erasmus als Herausgeber des Lorenzo Valla).

7

Tertullian, Apologeticum (ca. 198 n.Chr.), 46-48: Christentum als genus

8

Tertullian, Apologeticum 2; ad Scapulam 2,2; Apol. 21,1.

philosophiae; vgl. 25: die religiösen Gründe für die Größe Roms.

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so mehr als vierhundert Jahre nach Konstantin.9 Als Dank für seine Heilung und Taufe, so wird fingiert, habe der Kaiser dem Papst Silvester (314-335), dem summus pontifex, übertragen:10 (cap. 14) »den Lateranspalast unseres imperium, [...] sodann das Diadem und zwar den Kranz (die Krone) unseres Hauptes [...] und die purpurne Chlamys [...] und alle imperialen Gewänder [...]. (cap. 15) Auch für die ehrwürdigsten Männer, die Kleriker, setzen wir fest, dass sie jenen Gipfel, die Einzigartigkeit, die Macht und Auszeichnung haben, mit deren Ruhm sich unser erlauchtester Senat zu schmücken scheint, d.h. dass sie zu Patriziern und Consuln gemacht werden [...]; (cap. 17) [...] wobei wir mit-übergeben alle Provinzen, Gebiete und Bürgerschaften der Stadt Rom und Italiens und der westlichen Regionen, dem Silvester, dem allgemeinen Papst [...]«.

So wird die römische Kirche zum Kirchenstaat, zu einem neuen Imperium Romanum. Der Bischof von Rom wird summus pontifex und imperator mit Diadem und Purpur gleich dem Kaiser in Konstantinopel, dem er doch politisch noch immer unterstellt ist. Er erhält den Prinzipat über die Kirchen von Antiochia, Alexandria, Jerusalem, Konstantinopel und alle Kirchen des Erdkreises. Die pseudokonstantinische Schenkung formuliert den schärfsten Anspruch auf Zentralität und Universalität, auf die Kumulation von politischer, militärischer und religiöser Gewalt, den Rom in der Antike jemals erhoben hat. Durch die Einverleibung der imperialen Struktur ist, am Ende der Antike, die politische Form des römischen Katholi-

9

Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung), hier abgekürzt: CCon.

10 CCon cap. 14: Pro quo concedimus [...] beato Silvestrio patri nostro, summo pontifici [...] palatium imperii nostri Lateranense, [....] deinde diademam videlicet coronam capitis nostri [...] et clamidem purpuream [...] et omnia imperialia indumenta [...]; – cap. 15: Viris etiam reverentissimis, clericis [...] illud culmen, singularitatem, potentiam et praecellentiam habere sancimus, cuius amplissimus noster senatus videtur gloria adornari, id est patricios atque consules effici [...]; et sicut imperialis militia, ita et clerum sacrosanctae Romanae ecclesiae ornari decernimus [...] (folgen Hofämter). – cap. 17: [...] Romae urbis et omnes Italiae seu occidentalium regionum provincias, loca et civitates [...] Silvestrio universali papae, contradentes [...].

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zismus festgestellt. Antike, genauer das Imperium Romanum, hat sich im Innersten der europäischen Religionsgeschichte verortet. §2.2 Religion in Utopia 1. In einer Programmschrift, zu Beginn der Neuzeit in Flandern und England verfasst (1516), sucht ein englischer Diplomat und Jurist »den besten Status des Gemeinwesens« und die beste Religion. Der Idealstaat liegt zwischen gelehrter Fiktion und neuesten Reiseberichten. Im Vorgespräch des ersten Buches ist Americus Vespucius (Amerigo Vespucci) genannt, dessen Reiseberichte (Cosmographiae introductio [...]. Insuper quatuor Americi Vespucij navigationes [...]) 1507 erschienen waren. Der Staat ist nicht christlich, sondern multireligiös, um nicht ›polytheistisch‹ zu sagen. Der höchste Gott heißt Mithras. Wo ist, in einer europäischen Religionsgeschichte, ein Ort für Utopia? Die beiden Bücher der Programmschrift bündeln und aktualisieren ein reiches antikes Erbe: viel Staatslehre, Ethik, Gesellschafts- und Religionskritik; die echten und fiktiven Berichte von Reisen an die Enden der Welt, auf den Mond oder in die Unterwelt; dazu sokratische Ironie, Lukians parodisches Talent und schließlich lebendiges, genaues, anspielungsreiches Latein. Der Titel verspricht ein »goldenes und nicht weniger heilsames als heiteres Buch«: libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus. Wie die erhebliche Wirkung bis in die Neuzeit von West und Ost zeigt, schrieb Thomas Morus einen Klassiker des Humanismus. Das Erbe ist mehr griechisch als römisch. Die Insel heißt griechisch Utopia, nicht lateinisch Nusquama. Der Reisende, der über die neue Insel berichtet, ist ein Philhellene. Er hat sich ganz der griechischen Philosophie ergeben. Vorbild, auch für seine Reiselust, Forschergeist, Interesse am Staat und seinen Einrichtungen, ist ihm Platon. Die Utopiensier sprechen eine Art Persisch, mit »einigen Spuren der griechischen Sprache in den Benennungen von Städten und Ämtern«.11 Daraus schließt der Reisende auf griechischen Ursprung des Volkes und erklärt sich daraus, weshalb die Utopiensier so gern, so schnell und gut von ihm das Griechische erlernen; nach drei Jahren sind sie perfekt. Der Reisende hat ihnen Literatur auf die Insel gebracht. Auf elegante Weise exponiert Morus hier die Quellen seiner Staatsschrift:

11 Morus, Utopia II, cap. 5.

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A 1. Platons Werke; 2. mehrere Werke des Aristoteles; 3. Theophrast, Über Pflanzen; 4. Theodor Lascaris (gest. 1475), Grammatik; 5. Wörterbuch des Hesychios (Erstdruck Venedig 1514); 6. Dioscorides, Materia medica (lat. Übersetzung 1516); 7. Plutarch; 12 8. Lukian; B 9. Aristophanes; 10. Homer; 11. Euripides; 12. Sophokles; 13. Historiker: Thukydides, Herodot, Herodian; 14. Mediziner: Hippokrates und Galen, ars medica. Aristophanes ist als erster Dichter, noch vor Homer, genannt, offenbar wegen der Hoffnungsutopie in den »Vögeln« und der Staatsutopie in den Ekklesiazusai (»Frauen-Volksversammlung«);13 Aischylos und die griechische ›Archaik‹ (Vorsokratiker, Sappho, Theognis, Pindar) sind noch nicht entdeckt. Keine Lateiner, keinen Kirchenvater, keine Scholastik gibt es in Utopia. Aber im Gegensatz zu Platons Staat sind Homer und das Theater erlaubt. Auf diesen und vielen anderen antiken Quellen baut Sir Thomas seine Utopia als Gegenstück zum zeitgenössischen England. Gegen »die Verschwörung der Reichen«,14 ihre Klassenjustiz, ihren Luxus, die Ausraubung der Landbevölkerung stellt er ›den besten Staat‹: das Gemeineigentum aller, gemeinsame Mahlzeiten, Ablehnung der Geld-

12 Erasmus und Morus übersetzten mehrere Werke von Plutarch und Lukian ins Lateinische; vgl. T.S. Dorsch, »Sir Thomas Morus und Lukian. Eine Interpretation der ›Utopia‹«, in: W. Erzgräber (Hg.), Englische Literatur von Thomas Morus bis Laurence Sterne, Frankfurt am Main 1970, S. 1635; Robert Aulotte, Amyot et Plutarque. La tradition des moralia au XVe siècle, Genf 1965. 13 Ernst Richard Schwinge, »Aristophanes und die Utopie«, in: Würzburger Jahrbücher f. d. Altertumswissenschaft, N.F. 3, 1977, S. 43-67. 14 Morus, Utopia II, Epilog: conspiratio divitum.

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wirtschaft, Unverkäuflichkeit von Grund und Boden, das Gleichheitsprinzip (isotes [ἰσότης]), das Lob der Arbeit. Es verwundert nicht, dass Karl Kautsky in Sir Thomas den ersten Sozialisten erkennt.15 Die utopischen Impulse stammen aus Platons Staatsschriften (Über die Verfassung; Über die Gesetze), Aristoteles Politik, den Biographien Plutarchs über Lykurg, Agis und Kleomenes, die Reformer der spartanischen Verfassung.16 Die utopische Ethik verbindet, ganz im Sinne der Renaissancephilosophie, platonische und stoische mit epikureischen Elementen:17 Unsterblichkeit der Seele, Tugend mit Lust, Freude und Glück sind letztes Ziel des guten Lebens. So leben sie »in Übereinstimmung mit der Natur«. Denn Natur und Vernunft und Gott sind ihnen, gemäß der alt- und neustoischen Lehre, homolog. 18 2. Griechisch ist auch das Modell für die utopische Religion:19 »Die Religionen sind nicht nur über die Insel (als ganze) hin, sondern auch durch die einzelnen Städte hin verschiedenartig, indem die einen die Sonne, die anderen den Mond, andere einen anderen der Irrsterne wie Gott (dei vice) verehren. Es gibt Leute, die zu irgendeinem Menschen, dessen Tugend oder Ruhm einstmals geleuchtet hat, aufblicken, nicht nur wie zu einem Gott (pro deo), sondern sogar wie zu dem höchsten Gott. Aber der bei weitem größte Teil – und auch der weit klügere – glaubt an nichts von diesem, sondern an ein gewisses einziges Numen: unbekannt, ewig, unermesslich, unerklärlich [...] diesen nennen sie ›Vater‹. Ja, auch die übrigen alle stimmen, obschon sie Verschiedenes glauben, mit jenen (klügeren) darin überein, dass sie ein einziges

15 Karl Kautsky, Thomas More und seine Utopie (1887), Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1973 (Ndr. von 19225). 16 Plutarch, Lykurgos; Agis und Kleomenes; Tiberius und Caius Gracchus. 17 Zum Renaisance-Epikureismus vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien der Renaissance, 84-88: voluptas als das summum bonum der Neuplatoniker; s. hier §5.2. 18 Morus, Utopia II, cap. 5; natura und humanitas sind zentrale Begriffe der utopischen Ethik; vgl. hier §3. 19 Morus, Utopia II, cap. 8: Religiones sunt non per insulam modo, verum singulas etiam urbes variae, aliis Solem, Lunam aliis, aliis aliud errantium siderum dei vice venerantibus. [... (Heroenkult; deus incognitus) ...] (Unum summum) communiter omnes patria lingua Mithram appellant, sed eo dissentiunt, quod idem alius apud alios habetur.

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Höchstes (unum summum) ansetzen, dem die Herstellung und Vorsorge für das All geschuldet wird; und den nennen alle in ihrer Vätersprache Mithras,20 sind aber darüber uneinig, weil derselbe jeweils anders verstanden wird«.

Die Verschiedenheit der Religionen als primäres Charakteristikum, der Heroenkult und über aller Varietät ein einziger Vatergott: Das ist das Modell der griechischen Polisreligion. Für den Kult gibt es Tempel, aber weder Kultbilder noch Tieropfer: Hier ist die Kritik der Philosophen an der griechischen Religion berücksichtigt. Die Versammlungen selbst sind nach jüdisch-christlichem Gebetsgottesdienst imaginiert: Musik, Kerzen, Weihrauch, Düfte, Gebet. Es gibt kein heiliges Buch, keinen Totenkult, sehr wenige Priester, darunter »wenige Frauen«, »nur ältere Witwen«;21 die männlichen Priester sind verheiratet; Asketismus ist erlaubt. Der Staat lässt Glaubensfragen offen:22 Es steht jedem Einzelnen frei zu glauben, was er für richtig hält. Eine Ausnahme gibt es: die Unsterblichkeit der Seele und das Walten der Vorsehung, die Postulate also dessen, was man später ›Deismus‹ nennen wird. Der Zweifel hieran verstößt gegen die Würde des Menschen und wird mit Verachtung bestraft.23 Die christliche Mission ist erlaubt und hat auch einen gewissen Erfolg; exzessive Propaganda und Schmähung anderer Religionen aber wird mit Verbannung bestraft.

20 Vgl. Plutarch, de Iside 45-48: die Lehre Zarathustras, u. a. über Horomazes, Areimanios und Mithras, den »Unbesiegten Sol«, als »Mittler« (mesítes [µεσίτης]) zwischen ihnen. Tertullian, Apologeticum 16,9-11: persischer Sonnenkult und die Christianer. 21 Dies könnte eine Reminiszenz an Plutarch, Numa 9,5, sein: Zur Einrichtung der Priesterschaft der Vestalinnen bemerkt Plutarch, dass es eine ähnliche Institution – jungfräuliches Leben von Kindheit an für 30 Jahre – in Griechenland nicht gebe; für weibliche Priesterämter seien Frauen zuständig, die »die Ehe hinter sich haben«. 22 Morus, Utopia II, cap. 8: Itaque hanc totam rem in medio posuit et, quid credendum putaret, liberum cuique reliquit. 23 Morus, Utopia II, cap. 8: ab humanae naturae dignitate degenerare. Beide Glaubenssätze gelten als spezifisch für menschliches, im Gegensatz zum tierischem Wesen.

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3. Die utopische Religion gründet auf den Prinzipien von Natur, Vernunft, Menschenwürde und Religionsfreiheit. Morus fasst sie in eine antike Formel:24 quam cuique religionem libeat sequi, liceat. Die Formel wurde entwickelt in der Begrifflichkeit stoischer Ethik und ist, soweit ich sehe, zuerst fassbar bei Tertullian (Ende 2. Jh. n.Chr.). Dieser fordert die libertas religionis als Menschenrecht (ius humanum) vom römischen Staat:25 liceat mihi colere quem velim – »Es sei mir gestattet zu verehren, wen ich will«. Die Formel wird benutzt in den sog. Toleranzreskripten der römischen Kaiser zu Beginn des 4. Jahrhunderts:26 libera potestas sequendi religionem quam quisque voluerit – »Die freie Entscheidung, derjenigen Religion zu folgen, die ein jeder will«.

Die genaue Quelle des Morus ist mir unbekannt. Die hier skizzierte Tradition ist jedenfalls eine – deutlich vorreformatorische, ›humanistische‹ – Grundlage für religiöse Toleranz in der europäischen Religionsgeschichte. §2.3 Der Ort der utopischen Religion in einer europäischen Religiongeschichte 1. Die Religion der Utopiensier ist, trotz aller philhellenischen Ausmalung, kein Versuch, antike Religion zu revitalisieren, nicht paganitas oder paganismus, wie ihn Erasmus verspottet und verdammt hat.27

24 Morus, Utopia II, cap. 8; engl.: S. 134 (Surtz); dt.: »es sei gestattet, derjenigen Religion zu folgen, der ein jeder will«. 25 Tertullian, Apologeticum 24,5-6; ad Scapulam 2,2. 26 Reskript der Kaiser Licinius und Constantin, 313 n.Chr., bei: Lactanz, de mortibus persecutorum 48; vgl. Codex Theodosianus 9,16,9 (Valentinian I., 371 n.Chr.). – Vgl. H. Cancik, »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, in: Klaus M. Girardet/Ulrich Nortmann (Hg.), Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 94-104, (in diesem Band). 27 Desiderius Erasmus, »Ciceronianus« (1527/28), in: Opera Omnia I (1703 = 1962), S. 998f.; S. 1016f.; dt. Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften (hg. v. W. Welzig), Bd. 7, Darmstadt 1972 (= 21995), übersetzt von Theresia Payr, bes. S. 170ff.; S. 293ff. – Vgl. Gemistos Plethon (ca.

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Die Religion der Utopiensier ist nicht geoffenbart, nicht überliefert. Sie ist vielmehr ein wissenschaftliches Experiment in kritischer Absicht und definiert einen besonderen Ort der europäischen Religionsgeschichte: die nicht-theologische Wissenschaft von Religion. Darüber hinaus hat Morusʼ Staatsroman eine spezifische Form kritischer Reflexion seiʼs erneuert, seiʼs begründet: das utopische Denken. Auch dies hat – neben den chiliastischen und messianischen Entwürfen (Täufer, Sabbatianer) – einen festen Platz in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte. 2. Die utopische Religion ist, trotz deutlicher Anleihen bei jüdischchristlichen Mustern, keine Christianopolis. Der Staat garantiert vielmehr die Multireligiosität, Religionsfreiheit, Toleranz. Nicht einmal die Atheisten werden verbrannt; nur die aggressive Christianisierung ist verboten. Es bleibt unklar, ob die variae religiones von Utopia auf die großen Religionen zu beziehen sind – Juden, Ethniker, Muslime, Christianer – oder lediglich auf die christlichen Reformbewegungen, Schismatiker, Häretiker – also Waldenser, Hussiten, griechische Kirche. Letzteres wäre das Modell des Nicolaus Cusanus – una religio in rituum varietate – »eine einzige Religion in der Vielfalt der Riten« –, ersteres die Lehre des Johannes Bodinus von der einen natürlichen Religion und ihren vielen historischen Gestalten.28 Wie dem sei: Das Konstrukt des Thomas Morus, die utopische Religion, definiert, insbesondere mit dem Postulat der Religionsfreiheit, die offene Struktur der europäischen Religionsgeschichte und damit die Funktion, die Bedeutung und überhaupt die Möglichkeit von Antike in dieser Geschichte.

1355-1452), Nomon syngrafe (Νόµωv συγγραφή), eine Staatslehre nach Platon; sie enthält »hellenische Theologie«, Hymnen, Kalender, Allegorese des griechischen Mythos. Vgl. hier §4. 28 Nikolaus von Kues (1401-1464), De pace seu concordantia fidei (1453), §10. – Zu Bodinus siehe hier §3.2.

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§3 P HYSIS – N ATURA : E THIK , R ECHT , R ELIGIONSWISSENSCHAFT §3.1 Stoische Grundbegriffe 1. Physis, Kosmos, Logos, Nomos (Natur, Weltall, Vernunft, Gesetz) sind Grundbegriffe aller hellenischen Philosophenschulen. Die Verschränkung von empirischer Naturbeschreibung und normativem Naturgesetz, die Systematik einer Ethik auf der Grundlage von Vernunft und natürlichem Sittengesetz, die Begründung des Naturrechts sowie eine kosmische Frömmigkeit des »All und Einen« (hen kai pan [ἓv καὶ πᾶv]) haben der stoischen Philosophie eine besonders große Verbreitung verschafft, zumal sie in der römischen Kultur breit rezipiert wurde. Neuzeitliche Bewegungen (Novi Stoici) konnten hier anknüpfen und die Ambivalenz des Naturbegriffs nutzen: Sprengung der »gesetzten«, künstlichen Normen oder deren Naturalisierung unter Berufung auf die unabänderlichen Naturgesetze. Pantheistische Denker konnten stoische Theologie und Hymnen nutzen:29 »in Eines hast du Alles zusammengefügt«. Gott ist in der Natur, die Natur in Gott. Die Stichworte lauten:30 Naturgesetz, natürliches Sittengesetz, natürliche (»eingeborene«) Gotteserkenntnis, natürliche Theologie, »Konsens aller Völker«. Ihr Zusammenhang im System der stoischen Philosophie lässt sich etwa folgendermaßen skizzieren. 2. Die Natur, so lehren die Stoiker, führt die Menschen zu einem guten Leben, einem Leben in Übereinstimmung mit der Vernunft in der Natur.31 Unsere menschliche Natur ist »Teil« der allgemeinen Natur, des

29 Kleanthes (331/30-230/29 v.Chr.), Hymnus an Zeus, v. 20. Seit 262/61 ist Kleanthes Haupt der stoischen Schule. Ralph Cudworth (1617-1688) zitiert den Hymnus in seinem True Intellectual System of the Universe (1678) Ndr. Hildesheim 1977, einem Hauptwerk der ›Cambridge Platonists‹. Vgl. L. Zanta, La renaissance du Stoicisme au XVe siècle, Paris 1914. 30 Vgl. Cicero, De natura deorum 1,44; 2,12; Cicero, Tusculanae disputationes 1,30: consensio omnium gentium lex naturae putanda est; 3,2: lumen naturae. 31 Das folgende ist referiert nach Diogenes Laertios, Buch 7 (Die Stoa), bes. cap. 84-89. Diogenes beruft sich in diesen Paragraphen auf Zenon, Über

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»Ganzen«; außer dem Ganzen gibt es nichts. Die »richtige Vernunft« (orthos logos, recta ratio [ὀρθὸς λόγoς]), das Natur-Gesetz, steuert das All. Sie kann »Zeus« genannt werden. Der Mensch lebt gut, wenn alles, was er tut, in »Symphonie« ist mit dem Willen des Ganzen. Die Vernunft des Menschen ist Teil der Allvernunft. Die Natur hat ihm sein »natürliches Licht« (lumen naturae) verliehen, mit dem er Ordnung, Regelhaftigkeit, Gesetz und Schönheit des Kosmos erkennen kann.32 Das »Gesetz der Natur« verpflichtet jeden Menschen, den Mitmenschen zu unterstützen: »aus genau dem Grund, dass er ein Mensch ist«.33 Es ist die Natur, die durch die »Kraft der Vernunft« den Menschen mit dem Menschen »versöhnt« (conciliat). Sie selbst hat ihn mit Vernunft, Individualität, Geschichtlichkeit und Eigenverantwortung ausgestattet.34 Seine Vernunft erkennt die Übereinstimmung des Naturgesetzes mit der Norm der Menschen und mit seinem eigenen Handeln; sie ist Bewusstsein, Zeuge und Mitwisserin: conscientia – Gewissen.35 Es gibt ein Naturrecht, eine natürliche Moral und eine natürliche Gotteserkenntnis, die allen Menschen gleichermaßen und unmittelbar aufgrund ihrer Vernunftnatur zugänglich ist.36 Kosmologie, Anthropologie und Ethik der Stoa geben dem Individuum einen festen Stand. Es hat – mindestens als »Keim« oder »Funken« – ein eigenes Wissen von Gut und Böse, Recht, Gott. Dieses Wissen hat der Mensch von Natur aus, es ist unabhängig von staatlichen und religiösen Organisationen, kann sogar diesen gegenüber als kritische Instanz oder Alternative genutzt werden.

die Physis des Menschen; Kleanthes, Über die Freude (Lust); Chrysipp und Hekaton, Über die Ziele. 32 Cicero, de officiis 1,30,107; Tusculanae disputationes 3,1,2; die »Funken«, die Natura in uns gelegt hat: Cicero, de legibus 1,22,33; semina: Cicero, de finibus 5,15,43. 33 Cicero, de officiis 3,6,27; vgl. 2,16,51; 1,4,11-14. 34 Cicero, de officiis 1,30,107; 32,115. 35 syn-eídesis (συv-είδησις), conscientia – Bewusstsein/Gewissen. 36 Cicero, de natura deorum 1,43. 44; 2,12; vgl. Tusculanae disputationes 1,30; Seneca, epistulae morales 117,6.

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§3.2 Johannes Bodinus: Colloquium Heptaplomeres, 1588/93 Die stoischen Lehren waren zu Beginn der Neuzeit gut zugänglich, auf Griechisch bei Epiktet, Mark Aurel, Diogenes Laertios, auf lateinisch bei Cicero und Seneca. Ihre Wirkung wurde neutralisiert oder verstärkt, weil sie von christlichen Autoren zitiert, teilweise sogar rezipiert worden waren, so bei Paulus und Lukas, Tertullian und Augustin.37 In dem »Siebenteiligen Gespräch über die Geheimnisse erhabener Dinge«, das sieben Vertreter der europäischen Religionsgeschichte führen, vertritt Diegus Toralba die stoische Position: er ist naturalista.38 In diesem Colloquium wirken des Weiteren mit: ein Katholik, ein Lutheraner, ein Calvinist, ein Ethnicus – nicht für die paganitas, sondern für die skeptische Position:39 er billigt alle Religion, glaubt aber keine –, der Jude Salomo und Octavius, ein zum Islam konvertierter Katholik.40 Der Atheismus (Epikureismus) ist nicht durch eine Person vertreten, aber als bedrohliche Versuchung gegenwärtig. Der Dialog ist so kunstvoll geführt, dass bis zum heutigen Tag offen ist, welche Position der Verfasser des Colloquiums selbst einnimmt.41

37 Paulus Röm. 1,20 ff.; 2,14; Tertullian, Apologeticum 17,6 (Gotteserkenntnis aus dem »Kosmos« mit Bezug auf Röm. 1,19-22); eine christliche Weiterentwicklung bei Augustin, Retractationes 1,13: »Die Sache (res) selbst, die man jetzt die christliche Religion nennt, war bei den Alten vorhanden, und zwar von Anbeginn der Menschheit bis zur Fleischwerdung Christi. Von da an begann man die wahre Religion, die bereits existierte, die christliche zu nennen«. 38 Johannes Bodinus, Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis. – Zum Streit um die Verfasserschaft siehe Faltenbacher: Das Colloquium Heptaplomeres und das neue Weltbild des Galilei. Ders. (Hg.), Magie, Religion und Wissenschaften im Colloquium heptaplomeres. 39 R.H. Popkin, The History of Scepticism. 40 Der Name spielt vielleicht auf den »Octavius« des Minucius Felix an. 41 Für den Judaismus plädiert D.P. Walker, Magic, 1958, S. 171ff.: »By the end of his life Bodin had ceased to be a Christian and believed in a kind of simplified, archaic Judaism«. Bodin sei gegen Trinität, Erbsünde, Inkarnation, für einen strengen Monotheismus.

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Der Platz, an dem europäische Religionen im 16. Jahrhundert sich mit einiger Wahrscheinlichkeit treffen können, ist Venedig: In Spanien sind die Muslime längst vertrieben, die Juden unterdrückt, in England Katholiken, im Kirchenstaat und in Frankreich Protestanten; die Genfer Calvinisten haben Servet verbrannt; Bodin war anwesend. Der fromme Fanatismus lässt Religionsgesprächen wenig freien Raum. Die äußeren Formen sind antikisch: reiches Gastmahl in schöner Umgebung, gepflegter Dialog mit kleineren Lehrvorträgen, am Schluss Musik.42 Toralba, der Naturalist, argumentiert folgendermaßen:43 »Wenn Naturgesetz und natürliche Religion, die dem Menschengeist eingesät ist, ausreicht, um das Heil zu erreichen, dann sehe ich nicht, warum die Riten des Moses und Zeremonien nötig sein sollten. Und wir sehen, dass die ältesten Fürsten und Eltern des Menschengeschlechtes keine andere Religion hatten (als die natürliche), [...] nicht gelehrt, sondern eingefärbt von der Natur selbst [...]. Genau das aber bekennt Paulus, an die Römer schreibend: Die Völker, sagt er, die das Gesetz nicht haben, leben rechtmäßig durch die Natur selbst [...], wobei das Gewissen ihnen Zeuge ist«.

Die Annahme, die naturalis religio sei »die älteste«, stimuliert religionsgeschichtliche und ethnologische Forschungen.44 Gegenüber der natürlichen Religion sind die historischen, positiven, geoffenbarten Religionen alle gleich, sekundär, ihr Ritenapparat ist überflüssig. Auf dieser Grundlage sind Toleranz und Religionsfreiheit möglich. Bodin

42 Vgl. hier §4. 43 Colloquium, S. 143 (Noack): Toralba: Si naturae lex et naturalis religio, mentibus hominum insita, sufficit ad salutem adipiscendam, non video, cur Mosis ritus, ceremoniaeque necessariae sint; p. 172: Toralba: Nec aliam religionem habuisse videmus antiquissimos humani generis principes ac parentes [...], non instituti sed imbuti ab ipsa natura [...]. Quod ipsum Paulus ad Romanos scribens [...] confitetur: Gentes, inquit, quae lege vacant, natura ipsa legitime vivunt [...] testificante conscientia ipsorum (Paul. Röm. 1,20ff.; 2,14: nomos/ physis [vόµoς/φύσις]). 44 Vgl. K.-H. Kohl, »Naturreligion. Zur Transformationsgeschichte eines Begriffes«, in: R. Faber/R. Schlesier (Hg.), Die Restauration der Götter, Berlin 1988, S. 198-214.

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formuliert sie, wiederum in stoischer Tradition, als ein Naturrecht des Menschen (ius humanum).45 Natürliche Religiosität, Religionsfreiheit, philosophische und historische Religionsforschung sind ›Orte‹, die antike Tradition, hier besonders die stoische Philosophie, in der europäischen Religionsgeschichte geschaffen oder ausgebaut hat. Die »Betrachtung der Natur« (contemplatio naturae), welche die Utopiensier als wahren Gottesdienst zelebrieren, die mehr rationale Naturforschung und das mehr emotionale Naturgefühl werden von dieser naturalis religio getragen, wobei das Gewicht anderer Traditionen jeweils abzuschätzen wäre. Ein Beispiel möge den Zusammenhang zwischen philosophischer und historisch-kritischer Religionsforschung veranschaulichen. §3.3 Edward Lord Herbert of Cherbury: De religione gentilium, 1642/45 1. In einem seiner letzten Werke hat Edward Lord Herbert of Cherbury (1581-1648) seine religionsphilosophischen Annahmen – die »fünf Säulen«46 – an der Geschichte der römischen Religion zu verifizieren versucht: De religione gentilium errorumque apud eos causis. Ziel und Methode fasst er folgendermaßen zusammen: »[...] es dürfte sich lohnen, die Gründe und Anfänge des religiösen Kultus der Völker zu erforschen, [...] deshalb habe ich also untersucht, was aus den Philosophenschulen, den Gesetzesvorschriften und der priesterlichen Praxis selbst von den Historikern tradiert ist«. 47

45 Colloquium, S. 356 (Noack) unter Benutzung von Tertullian, ad Scapulam 2 gegen die traditionelle Auslegung von compelle intrare – »dränge einzutreten« (sc. in die Kirche) nach Luk. 14,23, etwa in der Auslegung von Augustin (epist. 185,11). 46 Edward Lord Herbert of Cherbury, De religione gentilium errorumque apud eos causis. Die fünf articuli oder columni der natürlichen Religion lauten gemäß Herbert of Cherbury (p. 210): esse Deum summum; coli debere; virtutem esse praecipuam cultus divini partem; resipiscendum esse a peccatis: dari poenam et praemium tum in hac vita tum post hanc vitam. Das ist die reine, seit Ewigkeit bestehende Religion. 47 Ibid., S. 168: Hisce enarratis operae pretium erit cultus Religiosi Ethnicorum causas primordiaque investigare; [...] Hujus causa igitur ex Philo-

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Er benutzt stoische Religionsphilosophie und griechische Religionsgeschichtsschreibung, die ganze Fülle antiquarischer Gelehrsamkeit von Diodor bis Martianus Capella.48 Seine Arbeit wird gestützt durch eine Abhandlung des großen holländischen Philologen Gerardus Joannes Vossius (1577-1649), die jüngst erschienen war:49 Die Abhandlung über »Gentile Theologie und christliche Physiologie oder über den Ursprung und Fortschritt der Idololatrie« ist zusammengebunden mit dem Traktat des Moses Maimonides (1135-1204) »Über Idololatrie«, übersetzt und adnotiert von Dionysius Voss, dem Sohn des Gerardus.50 Lord Edward findet die ursprüngliche Religion der Völker: ritenlose Gestirns- und Heroenverehrung – internus Dei cultus.51 Die Priester hätten das Volk verdorben mit Mythen und dem äußeren Prunk der Riten: sacerdotalis fraus, Priesterbetrug. Die Gebildeten hätten den Trug nicht aufgedeckt, weil sie um den Bestand der Gesellschaft fürchte-

sophicis scholis, Legum praescriptis et ipsa sacerdotum praxi ab Historicis passim tradita indagavi. 48 Eine kleine Auswahl aus den von Herbert of Cherbury zitierten antiken Quellen: (a) Cicero, de natura deorum, B. II (stoische Theologie): S. 124; B. III (Widerlegung der stoischen Theologie durch den akademischen Skeptiker): S. 128; 133; Cicero, de legibus, B. II (Rahmengesetz für eine universale Religion auf der Grundlage stoischer Philosophie): S. 229; (b) Herodot B. II (ägyptische Religion und ihr Verhältnis zur griechischen); Livius B. I (Stiftung der römischen Religion); Diodorus Siculus (die ›Urreligion‹ der frühesten Völker). 49 Gerardus Joannes Vossius (1577-1649), De theologia gentili, et physiologia christiana; sive de origine ac progressu idololatriae, ad veterum gesta, ac rerum naturam reductae, deque naturae mirandis, quibus homo adducitur ad Deum, liber I, II, Amsterdam 1642 (Frankfurt 1668). Der Titel erinnert an Walahfrid Strabo: Liber de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum (hg. v. Alois Knoepfler, München 1899); vgl. H. Cancik, »Historisierung von Religion – Religionsgeschichtsschreibung in der Antike (Varro – Tacitus – Walahfrid Strabo)«, in: Glenn W. Most (Hg.), Historicization – Historisierung, Göttingen 2001, S. 1-13, §4. 50 Moses Maimonides, De idololatria liber, cum interpretatione latina & notis Dionysii Vossii. Beigebunden: Gerardus Joannes Vossius: De theologia gentili, et physiologia christiana (s. vorige Anm.). 51 Herbert of Cherbury, De religione, S. 228ff.

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ten.52 Immerhin hätten einige den Betrug durchschaut, etwa Varro in seinen Antiquitates rerum divinarum. Hier, in Varros Darstellung der römischen Religion, konnte Herbert of Cherbury das Muster einer Verfallsgeschichte finden – von einer reinen ›Urreligion‹ ohne Tempelhaus und Götterbild zu einer prunkvollen, aber von den Bürgern ignorierten Staatsreligion:53 »Ich will schließen mit einer Stelle aus Varro: [...] Die Römer nämlich hätten mehr als 170 Jahre die Götter ohne Bild verehrt [...]; wenn das weiterhin so geblieben wäre, würden die Götter reiner verehrt werden«.

An derselben Stelle fand Herbert of Cherbury die theologia naturalis der Stoiker und Varros Gedankenexperiment, in einem neuen Staat eine neue Religion »nach der Formel der Natur« einzurichten54 – eine utopische Religion sozusagen.55 Thomas Morus muss die Stelle gekannt haben.56 2. Lord Edward benutzt einen generellen Begriff von Religion, der ihm die Feststellung und den Vergleich von Religion in den verschiedenen Kulturen überhaupt erst ermöglicht. Er kann dafür die antike Religionsgeschichtsschreibung und Religionsphilosophie benutzen. Vergleichung der Religionen gehört seit den Anfängen (5. Jh. v.Chr.) zur wis-

52 Herbert of Cherbury, De religione, S. 182; S. 202: Absque ritibus quibusdam (e. g. Reinigungsriten) neque populus satis constringi neque sacerdos suum imperium exercere umquam potuit. 53 Varro bei Augustinus, de civitate Dei 4,31 = B. I frg. 18 (hg. von B. Cardauns, Wiebaden 1976): zitiert bei Herbert of Cherbury, De religione, p. 227-229: Loco Varronis claudam [...] (Varro, antiquitates rerum divinarum I) [...] Romanos enim plusquam annos CLXX Deos sine simulacro coluisse [...] quod si adhuc mansisset, inquit idem author [sic], castius Dii observarentur [...]. Vgl. ebd. p. 114 (Varro über die di incerti). 54 Augustinus, de civitate Dei 4,27; 6,5 (= Varro B. I, frg. 7 ff.). 55 Augustinus, de civitate Dei 4,31 (= Varro, B. I frg. 12): [...] si eam civitatem novam constitueret, ex naturae potius formula deos nominaque eorum dedicaturum. 56 Morus hat in seiner Jugend Vorlesungen über Augustins ›Gottesstaat‹, in dem die varronischen antiquitates rerum divinarum ausführlich zitiert werden, gehalten.

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senschaftlichen Methode.57 Der allgemeine Religionsbegriff mag »eine spezifisch neuzeitliche Schöpfung der okzidentalen Geistesgeschichte«58 sein, aber er ist keine Schöpfung ex nihilo. Die Historisierung sogar der eigenen Religion, ihre philosophische Analyse und Kritik ermöglichten es der Antike, fremde Religionen nicht als Gegenstand der Polemik, bestimmt zu Widerlegung, Bekehrung oder Ausrottung, wahrzunehmen. Das Konzept der alten theologia naturalis und einer allgemeinen religio naturalis macht überdies Gemeinsamkeiten der verschiedenen historischen, positiven Religionen sichtbar und schafft damit eine Voraussetzung von Toleranz.

§4 B RUDERSCHAFT – S YMPOSION : DIE S OCIETIES OF THE L EARNED

UND IHR

K ULT

§4.1 Humanistische Gemeinschaftsbildung Neuzeitliche Intelligenz hat in ihren Assoziationen antike Gesellungsformen und ihre Orte aufgegriffen:59 Akademie, Kepos, Villa im Park, Lykeion, das Museion und die Bibliothek nach dem Vorbild von Alexandria und Pergamon, das Theater mit seinen Techniten. Die Intellek-

57 H. Cancik/H. Cancik-Lindemaier, »›Parallels‹ – How the Ancients Compared Their Religions«, in: Hyperboraeus 7, Fasc.1-2 (2001), S. 308-323. H. Cancik, »Wahrnehmung, Vermeidung, Entheiligung, Aneignung: Religionen bei Tertullian, im Talmud (AZ) und bei Eusebios«, in: D. Elm von der Osten/J. Rüpke/K. Waldner (Hg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart 2006, S. 225-231. 58 Volkhard Krech, Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871-1933, Tübingen 2002, S. 9; vgl. H.G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997. Die antike Religionsforschung und ihre Rezeption bei Bodin, Herbert of Cherbury, Toland, Vossius sind von Krech und Kippenberg nicht berücksichtigt. 59 Christine Treml, Humanistische Gemeinschaftsbildung. Soziokulturelle Untersuchungen zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit, Hildesheim 1989 (zum Zeitraum 1480-1530); vgl. R. Faber/C. Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000.

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tuellengruppen in der bürgerlichen Kultur verlängern also nicht einfach – wenn überhaupt – häretische Linien des Christentums.60 Sie nutzen auch antike Modelle für ihre Einrichtungen, Kommunikationsformen (Dialog und Brief), Motivation – etwa philosophische Konzepte und geschichtliche Exempla von Freundschaft: »ich sei, [...], in eurem Bunde der Dritte«. Als literarische und reale Form des »Zusammenlebens« (convivium) war das Symposion und Syssition besonders beliebt. Die »sokratischen Symposia« von Platon und Xenophon, das Gastmahl der sieben Weisen, die gelehrten Abhandlungen des frommen Plutarch (quaestiones convivales) und Macrobius (Saturnalia) und die veristische Satire der cena Trimalchionis gaben der Neuzeit genügend Auskunft über die Ordnung des Symposiums, Riten, Bräuche, Sitzordnung, Gesprächsthemen.61 John Toland (1670/71-1722) zitiert all diese und viele andere Quellen, um seiner sodalitas Socratica eine antike Verfassung zu geben. Der Titel seiner Satzungsschrift lautet: Pantheisticon. Sive Formula celebrandae Sodalitatis Socraticae (in tres partes divisa) quae Pantheistarum sive Sodalium continet I. Mores et Axiomata; II. Numen et Philosophia; III. Libertatem et non fallentem Legem etc.

Die Schrift erschien zunächst anonym, als Druckort war Cosmopolis angegeben, als Erscheinungsjahr 1720.62 Nur wenige Exemplare wurden auf Rechnung des Verfassers gedruckt, wohl als Geschenk im Freundeskreis; das Büchlein sollte keine Provokation für ein großes Lesepublikum werden.

60 W. Eßbach, »Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur«, in: Faber/ Holste (Hg.), Kreise, S. 23-33. 61 Vgl. John Toland, Pantheisticon: or, the Form of Celebrating the Socratic Society, S. 65-66 mit Zitat aus Cicero, de senectute, cap. 13. – J. Martin, Symposion. Die Geschichte einer literarischen Form, Paderborn 1931. Viel gelesen war das spätantike Symposion des Macrobius (Saturnalia, um 400 n.Chr.), das Vergilscholastik und Neuplatonismus verbindet. 62 Die englische Übersetzung von 1751 (Ndr. 1976) nennt John Toland auf dem Titelblatt; Toland war am 11. Mai 1722 gestorben.

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§4.2 John Tolandʼs Sodalitas Socratica 1. Das »Pantheisticon« gibt eine knappe Darstellung (a) der antiken und modernen Societies of the Learned, (b) der »Mysterien der Natur« – Toland betont:63 keine Theologie –, (c) drei Musterrituale für die Feiern der Sodalität. Toland, Schöpfer des Begriffs ›Pantheismus‹,64 reproduziert das Standardwissen über antike Collegien, Kultvereine, Bruderschaften:65 »The former (more voluntary societies), of which we speak here, were called by the antient Greeks and Romans, Brotherhoods, Friendships, Fellowships, Societies. The latter (less voluntary societies) too, affect very often the same Appellation; but we are not to treat here of the Corporations of Merchants and Artizans, nor of religious Communities and political Assemblies; such were the Arval Brethren, Titian Companions, Augustals, Flavials and Antoniniani«.

Toland grenzt seine Societas Socratica von den Zünften und Kultvereinen ab: Sie diene, wie viele griechische und römische Gesellschaften (societies), »for the Pleasure or Instruction of the Mind«.66 Für die Mysterien der Natur werden alle antiken Aussagen über das All, das Ganze, das Universum und seine Teile synthetisiert, besonders von Vorsokratikern und Stoikern; sogar ein so abgelegener Autor wie der Tragiker Pacuvius wird zitiert.67 Toland formuliert daraus sein pantheistisches Symbol: »Die Sonne ist mein Vater, die Erde meine Mutter, der Kosmos meine Heimat, und alle Menschen sind mir verwandt«.

63 Toland, Pantheisticon, Vorwort. 64 J. Toland, Socianism Truly Stated, 1795; vgl. Lechler, Deismus, S. 180210. 65 Toland, Pantheisticon, S. 9-11: »of the Antient [sic] and Modern Societies of the Learned as also a Dissertation upon the Infinite and Eternal Universe«. – das Zitat S. 10. 66 Pantheisticon, S. 9-11. 67 Pantheisticon, S. 33, aus Cicero, de divinatione 1,57. Es fällt auf, dass so wenig zeitgenössische Autoren benutzt sind, nicht einmal Giordano Bruno, über dessen Tod Toland eine knappe historische Darstellung geschrieben hat (Amsterdam, 1709).

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Die drei Rituale am Schluss des Büchleins verbinden jüdischchristlichen Wortgottesdienst mit hellenisch-römischem Symposion, also Gebet, Lesung, Gesang mit Libation und Trinken von Wein. Gebete und Lesungen feiern und prägen die Axiome und Werte der Sodalität ein. Musen und Grazien erhalten, wie beim Gelage üblich, Spenden;68 andere Götter werden nicht beopfert. Dennoch dürfte man das Ritual als Paganismus im strengen Wortsinn bezeichnen:69 Revitalisierung antiker Religion in Imitation und Opposition zum Christentum. Die Gebete sind römisch-antikisch mit christlichen Variationen; die Lesungen stammen aus Cicero, die Lieder aus Horaz.70 Es sind philosophisch und moralisch erbauende Texte, ein Frühlingslied (Diffugere nives, redeunt iam gramina campis, Horaz, carmina 4,7), kein Liebeslied. Die Feier wird geleitet von dem Modiperator, dem lateinischen Äquivalent für den griechischen Symposiarchen:71 Modiperator praefatur: Quod felix faustumque sit, Respondent ceteri: Socraticum instituimus Sodalitium. Mod. Floreat Philosophia! Resp. Cum artibus politioribus. Mod. Favete linguis, VERITATI, LIBERTATI, SANITATI, triplici Sapientum voto, cötus hic sacer esto. Resp. Et nunc et semper. [...] Mod. Libemus Musis. Rsp. Poculis poscimus mediocribus.

68 P. Boyancé, Le culte des Muses chez les philosophes Grecs, Paris 1937. 69 Vgl. H. Cancik, »Paganismus«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, 1998, S. 302. 70 Ritual A: Cicero, de senectute 13 (das convivium anlässlich des Festes der Mater Magna); Cicero, de divinatione I (Schluss; gegen den Aberglauben); Cicero, de senectute 14. – Lieder im Anhang, S. 91: Vides ut alta stet nive candidum – Lib.1. Od.9 Quid dedicatum poscit Apollinem – Ibid. Od.31 Nullus argento color est, avaris – Lib. 2. Od.2 Aequam memento rebus in arduis – Ibid. Od.3 u. a. m. 71 Das Wort modimperator ist für Varro bezeugt bei Nonius 142,7. Ob Toland eine Mittelquelle hatte, ist mir unbekannt.

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Die Form ist christlich, der Inhalt neu-römisch. Die Triade ist keine Blasphemie auf die Trinität, sondern – in der Tradition der Renaissance-Mysterien – die Entfaltung des Begriffs Philosophia, so wie etwa die drei Grazien die Gottheit Venus explizieren.72 2. Eine Charakteristik und Bewertung der drei pantheistischen Rituale ist schwierig:73 akademischer Ulk für ein Verbindungsfest? Klassisch verbrämte Blasphemie? Oder heiterer Ernst für einen Kreis philosophischer Freunde? Einen gewissen Anhalt dafür, wie die Zeitgenossen das Pantheisticon eingeordnet haben, bietet die Randnotiz, die der Drucker oder Übersetzer den Ausführungen über die antiken Bräuche und Sodalitäten beigeschrieben hat: »It may be that the author alludes here to the Company of Free-Masons«. Toland selbst gibt an, der Hauptsitz, die Zitadelle sozusagen, der pantheistischen Sekte sei London:74 »Many of them are to be met with in Paris, in Venice, in all the Cities of Holland, especially at Amsterdam, and some, which is surprizing, in the very Court of Rome, but particularly and before all other Places, they abound in London, and have placed there the See, and, as it were, the Citadel of their Sect. Tis plain, I speak not of the Royal British Society, nor of the French Academy of Virtuosos, nor of any such public Assembly«.

In London aber war 1717, wenige Jahre vor dem Druck des Pantheisticon, die Erste Großloge der Freimaurer in Großbritannien gegründet worden, mit einem sehr schnellen und großen Erfolg, auch außerhalb Englands.75

72 E. Wind, Heidnische Mysterien, 285ff.: »Heidnische Triaden«. 73 Sehr negativ Lechler: Deismus, 477: »Das Büchlein ist ein paradoxes, frivoles Spiel der Phantasie, das die Einen kitzeln, die Anderen reizen soll«. Aber die Texte sind ganz ernsthaft, hochmoralisch; die Auswahl aus Horaz bietet keinerlei Hinweis auf Frivolität. 74 Pantheisticon, S. 57f. 75 Erste deutsche Freimaurerloge in Hamburg: 1737. Apostolisches Schreiben des Papstes Clemens XII. vom 28. April 1738: »Über die geheimen Vereine« (De clandestinis societatibus), besonders über die liberi Muratori; sie sind wie Häretiker zu bestrafen.

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Die Satzungen von Logen und die Gesangbücher für Freimaurer bieten allerdings, soweit meine sehr geringen Kenntnisse eines weiten Feldes diese Aussage gestatten, keine spezifischen Bezüge zu Tolandʼs Büchlein.76 Das Pantheisticon ist entschieden und durchgängig klassizistisch, in der Lehre wie im Ritual. John Tolandʼs Schöpfung zeigt also einen weiteren Ort, den ›Antike‹ in einer ›Religionsgeschichte Europas‹ einnimmt, nämlich in den Formen der Gemeinschaftsbildung für die Religion der Intellektuellen und die bürgerliche Bildungsreligion. §4.3 Academia resurgens Die Organisation antiker Kultvereine und Philosophenschulen war der Neuzeit durch die Testamente der Schulhäupter, die Gelehrsamkeit der Antiquare und Doxographen – besonders des Diogenes Laertios – und durch den Spott Lukians vertraut.77 Die »geheimen Gesellschaften« beriefen sich für ihre Rituale, die gestaffelten Einweihungen, den Eid, die Arkandisziplin auch auf die antiken Mysterien. Eine fragmentarische, vieldeutige Überlieferung der Alten, die das Schweigegebot nur selten gebrochen hatten, bot der Nachantike Anstoß und Spielraum für Forschung, Phantasie und konkrete Anwendung. Ausführliche Schilderungen der Isis-Weihen bei Apuleius, von Mysterien-Theologie bei Plutarch und dem Neuplatoniker Iamblich gaben Anschauung und die Verknüpfung mit platonischer Philosophie.78 Das Geheimnis gibt den Wissenden Selbstwertgefühl und Autorität. Die drinnen verstehen die Hieroglyphen, Symbole, Rät-

76 Vgl. J. Anderson, The Constitution of the Free-Masons etc., London 1723; dt. Wiesbaden 1902. – Grundvertrag oder Fundamental-Constitution der gerechten, vollkommenen und vollendeten gr. Mutterloge Royale York zur Freundschaft, Berlin 1797. 77 Lukian, Vitarum auctio (die philosophischen Lebensformen werden versteigert); Lukian, Hermotimos (über die verschiedenen Schulen). 78 Apuleius, Metamorphosen B. XI: Die Isisweihe des Lucius mit den Stichworten renatus und reformatio; in den Büchern IV-VI steht das Märchen von Amor und Psyche, das als Kompendium platonischer Seelenlehre – Schönheit, Liebe, Gottschau – gelesen werden konnte. – Plutarch, de Iside: ein ergiebiger Zeuge und Vermittler des antiken imaginaire von Ägypten. – Iamblich, de mysteriis; Ps.-Dionysius Areopagita, Mystische Theologie (um 500 n.Chr.)

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sel; die draußen sehen nur die Bilder. Die wissenschaftliche Freimaurerei erforscht in Vorträgen und Publikationen die Geschichte des pythagoreischen Freundschafts-Bundes, der Neuplatoniker, der eleusinischen Mysterien, der dionysischen und kabirischen Mysterien und schließlich alle Mysterien der Hebräer, Etrusker, Ägypter und alten Perser.79 Sie reflektiert das Verhältnis zu dem unaufgeklärten Volksglauben und die Benutzung von Religion zur Herrschaft. Adam Weishaupt soll zur Gründung des Illuminaten-Ordens (1776) durch ein Buch des Göttinger Altertumswissenschaftlers Christoph Meiners (1714-1810) über die Geheimnisse von Eleusis angeregt worden sein.80 Ein lebendiges Beispiel bot italienischen Humanisten die »Schule« des Gemistos Plethon (ca. 1355-1452) in Griechenland, die einen eigenen Kalender, Hymnen, Allegorese des griechischen Mythos, eine Staatslehre und »Hellenische Theologie« in der Tradition Platons entwickelt hatte. Giulio Pomponio Laeto (Pomponius Laetus, 1425-1498), Professor an der Universität Rom, gründet 1464 die Accademia Romana. Die Mitglieder dieser eher lockeren Vereinigung nennen sich sacerdotes und ihren Gründer und Leiter pontifex maximus. Sie disputieren, rezitieren und feiern, etwa den Gründungstag von Rom. Pomponius fördert das Theater – auch dies ein »neuer« sozialer Ort und Wiederkehr antiker Öffentlichkeit. Nach dem Verbot durch Kaiser Iustinian (529 n.Chr.) wird die Idee von Platons Akademie als einer geselligen Institution für Gelehrte und Gebildete in Florenz seit 1400 wiedergeboren. Ciceros Tusculum hatte die Übertragbarkeit der Einrichtung gezeigt: ›Academia nostra‹ und ›Lyceum‹ nennt Cicero die Bauten im Park seines Landguts bei Rom. Sie sind ausgestattet mit einer Bibliothek, Brunnen, Wandelhallen, ehernen und marmornen Bildwerken und einer Hermathena.81 Marsilio Ficino hatte 1462 von Cosimo de Medici ein Landhaus bei Careggi/ Florenz zum Geschenk erhalten. Dort konstituiert sich die Florentiner Akademie: Sie stellt eine Büste Platons auf, die aus der alten Akade-

79 Nachweise bei Jan Assmann, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München/Wien 2005, S. 155-160: »Das Mysterienprojekt der Wahren Eintracht«, ab ca. 1780. 80 Vgl. C. Meiners, Allgemeine kritische Geschichte der Religionen, 2 Bde., Hannover 1806-1807; vgl. Assmann, Zauberflöte, S. 152. 81 Cicero, Tusculanae disputationes 3,3,7; vgl. 2,9; 4,7; de divinatione 1,8; 2,8.

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mie in Athen stammen soll. Man feiert den Geburtstag Platons (7. November) mit einem Symposion, für das der Gefeierte das schönste Modell gedichtet hatte. Porphyrios hatte einst, nach dem Muster vieler Philosophenschulen, einen Hymnus zu Platons Geburtstag gedichtet.82 Die Nova Academia versteht sich als Auferstehung der alten Akademie.83 Sie wird zum Vorbild für eine sehr große Zahl von Akademien in Italien und Europa. Damit verbreitet sich eine neue Form der Vergemeinschaftung von Intelligenz und der Organisation von Wissenschaft und Kunst. Die Organisation ist zunächst privat, wird alsbald von den Höfen gefördert und schließlich staatlich. Diese neue Form ist nicht das Ergebnis einer Säkularisierung seiʼs von Kloster oder Stift, sondern Neugewinn an kulturellem Besinnungsraum. Die Entstehung einer république des sciences et des lettres, die Bereicherung und Differenzierung im System Wissenschaft, Bildung, Kunst ist ein entscheidender Beitrag der Antike zur Formung der neuzeitlichen Religions- und Geistesgeschichte Europas.

§5 P HILOSOPHUS : R ELIGIONSGESPRÄCH

UND

R ELIGIONSKRITIK

§5.1 Europäische Religionsgespräche 1. Die Antike vermittelt der europäischen Religions- und Geistesgeschichte Philosophie, Philologie, Historie, Wort und Begriff Theologie,84 kosmologische, metaphysische Spekulation, dazu Muster von Frömmigkeit, etwa in den Lebensbeschreibungen von Pythagoras, Numa Pompilius, Apollonios von Tyana. Die ebenso schematische wie nützliche Dreiteilung der Theologie (theologia tripertita) in natürliche, mythische, politische (naturalis, fabularis, civilis) blieb, von Varro

82 Porphyrios, Vita Plotini 15. 83 Quellen und Literatur bei Stefan Rebenich, »Akademie«, in: Der Neue Pauly 13, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 40-56. 84 Platon (de re publica 2,379a) benutzt, nach unserem Überlieferungsstand, als erster das Nomen theologia, um die Mythen der alten Dichter über Gottheit, Kosmos, Mensch zusammenzufassen und zu kritisieren. Durch Clemens, Origenes, Eusebius wird das Wort im Christentum rezipiert.

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über Augustin vermittelt,85 im Westteil des imperium bekannt.86 Die »Alten Theologen«, von Orpheus, Linos, Eumolpos, Musaios bis Aristeas und Pherekydes von Syros (6. Jh. v.Chr.), sind von den Musen inspiriert; sie überliefern uralte, wie man glaubt, Offenbarungen. Hinzu kommen die Weisen aus dem Orient mit ihrer hochgeschätzten esoterisch-barbarischen Weisheit: Zoroaster, der Perser – durch Mozarts Sarastro dem kulturellen Gedächtnis unverlierbar – und Hermes, der Ägypter, der »Dreimalgroße«, die chaldäischen Orakel. Porphyrios integriert sie in eine neuplatonische »Philosophie aus Orakeln geschöpft«.87 So werden Hermetik, Orphik, Theosophie sowie, ebenfalls zu guten Teilen ›antikes Erbe‹, Alchimie und Astrologie ein wichtiger Bestand der europäischen Religionsgeschichte.88 Zwar widerlegte Isaac Casaubonus (1559-1614) die Annahme, das Corpus Hermeticum sei uralt; er datiert es zu Recht in die Spätantike. Dennoch blieben hermetische Lehren, ägyptisierende Erbauungsliteratur, orphische Urworte wirkungsvolle Tradition bis in das 19. Jahrhundert, psychologisch gedeutete Alchimie und mehr therapeutische als divinatorische Astrologie bis in die Gegenwart.89 2. Die Antike vermittelt der europäischen Religions- und Geistesgeschichte aber auch theoretische, moralische, radikale oder auf Reform zielende Religionskritik, Skepsis und Atheismus.90 Der von den Spezialisten als ältester Text des neuzeitlichen Atheismus bezeichnete Traktat »Theophrastus Redivivus« (um 1659) schmückt sich aus durchaus gebotener Vorsicht mit einem antiken Pseudonym.91 Dieser wiederbe-

85 Augustinus, de civitate Dei 6,4-6. 86 D.P. Walker: The Ancient Theology. P.O. Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino; Robert Lamberton: Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading and the Growth of Epic Tradition, Berkeley 1986. 87 Porphyrios, De philosophia ex oraculis haurienda. 88 F.A. Yates, Giordano Bruno. 89 C.G. Jung, »Psychologie und Alchimie«, in: Psychologische Abhandlungen, hg. v. C.G. Jung, Bd. 5, Zürich 1944; K. v. Stuckrad, Astrologie. 90 H. Cancik-Lindemaier, »Gottlosigkeit im Altertum. Materialismus – Pantheismus – Religionskritik – Atheismus.« 91 W. Schröder, Ursprünge des Atheismus, S. 50; ders. (Hg.): J. F. Reimann, Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum

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lebte Theophrast sammelt aus antiken Klassikern Zitate zu den Themen ›Götter, Welt, Religion, Seele und Unterwelt, Tod und Leben gemäß der Natur‹ (de diis, de mundo, de religione, de anima et de inferis, de contemnenda morte, de vita secundum naturam). Die Schrift gilt als eine Anthologie des Atheismus.92 Der neue Zugriff auf die antike Tradition in der Renaissance des Quattrocento beförderte Neuplatonismus und die »Alte Theologie«, aber auch die bereits vorher wohlbekannten, aber wenig geschätzten Philosophen des Hellenismus und ihre römischen Vermittler.93 Stoa und Epikur, Lukrez, Cicero und Seneca treten in den Vordergrund und mit ihnen eine materialistische (monistische) und eine atomistische Theologie, die akademische Skepsis, eine radikale Moralität und Innerlichkeit. Diese Rezeptionsstufe prägt dann – neben vielen anderen: technischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und religiösen Faktoren – das, was sich später ›die Moderne‹ nennt. 3. Hierbei werden antike Lehrsätze, Argumentationsformen und Lebensregeln tradiert und in günstiger Situation rezipiert, aber auch das Prinzip ›Philosophie‹ als solches, die Gestalt des Philosophen, Art und Ort seines Philosophierens. Das Gespräch in der Öffentlichkeit, auf dem Markt, im Gymnasion oder privat im Stadthaus oder, wenn vorhanden, in der Villa mit Park ist eine charakteristische Form des philosophischen Lebens der Antike. Das freie, offene Gespräch mit lockerer Konversation, kurzen, schnellen Wechselreden oder längeren Lehrvorträgen war in den Dialogen Platons und Ciceros in Szene gesetzt. Das Gespräch ist engagiert, sucht zu überzeugen, vermeidet jedoch Dogmatismus und den Zwang, ein fixes Ergebnis oder Einstimmigkeit zu

(Hildesheim 1725), 1961. – Große Teile der religionsgeschichtlich wichtigen Schrift des Peripatetikers Theophrast von Eresos (ca. 371/0-287/6 v.Chr.): »Über Frömmigkeit« sind erhalten bei dem Neuplatoniker Porphyrios: »Über Enthaltsamkeit«. 92 Theophrastus Redivivus. Erste kritische Ausgabe von G. Canziani/G. Paganini; zur Einschätzung der Schrift vgl. auch Tullio Gregory, Theophrastus redivivus. Erudizione e ateismo nel Seicento, Neapel 1979, bes. 9-14: Hinweise zu der kurzen Forschungsgeschichte. 93 Grundsätzlich zu dieser neuen Rezeptionshaltung: A. Schmitt, Die Moderne und Platon, bes. S. 66-69: »Die Renaissance: nicht die Wiedergeburt ›der‹ Antike, sondern die Wiederbelebung der hellenistischen Antike«.

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erreichen. Diese Geselligkeit und Offenheit, bei Cicero verstärkt durch die Technik, nach beiden Seiten zu disputieren (in utramque partem disserere), die akademische »Zurückhaltung des Urteils« (epoche [ἐπoχή]) und ein auf die jeweils größte Wahrscheinlichkeit (verisimile) reduzierter Wahrheitsanspruch machen Ciceros Dialoge zum Ausgangspunkt neuzeitlicher Dialogliteratur, etwa bei Petrarca und Leonardo Bruni.94 4. Ciceros Gespräch »Über die Natur der Götter« wurde, schon für die Christianer der Antike, zu einem Muster für Gespräche über Religion und Theologie. Ein Epikureer und ein Stoiker entwickeln die Theologie ihrer Schule; ein Vertreter der akademischen Skepsis widerlegt sie beide und beharrt auf »Glauben«, Autorität, Tradition, die durch rationale Philosophie nicht erschüttert oder gerechtfertigt werden können. Cicero referiert nur das Gespräch und vertritt für seinen Teil eine Vermittlung von Stoa und Skepsis als »wahrscheinlichere« Lösung. Das Gespräch gilt als »unser frühestes erhaltenes Werk einer vergleichenden Studie der Religionsphilosophie«.95 Es ist der Referenztext für Lord Edward, Locke, Toland, Collins und andere Vertreter und Gegner des Deismus:96 Beide Seiten benutzen den alten Philosophen, setzen sozusagen das Gespräch fort. 5. Das Religionsgespräch ist, wie am Beispiel des Heptaplomeres deutlich wurde, eine Möglichkeit, verschiedene Religionen zu vergleichen, und gegebenenfalls Gemeinsames festzustellen oder Toleranz zu lernen. So disputiert Justin (2. Jh. n.Chr.) mit dem Juden Trypho und, in engem Anschluss an Cicero, Minucius Felix mit dem Römer Octavius. Die Sache der Götter der »Völker« (ethne [ἔθvη]; nationes) vertritt nicht ein Priester oder Kultfunktionär, sondern ein philosophisch und rhetorisch gebildeter Römer. Eine Disputation zwischen Bischof und

94 Leonardo Bruni, Dialogi ad Petrum Histrum, 1406. Der erste Dialog spielt im Kreis des Coluccio Salutati in Florenz und enthält einen programmatischen Bezug auf Cicero. Vgl. D. Marsh, The Quattrocento Dialogue. Classical Tradition and Humanist Innovation, Cambridge (Mass.) 1980. 95 A. Stanley Pease, M. Tulli Ciceronis de Natura Deorum, 1955 = 1968, Bd. 1, S. 8. 96 T. Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte, S. 210-232.

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Pontifex gibt es nicht einmal als literarische Fiktion. Das Religionsgespräch kann aber auch staatlich inszeniert werden, wie das »Religionsgespräch am Hofe der Sasaniden« (5. oder 6. Jh. n.Chr.).97 Hier streiten Hellenen, Juden, Christianer und Magier über die Auslegung griechischer Orakel auf Alexander und Olympias oder Christus und Maria. Der persische König beauftragt seinen ›Erzkoch‹ Aphroditianus mit der Untersuchung der Angelegenheit. Aphroditianus ist Philosoph, lebt asketisch, ist weder Christianer noch Jude noch Magier, sondern heißt »Hellene«. Der Name impliziert aber nicht den Kult der olympischen Götter, sondern Philosophie, einfaches Leben, eine Stellung jenseits des Streites der Religionen. In dieser Rolle erscheint der gentilis philosophus in nachantiken Religionsgesprächen. Petrus Abaelardus (1079-1142), in Cluny in Klosterhaft (1141), schreibt einen Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christianer.98 Der Philosoph vertritt die Lehre vom natürlichen Sittengesetz (naturalis lex),99 von der Verehrung nur eines Gottes und die Geltung der Tradition »unserer Vorfahren«: Das sind für ihn Pythagoras und Thales, Sokrates, Platon, Aristoteles, Cicero und Boethius und die Gerechten des Alten Bundes vor Moses.100 Seine Religionszugehörigkeit ist unklar; er ist weder Christ noch Jude. Überhaupt sind für ihn Vernunft und Moralphilosophie ausreichend zur Erlangung des »höchsten Gutes« und des »wahren Glücks«: Die religiösen Zutaten sind »überflüssig«.101 Raimundus Lullus (1232-1316) führt drei Weise – keine Kleriker – aus den drei abrahamitischen Religionen mit einem »Heiden« zusam-

97 E. Bratke, Das sogenannte Religionsgespräch am Hof der Sasaniden. 98 Petrus Abailardus, Collationes sive dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum. 99 Petrus Abailardus, Collationes sive dialogus inter Philosophum, S. 8; 109ff., 186f. 100 Petrus Abailardus, Collationes sive dialogus inter Philosophum, S. 113, 160, 180. 101 Petrus Abailardus, Collationes sive dialogus inter Philosophum, S. 8f., 46ff.; 97; vgl. Abaelardus, Introductio ad Theologiam (Victor Cousin (Hg.), Abaelardus Opera (1859) Ndr. 1970, I, S. 28f.): nach den Zeugnissen der Propheten über die Trinität folgen die testimonia philosophorum.

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men, an einem schönen Ort mit Quelle und Baum.102 Sie disputieren über die Ewigkeit der Welt, Prinzipien, Tugenden und die Eigenarten der drei großen Religionen. Am erstaunlichsten ist, zumal im Hinblick auf die oft erzwungenen ›Religionsgespräche‹ der drei Religionen in Spanien, die Gestaltung des Schlusses. Der »Heide«, glücklich über so viel Belehrung, will seine Entscheidung kundtun, welche der drei Religionen er als die wahre gewählt habe. Aber die drei Weisen wollen es nicht wissen, verabschieden sich, verabreden einen neuen Termin. Welch respektvolle Dramaturgie: M. Tullius hat es kaum schöner machen können. §5.2 Theophrastus redivivus 1. Kritik an Mythen, an einzelnen Kulten, an Religion und Gottesbegriff als solchen ist alter und fester Bestandteil der antiken Religionsund Geistesgeschichte. Die Kritik dient oft der Reform, trifft aber wesentliche Formen der praktizierten Religion: das menschenförmige Götterbild, das Tieropfer, Reinigungsriten, Einweihungen.103 Grundsätzliche Kritik ist in einem poetischen, dem Kritias (gest. 404/3 v.Chr.) zugeschriebenen Text konzentriert:104 Religion ist die Erfindung eines schlauen Mannes; er benutzt die Furcht der Menschen vor Naturerscheinungen und ihre Unwissenheit; Religion beruht auf Lüge, dient der Kontrolle der Menschen und der Sicherung von Herrschaft. Theophrastus redivivus (um 1659), nach Meinung der Gelehrten der älteste atheistische Text – man muss wohl betonen: der Neuzeit –, zitiert Kritias vollständig und mit Zustimmung. Der moderne beruht auf dem antiken Atheismus.

102 Ramon Lull, Llibre del gentil e dels tres savis, verf. um 1276; Titel der lateinischen Übersetzung des katalanischen Textes: Liber de gentili et tribus sapientibus. 103 Nachweise bei H. Cancik, »Religionskritik I. Antike«, in: RGG4 7, 2004, Sp. 338-339; W. Schröder, »Religionskritik«, in: Der Neue Pauly 15.2, Stuttgart/Weimar 2002, Sp. 699-702 (Rezeption). 104 Kritias, Sisyphos frg. 25 (VS, nr. 88); deutsche Übersetzung der 42 Verse in: Musa Tragica. Die griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel, Göttingen 1991, S. 120-123 (mit weiteren Nachweisen).

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2. Die Renaissance des Epikureismus stimulierte die Physik (Atomismus, Unendlichkeit und Ewigkeit der Welt), eine Ethik der Freude und Lust (voluptas) und die in die schönsten Hexameter, wie Medikamente in Honig, gegossene Kritik der Religion und die Lehre über ihre Entstehung aus Furcht und Unwissenheit. Die Rehabilitierung von Freude und Lust kann sich verbinden mit der eher platonisch gestimmten Aufwertung von Schönheit und Liebe.105 Voluptas (Hedone) wird in den Reigen der drei Grazien aufgenommen. Deshalb präsentieren sich auf dem Medaillon des Grafen Pico della Mirandola in dem bekannten antiken Dreierschema Schönheit, Liebe, Lust.106 Dass auch die Epikureer gegen die Atheisten eine natürliche Gotteserkenntnis verteidigten, anthropomorphe Götter in den Zwischenwelten lokalisierten, konnte sie vor dem Verruf als Gottlose nicht schützen.107 Denn ihr Bekenntnis zu den Göttern war verbunden mit der Ablehnung von Opfer, Bittgebet, Divination: Ihre Götter waren zu groß, zu rein, sie lebten in so ungetrübter Heiterkeit, dass menschliches Leid sie nicht rühren konnte. Der »Neue Pyrrhonismus« der Renaissance fordert, im Anschluss an die antike Skepsis, Unterwerfung, Gehorsam, Glauben, da eine sichere Gotteserkenntnis durch die Vernunft nicht möglich sei.108 Diese Forderung wiederholt die Position, die C. Aurelius Cotta in Ciceros Gespräch über die Natur der Götter eingenommen hatte: skeptisch, fideistisch, konservativ. Die Rezeption der religionskritischen und atheistischen Topik der antiken Philosophie in der Neuzeit ist in zahlreichen Geschichten des Atheismus dargestellt: Sterblichkeit der Seele, kein Jenseits, keine ausgleichende Gerechtigkeit, keine Vorsehung, keine Gottheit, die organisierte Religion – Erfindung und Trug. Von Lucilio Vanini (verbrannt 1619) und Jean Meslier (16641729) über eine reiche littérature clandestine109 wird dieser Traditi-

105 Lorenzo Valla, De voluptate, 1431; Marsilio Ficino, De voluptate, 1475; Ders., Apologia de voluptate, 1497. 106 E. Wind, Mysterien, S. 165ff.; Abb. 10-11. 107 Cicero, de natura deorum 1,43; Diogenes Laertius 10,123ff. 108 Wichtige Vertreter sind François de la Mothe le Vayer (1588-1672) und Pierre Charron (1541-1603); vgl. R. H. Popkin, History of Scepticism from Erasmus to Descartes. 109 Anonymus, Traité des trois imposteurs (Lʼesprit de Mr. Benoit de Spinosa), hg., übers., komm., eingel. von W. Schröder, Hamburg 1992. – Der Traité – nicht zu verwechseln mit dem lateinischen Traktat ›Deum

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onsbestand mehr polemisch oder gelehrt, mehr philosophisch oder religionsgeschichtlich weitergegeben an die Aufklärung und den ›wissenschaftlichen Materialismus‹ der Moderne. Nur Theophrastus, der wieder belebte, sei ausführlich vorgestellt, da die erste vollständige Ausgabe seines Werks erst jüngst, mehr als dreihundert Jahre nach seiner Abfassung, publiziert worden ist. 3. Der Autor dieses umfangreichen Manuskripts aus der Mitte des 17. Jahrhunderts erklärt im Prolog und Epilog seinen katholischen Glauben und die Absicht, alle Argumente zusammenzustellen, die von den Philosophen über Götter, Kosmos, Religion, Seele, Unterwelt und Dämonen, Todesverachtung und das Leben gemäß der Natur vorgebracht wurden, damit die gelehrten Theologen diese widerlegen könnten. Wie Entstehungsort und -zeit ist der Autor bis jetzt unbekannt. Er hat sein Pseudonym bewusst gewählt: Theophrast von Eresos, den er wegen dessen Kritik des Tieropfers als Kritiker der gesamten griechischen Religion versteht, ist auf dem Frontispiz der Wiener Handschrift durch eine genealogische Kette mit dem Theophrastus redivivus verbunden.110 Fünfzehn antike und nur vier neuzeitliche Ahnen bilden die Glieder dieser chronologisch übersichtlich geordneten Kette der Freien Denker und Atheisten: Protagoras, Diagoras, Theodorus Cyrenaeus, Euemerus Tegaeus; Platon, Epicurus, M. T. Cicero, Plinius secundus, Galenus; Aristoteles, Lucretius, Annaeus Seneca, Lucianus, Sextus Empiricus; die neuzeitlichen: Pomponatius, Cardanus, Joannes Bodinus, Jul. Caesar Vaninus. Die Zeichnung macht einen Ort von Antike in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte evident. Doch sind die genannten keineswegs alle Autoren, die der neue Theophrast zitiert. Sein Werk ist ein kostbarer und übersichtlicher Schlüsseltext für die Rezeption antiker Religionsphilosophie, Aufklärung, Religionskritik und eines dezi-

colendum‹ (liber de tribus impostoribus) – wurde 1680/1700 verfasst. Er benutzt Lukrez und Cicero, die antisemitische Literatur bei Flavius Josephus (contra Apionem), lobt Epikur und Epiktet und schließt mit Vergil: Felix qui potuit rerum cognoscere causas (Georgica 2,490). 110 Abb. in der Ausgabe von Canziani-Paganini, Bd. I, nach S. CXXIII. – Nicht im Frontispiz, aber im Text werden Maimonides genannt (I, S. 161: Maimonides in More Nevochim; vermittelt durch C. Salmasius), Averroes und Avicenna.

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dierten Atheismus (Diagoras, Theodoros) an der Schwelle zur Moderne, weil er lehrt, was dem Seicento an kritischer Literatur erreichbar und in aktuelle Diskurse integrierbar war. Der neue Theophrast vergleicht die vier Weltreligionen: die »ethnische«, jüdische, christliche und »saracenische oder mahometanische«. Die ethnische wird, weil die älteste und Muster der anderen, als erste widerlegt. Aber alle Religionen sind erfunden, so das Ergebnis, alle falsch, aber nützlich für die Herrschenden und den Bestand der Gesellschaft. Insofern ist jede Religion politisch, jede gute und religiöse Toleranz geboten.111 Das Naturgesetz und die Astrologie erklären alles, Wunder, Monstrositäten, Orakel, Träume, auch Entstehung und Verschiedenheit der Religionen. Das Werk setzt eine große Bibliothek voraus, Kompetenz, lange Arbeit und ein Publikum mit Bildung und Muße. Der Aufbau ist klar, das Latein gepflegt, die Zitate treffend, wohlklingend, für Kenner: also keine hastige, laute, grobe Protestflugschrift. Der sechste und letzte Tractatus bringt stoisch-epikureische Ethik: »Über das Leben gemäß der Natur«. Die alten Stoiker werden zitiert und die klassischen Definitionen von allgemeiner und menschlicher Natur, Vernunft und Tugend, Selbstbewahrung und der prinzipiellen Gutheit des Seins (nihil naturâ malum). Das ist neu-antike Stoa, nicht christianisiert, und die eine Wahrheit im ersten Schlusswort: »Freude, Frieden, Ruhe, Glück« sind das einzige Gut des Menschen.112 Aber die Schrift endet mit einem zweiten Schlusswort und einer anderen Wahrheit: »Allein Gott Lob, Ehre und Ruhm«.113

111 Theophrastus redivivus. Tractatus tertius (de religione), caput secundum: In quo diffuse ostenditur religionem omnino esse artem politicam. 112 Schlusssatz der ersten Peroratio operis ad sapientes saeculi, II, S. 929: non est enim aliud homini bonum sub sole nisi quod omnibus occupationibus relictis, in otio consenescat [...] in otio ad quod a natura inclinatur et invitatur, gaudium, pax, tranquillitas et felicitas. 113 Ibid. II, S. 931, in dem Schlusswort: »An die Gläubigen und wahrhaft Weisen, die Anhänger der christlichen Religion«.

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§6 Z USAMMENFASSUNG Die doppelte Wahrheit des Theophrastus Redivivus verweist auf die Struktur und die Spannungen und Brüche der europäischen Religionsgeschichte, wie sie eingangs skizziert wurden. Die verschiedenen Orte, Formen, Intensitätsgrade, Agenten der Rezeption der Antike in die nachantike Religionsgeschichte werden durch diese Struktur definiert. Zu der unauflöslichen Komplexion von christlicher und nichtchristlicher Antike tritt, in dieser auf Ideen- und Geistesgeschichte beschränkten Darstellung, die ebenso widerspruchsvolle Komplexion des Jüdischen mit dem Christlichen, wobei das Jüdische seinerseits noch einmal ebenso reiche wie schwierige Beziehungen zur hellenischen und römischen Antike aufweist.114 Diese Komplexe konnten hier ebensowenig dargestellt werden wie der Ort der Antike in der Religionsgeschichte des europäischen Islam, obschon gewiss beide, Judentum und Islam, notwendige Teile der europäischen Religionsgeschichte sind. Das Thema ›Antike in der europäischen Religionsgeschichte‹ ist ein Teil der Rezeption der antiken Sprachen, des Rechts, der Wissenschaften und Parallelwissenschaften, der Kunst, Literatur, Architektur, Urbanistik, der Technik in allen Phasen und Schichten der europäischen Geschichte und Gesellschaft. Die ›Orte‹, also die Institutionen, sozialen Gruppen, Topoi, Denkräume, die in der europäischen Religionsgeschichte für die Rezeption von Antike genutzt oder neu geschaffen wurden, sind zunächst die jüdische und die christliche Religion. Am Beispiel der römischen Kirche, die imperiale Ideen und Zeichen des alten Rom rezipiert, wurde dieses gewaltige Thema wenigstens vorgestellt (§2.1). Das utopische Denken entwirft eine multireligiöse Gesellschaft, stellt sich zu den messianischen Erwartungen, zu den politischen und technischen Ideen von allmählichem Fortschritt (griech. prokopé, lat. progressus) oder Revolution und erweitert so den Zukunftsraum der Gesellschaft (§2.2-2.3). Die »Neuen Stoiker« und stoi-

114 H. Cancik, »›Wie die europäischen Menschen Griechentum in ihr Werk versponnen‹. Hellenisches bei Walter Benjamin«, in: Klaus Garber/Ludger Rehm, global benjamin, München u. a. 1999, Bd. 2, S. 857-871. H. Cancik, »Antike Eschatologie. Zur Kritik von Jacob Taubes’ Geschichte der Apokalyptik«, in: Richard Faber/Eveline Goodman-Thau/Thomas Macho (Hg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, S. 43-59.

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sierenden Humanisten entwickeln Ethik, Politik, Recht, schaffen einen philosophischen Naturbegriff, der eine »natürliche Religion« begründet, die natürliche Sittlichkeit, das Naturrecht und schließlich die droits naturels de lʼhomme (»Menschenrechte«) (§3). ›Natürliche Religion‹ kann entweder gemeinsame Grundlage der positiven Religionen sein oder deren Alternative (vgl. Deismus, Pantheismus). Es entsteht eine nicht-theologische Wissenschaft von Religion, die nicht dogmatisch und kerygmatisch ist, sondern historisch-kritisch, ethnologisch, komparatistisch (§3.3). Auch die gemäßigte und die radikale Religionskritik haben antike Formen, Themen, Haltungen rezipiert: den philosophischen Dialog und das ›Theologie-Gespräch‹, Probabilismus, Atheismus, ›Nikodemismus‹ (§5). Ein besonders wichtiger Ort sind die humanistischen Gesellungs- und Kommunikationsformen (Akademie, Symposion; Freundschaftsbund, Freimaurerloge; Brief, Dialog; §4). Hier und in dem immer stärker expandierenden, aus kirchlicher zunehmend in kommunale oder staatliche Aufsicht überführten Bildungswesen, in den neuantiken Theatern und Musentempeln entsteht, was mit einem leicht mißverständlichen Etikett ›Bürgerliche Bildungsreligion‹ oder ›Religion der Intellektuellen‹ genannt wird.115

B IBLIOGRAPHIE Petrus Abailardus, Collationes sive dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum, lateinisch und deutsch hg. u. übertr. v. Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt/Leipzig 1995. Johannes Bodinus, Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis, hg. v. Ludwig Noack, Schwerin 1857 (editio princeps), Ndr. Stuttgart 1966, Ndr. Hildesheim 1970. Eduard Bratke, Das sogenannte Religionsgespräch am Hof der Sasaniden, Leipzig 1899 (griechischer Text, Kommentar). Hubert Cancik, »Die Romanisierung des antiken Christentums. Zur Entstehung des römischen Katholizismus«, in: R. Faber (Hg.): Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, 35-50.

115 Vgl. Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz 2006.

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Hildegard Cancik-Lindemaier, »Gottlosigkeit im Altertum. Materialismus – Pantheismus – Religionskritik – Atheismus,« in: dies., Von Atheismus bis Zensur. Römische Lektüren in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Henriette Harich-Schwarzbauer und Barbara von Reibnitz, Würzburg 2006, 15-31. Guido Canziani/Gianni Paganini (Hg.), Theophrastus Redivivus, 2 Bde., Florenz: Nuova Italia Editrice 1981/1982. Horst Fuhrmann (Hg.), Das Constitutum Constantini. Text, Hannover 1968 (= Fontes Iuris Germanici Antiqui X). Karl Faltenbacher, Das Colloquium Heptaplomeres und das neue Weltbild des Galilei. Zur Datierung, Autorschaft und Thematik des Siebenergesprächs, Stuttgart 1993. Karl Faltenbacher (Hg.), Magie, Religion und Wissenschaften im Colloquium heptaplomeres, 2002. Edward Lord Herbert of Cherbury, De religione gentilium errorumque apud eos causis (1542-45), Amsterdam 1663 (postum), Ndr. Stuttgart 1967. Howard Jones, The Epicurean Tradition, London 1989. Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino (engl. 1943), Frankfurt am Main 1972. Gotthard Viktor Lechler, Geschichte des englischen Deismus (1841), Ndr. Hildesheim 1965 mit einem Vorwort von Günter Gawlick. Raimundus Lullus, Liber de gentili et tribus sapientibus. Deutsche Übersetzung aus der lateinischen Version unter Berücksichtigung der katalanischen Ausgaben von Theodor Pindl, Stuttgart 1998. Thomas Morus: »De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia« (1516), in: E. Surtz/J.H. Hexter (Hg.), The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4, New Haven 31974. Richard H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Descartes, Assen 1960. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar 2003. Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003. Theophrastus Redivivus: s. Canziani/Paganini. John Toland, Pantheisticon: or, the Form of Celebrating the Socratic Society (lat. 1720; engl. London 1751), Ndr. 1976.

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Daniel P. Walker, Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella, London 1958. Daniel P. Walker, The Ancient Theology. Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth Century, Ithaca/New York 1972. Edgar Wind, Heidnische Mysterien der Renaissance (engl. 1958), Frankfurt am Main 1981. Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964. Thaddäus Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte (19294), Ndr. Darmstadt 1973. Weitere Literatur Günter Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit, Berlin 1978. Hubert Cancik/Hubert Mohr, »Rezeptionsformen«, in: Der Neue Pauly, Bd. 15.2, Stuttgart/Weimar 2002, 759-762. Giancarlo Carabelli, Tolandiana. Materiali bibliografici per lo studio dellʼopera e della fortuna di John Toland, Firenze 1975. Ernst Cassirer, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Leipzig 1932. Pierre Charron, Les trois véritez contre les athées, idolastres, juifs, mahometans, heretiques et schismatiques, Bourdeaus 1593. Manfred Landfester, Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd.1315: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. In Verbindung mit Hubert Cancik und Helmuth Schneider herausgegeben, Stuttgart/ Weimar 1999-2003. Wilhelm Dilthey, »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« (1891/93), in: ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Ges. Schriften, Bd. II, Stuttgart/Göttingen 101957, S. 90-245. ders., »Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert« (1893), in: ebd., S. 246-296. Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.), Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität, Würzburg 2006. Wolfgang Gericke, Das Buch »De tribus impostoribus«, Berlin 1982. Klaus M. Girardet/Ulrich Nortmann (Hg.), Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005.

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Tullio Gregory/Gianni Paganini/Guido Canziani et al. (Hg.), Ricerche su letteratura libertina e letteratura clandestina nel Seicento. Atti del Convegno di studio di Genova, Firenze 1981. Hugo Grotius, »De veritate religionis christianae« in: Opera omnia theologica, vol. III, Amsterdam 1679 (Ndr. Stuttgart 1972). Marin Mersenne, LʼImpiété des déistes, athées et libertins de ce temps, combatue et renversée de point en point ..., Paris 1624 (Ndr. Stuttgart 1975). Friedrich Niewöhner, Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988. Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst (engl. 1960), Frankfurt am Main 1979. Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium. Unveränd. Ndr. der Ausgabe Frankfurt u. Leipzig 1759, Frankfurt am Main 1967. Julius Caesar Vanini, De Admirandis Naturae Reginae Deaeque Mortalium Arcanis libri quatuor, Lutetiae 1616. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Leipzig 1764.

Classical Tradition, Humanity, Occidental Humanism Hellenic-Roman Civilization and its Claim for Universal Validity

universus mundus una civitas communis deorum atque hominum. Cicero, de legibus 1,26 (ca. 52 ante Christum natum) The whole world is one state common for gods and men. Cicero, On Laws 1,26 (ca. 52 BCE)

§1 C LASSICAL T RADITION §1.1 Europe Once upon a time somebody asked a wise man from India: »What do you think about European civilization«? He answered: »I think it would be a good idea«.1 Keeping always in mind this ironical warning I may venture to present to you one component of this good idea – classical tradition and occidental humanism. According to this tradition Europe was, initially, not an idea but a princess from Phoenicia who came over to the West, voluntarily or seduced. Her brother, Kadmos, in search of the princess, also came to the

1

Mahatma Gandhi, oral tradition.

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West bringing with him, incidentally, the art of writing. This happened in the year 1518/17 BCE, says the ancient chronography.2 The Greeks, when they wrote our classical literature, always remembered their oriental heritage, alpha, beta, gamma etc. being in form and name a ›Phoenician‹ alphabet. The date and the myth remind us that Greek culture originated and developed at the margins of the Ancient Oriental Cultures. Contacts of long duration in Asia Minor and the Aegeis stimulated what has been called the ›Greek miracle‹. Priamos, king of Troy, for example, was held by the Greeks to be a vasall of Ninos the Assyrian – the first man who built up an empire.3 The Trojan war, was conceived as the first conflict between West and Orient, dated by the ancients to 1209/08 (Marmor Parium).4 Classical Antiquity originated as a derivative culture, on the margins of the late Ancient Orient. It ended after 2000 years, with the restoration of the imperium Romanum in the West by Charlemagne and the rise of Islamic states in the East of the Empire, around 800 CE. Within this chronological frame the ancients already have singled out two golden, perfect, high ranking, classical periods: the Attic or Periclean epoch (500 to 300 BCE) and the Augustan epoch, from the late Roman republic to the death of Augustus (80 BCE to 14 CE). The phrase ›classical antiquity‹ therefore, comprehends a historical and a normative notion: It means a special part of Europeʼs early history and a paradigm of culture and humanity established by the antiqui, i.e. by our ancestors who have gone before us (ante nos), whom we, the epigones, the posteri are following on the way to the future.

2

Marmor Parium, epoch 7 (F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker, Leiden 1962, nr. 239).

3

H. Cancik, »Der troianische Krieg – Seine Bedeutung für das Geschichtsbild der Griechen und Römer«, in: Troia – Traum und Wirklichkeit. Katalog zur Ausstellung, Stuttgart 2001, p. 174-179; idem, »Wie die Alten den Troianischen Krieg datiert haben. Homers Epen im Geschichtsbild der Antike«, in: H. Hofmann (Hg.), Troia. Von Homer bis heute, Tübingen 2004, p. 53-75.

4

Jacoby, FGrHist nr. 239, ep. 24. Eratosthenes dates the Fall of Troy to 1184/83 BCE.

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§1.2 »Homer who was wiser than all Greeks« (Heraclitus)5 (a) Upon the basic features of classical antiquity, I would not dare lecture. We can, however, catch a glimpse of the beginnings of that cultural process called classical antiquity, if we look on the Homeric poems, our first literary document, written about the 8th century BCE. It is immediately evident that these poems are perfect and, typologically, late. The rhythm is rationalized and standardized to a very high degree. The language is highly artificial, a mixture of several dialects with traces from Mycenaean times. The techniques of composition, characterization, motivation are manifold and efficient. By means of careful chronology and stringent causation Homer construes wide ranging actions, complex processes, multilayered conflicts. No surprise, that the ancients considered him to have been the first historian. Innumerable speeches, dialogues, discussions, confidential talks, prayers exhibit hope, sorrow, plans and their failure, reflections on the unpredictability of God or the blindness and frailty of man. Homerʼs is an enlightened world: few miracles, less magic. The gods are humans, only stronger, faster, and immortal. They are sitting on mount Olympos, drinking, laughing and looking at the mortals down on earth, with sympathy and care.6 No surprise, that the ancients considered Homer to have been the first theologian.7 (b) It is a ›transcendent vision‹ of his world that Homer has created in the forge of Hephaestus.8 The smith-god is fabricating a new shield for Achilleus. He decorates it with eight scenes in gold and silver:

5

Heraclitus frg. 56 (VS) from Hippolytus 9,9. Cf. Heracl. frg. 42 (VS) from Diogenes Laertius 9,1: to »throw out« Homer from the poets’ contests; frg. 57 (VS) from Hippolytus 9,10: »but the teacher of most of them (is) Hesiodus; they are convinced that he knows best, ...«.

6

Homer, Iliad 3,1-4.

7

R. Lamberton, Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading

8

Homer, Iliad 18,468-617.

and the Growth of Epic Tradition, Berkeley, Calif. 1986.

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1)

2) 3)

Heaven, earth, the heavenly bodies and signs of the zodiac. Small wonder, that the ancients considered Homer to have been the first astronomer. A town at peace: Homer describes the public space, the place of marriage and lawsuit, the agora being the centre of public life. The counterpart is a town at war; here, and only here, some gods are involved.

There follow scenes taken from the economic life: agriculture (4), harvesting under control of the king (5), wine-growing with dancing and music (6), cattle- and sheep-breeding (7). The cycle of pictures is closed by a bright dancing-scene (8), a public celebration of young and beautiful men and women in ostentatious dressing. No scene is particularly dedicated to the gods, nowhere is religion the centre of a scene.9 Nevertheless, this work of art, namely Achilleusʼ shield, is meant to represent the totality of life, the whole world covered by heaven, embraced by the ocean, the first ›Weltbild‹ of Western culture. Homer exhibits this work of art in the process of making, as poíesis and, perhaps, he hints at his own work. The artist plays with his medium: what is produced from metal, gold and silver, gives the impression of sound, movement, liveliness – »as if they were living mortals«.10 Despite wild beasts (scene 7), war and death, this world is kalós – beautiful. There are, in the description of Achilleusʼ shield, except for the names of the gods, no specific Greek or Trojan traits: the description claims to be universal, to convey the general idea of good life. (c) Homer the poet, the artist is, to the ancient mind, the first geographer, historian, astronomer, philosopher, theologian, rhetorician: in short, he is the quintessence of Greek culture. He is, I would like to add, also the first educationalist. All the arts could be learned from Homer; he is the core of the Greek educational system. Greek children learned the art of reading and speaking, the elements of art and science, wisdom and morals by rehearsing Homer. In addition, Homer introduced the example of an engaged, but unsuccessful teacher – Phoe-

9

There is a sacrifice in the kingʼs hall and there are gods in the war.

10 Homer, Iliad 18, 539: hos zooí brotoí – note the antithesis; cf. 18,548: the impression of colour.

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nix – and wrote the first educational romance: Telemachos, son of Ulysses, who sets out to search for his father, leaving his home and his mother, tutored by Athene in the guise of Mentor.11 (d) »Homeros has educated Greece«, says Plato.12 Greek paideía, culture and education, however, were not limited to native Greeks. On the contrary: A Greek, so runs the definition of Isocrates, is not one who descends from Greek parents, but one, who participates in Greek education.13 Therefore, so called barbarians like Romans, Jews, Germans could become Greeks. Classical tradition is not restrained, nor by racial nor by national barriers, it becomes human and universal. Thus classical tradition could become the basis for occidental humanism.

§2 O CCIDENTAL H UMANISM §2.1 Niethammer – Herder – studia humaniora Occidental humanism is first and fundamentally an educational movement, rooted in classical tradition. So, occidental humanism is neither a philosophy nor a religion. It is neither classics (ancient history, classical philology and archeology) nor generally our so called classical heritage. Rather it is a theory of a pedagogic reform. It was constituted by Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848). Niethammer was first a professor of philosophy in Jena, later a professor of theology in Würzburg and, since 1808, active in the school administration of Bavaria. In this year he published a pamphlet entitled: »Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichtes unserer Zeit« – ›The controversy between Philanthropinism and Humanism in the contemporary theory of education‹. It is in this monograph that Niethammer explains education

11 Homer, Odyssey, books 1-4: Telemachia. Cf. Abbé Fénelon, Les aventures de Télémaque, 1699. 12 Plato, Republic 10,606e: (Hómeros) ten Helláda pepaídeuken. Plato goes on to criticize this. 13 Isocrates, Panegyricus (published 380 BCE) 50: to call Greek rather those who share our education than those who share our common nature (i.e. descent).

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(»Bildung«) as »shaping humankind in the individual«; since reason (»Vernunft«) is the essential characteristic of humankind, he demands a »general formation of mind« (»Vernunftbildung«) for all men, classes, occupations. This general formation should be accomplished, according to Niethammer, by the consideration of the »ideas« of nature, state, god, necessity and freedom, pity and morals. After this period of general formation only, children should be trained for a special job. For some people, however, Niethammer provided after the general formation of the mind a »Humanitätsbildung«, that is an integral education of all gifts and abilities in order to form the »whole man« (»den ganzen Menschen«): this, says Niethammer, »is the ideal of mankind, that we honour by the venerable name of ›humanity‹« (»Humanität«). The classical tradition grants the means by which this sublime goal is to be reached: languages, art and literature, mythology and philosophy. As a member of the educational administration Niethammer has elaborated detailed curricula for the classes. This is occidental humanism at the stage of pedagogic reflections, designed for the higher bourgeoisie, more precisely for its male part, in the German countries, in a moment of an acute political crisis.14 §2.2 Humanity – humanitas a) It was Immanuel Niethammer (1766-1848) who coined not the word but the concept of »Humanismus« in 1808 CE. However, he presupposes a rich discussion on the terms ›human, mankind, humanity, humanité‹. The term ›Humanität‹ was borrowed from Herderʼs »Letters for the Promotion of Humanity«, published in 1793/97. Herder, too, enriched the German language by a neologism. With an explicit argumentation he connects the French word ›humanité‹ with the notions of ›reason, freedom, education, right‹ and deliberately introduces it as a loan-word (›Humanität‹) into German, few years only, before Niethammer published his pamphlet.15 Herder, in his attempt to define and illustrate ›Humanität‹ relies heavily on the classical tradition. He re-

14 The reforms in Prussia, Badenia and other German states after the collapse of Prussia and her allies in the double battle of Jena and Auerstedt (1806); the Prussian residence moves to Königsberg; Napoleon occupies Berlin. 15 J.G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793/97, especially letters nr. 27 to nr. 39.

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views the history of the word in its Latin context and Greek antecedents. He quotes at length Marc Aurel, the Stoic and Cesar; he rehearses the Stoic catechism of Persius; he lectures, finally, insistently on Homer, in four letters. Some digressions show Herder, the cosmopolitan, evoking »Confucius, the Socrates of the Sineses« (letter 28), for example. To conclude: the concept of Humanität in Herder is deeply rooted in classical tradition. The anthropological and ethnical core of this concept is Stoic: nature and reason are key-terms; human weakness is a stimulus for progress; ›education‹ of the individual and the human species is conceived in Stoic terms.16 With Herderʼs foundation of humanity we find the common ground of European humanism. The Latin words homo, humanus, humanitas are living on in the neo-Latin dialects of Spaniards, French, Italians. The studia humaniora/ studia humanitatis17, i.e. education by classical tradition is a common practice, always modified according to special needs. The (h)umanista had appeared in the Universities of the Italian Renaissance: he lectured on rhetoric, history, and poetry.18 This, then is the genealogy of European humanism: (1) classical tradition – (2) humanitas, studia humaniora, artes liberales – (3) humanité, Humanität – (4) Humanismus. The basic term is humanitas, a word which in Latin, already, has six meanings. b) The semantic field around the Latin word humanitas is built up by six clearly distinguished components: (a) genus humanum – all men/human beings together (in contrast to animals, individuals, nations); (b) societas humana – society of mankind, bound together by the kinship of nature and common experience; family of man; cosmopolis; 16 Herder, Ideen (1784/91), 9,1: »Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts; eben weil jeder nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette der Individuen lebt«. 17 Our first evidence of this expression is to be found in Cicero, who probably has coined it: pro Murena 61 (written in 63 BCE) and pro Archia poeta 3 (written in 62 BCE); cf. Cicero, pro Caelio 24 (written in 56 BCE). Cicero did not (yet) conceive a special education program. 18 Pisa 1490; Bologna 1512.

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(c) condicio humana – the weakness, frailty, and mortality of man (in contrast to the gods, the ›immortal‹); (d) clementia, benevolentia – gentleness, softness, kindness (in contrast to cruelty, fierceness of wild beasts); (e) eruditio, educatio, formatio; paideía – education; (f) cultus and urbanitas – civilized life and urban life-style. Several elements in this semantic field of humanitas are constituted by Stoic philosophy. The anthropology of Stoicism is naturalistic and empirical. Nature and reason, physis and lógos, are its basic elements. Stoic philosophers stress the equality and original freedom of all human beings. Nature, they claim, has made us all from the same material and to the same goal in life; she has borne us as relatives, given us mutual love and made us sociable, i.e. capable of forming a peaceful society.19 There is a worldwide state, cosmopolis, and quasi-civil rights for all men in this city; M. Tullius Cicero declares:20 universus mundus una civitas communis deorum atque hominum – »The whole world is one state common for gods and men«.

Men are free and equal by Nature. Human rights are rooted – historically and systematically – in the law of Nature. This is the source from which the claim for universal validity arises.

§3 C LAIM

FOR UNIVERSAL VALIDITY

§3.1 Empirical, historical, theoretical The statements made by Herder, Cicero, Seneca and other stoic, neostoic or stoicising authors put forward general principles which include humanity and the claim for universal validity. Some of these statements refer to biology, such as e. g. the laws of self-conservation (conservatio sui) and self-love (amor sui) which hold true for all living beings. Other statements refer to law and politics. They relie on observa-

19 Seneca, epistulae 95,51-52; Seneca calls this argument the formula humani officii. 20 Cicero, de legibus 1,26 (ca. 52 BCE).

C LASSICAL TRADITION, HUMANITY , O CCIDENTAL H UMANISM | 91

tion and experience, tradition, research and speculation, or, to say it in Greek: these general sentences are empirical (Greek: empeiría), historical (Greek: historía), theoretical (Greek: theoría). They do not convey revelation nor absolute truth, but can be refuted and improved. Their foundation is reason and nature. Reason is natural and nature is structured by reason. Since all men participate in these constituents, namely logos and physis, all men are able to understand and accept these statements; this hopeful assumption is called consensus omnium – general consent. I am not sure if this foundation of ethics will convince all analysts of moral language.21 Through the inspiration of stoicism, however, the European Enlightenment created human rights from the Law of Nature.22 »That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights«, thus reads the Virginia Bill of Rights in 1778; this is sincere modern stoicism and has become a universal rule or even positive law. §3.2 Humanity and the Princess Humanism is neither philosophy nor religion. Its concept of humanity, however, is based on some philosophical, primarily stoic, concepts which do not aspire to being an elaborated, coherent system of anthropology. Humanism, insofar as it is an educational movement and part of a classical tradition, complements the universal statements on man and nature, law and society necessarily through particular historical examples, through mythical imagination and edifying quotations from accepted authors. It is just this seemingly arbitrary synthesis of philosophical eclecticism and history, poetry, law and biology which characterizes humanistic designs. A humanist discourse on freedom, there-

21 For an analysis of the »naturalist fallacy« cf. R.M. Hare, The Language of Morals, Oxford 1952; dt.: Die Sprache der Moral, Frankfurt/M. 1983, p. 109ff.: »Naturalismus«; G.E. Moore, Principia Ethica (English: 1903), German: Stuttgart 1970, chap. II: »Naturalistische Ethik«; short remarks to Stoicism: §27. 22 M. Forschner, Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt 1998, chap. III: »Über natürliche Neigungen und den Selbsthaß der Vernunft. Die Stoa als Inspirationsquelle der Aufklärung«.

92 | E UROPA – ANTIKE – H UMANISMUS

fore, will duly embark on the development of universal concepts in Aristotleʼs Politiká and Zenoʼs Prohairesis (choice, will) but will inevitably come down to Salamis and the battle-cry of a small Greek navy fighting against masses of Persian ships:23 Eleutheroúte patrída, eleutheroúte de paídas gynaíkas, theón de patroíon éde thékas te progónon. »Liberate the fatherland, liberate children, wives, the seats of our fathersʼ gods and the shrines of the ancestors!«

Salamis, Marathon, Thermopylai are the names of small spots in Greece, but have a highly symbolic value. They evoke strong emotions and, in some people, remembrance of our first tragedy (Aeschylusʼ Persians) and of the father of historiography and ethnography (Herodotusʼ Histories) and of that modern short story with its mutilated title: »Wanderer, kommst du nach Spa...«.24 In the humanistic discourse, these mythico-historical arguments complement in a systematical, but nonphilosophical way, the disquisition on freedom. To conclude: European humanism is universal and particular. It preserves, like other universal movements (e.g. Judaism, Catholicism, Islam), its particular origin (Jerusalem, Rome, Mekka). European humanism has to deal with the general meaning of the words humanity or human dignity, the foundation of human rights including religious freedom, ban of torture and death penalty. And simultaneously it has to preserve the memory of Olympia and Troy; the vision of the dance of life and beauty on Achilleusʼ shield; the name of a Phoenician princess who came from the East to the occidental shores; and it has to preserve the answer of a wise man from India, who, when asked about European civilization, said: »It would be a good idea«.

23 Aeschylus, Persians vs. 403-05. The historical commentary to the tragedy is Herodotus. 24 Heinrich Böll, »Wanderer, kommst du nach Spa...«, (first published in Frankfurter Hefte 5,11, 1950, 1176-81), see now: H. Böll, Wanderer, kommst du nach Spa... Erzählungen, Munich 382000. Böll quotes the epitaph for the Greek soldiers in Thermopylai.

Humanistische Begründung humanitärer Praxis Antike Tradition – neuzeitliche Rezeption

§1 H UMAN , HUMANITÄR ,

HUMANISTISCH

§1.1 Humanitäre Praxis in Herders Begriff von Humanität Humanitäre Praxis heißt praktizierte Humanität. Humanität praktizieren heißt, ein rohes und schwaches Menschenkind zu polieren, zu formen, zu bilden, es zu ernähren, zu wärmen, zu heilen, zu betreuen, heißt, ihm zu helfen, daß es groß und stark wird, frei, selbstbestimmt, autark. Das Rohe formen, das Wilde zähmen, das Bestialische vermenschlichen heißt lateinisch eruditio, griechisch paideia, Erziehung; dies ist der eine Teil der antiken Vorstellung von humanitas. Der andere Teil ist die Barmherzigkeit, misericordia, Philanthropie, genauer: Bedürftige unterstützen; Rat geben, rechtlichen, politischen, geschäftlichen; einen Weg zeigen, einen Ausweg oder ein Ziel. Erst beide zusammen, Bildung und Barmherzigkeit, paideia mit Philanthropie sind humanitas im antiken und, davon abgeleitet, im modernen Sinne. Nur in dieser Verbindung und als praktizierte ist ›Humanität‹ eine tragfähige Grundlage für ›humanitäre‹ Praxis und eine richtige Rezeption, Aufnahme und Verarbeitung antiker Tradition. Die moderne Bearbeitung dieser antiken Tradition verdanken wir Johann Gottfried Herder (1744-1803). Er hat als erster das französische Lehnwort humanité als Begriff »Humanität« konstituiert und, vor allem durch seine »Briefe zur Beförderung der Humanität«, populari-

94 | E UROPA – ANTIKE – H UMANISMUS

siert. Herder bestimmt Humanität als die Mitte von Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten, Menschenliebe. Alle diese Begriffe haben einen starken Bezug zu humanitärer Praxis, und sie haben alle einen antiken, einen lateinischen Ursprung: humanitas, ius humanum, officia humanitatis, philanthropia. Den Gegensatz zu Humanität nennt Herder »Brutalität«, die Dynamik der biologischen und kulturellen Evolution »Bildung zur Humanität« (Brief 27). Beide Denkmuster sind antik: ›Aus Roheit, Wildheit, Bestialität‹ entwickelt sich der Mensch/die Menschheit durch »Entrohung«, Zähmung, Humanisierung. Es sind gerade die Mängel, die Schwäche, die Unfertigkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen, welche Erfindungen, Erziehung, gegenseitige Hilfe nötig machen; so wird paradoxer Weise durch die Schwäche des Menschen die Humanisierung der Gesellschaft befördert.1 Herder schreibt:2 »Nächst der Selbsterhaltung ward es also die erste Pflicht der Menschheit, den Schwächen unserer Nebengeschöpfe beizuspringen und sie gegen die Übel der Natur oder die rohen Leidenschaften ihres eignen Geschlechts in Schutz zu nehmen. Dahin ging die Sorge ihrer Gesetzgeber und Weisen, daß sie in Worten und Gebräuchen den Menschen diese unentbehrlichen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmenschen anempfahlen und dadurch das älteste Menschen- und Völkerrecht gründeten. Religion wars, vom Morde sich zu enthalten, dem Schwachen beizuspringen, dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen, des Verwundeten zu pflegen, den Toten zu begraben«.

Herder hat hiermit, so schreibt er, »das älteste Menschen- und Völkerrecht gefunden«. Da in einem Monat der sechzigste Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte begangen wird, sei es gestattet, diese von der Rechtsgeschichte und der Herderforschung wenig beachtete Quelle

1

Johann Gottfried Herder (1744-1803), Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-97) abgekürzt: BBH, (in: J.G.H. Werke in 10 Bänden, hg. von M. Bollacher u. a., Bd. 7, Frankfurt am Main 1991) nr. 27: »Humanität: Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenliebe – Brutalität – Bildung = humanitas, ius humanum, officia humanitatis – belua, bestia bruta – eruditio«; vgl. auch nr. 28; nr. 32.

2

Herder, BBH, nr. 28.

H UMANISTISCHE B EGRÜNDUNG HUMANITÄRER P RAXIS | 95

des Menschenrechts vorzustellen. Herder meint offensichtlich die Gebote des Buzyges (»Rind-Anspanner«), des Erfinders von Ackerbau und Seßhaftigkeit. Die Gebote wurden in Athen, am Fuße der Akropolis, jeweils zu Beginn der Saatzeit verkündet. Wer sie übertrat, war verflucht.3 Folgende Gebote sind überliefert: »Das Pflugrind nicht töten; die Leiche bestatten; Anteil am Wasser geben; Feuer geben; den Weg zeigen; klaren Rat geben«.

Das ist, nach Herder, »das älteste Menschen- und Völkerrecht«.4 Es ist elementare humanitäre Praxis als Recht und Pflicht. Es ist offensichtlich, daß Herders Begriff von Humanität sich nicht auf ›Bildung‹ beschränkt. Er betont vielmehr die praktische und humanitäre Dimension in der antiken Vorstellung von humanitas. Er schafft eine Synthese verschiedener antiker Traditionen, wie es sie, in dieser Form, Dichte, Konstruktion in der Antike nicht gibt. Diese Weiterentwicklung ist ermöglicht durch die zeitgenössische Philosophie und Politik – Aufklärung und revolutionäre Bewegung in Frankreich. Sie führt zur Erklärung der Menschenrechte und bald zu ihrer Positivierung in der französischen Verfassung. §1.2 ›Klassische Antike‹ »Antike Tradition« – das ist die Kultur der Hellenen und Römer von 800 v.Chr. bis 800 n.Chr., soweit sie durch bewußte Aufnahme oder durch Zufall überliefert ist oder durch wissenschaftliche Arbeit wiederhergestellt werden kann. Es ist die lange, reiche, widersprüchliche Tradition einer komplexen, frühmodernen Hochkultur. Der größte Teil der Bevölkerung lebt und arbeitet im agrarischen Sektor. Es gibt erst wenige Städte und noch Stammesgesellschaften. Die Geldwirtschaft kennt Banken, Zinsen, Hypotheken, Seedarlehen; sie hat aber nur ein geringes Volumen. In Bergwerken, Plantagen, Dienstleistungen gibt es viel unfreie Arbeit, wenig Maschinen (Mühlen), einige Manufakturen (etwa in Keramik-

3

M.P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, München 3

4

1967, S. 709; 2, S. 328.

Es fällt auf, daß Herder sich nicht auf die »noachidischen Gebote« als älteste menschheitlich orientierte Rechtsurkunde beruft.

96 | E UROPA – ANTIKE – H UMANISMUS

oder Rüstungsbetrieben). Die Versorgungssicherheit des größeren Teils der Bevölkerung – Ernährung, Gesundheit, Schutz vor Naturkatastrophen – ist gering. Die Unterschiede zwischen Reichen und Armen sind enorm. Das Rechtswesen ist entwickelt, es ist – wie die Medizin, die Wissenschaften, die Künste, die Philosophie – weitgehend unabhängig von den Religionen konstituiert; aber es ist eine Klassenjustiz mit Folter und verschiedenem Strafmaß für Arm und Reich. Die Kultzentren der Hellenen und Römer haben geringe ökonomische Macht. Weder die Kultplätze noch die Kultfunktionäre sind in Filialen oder überregionalen Hierarchien organisiert. Es gibt überregionale Heiligtümer und Feste für »alle Hellenen«, etwa in Delphi, Eleusis, Olympia; es gibt die Idee von Rom, dem Mittelpunkt und Haupt des Imperium. Aber: eine religiöse Zentrale für ganz Griechenland – und analog später für das Imperium Romanum – gibt es nicht.5 Die Römer insbesondere verhinderten sorgfältig die Entstehung überlokaler und überregionaler Organisationen. Jede Konkurrenz zu den übergeordneten staatlichen und militärischen Strukturen sollte unterbunden werden. In den Kultanlagen befinden sich Gasthäuser, in Sonderfällen Krankenstationen, aber keine Hospitäler, Schulen oder Wohnanlagen für die Frommen und die ›Kleriker‹.6 An den antiken Tempeln bildeten sich keine festen Ortsgemeinden. Es gibt keine in kurzen Abständen wiederholten Kultakte, die eine Gemeinde um ein Heiligtum regelmäßig zusammenführen. Dementsprechend gibt es in den meisten antiken Religionen keine Seelsorge und keine Seelsorger. Es gibt keine innere oder äußere Mission. Es gibt deshalb auch an den Kultanlagen der Hellenen und Römer keinen regelmäßigen Unterricht, auch nicht in Religion, geschweige denn in Ethik oder Lebenskunde. Das allgemeine Erziehungs- und Bildungswesen ist überwiegend eine private, nur zeit- und teilweise auch eine öffentlich organisierte Angelegenheit, nie eine Aufgabe von Kultfunktionären.7

5

H. Cancik/A. Schäfer/W. Spickermann (Hg.), Zentralität und Religion. Zur

6

Ulrike Egelhaaf-Gaiser/A. Schäfer (Hg.), Religiöse Vereine in der römi-

Formierung urbaner Zentren im Imperium Romanum, Tübingen 2006. schen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung, Tübingen 2002. 7

Ein Sonderfall ist das Lehreredikt des Kaisers Julian (4. Jh. n.Chr.).

H UMANISTISCHE B EGRÜNDUNG HUMANITÄRER P RAXIS | 97

Humanitäre Hilfe in Notfällen, Armenfürsorge oder Krankenversorgung ist nicht bzw. nur marginal eine Funktion hellenischer oder römischer Religion.8 Die Regeln und Begründungen für humanitäre Praxis im Allgemeinen und in Notfällen werden dementsprechend zivil (politisch), rechtlich und moralisch entwickelt.9 Hierzu gehören auch jene Vorstellungen und Institutionen, Regeln und Utopien von Freiheit und Gleichheit, von Gerechtigkeit und Menschenwürde, von Wohltätigkeit und Barmherzigkeit, die Herder aufnimmt, ablöst von den verschiedenen historischen und sozialen Entstehungsbedingungen und kondensiert, synthetisiert zu seinem antikmodernen Begriff von Humanität. Einige Bausteine dieser antikmodernen Konstruktion möchte ich Ihnen vorstellen.

§2 ›M ENSCH ALS M ENSCH ‹ (M. T ULLIUS C ICERO ). ANTHROPOLOGIE E THIK IN C ICERO , DE OFFICIIS

UND

Die allgemeinste Begründung für humanitäres Handeln steht bei M. Tullius Cicero; in der Schrift »Über das naturgemäße Handeln« heißt es:10 Atque etiam si hoc natura praescribit, ut homo homini, quicumque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit, necesse est secundum eandem naturam omnium utilitatem esse communem.

8 9

Sonderfall: die alltägliche Divination, z.B. Losorakel. Vgl. die politischen, rhetorischen und ethischen Schriften des Aristoteles, die von ihm gesammelten Verfassungen und die Verfassungsentwürfe bei Plato, Zeno von Kition, Charondas, die Weisheitsliteratur und Gnomik (Hesiod, Theognis, Pindar), die Paradigmata in Geschichtsschreibung und Biographie (Beispiel: Plutarch, Solon).

10 Cicero, Über das rechte Handeln gemäß der Natur (de officiis, verfaßt 44 v.Chr.), 3,6,27. – Herder zitiert in den BBH diese Stelle, soweit ich sehe, nicht. Er benutzt Epiktet, Persius, Seneca, Marc Aurel, um den stoischen Bestandteil seiner Vorstellung von Humanität zu exponieren. Er kannte aber diese Schrift und die Auseinandersetzung zwischen Immanuel Kant und Christian Garve recht gut, s. §2.1.2. Vielleicht deshalb hat er diesen berühmten Text gemieden.

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»Und wenn (= so wahr) die Natur das vorschreibt, daß der Mensch dem Menschen, wer auch immer er sei, helfen wolle wegen eben dieses Grundes, daß der ein Mensch ist, dann ist es gemäß derselben Natur notwendig, daß der Nutzen aller (einzelnen) ein gemeinsamer sei«.

Der Mensch soll für den Menschen sorgen, ihm raten, helfen, aus keinem anderen Grunde als dem, daß dieser ein Mensch ist. Es wird weder Lohn noch Strafe im Diesseits oder Jenseits als Motiv genannt, sondern: ›der Mensch an sich‹, ohne Ansehung von Stand, Familienzugehörigkeit, von Rasse, von Bürgerrecht. Die Kategorie ›Geschlecht‹ ist bei Cicero nicht genannt. Ciceros Formel ist universal, allgemein gültig ohne Ausnahme. Das ist eine paradoxe Forderung in einer Ständegesellschaft, wie der römischen, die gerade durch Ungleichheit, Unfreiheit, militärische Aggressivität ein Imperium sich erbeutet hatte. Cicero hat den naturrechtlichen Grundsatz, ›dem Menschen helfen, nur weil er Mensch ist‹, ›dem Menschen als Menschen helfen‹, ausführlich begründet.11 Nur dieser Grundsatz ermöglicht das Zusammenleben der Menschen (§21). Außerhalb von Gesellschaft (societas) gibt es kein Menschsein. Erwerb, Gewinn, Vorteil, Machtzuwachs ist naturrechtlich nur erlaubt, wenn es nicht zum Nachteil des Anderen ist (§22). Cicero: »Durch die Natur, d.h. das Recht bei allen Stämmen und durch die (positiven) Gesetze der einzelnen (Staats-)Völker ist auf dieselbe Weise festgesetzt, daß es nicht erlaubt ist, den Anderen zu schädigen um des eigenen Vorteils willen«. (§23).

Im Gegenteil: Große Gesinnung und Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Freigebigkeit schaffen die »Voraussetzung für menschliches Zusammenleben und gemeinsamen Nutzen« (§24). Wer annimmt, es sei naturgemäß, Menschen zu schädigen und zu verletzen, »der tilgt den Menschen aus dem Menschen« (hominem ex homine tollit).12 Viel-

11 Cicero, de officiis 3,4,19-3,6,32. 12 Cicero, de officiis 3,5,26; das emphatische Polyptoton ›homo homini‹ ist in der hier paraphrasierten Partie häufig: §21: hominem hominis incommodo; §25: hominem naturae oboedientem homini nocere non posse; de officiis

H UMANISTISCHE B EGRÜNDUNG HUMANITÄRER P RAXIS | 99

mehr: »Daß der Mensch für den Menschen sorgt, wer immer es sei, allein aus dem Grunde, daß er ein Mensch ist«, so lautet, nach Cicero, die Vorschrift der Natur. Sie ist ein Recht, das bei allen Menschen bekannt ist – ius gentium (§23). Es ist, modern gesprochen, ein Menschenrecht:13 begründet in der menschlichen Natur und dem Konsens aller Völker. Dies ist die allgemeinste humanistische Begründung humanitärer Praxis. Ciceros Grundsatz ›Mensch als Mensch‹ ist verbunden mit seiner Menschen- und Tugendlehre, mit Anthropologie und Ethik. Seine Menschenlehre ist positiv, aktiv, sozial, universal. ›Positiv‹, weil Cicero eine ursprüngliche Zuneigung des Menschen zu sich selbst und zu den andern ansetzt. Der primäre Impuls ist nicht zerstörerisch, nicht Wolfsnatur oder Urneid. ›Aktiv‹, weil er den Menschen als ein mit und für andere tätiges, auf Praxis bezogenes Lebewesen versteht. Der Mensch ist nicht dazu da, Reichtum, Schönheit, Gesundheit in Einsamkeit zu genießen, er soll arbeiten und sich abmühen, wie einst Hercules, mit Wohltätigkeit, Hilfe, Rettung. ›Sozial‹, weil er den Menschen im Ursprung, von Natur aus auf Gesellschaft bezogen denkt: Menschsein mit anderen und für andere. ›Universal‹, weil die Formel, wie ausdrücklich festgestellt wird, nicht nur für die eigene Familie und die Mitbürger gilt, sondern auch für die Ausländer (externi, §28).14 Diese Menschenlehre ist Teil einer stoischen Anthropologie, aber, wie Cicero betont, vereinbar mit den Lehren der Platoniker und Aristoteliker (§20). Seine naturrechtliche Begründung humanitärer Praxis ist

1,4,11: natura vi rationis hominem conciliat homini. – Vgl. auch H. Cancik, Der Mensch als Mensch (in diesem Band). 13 Karl Büchner übersetzt ius gentium unmittelbar mit »Menschenrecht«: Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln. Herausgegeben und übersetzt von Karl Büchner, Düsseldorf/Zürich 42001, S. 237. 14 Die Universalität der von Cicero hier vorgetragenen Anthropologie ist offenkundig in seinem Gebrauch von homo, genus humanum, societas humana, ius gentium, lex divina et humana. Eine methodisch anspruchvolle Formulierung bietet Cicero, de legibus 1,10,29: »Eine Definition der Menschen, wie auch immer sie sei, muß eine sein und für alle (Menschen) gültig«.

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kein Sonderweg der Stoiker, sondern Konsens der drei großen sokratischen Schulen. »Die Natur schreibt vor«, sagt Ciceros Grundsatz, »daß der Mensch sich um den (anderen) Menschen kümmert«, für ihn sorgt, ihn berät, ihm hilft – so etwa die Bedeutungen von consulere. Diese allgemeine Formel wird durch die Angabe der spezifisch humanitären Tugenden konkretisiert. Cicero nennt in unserem Text: (a) ›Großgesinntheit‹, Hochherzigkeit, in älterem Deutsch ›hoher Mut‹; (b) Freundlichkeit: Wohltätigkeit und Fürsorge beruhen auf einem Recht, Anspruch, sind Menschenpflicht und dürfen den Empfänger nicht erniedrigen oder verächtlich machen; (c) Wohltätigkeit: dieses deutsche Wort ist eine Lehnübersetzung des lateinischen Wortes bene-ficentia; das lateinische Wort ist eine Lehnübersetzung des griechischen Wortes eu-ergesía; antike Tradition und neuzeitliche Rezeption haben das Wortfeld und die Begriffe humanitärer Praxis geprägt; (d) Liberalität, Freigebigkeit; (e) bonitas – guten Nutzen schaffende Tätigkeit;15 (f) Gerechtigkeit: ›niemanden verletzen und keinem schaden‹; sie ist die wichtigste aller Tugenden; Cicero nennt sie deshalb als letzte, am Schluß der Reihe. Andere Tugenden aus dem Kanon der stoischen Ethik sind hier nicht genannt: die Tapferkeit, die Frömmigkeit, die Besonnenheit. Cicero beschränkt sich auf Tugenden, die in der humanitären Praxis besonders wichtig sind. Das Paradigma Hercules darf in einem stoischen Tugendkatalog nicht fehlen. Cicero veranschaulicht damit die Pflicht, zu helfen und zu retten, zu Beistand und Nothilfe. Wie die Alten in Prometheus den ersten Philanthropen sahen, den Erfinder, den Menschenfreund, so ist ihnen Hercules der Typus des Helfers, des Arbeiters, des Retters. Ciceros Stichworte sind: iuvare, laborare, conservare.

15 Cicero, de legibus 1,10,29: bonitas, griech. chrestótes; vgl. SVF III, 264,41: chrestótes epistéme eupoietiké; ebd. 291: bonitas est virtus qui prodest; Aristoteles, Rhetorik 1,9 p.: areté [...] dynamis euergetiké; die größten Tugenden, sagt Aristoteles, sind diejenigen, die anderen am meisten nützlich sind.

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Die Begründung humanitärer Praxis, die ich Ihnen nach Ciceros Schrift über naturgemäßes Handeln (de officiis) referiert habe, steht nicht isoliert in dieser Schrift. Die Grundlage der stoischen Anthropologie und Gesellschaftslehre entwickelt Cicero im Eingang des Werkes, danach die Vorstellung von Menschenwürde (dignitas hominis) und persona, Geschichtlichkeit und Freiheit. In der Antike wurde die Schrift wenig benutzt, vermutlich weil ihre griechischen Quellen, die Werke von Panaitios, Poseidonios, Hekaton gut und noch verbreitet waren. Die Schrift wurde von dem christlichen Schriftsteller Laktanz benutzt; dieser fand hier das philosophische Gerüst für eine christliche Ethik, die er damals, zur Zeit Konstantins, als erster verfaßte, als der römische Staat das Christentum als Staatsreligion rezipierte. Der Text wurde früh ins Deutsche übersetzt (1488/1531); hier findet sich deshalb der früheste Beleg für das Wort ›Menschenwürde‹ (dignitas hominis) in deutscher Sprache.16 Im 18. Jahrhundert entwickelte die Schrift eine besonders starke Wirkung.17 Friedrich der Große (regierte 1740-1786) nannte Ciceros Schrift das beste Werk über Moral, das je geschrieben wurde und geschrieben werden kann.18 Er forderte deshalb Christian Garve (1742-1798), Professor der Philoso-

16 Erstbeleg in deutscher Sprache: »So wir auch die ubertreflicheyt und wyrde menschlicher natur betrachten« (1488), in: Johann Neuber, Cicero der Römer zu seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern und zugehörungen eynes wol und rechtlebenden Menschen, Augsburg 1531 (bey Heynrichen Steyner), I c. XXV. Vgl. H. Cancik, »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹ (in diesem Band). 17 Christian Garve, Ciceros Abhandlung über die menschlichen Pflichten, übersetzt, Breslau 1783. Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785). Carlos Melches Gibert, Der Einfluß von Christian Garves Übersetzung Ciceros ›De officiis‹ auf Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹, Regensburg 1994. 18 Friedrich d. Gr., De la littérature allemande, Berlin 1780; vgl. Gibert, a. O., S. 72-75. – Herder war durch Briefe von Hamann und Kant über Garves Übersetzung und dessen Abhandlungen zu Ciceros Schrift informiert; er kannte auch den Plan Kants für eine Antikritik gegen Garve; Hamann an Herder, 2.5.1784: »Die Antikritik über Garvens Cicero hat sich in ein Prodromum der Moral verwandelt« (vermittelt durch Gibert, S. 174; vgl. ders., S. 43 (1767), S. 78 (1784) u. ö.).

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phie und Übersetzer, auf, den Text erneut ins Deutsche zu übertragen. Garve erfüllte den Auftrag und fügte seiner Übersetzung (1783) zahlreiche philosophische und kulturgeschichtliche Anmerkungen bei. Immanuel Kant benutzte diese Übersetzung, plante eine Antikritik gegen Garves Cicero, verzichtete aber schließlich auf alle Polemik und verfaßte die »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« (1785). Für seine Formulierungen des kategorischen Imperativs benutzt Kant Ciceros Begründung humanitärer Praxis im Dritten Buche seiner Schrift über naturgemäßes Handeln:19 »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«.

§3 G ERECHTIGKEIT

UND

ALMOSEN

§3.1 Ethik und Religion in der Antike Die Begründung humanitärer Praxis, die M. Tullius Cicero im dritten Buche seiner Schrift über das richtige Handeln gemäß der Natur entwickelt hat, ist weitgehend religionsfrei. Das Beispiel Hercules dient nicht der Argumentation, sondern einer hilfreichen Veranschaulichung. Anstelle der personifizierten Natur – »die Natur schreibt vor« – kann Cicero die Götter nennen oder »das System der Natur, d. h. das göttliche und menschliche Gesetz«.20 Auch dies dient der Variation, nicht dem Argument.

19 Gibert, Der Einfluß von Christian Garves Übersetzung, S. 84f. – Akademie-Ausgabe (Kantʼs Gesammelte Schriften. Hg. Königlich-Preussische Akademie der Wissenschaften und Nachfolger, Bd. 1-23, Berlin 19001955), Bd. IV 429; Bd. IV 438: »Handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte«. Zu Kant und Stoa vgl. Willi Schink, »Kant und die stoische Ethik«, in: Kantstudien 18 (1913), S. 419-475; Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935; Katharina Franz, Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Moralphilosophie der deutschen Aufklärung, Halle 11940. 20 Cicero, de officiis 3,5,25; vgl. §23: ipsa naturae ratio, quae est lex divina et humana; §28: wer die Gerechtigkeit aufhebt, ist als unfromm zu verur-

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Der Umstand, daß Ciceros Schrift verhältnismäßig religionsfrei ist, war eine Voraussetzung dafür, daß sie in der Spätantike von den Christianern und in der Neuzeit von Herder, Garve, Kant rezipiert und aktualisiert werden konnte. Ciceros Begründung humanitärer Praxis spiegelt damit eine besondere religionsgeschichtliche Konstellation wider. Die Gottheit ist für die Römer zwar Spenderin alles Guten, und die Menschen sollten ihr auch darin nacheifern.21 Der antike Opferkult reflektiert zwar in religiöser Sprache und Handlung ein zentrales Thema antiker Gesellschaft: ›Geben/Nehmen; Teilen, um zu geben‹. Aber: die antiken Opferfeste waren keine Veranstaltungen der Armenfürsorge. Es gab, wie eingangs bereits skizziert, keine Ortsgemeinden an den Kultanlagen, die Spenden oder Geld sammeln und umverteilen konnten. Die Kultfunktionäre erhielten keine staatlichen Gelder für Wohltätigkeit. Spenden von Getreide, Öl, Geld laufen über kommunale, zivile Verteiler. Wie wirksam, wie umfangreich, für welchen Personenkreis bestimmt, wie gerecht diese Verteilungen waren, wird in mühsamer Kleinarbeit an Inschriften, Münzen, demographischen Indikatoren von der antiken Wirtschafts- und Sozialgeschichte erforscht. Einen Vertreter dieser Forschungsrichtung, Hendrik Bolkestein von der Universität Utrecht, möchte ich Ihnen anschließend vorstellen. Vorher sei jedoch eine Alternative zu dem griechisch-römischen System der zivilen Wohltätigkeit skizziert. Eine völlig andere Struktur als die griechische und römische weisen die antiken jüdischen und christlichen Religionen auf. Hier gibt es feste Ortsgemeinden, eigene Versammlungsräume, Kultakte in kurzen und regelmäßigen Abständen, lebhafte Kontakte zwischen den Gemeinden durch Boten, reisende Prediger, Briefe. Sie bilden ein weites, das Imperium Romanum umspannendes Netz, das dann auch für die

teilen, »denn sie stürzen die Gesellschaft um, die von den Göttern unter den Menschen eingerichtet ist«. 21 Die religionswissenschaftliche Deutung dieser Vorstellung – die Götter als Wohltäter (griech. eu-ergetai) – zeigt die Wichtigkeit dieser Haltung für die antike Gesellschaft. Analoges gilt für die kultische Realisierung des ›Gebens/Annehmens‹ im Opfer, vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier, »Tun und Geben. Zum Ort des sogenannten Opfers in der römischen Kultur (2004)«, in: dies., Von Atheismus bis Zensur. Römische Lektüren in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Henriette Harich-Schwarzbauer/ Barbara von Reibnitz, Würzburg 2006, S. 211-219.

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Sammlung von Spenden und die Unterstützung von Armen genutzt werden kann, ein Verfahren, das in den griechisch-römischen Religionen völlig unbekannt, ja strukturell unmöglich ist. So sammelt Paulus in verschiedenen Gemeinden des römischen Imperium Geld und überbringt es den Armen der christlichen Gemeinde in Jerusalem.22 Die Judäer sammeln jährlich in allen Provinzen des Reiches Gold und »exportieren« es nach Jerusalem.23 In den Gemeinden wird religiöse Unterweisung erteilt. Die Synagogen werden Zentren der Armenhilfe. Diese wird mit hohen religiösen Prämien besetzt:24 »Mildtätigkeit sühnt die Sünden«. Auch diese Vorstellung ist der griechischen und römischen Religion unbekannt. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit für diese andere, die jüdische Konzeption und Organisation von humanitärer Hilfe steht im Zusammenhang mit drei historischen Ereignissen: 1. 2.

3.

mit dem Untergang der Staaten Israel und Juda (721 und 587 v.Chr.); mit der Bewahrung einer Teilautonomie der Judäer in den GroßReichen der Babylonier, Perser, Seleukiden und schließlich der Römer; mit einem enormen Bedeutungszuwachs von Religion, Kult und Kultfunktionären, der den Verlust der Eigenstaatlichkeit kompensiert. So war eine innere, administrative und religiöse (Teil-)Autonomie der jüdischen Gemeinden auch im römischen Imperium prinzipiell gewährleistet.

Die Christianer, eine jüdische Reformbewegung, die schnell hellenisiert und romanisiert wird, erlangen im vierten Jahrhundert denselben

22 Paulus, »An die Galater« 2,9f.; »An die Korinther« 1, 16,1-4; »An die Römer« 15,25-33; Lukas, »Apostelgeschichte« 9,21; 11,29; 20,22; 24,17; vgl. (Paulus), »An die Hebräer« 13,1-3. 23 Cicero, pro Flacco (59 n.Chr.), 66-69. 24 Sirach 3,30 (eleemosyne); ebenso Tobit 12,19. Die enge Verbindung von ›Wohltätigkeit‹ und Frömmigkeit auch bei Philo von Alexandrien, Über Philanthropie (spätere lateinische Titel: de caritate, de humanitate; stoischer Einfluß). – Vgl. aber schon das sog. ›Armenrecht‹ in frühen Texten der hebräischen Bibel: »Exodus« 22,20-26; 23,6; »Deuteronomium« 15,24; »Leviticus« 19,13; 14,28f. u. ö. (Witwen, Waisen, Fremde).

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Status wie die Judäer. Sie werden darüber hinaus zunächst die privilegierte, dann die dominante Religion des Imperium. Diese Verbindung des römischen Staates mit einer Religion, die einen kollabierten Staat kompensiert, bringt für die Begründung humanitärer Praxis neue Möglichkeiten und Schwierigkeiten. §3.2 Die Theorie von Hendrik Bolkestein Aus der Perspektive der Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat Hendrik Bolkestein diese Problematik untersucht. Vorbereitet durch zahlreiche eigene Arbeiten und durch Dissertationen seiner Schüler an der Universität Utrecht hat Bolkestein im Jahre 1939 sein Lebenswerk veröffentlicht: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem ›Moral und Gesellschaft‹. Das Buch ist in deutscher Sprache geschrieben und veröffentlicht, was jedoch nicht als Indiz für Sympathien für das nationalsozialistische System in Deutschland gedeutet werden darf. Es ist vielmehr ein Indiz für das Ansehen, das die deutsche Altertumswissenschaft und Deutsch als Wissenschaftssprache einstmals genossen haben. Bolkestein hatte in Berlin bei Eduard Meyer studiert. Er war Vorsitzender eines Gremiums der Universität Utrecht gegen, wie es heißt, »nazistische Befleckung« der Universität.25 Bolkestein vergleicht die humanitäre Praxis im Orient (Ägypten und Israel) und im Abendland (Hellas und Rom) und kommt zu folgendem Ergebnis:26 (a) In der griechischen und römischen Welt spiele Wohltätigkeit und Armenpflege eine geringe Rolle; verhältnismäßig starke politische, zivile, kommunale Institutionen der antiken Stadtstaaten

25 H. Wagenvoort, »Geleitwort zum Nachdruck«. Vgl. J.H. Thiel, »Herdenking van Hendrik Bolkestein (1877 – 1942)«, in: Jaarboek der Nederlandse Akademie van Wetenschappen (1942/1943). Thiel war Bolkesteins Nachfolger. Bolkestein, geboren 1877 in Amsterdam, war ab 1915 Professor für Alte Geschichte in Utrecht; 1934-35 Rektor der Universität Utrecht; er starb 1942. – H. Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem ›Moral und Gesellschaft‹, Utrecht 1939; Ndr.: Groningen 1967; Frankfurt am Main 2001. 26 Mesopotamien wird von Bolkestein nicht berücksichtigt.

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hätten massenhafte und dauerhafte Armut verhindert, reale Voraussetzungen dafür geschaffen, Armut zu überwinden.27 Das Königtum in Israel und Ägypten dagegen habe derartige Institutionen nicht schaffen können. (b) Deshalb sei ein fundamentaler Gegensatz zwischen Arm und Reich in der sozialen Moral und in der Religion des Abendlandes unbekannt; hier gehe es immer um das Verhältnis von Mensch und Mitmensch; im geistigen und sozialen Leben des Orients jedoch sei der Gegensatz von Arm und Reich und die religiöse oder moralische Forderung, zu helfen und zu lindern, stets gegenwärtig.28 ›Gerechtigkeit‹ heiße im Abendland eine Beziehung zwischen prinzipiell Gleichgestellten, im Orient die Unterstützung von Hilflosen:29 »Die orientalische Moral denkt an die Beziehungen zwischen Armen und Reichen, die abendländische an die zwischen Mensch und Mensch, ihr Ideal ist die griechische philanthropia, das Gemeinschaftsgefühl zwischen allen Menschen«. Das Almosen setzt zwar die Würdigkeit des Empfängers voraus; aber Würdigkeit impliziert keinen Anspruch. Das Almosen kann die Armut nicht beseitigen; »ihm liegt«, so das »Reallexikon für Antike und Christentum« 1950, »die geistige Not sogar näher als die leibliche«.30 Hiermit sind zwei Formen des Gebens idealtypisch sauber geschieden und sogar auf Orient und Okzident verteilt. (a) Geben und Nehmen in einem Geschenkverkehr, der durchaus asymmetrisch sein kann: Die Gottheit schenkt Leben, der Mensch ein Blümchen oder Weihrauchkorn – aber es ist eine Gegengabe; (b) das Almosen, dessen Empfänger mit einem Segensspruch antwortet, der die Unfähigkeit zur Gegengabe ausdrückt: »Vergeltʼs Gott«. Auch sprachlich ist der Unterschied deutlich. ›Wohltun‹ ist

27 Landverteilung und Kolonisation waren Möglichkeiten hierfür, die durch Eroberungskriege innerhalb und außerhalb Italiens geschaffen wurden. 28 Bolkestein [Anm. 25], S. 409 Anm.; vgl. 426. 29 Bolkestein [Anm. 25], S. 420-421; vgl. 102, 114. 30 W. Schwer, »Almosen«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Stuttgart 1950, S. 303.

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für die Hellenen nicht ›Almosen-Geben‹, nie wird das Wort ›Wohltätigkeit‹ (eu-ergesia) speziell mit ›Armen‹ verbunden.31 Trotz mancher fachwissenschaftlicher Bedenken im Einzelnen ist die Theorie Bolkesteins allgemein angenommen worden.32 Zwei berühmte Texte, Beispiele aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert, ein hellenischer und ein christlicher, mögen den Gegensatz veranschaulichen. §3.3 Hellenische »Wohltätigkeit« und christliche »Almosen« Die Verschiedenheit der beiden religiösen Systeme wird in den Krisenzeiten der Spätantike besonders deutlich.33 Das jüdisch-christliche

31 Bolkestein [Anm. 25], 101: »niemals wird (sc. im griechischen) der Begriff ›Wohltun‹ mit dem Objekt Arme verbunden, und niemals versteht man unter Wohltun Almosen geben«. 32 (a) Eine Rezension zu Bolkesteins ›Wohltätigkeit‹ kenne ich nicht. (b) Die Fortschritte der antiken Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verzeichnet: Geza Alföldy, Römische Sozialgeschichte, Wiesbaden 31984; Géza Alföldy/Jens Uwe Krause (Hg.), Bibliographie zur römischen Sozialgeschichte, Stuttgart, Bd. 1: Die Familie und weitere anthropologische Grundlagen, 1992 (Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 11); Bd. 2: Schichten, Konflikte, religiöse Gruppen, materielle Kultur, 1998 (Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 26). (c) Zu den Bedenken gehört die Aussparung Mesopotamiens, die Terminologie ›Orient/Okzident‹ und der »scharfe Gegensatz« (Bolkestein, S. X) zwischen den Kulturen in vorhellenischer Zeit; die Situation der Armen (egeni) im römischen Imperium. (d) Die allgemeine Annahme der Theorie Bolkesteins, der gern dafür zitiert wird, daß es kein Armenwesen bei Griechen und Römern gab, vernachlässigt oft die Pointe dieser Theorie, daß nämlich, aufgrund der anderen politischen und sozialen Verhältnisse ›im Abendland‹, ein Armenwesen nicht nötig gewesen sei. 33 Vgl. Bolkestein [Anm. 25], S. 484: »(die christliche Kirche als Trösterin) am Sterbebett einer untergehenden Welt, in der zum ersten Mal das Elend die Massen ergriffen hatte«. – Die hier vorliegenden Annahmen über den ›Untergang der Alten Welt‹ und das ›erste‹ Auftreten von massenhafter

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System ist sehr erfolgreich, das hellenisch-römische kann die zunehmenden Mängel der öffentlichen Versorgung, den Verfall der Städte, die Folgen der Verarmung nicht kompensieren. In dieser Situation schreibt Kaiser Julian (302-363 n.Chr.), der Letzte aus der Familie Konstantins des Großen, Briefe an Arsakios und Theodoros, zwei hohe Kultfunktionäre in Kleinasien.34 Julian versucht, die Religionsfreiheit für alle Religionen des Imperiums wiederherzustellen und die hellenische Religion im Blick auf die sozialen Probleme und in Konkurrenz zu Judäern und Christianern zu reformieren. Der Kaiser schreibt an Theodoros (362/63 n.Chr.): »Da es dazu gekommen ist, daß die Armen (griech. pénetes) von den Priestern übersehen werden, haben die unfrommen Galiläer (d.h. die Christianer) das bemerkt und sich auf diese Philanthropie (sc. für die Armen) verlegt [...] Sie haben angefangen, mit ihrem sogenannten Liebesmahl (agápe) und mit dem Gewähren von Unterkunft und Dienst an den Tischen (die Menschen zu verlocken) und verführen sie so zu Gottlosigkeit (a-theótes)«.

An Arsakios schreibt er: »Es ist nämlich schändlich, wenn von den Juden nicht ein einziger um Unterstützung betteln muß, wenn die unfrommen Galiläer außer den Ihrigen auch noch die Unsrigen ernähren, die Unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite völlig zu entbehren scheinen«.

Deshalb werden jetzt den Tempeln von staatlicher Seite große Mengen von Getreide und Korn zugewiesen, damit sie dort an die »Armen« (pénetes), die »Fremden«, die »Bettler« verteilt werden. Für die Obdachlosen sollen in allen Städten Herbergen errichtet werden, und

Verelendung müßten im Lichte neuerer Forschungen geprüft werden. Für Bolkestein ist entscheidend, daß die »Trösterin« den ›Untergang‹ nicht verhindern konnte. Bolkestein ist mit einer Arbeit über den spätantiken Kolonat promoviert worden, kannte also die Sozialverhältnisse der Spätantike durchaus. 34 Bertold K. Weis (Hg.), Julian – Briefe, München 1973 (gr.-dt.; Anmerkungen), nr. 39 und nr. 48; der Adressat des zweiten Briefes ist unsicher.

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zwar nicht nur für Hellenen, sondern für alle Bedürftigen.35 Die staatliche Hilfe, so fordert der Kaiser, muß durch die private Philanthropie und »Wohltätigkeit« (eu-poiía) der Hellenen ergänzt werden.36 Julian greift auf das relativ junge System zurück, das sich zur Organisation des Kaiserkultes entwickelt hatte. Über die Oberpriester der Provinz kann der Kaiser die anderen Priester erreichen (Brief nr. 39, p. 430A): »alle, die in Galatien Priester sind«. Die Klerikalisierung, Hierarchisierung und andere Elemente einer Staatskirche sind hier bereits entwickelt worden. Die Briefe Julians sind ein wichtiges, weil nicht christliches, Zeugnis für vielseitige und erfolgreiche humanitäre Hilfe der Judäer und Christianer. Sie bezeugen zugleich die strukturelle Schwäche der griechischen und römischen Religionen, die das Versagen staatlicher Versorgung nicht auffangen können. Diese Religionen hatten ja, wie bereits skizziert, weder vor Ort noch überregional jemals die Funktion, die ihnen Julian jetzt zuweist. Sie hatten kein regelmäßiges Spendenaufkommen und nicht die Möglichkeiten für Lagerung und Verteilung. Die Maßnahmen des Kaisers konnten deshalb, so gut und großzügig sie gemeint waren, nicht wirksam werden. Daß die Reform des Kaisers Julian scheiterte, ist offenkundig. Die erstaunliche jüdische und christliche Armenpflege allerdings wollte und konnte zwar individuell helfen, lindern, trösten, aber die allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten, die dramatisierend ›Untergang der Antike‹ genannt werden, vermochte auch sie nicht zu beseitigen.37 Die inneren Schwierigkeiten und die Grenzen

35 Vgl. Julian, Misopogon (Der Barthasser), 363B: Es gibt keine Bedürftigen in den Heiligtümern, da man dort nichts zu essen bekommt. 36 Jürgen Kubiersch, Untersuchungen zum Begriff Philanthropia bei dem Kaiser Julian, Wiesbaden 1961 (Klass.-Philol. Stud., H.21). – Eine wichtige zeitgenössische Quelle sind die Reden des Themistios »Über Philanthropie« (or. I, VI, XIX). 37 Zum Umfang der christlichen Armenpflege: Tertullian, Apologeticum 39,6: Bedürftige (egeni) ernähren und begraben; Sorge für Waisenkinder, Alte, Schiffbrüchige, Verbannte, auch Bergwerkssklaven und Gefängnisinsassen, sofern sie ex causa Dei sectae (aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinde Gottes) inhaftiert waren; zu weiteren Einschränkungen vgl. 39,7.

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des christlichen Systems ›Armenpflege‹ lassen sich an einem extremen Beispiel deutlich machen, an den Predigten und Briefen eines jüngeren Zeitgenossen Julians, des Johannes von Antiochien, Bischof von Konstantinopel, später Chryso-stomos – »Goldmund« – zubenannt.38 Nach der Lehre des Johannes dient das Spenden eines Almosens der Vervollkommnung des Spenders.39 Almosengeben ist dem geduldigen Ertragen von Leiden und Armut gleichgesetzt: Das Almosen, so Otto Plassmann, »wird aus persönlichen, nicht sachlichen Motiven gegeben und dient persönlichen, nicht sozialen Zielen. So ist es völlig verschieden von der antiken Gabe. [...]«.40 »Auf den Empfänger wird beim Almosen kaum Rücksicht genommen, wie sich in vielen Vorschriften des Johannes zeigt. Es kommt ihm nicht darauf an, daß dem Armen geholfen werde, sondern darauf, daß der Reiche seine Tugend bewähre«. – »Das Almosen schafft nicht Nahrung und Häuser, sondern das Himmelreich für den Geber«. Der Empfänger des Almosens ist nicht mehr der Mitmensch: »Gott substituiert die Person des Empfängers«. – »Wenn der Reiche Wohltaten erweist, so erweist er sie nicht dem Armen, sondern Christus selber«.41

38 Otto Plassmann, Das Almosen bei Johannes Chrysostomus, Diss. phil. Bonn 1960. – Johannes Chrysostomos (ca. 349-407), »Werke (Predigten, Briefe)«, in: Migne, Patrologia Graeca, Bd. 47-63; vgl. besonders Johannes Chrysostomos, »De eleemosyna« (verfaßt 386/97 n.Chr.), in: Migne, Patrologia Graeca, Bd. 51, S. 261-272. Deutsche Übersetzung: Mathias Schmitz, Chrysostomus, Über das Almosen. Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus ausgewählte Reden. Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 63, Kempten 1879, S. 239-261 (= Ausgewählte Schriften des heiligen Chrysostomus, Bd. 3); Hilary Feldman, Some Aspects of the Christian Reaction to the Tradition of Classical Munificence with Particular Reference to the Works of John Chrysostom and Libanius, Diss. Oxford 1980. 39 Die folgende Paraphrase folgt der »Zusammenfassung« bei Plassmann, S. 88-100; dort auch der Nachweis der Quellen. 40 Plassmann, S. 97 mit Hinweis auf E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912. – Johannes konzentriert sich auf den individuellen Spender eines Almosens; die von den Gemeinden organisierte Armenpflege behandelt er nicht. 41 Plassmann, mit Verweis auf Matthäus 25,35-46.

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Deshalb ist der Empfänger auch nicht zu einer Gegenleistung verpflichtet. Aber der Himmel verzeiht dem Spender Sünden und gibt vielfachen Lohn. Eine nachhaltige Verbesserung der Lage des Empfängers jedenfalls ist nicht das Ziel dieser Armenpflege. So viel, sehr kurz und vereinfacht, zu der Lehre des Johannes von Antiochien über christliche Armenpflege. Es ist eine rigorose, asketische Lehre, selbstbezogen und weltflüchtig.42 Dieser Typus von Argumentation ist, so scheint mir, das genaue Gegenstück zur Begründung von humanitärer Praxis, wie sie M. Tullius Cicero unternommen hat.

§4 Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK §4.1 Die antiken Begründungen humanitärer Praxis und Hilfe Unsere Sprache für humanitäre Praxis und ihre Begründungen besteht zu einem guten Teil aus Lehn-, Übersetzungs- und Fremdwörtern: Almosen (griech. eleemosyne), Barm-herzigkeit (lat. miseri-cordia); Caritas; Dienst(leistung) (griech. diakonía; lat. servitium – engl. service), Humanität (lat. humanitas); Hospiz (hospitium); Solidarität (lat. in solidum [teneri]); Wohltätigkeit (griech. euergesía, lat. beneficentia). Dieser Befund unserer sprachlichen Oberfläche führt auf antike Begriffe, Diskurse, Institutionen: hellenische und römische, jüdische und christliche. Die historische Untersuchung soll die Tiefendimensionen unserer Sprache erschließen und die Herkunft, Tendenz, Belastungen, Zukunftsfähigkeit dieser Traditionen untersuchen. ›Humanität‹ ist, gemäß antiker Tradition und Herders maßgeblicher Bearbeitung dieser Tradition, ›Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenliebe‹. Die allgemeinste, umfassendste Bestimmung des Begriffs entwickelt, stoische Tradtion aufnehmend, M. Tullius Cicero. Seine formu-

42 Zum historischen Ort des Johannes vgl. auch Rudolf Brändle (Hg.), Johannes Chrysostomus: Acht Reden gegen die Juden. Eingeleitet und erläutert von Rudolf Brändle, übersetzt von Verena Jegher-Bucher, Stuttgart 1995.

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la, sozusagen das humanistische Apriori zur Begründung humanitärer Praxis und Hilfe lautet: »daß der Mensch dem Menschen, wer auch immer es sei, helfen wolle wegen eben dieses Grundes, daß der ein Mensch ist«. Diese Formel wird bei Marcus Tullius und anderen antiken Autoren vielseitig entwickelt, viel reicher, als ich es in diesem Referat darstellen konnte. Die beiden Dimensionen von humanitas/Humanität, die Bildung und die Barmherzigkeit, sind wieder deutlich gemacht worden in der Neufassung der »Fundamentals of modern Humanism«. Den sieben Prinzipien wurde in der Amsterdamer Erklärung von 2002 hinzugefügt: 43 moderner Humanismus arbeite »in the service of compassion«. Die Formel wurde geprägt von Hans Jürgen Eysenck, einem gebürtigen Berliner, Professor für Psychologie am Institut für Psychiatrie der Universität London.44 Er hat sie mit psychologischen Argumenten begründet in dem Aufsatz »Reason with Compassion«. Cicero ist nicht zitiert, wäre aber sicher hoch erfreut über diese wissenschaftliche Fortentwicklung antiker Tradition. §4.2 Religionsfreie und religionsgebundene Begründung Die Begründung humanitärer Praxis bei M. Tullius Cicero war weitgehend religionsfrei. Um die Besonderheit dieses Ansatzes zu zeigen, wurden zwei religionsgebundene Begründungen vorgestellt, ihre Entstehung, ihre Erfolge und Grenzen: Kaiser Julian und Johannes Chrysostomus. Der Vergleich macht noch einmal deutlich, daß Ciceros Entwurf die Bürger einer Republik und eines Imperium fokussiert. Trotz der Universalität seiner Anthropologie – ›der Mensch, das Menschengeschlecht‹ – bleiben gerade die Menschen im Dunkel, die bei den christlichen Autoren in den Vordergrund treten: die Verwundeten, die Krüppel, die Hungernden, die Leprösen, die Blinden. In Ciceros um-

43 Text: http://www.iheu.org/amsterdamdeclaration [31.01.2010]. 44 Hans-Jürgen Eysenck, »Reason with Compassion«, in: Paul Kurtz (Hg.), The Humanist Alternative: Some Definitions of Humanism, New York 1973, S. 89-92. Der Essay hat keine Quellenangaben oder Literaturhinweise. Ich danke Herrn Roy Brown (London) für freundliche Auskunft. – Eysenck: geb. 1916 in Berlin; 1934 Flucht; bis 1983 Prof. für Psychologie an der London University; gest. 1997.

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fassendem Werk, den vielen Reden, Briefen, populärphilosophischen Traktaten und Dichtungen kommen diese Menschen überhaupt nicht vor. Der neuzeitliche Humanismus ist keine Religion und keine Philosophie, sondern (a) eine besondere Ausformung der westeuropäischen AntikeRezeption; (b) eine Bildungsbewegung (Niethammer, Humboldt); (c) eine Grundlage humanitärer Theorie und Praxis (Herder, Ruge, Marx); (d) eine Quelle der natürlichen und Menschenrechte. Es gibt, so vermute ich, viele andere Möglichkeiten, humanitäre Praxis zu begründen – psychologisch, ethisch, theologisch, soziologisch. Dieses Referat sollte an die Ressourcen erinnern, die eine reflektierte antike Tradition für eine spezifisch humanistische Begründung humanitärer Praxis bieten kann.

II Worte, Ausdrücke, Begriffe

Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe

§1 »M AGISCHE ANZIEHUNGSKRAFT « (G REGORIUS M AGISTER , 12. J H . N .C HR .) 1. Etwa eintausendneunhundert Jahre nach Gründung der Stadt besucht Magister Gregorius, ein Rechtgelehrter in Geschäften aus England kommend, das ewige Rom. Die antike Millionenstadt, einst Haupt, Mitte, Asyl und Tempel der ganzen Welt, ist geschrumpft, geplündert, ruinös. Das Capitol heißt ›Ziegenberg‹, das alte Forum ›Kuhfeld‹. Dennoch bleibt Rom »die antikste Stätte des Abendlandes«. In den Römern des 12. Jahrhunderts lebt, wenn auch ruinenhaft, »noch ein antiker Geist, der dem Volke zum Bewußtsein kam und mit der Kirche in Streit geriet«.1 Magister Gregorius besichtigt die »Wunderwerke der Stadt« und schreibt,2 in Rom gebe es eine große Ansammlung von Statuen, die »Rettung der Bürger« (salvatio civium) genannt werde. Dies seien Statuen aller Völker, die dem römischen Volk unterworfen waren. Durch magische Kunst seien sie geheiligt:

1

Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859/1860), 8. Buch, Kap. 7, hg. von Waldemar Kampf, 1953/1957; München 1978: Bd. II 1, S. 272-277: »Die Mirabilia Urbis«.

2

Lateinische Edition: G. MacNeil Rushforth, in: Journal of Roman Studies 9 (1919), S. 14-58; Neuausgabe von R.B.C. Huygens (Hg.), Gregorius, Narracio de mirabilibus urbis Romae, Leiden 1970.

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»Es war nämlich kein Volk oder Region dem römischen Imperium unterworfen, dessen Abbild nicht in einem gewissen Hause konsekriert gewesen wäre, das sie [aufzubewahren hatte]. Ein großer Teil der Wände dieses Hauses steht immer noch, und seine Krypten sind sichtbar, furchtbare und unzugängliche. In diesem Hause standen einstmals die erwähnten Abbilder der Reihe nach, und jedes Abbild hatte den Namen jenes Volkes, dessen Bild es trug, auf die Brust geschrieben, und trug eine Glocke von Silber, das tönender ist als alles Metall, ein jegliches um den Hals. Und waren Priester Tag und Nacht, immer wachend, die sie behüteten. Und wenn irgendein Volk versuchte, sich zur Rebellion gegen das Imperium der Römer zu erheben, bewegte sich sogleich seine Statue, und die Glocke an seinem Halse tönte; und sofort überbrachten die Priester den Namen jenes Bildes den Fürsten. Es war aber über dem Hause, das diesen Bildern konsekriert war, ein erzener Soldat mit seinem Pferd, der immer sich nach der Bewegung des Bildes richtete und seine Lanze auf das Volk richtete, dessen Abbild sich bewegte.«

Dadurch gewarnt hätten die römischen Fürsten den Aufständen zuvorkommen können. Die Geschichte veranschaulicht mittelalterliche Antikerezeption. Magister Gregorius verarbeitet in unmittelbarer Berührung mit antikem Raum und Material eine subantike Sage (7.-8. Jh.), fügt sie in ein mittelalterliches Welt- und Geschichtsbild. Die Größe des vergangenen imperium Romanum und seine Struktur sind eindrucksvoll erfaßt: die Heterogenität dieses multikulturellen und multireligiösen Reiches, die Gewaltform seiner Herrschaft, die Bedeutung von Überwachung und Kommunikation, die Funktion der Zentrale Rom. Die Sage transformiert die politische, ästhetische und religiöse Kommunikation des römischen Imperium in »magische Kunst« (ars magica), in Zauberei und einen intricaten audio-visuellen Fernmeldeapparat. Die Geschichte macht deutlich, daß die neuzeitliche Telekommunikation nur die magischen Erfindungen der Antike technisch realisiert. 2. Rombilder – imperiale und ruinöse, von klassischer Helle und unheimlicher Magie – haben europäisches Geschichtsbewußtsein geprägt, über alle sprachlichen und Nationalgrenzen hinweg. Wirksam

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sind Texte, kolossale technische Leistungen, prächtige Architektur – und immer wieder die Bilder. Magister Gregorius berichtet:3 »Jetzt aber will ich Weniges hinzufügen über die marmornen Bildwerke, die fast alle von dem seligen (Papst) Gregor entweder zerstört oder verstümmelt worden sind. Über eines von ihnen will ich wegen seines Aussehens von außerordentlicher Schönheit zuerst berichten. Dies Abbild aber ist von den Römern der Venus geweiht worden in der Gestalt, in der sie sich, der Fabel gemäß, zusammen mit Juno und Pallas nackt dem Paris in einer übermütigen Untersuchung dargeboten haben soll. Sie betrachtend sprach der übermütige Richter:4 ›Unserem Urteil nach siegt über beide Venus‹. Dies Abbild aber ist aus Parischem Marmor mit so wunderbarer und unerklärlicher Kunstfertigkeit hergestellt, daß es eher ein lebendiges Geschöpf denn eine Statue zu sein scheint: Sie trägt nämlich ihr Gesicht von purpurner Farbe übergossen, gleichsam als errötete sie über ihre Nacktheit. Und es scheint, wenn man von näher es betrachtet, in dem schneeigen Gesichte des Abbildes das Blut zu fließen. Wegen dieses wunderbaren Aussehens und wer weiß welcher magischen Überzeugungskraft (magica persuasio) bin ich dreimal gezwungen worden, es wieder zu besichtigen, obschon es von meiner Unterkunft mehr als zwei Stadien entfernt war«.

Dieser Erlebnisbericht ist ein weiteres eindrucksvolles Zeugnis für mittelalterliche Antikerezeption. Er zeigt, wie die hohe Qualität eines Kunstwerks, der erotische Charme, das leibhafte Gegenüber einer fast lebendigen Gestalt den rechtskundigen Geschäftsmann irritieren. Aber er schlägt nicht, wie antike Christianer es taten, ein Kreuz gegen den Teufel, der in der Statue sitzt; er zischelt nicht, um ihn zu vertreiben,

3

Gregorovius, a.a.O. – Zu den beiden Texten des Gregorius vgl. H. Cancik, »Die ›Repraesentation‹ von ›Provinzen‹ (nationes, gentes) in Rom. Ein Beitrag zur Bestimmung von ›Reichsreligion‹ vom 1. Jahrhundert v.Chr. bis zum 2. Jahrhundert n.Chr.«, in: ders., Römische Religion im Kontext. Gesammelte Aufsätze I, hg. von H. Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, S. 211-226: §5 salvatio civium (Rom, 8./12. Jh.); ders., »Nutzen, Schmuck und Aberglaube. Ende und Wandlungen der römischen Religion im 4. und 5. Jahrhundert«, in: Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von H. Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, S. 336-360: §3 »Mehr Kunstwert als Göttlichkeit«.

4

Ovid, ars amatoria 1,248.

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er schließt nicht, wie die antiken Judäer es taten, die Augen vor dem Bildwerk. Vielmehr tadelt er sogar einen Papst, Gregor den Großen (590-604), der marmorne Bildwerke zerstört oder verstümmelt habe. Die Fascination, die eine vergangene, verbotene Religion und ein großes Kunstwerk ausüben, erklärt sich Gregorius mit »magischer Überzeugungskraft« (magica persuasio). Die Statue, heute mit der Inventarnummer 409 aufgestellt im Capitolinischen Museum, stand wahrscheinlich in einer Badeanlage (lavacrum Agrippinae); sie ist vorzüglich erhalten. Es wird vermutet, daß der gute Erhaltungszustand – Magister Gregorius sah um 1200 wohl noch die antike Bemalung – die Frucht einer antiken Rettungsaktion ist. Die Statue wäre wohl nicht so wohlbehalten ins Mittelalter gekommen, wenn sie nicht schon in der Spätantike sorgfältig verborgen worden wäre. 3. Die Bilder von Menschen und Göttern, die in Rom sichtbar werden, zeugen von der radikalen Anthropomorphisierung der antiken Kunst, von Mythos, Religion, Natur. Die Bilder sind massenhaft verbreitet. Sie zeigen Männer, Frauen, Kinder, Mischwesen, idealisiert oder realistisch, in allen Altersstufen, Haltungen, Posen – den ganzen »Habitus der Menschheit«, wie ein späterer Romfahrer sagt, »anschauliche Kategorien der Menschheit«.5 Diese römischen Statuen, Reliefs, Malereien haben europäische Menschenbilder – in unterschiedlichen Epochen mit unterschiedlicher Intensität – beeinflußt.6 Allerdings reisen, fünfhundert Jahre nach dem Bericht des Gregorius, Künstler, Gelehrte, bildungswillige Aristokraten mit anderen Voraussetzungen und Erwartungen zu den Wunderwerken Roms. Die antiquarischen und historischen Kenntnisse sind erheblich erweitert. In

5

Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u.a.; Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-97, BBH), hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt 1991, nr. 63, nr. 64.

6

Die Wirkung des ästhetischen und anthropologischen Impulses griechischer Plastik und Menschendarstellung in Glyptik, Wand- und Vasenmalerei geht weit über die Grenzen Europas hinaus. Die Entstehung eines körperlichen Bildes des Buddha, seine Darstellung in Plastik, Münzen und narrativen Reliefzyklen im 1.-2. Jh. n.Chr. in Nordwestindien (Gandhara, Mathura) ist mit der direkten und indirekten Rezeption hellenistischer Kunst verbunden.

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Herculaneum war erstmals eine antike Stadt in ihrem ursprünglichen Lebenszusammenhang entdeckt, in Paestum klassische griechische Architektur auf dem Boden Italiens – ›Groß-Griechenlands‹ – wiedergefunden worden. Im 18. Jahrhundert werden durch Winckelmann die Grundlagen der modernen Archäologie, durch Shaftesbury, Rousseau, Diderot, Herder und viele andere die Grundlagen des modernen westeuropäischen Humanismus im genaueren Sinne geschaffen. Die alten Mirabilien der ewigen Stadt rücken in neue ästhetische, ethische, politische Kontexte.

§2 » DER GANTZE MENSCH « (J OHANN G OTTFRIED , 1490) §2.1 Der Text: »Beschirmung Epycuri« Am 22. Februar 1490 schreibt Johann Gottfried, Pfarrer und bepfründeter Kanoniker des Stifts St. Katharinen zu Oppenheim am Rhein,7 einen Brief an den strengen und ehrenfesten Herrn Friedrich, Kämmerer von Dalberg, Ritter (1469-1507).8 Der Brief empfiehlt dem lieben Herrn die Lektüre der Defensio Epicuri (»Verteidigung Epikurs«) des Cosma Raimondi (ca.1400 bis ca.1435/36), die Gottfried aus dem Lateinischen in das Frühneuhochdeutsche übersetzt hatte.9 Die »Beschirmung Epycuri« ist der elfte von siebzehn Texten griechischer,

7

Ausführliche biographische und bibliographische Angaben bei Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried (Diss. Münster 1999), Göttingen 2001 (Palaestra Bd. 312).

8

C.J.H. Villinger, »Die Kämmerer von Worms genannt von Dalberg und ihre Beziehungen zu Oppenheim«, in: J. Albrecht/H. Licht (Hg.), 1200 Jahre Oppenheim am Rhein, Opppenheim 1965; S. 55-78, zu Friedrich von Dalberg bes. S. 61f.

9

Zu Raimondi und seiner defensio vgl. Drücke, S. 124-134; Eugenio Garin, »Ricerche sull’Epicureismo del Quattrocento – Appendix: La ›Defensio Epicuri‹«, in: ders., Epicurea in memoriam Hectoris Bignone, Genova 1959, S. 233-237. Ein Text, wie ihn die Berliner Handschrift lat. fol. 604 B (1420/1430, aus Norditalien) bietet, war nach Drücke die Vorlage für Gottfrieds Übersetzung.

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römischer, humanistischer Autoren, die aus Gottfrieds Übersetzungswerk in einer Berliner Sammelhandschrift zusammengestellt sind.10 Das Programm von Handschrift und Übersetzer ist die Verbreitung antiker moralis philosophia, mit einem deutlichen pädagogischen Engagement, Fokussierung auf Herrschertugend und die Selbstgestaltung des Menschen. Die »Beschirmung« wurde um 1522 gedruckt, zwar in Speyer, aber verziert mit einem Holzschnitt aus der Werkstatt des Oppenheimer Druckers Jacob Köbel.11 Die »Verteidigung Epikurs« verbindet die Apologie mit Polemik gegen Peripatetiker, Akademiker, Stoiker und, am Schluß, mit Werbung für »unseren Epycurus« und seine Philosophie der Freude.12 Sie hat die Form eines Briefes, einer im humanistischen Diskurs beliebten Gattung. Der Aufbau ist, obschon die Briefform freiere Gestaltung zuläßt, mehr als durchsichtig.

10 Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin: Ms. germ. qu.1477, geschrieben nach 1515; die »Beschirmung« auf fol.97r – 102v. Die anderen Stücke sind: Cicero, de fato; Cicero, Paradoxa Stoicorum; Cicero, Cato maior de senectute; (Ps.-)Sallustii in Ciceronem et invicem invectivae; Aeneas Silvius Piccolomini, Brief an Wilhelm vom Stein; Seneca, Epistel 9; Cicero, Somnium Scipionis; (Ps.-) Aristoteles, Oeconomia I; Leonardo Bruni, Isagogicon moralis philosophiae; Lukian, Calumniae non temere credendum; Curtius Rufus, Historia Alexandri Magni (VII 8,129,1; IX 6,6-26); Livius, ab urbe condita libri (XXX 30,2-31,9; IV 3,2-5,6); Lukian, Charon; Lukian, 12. Totengespräch; Isokrates, de regni administratione ad Nicoclem; (Ps.-)Isokrates, Praecepta ad Demonicum. Die Texte griechischer Autoren lagen Gottfried in lateinischen Übersetzungen vor. 11 J. Benzing, Jakob Köbel zu Oppenheim 1494-1555. Bibliographie seiner Drucke und Schriften, Wiesbaden 1962; ders., »Der Buchdruck zu Oppenheim (Jakob Köbel und Hieronymus Galler)«, in: H. Licht (Hg.), Oppenheim. Geschichte einer alten Reichsstadt, Oppenheim o.J., S. 159-167; E. Jungkenn, »Johann von Dalberg und Jakob Köbel als Mitglieder der Sodalitas litteraria Rhenana« (1956), ebd. S. 167-171. Vgl. Drücke, S. 135; 331. 12 ›Freude‹ als Übersetzung von griech. hedoné, lat. voluptas ist nach modernem Sprachgebrauch besser als ›Lust‹.

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Einleitung (cap. 1-3): Thema. Hauptteil (cap. 4-13): 1. Die Lehre Epikurs über das »höchste Gut« (cap. 4-5): Freude/ voluptas/hedoné. 2. Die Gegner Epikurs: Stoiker (cap. 6); Argument: die Einheit des Menschen; Akademiker (cap. 7): alles ungewiß; Peripatetiker (cap. 8-13); Argument: die Natur, die Schönheit. Schluß (cap. 14-16): Zusammenfassung, Werbung für den Epikureismus. §2.2 Epikureische Anthropologie 1. Das »höchste Gute« (summum bonum) oder, so Gottfried, »die seligkeit des menschen« kann nicht die »Tugend allein« sein, wie die Stoiker und Peripatetiker behaupten.13 »Unser Epycurus« hat vielmehr die »lusten« und »ruwe, styll, frieden und eintrechtigkeit«, so umschreibt der Übersetzer voluptas und tranquillitas (Raimondi),14 als das höchste Gut bestimmt:15 »Und darumb so hat warlich unser Epycurus gesatzet die seligkeit des menschen sin in lusten so wir also geborn und gemacht sin, das wir von der naturen vill nahe als darzu geschmyttet sin, geachtet werden. Und ist darzu auch unserm gemude von naturen ingedrucket sunderliche begirlichkeit, entphindunge und follenfurunge, ia hervolgung des lusten«.

13 Gottfried, Beschirmung, cap. 5, S. 452 (Seitenangaben nach der Edition bei Drücke); cap. 13, S. 461. – Zu der These, virtus propter se ipsam expetendam – »Tugend muß um ihrer selbst willlen angestrebt werden«, vgl. Cicero, de inventione 2,52,157-158; 2,54,164. 14 Gottfried, Beschirmung, cap. 13, S. 461; Raimondi, ebd.: Cum igitur propter vite tranquillitatem, qua in ipsa felicitatis voluptatis nomine felicitatem Epicurus collocavit, virtus expetatur, [...]. Es folgen die üblichen Vorwürfe gegen Epikureer (»freßerij, drunckenheit« etc.) und werden abgewiesen. 15 Gottfried, Beschirmung, cap. 10, S. 458; Raimondi, ebd.: Vere igitur Epicurus in voluptate summum bonum constituit, cum ita nati et facti simus, ut ad id quasi fabricati videamur. Est praeterea in animis nostris naturalis quidam sensus capiundae et prosequende voluptatis.

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Der Vorrang der Lust vor der Tugend wird zwiefach bewiesen: (a) Die Natur hat sich selbst und den Menschen so, mit einem sensus naturalis voluptatis, »fabriziert«; (b) der Mensch ist eine Einheit von Leib, Seele, Gemüt (gemude): deshalb kann das »höchste Gut« nicht nur dem intellektuellen Teil zugesprochen werden. Vielmehr muß grundsätzlich ein höchstes Gut von der »seligkeit des gantzen menschen« ausgesagt werden:16 »Aber hie in dieser unser disputation wirt gefraget von der seligkeit des gantzen menschen und nit von eynichem sunderlichen teyl desselben«.

Die Formel »der gantze Mensch« ist dem Übersetzer so wichtig, daß er sie an anderer Stelle dem Original hinzufügt:17 »Ader [oder] so sie groß achten die sele, war umb sin sie dan gerenge achten, ia ganz versinnen den lip, der do ist ein huse ader wonunge der selen, und das ander teyl des gantzen menschen?«

Der »gantze mensch« ist von Natur, »der eynigen furstin, gebererin und meinsterin aller dinge«, so mit Sinnen ausgestattet worden, daß er das Schöne in der Natur sehen, hören, riechen kann.18 Der Mensch hat einen »natürlichen Sinn«, mit dem er »alles lusten« sucht und wahrnimmt.19 Die Natur hat all das Schöne »umb des menschen willen gemacht und geschaffen«. Gottfried formuliert einen quasi-teleologischen Naturbegriff, wie er auch in antiken epikureisch-stoischen Texten gebildet worden ist, und verbindet ihn mit einem auffällig langen

16 Gottfried, Beschirmung, cap. 9, S. 457; Raimondi, ebd.: Verum de homine toto, non de eius parte queritur. 17 Gottfried, Beschirmung, cap. 6, S. 453; Raimondi, ebd.: Aut cur animum curant, corpus negligunt, animi ipsius domicilium ipsiusque hominis partem alteram? 18 Gottfried, Beschirmung, cap. 9, S. 456; Raimondi, ebd.: ordiar ab illa una omnium rerum principe et institutrice. 19 Gottfried, Beschirmung, cap. 10, S. 458; Raimondi, ebd.: Est praeterea in mentibus nostris naturalis quidam sensus capiundae et prosequende voluptatis.

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und expliciten Lob der natura creatrix,20 das nicht ohne Spannung in das antiteleologische System der Atomistik eingefügt werden kann. Gottfried nennt seine Argumentation – in einer Zufügung zu dem Text des Raimondi – »naturliche philosophij« und will diese vorsichtigerweise von der »schlechten [schlichten] und waren philosophij, die wir theologiam nennen«,21 durchaus getrennt halten. 2. Die Verteidigung Epikurs arbeitet höchst selektiv. Sie beschränkt sich auf Teile der moralis philosophia und spart schwierige Themen epikureischer Philosophie aus: die Atomistik; die Entstehung des Lebens durch Notwendigkeit und Zufall in den Experimenten der Natur; die Lehre von der radikalen Sterblichkeit des Menschen, die Befreiung von der Todesangst; die Argumente gegen die Leugnung der Sterblichkeit der Seele; die Ausscheidung von immanenter Zielstrebigkeit im Naturgeschehen und von Vorsehung in der Theologie – die Götter sind da, aber Weltenlauf und Menschenleben berühren sie nicht. All dies – auch die Wahrnehmungslehre (eidola-Theorie) und die Religionskritik – wird in späteren Phasen der Epikur-Rezeption nachgeholt.22 Johann Gottfried übersetzt einen Text des Cosma Raimondi. Seine eigene Stellung zu Epikur macht er auf verschiedene Weise deutlich: nirgends eine Ablehnung, überall Zustimmung, auch in den Zusätzen und Verbreiterungen des Übersetzers. Epikur ist ihm »unter allen weisen menschen der weiseste«. Den Lobspruch Raimondis – O sapientissimum hominem Epicurum – weitet Gottfried aus zu: »O den aller er-

20 Vgl. z.B. Seneca, epistulae morales 78,7: sic nos amantissima nostri Natura disposuit, ut dolorem aut tolerabilem aut brevem faceret – »So hat uns die uns überaus liebende Natur eingerichtet, daß sie Schmerz entweder erträglich oder kurz machte«. (= H. Usener (Hg.), Epicurea, Leipzig 1887 (Ndr. Stuttgart 1966), frg. 446; vgl. frg. 469). 21 Gottfried, Beschirmung, cap. 4, S. 451. 22 Howard Jones, The Epicurean Tradition, London u.a. 1989; Hans-Joachim Krämer, »Epikur und die hedonistische Tradition«, in: Humanistische Bildung 3 (1980), S. 65-109 (mit reichen Belegen und Sekundärliteratur). Hier seien nur einige Namen erinnert: Pierre Gassendi (De vita et moribus Epicuri, 1647), Denis Diderot, Paul Henri Thiry dʼHolbach; Julien Offray de La Mettrie (Système dʼÉpicure, 1750); Claude Adrien Helvétius; Christoph Martin Wieland; Karl Ludwig Knebel; Ludwig Feuerbach.

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luchtigsten, o den allerwisesten menschen Epycurum«. 23 Raimondi schreibt lediglich den Namen ›Epikur‹; Gottfried erweitert ihn zu einer persönlichen Formel »unser Epycurus«.24 Die Form der »Verteidigung Epikurs« ist ein Brief. Ein Brief ist kein Traktat, und er sollte eher kurz sein. Deshalb kann diese Verteidigung auf gelehrtes name-dropping und fleißig zusammengetragene Zitatennester verzichten. Weder antike Anhänger noch Gegner Epikurs sind genannt, auch keine zeitgenössischen Autoren, die sich, wie etwa Lorenzo Valla (1407-1457), im Quattrocento um die Rehabilitation Epikurs verdient gemacht haben.25 Es fehlen aber auch durchweg Zitate, Hinweise, Anspielungen auf christliche Texte: weder Dekalog noch Bergpredigt, kein Kirchenvater, kein Kirchenlehrer. Der Diskurs bleibt religionsfrei, strikt moralisch auf der Grundlage natürlicher und antiker Philosophie.26 §2.3 »Humanistische Laienbildung« Die »Beschirmung Epycuri« ist von Simone Drücke unter dem Titel »Humanistische Laienbildung« herausgegeben und handschriftenkundlich, biographisch, im Hinblick auf Übersetzungstechnik und Vorlagen erläutert worden.27 Für die durchaus einleuchtende Titelgebung seien einige Gründe zusammengestellt.

23 Gottfried, Beschirmung, cap. 1, S. 448; cap. 4, S. 451. 24 Gottfried, Beschirmung, S. 450, 451, 461, 462, 464 u.ö. 25 Lorenzo Valla, De voluptate, 1431 (andere Titel: de vero bono; de vero et falso bono); vgl. Don Cameron Allen, »The rehabilitation of Epicurus and his theory of pleasure in the early Renaissance«, in: Studies in Philology 41 (1944), S. 1-15; vgl. Maristella de Panizza Lorch, A Defense of Life. Lorenzo Vallaʼs Theory of Pleasure, München 1985. 26 Ausnahmen: die Abgrenzung von der theologia (cap. 4, S. 451); das Orakel Apollons (cap. 4, S. 450-451). 27 Simone Drücke, Humanistische Laienbildung (s. Anm.7), mit reicher Literatur zur Geschichte des Frühneuhochdeutschen und der Übersetzungskultur; vgl. dies., »Aeneas Silvius Piccolomini als humanistischer Epistolograph. Mit einer Edition der frühneuhochdeutschen Übersetzung von Aeneasʼ Brief an Wilhelm vom Stein«, in: N. Staubach (Hg.), Rom und das Reich vor der Reformation, Frankfurt am Main/Wien u.a. 2004, S. 271ff.

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(1) Das Übersetzungswerk Gottfrieds, wie es die Berliner Handschrift versammelt hat, ist nicht fachphilosophisch, sondern eine Verbindung von antiker und neuzeitlicher Popularphilosophie mit etwas Geschichte (Livius, Curtius Rufus) und Satire (Lukian). Es dient der Bildung von erwachsenen Laien, nicht Klerikern, nicht Lateinschülern; es setzt keine Lateinkenntnisse voraus. Der pädagogische Impuls dieses Zweiges der Antikerezeption ist zumal in den Widmungsbriefen deutlich.28 In der »Beschirmung« werden nicht sprachliche Virtuosität oder Rhetorik vermittelt, sondern moralische Alternativen diskutiert und für das epikureische Glück geworben (Protreptik). Das Thema »Freundschaft« (Seneca, Epistel 9) und die Briefform der »Beschirmung« fügen sich in diesen ›humanistischen‹ Diskurs. (2) Der Übersetzer der »Beschirmung«, ihr Adressat, Friedrich von Dalberg, und der Oppenheimer Drucker und Autor Jakob Köbel stehen in Verbindung mit den Heidelberger Humanisten, der sogenannten Sodalitas litteraria Rhenana.29 Freundschaft und Briefe sind spezifische Kommunikationsformen dieser humanistischen Kreise. (3) Die »Beschirmung Epycuri« ist moralis philosophia; antike Tradition (»unser Epycurus«) und die Natur (»natürliche Philosophie«) sind Grundlage der Argumentation. Der »ganze Mensch«, die Einheit von Leib, Seele, Gemüt ist die zentrale Aussage. Das Wort ›Mensch wird definiert und emphatisch gebraucht (cap. 6, S. 453). (4) Christliche Religion und Theologie werden nur einmal in der »Beschirmung« genannt, um sie von der nur »natürlichen Philosophie« der »Verteidigung« abzugrenzen.30 Einmal ist, eher

28 Vgl. G. Streckenbach, Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel humanistischer Schülergespräche (Diss. Berlin 1931), Göttingen 1979; S. 183ff. zu einer anderen Richtung humanistischer Pädagogik (aufbauend auf Cicero und Quintilians Rhetorik). 29 Zu Gottfrieds humanistischen Verbindungen vgl. Drücke, S. 28-30; zu Köbels humanistischen Bekannten s. Drücke S. 135, Anm. 61: Rudolf Agricola, Conrad Celtis, Johann von Dalberg, Johannes Reuchlin. 30 Auch in den anderen Widmungsbriefen und Übersetzungen Gottfrieds sind Bezüge auf das Christentum selten, wie Drücke mehrfach betont, s. S. 280, 285, 286, 288(!), 289, 290, 298, 300, 305 (Zusammenfassung).

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sprichwörtlich, ein nichtchristliches Mythologem benutzt (Apoll und sein Orakel, cap. 4). Es gibt in der »Beschirmung« weder Polemik noch Versuche zu einer Synthese. (5) Die Erkenntnis der ›Einheit‹ und ›Ganzheit‹ des lebendigen, leiblichen Menschen impliziert die Rehabilitation der Sinne; Gottfried nennt Gesicht, Gehör, Geruch, nicht das Gefühl (Tastsinn). Die Aufwertung von Sinnlichkeit, die Erforschung der »niederen Erkenntnisvermögen« (Gnoseologia inferior), die »Naturlehre des Gefühls« führen im 18. Jahrhundert zur Ausbildung der Ästhetik und tragen bei zur Konstitution des modernen Begriffs ›Humanität‹ bei Johann Gottfried Herder.31 Aus diesen Beobachtungen läßt sich folgern, daß die besondere Form von Antikerezeption, die in der »Beschirmung Epycuri« vorliegt, als ›Humanismus‹ bezeichnet werden kann. Obschon die Prägung dieses Begriffes und seine Übertragung auf die Renaissance erst im 19. Jahrhundert erfolgten, läßt sich das Übersetzungswerk Johann Gottfrieds sachgemäß als »humanistische Laienbildung« kennzeichnen.

§3 »D ER ALTE M ENSCHENFREUND « (J OHANN G OTTFRIED H ERDER , 18./19. J AHRHUNDERT ) 1. Zu Beginn der »Dritten Sammlung« seiner »Briefe zur Beförderung der Humanität« (nr. 27-28) gibt Herder eine Bestimmung des Ausdrucks ›Humanität‹. Er bestimmt ihn nicht durch das Merkmal ›Antike-Rezeption‹, obschon er zahlreiche klassische Texte und sogar die in der bildenden Kunst der Antike fixierten Menschenbilder zur Explikation seiner Bestimmung heranzieht. Er bestimmt ihn weder durch den Anschluß an eine philosophische Definition von ›Mensch‹/›Menschheit‹, noch durch den auch theologisch schwierigen Bezug auf den bib-

31 J.G. Herder, Zum Sinn des Gefühls (1769); ders.: Plastik (1768-70); ders.: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [...], in: J.G. Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787 (= Werke, Bd. 4, hg. J. Brummack/M. Bollacher), Frankfurt am Main 1994, S. 233-242; 243-326; 327-393. – »Naturlehre des Gefühls«: ebd. S. 979. Vgl. Dorothee Kimmich, »Art. Epikureismus«, in: Der Neue Pauly, Bd. 13, Stuttgart/Weimar 1999, S. 985-996.

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lischen Schöpfungs-Mythos (be-sélem/imago dei). Er vermeidet auch die Beziehung auf ›Gelehrsamkeit‹, obschon studia humanitatis doch gewiß in die Genealogie der humanité gehören. Herder bestimmt vielmehr den Ausdruck ›Humanität‹ im Begriffsfeld humanitärer Praxis:32 ›Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe‹. Der Bezug auf humanitäre Praxis ist ihm notwendig, weil er ›Hinfälligkeit‹, ›Zerbrechlichkeit‹, die Gefahr, in Brutalität zurückzufallen, als erstes Charakteristikum von Menschsein einführt.33 2. Schon zu Herders Zeiten waren die Begriffe, mit denen er ›Humanität‹ zu umschreiben, zu charakterisieren, zu definieren versuchte, seiʼs politisch aufgeladen, wie die droits de lʼhomme, seiʼs verbraucht, wie ›Menschenliebe‹.34 »Das schöne Wort ›Menschenliebe‹«, schreibt Herder, »ist so trivial geworden, daß man meistens die Menschen liebt, um keinen unter den Menschen wirksam zu lieben«. Dabei hatte Herder »das schöne Wort« vorbereitet, an einen großen Mythos angeschlossen und mit ausgreifenden geschichtsphilosophischen Erwägungen verknüpft. Er schreibt, gedeckt durch die Form eines Traumgesichts, den Prometheus-Mythos fort, allegorisiert ihn auf Aufklärung, Fortschritt, Perfektibilität von Mensch und Menschheit:35 »Durch Sturm und Wellen, über Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes, Prometheus. Er war nicht mehr an seinen Felsen geschmiedet; kein Adler zehrete mehr an seiner nimmerverzehrten Leber. [...] alle Menschenfreundlichen Nymphen und Pflegerinnen der Erde waren um ihn versammlet, und er sprach: ›Meine Vorsicht konnte mich nicht trügen, denn ich

32 J.G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (BBH), nr. 27 (S. 147). 33 BBH nr. 28, S. 149. – Zum Aufbau der Dritten Sammlung vgl. H. Cancik, »Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität« (in diesem Band); §2: Die Dritte Sammlung. 34 BBH nr. 27 (S. 148). 35 BBH nr. 23 (S. 120-121). – Der 23. Brief ist umgearbeitet aus einer älteren Fassung der Ausgabe von 1792 (19. Brief). – Am 3. September 1791 wird in Paris die neue Verfassung verkündet, die Menschenrechte garantiert; Mai 1794: Einführung des »Kultes der Vernunft«; »Fest des Höchsten Wesens«; Notre Dame wird »Tempel der Vernunft«. Erklärung der Menschenrechte: 26. August 1789.

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wußte, was ich den Menschen gegeben hatte mit meinem Geschenk. Unsterblichkeit ist nicht für sie auf Erden; aber mit dem Licht, das ich für sie vom Olympus holte, hatten sie Alles. Träge Geschöpfe, daß sie so langʼ in der Dämmerung gingen; endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst lag, die Vernunft. Sie gibt das Maß und die Waage, sich selbst zu regieren, Leidenschaften, auch die stärksten und härtesten zu überwinden, und allein meiner Mutter Themis zu gehorchen. Lange litt ich mit ihren Leiden; darum war ich an den Felsen geschmiedet, die Zeit und ein edler Göttersohn, der Sohn meines ärgsten Feindes, haben mich befreiet‹. Das Traumbild verschwand, und ich erwachte«.

Hier wird antike Tradition systematisiert um den Begriff Humanität, wird verknüpft mit antiken und nachantiken Texten, Philosophemen, historischen Paradigmen, wird aktualisiert im Lichte der Aufklärung, der Revolution und der Erklärung der Menschenrechte in Frankreich. Nicht den Rebellen gegen den Vatergott sieht Herder in seinem Traumgesicht, nicht das schöpferische Genie, das Menschen formt nach seinem Bilde. Herder sieht vielmehr den »Menschenfreund«, den Lichtbringer, den Mitleidenden. Er betont die humanitäre Dimension von ›Humanität‹: die Barmherzigkeit, nicht die Bildung, die Philanthropie, nicht die Paideia. »Lange«, sagt Prometheus, »litt ich mit ihren Leiden«. Mit dieser Akzentuierung trifft Herder zentrale Punkte des alten Mythos und den römischen Begriff humanitas. Denn Prometheus ist, so die kanonische Fassung des Mythos bei Aischylos, der erste »Philanthrop« und ein »leidender Gott«. Nach antikem Verständnis ist humanitas Erziehung und Barmherzigkeit, eruditio und misericordia. Deshalb wird die »Göttin« Humanität nicht mit Worten verehrt, »sondern in Taten und Seele«.36 3. Zehn Jahre nach dem prometheischen Traumgesicht (Brief 23) und ein Jahr vor seinem Tode versucht Herder noch einmal, in einer Fortschreibung des Prometheus-Mythos, »die Bildung und Fortbildung des

36 BBH nr. 23, S. 120: »Allenthalben, auch im Tempel der Religion, verehrte man Eine Göttin, aber nicht mit Worten, sondern in Taten und Seele, die Humanität«. Nicht durch antike Tradition gedeckt ist in diesem Traum der Tempel der Religion und die Apotheose der Humanität. Herder vollzieht hier, allerdings nur im Traum, eine auffällige Sakralisierung. Herder will die Göttin anbeten, tut es aber nicht.

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Menschengeschlechtes zu jeder Cultur, das Fortstreben des göttlichen Geistes im Menschen zur Aufweckung aller Kräfte«, »die Flamme der immer-fortgehenden Menschen-Bildung« darzustellen.37 Weder Sansculottes noch Terreurs, nicht Jakobinerherrschaft noch Babouvismus konnten Herder davon abhalten, seinen Zeitgenossen ausgerechnet den rebellischen Philanthropen als »ein sehr lehrreiches Emblem« von Aufklärung, Fortschritt, Freiheit und Völkerfrieden zu empfehlen.38 Die Menschen haben mit ihren prometheischen Gaben – Feuer, Technik, Künste, Vernunft und Unternehmensgeist – Meer und Erde verletzt, durch Herakles sogar das Totenreich bezwungen. Die Gottheiten kommen zu dem immer noch an den Kaukasus gefesselten Titanen und beklagen sich. Prometheus wehrt die Anklagen ab, verteidigt sogar die von ihm ›gebildeten‹ Menschen, rühmt ihren entfesselten Wagemut und Forschergeist, mahnt zur Geduld. Die 13. und letzte Szene bringt ein happy end. Eine neue, die wirkliche Pan-dora (»AllesGeberin«) erscheint in hoher Einfalt und Anmut:39 Prometheus: Sprich, Wie ist Dein Name? Pallas (Athene): Deines Werkes Ziel Agathia, die reine Menschlichkeit.

Gewiß hat auch die aischyleische Prometheus-Trilogie, aus der nur ein Stück, »Der gefesselte Prometheus«, und wenige Fragmente der anderen Teile erhalten sind, den Konflikt zwischen dem olympischen Zeus

37 Herder an Gleim, 1802, in: Carl Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke, 4. Bd., Berlin 1884 (= Herders Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, Bd. 28, Berlin 1884), S. 329-330; S. 330-352: »Der entfesselte Prometheus. Scenen«. Auf S. 352-368 ein »gleichzeitiger« von Herder nicht publizierter Entwurf. 38 Zur Stellung Herders zur Französischen Revolution: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hg. von H. Düntzer und F.G. von Herder, Bd. 1, Leipzig 1861. Herders Briefwechsel mit Gleim und Nicolai, bes. S. 150f., 162f., 242; 243 (Caroline und J.G. Herder an Gleim). 39 Herder (Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke, 4. Bd.), S. 350.

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und Prometheus, dem Sohn der Erde, zu einer Lösung geführt.40 Vielleicht darf man sie sich vorstellen in Analogie zum Schluß der Orestie (458 v.Chr.), in dem die Blutrache abgeschafft und ein Gerichtshof eingerichtet wird mit Prozeß und Urteilsfindung durch Abstimmung und Einbindung der unterlegenen Partei. Herder hat sich in seiner Fortschreibung des Mythos formal und thematisch an Aischylos orientiert.41 Dieser hat, in der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, als Athen unter Ephialtes und Perikles die Demokratie als Verfassungform vollendet hatte und in seine imperiale Phase übergegangen war, seinen Prometheus als »Philanthropen« gestaltet und auch mit diesem Namen bezeichnet.42 Aber Aischylos hat den menschenfreundlichen Erfinder, Kulturbringer, ›Trickster‹ auch »Sophist« genannt43 und den titanischen Ursprung aller Kulturtechniken reflektiert, den Anfang der Geschichte mit Betrug – das Opfer in Mekone – und Diebstahl – das Feuer im NarthexStengel, die Verwicklung des Prometheus in den Machtkampf der Olympier. Aischylos exponiert die Verstrickung von Schuld und Kultur, Illusion und Fortschritt,44 Vernunft und Hybris. Die Konkretheit und Komplexität der tragischen Konstruktion wird in der Fortdichtung des späten Herder verschlungen von dessen Willen zu Allversöhnung, konfliktfreier Harmonie, abstrakter Menschenliebe, »reiner Menschlichkeit«. Eine von Herder nicht publizierte Fassung

40 Zeugnisse und Fragmente bei H.J. Mette, Die Fragmente der Tragödien des Aischylos, Berlin 1959, S. 115-131; ders., Der verlorene Aischlyos, Berlin 1963, S. 16-30; vgl. D. Bremer (Hg.), Aischylos – Prometheus in Fesseln, Frankfurt am Main 1988 (zweisprachige Ausgabe mit Hinweisen zu Deutung und Wirkungsgeschichte und mit Abbildungen [seit dem 6. Jh. v.Chr.]). 41 In den Notizen zur Wirkungsgeschichte hat D. Bremer (a.O. S. 160) zwar Herders 23. Brief erwähnt, nicht aber seine »Scenen« zum entfesselten Prometheus. Vgl. O. Walzel, Das Prometheus-Symbol von Shaftesbury zu Goethe (21932), Ndr. Darmstadt 1968. 42 Aischylos, Prometheus, 10f.; 28; vgl. 123: »zu große Liebe zu den Sterblichen«. 43 Aischylos, Prometheus 62; 944; 1039 (sophós); vgl. 506. 44 Die erste Gabe des Prometheus an die Menschen sind »blinde Hoffnungen«, die Verdrängung der Todesfurcht (Aisch. Prom. 250).

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seiner »Scenen« zeigt am Schluß einen mißtrauischen Prometheus, der ungern mit den Olympiern sich versöhnen läßt:45 »Die alten Götter sind Mir furchtbar. Auch wenn popularisierend Wohlthun sie wollen«.

§4 Z USAMMENFASSUNG Magister Gregorius und die Wunderwerke der ewigen Stadt, Johann Gottfried und die »Beschirmung« unseres Epicurus, schließlich Johann Gottfried Herder und seine prometheische Humanität veranschaulichen drei Arten von Antike-Rezpetion: die unmittelbare Begegnung mit den antiken Gebilden; den pädagogischen und moralischen Impuls durch excellente Gestalten und Texte der Antike; poietische Inspiration durch Mythos und Tragödie. Erlebnisbericht, Übersetzung mit Widmung und Werbung, Vision und (allegorischer) Mythos sind die drei Formen, in denen sich Antikerezeption hier darstellt. Diese drei Arten der Rezeption und die Formen ihrer Darstellung, exemplifiziert an je einem Beispiel aus Mittelalter, Renaissance und Moderne, sind allgemeine Typen, sie sind nicht an bestimmte Epochen gebunden. Die drei Texte zeigen die faktische, materielle Präsenz von Antike und ihre Wirkung auf das europäische Geschichtsbewußtsein und Menschenbild, die gelehrte und engagierte Tätigkeit des Übersetzers, Erziehers, Moralisten und die Erschließung bzw. Wiedergewinnung ästhetischer und ethischer Wirklichkeit (»der ganze Mensch«), schließlich die Arbeit am Mythos zur Begründung humanitärer Praxis. Die Rezeption ist selektiv, aber nicht beliebig. Sie ist an ihren Kontext gebunden und gelangt, eben durch die Rezeption, über ihn

45 Herder (Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke, 4. Bd.), S. 367. – Die Schlußworte dieser allerdings nicht vollständig erhaltenen Fassung lauten, gesprochen von Pallas Athene (S. 368): »[...] denn der Götter Göttlichstes/ Und Seeligstes wird reine Menschlichkeit./ Stimmt an, ihr Musen, singt Prometheus Ruhm!«

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hinaus.46 Für den begrenzten Zweck dieser Untersuchung sei erinnert, daß ›Humanismus‹ ursprünglich nicht eine Philosophie oder Religion bezeichnet, sondern eine Tradition, eine besondere Art der (west-)europäischen Antike-Rezeption, eine Bildungsbewegung mit wissenschaftlichen, moralischen, pädagogischen Ansprüchen, eine Grundlage humanitärer Theorie und Praxis, eine Quelle der allgemeinen, »von der Natur gegebenen« Rechte des Menschen.

46 Vgl. H. Cancik/H. Mohr, »Rezeptionsformen«, in: Der Neue Pauly 15/2, Stuttgart/Weimar 2002, S. 759-770.

Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹

§1 ›M ENSCHENWÜRDE ‹ UND ›P ERSON ‹ 1. Menschenrechte als grundlegende, kodifizierte, von großen politischen Organisationen garantierte Rechte, die von einem Einzelnen bei einem Gericht eingeklagt werden können, hat es in der hellenischen und römischen Antike nicht gegeben: keine bill, déclaration, keine Charta der Menschenrechte. Menschenrecht als philosophischer und juristischer Diskurs und als Verfassungswirklichkeit ist eine Errungenschaft der Nachantike, insbesondere des 18. Jahrhunderts. Dieser Befund wird festgehalten, auch wenn nun versucht wird festzustellen, welche Worte, Ausdrücke, Begriffe die Modernen sich aus der römischen Antike für ihre neue Konstruktion angeeignet haben. Denn offensichtlich ist ja ›Menschenrecht‹ eine Übersetzung von ius humanum, ›Menschenwürde‹ von dignitas hominis und ›Religionsfreiheit‹ von libertas religionis. Anderes läßt sich hinzufügen: Person, Gleichheit und Freiheit, Toleranz, Naturrecht, Vernunftrecht, Weltbürgerrecht.1 Jedoch haben, wie ich zeigen möchte, diese lateinischen Ausdrücke in der römischen Kultur einen anderen Ort, einen anderen Zusammenhang, ein anderes Gewicht als in der Neuzeit.

1

Cicero, de legibus 1,7,13; Seneca, epistulae morales ad Lucilium 28,4. Das Weltbürgerrecht ist ein quasi ius civile.

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2. Der Ausdruck ›Menschenwürde‹ bietet ein deutliches Beispiel für diese Kontinuität und Differenz von Antike und Nachantike. Der Ausdruck ist zum ersten Male gebraucht bei Cicero. In seiner Schrift über »Angemessenes Handeln« (de officiis; verfasst 44 v.Chr.) schreibt er seinem Sohne:2 Atque etiam si considerare volemus, quae sit in natura excellentia et dignitas, intellegemus, quam sit turpe diffluere luxuria. »Und wenn wir in Betracht ziehen wollen, welche Exzellenz und Würde in Natur ist, werden wir verstehen, wie schändlich es ist, in einem Genußleben aufzugehen«.

Hier ertönt nicht der erhabene Klang, wie er heutigen Bekenntnissen zur Menschenwürde eignet, hier spricht väterliche Sorge, die Mahnung zu ehrbarer Lebensführung, zu Sparsamkeit, Selbstbeherrschung, Strenge und Nüchternheit. Die Vernunft muß die Triebe beherrschen; eben dadurch unterscheide sich der Mensch vom Tier; das sei seine ›Exzellenz‹, seine ›Würde‹.3 Die Triebe sollen gehorchen, sie sollen nicht ohne Befehl vorneweg laufen zu Kampf oder Beute oder aus Faulheit und Feigheit desertieren. Die Triebe sollen der Raison parieren, der sie unterworfen sind nach dem Gesetz der Natur.4 Aus der Verachtung der Triebe, Begierde, Lust, aus dem Willen zu Befehl und Maß erwächst uns das Bewußtsein, quae sit in natura excellentia et dignitas; [...] quamque (sit) honestum parce, continenter, severe, sobrie (vivere).

2

Cicero, de officiis 1,30,106. – Vgl. H. Cancik, »›Dignity of Man‹ and ›Persona‹ in Stoic Anthropology. Some Remarks on Cicero, De Officiis I 105107« (in diesem Band).

3

Cicero, de officiis 1,30,105.

4

Cicero, de officiis 1,28,101-1,29,102. Vgl. Platon, de re publica 441e: to logistikón árchei, to thumoeidés hypékoon (τὸ λoγιστικὸv ἄρχει, τὸ θυµωειδὲς ὑπήκoov). – Aristoteles, Politik 1,5 (1254b 4-14): »die Seele nämlich herrscht (árchei [ἄρχει]) über den Leib mit einer despotischen Herrschaft, der Verstand (nous [voῦς]) über das Begehren (órexis [ὄρεξις]) mit einer politischen und königlichen Herrschaft«. Für die Tiere sei es besser, vom Menschen beherrscht zu werden; ebenso herrscht das Männliche über das Weibliche.

›M ENSCHENRECHT ‹, ›R ELIGIONSFREIHEIT ‹, ›T OLERANZ ‹ | 137

»welcher Vorzug und welche Würde in der Natur sei, und wie gut es sei, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern (zu leben)«.5

Dies ist der Erstbeleg für den Ausdruck ›(Menschen-)Würde‹. Er ist konstituiert in stoischer Anthropologie, Trieblehre und Moral, mit deutlich römischer und tullianischer Einfärbung. Der etwas morose Zusammenhang läßt nicht ahnen, welcher Höhenflug dem Ausdruck beschieden sein sollte. Der antike Erstbeleg für Menschenwürde steht also nicht in einem politischen, religiösen oder juristischen Text. Sein Ort ist vielmehr stoische Moralphilosophie und Ciceros Sorge um seinen Sohn im fernen Athen. Der Ausdruck ist von geringer Tragweite:6 Niemand, so scheint es, hat in der Antike die schöne Prägung aufgegriffen. Dennoch: Der Ausdruck wurde in der Nachantike sogar zum Buchtitel erhoben von Gianozzo Manetti (1452).7 Die »Rede«, die Giovanni Pico della Mirandola 1486 für eine hohe Versammlung in Rom verfaßt hatte, wurde postum, aber zutreffend, betitelt: Oratio de hominis dignitate. Der deutsche Erstbeleg findet sich in einer frühen Übersetzung von Ciceros Schrift ins Deutsche (Augsburg 1488).8 Johann Neuber, der Übersetzer formuliert: »So wir auch die ubertreflicheyt und wyrde menschlicher natur betrachten, wird leycht gemerckt, [...]«.9 Dies ist das erste Mal, daß ›Menschenwürde‹ in deutscher Literatur erscheint. Durch den Staatsmann, Philosophen und Juristen Samuel Pufendorf, insbesondere sein Werk »Über Natur- und Völkerrecht«

5

Cicero, de officiis 1,30,106.

6

Weitere Belege: Cicero, de finibus bonorum et malorum 2,114: quis autem est dignus nomine hominis; Codex Theodosianus 15,4,1 (= Codex Justinianus I 24,2): excedens cultura hominum dignitatem superno numini reservatur – »eine Verehrung (cultura), die die Würde der Menschen überschreitet, ist dem höheren Wesen vorbehalten«.

7

Gianozzo Manetti, De Dignitate et Excellentia Hominis (1452).

8

Johann Neuber, Cicero der Römer zu seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern und zugehörungen eynes wol und rechtlebenden Menschen, Augsburg 1531 (bey Heynrichen Steyner), I c. XXV.

9

Im Prolog wird auf frühere, weniger gute Übersetzungen verwiesen, die ich jedoch noch nicht nachweisen kann. Das Datum für den Erstbeleg könnte also noch früher liegen.

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(1672),10 erhält ›Menschenwürde‹ den zentralen Platz in einer neustoischen Anthropologie, in der europäischen und, durch die Übersetzung von John Wise (1710), in der nordamerikanischen Jurisprudenz. 3. Ein ähnliches Ergebnis zeigt die Untersuchung eines anderen für die Formulierung der neuzeitlichen Menschenrechte wichtigen Ausdrucks: persona – Person. Die »Würde des Menschen«, sagt Cicero, beruht auf der Vernunft und ihrer Herrschaft über die unvernünftigen Bestandteile des Menschen. Vernunft aber ist eine »Rolle«, eine »Maske«, lateinisch: eine persona, welche die Natura den Menschen aufgesetzt hat. Diese Rolle – persona ist allen Menschen gemeinsam. Er schreibt:11 Intellegendum etiam est duabus quasi nos a Natura indutos esse personis, quarum una communis est (Vernunft; Vorrang vor dem Tier) [...], altera autem quae proprie singulis est tributa. »Man muß auch verstehen, daß wir von der Natur sozusagen mit zwei Masken bekleidet worden sind, von denen die eine allgemein ist (ratio; bestiis antecellere) [...], die andere aber den Einzelnen in je besonderer Weise zugewiesen ist«.

Die erste persona begründet die Erhabenheit des Menschen über alle anderen Lebewesen und – durch diese Differenz zum Tier – die Gleichheit der Menschen untereinander. Die zweite Maske begründet antithetisch die körperliche und geistige Differenz innerhalb dieser Gemeinsamkeit, also die Proprietät, die Besonderheit, durch die die menschlichen Individuen sich voneinander unterscheiden (proprietas). Eine dritte Maske, die Natura den Individuen aufsetzt, ist ihre geschichtliche Situation (casus aut tempus), in der ihre Rollen spielen. Die letzte Modellierung auf dieser Schichtung von Masken leistet jedes Individuum selbst durch seinen eigenen Willen und das eigene Urteil (voluntas, iudicium).12 Dieser Ansatz zu einer Rollentheorie der Menschen verbleibt in der Bildersprache des Schauspielers und Theaters. Aber die hier angesetzten Begriffe von Rationalität und Gleichheit, Individualität, Geschichtlichkeit, Selbstbestimmung und Freiheit

10 Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium (1672). 11 Cicero, de officiis 1,30,107. 12 Cicero, de officiis 1,32,115.

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des Menschen sind Norm für jede Erklärung zu Menschenwürde und Menschenrecht und für jeden Humanismus. Dies ist der Erstbeleg für den philosophischen Ausdruck ›Person‹. Aber auch hier gilt: das schöne Bild vom Welttheater, von Natura als Regisseurin, den Menschen als Schauspielern ist bei Cicero singulär und in der Antike nicht rezipiert. Erst in der Nachantike und erst in Verbindung mit rechtlichen und christlichen Vorstellungen hat das Wort ›Person‹ die Kontur, wie sie in Formeln wie ›freie Entfaltung der Persönlichkeit‹ sichtbar ist.

§2 ›M ENSCHENRECHT ‹

UND

›R ELIGIONSFREIHEIT ‹

§2.1 Terminologie 1. Der Ausdruck ius humanum – ›Menschenrecht‹ ist seit dem ersten Jahrhundert v.Chr. in der lateinischen Literatur in drei Bedeutungen belegt: (a) das von Menschen gesetzte Recht im Unterschied zum ius divinum, dem Recht, das von den Göttern gegeben ist;13 (b) das Recht, das die Verhältnisse der Menschen untereinander regelt, im Unterschied zum Sakralrecht, das die Rechtsverhältnisse von Tempeln, Grabanlagen, Kultfunktionären regelt;14 (c) das dem Menschen als Mensch von (seiner) Natur aus zukommende Recht.

13 Cicero, de partitione oratoriae 37; Codex Justinianus 1,17,2,18: humani iuris condicio – »die besondere Situation des von Menschen gemachten Rechts« (ist die Veränderlichkeit, weil die Natur immer neue Formen hervorbringt). Vgl. Antonio Catoni, »›Jus hominum‹ in Cicerone. A proposito di Tusc. 1,26,64 e de off. 3,5,23,« in: Studi Senesi 85 (3. Serie, 12), Siena 1973, S. 199-242. – Ich danke Giuliano Crifó (Rom) für den Hinweis auf diese Studie. 14 res humani iuris: Digesta 1,8,1 pr; 43,1,1 pr; vgl. Digesta 23,2,1: Die Ehe ist in rechtlicher Hinsicht »eine Verbindung von göttlichem und menschlichem Recht« – »divini et humani iuris communicatio«. – Gaius, Institutiones 3,96: »locum sacrum aut religiosum quem putabat humani iuris esse«.

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2. Die zuletzt genannte, für die Geschichte der Menschenrechte wichtigste Bedeutung ist selten, spät, nicht immer sicher feststellbar. Sie beruht allerdings auf älteren naturrechtlichen Vorstellungen und kann als ›Idee‹, nicht als formulierter Begriff, in die frühe Stoa datiert werden. Die rechtsphilosophische Lehre der Stoa geht von der Gleichheit und Vernünftigkeit aller Menschen aus und behauptet:15»Es gibt irgendein gemeinsames Recht des Menschengeschlechts« (aliquod esse commune ius generis humani). Eine gewisse Bestätigung aus der Rechtspraxis gab das römische ius gentium (»Völkerrecht«). Gaius, ein Rechtsgelehrter des 2. Jh. n.Chr., schreibt:16 »Völkerrecht ist das, was die natürliche Vernunft unter allen Menschen eingerichtet hat« – »quod naturalis ratio inter omnes homines constituit«. Der Begriff ›Natur‹ ist in der stoischen Physik fest mit dem Begriff ›Vernunft‹ verbunden. So kann Natura den Menschen die allen gemeinsame persona ›Vernunft‹ anziehen. »Naturrecht«, definiert die römische Jurisprudenz, »ist das, was Natura alle Lebewesen gelehrt hat«.17 Deshalb kann »die Vernunft der Natur« als »göttliches und menschliches Gesetz« bezeichnet werden.18 Dem Naturrecht nach sind alle Menschen nicht nur frei geboren, sondern auch »gleich«.19 Wer also leugnet, daß ein Unfreier seinem Besitzer eine freie Wohltat – und nicht nur den geschuldeten Dienst – erweisen könnte, ist, so Seneca, »unkundig des Menschenrechts« – ignarus iuris humani.20 Seneca bestreitet nicht die Zulässigkeit des Status der Unfreiheit. Dieser Status hebt aber das

15 Seneca, epistulae morales ad Lucilium 47,3; vgl. aber epistulae morales ad Lucilium 91,16: conditor ille humani iuris (etwa: condicionis humanae). 16 Gaius, Institutiones 1,1; vgl. Justinian, Institutiones 1,2,1. – Das ius gentium wurde zunächst (seit 242 v.Chr.) in der Rechtsprechung des praetor peregrinus ausgebildet, der als Römer in Verfahren zwischen Nichtrömern oder Peregrinen und Römern entscheiden mußte. Die Verbindung von ius gentium und ius naturale hat Ulpian (Anfang 3. Jh. n.Chr.) juristisch ausgearbeitet. 17 Justinian, Institutiones 1,2 pr: »ius naturale est quod Natura omnia animalia docuit«. 18 Cicero, de officiis 3,5,23: »lex divina et humana«. 19 Ulpian, in: Digesta 50,17,32; vgl. Justinian, Institutiones 1,2,2. 20 Seneca, de beneficiis 3,18.

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»Menschenrecht« nicht auf. Das ius humanum steht jenseits des gesetzlich sanktionierten Status der Unfreiheit.21 §2.2 Tertullian, An Scapula 2 1. Diese anthropologische, moral- und rechtsphilosophische Tradition, wie ich sie an den Beispielen ›Menschenwürde‹, ›Person‹, ›Naturrecht‹ und ›Menschenrecht‹ skizziert habe, wird von einem christlichen Autor genutzt, um sich in einer bedrohlichen Situation einem NichtChristen verständlich zu machen. Um 214 n.Chr. richtet Tertullian einen offenen Brief an den politischen Leiter der Provinz Africa Tertullus Scapula.22 Scapula hat die Jurisdiktionsgewalt in der Provinz und ihrer Hauptstadt Karthago.23 Tertullian fordert von ihm, die Unterdrückung der Christianer zu beenden; er argumentiert, wie folgt:24 Nos autem Deum colimus, quem omnes naturaliter nostis [...] Tamen humani iuris et naturalis potestatis est unicuique quod putaverit colere. »Wir verehren den einen Gott, den ihr alle natürlicherweise kennt. [...] Dennoch ist es Menschenrecht und natürliche Vollmacht für jeden Einzelnen, zu verehren, was er meint«.

21 Die Frage, ob der Sklave dem Herrn eine Wohltat erweisen könne, hat Seneca nach eigenem Bekunden von dem Stoiker Hekaton von Rhodos, einem Schüler des Panaitios, übernommen. Falls Hekaton auch die von Seneca vorgetragene Antwort formuliert und dabei einen griechischen Ausdruck für ›Menschenrecht‹ gebraucht haben sollte, wäre der Ausdruck im 1. Jh. v.Chr. anzusetzen. Vgl. Seneca, de beneficiis 3,22 (Chrysipp; s. Stoicorum veterum fragmenta (SVF) III nr. 351); 3,28 (Chrysipp; SVF III nr. 349: Einheit und Gleichheit der Menschen). Vgl. Digesta 21,1,1,44, pr: Der Jurist Paulus zitiert seinen Kollegen Pedius und führt aus, es sei nicht statthaft, einen Sklaven als Zubehör einer wertloseren Sache zu verkaufen propter diginitatem hominum. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Stefan Knoch, MA. (Universität Trier). 22 Das Schreiben heißt libellus: cap. 1. 23 Tertullus Scapula, Consul 195 n.Chr. – Tertullian schreibt nicht für sich allein, sondern für eine Gruppe, deren Status – (Teil-)Gemeinde von Karthago? – allerdings nicht genannt wird. 24 Tertullian, ad Scapulam 2.

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Tertullian begründet seine Forderung nach Religionsfreiheit nicht mit der einen und absoluten Wahrheit, die seine Kirche besitzt, sondern mit der natürlichen Gotteserkenntnis, dem Menschenrecht und dem Wesen von Religion, deren Grundlage die freie Entscheidung des Einzelnen sein muß.25 Alle Argumente sind stoischer Herkunft. Jede sittliche Handlung muß, um eine sittliche zu sein, frei gewählt werden. Eine erzwungene Handlung kann nicht sittlich gut sein.26 Zwang, den eine religiöse Organisation oder der Staat ausübt, um Menschen zum Kaiseropfer zu drängen, kann, so folgert Tertullian, keine fromme Handlung hervorbringen.27 Die Benutzung stoischer Philosophie ist bei Tertullian nicht ungewöhnlich. Er vertritt nicht nur die Gotteserkenntnis aus den Werken der Natur28 und gemäß dem Naturrecht,29 sondern sogar die Körperlichkeit des Geistes und, als Konsequenz, die Körperlichkeit Gottes30 und der Seele.31 Er zitiert dafür die altstoischen Klas-

25 Diese ›menschenrechtliche‹ Argumentation mag ein Grund gewesen sein, daß Tertullians Lehre in der christlichen Antike nicht rezipiert wurde; auch die neueste Darlegung der christlichen Rezeption der Menschenrechte (V. Leppin, »Menschenrechte« II 2, in: RGG4, Bd. 5, 2002, Sp. 1090-1091) unterdrückt das Zeugnis Tertullians. Eine ›Exegesegeschichte‹ zu ad Scapulam 2 ist mir nicht bekannt. Die Erklärung, die das 2. Vatikanische Konzil am 7.12.1965 zur Religionsfreiheit abgab, zitiert mehrere antike christliche Autoren, nicht aber die einschlägigen Stellen bei Tertullian. 26 Vgl. M. Forschner, Die stoische Ethik, Darmstadt 1981 (Ndr. 1995), S. 98ff. 27 Tertullian kann nicht geahnt haben, daß seine eigene Kirche in Karthago unter dem Bischof von Hippo regius das biblische coge intrare eben so auslegen und Nichtchristen und afrikanische Abweichler mit kirchlichem und dem Druck des jetzt christlichen Staates zur römischen Kirche drängen würde: terror utilis lautet Augustins Parole (vgl. H. Cancik, »Augustin als constantinischer Theologe«, in: J. Taubes [Hg.], Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, Paderborn 1983 (2. Aufl. 1985), S. 136-152). 28 Diese Lehre ist auch rezipiert bei Paulus, Römer 2,14; Tertullian zitiert diese Stelle in der Schrift ad Scapulam nicht. 29 Tertullian, de spectaculis: »sed quia non penitus deum norunt nisi naturali iure, non etiam familiari, [...]«. 30 Tertullian, adversus Praxean 14: »deum corpus esse«. 31 Tertullian, de anima 4-5; adversus Marcionem 2,9. Die Seele ist nicht ewig. Affektenlehre: de spectaculis 15.

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siker: Zeno, Kleanthes, Chrysipp. Seneca, schreibt er, »ist oft einer der Unsrigen«:32 Seneca saepe noster. Aus Varro übernimmt er die theologia naturalis.33 2. Auf dieser Grundlage, die er bei dem römischen Provinzvorsteher als gemeinsame voraussetzen kann, fordert Tertullian die »Freiheit der Religion«. Diesen Ausdruck hat er wenige Jahre früher in seiner großen Verteidigungsschrift geprägt:34 Colat alius Deum alius Iovem; [...] (hütet euch) adimere libertatem religionis et interdicere optione divinitatis, ut non liceat mihi colere quem velim sed cogar colere quem nolim. »Verehre der eine (unseren) Gott, der andere Iuppiter; [...] (hütet euch,) wegzunehmen die Religionsfreiheit und zu untersagen die (freie) Wahl der Gottheit, sodaß mir nicht erlaubt ist zu verehren, wen ich will, sondern ich gezwungen werde zu verehren, den ich nicht will«.

Die Argumentation Tertullians ist stoisierend und juridisch. Ein Bezug auf die Constitutio Antoniniana (212/13 n.Chr.) wäre, von der Abfassungszeit her gesehen, möglich; sie ist jedoch nicht ausdrücklich genannt. Diese Konstitution verlieh den freien Einwohnern des imperium Romanum das römische Bürgerrecht und begründete dies auch mit religiösen Argumenten. Die Argumentation Tertullians ist religionsgeschichtlich wichtig, weil sie grundsätzlich und engagiert die politische von der religiösen Zugehörigkeit unterscheidet. Da das römische Bürgerrecht nicht notwendig mit der Zugehörigkeit zu einer Religion verbunden war, müßte der Proconsul Tertullus Scapula diese Trennung von civitas und religio gebilligt haben.35 Schließlich hatten ja die Juden bereits einen ei-

32 Tertullian, de anima 20. 33 Tertullian, adversus nationes 2,1. 34 Tertullian, Apologeticum (197 n.Chr.) 24,5-6. 35 Zu dieser Trennung vgl. Festus, s.v. Municipalia sacra (p. 146 Lindsay): »municipalia sacra vocantur, quae ab initio habuerunt ante civitatem Romanam acceptam; quae observare eos voluerunt pontifices, et eo more facere, quo adsuessent antiquitus«. »Municipale Kulte werden die genannt, die sie von Anfang an (in dem jeweiligen Municipium) hatten, vor dem Empfang des römischen Bürgerrechts; die Pontifices wollten, daß die Mu-

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genen Status im System der römischen Reichsreligion. Tertullian nennt ihn: »zugelassene Religion« – »religio licita«.36 Auch hier beobachten wir die Differenz zur Nachantike: Der Ausdruck libertas religionis ist in der Antike weder vor noch nach Tertullian belegt, geschweige denn seine Begründung aus dem Menschenrecht.37 Die Sache selbst jedoch wird mit gleichwertigen Formulierungen in den sog. ›Toleranz-Edikten‹ des 4. Jh. n.Chr. verhandelt.

§3 T OLERANZ : D ULDUNG

UND

F REIHEIT

§3.1 tolerantia 1. Das Wort tolerantia erscheint das erste Mal im Sommer des Jahres 46 v.Chr., wiederum bei Cicero und wiederum als Begriff der stoischen Ethik. Cicero schreibt:38 sapientis animus magnitudine consilii, tolerantia rerum humanarum, contemptione fortunae, virtutibus denique omnibus ut moenibus saeptus. »der Geist des Weisen ist von der Größe seines Planens, vom Ertragen(Können) der menschlichen Dinge, von der Verachtung der Fortuna, von allen Tugenden schließlich wie von Mauern umringt«.

Eine präzise Terminologie ordnet den Begriff der tolerantia den primären Tugenden – Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit – unter und stellt sie neben Hochherzigkeit, Enthaltsamkeit – Selbstbeherrschung, kartería (καρτερία) – Ausdauer, Scharfsinn, Wohlberanicipalen diese Kulte durchführen und sie in der Weise machen, wie sie es von alters her gewohnt seien«. Der Empfang des römischen Bürgerrechts erfordert also nicht eine ›Konversion‹ zur römischen Religion. 36 Tertullian, Apologeticum 21,1. Der nach dem Vereinsrecht geprägte Ausdruck hat in der Antike weder Vorgänger noch Nachahmer; durch wen er zu einem Schlüsselbegriff der Geschichtsschreibung über das antike Judentum und Christentum wurde, ist mir unbekannt. 37 Vgl. Eusebius, Historia ecclesiastica 10,5,2: gr.: »eleuthería tes threskeías«. 38 Cicero, Die Paradoxe der Stoiker 4,27. Vgl. Cicero, epistulae ad familiares 4,6,2: »ferre toleranter« (sc. den Verlust der Tochter Tullia).

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tenheit.39 Die griechische Definition lautet:40 »[...] kartería (καρτερία) ist das Wissen oder die Haltung bezüglich der Dinge, in denen man aushalten (em-ménein [ἐµµένειν]) muß oder nicht«. Sie ist eine Untertugend der Tapferkeit, verwandt mit der Geduld (patientia), dem Durchhalten im Leiden (perpessio), der Standhaftigkeit (constantia).41 2. Das Kulturthema ›Toleranz‹, wie es der gegenwärtige Sprachgebrauch formuliert, führt weit hinaus über den stoischen Begriff tolerantia und dessen neuzeitliche Fortschreibungen in der juristischen Terminologie von ›Toleranzedikten‹ oder Vorschriften zur ›Duldung von Ausländern‹. Elemente dieses weiten ›Kulturthemas Toleranz‹ sind natürlich auch in der griechischen und römischen Kultur entwickelt worden: ›kulturelle Pluralität‹, ›Begegnung mit dem Fremden‹, ›Dialog‹ und ›Kompromiß‹ als Methoden von Verstehen und Konfliktregelung, vielerlei Versuche zur »humanen Konstruktion mitmenschlicher Wirklichkeit«:42 Sie werden jedoch in der Antike nicht unter das Etikett tolerantia oder hypo-moné gestellt. §3.2 Die antiken ›Toleranz-Edikte‹ 1. In den zahlreichen Edikten und Reskripten, die in der Spätantike die Repression oder Duldung von Christianern, Manichäern, Juden, Hellenen, Römern, afrikanischen Christen, Arianern und anderen Haeretikern regeln, kommt das Wort tolerantia nicht vor. Dennoch ist die übliche Bezeichnung der Maßnahmen, welche eine Aufhebung von Unterdrückung und Religionszwang verkünden, als ›Toleranz-Edikte‹ zutreffend.43 Die Milde und Menschenfreundlichkeit (clementia) des

39 Diogenes Laertios 7,92. 40 Diogenes Laertios 7,93. 41 Seneca, epistulae morales ad Lucilium 67,10. 42 A. Wierlacher: »Was ist Toleranz. Zur Rehabilitation eines umstrittenen Begriffs«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 20 (1994), S. 115-137; Zitat: S. 122. 43 Die Benennung des Ediktes des Galerius, des Reskripts des Licinius und anderer Maßnahmen als ›Toleranzedikte‹ ist in der Altertumswissenschaft geläufig. Die Herkunft dieser Benennung ist mir unbekannt; die Anlehnung an das Edikt von Nantes (1598) ist wahrscheinlich, obschon auch in

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Kaisers duldet Religionen, deren »Dummheit« ihm feststeht.44 Für die Geschichte des ›Menschenrechts auf Religionsfreiheit‹ ist die Tatsache wichtig, daß in den Toleranzedikten politisch und juristisch gefaßt ist, was Tertullian, ein Jahrhundert zuvor, in stoisierender Terminologie als Menschen- und Naturrecht postuliert hatte. 2. Kaiser Licinius (308-324) schickt am 13. Juni 313 in Abstimmung mit Konstantin (312-337) ein Reskript an den Vorsteher von Bithynien; darin heißt es:45 (wir haben beschlossen), ut daremus et christianis et omnibus liberam potestatem sequendi religionem quam quisque voluisset [...] (damit du weißt), nos liberam atque absolutam colendae religionis suae facultatem isdem christianis dedisse.[ ...] etiam aliis religionis suae vel observantiae potestatem similiter apertam et liberam [...] esse concessam, ut in colendo quod quisque delegerit habeat liberam potestatem [...]. (wir haben beschlossen), »daß wir sowohl den Christianern als auch allen (anderen) die Verfügungsgewalt geben, der Religion zu folgen, die ein jeder will [...] (damit du weißt), daß wir freie und vollständige Fähigkeit den Christianern gegeben haben, ihre Religion zu pflegen [...]. Auch den anderen ist in ähnlicher Weise die Möglichkeit, ihre Religion und Observanz auszuüben, offen und frei, sodaß jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat«.

Die Kaiser gewähren nicht Toleranz, sondern Religionsfreiheit libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset. Eusebius übersetzt den Ausdruck zutreffend:46 eleuthéra haíresis tou akoloutheín tei thraskeíai hen d’an boulethósin (ἐλευθέρα αἵρεσις τoῦ ἀκoλoυθεῖv τῆι θρησκείαι ἣv δ'ἂv βoυληθῶσιv) – »eine freie Wahl«. Die Wahlfreiheit hat nicht eine ethnische, politische, religiöse, Gruppe, sondern jeder

ihm das Wort ›Toleranz‹ nicht gebraucht wird. Vgl. das ›Toleranzpatent‹ für Juden und Protestanten des Kaisers Joseph II. von 1781. 44 Galerius (293-311 n.Chr.) bei Lactanz, de mortibus persecutorum 34; vgl. Eusebius, historia ecclesiastica 8,17. 45 Reskript des Licinius (litterae Licinii) bei Lactanz, de mortibus persecutorum 48; griechische Übersetzung des lateinischen Reskriptes bei Eusebius, historia ecclesiastica 10,5. 46 Eusebius, historia ecclesiastica 10,5,4.

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Einzelne – so ist es ius humanum und Wesen der Religion. Und »alle« (omnes) sollen diese Freiheit haben, nicht nur die Christianer. Die Kaiser gebrauchen zwei Argumente: (a) Sie lassen zu, was sie nicht verhindern können, daß die Christianer einer neuen Religion folgen und nicht, wie es sich gehört, der Religion ihrer Eltern und Vorfahren; die Christianer verstoßen gegen »die öffentliche Disziplin«; aber um des inneren Friedens willen ›duldet‹ der Kaiser den Verstoß.47 – (b) Das zweite Argument beruft sich auf die Religionsfreiheit des Einzelnen, der verehren kann, »was er will«.48 Die beiden Argumente stimmen nicht gut zueinander: was Menschenrecht ist, im Wesen von Religion liegt, eine von der Natur gegebene Verfügungsgewalt jedes Menschen ist, kann nicht Gegenstand eines kaiserlichen Gnadenaktes werden. 3. Ein Leitmotiv in diesen Dokumenten ist die ›Toleranzformel‹, »wie ein Jeder es will«, »was einer sich erwählt« hat:49

47 Vgl. das Edikt des Galerius (30. April 311) bei Lactanz, de mortibus persecutorum 34; Eusebius, historia ecclesiastica 8,17. – Die Worte tolerare, perferre, pati werden nicht gebraucht. 48 Vgl. den Brief Maximins (305-313) an die Provinzvorsteher in der Diözese Orient, in: Eusebius, historia ecclesiastica 9,9,1-9: »Wenn aber welche der eigenen Religion folgen wollen, sollst du sie in ihrem Verfügungsrecht (exousía) belassen.« Die Formel colendi libera facultas wird von Valentinian I. gebraucht, Edikt 371 n.Chr., in: Codex Theodosianus 9,16,9. 49 Galerius bei Eusebius, historia ecclesiastica 8,17; Maximin bei Eusebius, historia ecclesiastica 9,9,1-9; Tertullian, Apologeticum 24,6. Vgl. Ammian 32,5 über Kaiser Julian: »ubi vero abolitis quae verebatur adesse sibi liberum tempus faciendi quae vellet advenit« (Dekrete zur Restitution der hellenisch-römischen Kulte); ebd: »ut discordiis consopitis quisque nullo vetante religioni suae serviret intrepidus« (Ermahnung der Christianer durch Julian). – Zur Vorgeschichte der Formel vgl. Aristoteles, Politik 1310a: hóste zei en tais toiaútais demokratíais hékastos hos boúletai (ὥστε ζῆι ἐv ταῖς τoιαύταις δηµoκρατίαις ἕκαστoς ὡς βoύλεται) – »sodaß lebt in derartigen Volksherrschaften ein jeder, wie er will«.

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kathós hékastos boúletai (καθὼς ἕκαστoς βoύλεται); religio quam quisque voluisset; in colendo quod quisque delegerit; colere quem velim« u.ä.

Diese Formel propagiert einen Individualismus der freien Religionsausübung. Das spätantike imperium Romanum vermochte es also – jedenfalls zeitweise –, pluralistische und monotheistische Religionen im Rahmen einer lose strukturierten Reichsreligion zu organisieren. Die ›Erklärung der Religionsfreiheit‹ für »alle« in dem Reskript von 313 zeigt eine reale Möglichkeit antiker Religionsgeschichte. Die Trennung des Staates von einer bestimmten Religion, das ›neutrale‹ Bekenntnis zu einem namenlosen Göttlichen, auf das alle sich beziehen können, ist hierbei durchaus als Konsequenz der römischen Religionsgeschichte zu verstehen.50

§4 Z USAMMENFASSUNG §4.1 Antike Grundbegriffe im neuzeitlichen Menschenrechtsdiskurs: Kontinuität und Differenz 1. Sehr viele Grundbegriffe, die in den neuzeitlichen Erklärungen von Menschenrechten gebraucht werden, sind in der griechisch-römischen Antike gebildet worden, u.a.: Menschenwürde, Menschenrecht, Naturrecht, Freiheit und Gleichheit, Freiheit der Religion, Person, Gewissen. 2. Fünf lateinische Wort- und Begriffsgeschichten wurden skizziert:51 dignitas hominis, persona, ius humanum, libertas religionis, toleran-

50 Vgl. die rechtlichen Maßnahmen der römischen Magistrate zur Sicherung der Religionsausübung der Juden in den Städten des imperium Romanum; siehe die Urkunden bei Flavius Josephus, Antiquitates Iudaicae, übersetzt bei: K.L. Noethlichs, Das Judentum und der römische Staat, Darmstadt 1996, S. 81ff. 51 Das Referat ist ein lexikalischer Versuch, wenig ›Ideengeschichte‹, ›Realgeschichte‹, ›Rezeptionsgeschichte‹. Die Fragen, wie die neuzeitlichen Menschenrechte in antiken Einrichtungen (Gerichtswesen, Eigentum, Familie, Sklaverei) ›implizit‹ vorhanden sind, wie antike Verfassungsentwür-

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tia. Diese fünf Ausdrücke, so das Ergebnis, sind in der Antike durchaus selten. Sie bilden in der Antike keinen eigenen begrifflichen Zusammenhang. Einige wirken in das antike Rechtswesen. Ihre nachantike Rezeption ist, gemessen an den antiken Voraussetzungen, erstaunlich stark. §4.2 Die Grundlage Philosophie 1. Die in 4.1.1 genannten Grundbegriffe bilden in der Antike zwar kein eigenes, kohärentes Begriffsfeld, sie stammen aber alle aus philosophischer Tradition. Ihr antiker Kontext ist die stoische Anthropologie, Ethik, Staatslehre. Die Wirkung dieser stoischen Tradition als ganzer, zumal ihrer Begriffe ›Natur‹, ›Mensch‹, ›Kosmos‹, ›Vernunft‹, ist in Antike und Neuzeit sehr breit und kontinuierlich. 2. Die genannten Grundbegriffe stammen also nicht aus der religiösen, mythologischen, theologischen Tradition der Hellenen und Römer. Hierdurch wurde die breite Rezeption dieser Begriffe in der Nachantike sehr erleichtert. Die Erkenntnis, daß die Grundbegriffe des Menschenrechtsdiskurses außerhalb von Religion gebildet worden sind, entlastet die Frage nach der Universalität der Menschenrechte, löst sie aber natürlich nicht, da auch die nichtreligiösen Diskurse jeweils kulturell und geschichtlich ermöglicht und begrenzt sind. Eine nachträgliche Sakralisierung von Menschenrechten wird durch diesen Befund nicht empfohlen.52

fe (Platon, Zenon, Cicero) und historisch-programmatische Texte (Thukydides, Epitaphios; Plutarch, Solon; die Gracchen) den neuzeitlichen Menschenrechtsdiskurs vorbereiten oder begleiten, waren hier nicht zu behandeln. 52 In der jüdischen und christlichen Bibel gibt es die Ausdrücke ›Menschenwürde‹ und ›Menschenrecht‹ nicht. Keine der zahlreichen Auslegungen des Schöpfungsmythos bei christlichen Autoren in der Antike bezieht sich auf die dignitas hominis. Eine Geschichte der jüdischen Exegese zur Menschenschöpfung im ersten Buch Mosis ist mir nicht bekannt. Die Auslegung im babylonischen Talmud (Sanh. IV, V) handelt u.a. über den Urmenschen und seine kosmologischen Eigenschaften, nicht aber über »Würde/Ebenbild«.

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§4.3 Menschenrecht und Religionsfreiheit Aus historischen – nicht aus systematischen – Gründen spielt die Religionsfreiheit in der Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses eine besondere Rolle. Menschenrecht, Naturrecht, Religionsfreiheit sind bei Tertullian ein festes Argument. Die sog. ›Toleranzedikte‹ des 4. Jh. n.Chr. lehren, daß der spätantike Staat individuelle Religionsfreiheit garantieren konnte. Eine naturrechtliche Begründung wird dabei allerdings nicht expliziert.53 Diese Edikte lehren weiterhin, daß im Rahmen des imperium Romanum pluralistische und monotheistische Religionen nebeneinander bestehen konnten.54

53 ›Religionsfreiheit‹ bedeutet in der Antike konkret Versammlungsfreiheit; Vereinsfreiheit und die Erlaubnis, eine gemeinsame Kasse zu führen; Besitz von Versammlungshäusern; öffentliche Ausübung. Ob oder inwieweit in der nachantiken Religions-, Geistes-, Rechtsgeschichte ›Religionsfreiheit‹ theoretisch und praktisch zum Modell für ›Meinungsfreiheit‹, ›Pressfreiheit‹, ›Demonstrationsfreiheit‹ u.ä. geworden ist, ist mir nicht bekannt. 54 Zu den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen – »neutraler Monotheismus« – vgl. J.H.G. Liebeschütz, Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979, S. 277-304, bes. S. 302.

Moralische tolerantia – wissenschaftliche Wahrnehmung des Fremden – religiöse Freiheit und Repression Bemerkungen zum »Kulturthema Toleranz« in der griechischen und römischen Antike

§1 Z UR B EGRENZUNG DES T HEMAS §1.1 tolerantia Das lateinische Wort tolerantia erscheint erstmals im Sommer des Jahres 46 v.Chr., und zwar in der Gestalt eines wohldefinierten Begriffes der griechischen Philosophie.1 In seinen »Paradoxien der Stoiker« schreibt M. Tullius Cicero (106-43 v.Chr.):2

1

Es ist deshalb unrichtig, wenn der Artikel »Toleranz« in dem maßgebenden Wörterbuch »Geschichtliche Grundbegriffe« seine Wortgeschichten mit dem Satz beginnt (GG 6, 1990, 446): »Mit ›tolerantia‹, dem lat. Äquivalent von ›Toleranz‹ und ›Duldsamkeit‹, wird die Geduld Gottes (tolerantia Dei) umschrieben«. Die klassischen Belege werden später (S.450f.) unter der Überschrift »biblische und patristische Grundlegung« eingeordnet.

2

Cicero, paradoxa Stoicorum (abgefaßt 46 v.Chr.), 27. – Vgl. Cicero, de finibus (abgefaßt 45 v.Chr.), 2,94: [...] quorum (dolorum) alia toleratio est verior [...]. – Zur Gestalt des Weisen vgl. H. Cancik/H. Cancik-Lindemaier: »Senecas Konstruktion des Weisen. Zur Sakralisierung der Rolle

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[...] sapientis animus magnitudine consili, tolerantia rerum humanarum, contemptione fortunae, virtutibus denique omnibus ut moenibus saeptus vincetur et expugnabitur [...]? »[...] sollte der Geist des (vollkommenen) Weisen, der von der Größe seines Planens, vom Ertragen(-können) der menschlichen Dinge, von der Verachtung der Fortuna, von allen Tugenden schließlich wie von Mauern umhegt ist, sollte der besiegt und erobert werden [...]?«

Cicero verdankt den Begriff der stoischen Ethik. Das Wort hat er entweder neu geschaffen oder aus der philosophischen lateinischen Fachsprache übernommen, die sich bereits vor seinen sprachschöpferischen Bemühungen entwickelt hatte.3 Nach Ciceros Sprachgebrauch,4 nach der Bedeutung der griechischen Äquivalente des Wortes und gemäß dem systematischen Ort des Begriffes in der stoischen Philosophie bedeutet tolerantia an dieser Stelle: ›das Aushalten, Ertragen, Erdulden der Dinge (Umstände, Widrigkeiten), wie sie Menschen zuzustoßen pflegen‹. Den Ort im stoischen System und den Weg zur griechischen Terminologie zeigt Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v.Chr. – 65 n.Chr.). Im 67. seiner »Moralischen Briefe« an den Freund Lucilius handelt Seneca über Tapferkeit (fortitudo) in Krankheit, Krieg und unter der Folter. Er nennt sie »tapferes Ertragen« (fortis tolerantia §5) oder »tapfere Geduld« (fortis patientia §5):5

des Weisen im 1. Jh. n.Chr«, in: A. Assmann (Hg.), Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1991, S. 205-222. 3

Vgl. etwa: C. Amafinius, Catius den Epikureer sowie Sallustius, den Philosophen; vgl. bes. Cicero, Tusculanae disputationes 4,6. Die Terminologie des Lukrez ist bereits hoch entwickelt. Der Wechsel zwischen toleratio und tolerantia könnte ein Indiz für die Neuheit der Prägung sein.

4

Das Verbum tolerare bedeutet bei Cicero in den Reden wie in den philosophischen Schriften ›ertragen, erdulden (Schmerz, Kälte, Anstrengungen, Verfehlungen)‹.

5

Seneca, epistulae morales 67,10: cum aliquis tormenta fortiter patitur, omnibus virtutibus utitur. fortasse una in promptu sit et maxime appareat patientia: ceterum illic est fortitudo, cuius patientia et perpessio et tolerantia rami sunt; illic est prudentia sine qua nullum initur consilium quae suadet, quod effugere non possis quam fortissime ferre; illic est constantia

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»Wenn irgendjemand die Folter tapfer erduldet, braucht er dabei alle Tugenden. Vielleicht dürfte eine besonders im Vordergrund stehen und am deutlichsten erscheinen, die Geduld: aber dabei ist auch die Tapferkeit, deren Zweige Geduld und Durchhalten und Ertragen sind; dabei ist die Klugheit, ohne welche kein Plan eingegangen werden kann, welche rät, das, wovor du nicht fliehen kannst, aufs tapferste zu tragen; dabei ist die Standhaftigkeit, die nicht von ihrem Platz herabgestoßen werden kann; [...] dabei ist jene unteilbare Gefolgschaft der Tugenden [...]«.

Die tolerantia »erscheint« als ein Aspekt der Tapferkeit, einer der vier Kardinaltugenden der stoischen Ethik. Die allgemeine Bedeutung des Wortes ist somit gesichert, seine besondere Nuance ist in dem sehr »verzweigten«6 Wortfeld schwer zu fassen. Die griechischen Quellen bieten ebenfalls ein höchst differenziertes Wortfeld, das um den Kernbegriff andreía (ἀνδρεία – Tapferkeit) gelagert ist. Demnach ist Tapferkeit ein Wissen und eine Haltung bezüglich der Dinge die »ausgehalten« werden müssen (hypo-ménein [ὑποµένειν]). Ihr »folgen« die »Unveränderlichkeit« (a-par-allaxía [ἀπαραλλαξία]) und »kräftige Spannung« (eu-tonía [εὐτονία]).7 Sie enthält – ebenso wie die »unteilbare Gefolgschaft der Tugenden« bei Seneca – die Besonnenheit; untergeordnet ist die »Ausdauer« (kartería [καρτερία]), die selbstgewisse »Kühnheit«, der »hohe Sinn« (megalo-psychía [µεγαλοψυχία]), die ruhige »Seelenstärke« (eu-psychía [εὐψυχία]).8 Die besondere Nuance des »Ertragens« (tolerantia) wird wohl durch hypo-moné (ὑποµονή) ausgedrückt.

quae deici loco non potest [...] illic est individuus ille comitatus virtutum [...]. 6

Zur stoischen Begriffsbildung durch ›Verzweigung‹ vgl. H.J. Mette: Ius civile in artem redactum, Göttingen 1954, S. 48ff.

7

Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), hg. v. H. v. Arnim, Stuttgart 1964, III, nr. 295; nr. 275; nr. 280; nr. 295-304. Vgl. SVF II, nr. 349. Eine lateinische Fassung der Definitionen von ›Tapferkeit‹, die Chrysipp und Sphairos gegeben hatten, findet sich bei Cicero, Tusculanae disputationes 2,24,53 (= SVF III nr. 285).

8

SVF III, nr. 264; vgl. nr. 269 (nach Chrysipp); nr. 275: hypomoné (ὑπoµovή) und Tapferkeit, erstere mit kartería (καρτερία) gleichgesetzt.

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§1.2 Das »Kulturthema Toleranz« Das »Kulturthema Toleranz«, wie es der ›Arbeitskreis für Toleranzforschung‹ vorgegeben hat, führt weit hinaus über den stoischen Begriff tolerantia und dessen neuzeitliche Fortschreibungen in der juristischen Terminologie von ›Toleranzedikten‹ oder Vorschriften zur ›Duldung von Ausländern‹. Elemente dieses weiten ›Kulturthemas Toleranz‹ sind natürlich auch in der griechischen und römischen Kultur entwickelt worden: ›kulturelle Pluralität‹, ›Begegnung mit dem Fremden‹, ›Dialog‹ und ›Kompromiß‹ als Methoden von Verstehen und Konfliktregelung, vielerlei Versuche zur »humanen Konstruktion mitmenschlicher Wirklichkeit«:9 Sie werden jedoch in der Antike nicht unter das Etikett tolerantia oder hypo-moné gestellt. Die Kaiser Licinius (308-324 n.Chr.) und Konstantin (312-337) gewähren in ihrem sogenannten ›Toleranzedikt‹ von Mailand (Juni 313) nicht Toleranz sondern »Freiheit«:10 [...] libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset [...] »[...] die freie Möglichkeit, derjenigen Religion zu folgen, die jeder einzelne gewollt hat, [...]«.

Wollte man die Vorstellungen der Antike in das gegenwärtige Gespräch über ›Toleranzkonzepte‹ einbringen, müßte also der Begriff ›Freiheit‹ (libertas, eleuthería [ἐλευθερία]) in seiner rechtlichen, administrativen, anthropologischen und ethischen Dimension entwickelt werden. Auf dieser Grundlage könnte die Freiheit der Religionsausübung in der Antike untersucht werden, die Freiheit der Vereinsbildung (ius coeundi) bzw. deren repressive Behinderung, die Freiheit des Gewissens, bzw. überhaupt die Theorie des ›Ge-wissens‹ (con-

9

A. Wierlacher: »Was ist Toleranz. Zur Rehabilitation eines umstrittenen Begriffs«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 20 (1994), S. 115-137; Zitat: S. 122.

10 Schreiben der Kaiser Licinius und Konstantin an den Gouverneur von Bithynien (und die anderen Reichsteile) bei Lactanz, de mortibus persecutorum 48; eine griechische Fassung bei Eusebios, historia ecclesiastica 10,5,4: hopos domen [...] eleuthéran haíresin tou akoloutheín te threskeía he d’an boulethósin (ὅπως δῶµεν [...] ἐλευθέραν αἵρεσιν τοῦ ἀκολουθεῖν τῇ θρησκείᾳ ᾗ δ᾽ἂν βουληθῶσιν).

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scientia, syneídesis (συνείδησις) als eine Kategorie der Moral und des ›Be-wußtseins‹.11 Weitere Begriffe des kaiserlichen Reskriptes wären in ihrer Bedeutung für die Grundlegung und Geschichte eines extensiven Toleranzkonzeptes zu erklären und zu prüfen: »jeder einzelne« und »wollen«. Diese Untersuchung führt einerseits auf die individualisierenden Begriffe ›Person‹, ›eigen‹ (ídios [ἴδιος]), ›Individuum‹, ›Selbst‹ und ›Subjekt‹, andererseits auf die generalisierenden Begriffe ›Mensch‹, ›Menschheit‹ (genus humanum), ›Menschlichkeit‹ (humanitas) und ›Menschheitsgeschichte‹, auf Oikumene, Kosmo-Polis (»Welt-Stadt«) und Phil-Anthropie (»Menschen-Liebe«) und damit auf das Postulat von der »Gleichheit« der Menschen und der Geltung universaler Konzepte und Normen. Über diese Grundbegriffe der Religionsfreiheit hinaus wäre es nötig, die Themen ›Fremder, Gast, Feind, Exulant‹ zu entwickeln, die antike Asylie, den rechtlich und religiös gewährleisteten Schutz in Tempeln und an Statuen, ein Thema, das in zahlreichen Bildern und Texten der klassischen Literatur und Kunst von Homer bis Seneca verbreitet wurde.12 Es ist offensichtlich, daß an dieser Stelle nicht einmal ein Forschungsbericht über die Arbeit gegeben werden kann, die auf diesen Gebieten bereits geleistet worden ist. So muß es genügen, unter den Stichworten ›Historie‹ – ›Universalismus‹ – ›Zensur‹ drei Beispiele aus Wissenschaft, Religion und Administration (Innenpolitik) vorzustellen. Sie sollen verschiedene Aspekte der Realisierung dessen, was heute als ›Kulturthema Toleranz‹ zusammengefaßt wird, veranschaulichen und, wenn möglich, neue Forschungen anregen.

11 Vgl. H. Cancik-Lindemaier, Art. »Gewissen«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. H. Cancik/B. Gladigow/K.H. Kohl, Bd. 3, Stuttgart 1993, S. 17-31. 12 Vgl. die Verletzung dieses Rechts in den zahlreichen Fassungen von der Tötung des Priamus und dem Raub der Kassandra; vgl. das Thema »Hikesie« bei Aischylos und Euripides.

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§2 H ISTORIE : W AHRNEHMUNG

DES

F REMDEN

§2.1 Herodot, Vater der vergleichenden Völkerkunde und Religionsgeschichte Um die Mitte des 5. Jh. v.Chr. veröffentlichte Herodot seine Geschichte des Krieges, den die Perser mit den Griechen geführt haben. In dieser Geschichte gibt es zahlreiche Einlagen, vor allem Beschreibungen fremder Länder und Völker. Am längsten gerät ihm die Schilderung aus Ägypten. Sie beginnt folgendermaßen:13 »Ich komme aber dazu, den Bericht über Ägypten auszuweiten, weil es sehr viel Staunenswertes enthält und Werke bietet, die kaum zu beschreiben sind, jedem (anderen) Land gegenüber. Deswegen wird mehr über Ägypten gesagt werden. Die Ägypter – ebenso wie der Himmel bei ihnen andersartig ist und der Fluß eine andere Natur hat als andere Flüsse – haben in fast allen Dingen den anderen Menschen entgegengesetzte Bräuche und Gesetze eingerichtet. Demnach gehen die Frauen zum Markt und treiben Handel, die Männer aber bleiben im Hause und weben; es weben aber die Anderen, indem sie den Einschlagfaden nach oben festschlagen, die Ägypter dagegen nach unten. Die Lasten tragen die Männer auf den Köpfen, die Frauen aber auf den Schultern. Es urinieren die Frauen aufrecht stehend, die Männer aber im Sitzen. Sie entleeren sich in den Häusern, essen aber draußen auf den Straßen, und sie sagen dazu, es zieme sich, was häßlich und doch notwendig ist, im geheimen zu verrichten, was aber nicht häßlich ist, in der Öffentlichkeit. Kultdienst versieht keine Frau, nicht für einen männlichen Gott und auch nicht für einen weiblichen, Männer hingegen für alle (Götter) und alle (Göttinnen). Die Eltern zu ernähren, ist für die Söhne keinerlei Verpflichtung, wenn sie nicht wollen, für die Töchter aber ist es strenge Verpflichtung, selbst wenn sie nicht wollen«.

Herodot schildert die Ägypter und ihr Land als auffällig, abweichend, als fremd, ja befremdlich. Alles ist anders als bei den anderen Menschen, ja entgegengesetzt.14 Dieses Fremde erzeugt ihm aber nicht

13 Herodot, Historiae 2,35. 14 Herodot hat die griechischen Termini für ›Andersheit‹ zwecks Themaangabe in diesen Eingangssätzen gehäuft állos, héteros, alloíos, émpalin,

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Angst und Abwehr, sondern Neugier und Interesse. Die Eigenart der Hellenen wird ihm an der Andersheit der Ägypter deutlicher. Andersheit wird nicht abgewertet, weder hier noch in anderen ›Exkursen‹ Herodots. Deshalb gilt Herodot nicht nur als ›Vater der (westeuropäischen) Geschichtsschreibung‹, sondern speziell als »Vater der Ethnographie«.15 Die Beschreibung der Religion der fremden Völker erhält in Herodots ethnographischen Exkursen einen festen Platz. Er sucht Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ägyptischer und griechischer Religion, gibt detaillierte Beschreibung, bemüht sich um Auskünfte bei den fremden Priestern selbst. Er versucht, die religiösen Eigenheiten mit der Besonderheit der ägyptischen Kultur als ganzer zu verbinden. Deshalb ist der Vater der Geschichtsschreibung auch der Vater der Religionsgeschichtsschreibung. Herodot hat die Frage nach Ursprung und Wesen der griechischen Religion engagiert und radikal gestellt und beantwortet: Wesentliche Stücke der griechischen Religion seien ägyptisch. Die alten pelasgischen Götter in Griechenland waren namenlos, erst später wurden sie benannt:16 »Fast aller Götter Namen aber kamen aus Ägypten nach Hellas«.

Die Namen freilich waren Teil von Mythen, Kulten, Mysterien, Mantik, Opfern, Festen.17 All dies haben die Griechen von den Ägyptern »genommen«. Das Verhältnis der griechischen zur ägyptischen Religion wird als »Lernen« konzipiert, nicht als ›Spaltung‹ oder ›Abfall‹. Gelegentlich nennt Herodot den Vermittler. Den Kult des Dionysos hat Melampus, Sohn des Amytheon, den Griechen »erklärt« (exhegeísthai [ἐξηγεῖσθαι]; den Namen, das Opfer, die Prozession mit dem Phallos. Melampus wußte es von den Ägyptern. Auch seine Mantik hat Melampus von den Ägyptern erhalten. Mit hohem Pathos behauptet der Grieche Herodot den Vorrang der Ägypter (2,49,3):

thaumásios, lógou meízon (ἄλλος, ἕτερος, ἀλλοῖος, ἔµπαλιν, θαυµάσιος, λόγου µεῖζον) 15 W.E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie, Wiesbaden 31984, S. 25. Siehe Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 1993, S. 100. 16 Herodot, Historiae 2,50-52, das Zitat ist der erste Satz. 17 Herodot, 2,48f (Dionysoskult); 2,58; 2,81; 2,171 (Mysterien).

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»Niemals werde ich sagen, daß die Ägypter von den Hellenen genommen haben diese oder irgendeine andere Einrichtung (nómaion [νόµαιον])«.

An seiner ausführlichen religionsvergleichenden Studie ›Über den Ursprung und die Verbreitung des Kultes des Herakles bei Griechen, Ägyptern und Phöniziern‹18 ist im Hinblick auf die Entstehung vergleichender Kulturwissenschaft nicht die Richtigkeit chronologischer, architektonischer oder etymologischer Details entscheidend, sondern: (1) Die Konstitution von ›Religion‹ als eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch Herodot bzw. seine Vorgänger. (2) Die Verknüpfung der wissenschaftlichen Religionsgeschichtsforschung mit der Kritik an der eigenen zeitgenössischen Religion; Beispiel: der »doppelte« Herakles-Kult ist der »korrekteste«.19 (3) Die Verpflichtung zur Dokumentation und Neutralität:20 »Ob einer alles glauben will, was die Ägypter erzählen, ist seine Sache. Mir ist es bei alledem nur darum zu tun, das aufzuzeichnen, was ich von ihnen gehört habe«. (4) Die Einführung von transkultureller Vergleichung, Empirie und Chronologie, von Kritik, Beweis und Klarheit als Methoden und Ziel religionshistorischer Forschung. §2.2 Ein Feindbild bei Ammian: »zweifüßige Tiere« Die von Herodot begründete Tradition der Ethnographie bleibt fester Bestandteil der griechischen und römischen Geschichtsschreibung. Der Ernstfall, an dem die Grenzen der Aufklärung getestet werden, bleibt die Wahrnehmung des Fremden, der Feind geworden ist. Aus der Spätantike ist eine Schilderung von Feinden überliefert, deren Name bis zum heutigen Tage als Schreck- und Schimpfwort für sinnlose Destruktivität dient: »Hunnen«. Um das Jahr 380/390 veröffentlichte Ammianus Marcellinus in Rom sein Geschichtswerk. Nur wenige Jahre zuvor waren die Hunnen

18 Herodot 2,44 und 145f. 19 Herodot, 2,44,5; Kritik Herodots an der griechischen Überlieferung: 2,45 («unbedacht«, »einfältig«); 2,53. 20 Herodot, 2,123,1; vgl. 7,152,3. – Angabe der Quellen: 2,3,1; 2,50,2; 2,2,5; 2,146,2.

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aus dem Fernen Osten nach Südrußland gezogen; sie verdrängten dort die Alanen und Goten und lösten die Ereignisse aus, die wir als ›Völkerwanderung‹ und ›Ende der Antike‹ zu bezeichnen pflegen. Diese Feinde des römischen Reiches beschreibt Ammian folgendermaßen:21 »Das Volk der Hunnen ist in den alten Quellen nur oberflächlich bekannt. Es siedelt jenseits der maeotischen Sümpfe am Eismeer und überschreitet jedes Maß von Wildheit (omnem modum feritatis excedit). Sie zerfurchen den Kindern, unmittelbar nach der Geburt, die Wangen mit Eisenmessern, ziemlich tief, damit durch die Narben das Wachstum der Haare vermindert wird. Deshalb werden sie alt, bartlos, ohne jede Schönheit, den Verschnittenen ähnlich. Alle haben gedrängte, starke Glieder, fette Nacken, eine monströse und furchterregende Gestalt. Man könnte sie für zweifüßige Tiere halten oder für Holzpfähle, wie sie für Brückenbauten behauen werden. Sie haben keine gekochten und gewürzten Speisen, sondern nähren sich von den Wurzeln wilder Pflanzen und halbrohem Fleisch aller möglichen Tiere. Sie legen es zwischen den Rücken ihrer Pferde und ihre Schenkel und reiten es gar. Sie haben keine Häuser, keine eigens abgegrenzten Grabstätten. Sie schweifen durch Berge und Wälder, ertragen von den Windeln an Hunger und Durst. Sie bedecken sich mit Kleidungsstücken aus Leinen oder aus dem Pelz von Waldmäusen. Sie haben nur ein Kleidungsstück für drinnen und draußen. Dies Kleid wird nicht eher abgelegt oder gewechselt, als bis es in Fetzen herabfällt. Sie tragen unförmige Schuhe, ohne jedes Maß hergestellt, und können deshalb nicht frei ausschreiten. Deshalb sind sie auch weniger geeignet für den Kampf zu Fuß; aber den Pferden sind sie beinahe angeheftet. Zu Pferd treiben sie Handel, nehmen Speise und Trank ein; sie schlafen sogar auf dem Nacken der Pferde«.

(Es folgt eine Darstellung ihrer Technik im Reiterkampf, Lassowerfen etc.) »Niemand unter ihnen führt den Pflug. Ohne festen Wohnsitz, ohne Gesetz, ohne stabilen Lebensunterhalt schweifen sie umher, Menschen gleich, die immer auf der Flucht sind, mit Wagen, in denen sie wohnen. Dort nähen ihre Frauen ihnen die häßlichen Kleider zusammen, schlafen mit ihnen, gebären Kinder und nähren sie bis zur Pubertät. Und keiner kann bei ihnen sagen, woher er stammt; denn er ist an einem Orte gezeugt, an einem anderen weit weg

21 Das folgende ist eine Paraphrase in engem Anschluß an Ammian 31,2,111.

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geboren und noch weiter weg aufgezogen. Sie sind treulos, unzuverlässig, jähzornig; nach Art unvernünftiger Tiere wissen sie überhaupt nicht, was rechtschaffen und was nicht rechtschaffen ist. Ihre Rede ist gewunden und dunkel. Durch keine Religion oder Aberglauben sind sie irgendwie gebunden, sie sind goldgierig«.

Dieses Volk nun fällt über das römische Reich her. Der Unterschied zu Herodots Ägypter-Logos ist deutlich: Hier wird nicht eine fremde, ferne und ungefährliche Hochkultur beschrieben, sondern nahe, bedrohliche Feinde. Sie sind so wild und häßlich, daß der Verfasser sie in die Nähe wilder Tiere rückt (feri, bestiae). Offensichtlich sind hier Topoi des ›Wilden‹, des ›Barbaren‹ gehäuft, um ein Bild von ›Antikultur‹ zu erzeugen. Dennoch: Trotz aller Schemata, Topoi, Stereotype, trotz der eindeutigen ›Tendenz‹ der Schilderung wird das Fremde in den Blick genommen, das Häßliche, Eklige, Abstoßende, Monströse: taeter, prodigiosus. Ammian, der hochgebildete Grieche aus Antiochien bemüht sich, ein ›Bild‹ zu geben, mit vielen und nicht nur militärischen Einzelheiten: das Militärische ist vielmehr auch hier Teil eines kulturellen Gesamtkonzeptes. All dies ist Tradition der ionischen Ethnographie, die von Herodot begründet wurde.

§3 U NIVERSALISMUS : D IE AUFNAHME FREMDER K ULTE IM ALTEN R OM §3.1 Mehrsprachig, multikulturell, universalistisch Die große und unübersichtliche Menge der römischen Kulte, Priesterschaften und Götter läßt sich auch nach ihrer Herkunft gliedern. In der Struktur des stadtrömischen Pantheon hat sich ein Teil römischer Geschichte verfestigt; Religion wirkt auch hier als kulturelles Langzeitgedächtnis. Die Römer selbst haben zwischen den eingesessenen, überlieferten, väterlichen Kulten (sacra patria, tradita) und den offiziell eingeführten fremden Kulten (sacra peregrina recepta) unterschieden. Fremde Kulte kamen – infolge einer »Herausrufung« aus der feindlichen Stadt (evocatio) – als Kriegsbeute nach Rom oder, im Frieden, aus Anlaß besonderer Zeichen und auf Beschluß des Senates.

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Diese Kulte wurden in Rom nach dem Ritual ihrer Herkunftsorte begangen.22 Andere Kulte waren ›geduldet‹, so besonders die bereits seit dem 2. Jahrhundert v.Chr. in Rom und Italien wohnenden Juden. Diejenigen auswärtigen, fremden Kulte (sacra externa, aliena), die nicht offiziell rezipiert waren, wurden von den Behörden übersehen oder aus der Stadt und Italien verwiesen, wenn sich ein Anlaß fand oder ein ›Sündenbock‹ gefunden werden mußte. Im ›Römischen Ritus‹ (ritus Romanus) wird das religiöse Erbe der Latiner und Sabiner gepflegt. Fünfzehn Priester, die flamines, werden für diesen Kultkomplex genannt. Zusammen mit dem Opferkönig (rex sacrorum), den Jungfrauen der Vesta und den pontifices bilden sie in klassischer Zeit das Pontificalcollegium. Im ›Griechischen Ritus‹ (Graecus ritus) betreuen die Priester, die den Fünfzehnmännern (XV viri sacris faciundis) zugeordnet sind, die Kulte, die durch den Staat, sei es im Kriege, sei es friedlich, rezipiert worden sind. Außer dem uralten Kult des Hercules an der Ara Maxima und den Sibyllinischen Büchern, die der Tradition nach aus Cumae stammen, werden – seit dem Beginn der Republik – vor allem folgende Kulte von den Fünfzehnmännern betreut: die aventinische Trias – Ceres, Liber, Libera; Apollo; Iuno Regina aus Veji; Venus Erucina aus Sizilien; Aesculap aus Epidauros und Mater Magna aus Phrygien. Die »fremden« Kulte werden in der Republik, ebenso wie später Isis, Juden und Christianer, an der Peripherie angesiedelt. Im Cereskult am Aventin bleiben die Priesterinnen und die Kultsprache griechisch. Der deutlichste kultisch relevante Unterschied war die Verhüllung des Hauptes im römischen, das unbedeckte oder bekränzte Haupt im griechischen Ritus (capite velato/capite aperto). Im griechischen Ritus bekamen die opfernden Menschen Anteil an den Innereien. Die Bewirtungen der Götter (lectisternia), Bittprozessionen (supplicationes) mit Sühneliedern und die Saecularfeier sind durch die Interpreten der Sibyllinischen Bücher in Rom eingeführt worden. Die Divination geschieht im griechischen Ritus durch Auslegung der Sibyllinischen Bücher; die Vogelschau der Auguren gilt als alte römische Praxis; die Blitz- und Leberschau ist eine Domäne der etruskischen Lehre.

22 Sextus Pompeius Festus, de significatu verborum, hg. v. W.M. Lindsay, Leipzig 1913, S. 268.

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Der synthetische Charakter ihrer Religion erleichterte den Römern die Integration fremder Kulte und die Diffusion des eigenen Systems über ganz Westeuropa. Nicht nur die Religion, auch andere Teile der römischen Kultur zeichnen sich durch diese ›synthetische‹ Struktur aus. Die literarische Geschichtsschreibung des alten Rom beispielsweise beginnt mit einem Griechen aus Sizilien, dem Gelehrten Timaios aus Tauromenium/Taormina (ca. 350-ca. 250 v.Chr.). In Campanien ist der Dichter Cn. Naevius (ca. 265-ca. 200 v.Chr.) geboren, der ein Epos in lateinischer Sprache über den Punischen Krieg verfaßt. Der dritte in dieser Reihe ist Stadt-Römer und Senator, Fabius Pictor, im Jahre 216 v.Chr. als Gesandter in Delphi; er schreibt Annalen in griechischer Sprache. Q. Ennius, Verfasser von Annalen in lateinischen Hexametern, ist Messapier (239-169 v.Chr.), und der Politiker und Historiker M. Porcius Cato, Consul des Jahres 195 v.Chr., stammt aus dem etruskischen Tusculum. §3.2 Philosophische Universalisierung Ein Jahr, nachdem er in das Collegium der Auguren aufgenommen worden war (53 v.Chr.), gibt Cicero sich im zweiten und dritten Buch des Werkes »Über die Gesetze« (de legibus, abgefaßt ca. 52 v.Chr.) als Gesetzgeber und religiöser Reformer – als neuer Numa. In archaisierender Sprache und in der bewährten juristischen Form von Text und Kommentar bietet Cicero eine »Verfassung der Religion(en)« (constitutio religionum: leg. 2,10,23; leges de religione: 2,7,17) und »Gesetze für einen besten Staat« (leges ad optimum civitatis statum). Der religionsgeschichtliche Ort dieses kommentierten ›Rahmengesetzes‹ ist durch seine Beziehung auf das Naturrecht (ius naturae) und die ›politische Theologie‹ (theologia civilis) gegeben. Der Dialog fingiert, Cicero wolle ein Gesetz einbringen, erklären, empfehlen und zur Abstimmung bringen: »Empfiehl also«, so sagt sein Gesprächspartner Atticus, »wenn es dir recht ist, dieses Gesetz, damit ich bei der Abstimmung sagen kann: ›Ja, wie du beantragst‹«. Die allgemeine Grundlegung dieses Entwurfs einer »Verfassung« der römischen Religion liefert die stoische Naturphilosophie und Theologie, welche die Begriffe Gesetz und Vernunft, Natur, Mensch und Gott in einem systematischen Zusammenhang entwickelt. Die naturrechtliche Begründung der römischen Religion verwandelt die ›na-

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tionale‹ in eine universale Religion. Ciceros religiöses ›Rahmengesetz‹ (summa rerum atque sententiae: de legibus 2,7,18) stimmt einerseits weitgehend mit dem bestehenden römischen Sakralrecht überein, andererseits mit dem ius naturae (de legibus 2,62), wie es im ersten Buche dieses Werkes dargestellt ist. Es gehört zur Dialektik vieler (aller?) ›positiven‹ Universalreligionen, daß sie ihren historischen, nationalen, partikularistischen Ursprung nicht preisgeben (Jerusalem, Eleusis, Mekka). So ist das Paradox ›römische Universalreligion‹ nicht ohne Parallelen. Nirgends allerdings findet sich bei Cicero ein Hinweis, er wolle diese Religion durch religiöse Propaganda oder staatliche Gewalt den Verbündeten oder Unterworfenen aufdrängen. Keine Sibylle, kein vates oder haruspex, kein Auftrag des Besten Größten Juppiter treibt diese Religion zur Mission. Ein römischer Religionskrieg ist auch nach den besonderen Voraussetzungen Ciceros nicht möglich.23 §3.3 Additive Universalisierung Die römische Staatsreligion hatte, wie eingangs dargestellt, die Möglichkeit, »fremde Kulte« (sacra peregrina) durch Beschluß der für Religionsangelegenheiten zuständigen Behörden in die eigene Religion aufzunehmen. Sie wurden zu sacra peregrina publice accepta. ›Fremdkulte‹ sind ein legitimer und notwendiger Bestandteil der römischen Religion. Durch einen Prozeß, der ›additive Universalisierung‹ genannt sei, entsteht dabei zu Beginn der Kaiserzeit eine Konfiguration von Kulten und Religionen, deren Bezeichnung als ›Reichsreligion‹ freilich eher mißverständlich ist. Eine besondere und zunehmende Bedeutung erhielt der Kult der römischen Kaiser und ihres Hauses (domus divina). In dieser losen Struktur erhielten sogar die Juden einen Ort. Durch eine Serie von quasi-völkerrechtlichen Vereinbarungen zwischen hohen römischen Beamten und jüdischen Königen, Ethnarchen und Erzpriestern wurde den Juden die Ausübung ihrer »väterlichen Gesetze« grundsätzlich garantiert. Sie brauchten den römi-

23 Einen Sonderfall in der römischen Religionspolitik stellt das Kastrationsverbot Hadrians dar. Es ist nicht klar, ob es primär das Verbot der Beschneidung intendierte. Auch wenn es vor den Ausbruch des Bar-KochbaKrieges zu datieren wäre, bliebe dennoch zweifelhaft, ob es als Ursache für diesen Krieg gelten kann.

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schen Herrscherkult nicht auszuführen, der Sabbat war geschützt. So wird verständlich, wie ein selbstbewußter Römer in dem Dialog ›Octavius‹ des Minucius Felix sagen kann:24 Inde adeo per universa imperia provincias oppida videmus singulos sacrorum ritus gentiles habere et deos colere municipes, ut Eleusinios Cererem, Phrygas Matrem, Epidaurios Aesculapium, Chaldaeos Belem, Astartem Syros, Dianam Taurios, Gallos Mercurium, universa Romanos. »Alle Völker haben ihre besonderen Riten und Götter, in Eleusis die Ceres, die Phryger die Mater Magna, die Epidaurier den Aesculap, die Chaldaeer den Bel, Astarte die Syrer, Diana die Taurier, die Gallier Mercur – ›alle (Gottheiten) die Römer‹«.

§3.4 Exklusive Universalisierung Ein Gegenstück zu einer losen Zusammenordnung verschiedener Gottheiten und Kulte ist eine Gottesvorstellung, die andere Gottheiten als Eigenschaften, Wirkungen oder Teile integriert hat. Der griechisch-römische Kult der ägyptischen Isis führte zu einer erstaunlichen Verbindung von Exklusivität und Universalismus. In dem Roman des Apuleius von Madaura25 erscheint Isis und offenbart sich dem sündigen Helden als »Mutter aller Dinge der Natur, die Herrin aller Elemente, [...] die höchste der Gottheiten, Königin der Manen, die erste der Himmlischen, die einförmige Gestalt der Götter (!) und Göttinnen [...] deren einzige Gottheit der ganze Erdkreis mit vielförmigem Bilde, mannigfaltigem Ritus und vielerlei Namen verehrt. – cuius numen unicum multiformi specie, ritu vario, nomine multiiugo totus veneratur orbis.«

Diese als ›Mysterien-Religion‹ institutionalisierte Form der IsisReligion beansprucht den ganzen Menschen. Isis spricht:26

24 Minucius Felix, Octavius (abgefaßt um 200), 6,1. 25 Apuleius, Metamorphosen (verfaßt um 170 n.Chr.), 11,5. 26 Apuleius, Metamorphosen, 11,6.

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»Mir gehört der Rest deines Lebenslaufes bis zu den Grenzen des letzten Atemzuges. Mit Recht schuldest du das Ganze, das du leben wirst, derjenigen, durch deren Wohltat du zu den Menschen zurückgekehrt bist«.

Hier zeigt sich ein neuer Typus von Religion, die den Menschen schuldhaft und erlösungsbedürftig denkt, die Gottheit universal, umfassend und allmächtig und dem Mysten persönlich nahe. Die drei Arten von Universalismus, die in diesem Kapitel geschildert sind, ermöglichen Konkurrenz, ohne daß die jeweils anderen Religionen theoretisch oder praktisch negiert werden müßten. Schließlich aber stieß auch das römische System an seine Grenzen, und zwar im Konflikt mit den Christianern.

§4 Z ENSUR : ADMINISTRATIVE R EPRESSION UND V ERFOLGUNG §4.1 »Freiheit und Stimme sollen sie nicht haben« (Diocletian)27 1. Die kaiserliche Erklärung der »Religionsfreiheit« (libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset) von 313 zeigt eine reale Möglichkeit antiker Religionsgeschichte.28 Sie war – wie die sog. Toleranzedikte viele Jahrhunderte später – erzwungen durch die Erfolglosigkeit vorangegangener Repressionen, und sie konnte nicht zu einem ›Grundrecht‹ verfestigt werden. Wenige Jahre nach dem Mailänder Edikt von 313 wird die private Haruspicin verboten,29 danach – mit dem Mailänder Edikt von 356 – die zentralen Teile der römischen Religion:30 Poena capitis subiugari praecipimus eos, quos operam sacrificiis dare vel colere simulacra constiterit.

27 Diocletian, Edikt gegen die Christianer im Jahre 303 bei Lactanz, De mortibus persecutorum cap.13; vgl. Eusebios, Historia ecclesiastica 8,2,4. 28 Vgl. Valentinian I. (Codex Theodosianus 9,16,9: 371 n.Chr.): colendi libera facultas. 29 Codex Theodosianus 9,16,1; 9,16,2; 16,10,1 (319/321 n.Chr.). 30 Codex Theodosianus 16,10,6 (356 n.Chr.).

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»Wir weisen an, daß diejenigen der Todesstrafe unterworfen werden, die erwiesenermaßen Opfer besorgt oder Bilder verehrt haben«.

Am 8.11.392 erfolgt das Totalverbot der römischen Religion:31 Nullus omnino ex quolibet genere ordine hominum dignitatum vel in potestate positus vel honore perfunctus, sive potens sorte nascendi seu humilis genere condicione fortuna in nullo penitus loco, in nulla urbe sensu carentibus simulacris vel insontem victimam caedat vel secretiore piaculo larem igne, mero genium, penates odore veneratus accendat lumina, inponat tura, serta suspendat [...]. »Überhaupt keiner, aus welchem Geschlecht oder Stand der Menschen auch immer – ob in eine Machtstellung gesetzt oder mit einem Amte bekleidet, sei es daß er mächtig ist durch die Gnade der Geburt oder ein niederer, nach Geschlecht, Stand, Besitz in überhaupt keiner Stellung – soll in keiner Stadt den wahrnehmungslosen Bildern ein unschuldiges Opfertier schlachten oder mit verborgenerer Sühnung den Lar mit Feuer, den Genius mit Wein, die Penaten mit Weihrauchduft verehren [....]«

Die Praxis der Intoleranz, anderthalb Jahrhunderte von allen Beteiligten geübt, ist nunmehr zur Perfektion entwickelt: Verbot der Berufsausübung für Kultfunktionäre, Verbot, Kulträume zu betreten; Verbot der Kultausübung, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Hause, auf privatem Grund und Boden. Es besteht Anzeigepflicht für jeden Richter, der verbotene Kulthandlungen beobachtet.32 Das Vermögen der Tempel wird eingezogen, ihr Landbesitz, die Herden, die Tempelschätze; ihre Privilegien, wie Asylie und Steuerbefreiung, werden aufgehoben. Das Kultgerät wird entfernt, die Kultstatuen umgestürzt, zerbrochen und verstümmelt, der Kultort profaniert. Nichtchristen wird der Beruf des Soldaten, Verwalters, Richters verboten. 2. Die siegende Kirche ist die verfolgende Kirche. Sie verfolgt nicht nur die Römer sondern auch Juden, afrikanische Christen (sog. ›Donatisten‹) und die jeweiligen Häretiker. Sie setzt damit die Tradition des spätantiken Staates des 3. Jh. fort.

31 Codex Theodosianus 16,10,12 (392 n.Chr.). 32 Codex Theodosianus 16,10,10.

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Im Jahre 303 erläßt der Kaiser und Augustus Diocletian (284-305) ein Edikt gegen die Christianer:33 ut religionis illius homines carerent omni honore ac dignitate, tormentis subiecti essent, ex quocumque ordine et gradu venirent, adversus eos omnis actio valeret, ipsi non de iniuria, non de adulterio, non de rebus ablatis agere possent, libertatemque denique ac vocem non haberent. »[...] daß Menschen mit jener Religion jeden Amtes und jeder Ehre verlustig seien, daß sie der Folter unterworfen werden könnten, aus welchem Stande und Rang sie auch kämen, daß jeder Anklageweg gegen sie gültig sei, sie ihrerseits aber nicht wegen Verleumdung, nicht wegen Ehebruchs, nicht wegen entwendeter Dinge einen Prozeß führen dürften, daß sie, kurz gesagt, Freiheit und Stimme nicht haben sollten« [...].

§4.2 »immerwährende Leitung von Sitten und Gesetzen«

34

Das Edikt Diocletians ist das Ende einer langen Reihe von Repressionsmaßnahmen gegen die Christianer, die schon in Jerusalem zur Zeit der Apostel beginnt. Trotz der universalistischen Tendenz der römischen Religion gab es seit dem 2. Jh. v.Chr. aus verschiedenen ›strafrechtlich relevanten‹ Anlässen immer wieder Repressalien gegen Juden, Anhänger ägyptischer Kulte in Rom, gegen Druiden in Gallien. Bücherverbrennungen haben eine lange Tradition, die bis ins klassische Athen zurückführt.35 Der Praecedenzfall für die Repression von Kulten war die Verfolgung der dionysischen Kulte in Italien (186 v.Chr.). Religionskriege jedoch mit dem Ziel, andere Religionen zu unterdrücken oder die eigene Religion zu verbreiten, haben Griechen und Römer nie geführt. 33 Inhaltsangabe bei Lactanz, de mortibus persecutorum 13; in Einzelheiten und Formulierungen abweichend: Eusebios, Historia ecclesiastica, 8,2,4. Vgl. Diocletians Edikt gegen die Manichäer aus dem Jahre 302 (oder 297 bzw. 298). 34 Kompetenz des Augustus laut Sueton, »Augustus«, 27,5; nach seinen eigenen Angaben (Monumentum Ancyranum 6) lehnte Augustus die Zensur auf Lebenszeit ab. 35 Reiches Material bei W. Speyer: Bücherverbrennung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen, Stuttgart 1981.

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Aus der Zeit des frühen Prinzipats (1. Jh. n.Chr.) sind, dank der Aufmerksamkeit der antiken Geschichtsschreiber, zahlreiche und verschiedenartige Maßnahmen bekannt, mit denen das ›neue‹ Regime die öffentliche Meinung, das künstlerische und religiöse Leben in Rom zu steuern versuchte. Die folgende Liste möge die zensorischen Akte der Kaiser Augustus und Tiberius und damit die repressiven Energien des Prinzipats auf den Ebenen der Verfassung, der Innenpolitik, des kulturellen und religiösen Lebens veranschaulichen. Imperator Caesar Augustus (Octavianus) (43 v.Chr./27 v.Chr.-14 n.Chr.) Jahr vor Chr.: nach 44 Augustus verbietet, als Erbe Caesars, die Veröffentlichung von Caesars Jugendschriften. 33 Agrippa vertreibt Astrologen und Magier aus Rom. (33 v.?) 28 Vertreibung des Neupythagoreers Anaxilaos v. Larissa aus Rom. ca. 26 Tod des Dichters Cornelius Gallus. ca. 20/10 Der Historiker Timagenes verbrennt nach Streit mit Augustus seine Bücher selbst. 12 Augustus verbrennt als pontifex maximus 2000 libri fatidici (Weissagungsbücher) und reinigt die Sibyllinischen Bücher. Jahr nach Chr.: 6 Pamphlete des Publius Rufus verfolgt. 6-8 Prozeß gegen Titus Labienus, Verbrennung seiner rhetorischen und historischen Werke. 8 lex Iulia maiestatis. Vertreibung Ovids aus Rom. 9 lex Papia Poppaea. 8-12 Prozeß und Verbannung des Cassius Severus, Redners und Publizisten. 11 Einschreiten gegen Astrologen und Magier: Verbot der Weissagung ohne Zeugen und über den Tod von Dritten. 12 Verbrennung von Pamphleten.

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undatiert: Augustus mit seiner »immerwährenden Leitung von Sitten und Gesetzen« empfiehlt durch Edikt moralisch nützliche Bücher und rezitiert eine Rede des Q. Caecilius Metellus Macedonicus (188-115) de prole augenda («über die Mehrung der Nachkommenschaft«) und des Rutilius de modo aedificiorum («über das Maßhalten beim Bauen«). Imperator Tiberius Caesar Augustus (14-37 n.Chr.) Jahr nach Chr.: 15 Wiedereinführung der lex maiestatis. Pompeius Macer geht als Praetor gegen anonyme Gedichte auf Tiberius vor. Einschränkung der licentia theatri. 16 Zweijährige Beobachtung des Libo Drusus, der von Astrologen beraten wird. Die Astrologen (und Magier?) L. Pituanius und P. Marcius werden hingerichtet, die anderen mathematici et magi aus Italien vertrieben. 17 Majestätsprozeß gegen Appuleia Varilla wegen Schmähung des Kaiserhauses. 19 Repressalien gegen Anhänger der ägyptischen und der jüdischen Religion. 20 Der Name Piso soll aus den Fasten entfernt werden, der Sohn des Cn. Piso soll seinen Namen ändern. 21 Clutorius Priscus, der vorzeitig ein Gedicht auf den Tod des Drusus (gest. 23) macht, wird hingerichtet. 23 Aelius Saturninus, der unwürdige Verse auf Tiberius dichtete, wird vom Capitol gestürzt. Vertreibung von Bühnenkünstlern aus Italien. 24/25 C. Cominius, der unwürdige Verse auf Tiberius schrieb, wird nicht getötet; zweite Verbannung des Cassius Severus. – Sieben Reden des Mamercus Aemilius Scaurus verbrannt (oder i.J. 32?). 25 Prozeß gegen den Historiker Cremutius Cordus und seine Bücher. Prozeß gegen Votienus Montanus wegen Beleidigung des Tiberius. Beobachtung des Titius Sabinus. 33 Drusus, Sohn des Germanicus, wird nach langjähriger intensiver Beobachtung getötet; Tiberius läßt die über ihn gesammelten Erkenntnisse verlesen.

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Viele der hier aufgeführten Fälle sind bei P. Cornelius Tacitus (geb. ca. 55/56 n.Chr.) überliefert. Der Historiker des frühen Prinzipats schreibt auch eine Geschichte des ›Überwachens und Strafens‹. Die Daten über die Organisation der Polizei in Rom, über Razzien, Schauprozesse, Säuberungsmaßnahmen gegen Literaten, Unbotmäßige oder andere Unzeitgemäße bestätigen das Geschichtsbild eines Senators, der die ›freie‹ Republik (libera res publica) noch nicht vergessen hat. Zensur ist im 1. Jh. n.Chr. nicht Panne, sondern notwendige Bedingung für einen Prozeß der Zentralisation der Macht. Sie verändert die Lebens- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Zeitgenossen; sie erzeugt neue Sprachformen und Sprachlosigkeit. Die ›Tiefe‹ taciteischer Texte ist das Ergebnis politischer Erfahrung und, vielleicht, der Versuch, diese Erfahrung über die Zensur hinwegzuretten.

§5 Z USAMMENFASSUNG §5.1 Der Ursprung des engen, defensiven Begriffs von Toleranz, tolerantia im Sinne von ›Dulden‹, liegt in der antiken Philosophie, speziell in der stoischen Ethik. Die griechische und römische Kultur liefert aber auch reiches Material für das ›Kulturthema Toleranz (und Intoleranz)‹. Einige Grundbegriffe (z.B. ›Freiheit‹ und ›Person‹), paradigmatische Verfahren (z.B. wissenschaftliche Völkerkunde) und stilbildende Sachverhalte (z.B. ›Zensur‹; Formen der Universalisierung; juristische Fassung der ›Religionsfreiheit‹) sind damals geschaffen worden. In vielfacher Kontinuität, in Brechungen und Renaissancen haben die europäische Philosophie und Religionsgeschichte, das Recht und die Ethnologie diese Traditionen verarbeitet. §5.2 Die griechischen Begriffe ›Historie, Theorie, Empeirie‹ beschreiben ein wissenschaftliches Verhältnis zu fremden Ländern, fremden Menschen, fremder Geschichte und Kultur. Durch ›Historie‹ (historia [ἱστορία]) weiß ich, was Herodot wirklich ›gesehen‹ (videre) hat, welche ›Erfahrung‹ er auf seinen Reisen gemacht hat, was wirklich ›erlebt‹ ist, was ausprobiert und bewährt. Die Erzählung dieser ›Erfahrungen‹ distanziert, verallgemeinert, ermöglicht ›Betrachtung‹ und Theorie. Beobachten ohne Angst, Bewundern ohne Neid, Lernen ohne Ressentiment, Urteilen mit Kritik und Sympathie – dies sind Grundeinstellungen herodoteischer Geschichtsschreibung. Sie wurden, unter

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vielen Modifikationen und auf unterschiedlichem Niveau, die ganze Antike hindurch praktiziert. Auffällig bleibt, daß die Geschichtsschreibung der Christianer in der Antike diese Tradition nicht von den besonderen Voraussetzungen ihres Glaubens her fortentwickelt hat. §5.3 Paradigmatisch ist die antike Geschichte auch, was die Techniken von Intoleranz angeht. Einerseits schreibt der römische Jurist Ulpian (gest. ca. 223):36 cogitationis poenam nemo patitur – »Strafe für Gedanken erleidet niemand«. Andererseits entzieht Diocletian den Christianern Rechtsschutz, Freiheit, ja sogar die »Stimme«.37 Die Geschichten des Tacitus bieten beklemmende Studien zu Überwachung und Zensur. Die antiken Verfolgungen, ihre administrative und juristische Formierung im Codex Iustiniani (6. Jh. n.Chr.) und ihre theologische Begründung etwa bei Augustin sind nicht ohne Einfluß auf die nachantiken Zeiten geblieben. Daneben und dagegen aber behaupteten sich immer eine Vielzahl freiheitlicher, republikanischer Traditionen, Toleranz und großzügige Gelassenheit auch im bitteren Streit der verschiedenen Christentümer. Dafür möge – zum Beschluß – eine diskussionswürdige Geschichte aus merowingischer Zeit stehen.38 Agila, Gesandter des in Spanien residierenden Westgotenkönigs Leuvigild, besucht auf seiner Reise zu dem Frankenkönig Chilperich I. (561-584) Gregor von Tours (ca. 540-594). Es kommt zum Disput zwischen dem Goten, der einer arianischen Form des Christentums anhängt, und dem römisch-katholischen Bischof von Tours (seit 573). Agila verwahrt sich gegen Gregors Ausfälle:39

36 Ulpian, 3. Buch zum praetorischen Edikt, in: Digesta 48,19,18. 37 Diocletian, bei Lactanz, de mortibus persecutorum 13,1. 38 Überliefert durch Gregor von Tours in seiner Geschichte der Franken, Buch V, cap.43. Ausgabe: Scriptores Rerum Merovingicarum, hg.v. W. Arndt und Br. Krusch. I, Hannover 1884, S.236, 5-8. Lateinisch-deutsche Ausgabe: Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, hg. v. R. Buchner, Darmstadt 41955 = 1970, hier Bd. I, S. 362/363. 39 Legem, quam non colis blasphemare noli: nos vero quae creditis etsi non credimus non tamen blasphemamus; quia non deputatur crimine, si et illa et illa colantur. Sic enim vulgato sermone dicimus, non esse noxium, si inter gentilium aras et Dei ecclesiam quis transiens utraque veneritur. –

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»Eine Religion, die du nicht verehrst, wolle nicht schmähen! Wir aber schmähen, was ihr glaubt, auch wenn wir es nicht glauben, trotzdem nicht; es wird nämlich nicht zum Verbrechen angerechnet, wenn das eine und das andere verehrt wird. So sagen wir nämlich mit einer volkstümlichen Wendung: ›es ist nicht kriminell, wenn jemand, der zwischen den Altären der (nichtchristlichen) Völker und der Kirche Gottes hindurchgeht, beiden Verehrung erweist‹«.

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Diese Ansicht kommentiert Gregor mit wilden Beschimpfungen. Text nach Buchner.

M ORALISCHE TOLERANTIA | 173

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Freiheit und Menschenwürde im ethischen und politischen Diskurs der Antike

1

U RSPRUNG

UND

D EUTUNGSANSPRUCH

1.1 Ursprung Die Vorstellungen von Freiheit und Menschenwürde, wie sie in der Neuzeit entwickelt wurden, haben ihren Ursprung in der griechischrömischen Antike, in der alten Kultur jener beiden Länder, deren Botschaften sinnvoller Weise neben dem Haus der Friedrich-EbertStiftung stehen, den Botschaften von Hellas (im Bau) und Italien (erbaut 1938-1943). Die antike Freiheit entsteht, erstens, mit der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde, mit der Autonomie und Autarkie der Polis in der archaischen Epoche von Hellas (8.-6. Jh. v.Chr.). Die Symbolorte dieser äußeren und inneren Freiheit des männlichen, wehrfähigen, besitzenden Bürgers (Politen) sind Athen und Marathon. Das kollektive Gedächtnis aller europäischen Länder verbindet mit diesen Orten die Konstruktion von Demokratie als Staatsform mit ihren auch militärisch durchaus furchterregenden neuen Energien. Die antike Freiheit entsteht, zweitens, in dem scharfen, bis tief in die Neuzeit ungelösten Konflikt zwischen erzwungener, unfreier Arbeit (Sklaverei, Hörigkeit, Leibeigenschaft u. ä.) und der Einsicht in die Gleichheit und persönliche Freiheit der Menschen »von Natur aus«

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(griech. physei, lat. natura) oder, wie die Neuzeit sagt: »by nature equally free and independent«.1 Die antike Freiheit entsteht, drittens, in der Ethik, und zwar aus der Übertragung der Freiheit des Staates (Polis) und des Bürgers (Politen, civis) auf die Person, den einzelnen Menschen. Das Individuum wird autonom gedacht, autark wie der ideale Staat, frei und selbstbestimmt. Aus dieser grundsätzlichen Freiheit jeder ethischen Handlung und aus der inneren Freiheit der Demokratie wird später die Freiheit der religiösen Handlung abgeleitet: libertas religionis als ius humanum – Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Und schließlich: Das Wort und ein Begriff von Menschenwürde ist im 2./1. Jh. v.Chr. gebildet worden in der stoischen Anthropologie und Moral. Die wichtigsten Aspekte dieser Vorstellung sind: die Herrschaft der Vernunft; ein scharfer Gegensatz zu dem angeblich vernunft- und sprachlosen Tier; die Individualität, Selbstbestimmung und Geschichtlichkeit der Person. 1.2 Deutungsanspruch Soviel, zunächst, zum Ursprung der neuzeitlichen Vorstellungen von Freiheit und Menschenwürde. Die Freilegung dieser Ursprünge ist nicht antiquarischer Kleinkram, Müßiggang der Historiker. Der Nachweis von Herkunft, Abstammung, Ursprung verleiht Rechte und Pflichten, Ansprüche auf Erbe und Teilhabe. Die Behauptung der Urheberschaft impliziert den Anspruch auf Deutung und Nutzung des symbolischen Kapitals einer Gesellschaft. Wer behauptet, »alle prägnanten politischen Begriffe der modernen Staatslehre« seien »saekularisierte theologische Begriffe«, sie seien »aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen«, verlagert die Begründung dieser Begriffe und den Deutungsanspruch auf Religion und Theologen.2 Für die Antike allerdings trifft die zitierte Behauptung von Carl Schmitt (1888-1985) nicht zu. Die Begriffe Freiheit (eleuthería; libertas, emancipatio), Menschenwürde (dignitas hominis), Demokratie (demokratía), Republik, ja selbst Politik, Monarchie und Diktatur sind

1

Virginia Bill of Rights (1776).

2

C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922, 21934), Berlin 31979, S. 49.

F REIHEIT

UND

M ENSCHENWÜRDE IM D ISKURS DER ANTIKE | 177

gewiß prägnante politische Begriffe, aber keineswegs sind sie aus Religion oder Theologie »übertragen«, geschweige denn durch einen Vorgang von »Verweltlichung« oder »Saekularisation«. Es sind vielmehr Begriffe der politischen Erfahrung und Theorie, in öffentlicher Rede und Geschichtsschreibung verbreitet, durch philosophische Reflexion, durch politologische und rechtsgeschichtliche Arbeit vertieft.3 Weder in den geschichtlichen Vorgängen selbst – bei der Entstehung der Polis, der Demokratie, der ›Entfaltung der Persönlichkeit‹ in einem freien Staat – noch im Bewußtsein der Griechen und Römer ist irgendwo das Verlaufmodell oder die Denkfigur ›Saekularisation‹ vorhanden. Dementsprechend ist aber auch die Rezeption der antiken Politik und Ethik in die Neuzeit kein Akt von Entheiligung oder Verweltlichung, sondern die Nutzung oder Wiedergewinnung antiker Substanz durch humanistische Arbeit und Tradition.

2

F REIHEIT

UND

G LEICHHEIT

2.1 Demokratie in Athen 2.1.1 Der wichtige und prägnante Begriff ›Freiheit‹ ist in der klassischen Antike nie ein religiöser oder theologischer Begriff. Er wird benutzt von den politischen Denkern der Antike, den Philosophen, Geschichtsschreibern, Rednern und Dichtern, um die »Einrichtung der Demokratie« zu erklären: »Erstens nun sind sie (in der Demokratie) frei«, schreibt Platon, »und der Staat ist voll von Freiheit und es gibt offene Rede und die Möglichkeit in ihr, zu tun, was einer will«. Keineswegs sieht Platon in dieser freiheitlichen Einrichtung seinen Idealstaat. Vielmehr betont er die Gewalt und den wirtschaftlichen Zwang, welche die Einrichtung von Demokratie begründen:4 »Demokratie entsteht, wenn die Armen (die besitzlosen Bürger) gesiegt haben und dann von der anderen Partei (den Reichen) die einen töten, die anderen

3

Einige Namen: (a) Solon, Perikles, Demosthenes, Isokrates; (b) Herodot, Thukydides, Polybios; (c) Platon, Zenon, Cicero; (d) Aristoteles: »Politik« und »Verfassung von Athen«.

4

Platon, Staat 8, 557a. Platon war kein Armer.

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hinauswerfen (aus der Polis), den übrigen aber gemäß dem Prinzip der Gleichheit (ex ísou) Anteil geben am Staate und den Ämtern.«

Auch Aristoteles verbindet die Freiheit in der Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip und politischer Gleichheit bei ökonomischer Ungleichheit:5 »Wodurch sich die Demokratie und die Oligarchie voneinander unterscheiden, ist Armut und Reichtum«; wo die Besitzlosen herrschen, ist Demokratie; es sei falsch zu behaupten, die Bürger seien gleich, wenn sie frei seien; denn außer der Freiheit ist der Besitz im politischen Leben entscheidend, und da sind sie, auch wenn frei, doch ungleich. Die antiken Demokratien versuchten, die Freiheit des Bürgers gegenüber der Ungleichheit der Vermögen zu bewahren durch Begrenzung und Teilung der Macht: Amtsdauer ein Jahr, Einschränkung der Wiederwahl; Verbot der Ämterhäufung, Kollegialität, Losverfahren, Rechenschaftspflicht. Dennoch:6 »Selbst die glänzendste aller Demokratien, die von Athen, hat es erfahren müssen, daß die Freiheitsliebe der wirtschaftlich Stärkeren, der Besitzenden und Gebildeten, und der Gleichheitsdurst der niederen Massen auf die Dauer nicht zusammengehen können, weil eben die Freiheit stets die Tendenz in sich trägt, zur Herrschaft der Stärkeren über die Schwachen, die Gleichheit aber die, zur Freiheitsbeschränkung der Stärkeren zu entarten, weil Freiheit und Gleichheit – extrem gefaßt – sich gegenseitig ausschließen«.

Es sind diese realen Dilemmata, diese Erfahrungen mit dem Experiment Demokratie, diese widersprüchlichen und parteilichen Folgerungen, die Dichter, Redner, Historiker und Philosophen aus diesen Erfahrungen zogen, in denen der politische Freiheitsbegriff im 6.-4. Jh. v.Chr. ausgebildet wurde. Weder dieser Freiheitsbegriff noch die durchaus prägnanten und wichtigen politischen Begriffe, die ihn begründen und konkretisieren, sind theologische Begriffe, auch nicht ehemalige, verweltlichte theologische Begriffe.

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Aristoteles, Politik 3, 1279b; 1280 a; 5, 1310a. R. Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart, München 1895, S. 249 (in Kapitel VII: »Die Entstehung des Caesarismus«).

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2.1.2 Ein demokratisch eingerichteter Staat, so hatte Platon gesagt, »ist voll von Freiheit und es gibt offene Rede und die Möglichkeit in ihr, zu tun, was einer will«. In Platons Wortwahl klingt es nach Anarchie und Libertinage. Die Freiheit befördert die Entfaltung individueller Lebensformen; Platon schreibt: »Ein jeder könnte sich seine eigene (idían) Einrichtung des Lebens einrichten, welche einem jeden paßt«.

Deshalb gibt es vielerlei Lebensentwürfe; der Staat wird bunt, sagt Platon, wie ein schönes Gewand, wie mit allen Blumen geschmückt. Auch dies ist ein zwiespältiges Lob. Aber die Vielfalt der Lebensformen und die enorme Energie der Gleichen und Freien wird von allen Beobachtern der Demokratie in Athen berichtet. Nach der »Befreiung« von den Tyrannen, schreibt Herodot, »wuchsen die Athener. Es ist offenbar, daß Gleichheit (isegoría) nicht in einer Hinsicht allein, sondern überhaupt eine starke Sache ist«.7 Athen überflügelt jetzt die anderen griechischen Staaten, weil jeder Einzelne nicht mehr für einen Despoten, sondern »für sich selbst« arbeitet (hékastos heautó). Politische Freiheit und Gleichheit stimulieren Individualismus und Leistung in Wirtschaft, Bildung, Militärwesen. Die Geschichte Athens lehrt, daß dieser politische und kulturelle Fortschritt zugleich auch Ungleichheit und extreme Unfreiheit erzeugt. Die ausführlichste und genauste Untersuchung dieser widersprüchlichen Entwicklung hat in der Antike der Flottenkommandeur und Historiker Thukydides geschrieben.8 Athen ist ihm ein »Paradigma« (2,37,1): Ein immer freies Land, nie von Einwanderern besetzt, hat es jetzt ein Imperium und die völlige Autarkie erreicht (2,36,1-3: pólis autarkestáte). Der Name seiner Verfassung wird ›Demokratie‹ genannt, weil die Mehrheit bestimmt; gemäß den Gesetzen gilt in seinen eigenen Angelegenheiten jeder das Gleiche; frei ist das öffentliche Leben der Bürger, frei auch das alltägliche Leben; jeder kann nach seinem eigenen Geschmack leben. Der Einzelne findet bei uns, in Athen, die meisten Formen des Lebens (2,41,1). Die freie Entfaltung des Ein-

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Herodot, Historien 5,78 (zu den Reformen des Kleisthenes, 508/07 v.Chr.). Thukydides, Historien 2,35-46: Leichenrede auf die Gefallenen des Jahres 431 v.Chr.; wohl gegen Ende des 5. Jh. redigiert.

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zelnen in einem autarken Staat ist ein Grund, so Thukydides, für die Macht Athens im Jahre 431 v.Chr. Dieser »Lobes-Hymnus« auf die Stadt Athen entwirft, den Gesetzen der Gattung ›Städte-Lob‹ entsprechend, ein idealisierendes Muster, ein Paradigma. Er benutzt dabei die politischen Theorien seiner Zeit, auch die umstrittene Lehre vom Recht des Stärkeren, jedoch keinerlei theologische Begriffe. Das hohe Lob athenischer Demokratie und Freiheit, kultureller Leistung und Imperialismus bleibt bei einem sorgfältigen Historiker wie Thukydides nicht ohne Korrektiv. Durch Situation und Kontext erhält das Lob Athens Schatten und Profil. Das Lob ertönt im ersten Jahr eines dreißigjährigen Krieges, der mit der Niederlage der gepriesenen Stadt endet; das Städtelob ist Teil einer Leichenrede auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahres; schließlich, sozusagen als Gegenstück, stellt Thukydides unmittelbar anschließend an das Städte- und Totenlob den Bericht vom Ausbruch der Pest und ihre detaillierte medizinische Beschreibung. Soviel zu der ersten Wurzel antiker Freiheit in der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde und deren Ausformung als Demokratie im Athen der klassischen Zeit (6.-4. Jh. v.Chr.). 2.2 Freiheit mit Sklaverei Die äußere und innere Freiheit des Bürgers einer »völlig autarken Stadt« wie Athen und die rechtliche und politische Gleichberechtigung ihrer Bürger stehen in einem scharfen, selten eingestandenen, niemals gelösten Widerspruch zu der von diesen freien und gleichen Bürgern praktizierten Sklaverei. Die politische Entwicklung der Demokratie konnte die Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich nicht auffangen. Was hatte der Besitzlose (áporos, pénes, thétes) von Gleichheit, Freiheit und klassischen Leichenreden bei Thukydides? Gleichzeitig mit den demokratischen Reformen in Athen durch Solon und Kleisthenes bildet sich um 600 v.Chr. in den griechischen Ländern ein immer wachsender Sklavenmarkt.9 Die Sklaven werden eingesetzt in den Bergwerken Athens, für Feldarbeit, Handwerk, Dienstleistung. Sie waren käufliche Ware, keine Personen, ohne Namen, ohne Familie: ein zweifüßiges, sprechendes Werkzeug. Das Ver-

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M.I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, New York 1980.

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hältnis von Freien zu Sklaven wird für Athen im 5./4. Jh. v.Chr. auf eins zu vier geschätzt.10 Wie unsicher diese Zahlen sind, zeigt ein Vorschlag des athenischen Redners und Politikers Hypereides im Jahre 338 v.Chr.11 Nach einer schweren Niederlage durch die Makedonen schlägt er vor, 150.000 Sklaven aus Landwirtschaft und Bergbau freizulassen und in die Armee zu übernehmen. Derartige Freilassungen im Katastrophenfall sind in der Antike und später in den amerikanischen Bürgerkriegen des öfteren vorgenommen worden.12 Athen hatte zu jenem Zeitpunkt etwa 20.000 Vollbürger. Die genannte Anzahl von 150.000 bezieht sich auf junge, wehrfähige Männer; die absolute Zahl der Sklaven in Attika müßte, wenn Kinder, Frauen, wehruntüchtige Männer (aus Handwerk und Dienstleistung) hinzugerechnet werden, erheblich höher liegen. Dementsprechend wäre das Verhältnis von Freien zu Sklaven nicht 1:4, sondern 1:10. Sklaverei war in Athen alltäglich. Versklavung konnte jeden treffen, nicht nur die Barbaren jenseits der eigenen Grenzen: Schuldner, Kriegsgefangene wurden versklavt, Menschenraub versorgte zusätzlich den Markt. Sogar Philosophen waren betroffen: Platon, Diogenes, Epiktet. Aber die Institution war so gefestigt, so notwendig, daß sie für »natürlich« gehalten wurde. Platon und Aristoteles unterscheiden zwischen Menschen, die »von Natur aus« frei oder unfrei sind. Das hilft wenig dazu, Sklaverei als ein strukturelles Gewaltverhältnis in einer prinzipiell freien Gesellschaft verständlich zu machen. Aber auch die Philosophen, die in der Tradition von Stoa und Kynismos »Über Freiheit und Sklaverei« gelehrt haben, bleiben utopisch oder allgemein:13

10 L. Canfora, Kleine Geschichte der Demokratie, Köln 2007, S. 36; 52. 11 Hypereides, Rede gegen Aristogeiton, frg. 27 Blass-Jensen (= frg. 18 Kenyon = J. O. Burrit, Minor Attic Orators II, 1954, S. 574f. [Loeb Classical Library]); das Fragment ist überliefert in der Suda 1,1 S. 562,19: »150.000 Sklaven aus den Silberbergwerken und die über das andere Land hin«, außerdem Staatsschuldner, Metoeken u. a. – Der Vorschlag des Hypereides wurde nicht angenommen. 12 John Hope Francklin/Alfred A. Moss, Jr., Von der Sklaverei zur Freiheit (1947), dt. Berlin 1999, S. 122ff.; 285ff. 13 Antisthenes (ca. 446-336), Über Freiheit und Sklaverei (bei Diogenes Laertios 6,16); stoische Lehre (Zeno) bei Diogenes Laertios 7,121f.; Epiktet, Über Freiheit (Diatriben IV 1, S. 355-389 Schenkl); Dio Chrysostomos

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Die Menschen sind von Natur aus gleich, mit Vernunft und Freiheit begabt14 – immerhin ein Satz, der in das römische Recht gelangte und, in der juristischen Tradition vermittelt, in die Freiheitserklärungen des 18. Jahrhunderts. Aber die alten Philosophen und Rechtsgelehrten haben die Unveräußerlichkeit dieser Rechte nicht argumentiert, also etwa die Nichtigkeit eines jeden Vertrags über Menschenhandel bewiesen. Sie haben vielmehr die historische Entwicklung, Krieg und Kriegsgefangenschaft als legitimen Grund für die Durchbrechung des Naturrechts zugelassen.15 Sie haben die gesellschaftliche Unfreiheit verinnerlicht mit der Behauptung, ein Sklave könne innerlich frei sein, ein Freier aber Sklave seiner Begierden. Es gab in der Antike Aufstände von Sklaven, ja Sklavenkriege. Manche antiken Historiker zeigen Verständnis für ›berechtigte Gründe‹ der Sklaven. Eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei jedoch, begründet mit den Dogmen des Naturrechts und dem Freiheitspathos der großen Redner, gibt es in der Antike nicht, auch nicht im antiken Christentum: keinen Abolitionismus, keine philosophischen oder religiösen Aktivitäten zur Abschaffung der Sklaverei.16 Es blieb in der Antike bei dem Konflikt zwischen der Notwendigkeit von unfreier Arbeit und der resignierten Einsicht von Philosophen und Philanthropen: Sklaverei sei ein Unrecht, müsse aber hingenommen werden.

(ca. 40-120 n.Chr.), or. 14: Über Sklaverei und Freiheit I; or. 15: Über Sklaverei und Freiheit II; or. 80: Über Freiheit. 14 Corpus Iuris Civilis, Institutiones 1,2 (Naturrecht und Freiheit): iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur. Durch Kriege und Gefangenschaft wurde dieses Recht allgemein gebrochen. 15 Institutiones 1,2: [...] bella enim orta sunt et captivitates secutae et servitutes, quae sunt iuri naturali contrariae. 16 Einen ausdrücklichen Protest gegen Menschenhandel mit stoischen und christlichen Argumenten führt Gregor von Nyssa, in Ecclesiasten (homilia 4,1; ca. 370). – Ich danke Egon Flaig für den Hinweis auf diesen Text.

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3.1 Der früheste Beleg für »Menschenwürde« Der antike Begriff von Freiheit entsteht, erstens, mit der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde, ihrer äußeren und inneren Autonomie und Autarkie. Dieser Begriff wird, zweitens, verengt und geschärft durch die Diskussion um den teilweisen Ausschluß der weiblichen Bürger und die akzeptierte Notwendigkeit unfreier Arbeit. Zum antiken Begriff von Freiheit gehört, drittens, die Freiheit der Person, des Einzelnen, der in bestimmten Grenzen selbst entscheidet; der lebt, »wie er will«; der deshalb jede Handlung verantworten muß. Die antiken Worte eleútheros und liber behalten auch in der Ethik ihre politisch-soziale Grundbedeutung. Nach antiker Vorstellung ist jeder Mensch ein einzelnes und ein gesellschaftliches Lebewesen, es ist immer zugleich »allgemein« und »besonders« (politikón/ídion; commune/proprium). Als Einzelner ist oder wird der Mensch autark: er wird ein Selbst, das seine Einheit und Identität nach außen abgrenzt und behauptet (›Selbstbewahrung‹ – conservatio sui).17 Die Autarkie des Individuums bedeutet Handlungsfreiheit und Wahlfreiheit, Freiheit von äußerem Zwang und positiv: Freiheit zur Wahl eines Besseren. Der politische Begriff ›Autarkie‹ wird also benutzt, um den individualethischen Begriff der Freiheit zu entfalten. Ebenso werden die politischen Begriffe ›souverän‹ und ›autonom‹ eingesetzt. »Freiheit«, definiert Epiktet, »ist etwas Selbstbestimmtes und Eigengesetzliches«,18 oder: »das Vermögen zur Selbsttätigkeit«.19 Die Freiheit ist ein wesentliches Element in jeder ethischen Handlung und in der Person des Handelnden.20 Jede Person läßt sich, nach stoischer Lehre, als eine Schichtung von Masken (personae) verstehen. Die Natur, so heißt es, hat uns vier verschiedene Rollen angepaßt: als

17 Vgl. H. Cancik, »Persona and Self in Stoic Philosophy«. (In diesem Band). 18 Epiktet, Diatriben 4,1,56: he eleuthería autexoúsion ti kai autónomon. 19 Stoische Lehre über den vollkommenen Menschen, den »Weisen« (sophós) bei Diogenes Laertios 7,121; hier auch zu dem stoischen Paradox, daß nur der ›Gute‹ frei, alle Schlechten aber Sklaven seien. 20 Cicero, de officiis 1,30, 106-107; 1,32,115.

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erstes eine allgemeine, gemeinsame Maske, die alle Menschen von den Tieren unterscheidet, das ist die Vernunft. Die zweite Maske zeigt die jeweilige Besonderheit, die Proprietät des Einzelnen. Die dritte Maske, die Natura in diesem Welttheater den Menschen aufsetzt, ist ihre Geschichtlichkeit, ihre Abhängigkeit von Zeit und Umständen und Zufall. Die letzte Modellierung leistet das Individuum selbst durch seinen freien Willen und sein eigenes Urteil. Die erste der vier Masken, die allen Menschen gemeinsam ist (communis), die Vernunft, begründet den Vorrang der menschlichen Natur und ihre »Würde«, ihre Herrschaft über das Tier und alle unvernünftigen Triebe im Menschen. Der Begriff ›Menschenwürde‹ ist gebildet in der stoischen Anthropologie, Trieblehre und Moral. Er ist nicht »übertragen« aus einem religiösen oder juristischen Zusammenhang. Diese Stelle in Ciceros Schrift »Über das Handeln gemäß der Natur« ist der früheste Beleg für den Begriff ›Menschenwürde‹;21 die Schrift ist publiziert im Jahr von Caesars Ermordung (44 v.Chr.). Der früheste Beleg für ›Menschenwürde‹ in deutscher Sprache findet sich dementsprechend in der ersten Übersetzung von Ciceros Schrift ins Deutsche. Die erste, die ich kenne, stammt von Johann Neuber, Augsburg 1488: »die ubertreflicheyt und wyrde menschlicher natur«. Der Begriff ›Menschenwürde‹ ist also nicht etwa ein »saekularisierter theologischer Begriff«, sondern eine Errungenschaft antiker Philosophie und humanistischer Tradition. 3.2 Freiheit der Religion als Menschenrecht 3.2.1 Aus der Freiheit der ethischen Handlung und aus der inneren Freiheit der Demokratie leiten sich die antiken Versuche her, Religionsfreiheit zu denken und rechtlich und staatlich zu garantieren. Das erste Auftreten der Fügung libertas religionis – »Religionsfreiheit« läßt sich gut datieren, in die Jahre um 200 n.Chr. In dieser Zeit schreibt Tertullian von Karthago, ein sprachgewaltiger, philosophisch und juristisch gebildeter Laienchrist, zwei Verteidigungsschriften an die kommunale und provinziale Obrigkeit von Karthago und Africa. Er verwendet gut bekannte Ausdrücke der stoischen Ethik,

21 Cicero, de officiis 1,30,106; der ciceronischen Formel dürfte eine griechische Fassung zugrunde liegen.

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Anthropologie, Rechtsphilosophie und konstruiert daraus das Postulat der Freiheit der Religion und das Ende der Verfolgung der Christianer. Nach der stoischen Lehre von den moralischen Handlungen erzeugt ein Impuls durch die Sinne eine Vorstellung; diese wird vom Verstand geprüft; der Wille (voluntas/boúlesis) und ein besonderer Akt der Zustimmung (assensio/synkatáthesis) erzeugen schließlich einen vernünftigen Handlungsimpuls (hormé logiké) und, durch Aktivierung von Seele und Gliedern, die Handlung (actio/práxis) selbst. Tertullian überträgt dieses Schema auf die religiöse Handlung. Er betont die intellektuellen und volitiven Elemente:22 »Wir aber verehren den einen Gott, den ihr alle natürlicher Weise (er)kennt [...] Dennoch ist es Menschenrecht und natürliche Fähigkeit für jeden Einzelnen zu verehren, was er eingesehen hat«. »[...] (Hütet euch), wegzunehmen die Freiheit der Religion und zu untersagen die (freie) Wahl der Gottheit, so daß mir nicht erlaubt ist zu verehren, wen ich will, sondern ich gezwungen werde zu verehren, den ich nicht will«.

Eine moralisch richtige Handlung (actio recta) ist ohne Vernunft und freien Willen nicht möglich, ebenso wenig eine religiöse Handlung. Der Begriff libertas religionis ist also, wie es scheint, aus der grundsätzlichen Freiheit der ethischen práxis/ actio entwickelt worden, und zwar, wie es scheint, zuerst von Tertullian. In der – weitgehend verlorenen – griechischen Fassung des Apologeticum dürfte hier eleuthería tes threskeías gestanden haben. Das wäre unser frühester Beleg für ›Religionsfreiheit‹ in der griechischen Sprache. Tertullian nutzt in dem offenen Brief an den Proconsul Scapula einen weiteren Grundbegriff der stoischen Philosophie: physis/natura. Die Regelhaftigkeit und Schönheit der Natur ermöglicht jedem Menschen die Erkenntnis der Gottheit aus ihren Werken »von Natur aus«: naturaliter nostis. Die Natur selbst gibt, vor Gesetz und spezieller Offenbarung, allen und jedem Menschen eine natürliche Gotteserkenntnis, eine natürliche Sittlichkeit und damit eine ›natürliche Religion‹ (omnes ... nostis). Die Menschen haben hierfür eine natürliche Veran-

22 a) Tertullian, An Scapula 2: Nos autem Deum colimus quem omnes naturaliter nostis [...]. Tamen humani iuris et naturalis potestatis est unicuique quod putaverit colere. b) Apologeticum 24,5-6: libertas religionis; optio divinitatis; colere quem velim – cogar colere quem nolim.

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lagung (naturalis potestas) und ein naturgegebenes Recht, diese Möglichkeit zu verwirklichen. Freie Religionsausübung, sagt Tertullian, ist ein Menschenrecht: humani iuris est. Dieses Recht ist allen und jedem einzelnen Menschen gegeben (unicuique). Es ist also ein allgemeines und subjektives Menschenrecht auf das Tertullian sich hier beruft, gegen die »Vorsteher des römischen Reiches« und gegen den Proconsul Scapula Tertullus: Menschenrecht und Religionsfreiheit stehen gegen staatliche Repression. 3.2.2 Der zweite Ansatz, Religionsfreiheit in der Antike zu denken und zu praktizieren, datiert in die Jahre 311/313 n.Chr. Die Kaiser Galerius, Licinius und Constantin erlassen Toleranz-Edikte, um die Auseinandersetzungen zwischen Christianern auf der einen, Römern, Hellenen und den staatlichen Stellen auf der anderen Seite zu beenden. Licinius schreibt:23 »(wir haben beschlossen), daß wir sowohl den Christianern als auch allen (anderen) die Verfügungsgewalt geben, der Religion zu folgen, die ein jeder will [...] (damit du weißt), daß wir freie und vollständige Fähigkeit den Christianern gegeben haben, ihre Religion zu pflegen [...] Auch den anderen ist in ähnlicher Weise die Möglichkeit, ihre Religion und Observanz auszuüben, offen und frei, sodaß jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat«.

Die Kaiser gewähren nicht Toleranz, sondern Religionsfreiheit: libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset. Die Wahlfreiheit hat nicht eine ethnische, politische, religiöse Gruppe, sondern jeder Einzelne – so ist es ius humanum und Wesen der Religion. Und »alle« (omnes) sollen diese Freiheit haben, nicht nur die Christianer. Ein Leitmotiv in diesen Dokumenten ist die ›Toleranzformel‹: »wie ein Jeder es will«, »was einer sich erwählt« hat, griechisch: kathós hékastos boúletai; lateinisch: religio quam quisque voluisset; in colendo quod quisque delegerit; colere quem velim, u.ä. Die Elemente dieser Formel – »Freiheit«, »freie Wahl des Einzelnen«, »freier Wille« – sind Topoi der verfassungsrechtlichen Sprache seit Platon und beschreiben im besonderen die Grundlage von Demo-

23 Brief (litterae) des Licinius bei Lactanz, de mortibus persecutorum 48; griechische Fassung bei Eusebius, Kirchengeschichte 10,5.

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kratie. In dieser Verfassung hat jeder »die Möglichkeit zu tun, was er will«, er bestimmt selbst »die eigene (besondere) Einrichtung seines Lebens«, es gibt »Redefreiheit«.24 Dementsprechend artikuliert die Toleranzformel einen Individualismus der freien Religionsausübung. Das spätantike imperium Romanum vermochte also – jedenfalls zeitweise – pluralistische und monotheistische Religionen im Rahmen einer lose strukturierten Reichsreligion zu organisieren. Die ›Erklärung der Religionsfreiheit‹ für »alle« in dem Reskript von 313 zeigt eine reale Möglichkeit antiker Religionsgeschichte. Die beiden antiken Versuche, Toleranz und Religionsfreiheit zu konzipieren und zu praktizieren, beruhen auf der stoischen Ethik und der hellenischen Politologie. Beide Versuche sind damals gescheitert. Aber sie lieferten ein Muster, an dem sich die Neuzeit, in den konfessionellen Wirren des 16. Jahrhunderts, orientieren konnte.

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E RGEBNISSE

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F OLGERUNGEN

In der hellenischen und römischen Kultur wurden die Begriffe von politischer und personaler Freiheit erdacht, formuliert, ausprobiert, ebenso die von Gleichheit, Autarkie, Autonomie, Menschenwürde und Religionsfreiheit, Naturrecht und Menschenrecht. Der Ursprung dieser Begriffe ist die Praxis einiger weniger griechischer Kleinstaaten und die ethische und politische Theorie von Sophisten und Philosophen, Gelehrten und Juristen. Keiner dieser Begriffe stammt aus der religiösen oder theologischen Sprache. Zwar waren ihre Schöpfer und Benutzer brave Pantheisten, Deisten, Polytheisten und loyale Teilnehmer an der jeweiligen Staatsreligion und Kaiserverehrung; sie waren aber keineswegs in einem mystisch-magisch-symbolischen Pansakralismus befangen, der sie zu »saekularisierten theologischen Begriffen« gezwungen hätte. Die genannten Begriffe sind religionsfrei konstituiert. Gerade deshalb konnten sie für die europäische Nachantike, ob jüdisch, syrisch, arabisch oder christlich, nützlich werden. Die Rezeption der antiken Begriffe und Texte, der historischen Paradigmen, Titel und Symbole – von Marathon, dem demokratischen

24 Platon, Staat 557b; Aristoteles, Politik 1310a: » [...], sodaß lebt in derartigen Volksherrschaften ein jeder, wie er will« (hos boúletai).

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Athen, der römischen Republik, von Freiheitsmütze und »Volkstribun« – ist vielschichtig und paradox. Die Tradierungspfade laufen im Bildungswesen, in der Kunst, in allen Wissenschaften, außerhalb und innerhalb der Religionen. Der Ausdruck ›Verweltlichung‹ (›Saekularisierung‹) kann diese Rezeption nicht sachgemäß beschreiben. Carl Schmitts Vermutung, alle prägnanten politischen Begriffe der modernen Staatslehre seien saekularisierte theologische Begriffe, trifft nicht zu. Was antike Errungenschaft ist und humanistische Tradition, kann nicht ›Saekularisat‹ sein. Ich möchte schließen mit einem Satz aus der »Politik« des Aristoteles – in Übersetzung und auf Griechisch:25 »Das Größte von allem, was zum Fortbestand der Staaten und ihrer Verfassungen gesagt wurde, und was jetzt alle vernachlässigen, ist: die Erziehung zur Verfassung«.

Auf Griechisch: mégiston de pánton ton eireménon pros to diaménein tas politeías, hou nyn oligoroúsi pántes, to paideúesthai pros tas politeías.

Diese Erziehung, sagt Aristoteles, ist für die Demokratien besonders wichtig, muß aber mit dem richtigen Verständnis von Gesetz, Herrschaft der Mehrheit, Freiheit verbunden sein; die Bürger müssen ihre Verfassung nicht als Versklavung begreifen, sondern als »Rettung« (sotería).

B IBLIOGRAPHIE M.I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, NY 1980. V. Grieb, Hellenistische Demokratie: politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen, Stuttgart 2007. humanismus aktuell 6/10, Frühjahr 2002: »Säkularisierung«.

25 Aristoteles, Politik 5,9, 310a.

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H. Krämer, »Die Grundlegung der Freiheit in der Antike«, in: J. Simon, (Hg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, Freiburg 1977, 239-270. D. Nestle, Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament, Teil I: Die Griechen, Tübingen 1967. K. Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftspraxis eines politischen Grundbegriffes der Griechen, München 1985. W. Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster 31977. Vorarbeiten des Verfassers »›Alle Gewalt ist von Gott‹. Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren«, in: B. Gladigow (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, 53-74. (In disem Band). »Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte (1983)«, in: H. Cancik, Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hg. v. R. Faber, B. von Reibnitz, J. Rüpke, Stuttgart und Weimar 1998, 293-315. (In disem Band). »Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavius Josephus, contra Apionem 2,157-198 (1987)«, in: H. Cancik, Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, 193-208. »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, in: Klaus M. Girardet/Ulrich Nortmann, Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 94-104. (In disem Band).

Die Begründung der Humanität bei Herder Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität

§1 G RUNDDATEN UND T HEMA Den zentralen Begriff seiner 124, auf zehn Sammlungen verteilten Briefe zur Beförderung der Humanität hat Herder zu Beginn der Dritten Sammlung im 27. Brief ausführlich bestimmt; er schreibt: »Sie fürchten, daß man dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde; könnten wir nicht das Wort ändern? Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe?«1

Diese Befürchtungen werden in dem Brief zerstreut, und Herder schließt: »Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden«.

1

Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u.a., Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität (BBH), hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt 1991, Nr. 27, S. 147f.

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Was »die Alten« zur Konstituierung des Begriffs ›Humanität‹ bei Herder beigetragen haben, dies – und nur dies – möchte ich in diesem Beitrag erläutern. Hierzu gehören (a) die von Herder zur Definition von Humanität benutzten Ausdrücke »Menschheit«, »Menschlichkeit«, »Menschenrechte«, »Menschenwürde«, »Menschenliebe« – dies sind »würdige Begriffe« der Alten; hierzu gehört die Vorstellung, der Mensch sei unfertig, deshalb fortschrittsfähig und könne sich ›den Charakter unseres Geschlechts anbilden‹; (b) hierzu gehört weiterhin eine erhebliche Blütenlese aus antiken Autoren sowie (c) eine eigene Abteilung über die griechische Kunst, die sich Herder als »Schule der Humanität« deutet. Die Rede von Humanität meint bei Herder die Idee von der Gleichheit und Würde der Menschen, ihrer Teilhabe an Vernunft und natürlichen Rechten, meint aber auch die Tatsache, daß weder Gleichheit noch Menschenrechte verwirklicht sind: »Das Menschengeschlecht«, sagt Herder, »wie es jetzt ist und wahrscheinlich noch lange sein wird, hat seinem größesten Teil nach keine Würde [...]. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden«.2

Wer im Jahre 1792 so viel und so schön von humanité redet und schreibt, läßt Sympathie mit den vorsichtigerweise so genannten »Französischen Sachen« erkennen:3 1792 ist schließlich das Jahr 1 der neuen Zeitrechnung der neuen französischen Republik. Herders Briefe über den notwendigen »Fortschritt« der Menschheit sind alles andere als ein antiquarisches Florilegium oder behagliche Kunstbetrachtung. Herder will »an und von dem Frankreich lernen«.4 Seine Rede von ›Humanität‹ reagiert auf die Konstitution einer Nationalversammlung in Frankreich (17. Juni 1789), die Erklärung der Menschenrechte (26. August 1789), die Beseitigung von Monarchie und Feudalverfassung,

2

BBH, Nr. 27, S. 147.

3

»Französische Sachen«: Knebel an Herder, 30. Dezember 1792 (Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hg. v. Heinrich Düntzer/Ferdinand Gottfried von Herder, 3 Bde., Leipzig 1861-62, Bd. 3, S. 89).

4

BBH, 1. Fassung, Nr. 7, S. 784.

B EGRÜNDUNG

DER

H UMANITÄT

BEI

H ERDER | 193

die Einrichtung der Republik.5 Er schreibt an den Freund, Dichter, Patrioten Johann Wilhelm Ludwig Gleim: »Ich gehe jetzt in Gedanken mit Briefen, die Fortschritte zur Humanität betreffend, oder humanistischen Briefen um, in die ich das Beste, das ich in Herz und Seele trage, zu legen gedenke. [...] Ihre Gefühle an der krankenden Menschheit, zumal der Fürstenheit haben mich tief durchdrungen, das Jahrhundert eilt mit beschleunigendem Fall zu Ende! an den sollen sich also auch meine humanistischen oder humanen Briefe schließen, so Gott hilft«.6

Seinen eschatologisch-chiliastischen Impuls, die Briefe an den Fall des Jahrhunderts anzuschließen, hat Herder in der uns vorliegenden Fassung nicht ausgeführt.7 Die Fragmente der ersten Fassung, die Bernhard Suphan acht Decennien nach Herders Tod ediert und kommentiert hat, lehren, daß Herder 1792 »seinen humanistischen Traumwunsch von Völkerglück und Achtung der Menschenrechte« der Erfüllung nahe glaubte.8 Theodor Matthias hat den »Politiker Herder« aus der ursprünglichen Fassung der Humanitätsbriefe bestimmt.9 »Es ist nicht Herders Schuld«, folgert Matthias (1900), »daß die 10 Sammlungen Briefe [...] weder jene lebhafte politische Stimmung noch den regelgerechten Grundriss zu einer einheitlichen Würdigung des gesam-

5

Die republikanische Verfassung und der republikanische Kalender treten

6

Herder an Gleim, 22. Mai 1792 (Düntzer/Herder [Anm. 3] Bd. 1, S. 151). –

im September 1792 in Kraft. Die terminologische Variation ist auffällig: »Humanität, humanistisch, human« und deutet auf Unsicherheit im Wortgebrauch. 7

So benutzt beispielsweise die im letzten Brief (Nr. 124) entwickelte Lehre eines reinen Christentums zwar den messianischen Titel »Menschensohn«, expliziert aber keine Eschatologie.

8

Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877-1913; Schlußbericht zu Bd. 17 und 18, in: Bd. 18, Berlin 1883, S. 527.

9

Theodor Matthias, »Der Politiker Herder nach der ursprünglichen Fassung der Humanitätsbriefe«, in: Neue Jahrbücher für das klassische Alterthum 6 (1900), S. 401-426, hier: 403. Vgl. Werner Krauss (Hg.), Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963; Hans-Dietrich Irmscher, »Herders Humanitätsbriefe«, in: Werke, Bd. 7 [Anm. 1], S. 809-812: »Entstehung«.

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ten ›Geistes der Zeit‹ gewahrt haben«.10 Wurden doch »mit Rücksicht auf seinen Landesherren« und den Zensor, zahlreiche Streichungen und Abschwächungen für die zweite, die uns vorliegende Fassung der Humanitätsbriefe vorgenommen.11 Der erste Leser der Humanitätsbriefe, Karl Ludwig Knebel, schickt Herder im Dezember 1792 das Manuskript der Briefe nach deren »Durchlesung« zurück und dankt dem Verfasser, daß er »so manche Wunde und dumpfe Seite unseres Vaterlands aufgedeckt« habe; »Beleidigendes« habe er nicht finden können: »Sie thun wohl, daß Sie sich die Streitfragen der Politik etwas entfernt halten, und in der That scheint Ihre Schrift hierinnen einige Jahre wieder zurückzugehn, um das Interesse nicht so nah und innig zu legen. Dies ist gut, um die Vorstellungsart allmählich zu erziehen und zu leiten, und hauptsächlich auf die großen Punkte zu deuten, wo der Schaden liegt und die einer Verbesserung fähig sein möchten. Dazu kann der milde Stil Ihrer Briefe vieles beitragen, um die Gemüther hierüber aufzuklären. [...] Man muß nicht wohl nach Rache rufen, wenn die Rache wirklich schon vor der Thüre ist; vielleicht wären diese Stellen vor einigen Jahren weniger auffallend gewesen. Daß ich die Französischen Sachen nicht ganz unter dem zweideutigen Lichte sehe, wie sie hier zum Theil gezeigt werden, können Sie wohl glauben. Es ist aber vielleicht gut, den Schein davon noch eine Weile anzuhalten; wenn sie uns nur nachher nicht allzugeschwind übereilen. Ich sehe auch nicht ein, warum eine Französische Constitution so antipathisch einer Deutschen sein solle, wenn beide auf Vernunft und wahre Menschlichkeit erbaut werden sollen.«12

Dieser zuvorkommenden Selbstzensur zum Trotz wurde die zweite Fassung von der Wiener Zensur verboten.13 Ein Vergleich des 19. Briefes der ersten Fassung mit dem 23. Brief der zweiten Fassung zeigt Prinzipien und Details dieser Selbstzensur. Brief 19 skizziert die Verfassung einer neuen Zeit, in der antike Rede,

10 Matthias [Anm. 9], S. 403. Vgl. Herders Entwürfe in BBH 1, Nr. 16-18. 11 Censuredikt vom 19. Dec. 1788 (einvernehmliche Zensur in Oesterreich und Preußen), vgl. BBH, S. 809 (Irmscher). 12 Karl Ludwig Knebel an Herder, Weimar 30. 12. 1792 (Düntzer/Herder [Anm. 3], Bd. 2 Nr. 63). 13 Dezember 1793; Anlaß sei das Gespräch über Josef II. gewesen; den Wortlaut des Zensors konnte ich nicht finden.

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Dichtung, Geschichte, Kunst erst wieder verständlich und möglich wären.14 Brief 23 der zweiten Fassung transformiert den Entwurf in einen Traum und tilgt garstige Worte wie »Freiheit«, »Tyrannenfeindin«, »Vaterland«. Sogar die Klage über Eingriffe in den schulischen Lektüre-Kanon wird der Zensur geopfert. Im Brief 19 (erste Fassung) heißt es: »Mörderische Hände haben sogar die Alten, Griechen und Römer, unseren Schulen entreißen wollen, weil in Ihnen die Jünglinge mit republikanischen, mit Freiheits-Ideen genährt würden, die, wie sie sagten, in unsre Staaten nicht gehören. Wie nun? wenn auch hierin die Zeiten der Griechen und Römer uns näher kämen?«15

Diese Erwartung einer Renaissance von römischer Republik und griechischer Demokratie entsprach so sehr der zeitgenössischen Antikerezeption in Frankreich, daß Herder sie in der zweiten Fassung gestrichen hat.16 Umso mehr ist nun im einzelnen zu fragen, was »die Alten« denn nun zu Konstituierung des Begriffs und des Paradigmas ›Humanität‹ beigetragen haben.

14 Vgl. BBH, Nr. 57: »Haben wir noch das Publikum und Vaterland der Alten?« 15 Ebd., 1. Fassung, Brief Nr. 19, S. 790. 16 Christoph Friedrich Sangerhausen (»Über Humanität«, in: Deutsche Monatsschrift (1796), S. 206-215), ein früher Zeuge für die Rezeptionsgeschichte der BBH, hat Herder in diesem Sinne verstanden; er schreibt (S. 209): »Sollten die jetzigen Franken ihr Versprechen erfüllen und der Welt mit der Fackel der Humanität vorgehen: so wär es zum wenigsten einleuchtend, daß auch sie dieselbe an dem Lichte der Griechen und Römer anzündeten. An der Art, mit welcher ihre Anführer sprechen, schreiben, handeln, erkennt man sogar nicht mehr jene sonstigen verkrüppelten Gallier, erniedrigt alles zu thun und zu leiden, was Menschen nie thun und leiden sollten.«

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§2 D IE D RITTE S AMMLUNG (BBH 27-39): S TOISCHE P HILOSOPHIE §2.1 Gattung und Aufbau In der Dritten Sammlung unternimmt es Herder, den zentralen Begriff auf seine Weise zu bestimmen. Er benutzt die offene Form, die ein fiktiver Briefwechsel bietet, um das verschiedenartige antike Material zusammenzuführen und so einen Text zu schaffen, den es so, nach Form und Zweck, in der Antike nicht gibt. Er mischt Poesie mit Prosa, Hellenisches und Römisches auf Deutsch und auch Lateinisch (Nr. 30), bringt, wie eingangs zitiert, die Wortgeschichte von ›Humanität‹ (Nr. 27) und systematische Begriffsbestimmung (Nr. 32), atomistische und stoische Philosophie. So schafft er in moderner Form einen popularphilosophischen, sozusagen weisheitlichen und dichterischen Kontext gleich jenem, in dem der Begriff humanitas einst in der Antike ausgebildet wurde. Daher streut er eine kleine Blütenlese aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen ein und schließt den Brief (Nr. 30) mit dem stoischen Katechismus des römischen Satirikers Persius, in einer unserer drei heiligen Sprachen, also auf Latein und ohne Übersetzung: Discite o miseri, et caussas cognoscite rerum.17 Die eingelegten Interpretationen zur Humanität bei Homer und Tacitus wirken wie Musterstücke für den Oberstufenunterricht an Niethammers humanistischem Gymnasium.18 Die Dritte Sammlung ist folgendermaßen aufgebaut:

17 Persius, Satire 3, 66-72; Herder beginnt sein Zitat mit Vers 67, stellt den oben zitierten Vers 66 an das Ende des Zitats und gewinnt damit einen effektvollen Briefschluß; die Stellenangabe bei Irmscher ist fehlerhaft. – Der Text war Herder wichtig. Er zitiert ihn bereits in Brief Nr. 2 (Persius, Satire 3, 67-73, von Vers 73 nur das Anfangswort, ebenfalls nur lateinisch). Als Motto hatte er ihn schon für die »Ideen« (1784) benutzt. 18 Durch die Arbeiten der zeitgenössischen, Herder auch persönlich bekannten Philologen Heyne, Voss, Wolf war ihm die homerische Sache natürlich auch von wissenschaftlichem Interesse. Zu der von Friedrich August Wolf (1759-1824) aufgeworfenen ›homerischen Frage‹ – nach Autorschaft und Quellen Homers und der kompositorischen Einheit des Werkes – und ihrer Diskussion in der Altertumswissenschaft siehe: Prolegomena to Homer (1795), translated with introduction and notes by Anthony Grafton, Princeton, N. J. 1985. Wolf publizierte seine Homer-Ausgabe 1783-85. Christian

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Teil A (antik) I. 27 28 29 30

II. 31 32 33 34 35 36

1. Definition Römisch; Wortgeschichte 1 (lat., dt.); das Wortfeld; Wortgeschichte 2 (griechisch, römisch); humanitas; humaniora; Ausblick: »Confucius, der Sokrates der Sinesen«. 1. Lektüre Marc Aurel, An sich selbst, B. I (Kosmopolis; stoisch). 2. Lektüre Lukrez, Über die Natur B. V (Lob Epikurs; wohl von H. übersetzt); Horaz, Oden; röm. Historiker; Schluß: Persius, Satire 3 (stoischer Katechismus, lateinisch). 2. Definition Griechisch: kein griechisches Wort für Humanität, aber Orpheus, Musen. 1. Begriffsanalyse (5 Punkte) 19 3. Lektüre Shaftesbury, The Moralists (1709). 4. Lektüre G. Lichtwer, Das Recht der Vernunft, 1758, B. V und I. 5. Lektüre/Exegese Blätter über die Humanität Homers. 6. Lektüre/Exegese Blätter über die Humanität Homers. 7. Lektüre/Exegese Von der Humanität Homers. 8. Lektüre Diderot über die Einfalt Homers.

Teil B (modern) 37 9. Exegese 38

10. 11.

39

12.

Lob von Lessing, Emilia Galotti (Stände, Charaktere). Lektüre/Exegese J. Swift an Pope über Misanthropie. Lektüre Sprüche des Philemon (4./3. Jh. v.Chr.; Komödie, gr.). Lektüre Gleim, Menschentugend, 1774.

Folgt: Vierte Sammlung (Thema: Nationen) Gottlob Heynes (1729-1812) Ausgabe mit kritischen Noten erschien ab 1802; die Übersetzungen Homers von Johann Heinrich Voss (1751-1826) erschienen ab 1781. 19 Die Beziehung Herders auf Shaftesbury ist im Hinblick auf seine Rezeption der Stoa und die Genese seines Begriffs von ›Humanität‹ außerordentlich wichtig; siehe Marc-Georg Dehrmann, »Humanismus und Stoa. Shaftesburys Characteristicks und die Askémata«, in: Martin Vöhler/Hubert Cancik (Hg.), Genese und Profil des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2009, 35-55; vgl. auch ders., Das Orakel der Deisten, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008.

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Das Schema zeigt eine Folge von Wortgeschichte und Definitionen, langen Zitaten (›Lektüre‹), einen Essay über Homers Humanität, Paraphrasen mit Erklärung. Der erste Teil (A) benutzt überwiegend antike Texte, erst die römischen in griechischer oder lateinischer Sprache (I), dann die hellenischen (II). Der zweite Teil (B) bringt zeitgenössische Literatur – Diderot, Lessing, Swift. Damit bleibt die internationale Kommunikation gewahrt, die Herder bereits mit dem zweiten Brief, über Leben und Schriften von Benjamin Franklin und seinen »Sinn für Humanität«, eingerichtet hatte. Teil B der Dritten Sammlung schließt jedoch mit einer antik-modernen Pendantbildung: Sprüche des griechischen Komikers Philemon (4./3. Jh. v.Chr.) und ein Gedicht von Freund Gleim (»Menschentugend«, 1774). Das Thema ›Humanität – Mensch‹ geht in der Fülle der Zitate nicht verloren. Jedes Zitat bringt einen neuen Aspekt. Die Dominanz der antiken Texte ist evident. Herder hat in der Dritten Sammlung seinen Begriff ›Humanität‹ antikisch definiert. Dabei hat er die Standardzitate aus Epiktet, Cicero und Seneca gemieden und vielmehr vornehme und seltene Texte vorgestellt: den Philosophen-Kaiser Marc Aurel – ein Pendant zu Friedrich II. von Preußen20 – und Persius, den Satiriker.21 Es findet sich kein theologischer Autor, kein christliches Theologem. Die Buntheit der Collage, sorgfältige Auswahl und stimmige Disposition zeichnen die Dritte Sammlung und dieses Briefcorpus insgesamt aus.22

20 Zu Friedrich II. und Voltaire vgl. BBH, Nr. 7 bis 9 und 21. 21 Ursprünglich sollten der 52. und 53. Brief »Seneka. Philosoph und Minister« behandeln, als Schluß der Vierten Sammlung. Die Texte wurden noch während des Drucks zurückgezogen und in der Neuen Deutschen Monatsschrift von Friedrich Gentz veröffentlicht (Herder, Sämmtliche Werke, 1877-1913 [Anm. 8], Bd. 18, S. 391-401). 22 Ein Vergleich mit Senecas epistulae morales wäre zur genaueren Bestimmung von Gattung und Aufbau von Herders Epistelwerk in Hinsicht auf Formen moralischen Argumentierens nützlich. Vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier, Untersuchungen zu Senecas epistulae morales. (Spudasmata 18), Hildesheim 1967; dies., »Senecaʼs Collection of Epistles: A Medium of Philosophical Communication«, in: Ancient and Modern Perspectives on the Bible and Culture. Essays in Honor of Hans Dieter Betz, hg. v. Adela Yarbro Collins, Atlanta, Georgia 1998, S. 88-109.

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Offensichtlich liefert die Dritte Sammlung keine hohe, umfassende philosophische Anthropologie in allgemeinen Begriffen und von bezwingender Logik. Zwar werden immer wieder einzelne Lehrstücke, Termini, Topoi stoischer Philosophie benutzt, aber: Herder bestimmt, was er mit ›Humanität‹ bezeichnen will, in einem humanistischen Diskurs, in einem Gespräch unter Freunden,23 epistolographisch, durch die Untersuchung des Wortgebrauchs und mit viel schöner Literatur. Es ist verständlich, wenn strikten Philosophen dieser Diskurs ein Greuel ist: Er sei vage, verschwommen, tautologisch, klagt etwa Gerhart Schmidt.24 Aber das ist er keineswegs: Herder formuliert prägnant, montiert sauber; seine Humanität wird anschaulich: Herder zeigt den Philosophenkaiser; die Menschlichkeit im Gemetzel des troianischen Krieges, die Menschenhasser Timon und Jonathan Swift. Nie übersieht Herder, daß Humanität bedroht ist. Herder synthetisiert das verstreute und heterogene antike Material; scheinbar unbefangen setzt er neben Marc Aurels stoisches Kosmos- und Lebensgefühl den Preis Epikurs aus Lukrez. Er modifiziert das antike Material, indem er die trivialen, heiteren und ironischen Nuancen der Wortgruppe homo, humanus, humanitas retuschiert.25 Er fügt – an anderen Stellen – nachantikes und christliches Material hinzu. Aber aufs Ganze gesehen sind die beiden umfangreichen Bestimmungen in der Dritten Sammlung der BBH (Nr. 27-39) antikisch, speziell stoisch.

23 BBH, Nr. 1: »Ein Bund der Humanität unter Freunden«. Briefe und Bücher (vgl. BBH Nr. 2) zirkulieren in diesem Freundeskreis: humanistische Netzwerke und Kommunikationsformen. 24 Gerhart Schmidt, »Der Begriff des Menschen in der Geschichts- und Sprachphilosophie Herders«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8 (1954), S. 499-534. 25 Vgl. Friedrich Klingner, »Humanität und humanitas« (1947), in: ders., Römische Geisteswelt, München 51965, S. 704-764, bes. S. 718ff.; Rudolf Rieks, Homo, humanus, humanitas. Zur Humanität in der lateinischen Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (Diss. Tübingen 1964), München 1967.

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§2.2 Stoische Grundlagen 2.2.1 Die Bestimmungen von Humanität bei Herder entsprechen durchaus dem antiken Wortfeld von humanitas. Das lateinische Wort bedeutet deskriptiv die ›Menschheit‹, das Kollektiv der Menschen (genus humanum); die besondere condicio humana vor allem seine Sterblichkeit, Hinfälligkeit, seine Schwäche, also seine ›Menschlichkeit‹, die Barmherzigkeit, Hilfe, Erziehung erfordert.26 Im normativen Sinne bezeichnet humanitas das Ideal der Gattung Mensch als freies Vernunftwesen; der Einzelne soll dieses Ideal verwirklichen. Nur knapp ist bei Herder thematisiert (in der Dritten Sammlung) eine antik durchaus geläufige Bedeutung von humanitas: ›menschliche Umgangsformen‹, nicht standesgemäß, dünkelhaft, herablassend, steif und gravitätisch, sondern ›als Mensch zu Mensch‹, höflich, ironisch, urban.27 Am Eingang der Dritten Sammlung werden die deutschen Varianten gesammelt (Brief 27): »Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe«. Jede Variante läßt sich in stoische Terminologie übersetzen: humanitas, ius humanum, officia humanitatis, dignitas hominis, philanthropia. Das bedeutet: Der anthropologische und ethische Kern von Herders Humanitätsbegriff ist stoisch.28 Er will bei dem Wort ›Humanität‹ bleiben, weil die besten Schriftsteller der Alten und Neuern daran so würdige Begriffe geknüpft und alle gebildeten Nationen es in ihre Mundart aufgenommen hätten. Herder füllt den Begriff ›Humanität‹ – ganz im

26 Vgl. Hubert Cancik, »Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen des Humanismus«, in diesem Band. 27 BBH, Nr. 32, Punkt 2: »leichte Geselligkeit«. 28 Rudolf Lehmann (»Herders Humanitätsbegriff«, in: Kantstudien 24 (1920), S. 242-260) berücksichtigt weder die antike Tradition noch Herders spezifische Darstellungsform. Gerhart Schmidt (Der Begriff des Menschen, [Anm. 24], bes. Teil 3, S. 517-534) kritisiert den Humanitätsbegriff des älteren zugunsten der Preisschrift, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (verf. Straßburg 1770), des jungen Herder (»Wortführer und geistiges Haupt« des Sturm und Drang, S. 529). Die Präsenz der Antike übersieht Schmidt durchaus nicht, aber er verkennt ihre Bedeutung, sie ist ihm ein Makel (»Die Spannung gegen den Stoizismus läßt beim späteren Herder bezeichnenderweise nach, ja es findet ein Einlenken in die stoische Tradition statt«; S. 529), ein Rückfall in die Aufklärung.

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Sinne der antiken und neuzeitlichen Tradition – konkret mit den studia humaniora (Sprache, Literatur, Kunst). Hinzu kommen neue bürgerliche Moral (Franklin und Philadelphia, Brief Nr. 2) und so viel Geschichte und Religion, daß der Begriff ›Humanität‹ in dem der Kultur aufzugehen droht. Herder übernimmt – direkt und indirekt – wichtige Stücke der stoischen Anthropologie – Natur, Mensch/Tier, Vernunft, Schwäche als Stimulans für gegenseitige Hilfe, Bildung, Gesellschaft, Fortschritt und anderes mehr; er erklärt den Unterschied zwischen römischer und griechischer Tradition, die kein Analogon zum lateinischen humanitas kennt; er betont, in Übereinstimmung mit der stoischen Philosophie, den Begriff ›Bildung‹ – des Einzelnen und der Gattung.29 2.2.2 Die Grundlage von Herders ›Humanität‹ ist, nach Ausweis der Dritten Sammlung, die römische Stoa und die griechische Muse. Begriffe wie ›Natur‹, ›Mensch‹, ›die göttliche Weltvernunft‹ sind, für das primäre Publikum Herders nicht bloß Dekor, billiger Abwehrzauber, gebildeter Dünkel: Sie konstituieren den Erwartungshorizont der Leser, evozieren eine gemeineuropäische, verhältnismäßig junge Tradition, den modern-antiken Stoizismus. Deshalb sei es gestattet, dieses System, das vielen Lesern Herders präsent gewesen sein dürfte, kurz, sehr vereinfacht und im Anschluß an den Abriß stoischer Philosophie bei Diogenes Laertios in Erinnerung zu rufen.30

29 Irmscher wertet den Sachverhalt anders, m. E. nicht zutreffend; er schreibt: »Wenn Herder jedoch vorgibt, mit dem alten Ausdruck auch die alte Bedeutung zu neuem Leben erweckt zu haben, so täuscht er sich. Schon die Bildung des Begriffs im Scipionenkreis beruht auf einer Umdeutung griechischer Vorstellungen. Um so mehr war es die Interpretation, die Herder ihm gab. Vor allem biblisch-christliche Gedanken (der Mensch das Bild Gottes) und die Rezeption der griechischen Kunst seit Winckelmann veränderten im Kern die überlieferte Bedeutung«. (Herder, Werke [Anm. 1], Bd. 7, 1991, S. 912). 30 Das folgende ist referiert nach Diogenes Laertios 7,84 - 7,121 und Cicero. Diogenes beruft sich in diesen Paragraphen u. a. auf Zenon, Über die Physis des Menschen; Kleanthes, Über die Freude (Lust); Chrysipp, Über Lebensformen; Hekaton, Über die Ziele. Cicero benutzt teilweise dieselben Quellen, dazu Panaitios, Über Pflichten (peri kathekónton – de officiis).

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Die Natur, so lehren die Stoiker, führt die Menschen zu einem guten Leben, einem Leben in Übereinstimmung mit der Vernunft in der Natur. Unsere menschliche Natur ist »Teil« der allgemeinen Natur, des »Ganzen«; außer dem Ganzen gibt es nichts. Die »richtige Vernunft« (orthós lógos; recta ratio), das Natur-Gesetz steuert das All. Sie kann »Zeus« genannt werden. Der Mensch lebt gut, wenn alles, was er tut, in »Symphonie« ist mit dem Willen des Ganzen. Die Vernunft des Menschen ist Teil der Allvernunft. Die Natur hat ihm sein »natürliches Licht« (lumen naturae) verliehen, mit dem er Ordnung, Regelhaftigkeit, Gesetz und Schönheit des Kosmos erkennen kann.31 Das »Gesetz der Natur« verpflichtet jeden Menschen, den Mitmenschen zu unterstützen: »aus genau dem Grund, daß er ein Mensch ist«.32 Es ist die Natur, die durch die »Kraft der Vernunft« den Menschen mit dem Menschen »versöhnt« (conciliat). Sie selbst hat ihn mit Vernunft, Individualität, Geschichtlichkeit und Eigenverantwortung ausgestattet.33 Seine Vernunft erkennt die Übereinstimmung des Naturgesetzes (Zenon: lógos koinós; lex naturalis)34 mit der Norm der Menschen und mit seinem eigenen Handeln; sie ist Bewußtsein, Zeuge und Mitwisserin: conscientia – Gewissen.35 Der Mensch strebt, wie alles Lebendige, nach Selbsterhaltung (conservatio sui); er weiß von Natur aus, was er meiden oder erstreben muß. Er ist ein schwaches Lebewesen, er ruft nach Erbarmen und benötigt die Hilfe der Gemein-

31 Vgl. Cicero, de officiis 1,30,107; Tusculanae disputationes 3,1,2; die »Funken«, die Natura in uns gelegt hat: Cicero, de legibus 1,22,33; semina: Cicero, de finibus 5,15,43. 32 Cicero, de officiis 3,6,27; vgl. 2,16,51; 1,4,11-14. 33 Cicero, de officiis 1,30,107; 32,115. 34 Stoicorum Veterum fragmenta (SVF), hg. v. Hans von Arnim (1905), Ndr. Stuttgart 1964, Bd. I, Nr. 162 aus Cicero de natura deorum 1,36: »Zeno naturalem legem divinam esse censet eamque vim obtinere recta imperantem prohibentemque contraria«. Rezipiert bei Lactanz, institutiones 1,5; Minucius Felix, Octavius 19,10. Von Arnim verweist auf Diogenes Laertios 7,88: nómos koinós – SVF I, Nr. 261: nómos koinós im Idealstaat Zenons; keine Heiligtümer, sondern die Tugend der Bürger. 35 syn-eídesis – conscientia – Bewußtsein/Gewissen: s. Hubert Cancik, »Persona and Self in Stoic Philosophy«, in: Self, Soul & Body in Religious Experience, hg. v. Albert I. Baumgarten/Jan Assmann/Guy G. Stroumsa, Leiden 1998, S. 335-346 (in diesem Band).

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schaft (societas). Er ist ein unfertiges Wesen, deshalb muß er lernen. Er ist ein geselliges Wesen, deshalb hat er Sprache, Mund und Ohren. Die Menschen sind miteinander verwandt, von Natur aus gleich und frei. Es gibt ein Naturrecht, eine natürliche Moral und eine natürliche Gotteserkenntnis, die allen Menschen gleichermaßen und unmittelbar aufgrund ihrer Vernunftnatur zugänglich ist.36 Kosmologie, Anthropologie und Ethik der Stoa geben dem Individuum einen festen Stand. Es hat mindestens als »Keim« oder »Funken« oder prólepsis – anticipatio (»im Vorgriff«) ein eigenes Wissen von Gut und Böse, Recht, Gott. Dieses Wissen hat der Mensch von Natur aus, es ist unabhängig von staatlichen und religiösen Organisationen, kann sogar diesen gegenüber als kritische Instanz oder Alternative genutzt werden. Diese Anthropologie faßt den Menschen als Gegensatz zum starken und wilden Tier. Sie weiß, daß humanitas immer von Bestialität, Grausamkeit, Destruktivität bedroht ist. Die Schwäche des Menschen ist Stimulus für die Bildung von Gesellschaft, für Lernen und Fortschritt. Die Vernunft des Individuums wird allmählich ausgebildet bis zum Erreichen der Geschlechtsreife. Dieser natürliche Lernprozess wird durch Bildung fortgesetzt. Der Trieb zur Gemeinschafts- und Staatsbildung erwächst nicht allein aus Not, sondern auch aus Freude an Geselligkeit. Die Sprache hat eine hohe Bedeutung: Sie unterscheidet den Menschen vom Tier und verweist ihn auf Gemeinschaft. Das Konzept Entwicklung, Erziehung, Bildung ist also breit, in verschiedenen Abteilungen des stoischen Systems eingelagert. 2.2.3 Die stoischen Lehren waren seit Beginn der Neuzeit gut zugänglich, auf Griechisch bei Epiktet, Mark Aurel, Diogenes Laertios, auf Lateinisch bei Cicero, Persius und Seneca. Ihre Wirkung wurde entweder neutralisiert oder verstärkt, weil sie von christlichen Autoren zitiert, teilweise sogar rezipiert worden waren, so bei Paulus und Lukas, Tertullian und Augustin.37 Die novi Stoici hatten seit dem 16. Jahrhun36 Cicero, de natura deorum 1,43. 44; 2,12; vgl. Tusculanae disputationes 1,30; Seneca, epistulae morales 117,6. 37 Paulus, Römer 1,20ff.; 2,14; Tertullian, Apologeticum 17,6 (Gotteserkenntnis aus dem »Kosmos« mit Bezug auf Römer 1,19-22); eine christliche Weiterentwicklung bei Augustin, Retractationes 1,13: »Die Sache (res) selbst, die man jetzt die christliche Religion nennt, war bei den Alten vorhanden, und zwar von Anbeginn der Menschheit bis zur Fleischwer-

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dert diese Lehren aktualisiert:38 Justus Lipsius, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf. Oft mit Epikureismus verbunden, markiert diese modernantike Stoa ebenso wie die Skepsis eine neue Rezeptionsstufe der antiken Philosophie. Die hellenistischen Autoren treten in den Vordergrund.39 Für die pädagogische Theorie des 18. Jahrhunderts (Rousseau, Emile, 1762) und die Naturrechtslehren spielen diese stoischen Begriffe und Argumente eine erhebliche Rolle. Der emphatische und positive Gebrauch des Wortes ›Mensch‹ und das überdeterminierte Wort humanitas – humanité – Humanität stammen aus dieser Tradition.

§3 D IE S ECHSTE S AMMLUNG (BBH N R . 63-68): G RIECHISCHE K UNST §3.1 Aesthetik, Kunstgeschichte, Humanität Zur Begründung von ›Humanität‹ hat Herder würdige Begriffe der Alten synthetisiert, hat stoische Philosopheme, historische und mythische Paradigmen aus griechischer und römischer Literatur zu einem neuar-

dung Christi. Von da an begann man die wahre Religion, die bereits existierte, die christliche zu nennen«. 38 Jacqueline Lagrée, Juste Lipse et la restauration du stoicisme, Paris 1994; Günther Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit, Berlin 1978; Friedo Ricken: »Stoizismus«, in: Der Neue Pauly, Stuttgart/Weimar 1996-2007, Bd. 15.3, S. 297-311. 39 Wilhelm Dilthey, »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« (1891/93), in: ders.: Gesammelte Schriften, Stuttgart 10

1977, Bd. 2, S. 90-245, bes. S. 93: »In der Entstehung dieses natürlichen

Systems wirken drei sehr heterogene Ideenkreise vornehmlich zusammen: die religiösen Ideen, die römische Stoa und die neue Naturwissenschaft. In meiner Darlegung werde ich besonders eingehend aus den Quellen den Einfluß der römischen Stoa darzutun bemüht sein, da ein solcher Nachweis bisher niemals gegeben worden ist und derselbe doch die Kontinuität in der philosophischen Entwicklung an einem neuen und wichtigen Punkt erweist. Die Abhängigkeit von der römischen Stoa reicht tief in die Psychologie und Politik von Hobbes und Spinoza, in den Pantheismus von Spinoza und Shaftesbury«.

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tigen Text zusammengefügt. Damals, im Jahrhundert Winckelmanns und der beginnenden Ausgrabungen in Herculaneum und Pompei, boten die Alten aber noch andere und neuartige Quellen zur Begründung von Humanität, die griechische und römische Kunst. Herder war, zu Beginn der neunziger Jahre, auf ihre Nutzung gut vorbereitet. In den Versuchen über Plastik (1769/1778) hatte er eine sensualistische, empirische, anthropologische Aesthetik entwickelt. Tastsinn, Körper, die »weichen fühlbaren Formen« im Raume sind die Grundlage für seine Aesthetik der griechischen Plastik, der griechischen Kunst schlechthin. Im Dritten Teil der Ideen (1787) wird die griechische Kunst als Teil einer Kulturgeschichte Griechenlands gefaßt. Klima, Verfassung, Religion – helles Licht, Freiheit, menschengestaltige Götter, nahe Marmorlagerstätten sind notwendige Voraussetzungen und begünstigende Umstände.40 Die Reise nach Italien (1788) gibt Herder, wie er nach Hause schreibt, »einen Ruck« auf sein ganzes Leben.41 Jeden Tag studiert er Statuen. Er begegnet Angelika Kaufmann, derer er in der Sechsten Sammlung der Briefe gedenken wird:42 »die Muse der Humanität ward ihre Schwester«. Zum Anblick der griechischen Kunstwerke soll »Jedermann«, so Herder, nach Rom reisen. Er benutzt die Gelegenheit, um den Kunstraub der Kolonialmächte, insbesondere Britanniens, anzuprangern, die mit Kunstwerken aus Griechenland ihre Nationalmuseen füllen.43 Jetzt, in der Sechsten Sammlung der Briefe, fokussiert Herder entschieden auf das Thema ›Humanität‹: keine Abschweifungen über die sensualistische Aesthetik, weniger Schilderungen einzelner Kunstwerke, wenig kulturgeschichtliche Umstände, stattdessen eine starke Behauptung: »Griechische Kunst ist eine Schule der Humanität«.44

40 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, III. Teil, 13. Buch, cap. III: »Künste der Griechen«. (Herder, Werke [Anm. 1], Bd. 6, 1989, S. 529-537). 41 Herder an Karoline, Rom September 1788. Vgl. Johann Gottfried Herder, Italienische Reise – Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788-1789, hg. v. Albert Meier/Heider Holmer, München 1989. 42 BBH, Nr.71, S. 395. 43 Ebd., Nr. 71, S. 391. 44 Ebd., Nr. 63, S. 363.

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§3.2 Die griechische Kunst als »Schule der Humanität« 3.2.1 Die Sechste Sammlung besteht, wie die Dritte, aus einem antiken Teil, über griechische Kunst, und, als Korrektiv zu dessen Enthusiasmus, einem modernen Teil über die bürgerlichen Tugenden. Die Sechste Sammlung beginnt, wiederum wie die Dritte, mit einem Grundsatz-Brief, der Thema und Stoff definiert (Nr. 63). Die These, griechische Kunst sei eine Schule der Humanität, wird einigermaßen schematisch bewiesen: Die Darstellung von Menschen, Göttern und Heroen wird als Gestaltung von Ideen, Idealen, Charakteren gedeutet. Sie sind, sagt Herder, »reine Formen der Menschheit«, »dauerhafte Kategorien der edelsten und schönsten Menschenexistenz«.45 Der Aufbau der Sammlung läßt sich folgendermaßen skizzieren: Teil A (antik): »Die griechische Kunst eine Schule der Humanität« I. Nr. 63-67: Griechische Plastik a) Allgemeines: »Anschauliche Kategorien der Menschheit« (Nr. 63); b) Menschen (Kind, Jüngling, Musen); c) Götter und Heroen – jeweils als Gestalten von Ideen, Idealen, Charakteren, Sinnesarten, Trieben etc. II. Nr. 68-71: Drei Probleme a) Wie passen Faune, Satyrn, Pan etc. zu diesen Idealen? b) Hätten uns die Griechen alles weggenommen? c) Was hilft uns die Humanität der Griechen, die wir nicht Griechen sind? III. Nr. 72-76: »Stimme der Musen zu Vorstellungen der griechischen Kunst«: Literarische Zeugnisse zu griechischen Kunstwerken »Schluß dieser Materie«: »Ein andermal davon mehr«. Teil B (modern): »Von bürgerlichen Tugenden« Nr. 77-80: Johann Christoph Berens (Riga) – Kant – Enzyklopädie – Ewald von Kleist.

3.2.2 Die Deutung griechischer Kunst als Zeugnis für Humanität wird von Herder aufwendig eingeleitet. Im Menschen, so Herder, erkenne 45 Ebd., Nr. 65, S. 370 und 373.

B EGRÜNDUNG

DER

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sich die Natur selbst. Der Mensch sei, wie die Natur, ein Kunstwerk, Kunst der Inbegriff des Wesens; sie zeige das Schöpferische in Natur und Mensch. Kunst mache »Gedankenformen, ewige Charaktere« sichtbar, die anders, in Sprache und Musik, nicht ausgedrückt werden können. Sie gibt uns die »sichtbare Logik und Metaphysik unseres Geschlechts in seinen vornehmsten Gestalten, nach Altern, Sinnesarten, Neigungen und Trieben«.46 Die griechische Kunst hat, so Herder, die »anschaulichen Kategorien der Menschheit« begründet; sie bietet »das Ideal der Menschenbildung in ihren reinsten Formen«.47 Dabei wird das Häßliche nicht übersehen, die irritierenden Mischwesen aus Tier und Mensch, die Darstellung von Schmerz und Tod.48 »Der Dämon der Menschennatur« spricht aus diesen Werken: Wir sollen mitfühlend hören und begreifen, ohne »Schwärmerei und Begeisterung«. Dieses Programm, griechische Kunst anthropologisch und ethisch zu deuten, ist anspruchsvoll und durchaus mit ›Enthusiasmus‹ formuliert.49 Die Durchführung des Programms, das heißt die Zuordnung einzelner Kunstwerke zu bestimmten Charakteren, Altersstufen, Typen wird allegorisch und weicht von ästhetischer und physiognomischer Analyse aus in die Erzählung mythologischer Einzelheiten. Es überrascht nicht, daß zum Schluß des kunstwissenschaftlichen Teils literarische Zeugen zur Vorstellung griechischer Kunst präsentiert werden (Nr. 74-75). §3.3 »Du sollst dir kein Bild machen« Das Problem einer christlichen Kunst wird in der Sechsten Sammlung der Briefe nur gestreift, die jüdische Tradition nicht erwähnt.50 Bei soviel menschlichem Schöpfertum, mit Prometheus und Pygmalion, dem Menschen als Kunstwerk, einer schöpferischen Natur stellt sich die Frage nach jüdischem Bilderverbot und christlichem Ikonoklasmus.

46 Ebd., Nr. 63, S. 364. 47 Ebd., Nr. 63, S. 364 und 365; vgl. Nr. 70, S. 388: »Klassen der Menschheit«; S. 389: »Denkbilder reiner Formen der Menschheit«. 48 Ebd., Nr. 68 und 74 (Niobe, die Schmerzensmutter). 49 Ebd., Nr. 67, S. 382, übt ironische Selbstkritik. 50 Ebd., Nr. 70: Erwägungen über das Bild der Madonna, Gottvaters und des Gottessohnes mit Hinweis auf die klassische italienische Malerei.

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Aber Herder gebraucht, in der Sechsten Sammlung, nicht einmal die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Das enthusiastische Lob von griechischer Plastik und prometheischer Kreativität führt in späteren Phasen des Philhellenismus, bei Erwin Rohde und Friedrich Nietzsche, zu kulturmorphologischen Antithesen, die – unter Berufung auf das Bilderverbot – dem Judentum als solchem den plastischen Sinn, das plastische Vermögen, Schöpfertum und Originalität absprechen. Die Mysterien hellenischer Bildung, das Natürliche, das Plastische und das Tragische bleiben nach diesem Modell den Juden und jüdischen Christen unzugänglich.51 Die »Schule der Humanität« sollte also bei allem Lob ihrer Marmorgötter das Paradox von Bilderverbot und Imago-dei-Lehre in der jüdischen Tradition bedenken.

§4 Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 1. Herders »Beförderung« von Humanität in seinen Humanistischen Briefen ist ein Humanismus im engeren Sinn dieses Wortes. Er ist kompatibel, mit dem, was der Philosoph, Theologe und Schuladministrator Friedrich Immanuel Niethammer im Jahre 1808 »Humanismus« genannt hat. Herders Bestimmung von Humanität ist eine unter dem Eindruck der bürgerlichen Revolution in Frankreich vorgenommene aktualisierende, synthetisierende, paraenetische Aufarbeitung einer antiken Tradition. Sie umfaßt die studia humaniora, stoische Philosopheme, antike Plastik, wenig Naturkunde, viel Geschichte, einige christliche Elemente, neuere Philosopheme und viel ›schöne Literatur‹. Herders »Beförderung der Humanität« ist ein ›Humanismus‹, denn: Humanismus – so eine allgemeine Definition – ist keine Philosophie, keine Religion, sondern eine konkrete, positive Tradition, die im Bildungssystem der jeweiligen Oberschichten (Beamte, ›Schreiber‹, Kleriker, Juristen, Ärzte, Lehrer), in Schule, Hochschule, Literatur, Kunst verankert ist; sie legitimiert sich durch Aktualisierungen und jeweils neue Rezeption von Antike.

51 Belege bei Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart und Weimar 22000, S. 134-149.

B EGRÜNDUNG

DER

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2. Herder umschreibt den Begriff ›Humanität‹ mit den Ausdrücken ›Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe‹. Seine Briefe dienen dazu, diese Ausdrücke in anschaulichen Kategorien sichtbar zu machen, sie an philosophische Diskurse anzuschließen, ihre praktische Bedeutung für Bildung, Gesellschaft, Politik ›anzudeuten‹. Diese aus dem Anfang der Dritten Sammlung zitierten Ausdrücke umschreiben die anthropologischen, sozialen, ethischen Voraussetzungen, von denen der moderne freiheitliche Staat lebt. Dieser Staat kann – schon aus Gründen der Logik – diese Voraussetzungen nicht selbst begründen oder garantieren: denn es sind eben seine Voraussetzungen. Arbeit am Humanismus, auch an seinem Profil und seiner Genese im 18. Jahrhundert, dient der Prüfung, ob diese Voraussetzungen tragfähig und zukunftsfähig sind.

»Schule der Humanität« Johann Gottfried Herder über Ethik und Aesthetik der griechischen Plastik

§1 H ERDER

IN

R OM

§1.1 Die »Plastik« im Gepäck 1. Am 6. August 1788 beginnt Johann Gottfried Herder seine Italienreise. Im Gepäck hat er, so der Packzettel seiner Frau:1 »Winckelmann/Volkmann 3 Teile/2 Plastik/Erkennen und Empfinden/Laokoon/3 Webb und Mengs/4 Pindar, 2 Bände/5 Theokrit«. 1

»Caroline Herder«, in: Johann Gottfried Herder, Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788-1789. Hg. u. komm. v. A. Meier/H. Hollmer, München 1988.

2

Johann Jakob Volkmann (1732-1803), Historisch-kritische Nachrichten

3

G.E. Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie

4

Daniel Webb (1719-1798), Anton Raphael Mengs (1728-1779).

5

M. Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarver-

aus Italien, 3 Bände, Leipzig 1770-1771. (1766).

ständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005; Kap. 6: »Herders Auseinandersetzung mit Pindar«. Welche Ausgabe oder Übersetzung Herder mit sich führte, ist nicht bekannt – Heyne? Christoph Tobias Damm? Vgl. Herder, »Pindar, ein Bote der Götter, Ausleger alter Geschichte« (1804), in: Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877-1913 (SWS), Bd. 24, bes. S. 337: »[...] Bildnerei, Eido- und Eidolopöie möchte man seine (sc. Pindars) lyrische Gattung

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Das ist: Geschichte und Theorie der antiken Kunst; Italienführer; Pindar den »Ausleger alter Geschichte«, dessen Bedeutung für Herder Martin Vöhler dargelegt hat; und schließlich zwei eigene Arbeiten – »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« (1778) und »Plastik« (1770/1778), deren Thesen nun endlich, nach zwei Jahrzehnten, am antiken Marmor überprüft werden sollten.6 2. Herders Reise ist durch Briefe von ihm und über ihn gut bezeugt, seine Arbeit in den Museen durch unbearbeitete Notizen und eine hochliterarische Fassung.7 Der Ton der Briefe ist lange Zeit verdrießlich. Die adligen Herrschaften – Domherr Hugo von Dalberg und Frau von Seckendorff –, in deren Gesellschaft er reisen muß, sind ihm schwierig, die großen Gesellschaften in Rom lästig. Die Unterbringung ist problematisch, das Geld reicht nicht, die Garderobe paßt nicht, der

nennen, wie er denn auch seine Gesänge selbst mit lebendigen redenden Bildsäulen vergleichet«. Vermittelt durch Vöhler, S. 179. 6

Beide Texte jeweils in: Wolfgang Pross (Hg.), Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 2, Darmstadt 1987 (WB) und: Johann Gottfried Herder, Werke in 10 Bänden, hg. von M. Bollacher u. a., Frankfurt am Main, Bd. 4, 1994 (FA).

7

Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1]. – Zum Komplex der Bildungsreisen nach Italien vgl. Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, Stuttgart 1988, darin S. 203-230: E. Osterkamp, »Winckelmann in Rom. Aspekte adressatenbezogener Selbstdarstellung«; ebd. S. 231-246: G.E. Grimm, »›Die schönste Philosophie‹. Johann Gottfried Herders Kunstwahrnehmung im Lichte seines Romaufenthalts«; ders., »Kunst als Schule der Humanität. Beobachtungen zur Funktion griechischer Plastik in Herders Kunst-Philosophie«, in: G. Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744-1803, Hamburg 1987 (Studien zum 18. Jahrhundert 9), S. 352-363. H. Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus (1991), München 21999, darin S. 186-193: E. Osterkamp, »Auf dem Weg in die Idealität. Altertumskundliche Reisen zur Zeit des Greek Revival«, in: H. Pfotenhauer (Hg.), Kunstliteratur als Italienerfahrung, Tübingen 1991, darin S. 242-261: E. Osterkamp, »›Vixi‹. Spiegelungen von Carl Justi’s Italienerfahrung in seiner Biographie Johann Joachim Winckelmanns«; S. 40-66: P. Sprengel, »In der Musen Heiligtum. Herder, Italien und der Klassizismus«.

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Diener wird krank. Irgendwie regelt sich alles, aber erst in Neapel fängt er an, »zu fühlen, wie man Grieche sein konnte«. Und da ist dann wieder die Zeit zu kurz.8 Die antiken Bildsäulen sind ihm das wichtigste. In den Museen und Palästen von Rom, Neapel, Florenz sieht er sie alle in Marmor, die er bisher als große oder kleine Gipse und aus Drucken kannte. Jetzt steht er ihnen leibhaftig, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er sieht die Meduse im Palast Rondanini, den Iuppiter Verospi und Ariadne im Museum Clementinum, im Statuenhof des Belvedere im Vatikan den Apollo, Antinous,9 ›Kleopatra‹ oder Venus oder Ariadne, den Laokoon, den Torso, den er als Herakles deutet; in Florenz die mediceische Venus und Niobe mit ihren sterbenden Kindern.10 Was Herder im Statuenhof des Vatikan gesehen hat, finden die Berliner heute im Schloß auf der Pfaueninsel, wo die Malereien von Abraham Louis Rudolphe Ducros (1748-1810) und Giovanni Volpato (um 17351803) die Nischen und Statuen des Belvedere (Cortile delle statue) zeigen, dazu, als Staffage, Gelehrte und Künstler, die Apoll und Laokoon betrachten oder zeichnen.11 Herders Notizen zu diesen Kunstwerken sind informiert, aber nicht antiquarisch; sie sind konkret, aber nicht technisch:12 Körperteile, Stellung, Gewand, Requisiten, Gestik – »Handlung«; am Schluß eine Bewertung: »liebliche Erscheinung«, »mir unvergeßlich«.13 Herder gibt keine Datierungen, keine Künstlernamen, keinen Kontext, keine Fundorte; er bemerkt jedoch neuere Ergänzungen. Herder erfaßt die Körper-

8

Herder an Caroline Herder, Napel [sic], 6.01.89.

9

W. Helbig/H. Speier (Hg.), Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, Bd. 1, Tübingen 41963, Nr. 246: »Statue des Hermes, sog. Antinous«. – Vgl. Herders Notizen in Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], S. 560-614.

10 Herder an Herzogin Amalia, Florenz, 29.05.89. 11 Carlo Pietrangeli, »Il Cortile delle Statue nel Settecento«, in: M. Winner/ B. Andreae/C. Pietrangeli (Hg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, Mainz 1998, S. 421-429. 12 Einzelheiten, Nachweise, archäologische Literatur bei P. Sprengel, »In der Musen Heiligtum. Herder, Italien und der Klassizismus«, in: Pfotenhauer, Kunstliteratur als Italienerfahrung [Anm. 7], S. 40-66; Sprengel notiert die erotische Aufmerksamkeit in Herders Notizen. 13 Herder, in Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], 599, 605.

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lichkeit dieser Bildsäulen, ihr Volumen und Oberfläche, ihre Bewegtheit, ihr Ausgreifen in den Raum, er ertastet sie mit seinen Augen. Die Notizen sind nicht mit mythologischen Exkursen, philosophischen oder Texten der schönen Literatur angereichert: kein Beleg aus seiner »Plastik«, nicht einmal ein Pindar-Zitat. Herder sucht die »Spur des Menschlichen« in den Steinen selbst.14 §1.2 Inszenierungen Einige Museumsbesuche Herders sind gesellig und inszeniert. Er sieht das Kapitol nachts mit der Fackel, das »Coliseum« im Monde, das Museum des Vatikan »mit der Fackel«.15 Die Fackel wird so oder anders gewendet, »daß die Statue recht ins Licht kommt«.16 Hier, bei den Statuen, ist Herders »liebstes und wahres Heiligthum«.17 Er träumt sogar schon von Statuen und richtet Grüße an sie aus.18 »Ich wohne bei meinen Göttern und Göttinnen«, schreibt er an Luise von Riede, »bei meinen Helden und Grazien«. Die hohe Melpomene im Museum hat er letztens »wirklich im Betrachten ihres schönen Antlitzes geküßt«, in der Antike ein oft geübter Brauch der Bilderverehrung.19 Die Statuen verbinden sich ihm mit seinen Adressaten. Der Kopf von Herrn Knebel steht im Vatikan:20 »Du kannst ihn grüßen«, schreibt Herder seinem Sohn, »und ihm sagen, daß bei lebendigem Leibe sein Kopf im

14 Herder, in Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], 568. 15 Vgl. Herder an August Herder, Rom 28.10.1788. 16 Vgl. Benjamin Zix, Napoleon viewing the Laocoon at the Louvre by night. Watercolour drawing in pen, ink and wash, Louvre, Cabinet des dessins. Abbildung in Jan Jenkins, »›Gods without Altars‹: the Belvedere in Paris, in: M. Winner/B. Andreae/C. Pietrangeli (Hg.), Il Cortile delle Statue [Anm. 11], S. 459-469, fig. 8. 17 Herder an J. W. von Goethe, 3.12.88. 18 Herder, ebd.: »Statuentraum«; Herder an Luise von Riede, Rom, 29.11.88: Herder hat den Kopf des Ajax von ihr gegrüßt. Auch ihr berichtet er von Statuenträumen. 19 Herder an Luise von Riede, ebd. – Ein antikes Beispiel: Minucius Felix, Octavius 2,4. 20 Herder an August Herder, Rom, 28.10.88; ähnlich ebd. über den Kopf Goethes.

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größesten Museum der Welt stehe, und daß ich ihm daselbst meinen tiefen Respekt bezeugt habe«. Seine Gattin, die er bisher mit Elektra identifizierte, wird nun nach Besichtigung des Belvedere umbenannt:21 »Du bist Ariadne«. Caroline nimmt die Rolle an und unterschreibt den Antwortbrief:22 »Deine Ariadne«. Angelika Kaufmann berichtet Goethe von einer Besichtigung des Belvedere:23 »Da wir alle (sc. die Herzogin, Baron von Dalberg, Frau von Seckendorf u.a.) vor dem Apollo gestanden, wurde proponieret, dem Gott ein Gebet zu opferen. Herr Herder sagte es würde wohl ein Jeder, oder eine Jede eine eigene bitte (sic) an den Gott zu machen haben, meine bitte an den Apollo war, [...] «

Was Herder gebetet, ist unbekannt. Die kleine Szene ist nicht blasphemisch noch pagan bekennerisch, aber auch nicht nur spielerisch.24 Die göttlichen Kunstwerke haben noch einen gewissen Kultwert. Es sind »Götter ohne Altäre«, aber der Kultwert ist nicht völlig im Kunstwert aufgegangen. Die verbotene, verfolgte, zu Aberglauben und Bildungsgut, Kunst und Gelehrsamkeit mutierte, als solche aber immer noch präsente Religion erzeugt kleine Irritationen im Gefüge der dominanten Religion.25 Es sind jedoch genau die Götter und Heroen, in denen Herder jetzt in Rom deutliche Typen der Menschheit erkennt, klare, unvermischte, konsequent ent-

21 Herder an Caroline Herder, Rom, 27.2./1.3.89, mit ausführlicher Begründung, auch im Hinblick auf die Rolle des Theseus und Bacchus in diesem Mythos; ihren »Charakter« sah er in der Statue. 22 Caroline Herder an Herder, Weimar, 16.3.1789. – Seine Gattin ist ihm, wie Luise von Riede (s. Herder, 29.11.88), Muse, ja: »meine Göttin und griechische Muse [...] Du mein Engel in weiblicher Bildung« (S. 262). Vgl. S. 228: (Herder an Caroline Herder): »sei eine Griechin, ohne Griechisch zu lernen«. 23 Angelika Kaufmann an Goethe, Rom, 1.11.88. – Vgl., S. 226: »Apollo, komm! Laß deine Locken fliegen/ [...] «. 24 Der Apoll im Belvedere ist kein Kultbild. 25 Vgl. H. Cancik, »Orte der Antike in einer europäischen Religionsgeschichte«, in: H.G. Kippenberg/J. Rüpke/K. v. Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen 2009, Bd. 2, S. 667693; in diesem Band.

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wickelte Gestalten, Personen, Charaktere. Herder hat, wie ich zeigen möchte, diese Typen und ihre Vermittlung durch die Plastik als einen notwendigen Teil in seine Konstruktion von Humanität gefügt. Diese Konstruktion ist, trotz aller antiken Materialien, Mythen und Argumente, durchaus modern. Ciceros humanitas kennt diese Verbindung von Göttern, Kunst und Menschlichkeit nicht. §1.3 »Kodex der Humanität« 1. Herder war nach Italien gereist mit seiner »Plastik« im Gepäck. Die Monumente und Kunstwerke in Rom drängen ihn, wie erwartet, zu Korrektur und Ausarbeitung:26 »Außer dem Pantheon, der Peterskirche, dem Museum, das ich nun ganz durch bin, einer guten Partie von Säulen u. Trümmern, unter denen das Colisee oben ansteht, habe ich von Villen die Ludovisi und die Borghese gesehen; ein Schatz, den ich bei weitem noch nicht verdauet habe. Mein Plan indes reihet sich fest, u. meine Plastik kommt mir ganz wieder; wahrscheinlich wird sie das erste sein, was ich aus- und umarbeiten werde. Doch sage davon nichts an Göthe; es liegt ja noch alles in der Zukunft«.

Die neue Fassung wurde allerdings keine selbständige Schrift. Ihre Quintessenz jedoch findet sich, wenn ich recht sehe, in der Sechsten Sammlung der Briefe zur Beförderung der Humanität.27 Es sind die neuen Materialien und Kenntnisse, die jetzt eine Umarbeitung verlangen, aber auch eine neue Erkenntnis oder die Verstärkung und lebendige Bestätigung einer alten Vermutung. Herder ordnet jetzt die Plastik, ihre Ästhetik und Ethik fest einem zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch ungewöhnlichen Begriff zu, der ›Humanität‹. Er schreibt an Karl Ludwig von Knebel:28

26 Herder an Caroline Herder, Rom, 8.10.88. 27 Vorarbeiten zu dieser neuen Fassung sind die Notizen seiner Museumsbesuche, S. Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], 560-616. 28 Herder an Knebel, Rom, 13.12.88 (S. 272). – Das Wort ›Humanität‹ auch in den ›Stanzen‹, in: Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], S. 381: »ich lernt’ an eurem Knie, an eurem Busen/nichts als – Humanität, erhabne Musen«.

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»Ich studiere, so oft ich kann, täglich 3. Stunden an diesen Gestalten der alten Welt, u. betrachte sie als einen Kodex der Humanität in den reinsten, ausgesuchtesten, harmonischen Formen«.

»Diese Gestalten« sind die Statuen der griechisch-römischen Götter, Heroen, Musen, Nymphen, Satyrn und Faune, der Fechter, Athleten, Genien. Ihre Formen sind rein, d.h. unvermischt, klar, deutlich; sie sind ausgesucht, d.h. sie bilden eine gewisse Ordnung; sie sind harmonisch, d.h. sie sind richtig in Proportion, Bewegung, Stellung und Gesichtsausdruck. »Diese Gestalten« haben Namen; sie sind Personen, haben einen je besonderen Charakter, eigene Geschichte (Mythen). Sie sind je besondere Gestalten von Humanität und nicht reduzierbar auf einen Begriff oder auf ästhetischen Genuß. Das etwa meint Herder mit seinem »Kodex der Humanität«; er wendet es ausdrücklich gegen Goethe.29

29 Herder an Knebel, Rom 13.12.88 (S. 272): »In der Kunstbetrachtung bin ich nach meiner Weise fleißiger u. ich gebe Göthen in Allem recht, was er darüber saget. Das Einzige Schlimme dabei ist – aber ich will nicht einreden«. – Was ist das »Schlimme« in Goethes Kunstbetrachtung? Vgl. Herder an Goethe, Rom, 27.12.1788: »Ich will nur dagegen kämpfen, daß ich nicht in deine Fußstapfen trete, und eine ›Gleichgültigkeit gegen die Menschen‹ nach Hause bringe, die mir übler bekommen würde als Dir, weil ich keine Kunstwelt, wie Du, an die Stelle des Erloschenen zu setzen wüßte«. – In der Betrachtung von Plastik stimmt Herder mit Goethe durchaus überein, wie die folgenden Beispiele aus der »Italienischen Reise« zeigen: (a) »Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott«. (»Italienische Reise«, Dritter Teil, 6.9.1787, in: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von E. Beutler, Zürich 1977, Bd. 11, S. 436). (b) »man fühlt, das Würdigste, womit man sich beschäftigen sollte, sei die menschliche Gestalt, die man hier (sc. in der Gipssammlung der Französischen Akademie in Rom) in aller mannigfaltigen Herrlichkeit gewahr wird«. (Ebd. 11.04.1788; Bd. 11, S. 597f.). (c) »man wird (sc. durch die antiken Statuen) die Mannigfaltigkeit der Menschengestaltung gewahr und durchaus auf den Menschen in seinem reinsten Zustande zurückgeführt, wodurch dann der Beschauer selbst le-

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In einem Gedicht aus Rom für seine Gattin benennt Herder diese Gestalten der »Humanität«:30 »Und sah sie in den göttlichen Gestalten, sah Weisheit, Güte, Macht als Menschenbild, sah jeder Knospe Schönheit sich entfalten, sah jede Art in Menschenform gehüllt, sah Kräfte sprossen, wachsen und veralten und jeden Zweig von seinem Saft erfüllt, sah hier das Licht aufgehen, steigen, schwinden und lernte stets die Menschheit wiederfinden«.

Diese Gestalten wirken durch die Sinne, Gesicht und Gefühl, direkt auf die Seele und bilden sie.31 So hängen für Herder die Begriffe Plastik und Humanität, Ethik und Ästhetik zusammen. An seinen – damals zwölfjährigen – Sohn August schreibt er:32 »Aber dennoch (sc. obschon ich sie nicht zeichnen kann) sind auch mir diese hohen Gestalten sehr lieb u. wert: unter Göttern gewinnt man die Menschen lieber; man lernt, was in menschlichen Formen u. Charakteren alles verborgen sei, u. wird gar rein u. vornehm, wenn man unter diesen Anschauungen lebet«.

bendig und rein menschlich wird«. (ebd. April 1788; Bd. 11, S. 601). Goethe hatte die Ausarbeitung der Italienischen Reise 1815 begonnen; ihr Dritter Teil entstand 1828/29. – Zu Goethes Kunstbeschreibung vgl. E. Osterkamp, Vom Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibung, Stuttgart 1991. 30 Herder, Stanzen, in: Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], S. 381. 31 Vgl. Herder, Plastik (1778), 4. Abschnitt (FA Bd. 4, 301): die »sympathetische Stellung« der Seele des Betrachters; ebd. 303: »Sonst halte ich’s für trefflich, jeder Schildwache Statuen vorzusetzen: das Geschöpf hat Zeit, an ihnen Apollo und Jupiter zu werden«. 32 Herder an August Herder, Rom, 26.10.1787. – Vgl. Herder an Herzog Carl August, 29.11.1788 (S. 193): »Die Seele bekommt unter diesen Denkmalen Formen der Wahrheit und Schönheit, des Anstandes und der Bildung allgemeiner Begriffe, die sie vorher nicht hatte u. sonst nirgend in der Welt erlangen kann«.

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Dies ist die kindgemäße, pädagogisch reduzierende Fassung des »Kodex der Humanität«, den er dem Freund Knebel mehr spekulativ, für Ariadne-Caroline poetisch formuliert hatte. Die pädagogischen Anweisungen Herders an seine Söhne führen jählings von der seelischen Erhebung an den hohen Gestalten zum schulischen Alltag in Weimar:33 »lerne hübsch Latein u. halte den Horaz in Ehren« und:34 »Lerne auch fleißig die Mythologie, die alte Geschichte, die alten Sprachen u. vernachlässige ja nicht das Zeichnen. Wenn ich zeichnen könnte, [...]«. Kinder-, Jugend- und Schulbücher zum Erlernen der alten Mythologie sind nicht selten im 18. Jahrhundert und meist mit Abbildungen ausgestattet, etwas Heinrich Brauns »Einleitung in die Götterlehre der alten Griechen und Römer zum Gebrauche der Schule. Mit Kupfern« (Augsburg 1776, 2. Auflage)35 oder das »Bilderbuch für Kinder« (I, 1790) von Friedrich Justin Bertuch (1747-1822)36 oder das »Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst« von Aloys Hirt (17591837), den Goethe Herdern als kundigen Führer zu Roms Altertümern empfohlen hatte. Hirt schreibt für die Schule und ausdrücklich für die »aesthetische Erziehung der Jugend«.37 Da die Abbildungen »nach den

33 Herder an Gottfried, 28.10.1788. 34 Herder an August, 28.10.1788. 35 Alle Angaben nach Theodor Brüggemann, »Zur Rezeption antiker Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur des Goethezeit,« in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. NF Bd. 12, 1987, hg. v. H. A. Meyer, S. 93-116. 36 G.R. Kaiser/S. Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747-1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000; darin u.a. über Bertuch und die Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts (Angelika Pöthe); Bertuch und die Freie Zeichenschule in Weimar (W. Braungart); Bertuch und Herder (M. Koch); über Bertuchs »Bilderbuch für Kinder« (1790-1843) und die Verbindung zum Philanthropinismus (U. Plötner). 37 A. Hirt, Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst, 2 Hefte, Berlin 1805/1816 mit zahlreichen Abbildungen. – Bei Brüggemann, Zur Rezeption antiker Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur der Goethezeit [Anm. 35]. Nachweise zu Peter Lauremberg (Acerra Philologica, 1633; 1735; von Goethe als Kind gelesen); Georg August Scheppach, Mythologisches Lesebuch für die Jugend, 2 Bde., Dresden 1785, 1786 (mit Kupfern von J.W. Meil nach A.C. Kirsch); Karl Philipp Moritz, Götterleh-

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Denkmahlen der bildenden Kunst« (Hirt, S. V) gegeben sind, werden die mythischen Personen, Kunstgegenstände und Mythologie eine Einführung in antike Kunstgeschichte. Allgemeine ästhetische und ethische Kategorien werden konkret in bestimmten Kunstwerken:38 »Für Hirt ist die Mythologie in den Kunstwerken Gestalt geworden und hat so teil an ihrer Vollkommenheit, sie ist damit zwangsläufig ein Bestandteil aesthetischer Erziehung«.

§2 H ERDERS »P LASTIK « I-IV (1770-1800) §2.1 Plastik I-II (1770-1778) Herder hat seine Schrift »Plastik« durch Titel, Untertitel und Motti in ein älteres und größeres Arbeitsfeld eingeordnet: »Plastik. Einige Wahrnehmungen aus Pygmalions bildendem Traume Ti kallos; erotema typhlou

re oder mythologische Dichtungen der Alten. Mit fünf und sechzig in Kupfer gestochenen Abbildungen nach antiken geschnittenen Steinen und anderen Denkmälern des Altertums, Berlin 1791; ders.: Mythologisches Wörterbuch für Schulen, Berlin 1793 (postum). 38 Brüggemann, »Zur Rezeption antiker Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur des Goethezeit« [Anm. 35], S. 109. – Vgl. Hirt, Bilderbuch [Anm. 37], S. 56 zu Tafel VII: »Mit dem Namen der schamhaften Venus bezeichnen wir alle die nackten und stehenden Bilder, in welchen die Göttin, etwas seitwärts blickend, mit den Händen Scham und Brust deckt. Die vornehmste Statue dieser Art ist die Mediceische [....] Ohne die Arme, welche neu sind, fand man sie in elf Stücke zerbrochen, die aber sehr glücklich wieder vereinigt wurden. Sie ist ohne Zweifel das anmuthigste Gebilde der Venus, und, nebst dem [...], das Vollendetste und Zarteste, was von der Bildnerei auf uns gekommen ist«. – Zum Einfluß von Winckelmanns Kunstgeschichte auf die Auswahl und den Stil der Abbildungen (»linear«) und ihrer Beschreibungen in der Kinder- und Jugendliteratur des 18.-19. Jahrhunderts vgl. Brüggemann, ebd., S. 99-102; Winckelmanns Kunst- und Antikebild werde, so Brüggemann (S. 96) »in den Grundzügen unverändert« in die Kinder- und Jugendliteratur übernommen.

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Geschrieben größtentheils in den Jahren 1768-1770/ Der unvollkommene Anfang zu ähnlichen Versuchen einer Anaglyphik, Optik, Akustik u. f. – en! ille in nubibus arcus mille trahit varios adverso sole colores. Virg.«

Herder erinnert an eine frühe, unveröffentlichte Fassung der Schrift (Plastik I), gibt dem monumentalen Einworttitel einen mythologisierenden Untertitel bei – »Pygmalions Traum« – und zwei Motti, ein griechisches – »Was ist Schönheit? Frage eines Blinden« – und ein lateinisches, Vergils Verse über die Farben des Regenbogens.39 Der dreifache Bezug auf antike Spekulation über Kunst, die Sinne, Schönheit gibt der Schrift einen schönen und gelehrten Anfang. In fünf Abschnitten bietet Herder eine Lehre von der Sinneswahrnehmung, insbesondere Sehen und Tasten (Fühlen, Greifen), und von den Künsten, die jeweils bestimmten Sinnen zugeordnet seien, der Malerei (Fläche, Farbe) und der Plastik (Körper, Gefühl). Die Beispiele sind überwiegend griechische Bildsäulen, und durch diese wird die Schrift über Sinne und Kunst zu einer Abhandlung über den »Menschenkörper« (3. Abschnitt). Herder hat die Schrift jedoch durch die Titelei den Versuchen zu Anaglyphik, Optik und Akustik zugeordnet, zu einer »Geschichte des menschlichen Verstandes«.40 Der sensualistische Ansatz ermöglicht es, die reflexiven Beziehungen zwischen Kunstwerk und Betrachter zu erfassen.41 Das Auge tas-

39 Vgl. Ovid, Metamorphosen 10, 243-297; Stobaios, Florilegien 65,14; Vergil, Aeneis 5, 88f. – Stobaios bietet eine abstrakte, doch wohl späte Fassung des geistreichen Apophthegmas des Aristoteles. Bei Diogenes Laertios (5,1,20) ist eine personale Fassung erhalten: »Als sich jemand erkundigte, warum wir viel Zeit mit den Schönen (masc. plur.) verbringen, sagte er: eines Blinden die Frage«. – Vgl. Herder, »Pygmalion. Die wiederbelebte Kunst (1801-1803)«, in: B. Suphan/C. Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke 4 (= Sämmtliche Werke 28), Berlin 1884, S. 264-282; Herder, »Der entfesselte Prometheus. Scenen (1802)«, in: ebd. S. 329-369. 40 Vgl. W. Pross, in: J.G. Herder, Werke, Darmstadt 1987, WB Bd. 2, S. 984. 41 Herder, Plastik, 4. Abschnitt (FA Bd. 4, 301). – Das ist ›Pygmalions Traum‹, den Herder im Titel der Schrift zitiert. Allerdings ist diese Art der Wahrnehmung von Statuen in der Antike selten; die entsprechenden Erscheinungen werden in der Antike am Beispiel der Musik untersucht, s. hier §3.2.2.

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tet, begreift, wie eine verlängerte Hand, den Körper der Bildsäule, jede Biegung, Senkung, Weiche, Härte; seine Seele gießt Leben und Seele in den Kunstkörper; dieser aber hat beinahe die Gewalt, »unsere Seele in die nämliche sympathetische Stellung zu versetzen. Jedes Beugen und Heben der Brust und des Knies, und wie der Körper ruht und wie in ihm die Seele sich darstellt, geht stumm und unbegreiflich in uns hinüber: wir werden mit der Natur gleichsam verkörpert oder diese mit uns beseelet«.

Diese gegenseitige Übertragung (Projektion) ist die Wirkung des Kunstwerks: Wer sich diesen reinen, starken, deutlichen Formen aussetzt, wird, so Herders Vermutung, selbst »rein und vornehm«:42 Bilder bilden. Diese Vermutung hat Herder zehn Jahre später vor den Marmorgöttern in Rom, Neapel und Florenz geprüft und für richtig befunden. Auf dieser Erfahrung beruht, so scheint mir, sein Plan, die »Plastik« von 1778 um- und fortzuschreiben. Das Ergebnis steht in der Sechsten Sammlung der Briefe zur Beförderung der Humanität.43 §2.2 Plastik III (1788-1795) 1. Die Sechste Sammlung seiner »Humanistischen Briefe« gliedert Herder in einen antiken Teil – über Kunst – und einen modernen von der Bürgertugend. Der antike Teil beginnt mit einem theoretischen Brief (nr. 63); dieser formuliert im ersten Satz das Programm der Sammlung: »Auch die Griechische Kunst ist eine Schule der Humanität; unglücklich ist, wer sie anders betrachtet«. Und nun zeigt Herder dem Leser die richtige Betrachtung. Er führt ihn durch die römischen Museen und Paläste und erinnert dabei seine römischen Studien und Erlebnisse. Die Systematik der Kategorien wird deshalb immer wieder überlagert von Selbstzeugnis und imagi-

42 Herder an August Herder, Rom, 28.10.1788 (S. 193); vgl. o. Anm. 32. – Das Nachstellen von Statuen durch Lady Hamilton hat Herder nicht goutiert: »Affenkunst« (Meier/Hollmer, 1988 [Anm. 1], S. 361). 43 Die »Plastik« war bereits im Hinblick auf eine Reise nach Italien geschrieben; vgl. 2. Abschnitt, cap.4 (IV, 277): [...] »in der Stadt (Rom), die noch jetzt die meisten (klassischen Denkmale) besitzt, es vielleicht den wenigsten Geist gibt, der, ihrer wert, sie umfange und verneue«. – Der Rombesuch, zehn Jahre danach, hat ihm diese Annahme bestätigt.

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nierter Nähe.44 Schon die zweite Kategorie wird persönlich angesprochen: »Hiemit komme ich zu Euch, Ihr Genien der Jünglingschaft«. Nach den Besichtigungsprotokollen und den Briefen Herders aus Rom haben wir hier eine dritte Textform, in der er seine Studien an den römischen Kunstwerken mitteilt: anspruchsvoll, hochliterarisch, sozusagen Herders »Italienische Reise«.45 Beispiele: »Ein Blick auf Dich, du Vatikanischer oder Borghesischer Genius« (nr. 63), »Und Ihr heiligen Musen [...] so oft ich bei euch [...] im vatikanischen Tempel war,« [...]; »Dir nahen wir uns, himmlische Aphrodite« (nr. 64); »Wieder lasse ich mich am Fuß dieser Vestale nieder und frage: ›Was helfen uns diese Bilder? diese so groß und rein und richtig bestimmten Menschen-Ideale?‹ [...]«.46 Diese höchst subjektive Textform hat Herder gewählt, um die »anschaulichen Kategorien der Menschheit« vorzutragen, was er »Hauptform« nennt (S. 373), »Menschenklassen« (S. 378), »Menschenformen« (S. 378). Die Wahl dieser Textform macht klar, daß Systematik, Vollständigkeit, Kohärenz der Kategorien nicht erwartet werden sollen. Soviel nur wird deutlich, daß Geschlecht, Alter, Charakter (S. 373), Sinnesart, Neigungen und Triebe (nr. 63), sozialer Stand, Gebärde, Sitte, Grad der Leidenschaft, Kleidung übergeordnete Kategorien sind (nr. 64). In den vier Fortsetzungsbriefen – nr. 64-67 – findet sich folgende Ordnung:

44 Brief nr. 64 beginnt systematisch – »Die erste Kindheit« und geht mit der nächsten Kategorie – »Jüngling« – in persönliche Anrede und Selbstzeugnis über. 45 Vgl. Meier/Hollmer, Italienische Reise [Anm. 1], S. 623 ff.: »Nachwort«, ohne Berücksichtigung der Sechsten Sammlung. 46 Nr. 66; »wieder« – scil. wie damals in Rom? – Vgl. nr. 64, S. 369: »In dem Zimmer in Florenz, wo ich mich mit den Eingekerkerten einschloß, [...] (Niobe)«; nr. 65, S. 373: »unvergeßlich und ewig lehrreich sind mir die Stunden, da ich vor den Kunstgebilden der Alten [...] ruhig betrachtete und abwog«. Dieser Motivstrang wird abgeschlossen im 71. Brief mit der Erinnerung an Angelika Kaufmann, deren Schwester »die Muse der Humanität« ist (S. 395).

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1. Kind

Amor, Eros, Amores

2. Jüngling

Genius

3. Jungfrau

Musen u.a.

4. Sammelgruppe:

Orest, Pylades, Hippolyt, Phaedra Bruder, Schwester, Freund, Gatten

5. Allgemeine Aspekte:

ohne Beispiele Stand, Grad der Leidenschaft, Gebärde, Sitte u. a.

6. Der Held: Stärke

Torso des ›Hercules‹, Laokoon, Castor und Pollux auf dem Quirinal

7. Drei »Jünglingsarten«: (a) Jünglingsgenius

Dionysos

(b) Heldenjüngling

Apollo

(c) »Dritte Jünglingsart« Merkur 8. Jungfrau

Diana

9. Der weibliche Liebreiz

Aphrodite

10. Jungfrau-Matrone

Vesta – Vestalin

11. Weitere Gottheiten:

Mars, Vulkan, Ceres, Pallas, Juno, Jupiter; ohne klare Zuweisung zu ›Kategorien‹.

Dies sind die »Ideale der Humanität in der griechischen Kunst« (S. 383). Die Betrachtung dieser Kunstwerke ist »die stumme Schule der Humanität« (S. 370), »stumm« – denn sie wird erst durch die Texte zum Sprechen gebracht. Es ist offensichtlich, daß diese Tabelle weder Kunstwissenschaftler noch Philosophen befriedigen kann. Nur in Verbindung mit Herders Beschreibungen vermitteln diese ›Kategorien‹ eine Einsicht und eine »innere Sympathie, d. i. Gefühl und Versetzung unseres ganzen Menschlichen Ichs in die durchtastete Gestalt«.47 Die theoretische Voraussetzung hat Herder in seiner Schrift ›Plastik‹ entwickelt. Darauf fußend bietet er in der Sechsten Sammlung der Humanitätsbriefe eine informierte Anleitung für gebildete Dilettanten zum Selbstsehen und ein persönliches Vorbild jener ›inneren Sympathie‹, die in die Seele wirkt, diese bildet, sie ›rein und vornehm‹ macht. In Rom, angesichts der griechischen Kunstwerke, war ihm diese Wirkung evident geworden, ebenso die Notwendigkeit, Kunst an Humanität zu binden, sie als ›Kodex‹ und ›Schule‹ zu beschränken und zu instrumentalisieren.

47 Herder, Plastik II (1778), FA Bd. 4, 297 (= WB Bd. 2, 514).

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2. Die Betrachtung dieser Kunstwerke nennt Herder »die stumme Schule der Humanität«.48 Deshalb fügt er seiner Beschreibung der griechischen Plastik eine Blütenlese aus griechischen Autoren bei, die Kunstwerke beschreiben.49 Sowohl die Autoren wie die Kunstwerke, die sie beschreiben, sind eher unbedeutend. Die Blütenlese zeigt vielmehr das Mißverhältnis zwischen Texten und bildender Kunst in der Antike. Keiner der großen Autoren hat eine der großen Bildsäulen beschrieben oder bedichtet, die Herder in Rom gesehen und uns vorgestellt hat.50 Daß er bei einem Gelegenheitslyriker wie P. Papinius Statius einige Verse über eine Statuette findet, die den Herculeskoloss des Lysipp en miniature nachbildet, ist schon ein bedeutender Fund.51 Das enge Verhältnis von Bild zu Wort, antiker Plastik zu Texten ist eine ›Synthese‹, die Herder vornimmt, um seinem modernen Begriff ›Humanität‹ eine breite antike Grundlage zu geben.52 Auf diese Weise verklammert Herder die Dritte Sammlung der Humanitätsbriefe fest mit der Sechsten. In jener, der Dritten Sammlung, hatte Herder den Begriff ›Humanität‹ antik und modern begründet. Er hatte Philosopheme der Stoiker, besonders Epiktet und Marc Aurel, synthetisiert mit Interpretationen

48 Herder, BBH, S. 370. 49 Herder, BBH, nr.72-76: »Stimme der Musen zu Vorstellungen der griechischen Kunst«. 50 Herder, Plastik (1778), FA Bd. 4, S. 315-316. – Eine Ausnahme ist die 12. Rede des Dio Chrysostomos, die »Olympische« (97 n.Chr.) über das von Phidias verfertigte Kultbild des Zeus in Olympia. – Cicero, de signis (»Über Bildwerke«) hat Herder auffälliger Weise nicht benutzt. – Die Regeln der Rhetorenschule für eine fachgerechte Beschreibung (ekphrasis) sind vor allem technischer Natur; sie bieten nicht das, was Herder erfährt und auszudrücken versucht. 51 Zum Hercules Epitrapezius des Statius vgl. H. Cancik-Lindemaier, »Ein Mahl vor Hercules«, in: dies., Von Atheismus bis Zensur. Römische Lektüren in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Henriette HarichSchwarzbauer und Barbara von Reibnitz, Würzburg 2006, S. 137-158. 52 Herder, BBH, nr. 75, S. 406: »Ohne jene erklärenden Stimmen der Dichtkunst würden uns die Kunstgestalten der Griechen vielleicht Wundererscheinungen sein; jetzt werden sie unserem Herzen innig zusprechende Freunde«. – Die antiken Texte und Bilder beziehen sich sehr selten direkt aufeinander, haben aber gemeinsamen Stoff, den ›Mythos‹.

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zu griechischer Epik, mit antiker Rhetorik als Bildungsform, mit Musterstücken aus antiker Geschichte. So gewann er ein reiches, mehrdimensionales Feld von Begriffen, Diskursen, Paradigmen, um in ihnen seinen neuen Begriff ›Humanität‹ zu konstituieren. Diese Verdichtung und Synthese antiker Materialien unter dem Aspekt ›Humanität‹ ist modern. Es gibt viele antike Quellen, aber kein antikes Analogon zu Herders Briefen zur Beförderung der Humanität. Mit seiner Sechsten Sammlung hat Herder unerwartet, ohne direkte antike Legitimation die bildende Kunst als ein weiteres Element in die Grundlegung moderner ›Humanität‹ in deutschen Landen eingebaut. Die Einbeziehung der Kunst, der griechischen Plastik insbesondere, in eine Begründung von Humanität ist auch deshalb unerwartet, weil die Humanisten der Renaissance in ihren kunsttheoretischen Schriften eine derartige Beziehung nicht hergestellt zu haben scheinen.53 Herders Verfahren ist jedenfalls auch hier: antike Tradition und moderne Konstruktion. Ob das Ergebnis tragfähig ist, zukunftsfähig und richtig im Sinne legitimer Fortbildung von Tradition, muß, wie bei jeder ›lebendigen‹ Traditionsbildung geprüft werden.54

53 Ich beziehe mich auf die kunsttheoretischen Schriften von Leone Battista Alberti (1404-1472), besonders Della Statua (De Statua), verfaßt wahrscheinlich kurz nach 1464; H. Janitschek (Hg.), Leone Battista Alberti’s Kleine kunsttheoretische Schriften (1877), Osnabrück 1970, S. 199f.: Die Vermessung des Menschen von der Sohle bis zum Scheitel. Vgl. M. Barry Katz, Leone Battista Alberti and the Humanist Theory of Arts, Washington D.C. 1978. – Auch Albertis de pictura ist weniger Kunsttheorie als »the instruction of students of painting«. Das pädagogische Muster für Alberti bietet Quintilian, S.D.R.E. Wright, »Alberti’s De pictura: its literary Structure and purpose«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 47 (1984), S. 52-71. – Zur Quintilian-Rezeption vgl. auch: W.H. Woodward, Vittorino da Feltre and Other Humanist Educators, London/New York 1970. – Zu den Kunsttheorien der Renaissance s. M. Barasch, Theories of Art. From Plato to Winckelmann, New York/London 1985. 54 Zur Begriffsbildung vgl. H. Cancik, »Tradition«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2001, S. 244-250. – Bernhard Schweitzer hat in seiner Deutung von Herders ›Plastik‹ (B. Schweitzer, J.G. Herders »Plastik« und die Entstehung der neueren Kunstwissenschaft, Leipzig 1948) deren Einbindung in Herders Projekt ›Begründung von Humanität‹ nicht berücksichtigt.

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§3 A RS

IPSA

(P LINIUS )

§3.1 »... ins Unendliche erblüht« (Plinius) Die Fülle von Statuen, mit denen in der Antike der öffentliche und private Raum »überschwemmt« wurde, war auch den Alten verwunderlich und ein Problem.55 Die Künstler und ihre Werke seien unzählbar:56 »Die Bildhauerkunst jedoch ist ins Unendliche aufgeblüht; wenn man nur mehreres darstellen wollte, wäre es ein Werk von vielen Bänden; wer nämlich könnte alles darstellen?« Die Statuen standen auf den Märkten, an den Toren, in den Kultanlagen, in den Tempeln und Thermen. Auch die öffentlichen und privaten Innenräume waren, nach Vermögen, mit großen ehernen Standbildern oder kleinen Terracottafigürchen auf dem Hausaltar ausgestattet: Speiseräume, Bibliotheken, Bäder. An den Gräberstraßen vor der Stadt gab es Grabhäuser und Stelen mit Büsten oder Standbildern der Verstorbenen. Und in der freien Landschaft standen Bildsäulen und Male von Hermes, Priap und den Nymphen. Die eindrücklichsten Zeugnisse für den antiken Bilderreichtum geben die jüdischen Autoren, denen der Anblick der Statuen und Bilder ein Greuel und verboten war.57 Man soll die Augen schließen, wenn eine Prozession mit einem Götterbild vorbeikommt; es ist fromm, nicht auf die Bilder eine Münze zu gucken; nur wenn Bilder gestürzt und fragmentiert sind, darf man sie betrachten.58 So stark ist die Macht der Bilder. Durch die Neufunde antiker Plastik und die Freilegung antiker Lebensräume wurde der Neuzeit diese Bilderfülle und ihr Ort im öffentlichen und privaten Raum wieder sichtbar. Neben die Wortüberlieferung

55 Vgl. Varro, Antiquitates rerum divinarum. (Hg. v. Burkard Cardauns, Wiesbaden 1976) I frg. 38. 56 Plinius, naturalis historia 34,35. 37. 57 Abodah Zarah (»Fremder Dienst«, in: Lazarus Goldschmidt, (Hg.), Babylonischer Talmud VIIb, Haag 1933, S. 793-1047), III 1: »Alle Bilder sind verboten«. 58 Belege bei H. Cancik, »Fremde Bilder. Kult und Kunst in den TalmudTraktaten Abodah Zarah«, in: ders., Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, S. 209226.

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treten nun in verstärktem Maße die Dinge selbst – Gerät, Schmuck, Kunst. Diese neue Situation ermöglicht den Versuch Herders, ›Humanität‹ auch in der antiken Kunst zu begründen. Dieser Versuch behält seine Berechtigung, auch wenn Herders Benennung von Kunstwerken gelegentlich unrichtig, seine Annahme, die Anfänge der griechischen Kultur seien jugendlich, sakral und unverdorben gewesen, falsifiziert ist; auch wenn die bunte Bemalung antiker Statuen und Reliefs inzwischen gesichert und damit Herders strikte Trennung zwischen Malerei und Plastik hinfällig geworden ist: Die Götter sind bunt, nicht weißer Gips oder Marmor.59 §3.2 Die Kunst und das ›Menschenbild‹ 1. Die antiken Bildhauer und Erzgießer reflektieren und produzieren ›Menschenbilder‹, ›ideale‹ und veristische.60 Philosophen, Rhetoren, Fachleute reden und schreiben über Kunst.61 Sokrates geht in die Ateliers des Malers Parrhasios und des Bildhauers Kleito und disputiert über Kunst und den Ausdruck von Emotionen.62 Dio von Prusa redet im Jahre 97 n.Chr. in Olympia zur Eröffnung der Spiele über Pheidias, der das Kultbild des Zeus gefertigt hatte. Das Paradox, daß der Kosmokrator, der Nous, Logos und unkörperlich ist, bildlich und als Mensch dargestellt werden kann, wird ausführlich erörtert; Pheidias selbst kommt zu Wort. Das Paradox ist so alt wie die griechische Philosophie und unlösbar.63

59 V. Brinkmann, Bunte Götter. Ausstellung München 2003/04, Hamburg 4

2007; ders., Die Polychromie der archaischen und frühklassischen Skulp-

tur, München 2003. Vgl. J.J. Pollit, The ancient view of Greek art: criticism, history, and terminology, New Haven/London 1974. 60 B. Schweitzer, Das Menschenbild der griechischen Plastik, Potsdam 1947. 61 Fachleute: B. Schweitzer, »Xenokrates von Athen. Beiträge zur Geschichte der antiken Kunstforschung und Kunstanschauung« (1932), in: ders., Zur Kunst der Antike, Tübingen 1963, S. 105-164. – Xenokrates (Skulptor und Autor) blüht um 280 v.Chr. 62 Xenophon, Memorabilien 3,10. 63 Ein früher Beleg ist Xenophanes, frg. 166; 168-169; 170-172: griechischer Text und deutsche Übersetzung bei S. Kirk/J.E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994 (KRS), S. 178-197. Klares Wissen über die Gottheit, sagt Xenophanes, habe niemand; auch seine ei-

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Sehr wenig nur ist von antiker Kunstschriftstellerei erhalten, etwa von Xenokrates von Athen und Antigonos von Karystos, beide Bildhauer und Kunstschriftsteller; Antigonos schrieb über Plastik und über Malerei.64 Ein Beispiel aus Plinius:65 »Polyklet von Sikyon, Schüler des Hageladas, machte den Diadumenos weich, einen jungen Mann, und den Doryphoros, einen Knaben, machte er männlich«.

Plinius realisiert durchaus die ›anschaulichen Kategorien der Menschheit‹, allerdings nicht die ›reinen Formen‹ von Alter und Geschlecht, sondern, diese voraussetzend, gerade die Zwischenstufen: der junge Mann ist noch zart, der Knabe schon männlich. Sogar der Tastsinn kommt zu seinem Recht (molliter). Plinius fährt fort:66 »Er (Polyklet) machte auch eine Statue, welche die Künstler ›Kanon‹ nennen, denn sie holen sich davon die Grundzüge der Kunst wie aus einer Art Gesetz; und als einziger Mensch hat Polyklet, so wird (allgemein) geurteilt, mit (in) einem Kunstwerk die Kunst selbst gemacht«.

Der »Kanon« ist ein Buch und eine Musterstatue in den richtigen Proportionen (Symmetrien) des menschlichen, genauer: eines jugendlichen, männlichen Körpers. Dieser vermessene, konstruierte Körper ist, nach antikem Urteil, die Kunst selbst: ars ipsa. Das ist gewiß ein starkes Zeugnis für die Anthropozentrik antiker Kunst. »Der Mensch«,

gene Meinung – ›Gott, ein Vernunftwesen, nicht menschenähnlich‹ – sei nur »wahrscheinlich«. 64 Vgl. Plinius, naturalis historia 38,84. 65 Plinius, naturalis historia 34,55: Polyclitus, Hageladae discipulus Diadumenum fecit molliter iuvenem [...], idem et Doryphorum viriliter puerum. – Der Diadumenos (»der Sich-Bekränzende«), um 420 v.Chr., Doryphoros (»Speerträger«) um 440/430 . – Herder benutzt die Plinius-Stelle: Plastik (1778), 2. Abschnitt cap. 4 (FA Bd. 4, S. 277). 66 Plinius, naturalis historia 34,55: Fecit et quem ›Canona‹ artifices vocant lineamenta artis ex eo petentes veluti a lege quadam, solusque hominum artem ipsam fecisse artis opere iudicatur. – Das allgemeine Urteil fand Plinius in seinen Quellen, u. a. bei Varro und durch diesen Xenokrates, S. A. Kalkmann, Die Quellen der Kunstgeschichte des Plinius, Berlin 1898; B. Schweitzer, »Xenokrates« [Anm. 61].

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möchte man zitieren, »ist das Maß aller Dinge«. Und insofern, scheint mir, ist Herders Begründung von ›Humanität‹ aus antiken Texten und aus Bildern gerechtfertigt. 2. Zwei Einschränkungen jedoch sind hierbei zu berücksichtigen. Zum einen ist die dominierende Stellung, welche die Plastik für uns in der antiken Kunst hat, der Überlieferung geschuldet. Keineswegs ist die griechische Kultur eine eidetische, visuelle, statische Kultur und die jüdische ihr Gegenstück als die hörende Kultur, deren bestimmende Elemente Ton und Wort sind, Zeit und Bewegung.67 Diese kulturmorphologische Falle ist, wie gesagt, der Überlieferung geschuldet. Marmor ist härter als eine Melodie, ein Rhythmus, eine Tanzfigur. Der tanzende Satyr aus Pompei ist nicht nur eine Plastik. Die verschränkten Füße, der verdrehte Körper, die Arme, zu Balance und Schwung ausgebreitet, das angestrengte, ekstatisch verzerrte Gesicht: Diese Plastik ist Zeugnis für griechische Musik und Tanz.68 Zum anderen benutzt die antike Reflexion über ›Menschenbilder‹, über ›Charaktere‹ oder ethische Paradigmen Texte, nicht Kunstwerke. »Homer«, sagt Platon »ist Anführer der Bildung«.69 Sie benutzt vor allem Musik: Diese bewegt die Seele, heilt Angstzustände, Ischias und Epilepsie.70 Wie die Medizin den Körper so reinigt Musik die Seele.71

67 S. z.B. Thorleif Bomann, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen (1954), 31959, 61977; dagegen James Barr, Biblical Words for Time, London 1962; ders., The Semantics of Biblical Language, London 1961 (dt.: Bibelexegese und moderne Semantik, München 1965). Vgl. H. Cancik, »Die Rechtfertigung Gottes durch den »Fortschritt der Zeiten«. Zur Differenz jüdisch-christlicher und hellenisch-römischer Zeitund Geschichtsvorstellungen«, in: ders., Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hg. v. R. Faber/B. v. Reibnitz/J. Rüpke, Stuttgart/Weimar 1998, S. 25-54. 68 Römische Kopie (vor 79 n.Chr.) eines griechischen Originals (3./2. Jh. v.Chr.). 69 Platon, Staat 600 a-b: hegemón paideías; vgl. B. Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, Tübingen 1963. 70 Aristoxenos von Tarent, frg. 6 (Fritz Wehrli, Die Schule des Aristoteles, 2: Aristoxenos, Basel/Stuttgart (1945) 21967). 71 Aristoxenos, frg. 26; vgl. Chamaileon von Heraklea (Pontos), Protreptikos, frg.3 (Wehrli, mit Kommentar) [Anm. 70].

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Pythagoras glaubte, daß die Pflege der Wahrnehmung (aísthesis [αἴσθησις]) das erste sei, was Menschen brauchten, wenn einer Schönes sehe, Formen und Gestalten (schémata kai eíde [σχήµατα καὶ εἲδη]), schöne Rhythmen höre und Melodien; deshalb richtete er als erstes die Erziehung durch gewisse Melodien und Rhythmen ein; von diesen gingen Heilungen der menschlichen Verhaltensweise und der Affekte aus; die Harmonien der seelischen Kräfte würden zusammengeführt, so wie sie ursprünglich waren.72 So viel Musik: Über die »Formen und Gestalten«, die Heilung durch den Anblick von Schönheit aber wird nicht gehandelt. Zur »Aufrichtung der Seele« und »Hygiene« dient gemeinsames Singen im Kreise, Tanz, Lektüre ausgewählter Stellen aus Homer und Hesiod.73 Nirgends, soweit ich weiß, wird eine derartige kathartische, ethische, pädagogische Wirkung einer Bildsäule zugeschrieben. Antike Plastik ist anthropozentrisch; die Rezeption antiker Plastik jedoch, wie Herder sie beschreibt, ist nicht antik.

§4 Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 1. Herders Bemühungen um die antike Plastik beginnen mit erkenntnistheoretischen Fragen der Wahrnehmungslehre und führen in die Begründung und Förderung eines modernen Begriffs von Humanität. Eine wichtige Station auf diesem Weg ist das »inhumane Rom«.74 Das Studium, ja der vertraute Umgang mit den antiken Kunstwerken verengt und verdichtet sich ihm hier zu einem ethisch-ästhetischen »Kodex der Humanität«. Herder besteht auf einer ganzheitlichen Betrachtung der antiken Kunst und auf der Einbeziehung des antiken Menschenbildes.75

72 Jamblich, Vita Pythagorica 64 (15). 73 Jamblich, Vita Pythagorica 111 (25). 74 Herder, Stanzen (1789). Vgl. Herder an Herzog Carl August, 29.11.1788: »[...] die Denkmale, die diese Räuber der Welt zusammengeschleppt haben«. 75 So formuliert V. Riedel, »Vom Muster der Kunst zur Beispielhaftigkeit des Lebens. Differenzierungen des Antikebildes bei Winckelmann und im weimarisch-jenaischen Kulturkreis«, in: Weimarer Beiträge 50 (2004), S. 7191, S. 73 über Winckelmann.

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2. Herder konstituiert seinen ›neuen‹ Begriff ›Humanität‹ mit Hilfe alter Ausdrücke wie ›Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe‹.76 Seine Bestimmung von Humanität ist eine unter dem Eindruck der bürgerlichen Revolution in Frankreich vorgenommene aktualisierende, synthetisierende, paraenetische Aufarbeitung einer antiken Tradition. Die antike Plastik wird in diesen Begründungszusammenhang eingefügt. Sie dient der Veranschaulichung von Texten und Geschichte; sie ist überdies ein eigenständiges, nicht in kunstgeschichtliche oder philosophische Beschreibungssprachen auflösbares Medium, welches auf seine Weise dem einzelnen Betrachter oder, in einer anderen kommunikativen Situation, einer Gruppe von Betrachtern ›Formen der Menschheit‹ mitteilt.77 Diese Erweiterung der Begründung von Humanität durch Kunst und die spezifische Rezeptionsweise von Kunst als ›Kodex der Humanität‹ sind zwar den antiken Fassungen von humanitas unbekannt,78 sie sind aber nachvollziehbar hergeleitet aus der überwältigenden Fülle und Qualität und Anthropozentrik der Plastik in der antiken Gesellschaft. 3. Herders ›Kodex‹ oder ›Schule‹ der Humanität impliziert eine ›Idealisierung‹ von Kunst, insofern ›reine Formen‹ registriert werden, und eine ›Pädagogisierung‹, insofern diese ›Gestalten‹ zu lernen sind, auch von Kindern; Herder empfiehlt Mythologie und Zeichnen.79

76 Herder, BBH, nr.27. 77 Text und Bild sind komplementär, nicht aufeinander zu transformieren oder zu reduzieren; vgl. Herder, BBH, nr. 63; Stanzen (1789): der Marmor und die Musen; das Verhältnis der Dritten zur Sechsten Sammlung der BBH. 78 Der erzieherische Aspekt der Kunst wird zur Zeit Herders breit thematisiert; vgl. Lessing über das Theater, Schillers Ästhetische Briefe. Die Verwurzelung Herders im Denken der Aufklärung betont Robert E. Norton, Herder’s Aesthetics and the European Enlightenment, Ithaca/London 1991, s. besonders das letzte Kapitel (S. 203-232): »Herder’s Theory of Sculpture: Vision and Touch and the Outline of a Philosophical ›Anaglyphics‹«. Herders Verknüpfung der Ästhetik mit dem Konzept ›Humanität‹ hat Norton nicht thematisiert. 79 Herder an August Herder, Rom, 28.10.1788, vgl. G. Selle, Kultur der Sinne und ästhetische Erziehung. Alltag, Sozialisation, Kunstunterricht in

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Andere, auch in der Antike wichtige Themen und Aspekte des Praktizierens und Erlebens von Kunst treten in dieser Begründung von ›Humanität‹, in den Hintergrund: das Porträt, das Bild der alten Menschheit; das Mischwesen aus Mensch und Tier (»Hybridität«); das Experiment, das Spiel, der Agon der Kunstproduzenten, die Kunst als Propaganda, das Kolossale, Titanische, das antike Bewußtsein des ›Schöpferischen‹ in der Nachahmung der schöpferischen Natur oder – ›mythisch-allegorisch‹ gesprochen: Bei Herder verschwindet hinter Pygmalions Traum Prometheus, der Menschenbildner,80 der Erfinder von Feuer und Plastik, der erste »Philanthrop«. 4. Die Amsterdamer Erklärung der Prinzipien des modernen Humanismus formuliert:81 »Humanism values artistic creativity and imagination and recognises the transforming power of art. Humanism affirms the importance of literature, music, and the visual and performing arts for personal development and fulfilment«.

Deutschland vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, Köln 1981, S. 111-112: Zeichenunterricht am Gymnasium. 80 Menschenbildner: Ovid, Metamorphosen 1,82; Lactanz, Institutiones divinae 2,10; S. Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches Lexikon, Leipzig (1724), neu bearbeitet 1770, Ndr. 1996, Sp. 2091-2092 mit Nachweis bildlicher Quellen. 81 Deklaration auf dem Kongreß der International Humanist and Ethical Union (IHEU), Amsterdam 2002.

III Mensch als Mensch – stoische Ethik und Humanismus

»Mensch als Mensch« Begriffsgeschichtliche Bemerkungen zu den antiken Grundlagen des Humanismus

§1 H UMANISMUS 1808: »B ILDUNG DES M ENSCHEN ALS M ENSCHEN « (N IETHAMMER ) §1.1 »Humanismus« Der Begriff ›Humanismus‹ ist eine junge und eine deutsche Erfindung. Der Begriff bezeichnet ursprünglich eine pädagogische Theorie, sodann ein politisches Programm und schließlich eine historische Epoche. Der Erfinder der pädagogischen Theorie ist der schwäbische Philosoph, Theologe und Kultusbeamte Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848); Datum und Ort: Jena im Jahre 1808.1 Der Jurist, Philo1

F.I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit, Jena bei Friedrich Frommann, 1808; gewidmet Ihrer Königlichen Majestät der Königinn Caroline von Baiern. Ndr. in: W. Hillebrecht, Friedrich Immanuel Niethammer: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform, Weinheim 1968. – Das Wort ›Humanismus‹ benutzt bereits Friedrich Wilhelm Abegg (1765-1840), Reisetagebuch von 1798. Erstausgabe von Walter und Jolanda Abegg in Zusammenarbeit mit Zvi Batscha, Frankfurt am Main 1976, S. 236. – Vgl. Martin Vöhler, »Von der ›Humanität‹ zum ›Humanismus‹. Herder, Abegg und Niethammer«, in: ders./H. Cancik (Hg.), Genese und Profil des europäischen Humanismus (= Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert, Bd. 1), Heidelberg 2009, S. 126144, bes. S. 139: »in akademischen Kreisen geprägt und bereits vor der

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soph, Journalist Dr. Karl Marx schreibt das politische Programm mit dem Titel »realer Humanismus« (1844).2 Im Jahre 1859 schließlich versieht Georg Voigt (1827-1891) die italienische Renaissance mit dem Etikett »das erste Jahrhundert des Humanismus«.3 Die Erfindung hatte großen Erfolg. Alle europäischen Sprachen, die bürgerlichen und die sozialistischen Weltanschauungen haben den Ausdruck übernommen. Sogar die Italiener, denen wir doch die Sache verdanken, benennen sie mit dem deutschen Lehnwort umanesimo. Die Mitte der pädagogischen Theorie Niethammers ist die »Bildung des Menschen als Menschen«. Die Bedeutung dieser Formel, ihr antiker Ursprung und damit der antike Ursprung des europäischen Humanismus – das ist der Gegenstand dieses Referats. §1.2 Niethammers Grundthese Niethammer formuliert seine anthropologische (A), pädagogische (B), schulpolitische (C) Grundthese folgendermaßen:4 »A (1) Im Allgemeinen begreift man unter Menschenbildung Bildung des Menschen als Menschen, abgesehen von aller Verschiedenheit individueller Beschaffenheiten und Beziehungen desselben, oder die Bildung der Menschheit in dem Individuum. (2) Dadurch ist der Gegensatz gegen Berufsbildung allerdings insofern schon näher bezeichnet, [...]. (3) Fragt man aber näher: worinn besteht die Bildung des Menschen als Menschen, oder die Bildung der Menschheit in dem Individuum? so läßt sich leicht erkennen, daß man abermals auf den Begriff der Menschheit [...] zurückgeführt wird, [...]

Jahrhundertwende selbstverständlich gebraucht«, scil. für bestimmte Vorlesungen an der Universität, also die alten studia humanitatis. 2

Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, Paris/Brüssel 1844/45 (MEW 2, S.7: »Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus [...]«).

3

G. Voigt, Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 1859; 2. Aufl. 1880; 3. Aufl. Berlin 1893.

4

Niethammer, Streit, S. 183f.; 189f.; 191; 193f.

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(4) [...] das unbedingte Merkmal der Menschheit, die Vernunft, die den wesentlichen Unterschied des Menschen von dem Thiere begründet und bei aller Verschiedenheit der menschlichen Individuen in allen Eine und dieselbe ist. Demnach wäre Menschenbildung nichts anderes als Bildung der Vernunft in dem Individuum. B (5) Von dem Begriff der Menschenbildung finden zwei Hauptansichten statt, jenachdem man dabei entweder nur das Grundmerkmal oder das Ideal der Menschheit in dem Individuum vor Augen hat. (6) Sofern der Unterricht bloß darauf gerichtet ist, Bewußtseyn und Erkenntniß der Vernunft in dem Lehrling zu erwecken, ist er zwar allerdings Menschenbildung, und verdient mit Recht diesen ehrwürdigen Namen, weil die Vernunft das Grundmerkmal der Menschheit ist. (7) Aber, so wenig die Vernunft der ganze Mensch ist, so wenig kann jene Vernunftbildung für die ganze Menschenbildung gelten. (8) Der ganze Mensch ist die mit den mannichfaltigsten Anlagen und Kräften zu Einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft: die vollendete allseitige und harmonische Ausbildung dieses Einen Ganzen ist das Ideal der Menschheit, dem wir den alten oft verkannten ehrwürdigen Namen der Humanität mit Recht erhalten. [...] C (9) Für alle Classen und Arten von Lehrlingen bleibt also der volle Gegensatz der Menschenbildung und Berufsbildung in dem Erziehungsunterricht: bei keiner Art von Lehrlingen soll die letztere eingemischt, für alle ohne Unterschied die erstere, nur mit der den Verhältnissen und Kräften der Lehrlinge angemessenen Abstufung, allein und ausschließend berücksichtiget werden. [...] (10) Den Kern der Cultur einer Nation bildet und bewahrt die Zahl der glücklichen, von der Gottheit mit äußeren Mitteln und inneren Kräften begünstigten Staatsbürger, denen es durch diese Vorzüge vergönnt ist, das Ideal der freien Menschenbildung anzustreben: mögen sie dann sich dem Staatsdienst, der Wissenschaft, der Kunst oder was immer für einer Berufsbestimmung widmen, oder durch ihre Lage im Falle seyn, ohne bestimmte Berufsbeschäftigung zu leben, – durch jene gemeinschaftliche freie Erziehung sind sie sich gleich, und machen den Stand der Gebildeten aus, der, von allen Ständen und Classen der Staatsbürger ausgehend, das geistige Leben der Nation, dessen Verderbniß also der geistige Tod derselben ist«.

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§1.3 Bildung des Menschen als Menschen »Menschenbildung« also ist hier bedacht und abgegrenzt gegen die damalige »Industriepädagogik«, die »Kinderzucht« und eine sehr frühe praktische Berufsausbildung. Grundlage und Ziel dieser Bildung ist die »Vernunft«: Vernunft ist das Besondere des Menschen, ist prinzipiell gut, für alle gleich. Diese Annahmen sind keineswegs selbstverständlich. Die ältere Kinderzucht ging von der Verderbtheit des natürlichen Menschen aus und forderte folgerichtig die Brechung des kindlichen Eigenwillens, Besserung, Kontrolle statt freier Entfaltung der Vernunft und aller anderen naturgegebenen Kräfte des Individuums.5 Niethammer fordert dagegen eine allgemeine Vernunftbildung für alle Männer, Stände und Berufe: nicht die schnelle Einpassung des Knaben in Geschäft und Gewerbe, Stand und Konfession, sondern die Selbstbestimmung der freien, vernünftigen, gebildeten Person. Daß die Bildung der Mädchen nur nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ins Auge gefaßt, von der Bildung der Armen überhaupt nicht die Rede ist, muß kritisch angemerkt, kann aber hier nicht erörtert werden.6 Die »umfassende Emanzipation ist der eigentlich bedeutende, wiewohl später verdeckte Kern« dieser Theorie der Pädagogik.7 Der Inhalt

5

August Hermann Francke, »Vorrede zu Fénelons Traité de lʼéducation des filles« (1687), in: Francke, Pädagogische Schriften, 21964, S. 15ff., S. 18; die Vorrede datiert 1698.

6

Zum Ausschluß der Armenerziehung und zu der eher beiläufige Behandlung der Mädchenbildung s. S. 322-325; 339-354; letztere geht von der Annahme aus, daß »der Berufskreis für das gesamte weibliche Geschlecht [...] der häusliche Kreis« (S. 340) sei. Die Errichtung höherer Mädchenschulen, »deren Bedürfniß in den größeren Städten unverkennbar ist«, wird davon abhängig gemacht, ob nach der Errichtung der anderen Studienanstalten genügend Mittel disponibel bleiben; so Niethammer, »Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche«, 1808, §5, in: Hillebrecht, Friedrich Immanuel Niethammer: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform, S. 46-67; Zitat S. 47.

7

Vgl. K.E. Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Bd. 1: Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787 – 1817, 2., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart 1996, S. 248f.

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dieser für alle notwendigen Vernunftbildung ist die Beschäftigung mit »Ideen«: Natur, Staat, Gottheit, Notwendigkeit und Freiheit, Frömmigkeit und Moralität.8 Die musischen und körperlichen, die rationalen und irrationalen, sozialen und kommunikativen Anlagen des Menschen sollen entfaltet und harmonisch »vereinigt« werden. Dieses Ideal ganzheitlicher Bildung nennt Niethammer »Humanitätsbildung«. Erst danach setzt Niethammer die Berufsbildung; sie ist, seiner Meinung nach, immer einseitig und unfrei. Die gesellschaftliche Verortung dieser gehobenen Humanitätsbildung ist deutlich angegeben. Es sind die »begünstigten Staatsbürger«, die sich diese höhere Bildung gönnen dürfen; ein neuer »Stand der Gebildeten«, jenseits der alten Stände und Classen, wird Träger von Staatsdienst, Wissenschaft und Kunst.9 Das Bildungsbürgertum, so scheint es, greift im Namen des Humanismus nach der Macht: Aristokraten und Klerus, Militär und Kirche werden als Adressaten oder Arbeitgeber gar nicht mehr genannt.10 Das ist Humanismus 1808.

§2 H UMANISMUS – H UMANITÄT –

HUMANITAS

§2.1 Antike Tradition 1. Niethammer bietet in seiner Streitschrift den ersten Beleg für den Begriff ›Humanismus‹. Er setzt jedoch eine reiche pädagogische und philosophische Diskussion um die Begriffe ›Mensch, Menschheit, Humanität‹ voraus. Das Stichwort ›Humanität‹ dürfte Niethammer sich bei Herder geborgt haben. Herder führt ausdrücklich das französi-

Jeismann bezieht sich besonders auf Friedrich Jacobs (1807), Ernst August Evers (1807) und F.I. Niethammer (1808). Das humanistische Gymnasium war gar nicht als Ausleseschule und Staatsdienerschule gedacht, wurde aber so umgesetzt. Der Auftrag der »allgemeinen Menschenbildung« wurde nicht realisiert, blieb aber unvergessen; vgl. Jeismann, ebd., S. 426f. 8

Niethammer, Streit, S. 185f.

9

Niethammer, Streit, S. 193f., Zusammenfassung ebd., S. 355-359.

10 Die staatliche verdrängt schon im 18. Jh. die kirchliche Schulaufsicht in mehreren deutschen Ländern.

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sche Fremdwort in die deutsche Sprache ein11 und verbindet ›Humanität‹ fest mit den Begriffen Vernunft, Freiheit, Bildung:12 »Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist [...]«.

Der emphatische, positive, normative Gebrauch der Worte ›Mensch‹ und ›Menschheit‹ zieht sich durch das ganze 18., das »pädagogische« Jahrhundert. Rousseaus Erziehungsroman »Emile« untersucht die Frage, ob der Mensch zum Menschen oder zum Bürger zu erziehen sei. »Für sich selbst«, so Rousseaus Antwort, nicht für andere:13 »In der natürlichen Ordnung sind alle Menschen gleich; ihre gemeinsame Berufung ist: Mensch zu sein«.

Die Natur bestimmt dich zuerst zum Menschen, die Eltern danach für irgendeinen Beruf. Dementsprechend Rousseaus Appell:14 »Menschen seid menschlich, das ist eure vornehmste Aufgabe«,

oder: »Richtet die Erziehung des Menschen auf den Menschen aus«.

11 J.G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793/97; hg. v. H.D. Irmscher, Johann Gottfried Herder. Werke in 10 Bänden. Bd. 7, Frankfurt a. Main 1991), Brief nr. 27, S. 147f. 12 J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (17841791; hg. v. M. Bollacher, Johann Gottfried Herder. Werke in 10 Bänden. Bd. 6, Frankfurt a. Main 1989), S. 154; es folgt die imago-Dei-Lehre, die Herder mit dem Zitat aus dem Schöpfungsbericht einleitet. 13 J.J. Rousseau, Emile oder über die Erziehung (1762), dt. von Ludwig Schmidt, Paderborn 1871. 1. Buch, S. 9ff.; 12f.; 14. 14 Ebd., S. 55. – Vgl. M. Hoffmann, Der Humanitätsbegriff Rousseaus, Bonn 1932.

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Rousseau stellt seinem Erziehungsprogramm das Motto eines stoischen Philosophen voraus.15 Stoisch sind seine Begriffe von Natur und Mensch, von Gleichheit, Selbsterhaltung und Selbstliebe.16 Er übernimmt die stoische Maxime:17 »Folgt der Natur«. Zur Legitimation seines Erziehungsprogramms überhaupt beruft er sich auf Plato:18 »Um eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung zu bekommen, muß man Platos ›Staat‹ lesen. Das ist kein politisches Werk, wie die Leute behaupten, welche die Bücher nur nach dem Titel beurteilen; es ist die schönste Abhandlung über Erziehung, die je geschrieben wurde«.

2. Antike Tradition in Niethammers Entwurf von ›Humanismus‹ sind die folgenden fünf Elemente: (1) Der pädagogische Impuls an sich: próton paídeusis (πρῶτον παίδευσις);19 (2) das Prinzip der freien Bildung, der paideía eleuthérios; eleútherai epistémai (παιδεία ἐλευθέριος; ἐλεύθεραι ἐπιστῆµαι) – artes liberales; Gegensatz: Unterricht nach Nutzen und Notwendigkeit;20 (3) der ›Staat‹ ist Träger der Bildung, nicht religiöse Einrichtungen;21 die Bildung soll, so Aristoteles, »für alle eine und dieselbe sein«;

15 Seneca, de ira 2,13: sanabilibus aegrotamus malis; ipsaque nos in rectum Natura genitos, si emendari velimus iuvat. – »An heilbaren Übeln kranken wir; die Natur selbst hilft uns, die wir zum Richtigen gezeugt sind, wenn wir uns bessern wollen«. 16 Rousseau, Emile, B. IV, S. 212. 17 Ebd., B. V, S. 392. 18 Ebd., B. I, S. 13. 19 Antiphon, der Sophist, in: H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Berlin 1960, nr. 80, Rede über den Gemeinsinn, frg. 60 (bei Stobaios 2,31,39): »Das Erste, glaube ich, unter den Menschen, ist die Erziehung«. 20 Aristoteles, Politik 8, 1338a 30; vgl. F. Kühnert, Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, Berlin 1961 (Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft der Akad. d. Wissensch. Berlin). 21 Zur Erziehung in Platons Staat vgl. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 1959, S. 284: »Die Erziehung der Wächter nach einem vom Staat gesetzlich bestimmten System ist eine revolutionäre

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(4) die Verbindung von Bildungsreform mit Zeitkritik;22 (5) der emphatische, positive, normative Gebrauch der Ausdrücke ›Mensch‹, ›menschlich‹, ›Menschheit‹; die Bestimmung von ›Mensch‹ durch Vernunft, Freiheit, Selbstbestimmung; die Gleichsetzung von humanitas mit eruditio: Humanität ist Bildung.23 Diese Elemente sind Niethammer teils durch die Kenntnis der primären Quellen bekannt – schließlich war er mit Hölderlin und Hegel Stipendiat im Tübinger Stift (1784-89) –,24 teils durch zahlreiche

Neuerung von unabsehbaren geschichtlichen Folgen. Auf sie geht letzten Endes der Anspruch des modernen Staates zurück, die Erziehung seiner Bürger autoritativ zu regeln, der namentlich seit der Zeit der Aufklärung und des Absolutismus von Staaten aller Verfassungsarten erhoben wird. Zwar war auch in Griechenland und in der athenischen Demokratie der Geist der Verfassung des Staates in hohem Maße bestimmend für die Erziehung der Bürger, aber eine Erziehung durch den Staat und seine Behörden gab es nach dem Zeugnis des Aristoteles nirgendwo außer in Sparta«. 22 Vgl. Jaeger, Paideia, Bd. 2, S. 3: »Das 4. Jahrhundert ist das klassische Zeitalter in der Geschichte der Paideia, wenn wir darunter das Erwachen zu einem bewußten Ideal der Erziehung und der Kultur verstehen«. Der Hintergrund ist der Zusammenbruch Athens 404 v.Chr. Zu analogen Konstellationen in der Moderne vgl. Roswitha Thomas, Schillers Einfluß auf die Bildungsphilosophie des Neuhumanismus, Stuttgart 1993, S. 22-36: »Die Zeitkritik bei Schiller und Niethammer«. Der Hintergrund ist die Französische Revolution und der Zusammenbruch Preußens (Friede von Tilsit: 1807). 23 Weitere, eher untergeordnete Elemente sind: Classicität der Gegenstände; Primat von Sprache und Literatur im Unterricht; »das Gute, Wahre, Schöne« als Norm (Quelle: Platon, Philebos). 24 Niethammer nennt, dem offiziösen Charakter seiner Streitschrift entsprechend – sie ist Programmschrift zu dem »Allgemeinen Normativ« von 1808 –, fast keine Quellen; Ausnahme (S. 47): Ernst August Evers, Über die Schulbildung zur Bestialität. Ein Programm zur Neueröffnung des neuen Lehrkurses an der Kantonsschule zu Aarau, Aarau 1807.

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Überlieferungsstufen vermittelt.25 Wir beschränken uns auf den letzten Punkt: die antiken Quellen für die Formel »Mensch als Mensch« und die Bedeutung dieser Formel im antiken Zusammenhang. §2.2 Der Mensch, seine Vernunft, sein Selbst 1. Die Lehre der Stoa vom Menschen ist naturalistisch, empirisch. Sie faßt den Menschen als ein lebendes »System«, das sich zu sich selbst und zu seiner Umgebung »irgendwie verhält« (pos échon [πως ἔχον]). Dieses »System« nimmt seine Verfaßtheit wahr und weiß um diese Wahrnehmung. Es hat ein ›Selbst‹ (suum), eine Identität (idem) und das Bewußtsein davon (conscientia sui). Das System ›Mensch‹ wird, wie jedes Lebewesen, als erstes (primum) unmittelbar nach der Geburt, mit sich selber »vertraut« gemacht, sozusagen in sich selbst »eingehaust« (oikeíosis [οἰκείωσις]), mit sich selbst in ein reflexives und positives Verhältnis gebracht (conciliatio – Selbstaffirmation). Jedes Lebewesen liebt sich selbst und versucht, sich in einer freundlichen und feindlichen Umwelt zu erhalten (caritas sui; conservatio sui). So hat auch das System Mensch eine Wahrnehmung und ein Bewußtsein von sich selbst, eine Liebe zu sich selbst: Es erkennt sich als vernünftiges und als auf Gemeinsamkeit angewiesenes Lebewesen. Diese reflexive Struktur der stoischen Anthropologie ist der Ort der Formel ›Mensch als Mensch‹. In der Zeit des Kaisers Nero und des Apostels Paulus formuliert Seneca, der Erzieher, Politiker und Philosoph, diese Lehre folgendermaßen:26 Dicitis, inquit, omne animal primum constitutioni suae conciliari, hominis autem constitutionem rationalem esse et ideo conciliari hominem sibi non tam-

25 Außer Kant und Herder ist, nach Roswitha Thomas, die Rolle Schillers für Niethammer zu beachten. 26 Seneca, epistulae morales 121,14. – Das Thema des Briefs insgesamt ist die oikeiosis-Lehre; sie wird in epist. 124 fortgesetzt. – Zu dieser Lehre im Ganzen s. M. Forschner, Die stoische Ethik (1981), Darmstadt 21995, Kap. IX: »Oikeiosis«. – Zu der Formel homo qua homo vgl. Seneca, epistulae morales 45,9, eine Antwort auf die Frage, ›wer ist beatus?‹: cui bonum omne in animo est [...] qui hominem ea sola parte aestimat qua homo est, qui natura magistra utitur, ad illius leges componitur, sic vivit quomodo illa praescripsit, [...].

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quam animali sed tamquam rationali; ea enim parte sibi carus est homo, qua homo est. »Ihr (Stoiker) sagt, jedes Lebewesen werde als erstes (in seinem Leben) mit seiner Einrichtung (System) vertraut; des Menschen Einrichtung (Konstitution, System) aber sei vernünftig, deshalb werde der Mensch mit sich vertraut nicht wie mit einem Lebewesen (schlechthin) sondern wie mit einem vernünftigen Lebewesen; in dieser Hinsicht nämlich (scil. der Vernunft) ist der Mensch als Mensch sich lieb«.

2. Das System Mensch ist, nach stoischer Lehre, zeitlich; das Lebewesen und die Vernunft entwickeln sich. Die »Konstitution« des Kindes ist eine andere als die des Greises.27 Die Identität des Selbst (des Ich) bleibt, im Wechsel, bestehen:28 »Ich bin derselbe, der ich als Kind gewesen bin«. Die Vernunft, keimhaft vorhanden, »wie ein zum Beschreiben gut eingerichtetes (sozusagen formatiertes) Blatt«, kommt vom 7. bis zum 14. Lebensjahr zur Reife.29 So konnte die Stoa ein nach Lebensphasen charakteristisches Lernen konzipieren und den geistigen, sittlichen Fortschritt zu einem Prinzip moralischer Erziehung machen.30 Dieser Gedanke »bildet die Grundlage der Betonung des Eigenrechts der kindlichen und jugendlichen Lebensphase durch die stoische Pädagogik, die in der Neuzeit erst von Rousseau wiederaufgenommen wird«.31 Die »stoische Päda-

27 Seneca, epistulae morales 121,15-18: Unicuique aetati sua constitutio est. 28 Seneca, epistulae morales 121,16: ego tamen idem sum qui et infans fui; [...] Non enim puerum mihi aut iuvenem aut senem, sed me natura (scil. mihi) commendat. Vgl. H. Cancik, »Persona and Self in Stoic Philosophy«, in diesem Band. 29 H. v. Arnim (Hg.), Stoicorum veterum fragmenta, Stuttgart 1964, Bd. 2, nr. 83: hósper chárten eúergon eis apographén (ὥσπερ χάρτην εὔεργον εἰς ἀπογραφήν). 30 Vgl. H. Cancik-Lindemaier, »Senecaʼs Collection of Epistles: A Medium of Philosophical Communication«, in: Ancient and Modern Perspectives on the Bible and Culture. Essays in Honor of Hans Dieter Betz, ed. by Adela Yarbro Collins, Atlanta, Georgia 1998, S. 88-109. 31 Forschner, Ethik, S. 150. – Die Stimme der Natur, so Rousseau, spricht zum Menschen in Selbstliebe und Mitleid: zwei Urquellen, die aller Vernunft vorangehen; s. Rousseau, Abhandlung über die Ungleichheit, Vorwort (J.J. Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, eingel., übers. u. hg. v. K.

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gogik« gehört zu den Grundlagen des »pädagogischen Jahrhunderts« und deshalb auch zu den Grundlagen des europäischen Humanismus.

§3 » NUR DESHALB , WEIL ER M ENSCH (M. T ULLIUS C ICERO )

IST «

§3.1 Der Mensch und die Gemeinschaft Die Formel ›Mensch als Mensch‹ wird, leicht variiert, in der stoischen Lehre von der Gemeinschaft benutzt, um die primäre, unmittelbare Beziehung des Menschen zu seinem »Nächsten« und das richtige Verhältnis von Gemeinsinn und Eigennutz zu beschreiben.32 In seinem letzten philosophischen Werk, der 44 v.Chr. geschriebenen Abhandlung, »Über das naturgemäße Handeln«, gibt M. Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) eine »Formel« an:33 »Dem Anderen etwas entziehen und als Mensch durch eines Menschen Nachteil seinen eigenen Vorteil mehren, ist mehr gegen die Natur als Tod, Armut, Schmerz [...]. Denn das hebt im Prinzip das menschliche Zusammenleben auf und die Gemeinschaft«.

Die Natur nämlich, so lehren die Stoiker, hat uns aus demselben Stoff und zu denselben Zwecken erzeugt: Sie hat uns als »Verwandte« gebo-

Weigand, Hamburg 21971 (= Philosophische Bibliothek, Felix Meiner Verlag), S. 70ff.): »Dabei glaube ich zwei Prinzipien zu bemerken, die vor dem Verstand da sind. Das eine macht uns leidenschaftlich um unser Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung (conservation de nous-mêmes) besorgt. Das andere flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen«. [...]. »Impuls des Mitleids (commisération)«. Ebd. Erster Teil (S. 171): »Es (sc. das Mitleid/la pitié) ist eine Tugend, die unter den Menschen umso verbreiteter, umso nützlicher ist, als sie bei ihnen dem Gebrauch jeglicher Reflexion vorhergeht«. 32 Cicero, de officiis 3,5,21-22. 33 Cicero, de officiis 3,5,21.

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ren; sie hat uns gegenseitige Liebe eingegeben und uns sociabel gemacht:34 natura nos cognatos edidit, [...] haec nobis amorem indidit mutuum et sociabiles fecit.

Diese natürliche Verwandtschaft der Menschen begründet den stoischen Kosmopolitismus: Es gibt ein ›Weltbürgerrecht‹ für alle Mitglieder der ›Menschheitsfamilie‹ oder – in der Sprache der Vereinten Nationen – the human family.35 Diese Verwandtschaft und die Schwäche der Einzelnen begründen weiterhin die unmittelbare Pflicht zu unbedingter gegenseitiger Hilfe:36 »Und wenn (= so wahr) die Natur das vorschreibt, daß der Mensch dem Menschen, wer auch immer er sei, helfen wolle wegen eben dieses Grundes, daß der ein Mensch ist, dann ist es gemäß derselben Natur notwendig, daß der Nutzen aller (einzelnen) ein gemeinsamer sei«. Atque etiam si hoc natura praescribit, ut homo homini, quicumque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit, necesse est secundum eandem naturam omnium utilitatem esse communem.

Die »Vorschrift« der Natur, das »Naturgesetz«, wie es später heißt, schätzt den Menschen an sich, als Menschen und aus keinem anderen Grunde, als weil er Mensch ist. Daß hinter der Behauptung dieser

34 Seneca, epistulae morales 95,51-52; auch Seneca nennt dieses Argument formula humani officii und beruft sich auf die »Tradition«; Cicero und Seneca folgen also wohl derselben Quelle; Seneca schöpft nicht aus Cicero: s. A. Dyck, A Commentary on Cicero, de officiis, Ann Arbor 1996, S. 524. 35 Vgl. Cicero, de legibus 1,7,13; Seneca, epistulae morales 28,4. 36 Cicero, de officiis 3,6,27. S. auch H. Cancik, »Humanistische Begründung humanitärer Praxis. Antike Tradition – neuzeitliche Rezeption« (in diesem Band). – Zu der Argumentationsfigur ›etwas um seiner selbst willen tun‹, vgl. auch die stoische Lehre von der Tugend, die ›nur um ihrer selbst willen‹ angestrebt wird, z.B. Cicero, de inventione 2,52,157-158; 54,164: atque haec omnia propter se solum [...] petenda sunt.

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Norm nicht Leichtfertigkeit oder gar Ahnungslosigkeit stehen, zeigt der skeptische Satz aus den ›Weisen Sprüchen‹ des Menander:37 »Wie erfreulich ist ein Mensch, wenn er denn Mensch ist«. – Hos charíen estʼ ánthropos an ánthropos e. (Ὡς χαρίεν ἔστʼ ἄνθρωπος ἂν ἄνθρωπος ᾖ).

Den Alten war die Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit durchaus bewußt. Jenes Naturgesetz gilt für alle und ist für alle dasselbe.38 Das Naturgesetz wird konkret, so M. Tullius, im Völkerrecht (ius gentium) und im Recht der Einzelstaaten (leges populorum).39 Die Natur der Stoiker ist Ordnung, Vernunft, Gesetz. Das Naturgesetz, die Vorschrift der Natur, begründet die natürlichen Rechte des Menschen. Die Menschenrechte wurzeln historisch und systematisch im Naturrecht. Hier wird eine Argumentation sichtbar, die im 18. Jahrhundert tatsächlich, und nicht nur in philosophischer Deduktion und humanistischer Programmatik, zur Erklärung der »Rechte des Menschen und des Bürgers« führt.40 §3.2 humanitas 1. Das ›System Mensch‹ ist selbstbezüglich, aber mit »dem Anderen«, »dem Nächsten« verbunden, ja verwandt. Ein wohlbekannter Name für diese »menschliche Gemeinschaft« und die »Menschheitsfamilie« – societas humana und genus humanum – ist humanitas – ›Humanität‹. Die am frühesten bezeugte Bedeutung dieses Wortes ist jedoch eine

37 Menandri Sententiae (hg. v. S. Jäkel, Leipzig 1964) nr. 852 (= A. Körte/A. Thierfelder (Hg.), Menandri quae supersunt. Bd. 2, Leipzig 1959, frg. 484). Ob diese Sentenz in den arabischen (9. Jh.) und kirchenslawischen (13. oder 14. Jh.) Übersetzungen enthalten ist, ist aus der Edition Jäkels nicht zu erkennen. Der Komödiendichter Menander (342/1-293/92), auf den der Kern der später vielfach angereicherten Sammlung zurückgeführt wird, ist ein älterer Zeitgenosse Zenons (336-262), des Gründers der Stoa. 38 Cicero, de officiis 3,6,27. 39 Cicero, de officiis 3,5,23. 40 Déclaration des Droits de lʼHomme et du Citoyen durch die Französische Nationalversammlung, 26.8.1789; Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, 10.12.1948.

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völlig andere. Das Wort erscheint zuerst im Jahre 85 v.Chr. im Unterricht und in der Praxis der Redner. Und hier, in einem kleinen Lehrbuch für Anwälte, Lobredner, Politiker bedeutet humanitas:41 (a) Die Schwäche (infirmitas, imbecillitas) der Menschen als condicio humana, d. h. ›Schwäche‹ ist die Eigenschaft aller Menschen, einschließlich der Richter, des Klägers, der Zuhörer. Gemeinsames Jammern und Weinen ist die Reaktion auf diese Einsicht. (b) Daß alle schwach sind, dem undurchschaubaren Schicksal unterworfen, sterblich, begründet den Anspruch auf Barmherzigkeit, Nachsicht und Hilfe. Das deutsche Wort ›(B)armherzigkeit‹, eine Lehnübersetzung von miseri-cordia, trifft diese Bedeutung von humanitas sehr gut; humanitas meint dann Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Solidarität mit den Schwachen, Toleranz, Er-barm-en. (c) Das Gegenteil zu humanitas i. S. v. ›Schwachheit‹ und ›Barmherzigkeit‹ ist ›Wildheit‹ (feritas) und ›Grausamkeit‹ (crudelitas), grausam und erbarmungslos, wie es die Tiere sind. Der Gegensatz ›(wildes) Tier/Mensch‹ strukturiert den Römern auf zweifache und widersprüchliche Weise ihren Begriff homo – humanitas: das Tier ist stärker als der Mensch und eine andauernde Gefahr; der schwache Mensch wird Herr über das Tier, und er kann machen mit ihm, was er will. 2. Der Begriff humanitas – ›Humanität‹ läßt sich aus diesen frühesten Belegen in der Redekunst entwickeln; er umfaßt folgende Aspekte: (a) die Gesamtheit der Menschen, ihre Verwandtschaft, ihre auf dem Naturrecht beruhende Gemeinschaft, lateinisch: genus hominum und societas hominum; (b) die Schwäche und Hilfsbedürftigkeit des Menschen, lateinisch: condicio humana und misericordia; (c) den Gegensatz zu tierischer Wildheit (feritas), Roheit, Grausamkeit (crudelitas); der Mensch dagegen ist sanft, wohlwollend, milde – mitis; benevolentia, clementia;

41 Auctor ad Herennium, de ratione dicendi 4,1,2; 4,5,7; 4,22,31; vgl. H. Cancik, »Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen des Humanismus« (in diesem Band).

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(d) die Bildung, die Kultiviertheit, Urbanität – antik gesprochen: eruditio, paideia; cultus, urbanitas. Friedrich Immanuel Niethammer hat alle diese Aspekte von humanitas gemeint, als er von »Menschenbildung« sprach, von der »Bildung der Menschheit in dem Individuum«; er versah diese Bildung ausdrücklich mit dem »alten, oft verkannten, ehrwürdigen Namen der Humanität«.42 Der Name ist ihm »alt« und »ehrwürdig«, offenbar weil Cicero und Seneca ihn bestimmt haben. §3.3 Herrschaft – Würde – Person 1. Das lateinische Wort humanitas ist in alle europäischen Sprachen eingegangen. Mit dem Wort ›Humanität‹ verbunden sind spezifische Vorstellungen von Mensch und Menschheit, von Natur und Naturrecht, vom Selbst und dem Nächsten. Sie sind die antiken Grundlagen des europäischen Humanismus und, in gewissen Grenzen, einer europäischen ›Identität‹. Das kleine dreibändige Lehrbuch, »Über naturgemäßes Handeln« (de officiis), das M. Tullius in Rom für seinen Sohn in Athen schrieb, enthält einige weitere Begriffe, die für das Verständnis des Humanismus der Moderne wichtig geworden sind. Sie sollen, wenigstens summarisch, abschließend zusammengestellt werden. 2. Die beiden Formeln, »der Mensch als Mensch« oder, »der Mensch nur weil er Mensch ist«, führten nicht auf ein hoch abstraktes, metaphysisches Konstrukt, sondern auf spezifische Aussagen der stoischen Anthropologie: auf den Gegensatz zum Tier, die Vernunft, das Selbstbewußtsein, die Schwäche und das Angewiesensein auf die Hilfe der Gemeinschaft – das ist der Mensch »an sich«. Auf dieser allgemeinen Bestimmung ruht aber nun die Bestimmung der Besonderheit des Individuums. In dem Vier-Masken-Modell Ciceros ist die Vernunft die erste Maske, welche Natura, die das Schauspiel unseres Lebens inszeniert,

42 Vgl. o. §1.2. – Die Anwendung des Tier-Mensch-Gegensatzes auf den Gegensatz zwischen Bildungsprogrammen (Philanthropinismus und Humanismus), so Niethammer, Evers (s. o. Anm. 24) folgend, ist wohl nicht antike Tradition.

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uns aufsetzt.43 Sie ist »allgemein« (communis). Sie begründet den »Vorrang« vor den Tieren und damit das, was Cicero als erster »Würde des Menschen« nennt:44 in natura nostra/hominis excellentia et dignitas. Die zweite Maske, die Natura dem Menschen aufsetzt, ist seine »Besonderheit« (proprietas). Die dritte ist die geschichtliche Situation, die Zeit und der Zufall.45 Die letzte schließlich ist die Rolle (persona), die wir selbst, »nach unserem eigenen Willen«, zu spielen beabsichtigen. Dieser Ansatz zu einer Rollentheorie des Menschen verbleibt in der Bildersprache des Schauspielers und Theaters. Aber die hier angesetzten Begriffe von Rationalität und Gleichheit, Individualität, Geschichtlichkeit, Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen sind Norm für jede Erklärung zu Menschenwürde und Menschenrecht und für jeden Humanismus. Dies ist der Erstbeleg für den philosophischen Ausdruck ›Person‹. Aber auch hier gilt: Das schöne Bild vom Welttheater, von Natura als Regisseurin, den Menschen als Schauspielern ist bei Cicero singulär und in der Antike nicht rezipiert. Erst in der Nachantike und erst in Verbindung mit rechtlichen und christlichen Vorstellungen hat das Wort ›Person‹ die Konturen, wie sie in Formeln wie »freie Entfaltung der Persönlichkeit« sichtbar sind. 3. Die kleine Lehrschrift Ciceros hatte eine erhebliche Verbreitung in Antike und Nachantike.46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schwabe, Gymnasiallehrer und Freund von Immanuel Niethammer hat die Epoche der Globalisierung vorweggenommen; er schreibt in der Einleitung

43 Cicero, de officiis 1,30,107: persona communis (ratio) – »allgemeine«; proprietas – »Besonderheit«; casus et tempus – »Geschichte«; voluntas nostra – »unser eigener Wille«. 44 Cicero, de officiis 1,30,106; vgl. §97; §107. Zur Problematik des lateinischen Textes vgl. A. Dyck, Commentary, zur Stelle. 45 Cicero, de officiis 1,32,115. 46 Das Standardwerk zur Wirkungsgeschichte Ciceros ist Th. Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Leipzig 31912. Spezialstudien zu de officiis sind nachgewiesen bei A. Dyck, Commentary, S. 39: »Influence through the centuries«.

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zu seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«:47 »Ciceros de officiis, ein moralisches Predigtbuch, gibt uns mehr und Besseres als alle Bücher des Konfutse«. Diese Bemerkung zeigt, daß Hegel Cicero sehr viel besser kannte als Konfutse.

§4 Z USAMMENFASSUNG 1. Über ›Humanismus‹ zu reden, über ›Menschheit‹, ›Humanität‹ und ähnlich schöne Dinge, verführt leicht zu fader Erbaulichkeit und koketter Bildungstümlichkeit. Ich möchte mich deshalb, auch in dieser Zusammenfassung, vor den üblichen Zitaten humanistischer Rhetorik hüten, wie etwa; »Mensch bin ich: Nichts Menschliches ist mir fremd«, oder, nach diesem Referat eher angebracht: »Irren ist menschlich« – errare humanum est.48 Nur ein knapper Rückblick auf den behandelten Gegenstand, auf die erreichten Ergebnisse und Vermutungen sei hier noch abschließend gestattet.

47 G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt am Main 1971, S. 142. Der Kontext ist ein kurzer Exkurs über die »Orientalische Philosophie« am Ende der Einleitung, nur dazu bestimmt, die Philosophie der Chinesen und Inder als nicht zur »wahrhaften Philosophie« gehörig (S. 138) auszuscheiden. Auf den eurozentrischen Horizont dieses Systems muß nicht eigens hingewiesen werden. 48 a) Terenz, Heautontimoroumenos 77: homo sum: humani nil a me alienum puto. – b) zu errare humanum est vgl. A. Otto, Die Sprichwörter und spruchwörtlichen Redensarten der Römer (1890), Hildesheim 1971, S. 165. Zum Nachdenken sei eine Auswahl weiterer – weniger bekannter, bisweilen verkürzt zitierter – Sprüche aus Komödien angefügt: Plautus, Asinaria 490: tam ego homo sum quam tu, sagt ein Sklave zu einem Freien; der antwortet: scilicet; ita res est. – Ebd. 495: lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit, non novit. – Zitate aus verlorenen Stücken, gesammelt bei O. Ribbeck, Scaenicae Romanorum Poesis Fragmenta (1873). Bd. 2: Caecilius Statius, Hildesheim 1962, V. 264: Homo homini deus est, si suum officium sciat. – Publilius Syrus, V. 225: Humanitatis optima est certatio. – Sextus Turpilius, V. 28: Homo unica est natura ac singularia.

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2. Ausgangspunkt war die früheste Bestimmung von ›Humanismus‹ durch Immanuel Niethammer (1808). Sein Bildungsziel ist Vernunftbildung, Humanitätsbildung, Bildung der Menschheit im Individuum. Diese Begriffe führen, über den ›Menschheitsdiskurs‹ des 18. Jahrhunderts allgemein und seinen pädagogischen Impuls im besonderen auf antike, speziell römische und stoische Tradition. Folgende Begriffe der römisch-stoischen humanitas wurden besprochen: Entrohung und Bildung, Grausamkeit und Barmherzigkeit; Menschheit, Menschlichkeit; Natur und Naturrecht; Person und Selbst, Selbstwahrnehmung, Selbstliebe, Selbsterhaltung; Bewußtsein und Vernunft; Würde des Menschen. 3. Der pädagogische Impuls als solcher, das Bildungsziel des ursprünglichen Humanismus, der emphatische Menschheitsdiskurs und die Formel ›Mensch als Mensch‹ sind antike Tradition, teils unmittelbar aus den Quellen rezipiert, teils durch zahlreiche Überlieferungsstufen vermittelt. Diese Tradition ist die Grundlage von Humanismus in Sachsen, Bayern, Preußen und Deutschland und, mit deutlichen Varianten, in den anderen europäischen Ländern. 4. Der Dichter sagt:49 »Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten«. Deshalb muß man, so möchte ich folgern, mit Fleiß und Bescheidenheit die großen, aufgeblasenen »allgemeinen Begriffe« auf bestimmte kleine zurückführen, ihren geschichtlichen Ort feststellen, Begriffsfelder abstecken, die gefährlichen Allgemeinheiten begrenzen, ableitbar machen oder auflösen. Einen kleinen Beitrag zur dieser »Arbeit am Humanismus« soll dieses Referat leisten.

49 J.W. von Goethe, »Maximen und Reflexionen« Nr. 471 (aus Wilhelm Meisters Wanderjahren: »Betrachtungen im Sinne der Wanderer«, 1829), in: Sämtliche Werke (Artemis-Gedenkausgabe, hg. v. Ernst Beutler), Zürich 21961-66, Bd. 8, S. 311 und Bd. 9, S. 558.

Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde Antike Grundlagen von Humanismus1

§1 »ALLE H UMANITÄT

WIRD GEWÄHRLEISTET «

§1.1 In Ficulea, einer Kleinstadt an der Via Nomentana, im Nordosten von Rom, betrieb Aurelia Faustiniana eine Badeanstalt.2 Die Konkurrenz der nahen Großstadt zwang die Unternehmerin zu deutlicher Reklame.3 Sie stellte also eine marmorne Werbetafel auf ihr Grundstück und schrieb darauf mit großen Buchstaben:4 1

Für freundliche Hilfe danke ich Herrn Holger Hornauer (Tübingen).

2

Vgl. Livius 3,52,3 (Via Ficulensis = Via Nomentana); 1,38,4 (Eroberung durch Tarquinius Priscus). L. Quilici/S. Quilici Gigli, Ficulea, 1993, bes. S. 211 zu dem archäologischen und epigraphischen Zusammenhang der Anlage der Aurelia; vgl. ebd. S. 131f. (Sito 74).

3

Vgl. Jane F. Gardner, »Women in Business Life: Some Evidence from Puteoli«, in: P. Setälä/L. Savunen (Hg.), Female Networks and the Public Sphere in Roman Society, Rom 1999 (= Acta Instituti Romani Finlandiae 22), S. 11-27; Liisa Savunen, Women in the Urban Texture of Pompeii, Diss. Helsinki 1997.

4

a) Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) XIV 4015; FO: Ficulea; AO: Musei Vaticani; Datierung: 2./3. Jh. n.Chr. – Der Name deutet auf eine Freigelassene des Kaiserhauses. Atticus und Martial, die Grundstücke bei Ficulea hatten, könnten dieses Bad bzw. dessen Vorgänger benutzt haben (Cicero, ad Atticum 12,34; Mart. 6,27,2). – b) Ähnliche Werbetafeln: CIL XI 721 (Bologna): In praedis C. Legianni Veri balineum more urbico lavat(ur) omnia commoda praestantur – »Auf dem Grundstück des C. Legi-

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In his praedis Aureliae Faustinianae balineus. lavat(ur) more urbico et omnis humanitas praestatur. »Auf diesem Gelände (ist) die Badeanstalt der Aurelia Faustiniana. Man badet nach städtischer Sitte und alle humanitas ist gewährleistet«.

›Nach städtischer Sitte‹ – also nicht ländlich, klein, dunkel, einfach und rauh, womöglich mit kaltem Wasser, sondern: mit Garderobe (Apodyterion), mit Kalt- und Warm- und Schwitzbad, mit solider Ausstattung, Dekoration mit Statuen von Apoll und Isis, reichlich Personal; hohe, helle Räume; Fußböden mit buntem Mosaik, Fußbodenheizung; Gelegenheit für Sport und Unterhaltung.5 Das ist, und so weit ist alles klar, städtische Lebensart. Aber dazu gibt es bei Aurelia in Ficulea nun noch »alle Humanität«: was meint sie mit humanitas? §1.2 Ein ungefährer Zeitgenosse der Aurelia, der gelehrte Antiquar Aulus Gellius, belehrt uns in seinen »Attischen Nächten« über den

annus Verus ist eine Badeanstalt. Man badet nach städtischer Sitte, alle Bequemlichkeiten sind gewährleistet«. – CIL IV 1136 (Pompei): In praedis Iuliae Sp.f. Felicis locantur balneum venerium et nongentum tabernae pergulae cenacula ex idibus Aug. primis in idus Aug. sextas annos continuos quinque [...] – »Auf dem Grundstück der Julia Felix, Tochter des Sp(urius), werden vermietet das Venus-Bad und neunhundert (!) Läden, Pergolen (Lauben), Speisesäle auf fünf fortlaufende Jahre [...].« Vgl. Francesca Cenerini, »Euergetismo ed epigrafia: lavationem in perpetuom«, in: Rivista Storica dellʼ Antichità 17/18 (1987/88), S. 215f.; L. Eschebach, »Die Forumthermen in Pompei, Regio VII, Insula 5«, in: Antike Welt 4 (1991), 257-287; R.B. Ward, »Women in Roman Baths«, in: Harvard Theolog. Review 85.2 (1992), S. 125-147; U. Pappalardo, »Die suburbanen Thermen von Herculaneum«, in: Antike Welt 30.3 (1999), 209-218. – c) Das Wort humanitas ist in stadtrömischen Inschriften selten belegt, z.B.: CIL VI 3828 = 31692 (Rom/Thrakien, 82 n.Chr.); CIL VI 1512 (2. Jh. n.Chr.); CIL VI 2135 (um 254/57 n.Chr.). 5

Beschreibung in losem Anschluß an die archäologischen Funde im Areal: s. Quilici/Quilici, S.211 (mit Literatur). – Ein antiker Plan einer Badeanlage hängt im Antiquarium Caelimontanum zu Rom. – Vgl. das Bäderlob: Statius, Silve I 5: Balneum Claudi Etrusci; Martial 9,75; 6,42.

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Sprachgebrauch des gemeinen Volkes im 2. nachchristlichen Jahrhundert:6 »Diejenigen, welche die lateinischen Worte gemacht und anständig benutzt haben, wollten nicht, daß humanitas das bedeutet, was die Allgemeinheit meint, was von den Griechen ›Philanthropie‹ genannt wird und eine gewisse Leichtigkeit und Wohlwollen gegen alle Menschen gleichermaßen bezeichnet. Vielmehr bezeichneten sie als humanitas nur das, was die Griechen ›Paideia‹, wir ›Entrohung‹ (e-rud-itio) und ›Unterrichtung in den guten Künsten‹ (nennen). Wer diese wahrhaftig begehrt und erstrebt, der ist im höchsten Maße ›human‹. Denn allein dem Menschen ist unter allen Lebewesen die Pflege und Lehre dieser Wissenschaft gegeben. Und deswegen ist sie eben humanitas genannt«.

Aurelia Faustiniana und ihr Publikum wird dem »vulgären« Sprachgebrauch gefolgt sein, einem falschen, wie der Lexikograph meint. Sie bietet in ihrem Bad also nicht »eine Einführung in die schönen Künste«, sondern »jegliche Philanthropie« – »Menschenliebe«, gewandtes Verhalten, Geschick und Wohlwollen. Dieser Teil der Ankündigung auf der Werbetafel geht deutlich über das Versprechen von »großstädtischem Komfort« hinaus.

6

a) Gellius, Noctes Atticae 13,17: Qui verba Latina fecerunt quique his probe usi sunt, ›humanitatem‹ non id esse voluerunt, quod volgus existimat quodque a Graecis φιλαvθρωπία dicitur et significat dexteritatem quandam benivolentiamque erga omnis homines promiscam, sed ›humanitatem‹ appellaverunt id propemodum, quod Graeci παιδείαv vocant, nos eruditionem institutionemque in bonas artes dicimus. Quas qui sinceriter percupiunt adpetuntque, hi sunt vel maxime humanissimi. Huius enim scientiae cura et disciplina ex universis animantibus uni homini data est idcircoque ›humanitas‹ appellata est. b) Denselben ›Sprachgebrauch‹ bezeugt der Grammatiker Nonius Marcellus (1 p. 73f., Lindsay) für das 3.-4. Jh. n.Chr.: HUMANITATEM non solum, uti nunc consuetudine persuasum est, de benivolentia, dexteritate quoque et comitate veteres dicendam putaverunt, quam Graeci φιλαvθρωπίαv vocant; sed honestorum studiorum et artium adpetitum, quod nulli animantium generi absque hominibus concessa sit. Varro Rerum Humanarum I: Praxiteles, qui propter artificium egregium nemini est paululum modo humaniori [...].

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Soweit ist alles klar. Die Behauptung des Antiquars allerdings wirft drei neue Fragen auf: Ist es richtig, daß humanitas usrpünglich nur Bildung, Erziehung, eruditio – d.h. »Ent-rohung« – bedeutet und nicht Menschenfreundlichkeit, Philanthropie, ein grundsätzliches Wohlwollen gegen alle Menschen? Wie und wann kam es zu dieser Bedeutungsspaltung? Weshalb stellt Gellius den Menschen so scharf gegen alle Tiere? Auf diese drei Fragen gibt es, wie ich zeigen möchte, erfreulicher Weise eine einzige Antwort. Dafür macht sich nun der Philologe auf die Suche nach dem Erstbeleg.

§2 H UMANITAS UND H ERRSCHAFT ( DOMINATUS ; IMPERIUM ) §2.1 Der Erstbeleg §2.1.1 Der früheste Beleg für das Wort humanitas – Humanität steht in einem dünnen, unscheinbaren Lehrbuch der Redekunst für Anwälte, Politiker, Lobredner. Das Datum für diesen frühesten Beleg ist so unglaublich spät: etwa 85 v.Chr.7 Der Verfasser dieser ratio dicendi ist unbekannt. Er bewertet die Politik der Gracchen und der Tribunen Saturninus und Livius Drusus positiv – ganz im Gegensatz zu Ciceros Position –, gehört also wohl zu der ›popularen Partei‹ der Marianer.8 Das Büchlein ist für die Praxis geschrieben; keine Philosophie, keine dekorativen Dialoge.9

7

Die ungefähre Datierung der Schrift ist durch historische Anspielungen in den Musterreden gegeben: unter Marius, zwischen dessen 7. Consulat (86 v.Chr.) und der Dictatur Sullas (82 v.Chr.).

8

Auctor ad Herennium, de ratione dicendi 4,1,2: 4,5,7: 4,22,31 u.ö. Auch Motius Gallus, ein Redelehrer dieser Zeit, war Marianer: Cicero, pro Archia 9,20; Scholion Bobbiense z.St.: hic primus Romae studia Latina docuisse fertur.

9

Eine gewisse Kenntnis der griechischen Philosophie wird bei dem Adressaten, C. Herennius, vorausgesetzt: 1,1,1. Sie spielt aber weder in der Bestimmung der Rhetorik noch in den loci communes noch in den Musterreden eine Rolle. Zum Bildungsprogramm des Verfassers vgl. 1,1,1; 2,11,6; 3,2,3; 4,12,17.

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Drei besonders typische und nützliche Definitionen seien zitiert:10 (a) »Eine Einräumung (Zugeständnis) ist das, wodurch wir Verzeihung fordern [...] Die Allgemeinplätze für diese Fälle sind: bei den Anklägern gegen den Beklagten, der, obschon er sein Vergehen gestanden hat, dennoch die Richter mit seiner Rede aufhält; bei dem Verteidiger (die Allgemeinplätze) über humanitas, Barmherzigkeit; daß man die Absicht in allen Dingen beachten müsse: daß nicht zum Schaden (für den Angeklagten) gereichen dürfe, was nicht mit Vorsatz gemacht worden sei«.

(b) »Die Barmherzigkeit (Jammer, Mitleid) wird bei den Hörern erregt, wenn wir den vielfachen Wechsel des Schicksals nennen; [...] wenn wir uns über Milde, humanitas, unsere Barmherzigkeit verbreiten, die wir gegen andere geübt haben; [...] Die Erregung von Jammer muß kurz sein. Nichts nämlich trocknet schneller als eine Träne«.

(c) Musterrede für den »ernsten Stil«:

10 (a) 2,16,23f.: Concessio est per quam nobis ignosci postulamus. [...] Loci communis in his causis: accusatoribus contra eum, qui cum pecasse confiteatur, tamen oratione iudices demoretur; defensoris, de humanitate, misericordia; voluntatem in omnibus rebus spectari convenire; quae consulto facta non sint, ea fraudei esse non oportere. (b) 2,31,50: Misericordia commovebitur auditoribus, sei variam fortunarum commutationem dicemus; [...] si de clementia, humanitate, misericordia nostra, qua in alios usi sumus, aperiemus; [...] Commiserationem brevem esse oportet. Nihil enim lacrima citius arescit. (c) Vgl. auch 2,17,26: Deprecatione utemur cum fatebimur nos pecasse neque id imprudentia aut fortuito aut necessario fecisse dicemus: et tamen ignosci nobis postulabimus. [...] Loci communis: de humanitate, fortuna, misericordia, rerum commutatione. His locis omnibus ex contrario utetur is qui contra dicet, cum amplificatione et enumeratione peccatorum. – Vgl. aus der Musterrede für den ›ernsten Stil‹ 4,8,12: O feros animos! o crudeles cogitationes! o derelictos homines ab humanitate! [Hochverrat]; für das ›Räsonnieren‹ 4,(5),16,23: Quia viri fortis est, qui de victoria contendant, eos hostes putare; qui victi sunt, eos homines iudicare, ut possit bellum fortitudo minuere, pacem humanitas augere. Et ille, si vicisset, non idem fecisset? Non profecto tam sapiens fuisset. Cur igitur ei parcis? Quia talem stultitiam contemnere, non imitari consuevi. (Kontext: ein besiegter König wird, wenn gefangen, nicht des Lebens beraubt: weshalb?)

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»O wilder Sinn! O grausame Pläne! O Menschen von humanitas völlig verlassen!«

Humanitas ist, für den Verfasser der Redekunst an Herennius, keine notwendige Eigenschaft: der Mensch kann sie verlieren, dann ist er »wild und grausam« (ferus, crudelis). So jemand, wird Cicero später sagen, ist nur ein Namens-Mensch, kein Mensch der Sache nach: homines non re sed nomine.11 Der Diskurs ›Vertierung‹ eignet sich dann für mancherlei. Und schließlich: Unser Erstbeleg zeigt keine Verbindung zu irgend einer »Einführung in die guten Künste«. Gerade dies aber hatte Gellius, unsere gelehrte lexikographische Quelle, als den ursprünglichen und richtigen Sprachgebrauch bezeichnet; die Bedeutung ›Wohlwollen, Leichtigkeit, Philanthropie‹ sei sekundär und vulgär. Der Erstbeleg beim Auctor ad Herennium lehrt das Gegenteil: humanitas im Sinne von ›Milde, Barmherzigkeit – geschickt, nicht wild und grob‹ steht am Anfang unserer Wortgeschichte, nicht ›Gelehrsamkeit und Erziehung‹. In einem anderen, eher verborgenen Punkt jedoch stimmt der republikanische Redelehrer mit dem kaiserzeitlichen Antiquar überein: beide konstruieren humanitas aus dem Gegensatz zum Tier.12 §2.1.2 Das Wort humanitas ist um 85 v.Chr. im Unterricht des Redelehrer und in der Praxis der Redner fest eingebürgert. Es wird nicht als Neuheit eingeführt, ist nicht poetisch oder religiös und nur ein wenig philosophisch überhöht. Es steht zwischen ›Milde‹ und ›Barmherzigkeit‹, einigermaßen unauffällig und selbstverständlich. Unser Erstbeleg aus dem Jahre 85 v.Chr. ist also nicht der Anfang der Wortgeschichte von humanitas; das Wort muß eine Vorgeschichte haben. Seine Bedeutung ist eng und sicher zu bestimmen: (a) humanitas meint die Schwäche (infirmitas, imbecillitas) der Menschen als condicio humana, d.h. ›Schwäche‹ ist die Eigenschaft

11 Cicero, de officiis 1,105. 12 Der Irrtum des Gellius ist schwer erklärbar, zumal auch der Wortgebrauch bei Cicero seiner Behauptung widerspricht: s. hier §2.2.1. Wahrscheinlich ist der Gelehrte gesteuert von den Interessen seines ›Standes‹.

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aller Menschen, einschließlich der Richter, des Klägers, der Zuhörer. Gemeinsames Jammern und Weinen ist die Reaktion auf diese Einsicht.13 (b) Daß alle schwach sind, dem undurchschaubaren Schicksal unterworfen, sterblich, begründet den Anspruch auf Barmherzigkeit, Nachsicht und Hilfe. Das deutsche Wort ›(B)armherzigkeit‹, eine Lehnübersetzung von miseri-cordia, trifft diese Bedeutung von humanitas sehr gut;14 humanitas meint dann Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Solidarität mit den Schwachen, Toleranz, Erb-arm-en. (c) Das Gegenteil zu humanitas i.S.v. ›Schwachheit‹ und ›Barmherzigkeit‹ ist ›Wildheit‹ (feritas) und ›Grausamkeit‹ (crudelitas), grausam und erbarmungslos, wie es die Tiere sind. Der Gegensatz ›(wildes) Tier/Mensch‹ strukturiert den Römern auf zweifache und widersprüchliche Weise ihren Begriff homo – humanitas: das Tier ist stärker als der Mensch und eine andauernde Gefahr; der schwache Mensch wird Herr über das Tier, und er kann machen mit ihm, was er will.

13 Vgl. Cicero, Tusculanen 3,14,34: Nihil est enim quod tam obtundat elevetque aegritudinem quam perpetua in omni vita cogitatio nihil esse quod non accidere possit, quam meditatio condicionis humanae, quam vitae lex commentatioque parendi, quae non hoc adfert ut semper maereamus sed ut numquam. Neque enim qui rerum naturam, qui vitae varietatem, qui inbecillitatem generis humani cogitat, maeret, cum haec cogitat, sed tum vel maxime sapientiae fungitur munere. [...] quod humana humane ferenda intellegit [...]; Lukrez 5,1023: imbecillorum esse aequum misererier omnis. 14 Gotisch: arma-hairts; althochdeutsch: arma-herzi. Das ›b‹ ist als Gleitlaut in der Verbalbildung ›erbarmen‹ aufgekommen; das Nomen behielt den Gleitlaut bei, auch als die Vorsilbe abgestoßen wurde. Etymologisch verwandt sind slawisch: rabota – Arbeit; lat.: orbus – verlassen, einsam. Auch unser Wort für ›Mitleid‹ ist der Antike entlehnt, vgl. gr. sym-pátheia (συµπάθεια) – ›Sympathie.‹ Vgl. H. Petre, »›Misericordia‹, Historie du mot et de lʼidée du paganisme au christianisme«, in: Revue des Études Latines 12 (1934), S. 376-389.

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§2.2 Stoische Anthropologie in Ciceros humanitas-Begriff §2.2.1 humanitas und oikeiosis Dieselbe Bedeutung wie in dem anonymen Lehrbuch von 85 v.Chr. hat das Wort humanitas in den frühesten Reden des M. Tullius (106-43 v.Chr.), dessen Beinamen ich aus bekannten Gründen vermeide. Dieser M. Tullius also schließt seine Rede für Sextus Roscius vorschriftsmäßig15 mit der Erregung heftiger Affekte; er erinnert an die gerade erst überstandenen Bürgerkriege:16 »Es gibt keinen unter euch, der nicht verstünde, daß das römische Volk, das einst als besonders milde gegen seine (äußeren) Feinde galt, zum jetzigen Zeitpunkt an Grausamkeit im Innern leidet.17 Entfernt diese Grausamkeit aus der Bürgerschaft, Richter, duldet sie nicht länger im Staate. Denn die Grausamkeit (im Bürgerkrieg) hat nicht nur dieses Böse in sich, daß sie viele Bürger auf das grausamste ausgelöscht hat, sondern daß sie sogar den mildesten Menschen durch die Gewöhnung an das Ungemach die Barmherzigkeit weggenommen hat. Denn wenn wir zu jeder Stunde sehen oder hören, daß irgendetwas Grausames geschieht, dann verlieren auch wir, die wir von Natur aus ganz milde sind, durch die fortgesetzten Beschwernisse jedes Gefühl für humanitas«.

M. Tullius stellt zwei Wortfelder gegeneinander: ›sanft und barmherzig‹ (lenis, mitis, misericordia) gegen ›grausam‹ (crudelis, atrox). Das Wort humanitas ist mit deutlicher Steigerung unmittelbar an den

15 Vgl. Quintilian, de institutione oratoria 6,1. 16 Cicero, pro S. Roscio Amerino (gehalten 80 v.Chr.) §154: Vestrum nemo est quin intellegat populum Romanum, qui quondam in hostes lenissimus existimabatur, hoc tempore domestica crudelitate laborare. Hanc tollite ex civitate, iudices, hanc pati nolite diutius in hac re publica versari. Quae non modo id habet in se mali quod tot cives atrocissime sustulit, verum etiam hominibus lenissimis ademit misericordiam consuetudine incommodorum. Nam cum omnibus horis aliquid atrociter fieri videmus aut audimus, etiam qui natura mitissimi sumus, assiduitate molestiarum sensum omnem humanitatis ex animis amittimus. 17 Cicero bezieht sich auf das bellum sociale (91-89 v.Chr.), den Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla sowie des letzteren Proskriptionen. Es folgt 7371 v.Chr. der Sklavenkrieg unter Spartacus.

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Schluß der Rede gesetzt: »die Brutalität dieser Kriege zerstört den Sinn für Humanität«. Denn der Mensch ist »von Natur aus milde, sanft« – natura mitis. Der Ausdruck ›Natur des Menschen‹ ist von den Philosophen geliehen. Der Redner treibt damit sein hoch emotionales Schlußwort über die Grenzen der Schulrhetorik hinaus zu einer allgemeinen Aussage über die bedrohten Grenzen der Humanität. Diese Aussage ist jedoch nicht dekorativ aufgesetzt, sondern im Verlauf der Rede vorbereitet. Der Angeklagte, den M. Tullius verteidigt, wird des Vatermordes verdächtigt. Für einen derartigen Verdacht, argumentiert nun die Verteidigung, müssen besonders gute Beweise vorgebracht werden:18 »Groß nämlich ist die Kraft der humanitas; viel gilt die Gemeinschaft des Blutes; die Natura selbst widerspricht laut Verdächtigungen dieser Art (sc. Vatermord); es ist ein monströses Vorzeichen, daß es jemanden mit Aussehen und Gestalt eines Menschen gibt, der so sehr an Wildheit die Bestien übertrifft, daß er diejenigen, durch die er dieses süßeste Licht (des Lebens) erblickt hat, auf unwürdigste Weise des Lichtes (Lebens) beraubt, wo doch Gebären und Aufzucht und die Natura selbst sogar die wilden Tiere untereinander verbindet (conciliet)«.

Natura selbst tritt auf, um den Angeklagten zu verteidigen. Ihr Werk ist, nach stoischer Lehre, die »Versöhnung« des Lebewesens mit sich selbst: daß es sich selbst wahrnimmt, sich liebt, sucht, was ihm zuträglich ist, flieht, was schadet. Jedes Lebewesen, auch der Mensch, existiert durch diese primäre »Einhausung«, »Zueignung« – conciliátio, oikeíosis.19 In Kreisen wird diese »Einhausung« ausgedehnt auf Eltern,

18 Cicero, pro S. Roscio Amerino §63: Magna est enim vis humanitatis; multum valet communio sanguinis; reclamitat istius modi suspicionibus ipsa natura; portentum atque monstrum certissimum est esse aliquem humana specie et figura qui tantum immanitate bestias vicerit ut, propter quos hanc suavissimam lucem aspexerit, eos indignissime luce privarit, cum etiam ferae inter sese partus atque educatio et natura ipsa conciliet. – Weitere Beispiele aus dieser Rede: §§46, 121, 154 (Gegensatz: crudelitas). Vgl. Cicero, de natura deorum 2,51,129: [...] quantus amor bestiarum sit in educandis custodiendisque is quae procreaverunt. 19 Diese Lehre ist ausgeführt bei Cicero, de finibus (45 v.Chr.) 3,4,16 und de officiis (44 v.Chr.) 1,4,11.

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Familie, schließlich auf die ganze Menschheit, die von den stoischen Philosophen als ›Großfamilie‹ in einem ›Weltstaat‹ gedacht wird: Kosmo-polis. Auf diesem »Ur-Vertrauen« beruht die »große Kraft der humanitas«. Der Vergleich mit dem Tier zeigt, ganz im Sinne stoischer Lehre, die Verwandtschaft alles Lebendigen und die Sonderstellung des Menschen. Er ist keine Bestie, sondern »von Natur aus milde«, kann aber durch besondere Umstände, etwa andauernde kriegerische Grausamkeiten, wilder werden als die Tiere.20 Als Teil stoischer Anthropologie gewinnt das Wort humanitas schon in den frühesten Reden unseres M. Tullius begrifflichen Kontur und argumentative Kraft.21 Diese Anthropologie hat M. Tullius nicht in Gerichtsreden, sondern in seinen populär-philosophischen Schriften verbreitet. Zwei Beispiele aus seinem Spätwerk mögen die philosophische Explikation dieser humanitas veranschaulichen. §2.2.2 humanitas und »zweite Natur« Die stoische Anthropologie, wie Tullius sie überliefert, konstruiert den Menschen als ein Lebewesen, wie die Tiere, und als Vernunftwesen, wie die Götter. Die Welt und alles in ihr ist um der Götter und Menschen willen gemacht.22 Da die göttliche Vernunft dieselbe ist im Menschen und in den Strukturen der Welt, erkennt der Mensch die Natur und nutzt sie, je länger, desto besser.

20 Friedrich Klingner nimmt für seine These, humanitas bezeichne bei Cicero die fein gebildete, kultivierte, geistvoll-heitere Art des Umgangs wohlerzogener Menschen miteinander, auch die Rede pro Roscio in Anspruch (Humanität und Humanitas, S. 726 mit Anm. 72 und S. 734f. mit Anm. 92), betrachtet aber nicht das schon in dieser frühen Rede beachtlich breite Bedeutungsspektrum im systematischen Zusammenhang, noch geht er auf die stoische Terminologie in Ciceros Argumentation ein. In seiner Übersetzung »menschliches Gefühl« für sensum humanitatis verflüchtigt sich der philosophische Anspruch. 21 Die philosophische Aufladung des Begriffs humanitas ist nicht eine Rückprojektion aus Herders »Humanität«, wie Klingner meint: Humanität und Humanitas, S.705-712. 22 Cicero, de natura deorum 2,53,133; vgl. de legibus 1,7,22. – Dieser Gedanke ist nicht ausschließlich stoisch, vgl. z.B. Aristoteles, Politik 1256 b15-22: Pflanzen existieren um der Lebewesen, Tiere um der Menschen willen.

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Das Tier dagegen hat keine oder nur wenig Vernunft;23 es hat deshalb auch keine Gotteserkenntnis;24 da es sich nicht des aufrechten Ganges befleißigt, wie der Mensch, blickt es nicht empor zu den himmlischen Gestirnen, sondern nur zum Futter auf der Erde. Das Tier hat kein Gesicht, keine oder wenig Sprache. Es ist zum Nutzen des Menschen geschaffen. Also verzehrt dieser Land-, Wasser- und fliegende Tiere, teils gefangene, teils gemästete.25 Durch Zähmung der Vierfüßler nutzen wir ihre Kraft und Schnelligkeit für unsere Fortbewegung. Wir legen Last und Joch auf sie. Wir nutzen die scharfen Sinne des Elephanten und den Geruch des Hundes für uns. Die Zähmung der Tiere ist jedoch, im ersten Jahrhundert vor Christus, nur Teil einer selbstbewußten, ja titanischen Herrschaft des Menschen über die Natur. Die stoische Philosophie reflektiert den realen Fortschritt, den die antike Kultur in dieser Epoche erreicht hat. Sie definiert den Menschen durch seine »Herrschaft« über die belebte und unbelebte Natur. M. Tullius fährt in seinem ›Lob des Menschen‹ folgendermaßen fort:26 »Wir allein haben die Verfügung über die gewaltsamsten Dinge, die die Natur gezeugt hat, über das Meer und die Winde, [...] Ebenso ist die Herrschaft (dominatus) über alle Ressourcen zu Lande beim Menschen: wir nutzen Felder, wir nutzen Berge; unser sind die Flüsse, unser die Seen; wir säen Getreide, wir pflanzen Bäume; wir geben den Ländereien durch Bewässerung Fruchtbarkeit; wir dämmen Flüsse ein, kanalisieren sie, leiten sie um. Durch unsere Hände

23 Cicero, de legibus 1,7,22-1,10,30: über den Anteil der Tiere am logos vgl. Seneca, Epistulae morales 124 (passim). 24 Cicero, de legibus 1,8,24-25: keine notitia dei. – Ein parodischer Protest gegen diese Annahme bei Plutarch, Gryllos (Schluß): auch Tiere haben theou noesis (θεῦ νόησις). 25 Cicero, de natura deorum 2,60,151f. (Rede des Stoikers Balbus). 26 Cicero, de natura deorum 2,60,152: quasque res violentissimas natura genuit earum moderationem nos soli habemus, maris atque ventorum, propter nauticarum rerum scientiam, plurimisque maritimis rebus fruimur atque utimur. Terrenorum item commodorum omnis est in homine dominatus: nos campis nos montibus fruimur, nostri sunt amnes nostri lacus, nos fruges serimus nos arbores; nos aquarum infusionibus terris fecunditatem damus, nos flumina arcemus dirigimus avertimus: nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur.

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schließlich unternehmen wir es, in der Natur sozusagen eine andere (zweite) Natur herzustellen«.

Kein Wunder, daß diese Vernunft den Himmel durchdringt, die Gestirne erkennt und ihren Lauf »für alle Zukunft« berechnet.27 Triumphierend schließt unser Philosoph seinen hochgemuten Hymnus auf den Menschen: kein Tier kann das; der Mensch übertrifft sie »alle«.28 Der Glaube an Vernunft und Fortschritt, den diese stoische Anthropologie vermittelt, ist überwältigend. Auffällig ist, daß bei ihrem Ruhme immer wieder die Minderwertigkeit der Tiere betont wird. Diese Auffassung ist allerdings in der Antike weit verbreitet.29 Nach fester stoischer Lehre besteht kein Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Tier.30 Deshalb gilt schon für das klassische Hellas:31 »Alle Menschen zähmen und bändigen die nützlichen Tiere und brauchen sie zum Krieg und als Helfer für vieles andere. [...] auch die viel stärker sind als wir, werden so den Menschen untertan, sodaß sie sich ihrer bedienen können, wozu sie wollen«.

27 Cicero, de natura deorum 2,61,153: [...] cognitae praedictaeque in omne posterum tempus, quae quantae quando futurae sint. 28 Cicero, de natura deorum 2,61,153: soli enim ex animantibus nos; [...] hominis natura quanto omnis anteiret animantes; 62,156: Tiere säen nicht, ernten nicht etc. – all das tut nur der Mensch. 29 Eine Ausnahme bilden die Pythagoreer und verwandte Richtungen. 30 Cicero, de finibus 3,20,67 (= SVF III nr. 371): et quomodo hominum inter homines iuris esse vincula putant, sic homini nihil iuris esse cum bestiis. – Weiteres Material SVF III, nr. 367-376. – Dennoch sieht auch Cicero »Gemeinsames« zwischen Mensch und Tier: de finibus 5,25. Durch Krieg werden sogar Tiere verroht: Panaitios bei Cicero, de officiis 1,90. 31 Xenophon, Memorabilia 4,3: Sokrates und Euthydemos; vgl. 1,4,14: »Im Vergleich zu den anderen Lebewesen leben die Menschen wie die Götter«. – Vgl. die Proportion Affe/Mensch/Gott bei Heraklit, frg. 82-83 (VS). Dazu William C. McDermott, »The Ape in Greek Literature«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 66 (1935), S. 165-176.

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Die Jagd wird als Krieg gegen die Tiere verstanden.32 Die Athener, schreibt Isokrates, greifen keine hellenischen Städte an, sondern unternehmen nur notwendige und gerechte Kriege:33 »den einen gegen die Wildheit der Tiere zusammen mit allen Menschen, den anderen mit den Hellenen gegen die Barbaren«. Selbst am Himmel stehen menschenförmige Sternbilder feindlich gegen die tierförmigen; Manilius begründet das so:34 »[...] und weil die Kriege zwischen Menschen und Tieren auf ewig bleiben«. Die Feindschaft ist auch deshalb so scharf empfunden, weil die Menschheit einstmals selbst in einer »tierischen Lebensform« existierte – ohne Feuer, Kleidung, Vorratshaltung.35 Damals waren die Menschen »härter«, mit größeren, festeren Kno-

32 Aristoteles, Politica 1,8 (1256b 15-26) im Zusammenhang mit den Formen des Erwerbslebens. Auch Krieg ist eine Form des Erwerbs. – Protest gegen diese Auffassung der Jagd bei Plutarch, de sollertia animalium 2 (959) mit Hinweis auf die Pythagoreer: »(Die Jäger) machten stark, wieviel von Natur aus (im Menschen ist), das Mörderische und Tierische und machten es unbeugsam zum Mitleid, den größten Teil des Zahmen stumpften sie ab« (959E). Vgl. Grattius, Cynegetica, Proömium; Porphyrios, de abstinentia 1,14. 33 Isokrates, Panathenaikos 12,163. 34 Manilius 2,520-607: Der Kampf im Tierkreis; 528: quodque aeterna manent hominum bella atque ferarum. – Zu den römischen ›Spielen‹ mit Tieren vgl. R. Anguet, Cruelty and Civilization: The Roman Games, 1972. Nur eine scheinbare Ausnahme zu diesem Verhalten ist etwa die Rührung der Zuschauer bei der Klage von Elefanten, die hingemetzelt werden, oder bei dem Tode eines gezähmten Löwen, dessen Jagdinstinkt, trotz aller Liebe zu dem gezähmten Wesen, noch einmal versucht werden sollte, s. H. Cancik, »Amphitheater. Zum Problem der ›Gesamtinterpretation‹ am Beispiel von Statius, Silve II 5: Leo mansuetus«, in: Der Altsprachliche Unterricht 14,3 (1971), S. 66-81 (Sammelband Dichtung der Kaiserzeit II, hg. v. Hubert Cancik und Ernst Zinn). 35 Diodor 1,8,11f. aus demokritisch-epikureischer Tradition, wie die Bezüge zu Lukrez 5,925ff. zeigen – vielleicht vermittelt über Hekataios von Abdera: θηριώδης βίoς (Diodor) – more ferarum (Lukrez 5,932). Vgl. Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband, Griechische Kulturentstehungslehren, Berlin 1924, S. 25ff.: »Die konstruktive Theorie des Atomismus«. In den hier und an anderer Stelle von Uxkull-Gyllenband interpretierten Texten ist das Motiv der »Herrschaft« über die Tiere sehr selten.

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chen; sie hatten fürchterliche Kämpfe mit den Tieren zu bestehen.36 Sie erfanden Häuser, Kleidung, Feuer, Familie; »erst dann«, so Lukrez, der Epikureer, in seiner Kulturentstehungslehre, »zuerst begann das Menschengeschlecht weich zu werden« (mollescere).37 Auch die Antike hat erkannt, daß der Mensch im Vergleich zum Tier ein ›Mängelwesen‹ sei – schwächer, langsamer, ohne Fell und Klauen, völlig unfertig bei der Geburt – und daß paradoxer Weise eben dieser Mangel der Grund für seine Überlegenheit ist. Bei der Geburt, sagt Plinius, ist das Kind »ein weinendes Tier und wird doch über die anderen herrschen« – flens animal ceteris imperaturum.38 Die Grunderfahrung, die alltäglichen, vorphilosophischen Voraussetzungen für dieses Selbstbild des antiken Menschen sind die tatsächliche Erfahrung und der Gebrauch, den die Menschen damals, auch in einer Großstadt wie Rom, mit und von Tieren machen. §2.3 Würde durch Herrschaft §2.3.1 Aus der Herrschaft über die Tiere entwickelt M. Tullius einen Begriff, der in der Moderne zu einem politischen und juristischen, schließlich auch zu einem philosophischen und theologischen Schlagwort wurde, dignitas hominis. Demnach existiert jedes menschliche Individuum als eine Kombination von vier ›Masken‹ (personae). Natura selbst verteilt die Rollen im Welttheater. Die erste ist allen Menschen gemeinsam (communis), es ist, so Tullius, die Maske Vernunft: sie ist die erste und allgemeine, diejenige, die uns von den Tieren unterscheidet.39 Sie begründet die Erhabenheit des Menschen über alle anderen Lebewesen und durch diese Differenz

36 Lukrez 5,926-932; 990ff.; Jagd: 1249ff. 37 Lukrez 5,1014: tum genus humanum primum mollescere coepit; Venus vermindert ihre Kräfte; die Kinder brechen mit ihren Liebkosungen die stolze Natur ihrer Eltern. Die Menschen lernen, sich der Schwachen zu erbarmen: imbecillorum esse aequum misererier omnis (1023). 38 Plinius, Naturalis historia 7 (Prolog). 39 Cicero, de officiis 1,30,107: quarum (personarum) una communis ex eo, quod omnes particeps sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis.

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zum Tier die Gleichheit.40 Die zweite Maske begründet antithetisch die körperliche und geistige Differenz innerhalb dieser Gemeinsamkeit, also die Proprietät, die Besonderheit, durch die die menschlichen Individuen sich voneinander unterscheiden (proprietas). Die dritte Maske, die Natura den Individuen aufsetzt, ist ihre geschichtliche Situation (casus aut tempus), in der ihre Rollen spielen. Die letzte Modellierung auf dieser Schichtung von Masken leistet jedes Individuum selbst durch seinen eigenen Willen und das eigene Urteil (voluntas, iudicium). Dieser Ansatz zu einer Rollentheorie der Menschen verbleibt in der Bildersprache des Schauspielers und Theaters; aber die hier angesetzten Begriffe von Rationalität und Gleichheit, Individualität, Geschichtlichkeit, Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen sind die Norm, Kanon für jeden Humanismus, unabhängig von der weiteren philosophischen oder weltanschaulichen Argumentation. §2.3.2 Die allgemeine Maske, die die Gleichheit und Gemeinsamkeit aller Menschen begründet, ist diejenige, die sie von den Tieren unterscheidet. Dies ist die Grundlage. Und dieser Ansatz hat Konsequenzen für Psychologie und Moral, für die Anteile im Menschen, die er als Lebewesen nun einmal mit dem Tier gemeinsam hat, das ›Animalische‹ oder gar das ›Bestialische‹. Das sind: alle Triebe und Begierden (impetus, appetitus), am schlimmsten Zorn, Sex, Herrschgier. All das soll geordnet sein in würdigem Anstand, maßvoll in Tun und Reden, beherrscht, gezügelt, diszipliniert, auch die Gesichtszüge: Und wieder heißt es, kein anderes Lebewesen, spürt, was Ordnung sei, Anstand, Maß.41 Es ist Pflicht der Menschen, sich immer gegenwärtig zu halten:42 »wie weit die Natur des Menschen dem Hausvieh und den übrigen wilden Tieren vorangeht: jene fühlen nichts als Lust (Vergnügen) und werden zu ihr getragen durch jeden Trieb; der Geist des Menschen aber nährt sich durch Lernen und Denken, immer untersucht oder tut er etwas, durch die Freude am Sehen

40 Cicero, de officiis 1,28,97: nobis autem personam imposuit ipsa Natura magna cum excellentia praestantiaque animantium reliquarum. 41 Cicero, de officiis 1,4,14: unum hoc animal sentit quid sit ordo, quid sit quod deceat, qui modus. – Gesichtsausdruck (vultus): 1,29,102. 42 Cicero, de officiis 1,30,105.

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und Hören wird er geleitet. Mehr noch, wenn ein Mensch der Lust etwas stärker zugeneigt ist, vorausgesetzt er gehört nicht zur Gattung Vieh – es gibt ja manche, die sind Menschen nicht der Sache sondern nur dem Namen nach –: wenn er denn ein Mensch mit aufrechtem Gang ist, so verbirgt er, wie sehr auch von Begierde gepackt, und dissimuliert seinen Appetit aus Scham und Scheu«.

Die Triebe sollen gehorchen, sie sollen nicht ohne Befehl der Vernunft vorneweg laufen zu Kampf und schneller Beute oder aus Faulheit und Feigheit desertieren, den Gehorsam fortwerfen wie der Fliehende seinen Schild, sondern die Triebe sollen der Räson parieren, der sie unterworfen sind nach dem Gesetze der Natur.43 Hier spricht Cicero, einst imperator in der Provinz Kilikien; auch für ihn liegt Rationalität dicht bei Disziplin. Aus der Verachtung der Triebe, Begierde, Lust, aus dem Willen zu Befehl und Maßgabe erwächst uns das Bewußtsein, quae sit in natura excellentia et dignitas; [...] quamque (sit) honestum parce, continenter, severe, sobrie (vivere). »welcher Vorzug und welche Würde in der Natur sei, und wie gut es sei, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern (zu leben)«.44

Dies ist der Erstbeleg für den Ausdruck ›(Menschen-)Würde‹. Er ist konstituiert in stoischer Anthropologie, Trieblehre und Moral, mit deutlich römischer und tullianischer Einfärbung. Der etwas morose Zusammenhang läßt nicht ahnen, welcher Höhenflug dem Ausdruck beschieden sein sollte.

43 Cicero, de officiis 1,28,101-1,29,102. Vgl. Platon, de re publica 441e; Aristoteles, Politik 1,5 (1254b 4-14): »die Seele nämlich herrscht über den Leib mit einer despotischen Herrschaft, der Verstand über das Begehren mit einer politischen und königlichen Herrschaft«. Für die Tiere sei es besser, vom Menschen beherrscht zu werden; ebenso herrscht das Männliche über das Weibliche. 44 Cicero, de officiis 1,30,106.

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HUMANITAS , H UMANITÄT , H UMANISMUS : S YSTEM UND K ONTINUITÄT

§3.1 Die römische humanitas und ihre Grundlagen §3.1.1 »Alle humanitas« hatte Aurelia Faustiniana ihren Kunden versprochen. Was immer im einzelnen gemeint war: Gellius, der zeitgenössische Philologe, meinte, dieser Sprachgebrauch sei nicht ursprünglich und nicht anständig: humanitas bedeute ›paideia‹ (παιδεία), Entrohung, Unterrichtung, nicht ›Philanthropie‹ und allgemeines Wohlwollen. Denn gerade durch Bildung unterschieden die Menschen sich ja von den Tieren. Nach Betrachtung der Erstbelege für das Wort humanitas in der lateinischen Sprache und der philosophischen Auslegung im Spätwerk des M. Tullius muß gesagt werden: Der antike Gelehrte hat Unrecht. ›Milde, Barmherzigkeit, Wohlwollen‹ und der Gegensatz zur tierischen Rohheit stehen am Anfang unserer Wortgeschichte von humanitas. Aus diesem, wie sich gezeigt hat, fundamentalen Gegensatz sind auch die anderen Bedeutungen entwickelt: die Bildung ist eine Entrohung und demonstriert, wie der menschenfreundliche Service in einer Badeanstalt, wie weit der zivilisierte Stadtbewohner sich von der tierischen Lebensform entfernt hat.45 All dies heißt in Rom humanitas: Barmherzigkeit, Bildung, Menschenfreundlichkeit, Kultur, Komfort.46 Einen analogen Sprachgebrauch gibt es bei den Griechen nicht.47

45 Vgl. lautus – (a) gewaschen, (b) glänzend, vornehm, rühmlich. 46 Dem entsprechen die lateinischen Worte: misericordia; eruditio; clementia – benevolentia; cultus; urbanitas. Für eine detaillierte Darstellung dieser fünf Aspekte römischer humanitas muß hier auf die bibliographische Notiz verwiesen werden. 47 Zu analogen griechischen Vorstellungen und Begriffen vgl. W. Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, 1965. – In der Nähe der Anstalt der Aurelia Faustina befand sich später das Bad des Lampadius (Via Tiburtina, bei Settecamini). Eudemos, ein Sophist aus Laodicea, verfaßte in der Mitte des 4. Jh.s n.Chr. ein Lobgedicht auf die Anlage. Er rühmt den Glanz, den Komfort, das Wasser und nennt Nymphen und Chariten: so, mythologisch noch in christlicher Zeit, umschreibt der Grieche, was die Römerin humanitas nannte. Text: Luigi Moretti, in: Rendiconti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia, ser. III, vol. LVII,

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§3.1.2 Eine der Grundlagen römischer humanitas ist also die fundamentale Differenz zum Tier. Sie wurde alltäglich erfahren – überall Nutztiere, Haustiere, Jagdtiere, Opfertiere, Schoßtiere: und der Mensch durfte mit ihnen machen, was er wollte. Ciceros Variationen über diese Differenz sind gewiß eintönig, ignorant und moros. Aber sie hat ein große argumentative Reichweite und pädagogische Anschaulichkeit, und sie ist eingebettet in ein Naturverständnis, das die Schönheit und Zweckmäßigkeit des Kosmos viele Seiten lang bewundert, dann aber in dem Hymnus auf den Menschen die Unterwerfung und Ausnutzung dieser Natur rühmt. Diese vorphilosophische Bestimmung des Menschen ist historisch bedingt, durch den zivilisatorischen Hochstand der Epoche, den Aufstieg Roms zur Großstadt, durch die Universalisierung des römischen imperium, das eine Universalisierung von Menschenbild, Moral und Religion erzwang.48 Diese Bestimmung des Menschen durch seine Herrschaft über die Tiere ist keine anthropologische Trivialität. Unter Ethnologen ist allerdings die Frage nach der ›Nähe‹ der sog. Naturvölker zu Tieren umstritten; eine komparatistische Untersuchung über die Selbstdefinition des Menschen durch seine Verfügung über die Tiere in anderen Hochkulturen ist mir, trotz Suche, nicht bekannt geworden.49 §3.1.3 Eine weitere Grundlegung, oder eher ein Kernstück, von humanitas bei M. Tullius ist die stoische Anthropologie. Sie faßt die alltäg-

1986, S. 233-241 (Identifikation der Anlage mit den sog. »Terme di Agrippa« oder »della regina Zenobia« bei Aquae Albulae). 48 Vgl. H. Cancik, »Die ›Repraesentation‹ von ›Provinzen‹ (nationes, gentes) in Rom. Ein Beitrag zur Bestimmung von ›Reichsreligion‹ vom 1. Jahrhundert vor bis zum 2. Jahrhundert nach Christus«, in: Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, hg. v. Hubert Cancik und Jörg Rüpke Tübingen 1997, S. 129-143; H. Cancik und H. Cancik-Lindemaier, »patria – peregrina – universa. Versuch eine Typologie der universalistischen Tendenzen in der Geschichte der römischen Religion«, in: Ch. Elsas u.a. (Hg.), Tradition und Translation. Zum Problem der Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1994, S. 64-74. 49 Ich danke meinem Kollegen Thomas Hauschild (Ethnologie, Tübingen) für freundliche Beratung.

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liche Erfahrung in ein System biologischer, erkenntnistheoretischer, moralischer Begriffe: Natur, Zueignung, Selbstwahrnehmung, Vernunft, Selbst, Persona. Hierbei tradiert und romanisiert M. Tullius, wie er selbst oft genug sagt, lediglich die Errungenschaften griechischer Philosophen. Er nennt die Namen seiner stoischen Gewährsmänner: Diodot (gest. 59), Panaitios (gest. 109), Poseidonios (135-52/0), Antipater von Tyros (gest. 44).50 Da er selbst aber nicht Stoiker ist, sondern Schüler der Neuen, der skeptischen Akademie, verbleiben auch seine Darlegungen zur stoischen Anthropologie unter dem skeptischen Vorbehalt: sie sind nur »wahrscheinlich«. M. Tullius unterliegt nicht einem Schulzwang, er praktiziert die Freiheit der Eklektiker: »nach eigenem Urteil und Entscheid«.51 Dieses Verfahren gefährdet einerseits die gedankliche Konsistenz seiner Anthropologie, löst aber andererseits sein Konzept von humanitas aus der strikten Bindung an eine bestimmte philosophische Schule. Sein skeptischer Vorbehalt, die Unentschiedenheit, Offenheit ist wohl ein Grund für den Erfolg dieser Konzeption. Ein weiterer ist der Umstand, daß M. Tullius seine Anthropologie und Ethik von Motiven römischer Religion und Theologie weitgehend freigehalten hat. ›Natur‹ und ›Vernunft‹ sind die leitenden Prinzipien, damit muß man nicht unbedingt Iuppiter oder stoischen Pantheismus verbinden. Dieser Umstand ist eine Voraussetzung für die erstaunliche Wirkung, die seine Schrift »Über die Pflichten« auch auf Christianer ausgeübt hat: von Ambrosius bis Schwarzenberg, Pufendorf, Garve und Kant.52 §3.1.4 Der gedankliche Kern von humanitas bei M. Tullius ist also stoische Anthropologie. Sie wird latinisiert und in der höheren römischen Gesellschaft angesiedelt – Villa mit Staatsmann. Die Adaptationen der griechischen Autoren werden mit Beispielen aus der römischen Geschichte geschmückt; das Wortfeld ›Mensch – Menschheit‹ wird angereichert durch die Bedeutungen, die ›homo, humanus, humanitas‹ in Rom im 1. Jahrhundert v.Chr. ausgebildet haben. Das Römische ist

50 Cicero, de natura deorum 1,3,6-7; de officiis 2,24,86; 3,2,7-10 u. a. m. 51 Cicero, de officiis 1,2,6: Sequimur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes sed ut solemus e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro [...] hauriemus. 52 Vgl. H. Cancik, »Menschenwürde«, in: Der Neue Pauly, Bd. 7, 1999, Sp. 1261-1263.

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Medium, Rahmen, literarische Dekoration, Inszenierung mit Lokalkolorit. Eine geistesgeschichtliche Etikettierung von humanitas bei M. Tullius könnte lauten: ›lokale, haeretische Variante der stoischen Anthropologie, ohne eigene Organisation (Schule, Gemeinde), nur als Literatur und im Bildungswesen wirksam‹. Wir müssen erkennen: das ist um das Jahr 50 v.Chr. neu, modern, nie dagewesen, trotz der alten Quellen, von denen der gehetzte Staatsmann abschrieb. Und wir müssen erkennen: Seitdem sind etwa 2050 Jahre vergangen, und fragen: Gibt es eine konsistente, legitime Vermittlung? Gibt es einen historischen, und vor allem, gibt es einen philosophisch ausweisbaren Zusammenhang zwischen dieser römischen humanitas und dem, was wir seit Johann Gottfried Herder und Friedrich Immanuel Niethammer ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ nennen? §3.2 Der deutsche ›Humanismus‹ und seine Grundlagen53 §3.2.1 Das moderne Wort ›Humanismus‹ wurde, wie es scheint, im Jahre 1808 von einem Schwaben aus Heilbronn erfunden. Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) war es, der dem antiken Wurzelwort humanitas, der alten Berufsbezeichnung (h)umanista – ›Humanist‹ und seiner neueren aus dem Französischen entlehnten Ableitung ›Humanität‹54 den -ismus hinzufügte. In Konkurrenz zu einem etwas

53 In diese Darstellung sind folgende Vorarbeiten des Verfasssers eingegangen: »Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte« (1983); »›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Religions-und philosophiegeschichtliche Bemerkungen zu Art. I GG, Abs.1, Satz 1« (1987); »Der Ismus mit menschlichem Antlitz. ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ von Niethammer bis Marx und heute« (1992). In diesem Band. 54 J.G. Herder (1744-1803), »Über das Wort und den Begriff der Humanität«, in: ders., »Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-1797), 3. Sammlung, 27. Brief«, in: J.G. Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 7 (hg. von H.D. Irmscher), 1991, S. 147ff: »Sie fürchten, daß man dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde; könnten wir nicht das Wort ändern? Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe? [...] Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten

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älteren pädagogischen -ismus,55 dem Phil-anthropinismus von Johann Bernhard Basedow und seiner »Philanthropin« genannten Erziehungsanstalt in Dessau (seit 1774) suchte Niethammer nach einem Begriff, mit dem er die Erziehungspraxis der alten Humanistenschulen und sein eigenes neues Programm bezeichnen könnte. Der -ismus betont den systematischen Anspruch seines Bildungsprogramms, das Element human- stellt die Verbindung her zur Tradition, zu M. Tullius, den Schulen der frühen Humanisten und zu Herders Vorstellungen von ›Humanität‹. Das Wort ›Humanismus‹ bedeutet hier also zunächst eine moderne systematische Erziehungslehre, nicht etwa eine gesellschaftliche Utopie, wie bei Dr. Karl Marx (1844/45), oder eine Epoche, wie bei G. Voigt (1859).56 Niethammer notiert folgende Grundsätze:57 1. 2.

3.

Zweck der Erziehung ist die allgemeine Bildung des Menschen; dieser Zweck ist autonom. Die Bildung der Jugend ist nicht Abrichtung zu einem bestimmten Geschäft, zu »gemeiner Brodkenntnis«, sondern Bildung des Geistes »für die höhere Welt«, zur »Humanität«. Diese Bildung vermittelt nicht vielerlei Wissen, sondern beschränkt sich auf die Ideen des Wahren, Guten und Schönen in ihrer »classischen Form«.

und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit, auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein. [...] Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch [...] hat dazu mitgeholfen [...]. Sollte das Wort Humanität also unsre Sprache verunzieren? Alle gebildeten Nationen haben es in ihre Mundart aufgenommen; [...]«. 55 A. H. Niemeyer, Ansichten der deutschen Pädagogik und ihrer Geschichte im 18. Jahrhundert, Halle 1801, S. 32. 56 a) Fr. Engels/K. Marx, »Die heilige Familie, 1844/45«, in: Marx – Engels – Werke, Bd. 2, S.7. – b) G. Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Altertumes oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 1859. 57 Niethammer, Streit, S.76-84 (Auswahl).

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4.

Die Auswahl der Gegenstände »kann eben darum kein anderes Gebiet als das des Alterthums finden, indem unläugbar wahre Classicität in allen Arten der Darstellung des Wahren, Guten und Schönen in ihrer größten Vollendung nur bei den classischen Nationen des Alterthums angetroffen wird.«

›Humanismus‹ also ist nach Niethammer: Bildung zur Humanität durch die Aneignung der Ideen des Wahren, Guten und Schönen in der classischen Form, wie sie bei Griechen und Römern – und nur dort – anzutreffen ist. Alle spezielle Berufsausbildung, in der die Philanthropen die Mitte der Erziehung sehen, ist demgegenüber sekundär; sie darf die allgemeine Bildung der Jugend nicht belasten; zeitlich ist sie nach der Allgemeinbildung anzusetzen. §3.2.2 Niethammers ›Humanismus‹ ist keine Philosophie, keine Religion, keine wissenschaftliche Methode, sondern ein pädagogisches Programm, Neuformierung einer Tradition, vielleicht eine Weltanschauung. ›Humanismus‹ ist Teilsystem der mentalen und emotionalen Ausstattung eines Menschen oder einer Gruppe. Ursprung der Tradition ist das Altertum: es ist ›classisch‹, insofern normativ; seine Sonderstellung in der Kultur der Menschheit wird geschichtsphilosophisch begründet. Die Mitte des ›Humanismus‹ als Weltanschauung ist ›Humanität‹. Diese wird zur Zeit Niethammers, in losem Anschluß an ciceronische Formulierungen,58 aufgefaßt als ein universaler, kulturübergreifender Begriff. Er bezeichnet, unter Absehung von Geschlecht, Alter, Klasse, Stand, Rasse, Konfession, (a) die ›Gattung‹ Mensch, alle Menschen, das genus humanum und die societas humana, und (b) die (Mit-)Menschlichkeit, die emotionale und tätige Zuwendung zu Menschen, die in Not sind. Diese erhalten ›humanitäre‹– im Gegensatz etwa zu militärischer – Hilfe. Dies ist der Aspekt ›miseri-cordia‹ – ›Barmherzigkeit‹ des Wortes humanitas schon in der Antike. Niethammers Bestimmung der humanistischen Pädagogik läßt sich also folgendermaßen fassen: ›Humanismus‹ bezeichnet Weltanschauungen, die (a) ihrem Selbstverständnis nach ›den Menschen in den

58 S. o. zu de officiis (verfaßt 44 v.Chr.), 1,4,11-12 (der Mensch in der Natur); 1,30,106 (Würde des Menschen); 1,30,107 (persona) u.v.a.m.; besonders prägnant: 3,6,26-28 (»allein aus dem Grunde, weil er Mensch ist«).

E NTROHUNG

UND

B ARMHERZIGKEIT , H ERRSCHAFT

UND

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Mittelpunkt ihres Denkens stellen‹ (›humano-zentrisch‹) und (b) dabei mehr oder weniger stark an verschiedene Epochen der Antike (klassisch oder archaisch) oder an historische Exempel (das demokratische Athen; das militaristische Sparta; das Lebenswerk von Cicero, Seneca, Marc Aurel) anknüpfen. Hierbei wird Gelehrsamkeit vorausgesetzt und Bildung, meist überwiegend sprachlicher, aber oft auch gymnischer oder musischer Art, gefordert. Dies ist der Aspekt ›eruditio‹ – ›Ent-rohung‹, ›Erziehung‹ des römischen Ausdrucks ›humanitas‹. Eine Erweiterung von Niethammers Bestimmung des Begriffs ›Humanismus‹ läßt sich dadurch gewinnen, daß seine »Ideen des Wahren, Guten und Schönen« ein wenig konkreter gefaßt werden. Aus den Schriften Niethammers und seiner Tübinger und Jenaer Freunde bis etwa 1808 ließe sich ein Katalog von Stichworten erarbeiten, wie z.B.: Mensch, Bildung, Natur, Vernunft – Sprache, Person – Gewissen; Freiheit – Gleichheit; Toleranz. Dieser Katalog ist nicht vollständig, nicht systematisch sortiert, nicht abgeschlossen. Aber er dürfte ein zutreffendes Bild geben, was sich Freunde und Gegner des ›Humanismus‹ zu Beginn des 19. Jh. unter den »Ideen des Wahren, Guten und Schönen« vorstellten, die das ›classische Alterthum‹, vor allem natürlich die Griechen im 5. bis 4. Jh. v.Chr., dem Abendlande überliefert habe.

§4 S CHLUSS Der Humanismus und das Reden darüber hat immer etwas Aufbauendes, Bejahendes, Erhebendes. Es geht mir dabei immer wie dem Bildhauer Bouchardon, der bei der Lektüre von Homers Ilias um 20 Fuß gewachsen ist.59 »Aber mit dem Positiven«, sagt der Dichter, »muß man es nicht zu ernsthaft nehmen, sondern sich durch Ironie darüber erheben und ihm dadurch die Eigenschaft des Problems erhalten«.60

59 Vermittelt durch Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen 1, 4

1943, S. 168.

60 J.W. Goethe an Graf Sternberg, 19.9.1826.

278 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

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E NTROHUNG

UND

B ARMHERZIGKEIT , H ERRSCHAFT

UND

W ÜRDE | 279

P. Münch/R. Walz (Hg.) Tiere und Menschen – Geschichte eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1997. A.H. Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Erzieher, 1876 (Ndr., hg. v. H.-H. Groothoff und U. Herrmann, Paderborn 1970, mit Anmerkungen, reicher Bibliographie, Zeittafel, Register). F.I. Niethammer, Philanthropinismus – Humanismus, Texte zu Schulreform. Bearb. von W. Hildebrecht. Kleine Pädagogische Texte 29, Weinheim/Berlin/Basel 1968 (darin nachgedruckt: Der Streit [...] und: Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche, beide 1808). H. Oppermann (Hg.), Humanismus, Darmstadt 1970. R. Rieks, Homo, Humanus, Humanitas. Zur Humanität in der lateinischen Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, München 1967. M. Schwarzmaier, Friedrich Immanuel Niethammer, Ein bayerischer Schulreformator, 1.Teil, München 1937. R. Sorabji, Animal Minds and Human Morals, London 1993. H. Storch, »Humanitas«, in: Der Neue Pauly, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 752-754. J.M.C. Toynbee, Animals in Roman Life and Art, London 1973. W. Rüegg, Cicero und der Humanismus. Formale Untersuchungen über Pertrarca und Erasmus, Zürich 1946. W. Graf Uxkull-Gyllenband, Griechische Kulturentstehungslehren, Berlin 1924. G. Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthumes oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Berlin 1859 (31893).

Gleichheit und Freiheit Die antiken Grundlagen der Menschenrechte

»Was die Deutschen betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben und keine Gegenwart haben«. Heinrich Heine, Englische Fragmente, 1828

§1 D IE M ENSCHENRECHTE

DER

N EUZEIT

§1.1 Der Gegenstand ›Menschenrechte‹ sind nach gegenwärtigem Verständnis Rechte, die jedem einzelnen Menschen von Natur aus in gleicher Weise zukommen, durch Geburt, insofern er Mensch ist: »All men are by nature equally free and independent« (Virginia Bill of Rights, 12.6.1776).1

1

Der Verfasser dieses Satzes, George Mason, zählte elf Jahre später 118, der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, 149 Sklaven in seinem Privatbesitz. George Washington, Bürger des Staates Virginia wie Mason und Jefferson, besaß 390 Sklaven. Keine der zwischen 1776 und 1783 entstandenen Verfassungen der verschiedenen Staaten Amerikas enthält ein Verbot der Sklaverei; eine Ausnahme ist die Verfassung des Territoriums von Vermont (1777). Quellennachweis bei Willi Paul Adams, »Das Gleichheitspostulat in der Amerikanischen Revo-

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Die »Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers« (16.8. 1789) beginnt (Art. 1): »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«.2 Die amerikanische und die französische Revolution verwandeln die Menschenrechte aus einer moralischen, philosophischen oder juristischen Forderung in den Status positiven Rechts. Die Verfassung der Bundesrepublik greift unmittelbar auf die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 zurück.3 Die »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte« gelten als »Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft«.4 »Die Würde des Menschen« zu achten und zu schützen gilt als »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Im Einzelnen werden, wie bekannt, u. a. aufgeführt: »Das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«; das Recht auf Leben; die Freiheit der Person; die Gleichheit vor dem Gesetz; die Gleichberechtigung von Mann und Frau; die Glaubens- und Gewissensfreiheit; die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre. Artikel 3 Abs. 3 statuiert Gleichheit und beschreibt dabei einige der erfreulicher Weise bestehenden Ungleichheiten unter den Menschen:

lution,« in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 59-99 (Teile einer Dissertation Berlin 1968), bes. S. 59 und 91. Der Widerspruch zwischen politischer Rhetorik und gesellschaftlicher Wirklichkeit gilt für alle in dem folgenden Versuch behandelten Epochen. 2

Eine Gegenüberstellung der französischen und amerikanischen Menschenrechtserklärungen im Urtext bei Jellinek, in: R. Schnur, Geschichte der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 20ff.; alle einschlägigen Erklärungen in deutscher Übersetzung Heidelmeyer (Hg.), Die Menschenrechte. – Ausgewählte Quellen zur französischen Revolution bei Grab (Hg.), Die französische Revolution.

3

G. Kleinheyer, Art. »Grundrechte«, S. 1082.

4

GG Art.1: »(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht«.

GLEICHHEIT

UND

F REIHEIT | 283

»Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden«.

§1.2 Die Begrenzung des Themas Wir fragen: Was heißt in der Formel by nature free das Wörtlein »Natur«? Was für ein Begriff ist »Gleichheit«? Wer hat ihn erfunden? Seit wann gibt es nicht nur Könige und Bauern, Männer und Frauen, sondern »Menschen« schlechthin, die wider allen Augenschein gleich sein sollen? Diese Fragen führen uns, so hoffe ich, in den Bereichen Philosophie, Recht und Geschichte auf die antiken Grundlagen der neuzeitlichen Menschenrechte und damit auch des Bonner Grundgesetzes. Der zur Zeit auch in Tübingen herrschenden Meinung nach5 wäre diese Fragestellung wenig fruchtbar. Seitdem nämlich die Menschenrechte von vielen Staaten und internationalen Gremien als positives Recht anerkannt sind, wächst die Zahl derer, die ihre christliche Herkunft zu erweisen trachten. Die Menschenrechte werden entweder unmittelbar aus der Bibel hergeleitet (»Gottebenbildlichkeit», »die Paulinische Freiheit«) oder aus der Reformation (Luther und die Glaubensfreiheit),6 oder sie werden doch wenigstens als ›Verweltlichung‹ ur-

5

J. Schwartländer (Hg.), Menschenrechte, 1978. Darin: W. Kasper, »Vernunft und Geschichte«, S. 232-233; Kasper meint, die Menschenrechte seien »eine Folge der Geschichte des Christentums«; er beruft sich dafür auf Hegel, s. hier Anm. 13. – J. Moltmann, Theologische Erklärung zu den Menschenrechten.

6

Vgl. z. B. Moltmann, S. 13; der reformierte Weltbund bekennt sich zur »Begründung der fundamentalen Menschenrechte aus dem Recht Gottes auf den Menschen«: »Damit ist gesagt, daß die Menschenrechte letzten Endes nicht im Wesen des Menschen fundiert und auch nicht von individuellen oder kollektiven Errungenschaften des Menschen in der Geschichte bedingt sind«. »Die theologische Basis der Menschenrechte. Schlußbericht einer von der Generalkonferenz des Reformierten Weltbundes 1970 in Nairobi beschlossenen Studie«, in: epd dokumentation 15 (1976), S. 3-9, S. 3.

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sprünglich und eigentlich christlicher Ideen gedeutet.7 Wer die Menschenrechte so aus dem Christentum hervorgehen läßt, muß natürlich andere Ansprüche auf die geistige Vaterschaft abwehren. a) Karl Löwith z. B. meint, der erste Artikel der französischen Menschenrechtserklärung - »les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits« – sei eine »christliche Idee« und »gänzlich unverein-

7

So schon E. Troeltsch, Soziallehren I (1912), S. 760: »Daß diese Formulierung der Kultusfreiheit als eines verfassungsmäßig zu garantierenden Menschenrechtes zugleich die vom Naturrecht der Aufklärung längst gelehrten Menschenrechte überhaupt in die juristische Formulierung mit hindurchriß und diese Formulierung dann auch auf die europäischen Verfassungen übertragen wurde, hat Jellinek gezeigt: ähnlich wie die Berufungsidee, ein Beispiel dafür, wie wichtige, heute jeder religiösen Begründung entbehrende und selbstverständlich gewordene Begriffe auf dem Boden des religiösen Lebens ursprünglich erwachsen sind«. »Zur Kritik des Begriffs »Säkularisierung« vgl. H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (1965), ²1975, bes. S. 73f. und W. Jaeschke, Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie, München 1976. Zur Kritik an Jellineks Thesen vgl. R. Boutmy, »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902)«, in: Schnur, S. 78-112. Die Stellung von Troeltsch zu dieser Frage ist m. E. undeutlich: vgl. Troeltsch, Soziallehren I, S. 355; 404ff. (Hussiten); S. 411; 768. Auf Jellinek bezieht sich auch K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche (1939), 4. Aufl. 1958, S. 260: »Das Vorbild dieser Festlegung der Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit ist, wie G. Jellinek nachwies, die christliche Idee, daß alle Menschen als Geschöpfe Gottes gleich geboren sind und daß niemand als ein Ebenbild Gottes über seinesgleichen ein Vorrecht hat. Die Französische Revolution ist eine entfernte Folge der Reformation und ihres Kampfes um die Freiheit des Glaubens. Die Civitas Dei auf Erden wird zum Gesellschaftsvertrag, das Christentum zur Humanitätsreligion, die christliche Kreatur zum natürlichen Menschen, die Freiheit eines jeden Christenmenschen zur bürgerlichen Freiheit im Staat, das religiöse Gewissen zur ›libre communication des pensées et des opinions‹. Infolge dieser christlichen Herkunft ist schon der erste Grundsatz (›Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits‹) gänzlich unvereinbar mit der heidnischen Staatslehre, welche voraussetzt, daß es ›von Natur aus‹ Freie und Sklaven gibt.«

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bar mit der heidnischen Staatslehre, welche voraussetzt, daß es ›von Natur aus‹ Freie und Sklaven gibt«.8 Dieser Satz ist aus folgenden Gründen nicht richtig: (1) »Die« heidnische Staatsphilosophie gibt es nicht. Löwith hat ja offenbar auch nur die Politik des Aristoteles vor Augen. Andere antike Staatslehren behaupten aber, wie wir sehen werden, gerade das Gegenteil. (2) Der Satz des Aristoteles, aus dem Anfang der Politik, es gebe Menschen, die ihrer physis (φύσις) nach, d. h. hier: nach ihrer Veranlagung, zu Sklaven, d. h. hier: zu unselbständiger Arbeit bestimmt sind, ist durch andere Stellen zu ergänzen, an denen natürlich auch Aristoteles den Sklaven »insofern Mensch« als ethisches Subjekt betrachtet.9 (3) Das römische Recht enthält die Feststellung, daß Sklaverei contra naturam sei.10 (4) Juden und Christen hielten sich Sklaven und wußten dies natürlich auch theologisch zu rechtfertigen.11 (5) Mir fällt auf, daß die Männer, die die französische Erklärung der Menschenrechte vorbereitet und formuliert haben, so gar nicht jene »christliche Idee« vom »Ebenbild Gottes« zitieren wollen, von der Löwith sie getragen sieht.12 Löwith jedenfalls bringt keinen einzigen

8

K. Löwith, a .a. O. S. 260: s. vorige Anm.

9

Aristoteles, Politik I 3; vgl. z. B. die Bemerkungen Aristoteles' über die Möglichkeit von Freundschaft zwischen Sklaven und Herren (Nikomachische Ethik 8, 1161 b). Dementsprechend ist m. E. auch Fahrenbachs Annahme (in: Schwartländer [Hg.], Menschenrechte, S. 51), Aristotelesʼ Theorien seien deshalb nicht für die Menschenrechtsproblematik relevant, weil er die Sklaverei rechtfertigte, einzuschränken. Vgl. auch hier Anm. 1. Über den Stand der Frage etwa zur Zeit Hegels unterrichtet Karl Hildenbrand, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, I: Das klassische Altertum, 1860, §81: »Urtheile der Neueren über den aristotelischen Lösungsversuch der Sklavenfrage«; hier auch über Sklaverei und Menschenwürde bei Aristoteles.

10 S. u. Anm. 69. 11 Die Unterwerfung der Kanaanäer soll durch den Fluch in Genesis 9, 25-27 (»jahwistisch«) gerechtfertigt werden. Vgl. Anm. 1. 12 Löwith, a. a. O. verweist nur auf Jellinek, s. o. Anm. 7.

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Beleg. Andererseits lassen sich, so möchte ich zu zeigen versuchen, die antiken Grundlagen und Vorlagen jenes Satzes durchaus ermitteln: es sind genau diejenigen, die Löwith ausscheiden will, die von ihm so genannte »heidnische Staatslehre«. b) Andere meinen, mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die »sonst so hochgebildeten Griechen« hätten den Begriff »Mensch« in seiner wahren Allgemeinheit nicht erkannt.13 Erst das Christentum, nicht der Orient, nicht das Griechen- oder Römertum, hätten zum Bewußtsein gebracht, daß jeder Mensch und alle Menschen frei seien.14 Der Gedanke, es gebe ›natürliche‹ Rechte des Menschen, habe nur gedacht werden können, »weil vorher der biblische Freiheitsbegriff da war«; daran ändere es nichts, daß erst »der innerweltliche Humanismus« die Menschenrechte mit politischer Wirksamkeit proklamiert habe: er habe ihnen freilich die biblischen Wurzeln abgeschnitten und damit die Hinfälligkeit seines Freiheitspostulats in der politischen Praxis verschuldet.15 Leider nennt auch August Böhm keinen französischen Autor des 18. Jahrhunderts, dem der innerweltliche Humanismus bei der Arbeit an der Erklärung der Menschenrechte die biblischen Wurzeln abgeschnitten hätte. Diese Erklärung nennt den Gott der Bibel nicht, nicht einmal in der feierlichen Präambel. Die französische Erklärung der Menschenrechte ist, was oft verschwiegen oder durch schlechte Übersetzungen verfälscht wird, abgefaßt »unter den Auspicien des höchsten Seins« –

13 G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) §163 Zusatz 1. Auf diese oft benutzte Partie bezieht sich wohl auch W. Kasper, s. o. Anm. 5. Daß die alten Griechen die wahre d.h. die von Hegel formulierte Allgemeinheit des Begriffes nicht kannten, sei unbestritten. Vgl. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, ²1929, c. 13: »Die Idee des Messias und die Menschheit«. 14 Vgl. z. B. W. Schild, in: Schwartländer (Hg.), Menschenrechte, S. 37. – In der stereotypen Formel, »Christentum und Stoa« hätten dies und jenes gebracht, fällt die Vernachlässigung der Chronologie auf; z.B. Ryffel, in: Schwartländer, S. 55. 15 August Böhm, »Die Ideen-Trias der Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die ›christliche Politik‹«, in: R. Wisser (Hg.), Politik als Gedanke und Tat, Mainz 1967, S. 149-163, S. 152f. Böhm ist Anhänger der Saekularisierungshypothese, die er »christlich bejaht« (S. 157).

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sous les auspices de lʼêtre suprême.16 Diese philosophische und leicht romanisierende Ausdrucksweise vermeidet die traditionelle christliche Formel »im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit«. In diesem Paradigmenwechsel äußert sich jene »Revolution der Mentalität«17, deren Grundlagen wir untersuchen wollen. Zunächst ein Stück aus der philosophischen Tradition.

§2 W ELTBÜRGER – W ELTBÜRGERRECHT §2.1 Diderot – Plutarch – Zenon Zu den unmittelbaren Quellen der französischen Menschenrechtserklärung gehört die Encyclopédie (seit 1750) mit ihren Artikeln über Freiheit, Gleichheit, Intoleranz, Mensch, Naturrecht. Von dem Herausgeber, Denis Diderot, selbst stammt der Artikel »Griechen, Philosophie der«.18 Der Artikel besteht aus einer Reihe von Namen, Ismen und

16 Fortgelassen bei Jellinek, S. 21 (= S. 20, Schnur). Mangelhafte Übersetzung: »in Gegenwart und unter dem Schutz des höchsten Wesens« (W. Heidelmeyer [Hg.], Die Menschenrechte, S. 57), christlich eingefärbt: »in Gegenwart und unter dem Schutze des Allerhöchsten« (G. Franz, bei Grab, Französische Revolution, S. 37). – Zu den verschiedenen Vorschlägen für die Präambel s. Samwer, S. 174, mit Quellen. 17 Der Begriff stammt aus Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne, 1980, S. 231ff.; S.234: »Die Französische Revolution erscheint somit als eine vornehmlich mental-ideologische und rechtlichinstitutionelle, als eine wesentlich durch Überbauphänomeme determinierte notwendige Zäsur im Rahmen eines übergreifenden säkularen Prozesses. Es verdient in diesem Zusammenhang hervorgehoben zu werden, daß neuere marxistische Revolutionsinterpretationen – etwa die von R. Gallisot oder R. Robin – wie auch das jüngst von sowjetischen Geschichtstheoretikern entwickelte Modell der ›Mehrbasigkeit‹ der historisch-materialistischen Entwicklung eine relative Autonomie des politisch-ideologischen Überbaus postulieren und insofern in die gleiche Richtung weisen«. 18 Diderot, Œuvres. John Lough/J. Proust), Bd. VII (= Encyclopédie III), Paris 1976, S. 324-349. Das Material dieses Artikels stammt, nach Lough/ Proust, aus Brucker (Jacobi Bruckeri institutiones historiae philosophicae usui academicae iuventutis adornatae, Leipzig 1847ff.), I.

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Verweisen. An dieses Inhaltsverzeichnis einer Philosophiegeschichte hängt Diderot einen aktuellen Schluß: »Wir können dieses Stück nicht besser beschließen«, schreibt er, »als mit einer Stelle aus Plutarch; sie zeigt, wie sehr Alexander seinem Lehrer (Aristoteles) in der Politik überlegen war; sie spendet erhebliches Lob der gesunden Philosophie, und sie kann den Königen zur Lektüre dienen.« Und nun zitiert Diderot ein langes Stück aus einer heute vergessenen Schrift Plutarchs ›Über das Glück Alexanders‹.19 Diese Schrift enthält ein Bruchstück aus einer radikal egalitären Theorie, der Staatsphilosophie des Zenon von Kition, des Begründers der stoischen Philosophie (um 300 v.Chr.). Diderot zitiert Plutarchs Schrift in der französischen Übersetzung von Jacques Amyot, die 1559 und 1572 erschienen und seitdem selbst ein französischer Klassiker geworden war.20 Zenons Utopie also empfiehlt Diderot den Königen zur Lektüre, nicht die klassischen Staatslehren des Platon und des Aristoteles, geschweige denn deren scholastische Interpreten. Der von Diderot empfohlene Text lautet:21 »Und wahrlich, die viel bestaunte22 Verfassungslehre Zenons [...] läßt sich in dieses eine Hauptwerk zusammenfassen: ›Wir sollen nicht nach Städten (Staaten) oder Völkern leben, alle einzelnen abgetrennt durch je eigene Rechte, sondern wir wollen alle Menschen für Volksgenossen und (Mit-)Bürger halten. Eine einzige Lebensform und Ordnung soll herrschen, wie wenn23 eine Herde auf gemeinsamer Weide24 nach gemeinsamem Gesetz zusammen sich ernährt‹.25 Dieses schrieb Zenon zwar, indem er den Umriß eines guten philoso-

19 Vgl. C.P. Jones, Plutarch and Rome, 1972, S. 67-71. 20 R. Aulotte, Amyot et Plutarque, Genf 1965; Diderot benutzte die Ausgabe Lyon 1615. 21 Plutarch, de Alexandri virtute (fortuna) I 6 – SVF I, frg. 262. 22 Die Wendung zeigt, daß Plutarch die anstößigen, anarchischen Stellen der altstoischen Staatslehren gekannt, aber im Interesse der erbaulichen Rede fortgelassen hat: s. §2.1.3. 23 Vgl. K.H. Rolke, Die bildhaften Vergleiche in den Fragmenten der Stoiker von Zenon bis Panaitios (= Spudasmata Bd. 32), Hildesheim 1975; vgl. unten die Vergleiche mit dem Traum und dem Mischkessel. 24 Hier klingt die Frage des Privateigentums an. 25 Zu dem griechischen Wortspiel nómos/synnomos (Gesetz/Weide) vgl. Heraklit, frg. 141; Kleanthes, Zeushymnus V. 21.

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phischen Gesetzes und einer Verfassung entwarf, wie einen Traum oder eine Erscheinung; Alexander aber fügte zu dem Gedanken die Tat. Er behandelte nämlich nicht, wie Aristoteles es ihm riet, die Hellenen zwar als Feldherr, die Barbaren als Despot, [...] sondern er vermischte wie in einem Mischkessel mit Liebestrank das Leben (der Menschen), die Sitten, die Ehen, die Lebensweise. Er gebot, daß alle die Welt (oikouméne [οἰκουµένη]) als ihr Vaterland ansehen sollten«. – »Er wollte alles auf der Welt einer einzigen Vernunft gehorsam machen und einer einzigen Verfassung, und alle Menschen zu einem Volk (démos [δῆµος])«.26

Die Absicht Alexanders, wie er wirklich war, werden mit diesen Sätzen gewiß nicht richtig erfaßt.27 Aber Diderot fand hierin einen zentralen Text für Weltbürgertum und, logisch hergeleitet, Weltbürgerrecht, das für »alle Menschen« gleich ist; deshalb empfiehlt er das utopische Exempel den Königen zur Lektüre. Und schon Plutarch, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert, wohl in Rom, diese erbauliche Deutung des makedonischen Weltreiches deklamierte, wollte weniger historische Forschung darbieten, als vielmehr die damaligen Herren der Welt, die Römer, auf das stoische Ideal des Kosmopolitismus, des »gemeinsamen Rechtes«, des »Welt-Bürgerrechtes« verpflichten. Er wollte den bestehenden römischen Staat stoisch legitimieren, ihm einen Sinn in der Weltgeschichte zuschreiben: Einheit der Menschheit – Gleichberechtigung der Griechen und Römer – Universalgeschichte.28

26 Plutarch, a. a. O., I 8, p. 330 D. 27 Zum Bild Alexanders in der kynischen und stoischen Auffassung des Herrschers s. Julius Kaerst, Geschichte des hellenistischen Zeitalters I, 1901, S. 402f.; II, ²1926, S. 113ff.; 126ff. (unter Benutzung von John Locke, Grotius, Dilthey und Troeltschs Soziallehren); M. Mühl, Menschheitsidee, S. 52ff.; F. Traeger, Charisma I, 1957, S. 171ff. 28 Zu stoischer Universalgeschichte vgl. z.B. Diodorus Siculus I, Prooem, und dazu H. Cancik, »Rechtfertigung Gottes durch den Fortschritt der Zeiten«, in: A. Peisel/A. Mohler (Hg.), Die Zeit, München 1983, S. 257-288.

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§2.2 Die Staats- und Gesellschaftslehre des Zenon von Kition Zu diesem Zwecke läßt Plutarch die Gesellschaftslehre Zenons, deren Teil die Idee vom Weltbürgertum ist, fort; denn diese Gesellschaftslehre hätte sein vornehmes Publikum in Rom gar sehr erschreckt.29 Zenon erklärt: Allgemeinbildung sei »nutzlos«; man solle keine Gymnasien bauen, keine Tempel, keine Gerichte; er lehnt die Herstellung von Götterbildern und Standbildern der »großen Männer« ab: die Tugend der Bürger soll den Staat zieren.30 Das ist auch uns verständliche, fast prophetisch klingende Kulturkritik. Aber Zenon wollte auch noch die Familie abschaffen, damit jeder eines jeden Kinder liebe; den Weisen sind die Frauen gemeinsam; die Knabenliebe wird empfohlen.31 Die Frauen sollen dieselbe Kleidung tragen wie die Männer; Inzest ist nicht tragisch.32 Geldwirtschaft33 und Privateigentum34 gibt es nicht. Gegen Platon habe er seine Staatslehre geschrieben, die Verfassung des alten Sparta habe er als Stoff benutzt. Das ›Weltbürgertum‹ Zenons ist also Teil eines umfassenden gesellschaftskritischen und utopischen Entwurfs. Er enthält als Verfassungsforderung (politeia) für den Weltbürgerstaat • die Gleichstellung von Mann und Frau: Sie können die gleiche eth-

sche ›Bestheit‹ erreichen;35 • die Kritik der Sklaverei: Sie ist gegen die Natur, auch das Herr-Sein ist sittlich schlecht;36 • die Kritik an der Abwertung von Rassen oder der Barbaren. 29 Zu den Problemen von Abfassungszeit und Vortragszeit vgl. Jones, a. a. O. 30 SVF I, frg. 259. Alle genannten Fragmente sind sicher für Zenons Staatslehre durch Zitat des Titels bezeugt. 31 SVF I, frg. 269; vgl. 270; vgl. 264. 32 SVF I, frg. 257; 256 (mit Hinweis auf den Mythos von Oedipus und Iokaste). 33 SVF I, frg. 268: für die Staatslehre bezeugt. 34 Für Zenon nicht bezeugt, aber zu erschließen, vgl. Pöhlmann, Soziale Frage I, S. 89f.; vgl. die »gemeinsame Weide« in frg. 262. 35 Diogenes Laertios 7, 175; vgl. 6, 12: Antisthenes, der Kyniker, über das Thema: Die Bestheit von Mann und Frau ist eine und dieselbe. 36 Diogenes Laertios 7,121f; vgl. 6,16: Antisthenes, über Freiheit und Sklaverei.

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Diese Forderungen sind später, in veränderter Form, in das römische Recht eingegangen. Die Feststellung, wie alt diese Forderungen sind, lehrt auch, wie wenig die philosophische Formulierung und selbst die schon rechtlich gefaßte Forderung an sich wirksam ist. §2.3 Die Grundlagen der stoischen Staatslehre37 Die Grundlagen dieser Staatslehre sind die Begriffe »Natur« und »Vernunft«. Als feine Materie ist Vernunftstoff durch die ganze Natur verteilt. Die Natur ist ungeschaffen, ewig und vernünftig. ›Dem Gesetz der Natur folgen‹ heißt ›der Vernunft folgen‹. Der ethische Grundsatz der Stoa lautet deshalb: ›Lebe in Übereinstimmung mit dem Logos‹ (homologouménos zen [ὁµολογουµένως]), mit der Natur versöhnt.38 Das Naturgesetz ist göttlich. Jeder Mensch kann es unmittelbar, ohne Offenbarung und Mittler, erkennen.39 Es ist allgemein bekannt. Dieses stoische »Naturrecht« ist die philosophische Grundlage der Menschenrechte. Alle Menschen haben nämlich Anteil an dieser Weltvernunft. Deshalb, als vernünftige Glieder derselben Welt, sind alle Menschen gleich. Über dieser allgemeinen rationalen Natur sitzt die jedem einzelnen Menschen besondere ›Maske‹ (persona propria), darüber die ›Maske‹ von Zufall und Zeit und schließlich, was der eigene ›freie‹ Wille als ›Maske‹ sich wählt.40 In diesem ›Rollenmodell‹

37 Während §2.1-2.2 eine einzige Schrift Zenons punktuell vorzustellen suchte, wird in §2.3 eine breite Übersicht über die wichtigen und typischen Lehrstücke der Stoa gegeben; eine historische Differenzierung oder eine umfassende Interpretation ist in beiden Fällen an diesem Orte nicht möglich. 38 SVF I frg. 179; conciliatio naturae: frg. 181; naturam sequi: Seneca, epist. 90,4f. mit Schilderung des ›Naturzustandes‹; als Quelle wird Poseidonios zitiert. 39 Diogenes Laertios 7, 88: »Der gemeinsame Nomos, der ja ist der richtige Logos, geht durch alles hindurch, ist derselbe wie Zeus«. (= SVF I, 166); vgl. Cicero, de natura deorum 1, 36; SVF I, 162: hier sind die christlichen Autoren genannt, die diese Begriffsreihe übernahmen; bes. Cicero, de re publica 3, 22, 33, tradiert bei Lactanz, institutiones divinae 6, 8, 6-9. 40 Cicero, de officiis 1, 30, 107: »Intellegendum etiam est duabus quasi nos a natura endutos esse personis: quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis [...], altera autem quae proprie singulis

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versucht der Stoiker, Allgemeinheit und Individualität zu verbinden. Das Subjekt, das Besondere, das Selbst und die Freiheit des einzelnen Menschen soll nicht in der Gleichheit des genus humanum untergehen.41 Von Natur aus sind alle Menschen miteinander verwandt,42 in religiöser Sprache: alle Menschen sind Gottes Kinder und deshalb Brüder.43 Dies sind die anthropologischen Grundlagen des Weltbürgertums, des stoischen Kosmopolitismus. Die Stoiker waren Internationalisten: »ich bin doch nicht für einen einzigen Winkel geboren, mein Vaterland ist die ganze Welt«.44 Rassen- und Standesgrenzen ändern

est tributa [...] (1, 32, 115) [...] tertia adiungitur, quam casus aliqui aut tempus imponit, quarta etiam quam nobismet ipsi iudicio nostro accomodamus. 41 So besonders in der Philosophie Senecas, vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Hildesheim 1967. – O. Dann (Art. »Gleichheit«, a. a. O. S. 1001) übernimmt das Klischee von der individualistischen Stoa und belegt es mit Stellen, die diesem Klischee widersprechen: »[...] in der Stoa [...], in der der Begriff einer Gleichheit aller vernünftigen und tugendhaften Menschen als Glieder des Kosmos und Teilhaber des göttlichen Logos ausgebildet wurde, der jedoch nicht sozialpolitisch sondern individuell-moralisch akzentuiert war.« Der Umstand, daß die Stoa die Begriffe der Person, der Innerlichkeit, des Individuums, des Selbst als des Inbegriffs menschlicher Identität entwickelt hat, braucht indessen ihre Aussagen zur Rechts- und Staatsphilosophie nicht zu verdunkeln. Schon Julius Kaerst, Geschichte des Hellenismus II, ²1926, hat die »Gemeinschaftsidee« als Zentrum des stoischen Systems gegen dieses Klischee verteidigt: S. 123, Anm. 1. 42 Areios Didymos, SVF II, frg. 528. – Auf der Einheit der Menschheit beruht die Möglichkeit der stoischen Universalgeschichtsschreibung, die, ›natürlich‹ auch die Geschichte der ›Naturvölker‹ – gerade ihrer NichtKultur wegen – und die Barbaren – ihre Weisheit ist Beweis für die Allgemeinheit der Vernunft – einbezieht. Vgl. Cancik zu Diodor, s. o. Anm. 28. 43 Seneca, epist. 44,1; Epiktet, Dissertationes 1,13,3f. 44 Seneca, epist. 28,4: »non sum uni angulo natus, patria mea totus hic mundus est.« – Frühestes Zeugnis für den Terminus Kosmopolit ist, wenn authentisch, Diogenes, der Kyniker, bei Diogenes Laertios 6,63: vgl. 6,72. Dasselbe wird von Sokrates berichtet: Cicero, Tusculanen 5,37,108.

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daran nichts: Auch der Sklave ist Mensch, haben die Stoiker gesagt, er ist Bruder. Gewiß haben auch die Stoiker gesehen, daß ihre Ideale und Sprüche nicht Realität sind – sie haben tapfer wenigstens weiter gesagt: das ist contra naturam. Einige haben auch an der praktischen Realisierung gearbeitet. Am Anfang der Geschichte, haben die Stoiker gesagt, war die ursprüngliche Gleichheit der Menschen Wirklichkeit. Sie lebten einfach und glücklich. Sie hatten alles gemeinsam (in commune), kein Privateigentum und brauchten nicht viel: Denn sie folgten der Natur.45 So sollte es wieder sein; romantische Phantasie nur, aber: Dieses geschichtsphilosophische Konstrukt vom Naturzustand hat Jean Jacques Rousseau (1712-1778), direkt aus den antiken Quellen schöpfend, dem 18. Jahrhundert neu verkündet.46 Die romantische Phantasie der Philosophen traf sich mit Spekulationen der Juristen über das Naturrecht und konnte gegen den Adam-Mythos und das Dogma der Erbsünde gewendet werden.47 Das klassische stoische Naturrecht unterscheidet sich vom christlichen (»relativen Naturrecht«) in folgenden Punkten: • keine Schöpfung: Die Welt ist ewig, und die Geschichte hört nicht

auf; aus nichts wird nichts; es kann nicht etwas zunichte werden;48 • kein transzendenter Schöpfer jenseits der Welt: Die Vernunft ist in der Welt; die Welt ist die gemeinsame Stadt und Bürgerschaft (civitas) der Götter und Menschen;49 • kein (Quasi-)Dualismus, kein Teufel: Die Materie ist nicht der AntiGott; auch Gott ist Materie; es gibt keine metaphysische Spaltung von Form und Stoff, Geist und Materie; • kein Bruch in der Gutheit von Natur und Mensch: Im Menschen ist ein »göttlicher Same«, ein Fünklein; das Licht der natürlichen Ver-

45 Seneca, epist. 90,38; vgl. Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart, S. 204f. 46 Besonders Seneca, epist. 90, hatte eine erhebliche Wirkung. Vgl. Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage, S. 88, der Dikaiarch als Quelle Rousseaus ansetzt. Vgl. K. Weigand, Rousseaus Schriften zur Kulturkritik, ²1971, S. LXVIff. 47 Das Prae-Adamitenproblem war schon im 17. Jh. durch die historische Forschung aufgedeckt worden: Isaac la Peyrère, Prae-Adamitae, 1655. 48 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4,4. 49 Cicero, de finibus 3,19,64.

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nunft ist nicht durch einen Urfall verdunkelt, die Vernunft kann das Gesetz der Natur erkennen. Die Natur treibt uns zum Guten; 50 • keine »negative Gleichheit« aufgrund der gleichen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Der stoische Begriff von Natur und Naturrecht ist, wie diese Gegenüberstellung zeigt, kein platter Naturalismus oder gar Biologismus. Er ist eine mühevolle geschichtlich bedingte philosophische Konstruktion.51 Auch der viel getadelte Optimismus der Stoiker ist nicht naive Verharmlosung des Bösen und des Leides; er ist nicht Übermut und Stolz, der die Schwäche und Gebrochenheit des Menschen einfach nicht anerkennen will, sondern ein durchaus reflektierter, eher heroischer und tragischer Versuch. Ungeachtet seiner metaphysischen Färbung und der logischen Zwänge, mit denen er deduziert wird, beruht der stoische Naturbegriff auf einer besonderen Art der Welterfahrung. Dies wird im Ansatz der stoischen Ethik deutlich. Sie beginnt mit einem »Urtrieb«, der das frisch geborene Lebewesen dazu treibt, sich selbst zu erhalten (zu bewahren), sich selbst zu lieben, bei sich »heimisch«, nicht »entfremdet« zu sein.52 Die frühe Kindheit ist die ›Erfahrung‹, von der die stoische Ethik ausgeht. Cato beginnt seine ethische Prinzipienlehre folgendermaßen:53

50 Der Begriff stammt von Troeltsch, Soziallehren I, 60ff.; S. 65: »Das Christentum wird immer instinktiv sich ablehnend verhalten gegen alle Gleichheitsideen. [...] Hier liegt der Gegensatz gegen das rationalisierte stoische Ideal, das wenigstens für den Urstand das Prinzip der abstrakten Gleichheit aus dem Vernunftbesitz aller folgert«. 51 Gegen Troeltsch, Soziallehren I, S. 52-58. 52 Diogenes Laertios 7,84, beginnt die Ethik mit den Begriffen próte hormé (πρώτη ὁρµή) – tereín heautó (τηρεῖν ἑαυτό). Ebenso Cato bei Cicero, de finibus 3,5,1. Vgl. SVF III, frg. 178-189. Chrysipp wird nachgesagt, er habe dieses Prinzip zu Tode geritten und in jedem Buch über Physik und Ethik die prima conciliatio »sogleich nach der Geburt« dargelegt: Plutarch, de Stoicorum repugnantiis 12 = SVF III, 179. 53 Cicero, de finibus 3,5,16: »simulatque natum sit animal – hinc enim est ordiendum«.

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»Sobald ein Lebewesen geboren ist – von hier nämlich muß man anfangen – ist es mit sich selbst versöhnt und gehalten, sich selbst zu bewahren und seinen Stand und das, was seinen Stand bewahrt, zu lieben«.

Die Kleinen lehren uns die »Stimme der Natur«54; sie werden »von Natur aus« von den Eltern geliebt: »Von diesem Ausgangspunkt ausgehend, verfolgen wir die gemeinsame Gesellung des Menschengeschlechts«. Der Staat erscheint in dieser Theorie als Ausdruck eines natürlichen Bedürfnisses und eines Willens zur Gemeinschaft,55 nicht als Instrument zur Herrschaft oder Organisation der arbeitsteiligen Polis, sondern: Die Familie weitet sich zur Nachbarschaft, zur Bürgerschaft und bruchlos zur Weltbürgerschaft.56 Die Selbstliebe des Neugeborenen, sein »Urvertrauen«, weitet sich zu einer Menschenliebe im Zeichen des Eros, zum Vertrauen in eine Welt, die kein Gott mit Vernichtung bedrohen kann. Das ist die anthropologische Grundlage des stoischen Kosmopolitismus. Dies sind ungewöhnlich schöne Worte, etwas abgewetzt inzwischen. Wie sich diese Worte zur Wirklichkeit verhielten, ist, wie gesagt, nicht Gegenstand dieser »Ideengeschichte«. Sicher ist, daß die Kategorie contra naturam einerseits Protest barg, daß andererseits der Satz von der Gleichheit der Menschen die Vereinheitlichung des Reiches mindestens ex eventu rechtfertigte. Mindestens ein schlechtes Gewissen konnte geschaffen werden. Ein römischer Jurist, Papinianus, bemerkt bei der Untersuchung des »Standes der Menschen«: »In vielen Bestimmungen unseres Rechtes ist die Lage der Frauen schlechter als die der Männer«. Hier ist das Prinzip der Gleichheit wenigstens als juristisches Problem festgeschrieben worden.57

54 Cicero, de finibus 3,19,62: »naturae ipsius vocem videmur audire«. 55 Cicero, de finibus 3,19,63: »natura sumus apti ad coetus concilia civitates«. 56 Cicero, de officiis 3,6,27: »parentes et fratres – cives – homines«. Vgl. die sogenannten Pflichtenkreise, z.B. bei Antipater von Tarsos. 57 Papinian, Quaestiones B. 31, in Digesten 1,5,9: »in multis iuris nostri articulis deterior est condicio feminarum quam masculorum«. Ob Papinian selbst diesen Zustand mißbilligte, ist diesem Satz nicht zu entnehmen.

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§3 R ÖMISCHES N ATUR -

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M ENSCHENRECHT

§3.1 Der Ort von Menschenrechten im System des römischen Rechtes Der römische Rechtsgelehrte Gaius (2. Jh. n.Chr.) entwirft zu Beginn seiner Einführung in das römische Recht folgende Gliederung seines Stoffes:58 »Alle Völker, die von Gesetzen und Sitten geleitet werden, brauchen teils ihr besonderes, teils das allen Menschen gemeinsame Recht. Denn welches Recht sich ein jedes Volk selbst eingerichtet hat, das ist ihm eigentümlich und wird ius civile genannt, als das besondere Recht eben dieser Bürgerschaft (civitas). Was aber die natürliche Vernunft (naturalis ratio) unter allen Menschen eingerichtet hat, das wird bei allen Volkern in gleicher Weise geschützt und wird ius gentium genannt, als das Recht, das alle Völker (gentes) gebrauchen. Das römische Volk gebraucht deshalb teils sein besonderes, teils das allen Menschen gemeinsame Recht«.

Dem besonderen, partikularen Recht der einzelnen Staaten wird also ein universales Recht entgegengesetzt, das in allen Staaten und Völkern gilt.59 Dieses allgemeine Recht entsteht teils aus der empirisch

58 Gaius, Institutiones 1,1,1 = Digesten 1,1,9: »Omnes populi qui legibus et moribus reguntur partim suo proprio, partim communi omnium hominum iure utuntur; nam quod quisque populus ipse sibi ius constituit, id ipsius proprium est vocaturque ius civile, quasi ius proprium civitatis; quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes populos peraeque custoditur vocaturque ius gentium, quasi quo iure omnes gentes utuntur. Populus itaque Romanus partim suo proprio, partim communi omnium iure utitur«. Text und Kommentar: M. David/H.L.W. Nelson, Gai institutionum commentarii IV, 1954; H.J. Mette, Ius civile in artem redactum, 1954, bes. zur Methode des Gaius. Der stoische Einfluß auf Gaius wird von David/Nelson folgendermaßen beschrieben: »Wir finden somit in der stoischen Ethik nicht nur einen Vorläufer des von Gaius verwendeten Terminus commune omnium ius, sehen vielmehr auch, daß Gaius einem auf Chrysipp zurückgehenden Gedankengang zu folgen scheint«. 59 Eine Dreiteilung des Rechtes in ius naturale, ius gentium, ius civile bietet Ulpian, Institutiones I, in: Digesten 1,1,1,3. Für eine genauere Bestimmung

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feststellbaren Übereinstimmung der Völker, teils aus Natur und Vernunft. Diese Grundlegung des römischen Rechtes benutzt zentrale Begriffe der stoischen Philosophie: natura, ratio, lex communis (Natur, Vernunft, gemeinsames Gesetz)60, consensus omnium (Übereinstimmung aller)61. Die Verbindung von stoischer Rechtsphilosophie und römischer Jurisprudenz geht vielleicht bis in das zweite vorchristliche Jahrhundert zurück.62 Zur Zeit Ciceros ist die Vorstellung, daß alle Menschen eine Rechtsgemeinschaft bilden und dieser das Natur-Gesetz (lex naturae) zugrunde liegt, voll ausgebildet.63 Von Natur aus besteht »eine Art Bürger-Recht« (quasi ius civile) unter den Menschen.64 Dieses Weltbürgertum ist der Ort, den die Menschenrechte im modernen Sinne im System des römischen Rechtes einnehmen. Der Begriff ius humanum selbst findet sich, soweit ich sehe, in juristischen Texten nicht, wohl aber, wie wir sehen werden (§3.2), in rechtsphilosophischen Texten. Durch die Aufnahme in das positive römische Recht erhielten einige ausgewählte – und dabei entschärfte – Sätze der stoischen Rechts- und Gesellschaftsphilosophie eine neue Qualität.65 Ein Altertumswissenschaftler der Weimarer Republik be-

und Geschichte der einzelnen Begriffe und Systeme sei auf David/Nelson und die dort angeführte Literatur verwiesen. 60 Vgl. Diogenes Laertios 7,88: Chrysipp über »das gemeinsame Gesetz, das der rechte Logos ist, der durch alles hindurchgeht« SVF III, frg. 317 = Cicero, de legibus 1,33: lex quae est recta ratio in iubendo et vetando. 61 Vgl. Cicero, Tusculanen 1,30: »Omni autem in re consensio omnium gentium lex naturae putanda est«. 62 Q. Aelius Tubero bei Gellius 1,22,7. 63 Cicero, de officiis 3,6,27: »una continemur omnes (= die communis humani generis societas) et eadem lege naturae«; vgl. 3,5,23. 64 Chrysipp bei Cicero, de finibus 3,20,67: »Quoniamque ea natura esset hominis, ut ei cum genere humano quasi civile ius intercederet«. 65 Beachte vor allem die Aufnahme von Chrysipps Rechtsphilosophie in die Institutionen des Marcianus und von dort in die Digesten (1,3,2): Die Lehre des Gaius, die ursprünglich natürlich als ein Lehrbuch keinen offiziellen Status besaß, wurde in der Spätantike den Sätzen des Papinian, Paulus, Ulpian, Modestin gleichgestellt und wurde damit verbindlich (Codex Theodosianus 1,4,3). Naturrechtliche Sätze, die in die Institutionen Iustinians (6. Jh. n.Chr.) aufgenommen wurden, haben mindestens prinzipiell diesel-

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schrieb den Umschlag von philosophischer Spekulation zu positivem Recht mit einem drastischen Vergleich:66 »Wir können wohl sagen, das ius naturale der Römer verhält sich zum stoischen ius naturale wie das sozialdemokratische Programm, wie es sich etwa in Marxens Kommunistischem Manifest oder im Gothaer Programm (von 1875) darstellt, zu den ›Menschenrechten‹ der französischen Revolution, welche die Voraussetzungen und Grundlagen zur Idee des modernen Sozialismus geschaffen hat«.

Die juristischen Konsequenzen dieses Fortschritts – um von den faktischen zu schweigen – sind freilich schwer faßbar.67 Immerhin ist nun wenigstens offiziell erklärt, daß die rechtliche Lage der Frau schlechter sei als die der Männer. Natürlich wurde ihre Lage durch diese Erklärung an sich nicht verbessert, aber die Möglichkeit von »Gleichheit vor dem Gesetz ohne Ansehen des Geschlechtes« war nunmehr im geltenden Recht enthalten. Das greift weiter und tiefer ins praktische Leben als der Satz Pauli, »im Herren« gebe es nicht Mann noch Weib,68 zumal da in der christlichen Religion nicht einmal eine sakralrechtliche Gleichberechtigung durchgeführt werden konnte. In einem wichtigen römischen Gesetzbuch ist nun wenigstens offiziell erklärt, daß die Sklaverei gegen das Naturrecht ist:69 »Nach dem

be juristische Geltung wie die Digesten und der Codex Iustiniani: s. R. Sohm, Institutionen des römischen Rechts, (5) 1894, S. 7. 66 M. Mühl, Menschheitsidee, S. 47f., im Anschluß an J. Kaerst, Geschichte des Hellenismus II², S. 128f., 131ff. 67 Besonders umstritten sind die ideellen und ökonomischen Gründe für das Ende bzw. die verschiedenen Umwandlungen der Sklaverei. 68 Paulus, Gal 3,28. 69 Ulpian in: Digesten 1,1,4 = Institutionen 1,5, pr.: »Quae res (scil. manumissio) a iure gentium originem sumpsit, utpote cum iure naturali omnes liberi nascerentur, nec esset nota manumissio, cum servitus esset incognita; [...] et cum uno naturali (Institut.: communi) nomine ›homines‹ appellaremur, iure gentium tria genera esse coeperunt: liberi, et his contrarium servi et tertium genus liberti«. – Vgl. Ulpian (?) in: Institutionen 1,2,2: »iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur«. Vgl. Tryphonius in: Digesten 1,5,4: »servitus est constitutio iuris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subicitur«.

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Naturrecht sind ursprünglich alle Menschen frei geboren.« Im Naturstand, wie die stoische Gesellschaftslehre ihn konzipierte, sind die Menschen gleich und frei. Natürlich wurde durch diese Konstruktion an sich die Lage der unfreien Bevölkerung nicht verändert. Aber es werden nun doch wenigstens Gesetze gegen Willkür und Brutalität in der Behandlung von Sklaven gemacht.70 Jenes contra naturam enthält einen grundsätzlichen Protest. Die christliche Deutung der Sklaverei als Sündenstrafe und aus quietistischem Standesdenken führte, wie die Geschichte der Sklaverei in Nord-, Mittel- und Südamerika lehrt, nicht notwendig zur »Befreiung«.71 In das römische Recht ist die Lehre vom ursprünglichen Naturstand des Menschen und von der Verwandtschaft (cognatio) aller Menschen untereinander aufgenommen worden.72 Ebenso die Sätze: »Nach dem natürlichen Recht sind alle frei geboren«,73 und: »Was das natürliche Recht angeht, sind alle Menschen gleich«.74 Das ist auf lateinisch: Iure naturali omnes homines liberi nascuntur et aequales sunt. In einem neulateinischen Dialekt klingt das, nach mehr als eineinhalb Jahrtausenden, so: »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«. Das ist der erste Artikel der französischen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1789. §3.2 ius humanum Auch das Wort »Menschen-Recht« (human rights, droits de lʼhomme) wird der stoischen Rechtsphilosophie verdankt. Wenige Jahre vor seinem Tode, etwa 63/64 n.Chr., schrieb Seneca ein Werk »Über Gut-Taten« (de beneficiis). Darin behandelt er wieder

70 Vgl. Gaius, Institutionen 1,53: »Sed hoc tempore (scil. seit Einführung der Gesetze gegen Willkür und Brutalität in der Behandlung von Sklaven) neque civibus Romanis nec ullis hominibus [...] licet supra modum et sine causa in servos suos saevire«. 71 Vgl. Anm. 1. 72 Paulus und Modestinus, in: Digesten 1,1,3: ›inter nos cognationem quandam natura constituit‹. 73 Digesten 1,1,4: s. o. Anm. 69. 74 Ulpian, 43. Buch an Sabinus, in: Digesten 50,17,32: »quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt«.

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einmal eine schon damals alte Frage:75 Kann der Unfreie seinem Besitzer ein Guttat erweisen? Muß der Herr dem Sklaven dafür dankbar sein: Seneca antwortet:76 »Wer leugnet, daß ein Sklave je einem Herrn eine Guttat erweisen kann, ist unkundig des Menschenrechtes (ignarus est iuris humani); es kommt nämlich darauf an, wes Geistes der ist, der leistet, nicht wes Standes (animi – status). Niemandem ist die sittliche Leistung verschlossen; allen steht sie offen, alle läßt sie zu, alle lädt sie ein: sowohl Freigeborene als auch Freigelassene, wie Sklaven und Könige und Verbannte. Sie wählt nicht nach Palast und Steuerquote: mit dem bloßen Menschen begnügt sie sich [...] (4) Es kann (auch) der Sklave gerecht sein, er kann tapfer, kann hohen Geistes sein [...]«.

Stoische Innerlichkeit, Gesinnungsethik und die Lehre von der ursprünglichen, ›natürlichen‹ Gleichheit und Freiheit der Menschen zerstören die Standesethik. Die Menschheit ist eine Einheit (unitas) und Gemeinschaft (societas); sie ist Träger des ius humanum.77 Auch hier beunruhigt die Diskrepanz zwischen Anlaß und Ergebnis: ein ius humanum muß konstituiert werden, damit der Sklave seinem Herrn etwas Gutes antun und dieser jenem dankbar sein darf! Andererseits: Hier zum ersten Male, wenn ich recht sehe, wird der Ausdruck »MenschenRecht« fast als technischer Begriff gebraucht, juristisch gefaßt, philosophisch begründet.78

75 Seneca bezieht sich u. a. auf Chrysipp (Seneca, de beneficiis 3,22,1 = SVF III, frg. 351) und Hecaton (Seneca, de beneficiis, 3,18,1); vgl. Aristoteles über die Freundschaft zwischen Herren und Sklaven: s. o. Anm. 9. 76 Seneca, de beneficiis 3,18. Zum Thema ›Seneca und die Sklaven‹ vgl. Will Richter, »Seneca und die Sklaven«, in: Gymnasium 65 (1958), S. 196-218; R. Rieks, Homo, humanus, humanitas (Diss. Tübingen 1964), München 1967, bes. S. 102ff., wo m. E. die juristische Sprache und Absicht unserer Stelle nicht genügend beachtet ist; beachte z. B.: de benef. 3,18,1; 3,19,1; 3,20: »mens sui iuris est«. 77 Seneca, de benef. 4,18; s. Voigt, Naturrecht I §86. 78 a) Lange vor Seneca wurde der Gegensatz ius/lex humanum/-na – divinum/ -na aufgestellt: s. Ehlers, Art. »humanus«, in: Thesaurus linguae Latinae, VI 3, Sp. 30-85, II: de iure, A 1: opp. divinum. – Ius hominum ohne Gegensatz zu deorum: Cicero, de oratore 1,56: de communi civium, de hominum, de gentium iure.

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§4 »D IE

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R ÖMER «

1. Die Autoren, Texte, Theorien, die hier vorgestellt wurden, waren den Männern bekannt, von denen die Erklärung der Menschenrechte beraten und beschlossen wurde. Stoische Philosophie, Naturrecht, römische Republik sind das antike Gewissen dieser bürgerlichen Revolution.79 Das römische Recht war geltendes Recht, unübersehbar kommentiert, exzerpiert, rationalisiert. Plutarch und Livius, Cicero und Seneca waren fester Bestandteil bürgerlicher Bildung, zumal da sie durch Amyot (1512-1593), Montaigne (1533-1592), Lipsius (1547-1606), Grotius (1583-1635), Montesquieu (1689-1755) längst in die nationalsprachliche Literatur aufgenommen waren. Hugo Grotius, der Vater des modernen Völkerrechts, gründete deshalb sein Werk auf der (neu-)stoischen Philosophie. In den Prolegomena zu De iure belli et pacis (1608; 1625) wird die stoische Lehre von der Einhausung des Menschen« (oikeíosis [οἰκείωσις]) ausführlich dargestellt, immer wieder Cicero zitiert, dazu Thukydides, Platon, Aristoteles, Ennius, Varro, Horaz, Plutarch, Dion von Prusa – und keine Bibelstelle, obschon Grotius sich doch ausdrücklich zum christlichen Glauben bekennt. Das »klassische Naturrecht« der Neuzeit hat

b) Der Ausdruck ius humanum allein ist frühestens nachweisbar seit augusteischer Zeit: Livius 9,1,8: »si nihil [...] humani iuris relinquitur inopi«, wo jedoch folgt: »at ego ad deos [...] confugiam«; vgl. 5,37,4: »violatoribus iuris humani«; Seneca d. Ältere, contr. 1,1,14: »ius generis humani«; Seneca, Oedipus 1026: »iuris humani decus« (Inzesttabu); Seneca, de beneficiis 7,19,8: »intercisa iuris humani societas« (scil. crudelitate); Petron 79,9; Plinius, naturalis historia 28,6. – Tertullian, ad Scapulam 2,2: »Tamen humani iuris et naturalis potestatis est unicuique quod putaverit colere«; diese Forderung des Christen nach Religionsfreiheit wird, zur Abwehr christlicher Intoleranz, zitiert von Diderot, Art. »Intoleranz« in seiner Enzyklopaedie. c) Die Stelle Seneca, de beneficiis 3,18 scheint in den Studien zur Entstehung der Menschenrechte nicht beachtet zu sein. In dem gewaltigen Werke von Voigt ist sie nicht behandelt, er führt nicht einmal das Stichwort ius humanum im Register auf. 79 Vgl. Ernst Bloch, Naturrecht, S. 80. Das antike Gewissen blieb nicht auf den »dritten Stand« beschränkt, wie das Beispiel von Babeuf lehrt.

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sich von der »Verbindung mit der kirchlichen Dogmatik und Ethik, dem kirchlichen Mythos der Urgeschichte« emanzipiert.80 Bei Rousseau fand man deshalb die antike Lehre vom Naturstand.81 In der Enzyklopädie wurden auch abgelegene Traditionen verfügbar gemacht, wie z.B. die Staatslehre des Zenon von Kition durch Diderot (§2.1). So kam es, daß Joachim Heinrich Campe aus Braunschweig im August 1789 ausrief: »Ob es wirklich wahr ist, daß ich in Paris bin? Daß die neuen Griechen und Römer, die ich hier um und neben mir zu sehen glaube, wirklich vor einigen Wochen noch Franzosen waren«!82 2. Vor diesem allgemeinen humanistischen Bildungshintergrund heben sich einige unmittelbare Verbindungen zwischen antiker Tradition und der Erklärung der Menschenrechte ab. Im Sommer des Jahres 1789 arbeitete das Sechste Büro einen Entwurf aus, der den Debatten der Nationalversammlung über die Erklärung der Menschenrechte zugrunde lag.83 Der erste Artikel dieses Entwurfs lautet: »Chaque homme tient de la nature le droit de veiller à sa conservation et le désir dʼêtre heureux«. »Jeder Mensch besitzt von der Natur das Recht, auf seine Selbsterhaltung bedacht zu sein, und die Sehnsucht, glücklich zu sein«.

Dieser Entwurf zu Artikel I der Menschenrechtserklärung enthält, deutlicher als die dann verabschiedete Formulierung, die stoische Leh-

80 Referiert nach Troeltsch, a. a. O., S. 762ff. mit Anm. 416. 81 Rousseaus Quellen waren u. a. Seneca und Dikaiarch von Messene, s. o. Anm. 46. 82 J.H. Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, Braunschweig 1790, zitiert in: Alfred Stern, Der Einfluß der französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, 1928, S. 19. Zu Campe als Schulreformer vgl. U. Herrmann, »Der Streit zwischen Schule und Kirche im ausgehenden 18. Jahrhundert als Säkularisationsprozeß«, in: B. Gladigow (Hg.), Staat und Religion, 1981, S. 180-204, bes. S. 183ff. 83 Bulletin de lʼAssemblée nationale 12; Referat – unter Auswertung weiterer primärer Quellen aus den Beratungen vom Sommer 1789 – bei Samwer, Die Erklärung, S. 178.

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re von der ursprünglichen Selbstliebe des Menschen, die von der Natur gewollt und deshalb gut ist. Die lateinische Fassung, die Cicero der Lehre von der prima conciliatio gegeben hat, kommt der neulateinischen Formulierung des 6. Büros von 1789 auch sprachlich recht nahe:84 simulatque natum sit animal – hinc enim ordiendum – ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum (scil. placet Stoicis). Stoisch ist auch der Begriff »Natur«, die die Menschen mit den Fähigkeiten ausstattet, sich selbst zu bewahren, sein Wohl-Sein zu besorgen und seine Fähigkeiten in Freiheit zu entfalten.85 Natur, nicht Schöpfer, Sehnsucht nach Glück, nicht Seelenheil und Himmelslohn sind die Grundlagen dieses Entwurfs. 3. Antike Tradition wirkte aber, damals, über die philosophischen und juristischen Sätze hinaus auch auf den Lebensstil der Menschen, und zwar auch auf den vierten Stand. François Noël Babeuf wurde am 23.11.1760 geboren. Sein Vater war ein desertierter Soldat und Gehilfe beim Salzsteueramt in SaintQuentin, die Mutter ein Bauernmädchen und Heimarbeiterin. Am 5.10.1794 erscheint zum ersten Male seine Zeitung unter dem Titel »Volkstribun« – »tribun du peuple«. Sein »plebeisches Manifest« stellt die römisch-plebeische Geschichte, wie Babeuf sie verstand, gegen die Geschichte von Moses, der das Volk Israel aus Ägypten führte:86

84 Cicero, de finibus 3,5,16; vgl. o. §2.3; vgl. SVF III, frg. 178 = Diogenes Laertios 7,85: »ten de próten hormén phasi to zóion íschein epí to tereín heautó, oikeioúses autói tes physeos ap’ archés«. – Zu »von Anfang an« vgl. den Hinweis auf den Naturstand des Menschengeschlechtes bei römischen Juristen: Anm. 69. 85 Entwurf des Sechsten Büros, Art. 2: »Pour assurer sa conservation et se procurer le bien-être, chaque homme tient de la nature des facultés: c'est dans le plein et entier exercice de ces facultés que consiste la liberté«. 86 Tribun du peuple Nr. 35, 30.11.1795; Übersetzung: W. Grab (Hg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, 1973, S. 278-284, mit reicher Literatur auch zu Babeuf auf S. 319ff.

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»Weg mit all diesen Wundergeschichten, mit all diesen Albernheiten! Die Eingebungen der republikanischen Gottheiten manifestieren sich ganz einfach als Verheißungen der Natur, des höchsten Gottes, im Herzen der Republikaner«.

Deshalb planten die »Verschwörer für die Gleichheit«, ihre Lehren als »Naturreligion« zu verkünden, als die Dogmen der Natur und Vernunft.87 Die »Verschwörung der Gleichen« sollte die Revolution fortführen und eine »Republik der Gleichen« schaffen. Dazu benutzt Babeuf, in beschränktem Ausmaße, antike Titel, römisches Recht,88 historische Erinnerungen an die römische Republik,89 die gute alte spartanische Verfassung und den Naturzustand. Er polemisiert gegen ein angebliches Naturrecht auf Privateigentum; dies sei vielmehr die Quelle aller Ungleichheit unter den Menschen.90 Die Bauern in der Picardie, der vierte Stand, die Leser des »tribun du peuple« müssen das verstanden haben. Man muß auch die Symbolik seines Namenswechsels verstanden haben: François Noël Babeuf tilgte die Erinnerung an den heiligen Franziskus, den Apostel der Armen, und an den weihnachtlichen Ruf ›Noël‹ und nannte sich Gracchus Babeuf.

87 Vgl. Talman bei Grab, Debatte, S. 283. 88 Babeuf plante eine rechtsphilosophische Kritik dessen, »was man nennt Droit naturel, Droit des gens, Droit civil« – das ist die Einteilung in: ius naturale, ius gentium, ius civile, s. o. §3.1. 89 Am 27. Mai 1797 wurden die Verschwörer für die Gleichheit zum Tode verurteilt. Gracchus Babeuf kam dem Arm des Gesetzes zuvor und erdolchte sich. Hat er den Tod des Cato Uticensis, des Stoikers und letzten Republikaners, nachahmen wollen? Dieser Freitod Catos in Utica – um Caesar zu entgehen – ist in der stoischen Literatur oft gefeiert: Vgl. z.B. Seneca, de providentia 2, 9-12. Ob Cato als Stoiker und Republikaner von Seneca und der ihm verwandten Tradition ›richtig‹ verstanden wurde, ist zum Verständnis Babeufs als eines ›neuen Cato‹ nicht entscheidend. Der neue Caesar (Bonaparte) steht 1797 in Italien. 90 Antike Tradition wurde ihm vermittelt u. a. durch die Enzyklopädie, wo er also auch in Diderots Artikel »Griechen, Philosophie der« Zenons Staatslehre hätte lesen können, durch Gabriel Bonnot de Marly (1709-1785), De la legislation ou principes des lois, Amsterdam 1776 (dt.: Nürnberg 1779) und Morelly, Code de la Nature. Partout chez le vrai sage, Liège 1755 (dt. von Ernst Moritz Arndt, 1845).

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»Babeuf und die Antike« oder »Babeuf und die Religion« – dies sind nicht die wichtigsten Gesichtspunkte für das Denken und Wirken dieses Mannes, der durch seine Freunde91 zu einem »Kettenglied des kommunistischen Gedankens« (Albert Soboul) geworden ist. Erwähnt sei nur, daß Babeuf als erster92 das »Recht auf Arbeit« naturrechtlich deduziert aus dem Recht auf Leben.

§5 Z USAMMENFASSUNG 1. Die These von Karl Löwith, infolge ihrer christlichen Herkunft sei der erste Grundsatz der Französischen Menschenrechtserklärung »gänzlich unvereinbar mit der heidnischen Staatslehre«, diese These ist unhaltbar. Der Satz »alle Menschen sind von Natur aus gleich und frei« ist sogar im römischen Recht enthalten; er war damit geltendes Recht im Heiligen Römischen Reich. 2. Der Artikel 1 in der französischen Menschenrechtserklärung und, stärker noch, im Entwurf des Sechsten Büros, beruht direkt auf stoischer Anthropologie und dem klassischen Naturrecht. 3. Die antiken Grundlagen der neuzeitlichen Menschenrechte sind: (a) Allgemein: philosophische und politologische Grundbegriffe (z.B. ›Vernunft‹ und ›Gleichheit‹; historische Analyse und spekulative Entwürfe von Verfassungen); (b) juristische Theorie (z. B. Aufbau des Rechts als Natur-, Völker-, Zivilrecht); (c) geschichtliche Tradition (athenische Demokratie; die spartanische Gleichheitsideologie; Agis und Kleomenes; Blossius und die Gracchen).

91 Ph. Buonarrotti, Conspiration pour lʼégalité dite de Babeuf, Brüssel 1828, Neuausgabe von G. Lefebvre, Paris 1957. 92 So V.M. Dalin, »Ein unbekanntes Manuskript Babeufs (1961)«, in: Grab, 306; vgl. Dalin, Babeuf-Studien. Gedenkband aus Anlaß des 200. Geburtstages von Gracchus Babeuf am 23.11.1960, Berlin 1961 (mit Auswahlbibliographie).

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4. Die Menschenrechte sind, in antikisierendem Jargon gesprochen, stoisches Naturrecht für Menschen und Weltbürgerrecht. 5. Weder in der Antike, geschweige denn im 18. Jahrhundert haben die offiziellen Religionen eine positive und starke Bedeutung für die Entwicklung der Menschenrechte gehabt. 6. Folgende Worte, Begriffe und Formeln in der Menschenrechtsdiskussion sind antiken, vornehmlich stoischen Ursprungs: (a) Natur und Naturrecht, Naturstand und Gesellschaftsvertrag; (b) Mensch und menschliches Recht; Vernunft und Person als Besonderheit der Individualität in der Gattung Mensch; Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstbewahrung; Freiheit und Glück; (c) Gleichheit als logisches, politisches, politologisches Prinzip; Gleichstellung der Frau; von Natur aus gleich und frei; angeboren, unveräußerlich, unverletzlich: (d) und schließlich: menschliche Würde und aufrechter Gang.

B IBLIOGRAPHIE I.

Recht und Rechtsgeschichte

K.A. Bettermann (Hg.) u. a., Die Grundrechte, Berlin 1954ff. (darin u.a. H.P. Ipsen, »Gleichheit«). E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (1961), Frankfurt/Main 1977 (einschließlich Antike). R. Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Tübingen 1961. O. Dann, »Art. Gleichheit«, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, Sp. 997-1046. Chr. Dipper, »Art. Freiheit und Gleichheit«, in: ebd., Sp. 531-538. W. Grab (Hg.), Die französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973. G. Jellinek, »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895)«, 4 1927 (abgedruckt bei Schnur, s. u.). W. Heidelmeyer (Hg.), Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel, internationale Abkommen, Paderborn 1982.

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Die antiken Grundlagen

G. Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin u.a.

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Persona and Self in Stoic Philosophy∗

§1 L IMITING THE

FIELD

1.1 Religion and Philosophy Persona and self, prósopon (πρόσωπov) and heautó (ἑαυτό), are not established, basic terms in Stoic philosophy. The persona, the mask or role, and the self (suum, se, ipse) do not emerge from religious experience, but rather grow out of biology and psychology, with borrowings from theatre and jurisprudence. I shall concentrate solely upon Stoic philosophy, and, even more specifically, on Roman Stoicism. My focus is ancient ›anthropology‹. I would like to explore the borderline between religion and philosophy in Roman antiquity, and to find the check-points where one may safely pass from one to another. Body and soul are main actors in Greek and Roman religion. The bodies of the gods, shaped like men and women, but having special blood, eating and drinking special food, are certainly an intriguing topic. At religious festivals, dancing and gymnastics were on the programme. The cult of the images, cult of the dead, or practices of divine furor (theía manía [θεία µαvία]) produced rich experience of body and soul. In Greece and Rome, however, religion is one segment of culture among others. Body, soul, and self therefore became topics in medicine as well as in biology, in law, in philosophy, and even grammar. These terms and concepts were not designated as central themes and developed as such within religion in the strict sense. They were not ∗

I should like to thank Ms. Bärbel Walter (Tübingen) for helping me with bibliographical problems.

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elaborated in a (non-philosophical) theology. For instance, theatre, and masks were, to a limited degree, connected with cult, and with performances during religious festivals. Discourse about personae, masks, however, was not held in religion, but in the context of Stoic ethic. Let us turn, then, to our first text.

§2 T HE FOUR PERSONAE ( MASKS , ROLES ) (P ANAITIOS – C ICERO )

OF MAN

2.1 Text and Context (Cicero, de officiis 1,107. 115) Human life is like theatre: the world the stage, men are the actors, marionettes, and playthings in the hands of the gods.1 »Remember«, says Epictetus, »that you are an actor in a drama, as the director wants you to be«.2 In Cicero, Nature herself appears, puts masks upon men, and makes them play the roles of their lives. Thus, in a restrained allegory, a picture – a quasi-technical metaphor – is introduced, which was to become a central concept for the essence of man: persona, the mask, ›person‹. Cicero says:3 »We should know that Nature has dressed us, so to say, with two masks. The first of them is universal, because all of us partake of reason and of this superiority by which we excel over the beasts, namely the capacity for moral goodness [...] The second mask, however, is specifically attributed to each individual [...] To these two is added a third mask, which some event or time lay upon us, and a fourth one which we ourselves put on us according to our own judgement. For kingdoms, military commands, nobility, honours, wealth, influence and all which is opposite to them, are governed by chance and time.

1

Plato, Philebos 50b 3; leg. 1,644 d-e; 7,803c 4 ff.; Seneca, epistulae 80,7; Epictetus, Dissertationes 1,29,41 ff.; 2,10,7 (8); 4,2,10; Encheiridion 37; Musonius, epistulae 1,9 (Hense); Dio Chrysostomos 13,19 f.; Maximos v. Tyros, Dialexis 1,1 ff.; 13,9; 15,1.

2

Epictetus, Encheiridion 17.

3

Cicero, de officiis 1,107. 115; cf. 1,97: Sed poetae quid quemque deceat ex persona iudicabunt, nobis autem personam imposuit ipsa natura magna cum excellentia.

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But the mask which we ourselves want to wear originates out of our (own) will«.

The Romans had difficulty with the conception that one individual should wear several masks. The helmsman, says Seneca,4 has two masks (duas personas habet): one as a mate, the other as a passenger in the ship he himself steers. With Kantorowicz in mind, you may imagine the helmsmanʼs two bodies.5 Cicero, as a lawyer, played three roles, though being only one person:6 his own, the one of his opponent, the one of the judge. A slave who belonged to different owners had the masks of several slaves.7 In Ciceroʼs allegory both semantic layers, the histrionic and the juridic, coincide. The terms »own will« and »own judgement« (the fourth mask) point clearly to juridical language. 2.2 The arrangement Cicero numbered the series of masks. By this procedure he invites us to check the list: Is it complete? What could be added? Is the arrangement coherent? Obviously the series proceeds from the most general to the concrete. Nature determines the first two masks, Fortuna and history the third, man himself the fourth. The first persona is universal, defining rationality and morality of all human beings. The second persona represents what is special in the body and the mind of every single human. »Dissimilarity« and »variety« (dissimilitudo, varietas) are the keywords. The pairing of universal/individual (koinón/ídion [κoιvόv/ ἴδιov]) is a frequent pattern in Stoic argumentation,8 the »special quality« (idíos poiós [ἰδίως πoιός], idía poiótes [ἰδία πoιότης]) constituting a well defined category in the Stoic concept of quality.9

4 5

Seneca, epistulae 85,35. Ernst H. Kantorowicz, The Kingʼs Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theory, Princeton 1957.

6

Cicero, de oratore 2,24,102: Tres personas unus sustineo [...] meam adversarii iudicis.

7

Digesta 45,3,1,4; cf. 28,5,16.

8

Cf. Cicero, de officiis 1,31,110; de finibus 5,9,24ff. (Stoic).

9

Cf. M.E. Reesor, »The Stoic Concept of Quality«, in: American Journal of Philolology 75 (1954), pp. 40-58; id., »The Stoic Categories«, ibid. 78

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The following two personae of Cicero proceed, again, from the more general conditions of fortune and time to the deliberate choice, made by an individual, or, from the outside conditions10 that are not in our control, to the decisions of oneʼs own will. Chance, time, and history shape the third mask.11 With regard to some modern conceptions of human personality, this statement of Cicero carries some weight. Still more important is the fourth mask. It is shaped by our own judgement and our will: iudicium nostrum – nostra voluntas; one might even say: our »free will«. Libera voluntas,12 assensio voluntaria,13 sua voluntas14 – free will, own will, assent by free will are clear terms used by Roman philosophers (Lucretius, Cicero, Seneca).

(1957), pp. 63-82; cf. e.g. SVF II, nr. 376-398; 449; 451. Names point to general qualities (e.g. horse), the proper name (e.g. Socrates) points to a idía poiótes (ἰδία πoιότης); H. Diels, Doxographi Graeci, 463,5 (Mnesarchos, Stoic school leader, about 110/100 BCE), Chrysippos used the category idía poiótes (ἴδία πoιότης) to characterize the gifts of the human mind: SVF II, nr. 1000. 10 Cf. Cicero, pro Sulla 8: istam ipsam personam vehementem et acrem quam mihi tum tempus et respublica imposuit iam voluntas et natura ipsa detraxit. – The metaphor is almost proverbial. 11 Cf. Chrysippos, in Gellius, Noctes Atticae 7,2,7 (= SVF II nr.1000): ingenia tamen ipsa mentium nostrarum proinde sunt fato obnoxia, ut proprietas eorum est ipsa et qualitas. 12 Lucretius 2,251 ff.; cf. Kahn, Ch.H., »Discovering the will. From Aristotle to Augustine«, in: John M. Dillon/A.A. Long, eds., The Question of »Eclecticism«. Studies in Later Greek Philosophy, Berkeley/Los Angeles 1988, pp. 252ff.; Don Fowler, »Lucretius on the Clinamen and Free Will«, in: Syzetesis 1 (1983), pp. 334ff. 13 Cicero, Academica 1,11,40: assensionem ... animorum, quam esse vult in nobis positam et voluntariam. 14 Seneca, de beneficiis 6,23,1: Sua illis (sc. deis) in lege aeterna voluntas est; statuerunt quae non mutarent. – Cf. Seneca, naturales quaestiones 2,24,2; 7,27,6.

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2.3 Acceptance of Personality Who wears these four masks? Cicero does not tell us. He does not call the wearer of the masks a »person«. He does not explain how these four masks interact to form one identical subject. He avoids the traditional pattern of defining man as composed of soul and body. Nor are sex and age mentioned. In any case, the wearer of the masks is a rational and moral being, with its own will and judgement, with mental and physical peculiarities. This brings us very close to modern concepts of »personality«.15 On the other hand, the context of Ciceroʼs allegory of masks is practical morals, style of life. The masks should be in harmony with each other: one’s occupation should fit one’s faculties, physical appearance should be appropriate to the situation. These are duties that arise from the idea of decorum – that means, what is fitting – in a given situation. But we must also find out which way of life we are to choose, in order to bring our different personae to unity and harmony in our whole life.16 To stress this practical, educational point, Cicero adds another allegory, the well-known story of Hercules, sitting at the crossroads and deliberating whether he should follow the way of Virtue or that of Pleasure. This then, practical morals and education, is the context of Ciceroʼs picture of the four masks – not psychology or anthropology. Cicero presents a dense text: a detailed theory, a rich and precise terminology, valuable formulas about the »dignity of man«, many historical examples, impressive pictures, the allegory of Nature and the story of Hercules at the crossroads, which illustrate the fourth mask. This is why Cicero is considered a classic and a school author having far-reaching influence on European education and Bildung. Ciceroʼs supposed Greek source, Panaitios of Rhodes, has not come down to

15 Rist, Stoic Philosphy, p. 187f.: »a much closer approximation to a modern concept of personality«. 16 This is traditional Stoic doctrine, cf. Panaitios frg. 96 and 109 (van Straaten); cf. Forschner, Stoische Ethik, p. 59f.: he sumphyés pros allélas hénosis (ἡ συµφυὴς πρὸς ἀλληλήλας ἕvωσις); Rist, Stoic Philosophy, p. 186f. – »Unity« and »harmony« were high values already for Plato, de re publica 4,443d-e; 9,588c – 589b.

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us.17 Ciceroʼs treatise »On Duties« was often praised and sometimes used – from Ovid and Seneca to Ambrose of Milan.18 However, I do not know any adaption of the allegory of the four masks; nor do I know a comparable text in ancient Christian authors.

§3 T HE S ELF – S ENSE

OF

S ELF

3.1 sensus sui The first philosopher, whom I know to have speculated about what is the »ego«, was Chrysippos from Soloi (Kilikia, ca. 280 to ca. 205).19 In the first book of his treatise »On the soul« he attempted to prove that the central guiding principle of the soul (to hegemonikón [τὸ ἡγεµovικόv]) does not reside in the head, but in the heart. Chrysippos demonstrated this by many proofs, and even by etymology. When, he writes, we – that is the Greek – say »ego«, we point with a gesture to our heart, and not to the head. And if we do not point with our fingers, the very form of the word egó (ἐγώ) points to the heart. For when pronouncing egó (ἐγώ), our lower lip and the chin will point to the heart. The gesture of our mouth saying egó (ἐγώ) proves that the ego and the central part of the soul reside in the heart, not in the head.20

17 J.M. van Straaten did not include Cicero, de officiis 1,107 and 115 into his collection of Panaitiosʼ fragments. Most scholars however attribute Ciceroʼs first two books as a whole, and so this special argumentation, to Panaitios, cf. Rist, Stoic Philosophy, p. 173ff.: »The innovations of Panaetius«. C.J. de Vogel, »The Concept of Personality in Greek and Christian Thought«, in: Studies in Philosophy and the History of Philosophy 2 (1963), pp. 20-60, 30f. 18 Cf. the list of borrowings which Carl Atzert compiled in the preface of his editio Teubneriana of Cicero, de officiis. 19 If the wording of frg. 101 VS (= 246 Kirk-Raven) is authentic, Heraclitus was earlier. Plutarch, adv. Coloten 20, 1118c attributes to him the formula edizesámen emautón (ἐδιζησάµην ἐµαυτόν) – »I inquired myself«; Plutarch understands this as a parallel to the Delphian oracle: »Know thyself«. 20 Chrysippos, de anima I in Galen, de Hippocratis et Platonis placitis II 2 (SVF II, nr. 895; cf. nr. 883. 884. 892).

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It is, however, not with grammar, but with biology, that the Stoic philosophers take their starting point, when construing a principle called »self«, which is different from soul, mind, or spirit. Chrysippos, in the first book of his treatise »On Ends«, determined the basic principle for every living system as follows:21 »The first impulse that a living being has is to preserve itself; nature endears it to itself from the beginning. The first inclination for every animal is its own constitution (›system‹) and the sense (or: consciousness) thereof. It is not probable that an animal is alienated from itself«.

In several places Cicero recapitulates the doctrine:22 »As soon as an animal is born [...] it is endeared to itself and inclined to preserve itself [...] they have sense of themselves and therefore love themselves«.

Nature, says Cicero,23 has, from the beginning, endowed every kind of living being with the impulse »to protect itself, its life and body«. »To preserve itself« (tereín heautó [τηρεῖv ἑαυτό], se conservare), and »to protect itself« (se tueri) – theoretically distinguished from life and body –means to preserve the identity of the living system by regulation. The Stoic philosophers recognized that self-preservation presupposes self-perception, the consciousness of the required standard, and an impulse to produce this optimal status for the system. All the expressions, that I use in order to describe reflexivity, were invented by the Ancients: sensus sui,24 syneídesis (συvείδησις) or synaísthesis (συvαίσθησις),25 constitutionis suae sensus.26 One should add amor sui

21 Chrysippos, SVF III, nr. 178. For the history and structure of the doctrine of prima conciliatio cf. S.G. Pembroke, »Οikeiosis«, in: A.A. Long (Ed.), Problems in Stoicism, London 1971, pp. 114-149; Forschner, Stoische Ethik, 142-159; Engberg-Pedersen, Theory of Oikeiosis, Aarhus 1990. 22 Cicero, de finibus 3,5,16; cf. de finibus 4,7,16: omnis natura vult esse conservatrix sui. 23 Idem, de officiis 1,4,11 f. 24 Id., de finibus 3,5,16. 25 Chrysippos, SVF III, nr. 178; cf. Forschner, Stoische Ethik, 146 n. 28; de Vogel, Concept of Personality, p. 24. 26 Seneca, epistulae 121,5.

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– phil-autía (φιλ-αυτία) – »love of oneself«, which means the general tendency of living systems to seek their best possible status and to maintain it.27 Some elements of these observations and theories later found a place in Christian writers. Tertullian, who, like the Stoics, affirm the corporeality of the soul, asserts that the soul has »from the beginning a sense of itself«.28 For Augustine, self-love, which tends to preserve oneʼs life and wellbeing, is a natural impulse that is morally good.29 3.2 unus idem – suum se (Seneca) 3.2.1: In a sermon »On the Endurance of the Wise Man« (de constantia sapientis, ca. 41/56 CE) L. Annaeus Seneca, a Stoic philosopher in Rome and a contemporary of Paul of Tarsus, tries to convert his Epicurean friend Serenus to Stoicism.30 According to the conventions of literary genre, Seneca combines instruction with polemics and admonition, theory with examples from myth and history. He calls a notorious scene to the mind – the destruction of Megara by Demetrios Poliorketes (307 BCE). Stilpon, a philosopher in Megara and a precursor of Stoicism, lost his children, his home, and fortune in the ruins. To the triumphant victor, who asked him, whether he had lost anything, Stilpon answered, with what was to become a proverb:31 »omnia mea mecum sunt – all mine is with me«. Seneca interprets the story in great

27 Cf. Taurus in Gellius, Noctes Atticae 12,5,7: Natura omnium rerum quae nos genuit, induit nobis inolevitque [...] amorem nostri. Similar phrases are used in Plato (e.g. rep. 10,621c) and Aristotle (e.g. Nicomachean Ethics 9,8). Cf. Kajetan Gantar, »Zur Verinnerlichung der Reflexivpronomina in der griechischen philosophischen Sprache«, in: Wiener Studien 15 (1980), pp. 40-55, 51ff. 28 Tertullian, de carne Christi 12 (SVF II, nr. 845): sensum sui ab initio; notitiam sui. 29 Augustine, de doctrina christiana 1,23,22; 1,26,27; de trinitate 14,14,18; de civitate dei 10,3. 30 This interpretation was proposed by R. Waltz, La vie politique de Sénèque, Paris 1909, p. 101ff.; cf. id., »Introductory notes to Seneca, de constantia sapientis, de tranquillitate animi, de otio«, in: Waltzʼs edition (»Les belles Lettres«, Paris 1959). 31 Diogenes Laertios 2,115; Seneca, de constantia sapientis 5,6.

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detail, but compresses and generalizes the proverb to an abstract formula:32 »There is no reason to doubt, (a) that somebody who is born as a man can ascend over human turmoil ... (b) and that he can remain one and the same in diverse events: (c) a man who does not believe that anything belongs to him except he himself«.

In Latin: unus idemque inter diversa (est) neque quicquam suum nisi se (putat) esse. Formulas like this abound in Senecaʼs works. They aim at an abstract centre of unity, identity, even singularity. The formula ›suum esse‹ is juridical language; it evokes personal property, which is inviolable and permits free disposal according to the ownerʼs will and power (voluntas, potestas).33 These formulas are more abstract, general, and empty than other expressions which try to determine a centre of personality beyond body and soul. They are not pictures or metaphors like »inner man« or »inner space«, but denote relations. In this respect, personal pronouns are especially suited for being philosophically charged. The metaphor of space was used by Heraclitus, to denote the depth of the soul.34 It grew into a huge labyrinthic underground world, to harbour the recollections of Aurelius Augustinus.35 The inner man (ho entós ánthropos [ὁ ἐvτὸς ἄvθρωπoς]) appears in Platoʼs Republic.36 Pronominal expressions denoting the »ego« are also to be much earlier, in Seneca, they assume some prominence. »Know thyself«, pro-

32 Seneca, de constantia sapientis 6,3. – Supra humana: cf. ibid. 16,1. 33 Property: see Seneca, de beneficiis 7,4,1-5; 7,5,1; 7,6,2: Sic sapiens animo universa possidet, iure ac dominio sua; cf. ibid. 6,6,1 f.; 6,11,3 (voluntas). 34 Heraclitus, frg. 45 VS. 35 Augustine, Confessions l.X. 36 Some references for »inner man« and »self« in Plato, apologia 36c; Charmides 162b ff.; 164d; 166b; Laches 179d; leges 1,626e; de re republica 4,443d-e; 9,588c-589b; 10,621c; Theaitetos 168a; Stoic examples before Seneca: SVF II nr. 458; nr. 901; nr. 903.

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nounced the Delphic Apollo. »Become who you are«, wrote Pindar.37 Heraclitus gave the oracle: »I made an inquiry into myself«.38 In Seneca, however, all these metaphors and formulas occur increasingly more often, the reflexive pattern being the peak of this development. A few examples: (a) in animo, in ipsa mente, intra se,39 externa/interna;40 deus internus;41 (b) animo possidere;42 alienum/suum;43 (c) in te ipse recede;44 tecum fugis;45 te tibi amicum redde; gaudium ex te tibi;46 sibi ipse animus haereat – »the mind of the wise man should stick to itself«;47 (d) se habere,48 suum fieri,49 suum esse50 – to have oneself, to be oneself, to become oneself, to be oneʼs own; and finally: (e) persona,51 unus, idem52 – mask/role, one and the same in diverse situations. These examples, the frequency of which nobody has ever counted, certainly point to an increasing interiorization of morals. The interpretation of this tendency, however, is uncertain to me. Is it a matter of

37 Pindar, Pythien 2,72: génoi’ hoíos essí mathón (γέvoιʼ oἷoς ἐσσὶ µαθώv). 38 Heraclitus, frg. 101 VS (= 246 Kirk-Raven). 39 Seneca, epistulae 74,1. 40 Seneca, passim. 41 Seneca, epistulae 41,1 f.; cf. Cicero, Tusculanae disputationes 1,30,74: ille in nobis deus. 42 Id., de beneficiis 7,6,2; cf. epistulae 74,16; 81,5. 43 Id., epistulae 8. 44 Id., epistulae 25,6 (following Epicurus). 45 Id., epistulae 28,2. 46 Id., epistulae 124,24. 47 Id., de tranquillitate animi 1,11; cf. Cicero, Tusculanae disputationes 1,31,75: animum ad se ipsum advocamus. 48 Id., epistulae 42,10; 98,2; 124,24. 49 Id., epistulae 75,18. 50 Seneca, passim. 51 Seneca, epistulae 85,35; 120,22. 52 Id., de constantia sapientis 6,3: unus idemque inter diversa.

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style, of paraenetic language? Or does this linguistic tendency point to a philosophical insight into the structure of the human mind? Does the frequent use of »we, self, own« point to a new and deeper ›centre‹ of human personality? Does Seneca, by using reflexive formulas, stress self-reference as a basic principle of human life and mind? And finally: Are these reflexive, autopoietic patterns the consequence of, or the reaction to, Platonic influence in later Stoicism? Is the disappearance and devaluation of body and flesh that we can observe in Seneca to a certain degree correlated to the growth of the self?53 3.2.2 The reflexive patterns in Senecaʼs writings did not condense to a new term, as could have been seitudo or ipsitas. But there is a wellknown term describing reflexivity in the realm of morals, a Latin word borrowed from the Greek, which found its way into all European languages and even, once, into the Christian Bible: conscientia/syneídesis (συvείδησις), conscience, Ge-wissen. Seneca explains:54 »their conscience accuses them and shows themselves to them« – coarguit illos conscientia et ipsos sibi ostendit. Conscientia mirrors the positive and the negative qualities and deeds of a person.55 The word implies the nuance of consciousness – a neologism of the 17th century.56 Should one go into the solitude and enjoy the conscientia to have all goods inside oneself?57 Conscience is our witness (testis), always watching us,58 we cannot escape it:59

53 Cf. already Cicero, Tusculanae disputationes 1,30,74 f.: Tota [...] philosophorum vita [...] commentatio mortis est [...] nam haec quidem vita mors est [...] 54 Seneca, epistulae 97,16; cf. id., de vita beata 2,2; 20,4 e. a. – The first reference of this adjective is in Plautus (Mostellaria 544), of the noun in Rhetorica ad Herennium 2,5,8. 55 Seneca, epistulae 59,16: ex virtutum conscientia; 81,20f.: conscientiam grati; cf. de beneficiis 3,17,3; 4,21,5. 56 See H. Cancik-Lindemaier, »Gewissen«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, vol. 3, Stuttgart 1993, pp. 17-31: John Locke, An Essay on Human Understanding, 1690. 57 Seneca, epistulae 7,12 (last sentence of the epistle) and epistulae 8,1 (first sentence): Introrsus bona tua spectent and [...] secedere et conscientia esse contentum. 58 Id. epistulae 11,8-10: testis and custos.

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»There is no advantage for you in having no accessory (conscium), since you have your conscience«. Seneca conceived his idea of conscience from philosophical schools, from the tradition of self-observation established in Rome,60 and from public morals, into which the term had already been absorbed.61 As far as I can see, he did not connect the Stoic doctrine of natural self-perception and self-love in the beginnings of every living being, the sensus constitutionis suae, with the moral self-control by conscience.62 3.2.3 Senecas work is imbued with the tendency toward a more ›spiritual‹, ›internal‹, ›voluntaristic‹ concept of morals and religion.63 The reflexive patterns are part of this tendency, for instance:64 »Only he who is in possession of himself has lost nothing: but who has ever succeeded in having himself«? His most important work, the letters to Lucilius, start with a breathless, hurried pronouncement:65 »Do so, my friend, free yourself for you«, followed by the strange consequence: »and collect and keep the time [...]«. This introductory letter deals with self and freedom with regard to time, since: »all things are someone elseʼs, only time is ours«. The last letter of the whole work (nr.124) ends in a well-known reflexive formula:66 »Know that you will be happy (blessed – beatum)

59 Seneca, frg. 14: quid tibi prodest non habere conscium habenti conscientiam? – cf. Sen., de ira 1,14,3: respiciens. 60 Cf. Seneca, de tranquillite animi 2,7-12. 61 One example only: Cicero, pro Cluentio 159: conscientiam mentis suae quam a dis immortalibus accepimus, quae a nobis divelli non potest; .... 62 Cf. Seneca, epistulae 124. 63 Rist, Stoic Philosophy, chap. 12: Knowing and Willing. – Cf. Seneca, epistulae 80,4: Quid tibi opus est, ut sis bonus? Velle. – 81,13: scientia illi (the fool) potius quam voluntas desit: velle non discitur – »willing need not be learnt«; 95,57: actio – voluntas. 64 Seneca, epistulae 42,10: Qui se habet nihil perdidit: sed quoto cuique habere se contingit. 65 Id., epistulae 1,1: Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus [...] collige et serva [...] (3). Omnia aliena sunt, tempus tantum nostrum est. 66 Id., 124,24.

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when all joy comes to you out of yourself [...] you will be perfect then, when you have yourself«. From this philosophy emerges criticism of religion, of the external rites, the image worship, and, of course, mythology. One of Senecaʼs mottoes is: »He worships God who knows him – by knowing him, he worships« – deum colit qui novit. On the other hand, this »perfect man« may be canonized:67 he rises above human affairs, he imitates God and, by this, becomes »himself« and »perfect«.68

§4 C ONCLUSION In conclusion I would like to present three footnotes: a note on grammar, a short story, and, since we are in the Jacob Taubes Centre, a note on contemporary politics. 1. Grammar first: The Stoic treatises which I presented – Cicero, On Duties; Senecaʼs Letters to Lucilius – were read by Christian authors, copied, excerpted and read in the Middle Ages. Guilleaume de Conches (twelfth century) inserted 165 quotations from Ciceroʼs de officiis in his »Moralium Dogma Philosophorum«.69 One could add several other authors to demonstrate the permanence of Stoicism in Latin-speaking

67 Id., 124,21. 23 f. – Note, that the themes »time« and »progress« links this epistle to the first one. 68 See Hubert Cancik/Hildegard Cancik-Lindemaier, »Senecas Konstruktion des Weisen. Zur Sakralisierung der Rolle des Weisen im 1. Jh. n.Chr.«, in: Aleida Assmann, ed., Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1991, pp. 205-222. 69 John Holmberg, ed., Das Moralium Dogma Philosophorum des Guilleaume de Conches. Lateinisch, altfranzösisch und mittelniederfränkisch, Uppsala 1929. – Cf. N.E. Nelson, Essays and Studies in English and Comparative Literature, II. »Ciceroʼs de officiis in Christian Thought«: 300-1300 (University of Michigan 1933), pp. 59-160. – Ph. Delhaye, »Lʼenseignement de la philosophie morale au XIIe siècle«, in: Mediaeval Studies 11 (1949), pp. 77-99. – The doctrine of the four personae (Cicero, de officiis 1,107 and 115) is not quoted by Guilleaume. I do not know a special work on the influence of Ciceroʼs »On duties« in the history of European ethics and anthropology.

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Europe and therein the reception of Stoic ideas of the self, the body, the soul, and persona.70 More impressive, I hope, than a longish catalogue is the recollection of the deep, ›subcutaneous‹ influence of ancient concepts by means of grammar. When our grandchildren learn at school to conjugate »the first person, the second person« they learn the ancient concepts of prósopon (πρόσωπov)/persona. Greek and Latin grammarians distinguished between transitive and intransitive verbs, personal and reflexive pronouns, and they recognized these differences and gave them the names we use up to the present day:71 persona transitiva – persona reciproca – persona intransitiva/ autopatheís (αὐτoπαθεῖς) – allopatheís (ἀλλoπαθεῖς), hoc est ›in alias passionem facientes‹ nominaverunt; autopátheia (αὐτoπάθεια) – the reflexivity of action to the acting person. 2. Now the story: Some years before the Trojan war (1194-1184 BCE, according to ancient chronology) Narkissos, son of Kephisos and Leiriope, went to a pool near Thespiai in Boiotia.72 Narkissos gazed into the pool, saw himself and – thus we are told by Ovid – recognized himself. What did he see? In any case, he became the first philosopher and, in a sense, the inventor of the self. The story, as is known, ends with the boyʼs metamorphosis into a flower. Before that, however, he had been warned by an oracle of the Delphic Apollo: »He should not know himself« – se non noverit. Who then, is se? Cicero found a different, a classical answer. Apollo, he says,73 gives the advice to know yourself, that means to look with oneʼs own mind upon oneʼs mind: animo ipso animum videre. If you recognize your mind, you will know yourself. The story shows, how, in mythology, the problems of ›self‹ – reflexivity, ›self-reference‹ – were meditated on in their paradoxical aspects. 3. And finally a note on politics, remembering with reverence the passionate enthusiasm of Jacob Taubes, who programmatically merged

70 See M. Spanneut, Permanence du stoicisme, Gembloux 1973. 71 Apollonios Dyskolos, De syntaxi (ed. Uhlig/Becker II 2, 1910), p. 203f.; 402f.; id., de pronominibus, ibid. (II 1), p. 44ff.; Priscianus 13,23. 72 Pausanias 9,31,7; Ovid, Metamorphoses 3,339-510. 73 Cicero, Tusculanae disputationes 1,22,52.

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political theology with the analysis of religion (»Religionstheorie und Politische Theologie«). While I was preparing this paper, meditating quietly upon the principle of life, the autonomous self, the discovery of personality, the archaeology of conscience and homo internus, and several more flowers of this kind, some committees of the European Union at Brussels, pretending to develop a modern ›bio-ethic‹, proposed to legalize medical experiments with human embryos, zygotes, foetuses, and with mentally handicapped persons.74 It was decided that these persons need not be informed about the experiments; in many cases, for obvious reasons, they could not be informed. All parties in the national parliament at Bonn protested. The Brusselsʼ committees made some cosmetic alterations and are again trying to legalize the so-called bio-ethical concepts; the debate will go on. I shall not go into details; but, having once been a member of a working group called, by Jacob Taubes, »Religionstheorie und Politische Theologie«, I cannot refrain from mentioning an acute problem that must overshadow every consideration of persona and self in Stoic philosophy.

S ELECT B IBLIOGRAPHY Döring, Klaus and Theodor Ebert, edd., Dialektiker und Stoiker. Zur Logik der Stoa und ihrer Vorläufer, Stuttgart 1993. Engberg-Pedersen, Troels, The Stoic Theory of Oikeiosis, Aarhus 1990. Erskine, Andrew, The Hellenistic Stoa. Political Thought and Action, London 1990. Forschner, Maximilian, Die stoische Ethik, Stuttgart 1981. Inwood, Brad, Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985. Rist, John M., Stoic Philosphy, Cambridge 1969.

74 See Frankfurter Rundschau, 7 October 1994; 24 February 1995; 2 March 1995. To the same context belong the theses of Prof. Singer, whose »Praktische Ethik« was published in German translation in 1984, see Frankfurter Rundschau, 2 November 1994 (interview with P. Singer).

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Tsekourakis, Damianos, Studies in the Terminology of Early Stoic Ethics, Wiesbaden 1974. Vernant, Jean-Pierre, Lʼindividu, la mort, lʼamour. Soi-même et lʼautre en Grèce ancienne, Paris 1989. Voelke, André-Jean, Lʼidée de volonté dans le stoicisme, Paris 1973. Vogel, C.J. de, »The Concept of Personality in Greek and Christian Thought«, Studies in Philosophy and the history of Philosophy 2 (1963), 20-60.

›Dignity of Man‹ and ›Persona‹ in Stoic Anthropology Some Remarks on Cicero, de Officiis I 105-1071

§1 »T HE

FIRST PERSONA «

§1.1 The Core Text: Cicero, On Appropriate Actions (I 105-107) §1.1.1 Topic and Aim The expression ›dignity of man‹ was coined in Stoic anthropology. Formulated in the 2nd/1st century BCE by Panaetius of Rhodes and Marcus Tullius Cicero in Rome, it did not become a common term for the ancient Stoic authors. The original Latin term dignitas hominis denotes worthiness, the outer aspect of a personʼs social role which evokes respect, and embodies the charisma and the esteem presiding in office, rank or personality. It is concrete dignity inherent in the rational persona, given by Nature and to all human beings. Stoic anthropology was transmitted, with or without the term ›dignity of man‹, by Renaissance philosophers in the humanist tradition, by Ciceronian philology, and by the jurists and politicians who developed natural law in the 16th and 17th centuries. By the mediation of these authors, natural law and Stoic anthropology permeated to the American and French declarations of human rights.

1

I am indebted to Ms. Mareile Haase and M. Matthias Peppel (both of Tuebingen) for their cooperation in bibliographical matters and for helpful discussions.

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In this paper, I focus on the first appearance and the original meaning of the expression ›dignity of man‹. Therefore I would like to translate and explain a core text – Cicero, »On Appropriate Actions«; to analyze some words, metaphors and the context of the expression ›dignity of man‹ in Stoic philosophy; and, finally, to give an outlook on the reception of this text. §1.1.2 Date, Addressee, Genre of Ciceroʼs Treatise Cicero uses the word dignitas – »rank, worth« quite often in his speeches and in his rhetorical and philosophical treatises. Only once, however, does he apply it to »mankind«: in the treatise »On Appropriate Actions« (»On duties«). This text is written in the fall of 44 BCE, the year in which Caesar was murdered. It is dedicated to Ciceroʼs son who studied philosophy in far-away Athens and was in need of money and, so the father supposed, of moral admonition. The genre of the three books on appropriate actions is exoteric, popular, personal.2 The author, Marcus Tullius Cicero, born 106 BCE, was an elder statesman who, at that time, had risked his life to maintain the aristocratic form of the Roman republic. He had been consul (63 BCE) in a colonial empire which embraced the Mediterranean from Spain to Syria – clearly a situation in which universal concepts in law, religion and philosophy were needed.3 He had been a successful lawyer. As a governor of Cilicia, he had worked hard but in vain in obtaining a bloodstained triumph in Rome. He was killed by his political enemies on the 7th of December 43 BCE, one year after the publication of his treatise de Officiis (»On Duties«).

2

On exoteric and esoteric philosophy cf. Cicero, de finibus 5.5.12: Gr. exoterikón (ἐξωτερικόv) – populariter; limatius – in commentariis. – Aristotle wrote de Moribus to his son Nikomachos: Cicero, de finibus 5.5.12.

3

Cf. Hubert Cancik/Hildegard Cancik-Lindemaier, »patria – peregrina – universa. Versuch eine Typologie der universalistischen Tendenzen in der Geschichte der römischen Religion«, in: Ch. Elsas et al. (eds.), Tradition und Translation. Zum Problem der Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1994, p. 6474.

›DIGNITY OF M AN‹

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›P ERSONA‹

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§1.1.3 The Text The text (1.30.105-107) reads as follows: Sed pertinet ad omnem officii quaestionem semper in promptu habere, quantum natura hominis pecudibus reliquisque bestiis antecedat; illae nihil sentiunt nisi voluptatem [...] (106). Ex quo intellegitur corporis voluptatem non satis esse dignam hominis praestantiâ [...] Itaque victus corporis ad valetudinem referatur et ad vires, non ad voluptatem. Atque etiam si considerare volumus, quae sit in natura hominis excellentia et dignitas, intellegemus quam sit turpe diffluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum, parce continenter severe sobrie. »But it is important for any disquisition on appropriate action to bear in mind how much the nature of man has precedence over cattle and other beasts; those feel but pleasure [...]. (106) Thereof it can be seen that the pleasure of the body is not worthy enough of the preeminence of man [....] The nourishment of the body, therefore, should be measured with regard to health and strength, not to pleasure. But also, if we consider what excellence and dignity is in the nature of man, weʼll recognize how shameful it is to be dissolved in luxury and to live in a spoilt and weak way and how virtuous in a moderate, continent, severe, and sober way«.

§1.2 Context and Source §1.2.1 Decorum (splendid, decent) and personae (roles) The text sets forth Stoic anthropology and morals: The human mind (ratio – reason) constitutes the fundamental difference between man and animal; it is the foundation of moral decision (honestum) and behaviour (decorum). Nature herself has imposed this persona (mask, role); it is common to all human beings.4 This is the »first persona«; it bestows excellence and distinction on man over all other living beings (excellentia, praestantia). From it, the dignity of man derives. The second role is individuality; the third one is formed by the historical situation by which we are shaped, and the fourth one is made by our own free will. From this anthropological statement some moral demands are derived:

4

Cicero, de officiis 1.97: Nobis autem personam imposuit ipsa Natura magna cum excellentia praestantiaque animantium reliquorum.

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You have to keep up your role; you must preserve the dignity of your persona;5 your mind should control your drives, emotions, boundless desire (voluptas) – you should rule over them as over wild beasts.6 This, then, is the context for the first emergence of the formula ›dignity of man‹: Stoic anthropology and morals in Late Republican Rome. To the best of my knowledge this is the first instance for the use of this term. Some scholars claim that the term is found in the Bible; I could not, however, find a single piece of evidence there.7 §1.2.2 Panaetius of Rhodes The source of Ciceroʼs doctrine of the four personae, moral goodness and its visible beauty, is well known: Panaetius of Rhodes, peri kathekónton (περὶ καθηκόvτωv) – »On appropriate actions«. Cicero himself quotes him several times.8 What he added to the Greek text can readily be discerned, e.g. Roman examples and allusions to contemporary politics (death of Caesar, rise of Octavianus, the future Augustus). Scholars agree, therefore, that our passage is taken over from Panaetius, and with it, probably, the term ›dignity of man‹. This would

5

Cicero, de inventione 21.29: personarum dignitates servare (context: rules

6

Cf. Cicero, de officiis 1.101: appetitus, impetus: Greek hormé (ὁρµή); 1.14.

on narrative). – The opposition ›pleasure‹ (Epicureanism) versus ›dignitas‹: Cicero, de finibus 3.1.1. 7

August Buck, Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, 1990, Introduction, p. VII: »Indem man bei der Beantwortung dieser Frage (sc. ›Wesen des Menschen‹) auf den sowohl in der Bibel als auch in der Antike verwendeten Begriff der Wesenswürde des Menschen zurückgriff, erhielt dieser eine neue Bedeutung« (without references). Even in Psalm 8.5ff. (ma enosch) the Vulgate translates with gloria: minues eum paulo minus a Deo/ gloria vel decore coronabis eum. – Cf. Hiob 19.9: »my kabod« – the Vulgate translates »glory«: spoliavit me gloriâ meâ. – Cf. 1. Mose 45.13 (the glory of Joseph in Egypt). Nowhere the different Hebrew passages are translated with dignitas hominis; there is no immediate evidence of the conjunction kabod ha-adam.

8

Cicero, de officiis 1.90; 2.76; cf. Cicero, Epistulae ad Atticum 16.11.4, see A. Dyck, A Commentary on Cicero, de Officiis, p. 18ff.

›DIGNITY OF M AN‹

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›P ERSONA‹

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bring us, for the first occurrence of the term, up to ca. 128 BCE, the year in which Panaetius probably composed his treatise. Unfortunately, however, the Greek text is lost. In addition, the discourse on persona and dignitas cannot easily be translated into Greek.9 In any case a term like timé (τιµή) or axíoma anthrópou (ἀξίωµα ἀvθρώπoυ) is not found in our fragments of Greek Stoicism.10 At present, therefore, Cicero remains our first instance for the formula ›dignity of man‹.

§2 D IGNITY

AND

R ULE

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§2.1 Dignitas §2.1.1 Visible and Social Quality ›Dignity‹ is one of the most characteristic concepts of Cicero and very frequently used by him.11 He defines it as follows:12

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For Gr. prósopon (πρόσωπov) cf. Annekathrin Puhle, Persona. Zur Ethik des Panaitios, doctoral thesis Berlin 1986. – For Gr. timé (τιµή) cf. M. Forschner, Stoische Ethik, Darmstadt 1981, p. 165; 168.

10 For Gr. axíoma (ἀξίωµα) cf. Auct. ad Herennium 4.17f.: dignitas – ornament, beauty = axíoma (ἀξίωµα); Athanasius, contra Apollinarem (ad Psalm. 109.1): ouk anthrópou axíoma alla theoú (oὐκ ἀvθρώπoυ ἀξίωµα ἀλλὰ θεoῦ) – the Latin translation in Migne has dignitas. – For Gr. axía (ἀξία) cf. Seneca, Epistulae 71.33: His (i.e. Gr. agathá [ἀγαθά]) pretium erit aliquod, ceterum dignitas non erit. 11 E. Remy, »Le concept cicéronien de la dignitas«, in: Nova et Vetera 5 (1922), p. 129; there is no adnotation to de officiis 1.106. 12 Cicero, de inventione 2.55.166; context: the four cardinal virtues; the discourse is popular philosophy in the frame of rhetoric. – Cf. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 1960 (index s.v.) – Cf. Cicero, Invent. 1.21.29: si personarum dignitates servabuntur (in the narrative); 2.53.161: Iustitia est habitus animi, communi utilitate conservata, suam cuique tribuens dignitatem. Eius initium a natura profectum [...] naturae ius est, quod non opinio genuit sed quaedam in natura vis insevit, ut religionem, pietatem, [...] – There is a strict connection from this early rhetoric treatise to the late philosophical treatise »On Appropriate Actions«.

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Dignitas est alicuius honesta et cultu et honore et verecundia digna auctoritas. »›Dignity‹ is someoneʼs virtuous authority which makes him worthy to be honoured with regard and respect«.

This definition points (a) to the concrete, visible quality of a person and brings (b) social aspects, like rank and prestige, into the foreground, not anthropological values. Both parts of the definition fit the etymology and the common use of this word in Latin. §2.1.2 Dignitas, Decus, Decorum Roman dignity can be seen, has splendor; it shines, it is an ornament (decus, decorum).13 It is a quality of the body as is health, strength, swiftness.14 What charm (venustas) is in the female, dignity is in the male.15 The opposite is ›obscure, dirty, ugly, contemptible‹.16 Dignitas and Maiestas

Roman dignity is marked by social and political connotations. The Roman people itself, its government and state have dignitas.17 Qualities like ›majesty‹ (maiestas) and ›greatness‹ (amplitudo) can be added.18 The magistrate bears the role (persona) of the state: he should, therefore, by lawful administration, preserve its »dignity and splendor«.19 All parts and members of the Roman State, the citizenship, the

13 Cicero, in Verrem II.2.45.111; de inventione 2.177 (corporis virtus); Vatin. 25 (dignitas et splendor); pro P. Sulla 1; pro M. Marcello 24. 14 Rhetorica ad C. Herennium 3.6.10: corporis sunt [...]: velocitas, vires, dignitas, valetudo etc.; cf. Cicero, de inventione 2.2; de oratore 3.155; Livy 45.40.4: cum dignitate alia corporis tum senecta ipsa maiestatem prae se ferens; Cicero, de finibus 5.17.47: Tacitus, Annales 11.16.8; 11.28.27; 12.51.22. 15 Cicero, de officiis 1.130; cf. Gellius 14.4.2 (from Chrysippos): reverendae cuiusdam tristitiae dignitate; Cicero, de officiis 1.94: id dignum viro et decorum videtur. Digesta 26.22 (Ulpianus): dignitas maior est in sexu virili. 16 Cicero, de finibus 5.17.47; cf. turpitudo, humilis, obscurus; sordida plebs. 17 Cicero, in M. Antonium orationes Philippicae 3.19; de imperio Cn. Pompei 11; in Catilinam 4.20; pro L. Murena 1. 18 Cicero, de oratore 2.164. 19 Cicero, de officiis 1.124: debere eius (sc. civitatis) dignitatem et decus sustinere, servare leges [...] – For persona combined with magistrate cf. Pli-

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empire have a share in this collective dignity:20 the province of Sicilia,21 the senate,22 the praetor, the consul,23 the augures.24 To diminish this collective dignity (maiestatem minuere) is a grave crime.25 The crimen laesae maiestatis – of the state or, in later epochs, of the emperors (lese-majesty) – was high treason and punished with exile or death.26 To conclude this short history of Roman dignitas: there are many texts, in Cicero and in Roman literature in general, that concern them-

ny, Epistulae 1.23.5: sed tu [...] plurimum interest quid esse tribunatum putes, quam personam tibi imponas; quae sapienti viro ita aptanda est ut perferatur [...], see H.-P. Bütler, Die geistige Welt des jüngeren Plinius, 1970, p. 21. 20 Cicero, de domo sua 1.4; epistulae ad familiares 4.6.1: ut eorum luctum ipsorum dignitas consolaretur ea quam ex re publica consequebantur. Cf. Cicero, de imperio Cn. Pompei 14; in M. Antonium orationes Philippicae 10.7; pro L. Murena 1.1: Quodsi illa sollemnis comitiorum precatio [...] tantam habet in se vim et religionem, quantam rei publicae dignitas postulat. – Livy 37.54.14ff. 21 Cicero, in Verrem II.2.45.111. 22 Cicero, in L. Pisonem 64. 23 Consularis dignitas: Cicero, de lege agraria 2.2.3; in L. Pisonem 24: Magnum nomen est, magna species, magna dignitas, magna maiestas consulis; in Verrem II.3.38.87 praetoris dignitas. – For ›Amt und Würde‹ cf. Cicero, epistulae ad familiares 11.17; pro L. Murena 13; pro M. Aemilio Scauro 27; pro Sex. Roscio Amerino 12.33. – Livy 22.40.4: cum dignitates (»dignitaries«) abessent. 24 Cicero, Brutus 1.1; cf. Livy 10.7.12: reddere honorem sacerdotiis dignatione sua. 25 Cicero, de oratore 2.64: si maiestas est amplitudo ac dignitas civitatis is eam minuit, qui exercitum hostibus populi Romani tradidit. – partitiones oratoriae 105: maiestas est in imperii atque nominis [!] populi Romani dignitate, quam minuit is, qui [...] ad seditionem vocavit; de inventione 2.53: maiestatem minuere est de dignitate aut amplitudine aut potestate populi [...] aliquid derogare; cf. ibid. 2.55. 26 Cf. G. Rotondi, Leges publicae populi Romani, 1912 (= 1962), p. 339f.: lex Varia de maiestate (90 BCE; bellum sociale); p. 360: Lex Cornelia de maiestate (81 BCE); cf. Cicero epistulae ad familiares 3.11.2 (Asconius ad locum); Tacitus, Annales 1.72.

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selves with the dignity of the state, the citizen and the male; there is but one on the dignity of human nature. §2.2 Ratio and Natura §2.2.1 Natura and Ius Naturale Human dignity, Cicero claims, resides »in human nature«, and it is Nature herself who has imposed the first and the second mask upon all and everyone: she gave reason and freedom of moral decision to all human beings and a specific individuality to everybody. Man is born free and rational »by N/nature«.27 The use of ›Nature‹ and ›Reason‹ in this summary of Ciceroʼs teaching on the dignity of man requires a short comment. Nature – kósmos, phúsis (κόσµoς, φύσις) and Reason lógos (λόγoς) are key concepts of Stoic physics and ethics.28 Nature herself is rational; reason, thought of as an energetic, fiery substance, is dispersed in all things, inorganic and organic, in different form and concentration. Natura is creative, she acts according to rational rules (›laws of nature‹). Nature is a positive, normative force,29 which may even give certain »prescriptions«:30 ›Nature‹ prescribes that man should help man for the only reason that he is human. »All of us are bound by one and the same law of nature« – una continemur omnes et eadem lege naturae. By natural law, there is unity and equality amongst mankind. Stoic universalism declares the whole world to be one common state for

27 Ulpianus, in: Digesta 1.1.4 = Institutiones 1.5 pr.; cf. Ulpianus (?), in: Institutiones 1.2.2: iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur. 28 Sources: Cicero, de legibus, book I; de natura deorum, book II. 29 For the opposite evaluation of ›Natura‹ cf. J. Taubes, Vom Kult zur Kultur, Munich 1996, pp. 34 and 70. 30 Cicero, de officiis 3.5.7; 3.5.23 (no enrichment to the disadvantage of others): neque vero hoc solum naturâ, id est iure gentium, sed etiam legibus populorum constitutum est. This text is quoted in Lactantius, Inst. Div. 6.6; Ambrosius, de officiis magistrorum 3.24; Hieronymus, epistulae 133.1. – Cf. Corpus Iuris Civilis, Institutiones 1.2: ius naturale est, quod natura omnia animantia docuit.

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everybody. In this kosmo-polis Cicero even imagines »a kind of ius civile (civil right)« for all men (quasi ius civile).31 In this way, natural law, rule of reason, and natural rights, equal for all men, are linked together. §2.2.2 Ratio It is ratio (mind, reason) in which man excels beasts. Reason is, according to Stoic anthropology, the distinctive quality of man.32 What is morally good (honestum) and beautiful (decorum) is derived from this faculty to foresee, to plan, to select, to decide according to the rules of nature and reason. The mind functions as the steering centre hegemonikón (ἡγεµovικόv) of human actions. It controls the drives (hormé [ὁρµή], impetus) and represses the irrational affects (páthos [πάθoς], affectus). In this way reason governs, rules our actions.33 The Stoics developed this topic in great detail in books dealing with »actions« – peri práxeon (περὶ πράξεωv), de actionibus. Cicero does not postulate the extinction of urges or desire, nor the mortification of man, but moderation and respect (verecundia). It is from this rule of reason over the irrational forces that Cicero derived the »dignity of our nature«. The dignity of man resides in his first persona – reason and free moral decision. Drives and emotions, then, are subject to reason according to the law of nature: subiecti lege naturae.34 This hierarchy is repeated in the

31 Cicero, de finibus 3.19.64: (mundum esse) quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unumquemque nostrum eius mundi esse partem. – 67: quasi ius civile, but there is no legal society between man and animal. Cf. de finibus 4.3.7. Cf. M. Schofield, The Stoic Idea of the City, Cambridge 1991. 32 M. Forschner, Stoische Ethik, Darmstadt 1981, p. 59f. – In comparison to other Stoics Panaetius intensifies the difference between rational/irrational and, by analogy, between man and beasts, see Dyck, p. 260: »Panaetius differed from the the older Stoa in recognizing the hormé [ὁρµή] as an irrational element, independent of the lógos [λόγoς]«; cf. id. pp. 263 and 267. 33 Cicero, de officiis 1.36.132 and 2.5.18: ratio rules over appetitus, impetus, voluptas. Cf. Cicero, de finibus 5.9. 34 Cicero, de officiis 1.102, 105 (nihil sentiunt nisi voluptatem); cf. Dyck ad loc. – Cicero, de inventione 2.54.165: temperantia est rationis in libidinem atque in alios non rectos impetus animi firma et moderata dominatio.

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relationship of man and animal. Since animals, according to Stoic assumptions, have only senses and sensuality, they are fixed in the present and have only a limited foresight and memory, 35 man should rule over beasts as over his own sensuality, emotions, drives. There is no legal relationship between man and animal; the bounds of law are valid only among humans.36 Therefore man can make use of animals without doing wrong (sine iniuria), he can eat beasts, birds, fish. He has subdued animals to pull wagons, he has tamed elephants and trained dogs. With considerable self-assurance Cicero praises the success of human rule over the world: engineering, building, heating, and shipping. Man alone has the rule, he has the rule over everything:37 moderationem nos soli habemus – omnis est in homine dominatus. In Augustan time, Ovid, in his poem on the beginning of the world, has put into perfect verses this will to power:38 sanctius his animal mentisque capacius altae deerat adhuc et quod dominari in cetera posset »there was still need, in the beginning, of a more sublime animal and one with a higher mental capacity and which could be the master of the others«.

Enters homo sapiens. Samuel Pufendorf, when reviewing the Stoic anthropology, is perfectly right in quoting these verses in order to characterize this philosophical system. But before moving on to the history of the reception of Ciceroʼs formula, it might be useful to formulate an interim result.

35 Cicero, de officiis 1.4.11; cf. 1.28.101 (animals – impetus – appetitus); 1.30.105. Cicero has a more positive picture of the animals in de finibus 2.109: They show indicia pietatis, cognitionem, memoriam in multis etiam desideria videmus; they exhibit images of human virtues. 36 Chrysippos in Cicero, de finibus 3.20.66: ut bestiis homines uti possint sine iniuria. – On the connection between repression of desire and power see N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bern 21969 (= Frankfurt 1976). Cf. H. Cancik, »Römische Rationalität«, in: id., Antik – Modern, 1998, p. 55-97. 37 Cicero, de natura deorum 2.57.151. 38 Ovid, Metamorphoses 1.76f.; cf. 1.89ff.

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§2.3 Interim result ›Dignity of man‹ is a unique coinage of Ciceroʼs in his book on appropriate actions. It is a philosophical expression, a part of an anthropological and ethical argument. The ›dignity of man‹ is based on his reason, his self-control, and his rule over beasts and the world. Reason and capacity of free moral decision form the first persona; it is decidedly universal, common – communis. The word dignitas has a specifically Roman ring. It recalls to mind the majesty of the Republic and the magistrate or Caesar. Dignitas denotes rank, authority, splendor. The first occurrence of the expression ›dignity of man‹ is neither derived from religious concepts nor moulded from theological language. It is a philosophical expression, tinged with Romeʼs political tradition, invented by a Greek aristocrat, Panaetius of Rhodes, and translated into Latin by a Roman nobleman. The eventual connection of the concept of the dignity of man with Stoic theology required a further step: the logic of its relationship to the transcendent or divine qualities of Nature, Cosmos, Reason had to be clarified. Cicero, however, in his treatise on appropriate actions, avoided expanding the argument into theology. It was solely his stress upon anthropology, rationality, and the simple but strong everyday experience that man rules over all other animals that guaranteed the astonishing success of his discourse on the excellence, the pre-eminence, the dignity of man. The expression could be understood as pure ethics and thus be combined with Judaeo-Christian beliefs.

§3 T HE C ICERONIAN F ORMULA DIGNITAS IN M ANETTI , P ICO , P UFENDORF

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§3.1 Text, Commentaries, Translations of Ciceroʼs de officiis Ciceroʼs treatise on appropriate actions was used by Lactantius, Ambrosius, Jerome. It became »part of the bloodstream of Western culture«, as Andrew Dyck, in his monumental commentary, states with

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unusual emphasis.39 There are about 700 manuscripts from the 14th15th centuries. The text was printed for the first time in Mainz on the Rhine (by Fust and Schoeffer, 1465).40 Desiderius Erasmus published an edition with notes and a famous recommendation of Ciceroʼs moral teaching.41 Philipp Melanchthon (1497-1560) wrote a commentary;42 Johannes Sturmius43 and Joachim Camerarius,44 and some others printed notes and famous prefaces. Nowhere – this is the result of my provisional survey – nowhere is the formula dignitas hominis commented upon in great detail. Ciceroʼs anthropology and morals are approved of the doctrine of the persons is explained: But even after Picoʼs famous Oratio was published; the commentators did not recognize the momentum of this expression. The first translation into German was printed in Augsburg (Bavaria) 1488 (by Hans Schobser).45 Here, for the first time, appears »Wyrde des Menschen« in German literature.

39 Dyck, p. 43. 40 Dyck, p. 44. 41 P.S. Allen, Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 21906, esp. epistula 151 (to James Batt, April 5th, 1501), epistula 152 (to James Voecht, April 28th, 1501). Editions 1501; 1520 (with Frobenius in Bale). Cf. G. Vallese, »Erasmo e Cicerone: le lettere-prefazioni erasmiane al de officiis e alle Tuscolane«, in: Le parole e le idee 11 (1969), p. 265-272. 42 P. Melanchthon, Argumentum et Scholia in officia Ciceronis, 1525; id., Eruditae Annotationes in officia Ciceronis recens editae, Wittenberg 1562; cf. G. Binder (ed.), Philipp Melanchthon, Trier 1998, p. 21-31. 43 J. Sturmius, M.T. Ciceronis, de officiis lib. III, 1553. 44 J. Camerarius, M.T. Ciceronis, libri de officiis, Lipsiae 1548. 45 Peter Kesting, in: Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1, 1978, 1274-1282, esp. 1277f.. – Johann Neuber, Cicero der Römer zu seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern und zugehörungen eynes wol und rechtlebenden Menschen, Augsburg 1531 (bey Heynrichen Steyner), I c. XXV: »So wir auch die ubertreflicheyt und wyrde menschlicher natur betrachten, wird leycht gemerckt, [...]« – The prologue refers polemically to former translations which are to be improved. The translation is dedicated to Johann von Schwarzenberg (1463/65-1528) who had organized the work, embellished the book with pictures of Hans Weidlitz (?), and given a more agreable form to Neuberʼs literal translation. Cf. Gustav

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§3.2 Dignitas hominis in Quattrocento Italy §3.2.1 Gianozzo Manetti (1396-1459) In Quattrocento Italy there emerged a series of treatises on the nature and condition of man. The titles used Ciceroʼs anthropological terminology: on the excellence, the privilege, the nobility – and finally – the dignity of man.46 Gianozzo Manetti, an erudite jurist from Florence, had the title written with golden letters in the dedication copy from 1452: de Dignitate et Excellentia Hominis.47 Since 1583 his book is on the Index of forbidden books; Manetti refutes Pope Innocent III, who had written, centuries ago, on the misery of mankind.48 He proves the preeminence of man by quoting Aristotle, the Bible, Cicero, Hermetism.49 To offer only one example of this specific synthesis:50 itaque omnipotens Dominus ei in tanta ac tam sublimi dignitate constituto suapte natura indidit, ut se ipsum conservandi sui causa diligeret. [...] ut rerum omnium dominaretur. »Therefore the almighty Lord imposed on him, whom he has established in so great and distinguished a dignity, by his own nature that he loves himself for the sake of maintaining himself. [...] that he rules over all things«.

Radbruch, »Zu Johann von Schwarzenbergs Officien-Übersetzung«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 35 (1942), p. 143-154. 46 Cf. E. Garin, »La ›Dignitas Hominis‹ e la letteratura patristica«, in: Renascita 1 (1938), p. 102-146; A. Buck, l. c., p. XVII; P.O. Kristeller, »Frater Antonius Bargensis and his treatise on the dignity of man«, in: id., Studies in Renaissance Thought and Letters II, Roma 1985, p. 531-560. 47 Edition by Elizabeth R. Leonhard, Padova 1975, esp. p. XIV (title). German translation by Hartmut Leppin, Hamburg 1990, with introduction by August Buck and bibliography. 48 Lotario dei Segni (Pope Innocent III, 1160-1216), De Miseria Condicionis Humanae. Lotario writes in the prologue on »dignitas humanae naturae« as antithesis to »vilitas humanae condicionis«. 49 Manetti, de dignitate 2.19. – Manetti 3.3 quotes Cicero, de officiis 1.2.7; Manetti 3.7 quotes Cicero, de legibus 1.7. 50 Manetti 3.49.

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Self-consciousness, self-love and conservation of the self are key terms of Stoic anthropology; nature is still a protagonist, but the director of the worldʼs theatre has become the almighty Lord. The Christianisation of Stoicism, however, did not change the result: the dignity of man resides in the wonderful fabric of his body (dignitas corporis), the incredible gifts of his mind,51 and his position over all animals and things. They are his subjects (subiecta).52 It is manʼs honour (honos) to have the domination over the world.53 Biblical and Stoic quotations converge smoothly into a high-spirited encomion on mankind, especially its male component, and, at the peak of this hierarchy, the king, Alfonsus of Aragon in Naples.54 The king is a living example of a perfect man: deo quasi similis.55 This appears to be a somehow disappointing political narrowing of a philosophical discourse on the common nature of man. §3.2.2 Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Oratio (1486) In 1486 Giovanni Pico della Mirandola composed an introductory speech which he was not able to hold because he was tried and banned by the Inquisition. After his premature death (1494), what Giovanni Pico had called »Oratio« was printed under the title Oratio de hominis dignitate. The autographon is lost, the first printing was overseen by Picoʼs nephew Gian Francesco Pico; to him the speech owes its title.56 This title continues the series of Quattrocento treatises on the nature of man.57 It sounds definitely Ciceronian and has some support in Picoʼs

51 Manetti 4.71: animi celsitudo ac sublimitas; the attribution of these gifts by the creator and by Nature is corroborated by quotations from Cicero, de natura deorum 2.134-146 in: de dignitate 1.7; 1.9; 1.11; 1.12. 52 Manetti 3.37, quoting Psalm 8 (ma enosch). 53 Manetti 1.50: illi tantum honoris attribuit ut rerum omnium dominaretur. 54 Manetti 4.73. 55 Manetti, de dignitate, praefatio. 56 First edition by Gian Francesco Pico, Bologna 1496 (Benedictus Hectoris; Hain *12 992); cf. Tognonʼs edition, p. IX. At the end of the Oratio the title reads de homine. 57 Pico himself points to the genre by his praeteritio in Oratio §1: multa de humanae naturae praestantia afferuntur a multis.

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works.58 A new edition was published in Strasbourg (1504; Joh. Prüss der Ältere) with a preface by Jacob Wimpfeling (1450-1528) who, in several letters, recommended Picoʼs work.59 At this point, one may assume, a second track emerged – besides Ciceroʼs own works – through which the term »dignity of man« spread in Western Europe.60 Pico extols man, the middle of the world, the knot which binds together the mortal elements and unites the mortal with the eternal; he praises the penetrating force and swiftness of the human mind and its rule over the world. In general, this is in harmony with Manetti or even Ciceroʼs less speculative anthropology and sober moral teaching. Picoʼs sources, however, are Greek rather than Roman: Florentine Platonists, Hermetic, Jewish and Christian traditions on the first man, his fall and salvation. The tone is elevated, highly speculative; he dwells on the doctrine of imago Dei and the mysteries of the Trinity;61 there is no argument on natural law, on free and equal birth, on kosmopolis. I

58 Pico, Heptaplus 5.6: in animo trinitatis imago [...] unde et dignitas ei propria [...] quo etiam factum, ut servire illi (homini) nulla creata substantia dedignetur; 5.7: in tanta dignitate constituti. – Regulae XII, no.8: hominis dignitas et natura. 59 Wimpfeling, »Introductory letter«, March 21st, 1504 (ed. HerdingMertens, nr. 156); cf. Wimpfeling to Peter of Eberbach, January 21st, 1506 (ibid. nr. 205), to Hans of Schoenau, June 1st, 1509 (ibid. nr. 252). The edition is made from the Bolognese print of 1496 by Hieronymus Emser. Cf. J. Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet¸ 21982. 60 Cf. A. Buck, Introduction, 1990, pp. XXIIff.: Italy, France, England, Hungary; no information on the dissemination of the title and its use as a term in early modern anthropology. 61 Pico, Heptaplus l.IV: de mundo humano, id est de hominis natura; IV 6: [...] factum a Deo hominem ad suam imaginem ut praeesset piscibus, avibus et bestiis [...] unde illi in bruta ditio et imperium. Sic etenim a natura institutus homo ut ratio sensibus dominaretur [...]. [Because of the original sin, however we started] servire bestiis nostris [i.e. ira, libidinis furor et appetentia] [...] cupidi terrenorum, obliti patriae, obliti patris, obliti regni, et datae in nobis [in] privilegium pristinae dignitatis.

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do not know whether there is any connection to the tradition from which the ideas of the »rights of men and citizens« were to arise.62 §3.3 Stoic Concepts in the Anthropology of Samuel Pufendorf (1632-1694) §3.3.1 »[...] dignity of man at a central position [...]« (Hans Welzel). The first author, to bring the concept of dignity of man into a central position in anthropology, was Samuel Pufendorf.63 Hans Welzel who has put forward this thesis in his dissertation (Jena 1928) analyzes Pufendorfʼs anthropology and quotes a striking proof from »de iure naturae et gentium« (1672):64 Requirebat humanae naturae dignitas, et praestantia, qua caeteras animantes eminet, ut certam ad normam ipsius actiones exigerentur, quippe citra quam ordo, decor, aut pulcritudo intelligi nequit. Maxima inde homini dignatio, quod

62 Manetti and Ficino are not in the index of authors quoted in Pufendorfʼs de Iure Naturae et Gentium. 63 Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (doctoral thesis Jena 1928). Revised edition 1958, p. 47: »Bei Pufendorf erscheint zum ersten Male der für die Folgezeit (bis einschließlich Kant) so wichtige Begriff der Menschenwürde an zentraler Stelle des naturrechtlichen Begründungszusammenhanges, während z. B. noch Grotius von dignitas humana nur innerhalb des Bestattungsrechts im Hinblick auf den entseelten menschlichen Körper spricht. Da nun Pufendorf diese in der Menschenwürde begründete oberste Norm des Handelns im Gebot der Sozialität ausgesprochen fand, mußte sich für ihn eine eminente soziale Struktur des Naturrechts ergeben«. Cf. id., Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (1951) 41962 = 1980, pp. 140-142; p. 141: »Die auf der sittlichen Freiheit gegründete Idee der Menschenwürde steht im Mittelpunkt des naturrechtlichen Systems Pufendorfs. Sie erfüllt den Sozialitätsgedanken mit seinem eigentlichen Inhalt [...]«. – Welzelʼs philosophical and historical analysis seems convincing to me; less so, however, his emphasis on diginitas hominis. This phrase is very rare in Pufendorf and cannot be taken as a central term of the author. But socialitas, the emphatic use of homo (normative and social), intellectus etc. prove that Stoic anthropology and morals is the core of Pufendorfʼs argument. 64 Pufendorf, de Iure 2.1.5.

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animam obtinet immortalem, lumine intellectus, facultate res diiudicandi et eligendi praeditam [...] Ob quam ille audit sanctius reliquis animal mentisque capacius altae et quod dominari in caetera posset (Ovid, Metamorphoses 1.76f.). »The dignity and pre-eminence of human nature by which it excels over other living beings required that human acts were judged according to a fixed norm, because there cannot be conceived of any order, splendor or beauty beyond this dignity. The greatest dignity for man derives from this, that he has an immortal soul which is distinguished by the light of intelligence, the capacity of deciding and choosing [...] Because of his soul man is called an animal more holy than the other, capable of a deep mind, and able to rule over the other animals.«

The text reproduces Stoic anthropology, modified by the Platonic (or Christian) doctrine of the immortality of the soul. Moreover, the text assimilates Ciceronian phrases from de officiis and the specific terminology of the Good and Beautiful (decorum).65 There is more evidence that Pufendorf uses Cicero directly, not mediated by authors of NeoStoicism.66 He does not name Cicero for every quotation, nor does he with other classics, like Virgil and Ovid, whose verses he inserts without giving any details on authors or works. He indicates his sources only when referring to scarcely known texts from Solinus, Manilius, Libanius or the Greek author Oppian (in which case he adds a Latin version).67 Pufendorf had studied classics at Leiden; he could expect readers who knew »the books of the Stoics, Seneca, Epictetus, Marcus Antonius (Aurelius)«.68 In Pufendorf the formula ›dignity of man‹, the history of which I have endeavoured to outline in this paper, appears integrated in a modernized, but still genuine, Stoic context. In the fabric of Pufendorfʼs

65 Cicero, de officiis 1.30.105-107, see above §1.1.3. 66 Cf. e. g. Pufendorf, de Iure 1.3.1: Ex hoc igitur dignitas hominis prae brutis maxime elucet. – 1.3.4: Animantia bruta, quae infra nostram condicionem posita sunt [...] etc. 67 Pufendorf, de Iure 2.1 §5 (Ovid, Metamorphoses 1.76f.); §7 (Virgil, Aeneid); §6 (Oppian, Kynegetica 3). 68 Pufendorf, de Iure, Praefatio 2I (Oldfather I p. 2 verso = vol.II p. IV); cf. »Praefatio« of the edition of 1688 (Oldfather, vol I, III).

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natural law, Stoic concepts are the structural framework: Nature;69 unity of mankind;70 equality of men;71 the human as a deficient animal depending on society;72 homo (man) as a normative and social term;73 self-consciousness, self-love, self-conservation as principles of human life; the doctrine of persona;74 the comparison man/animal as a method of anthropological thought; the doctrine of intellectus and moral action;75 even the doctrine of oikeíosis (oἰκείωσις, conciliatio; ›reconciliation of man and nature‹). Thus, in the 17th century, the phrase of ›Dignity of man‹ emerges in a decidedly Stoic context. This is important enough, even if this phrase does not denote the centre of Pufendorfʼs system.76 The works of Samuel Pufendorf, the humanist and jurist from Saxony, became known in Europe and, by the writings of John Wise (1652-1725) who used an English translation of 1710, in the colonial states of America. It was Hans Welzel, again, who has pointed out that John Wise propagated the teaching of Pufendorf, his »Chief Guide and Spokes-man«.77 In the debate on the constitution of the Congregational

69 Pufendorf, de Officio 1.3.11; de Iure 1.3.1-3; §3: naturalis rectitudo; intellectus hominis naturaliter rectus. 70 Pufendorf, de Iure 2.3.6: cognatum et aequalem; 2.3.18: a natura cognatum animal. 71 Pufendorf, de Iure 2.3.6; cf. Cicero, de officiis 3.26. 72 Cf. Welzel, Pufendorf, pp. 43f. 73 Pufendorf, de Iure 2.3.18; cf. Cicero, de officiis 3.27; cf. Welzel, Pufendorf, p. 47. – Do imago-Dei-metaphors occur in Pufendorfʼs works? 74 Pufendorf, de Iure 1.1.7 with quotation of Cicero, de officiis 1.28 (= 30. 105-109): Nobis primam imposuit ipsa Natura magna cum excellentia praestantiaque animantium reliquorum. 75 Pufendorf, de Iure 1.3: De intellectu hominis prout concurrit ad actiones morales; Pufendorf uses the following terms: res adpetendae/reiiciendae; intellectus rectus; assensus – Gr. synkatáthesis (συγκατάθεσις). 76 This modification of Welzelʼs thesis seems necessary because of Pufendorfʼs scant use of the phrase. 77 John Wise, A Vindication of the Government of New-England Churches (1717; 21772). A Facsimile Reproduction with an Introduction by Perry Miller, Gainsville (Florida), Scholarsʼ Facsimiles and Reprints, 1958, p. 32; cf. P. Millerʼs Introduction, p. XV: »For the content of his second demonstration Wise relied heavily upon an English translation (1710) of

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Churches in New England, Wise quotes Pufendorfʼs text on equality, liberty and dignity of man. His »golden Maxims« read as follows:78 »Particular 1. That the People or Fraternity under the Gospel, are the first Subject of Power; or else Religion sinks the Dignity of Humane Nature into a baser Capacity with relation to Ecclesiastical, then it is in, in a Natural State of being with relation to Civil Government. Particular 2. That a Democracy in Church or State, is a very honourable and regular Government according to the Dictates of Right Reason. And therefore, Particular 3. That these Churches of New-England in their ancient Constitution of Church Order; it being a Democracy, are manifestly Justified and Defended by the Law & Light of Nature«.

It was Pufendorf and Wise who handed down ancient traditions of natural law, Stoic anthropology, and, with it, the formula of »dignity of man« to the constitutional discourse of the 18th century in America and France.79 §3.4 The Stoic impact on Kantʼs concept of dignity of man In 1941 there appeared in Leipzig (Saxony) an attractive little volume entitled: »Immanuel Kant, Von der Würde des Menschen«. The title may surprise, even more the date and place. The volume, however, number 228 in the »Insel-Bücherei«, does not contain an essay by

Baron Samuel Pufendorfʼs De Iure Naturae et Gentium (first published in 1672). A few of his paragraphs are substantial paraphrases. (Wise appears to have been entirely unaware of Locke.) But even when he borrowed, he inserted twists of his own, colloquialisms that come from the New England community. And his blanket assertion of the superiorities of democracy over both monarchy and aristocracy is not Pufendorfʼs; it is pure Wise«. – Cf. Leonard Krieger, The Politics of Discretion. Pufendorf and the Acceptance of Natural Law, Chicago 1965. 78 John Wise, A Vindication, pp. 67f. 79 Neither in the Virginia Bill of Rights (1776) nor in the French Declaration of 1791 nor in the French Constitution of 1793 appears »dignity of man«. The connection to the modern discourse that led to the UN-charter (1945) is unknown to me.

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Kant, but excerpts from his writings pertaining to the topic »dignity of man«, arranged on 77 pages by the editor Hans Thomae.80 The florilegium is not authorized through a specific outline by Kant himself. Nevertheless, it offers a useful collection of some – not all – Kantian texts which exhibit the term ›dignity‹ of person, man, mankind. Statistics prove that »Menschenwürde« occurs five times in Kantʼs oeuvre, »Würde«, however, has 2450 instances; it is frequently combined with »Menschheit« (humankind), or »menschliche Natur« (human nature).81 Kant himself explicitly acknowledges the Stoic tradition which he had modified and modernized:82 »Diese Philosophen [sc. the Stoics] nahmen ihr allgemeines moralisches Prinzip von der Würde der menschlichen Natur, der Freyheit (als Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen), her; ein besseres und edleres konnten sie auch nicht zu Grunde legen. Die moralischen Gesetze schöpften sie nun unmittelbar aus der, auf solche Art, allein gesetzgebenden und durch sie schlechthin gebietenden Vernunft, [...]«.

80 I. Kant, Von der Würde des Menschen, ed. Hans Thomae, Leipzig 1941, reprints: 1944; 1948. – H. Thomae (*1915) was an ›Assistant‹ of Philipp Lersch at the University of Leipzig (1939-1943), became Professor of psychology in Erlangen (1953) and Bonn (1960). – The topic was used in basic statements, formulated at that time in German opposition and exile groups. The National Committee »Freies Deutschland« proclaimed (July 19, 1943): »[...] Aufhebung aller gegen die Freiheit und Menschenwürde gerichteten Zwangsgesetze der Hitlerzeit«, in: Wolfgang Benz (ed.), Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes, 1979, p. 92 (Manifest an die Wehrmacht und das deutsche Volk). Compare the postulates which the »Kreisauer Kreis« formulated in August 1943 (ibid. p. 95): »3. Brechung des totalitären Gewissenszwangs und Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenden Rechts- und Friedensordnung«. 81 Gottfried Martin (ed.), Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften, Berlin 1967, vol.17, »Wortindex zu Band 1-9« (bearbeitet von Dieter Krallmann und Hans A. Martin), vol. 2 (L-Z), s.v. – Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Berlin 1930, pp. 612-13: »Würde«. 82 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg (1793), 21794, Zweytes Stück, p. 709, note (edition by W. Weischedel, vol. 7, 1968).

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This text sounds like a summary of Cicero, but represents rather the stoicising tradition of moral philosophy in the 18th century. Another text resembles strongly Ciceroʼs educational endeavours. Kant, in an essay on pedagogy, writes:83 »daß der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt und seine Pflicht ist es, diese Würde der Menschheit in seiner eigenen Person nicht zu verleugnen. Die Würde der Menschheit aber verleugnen wir, wenn wir zum Exempel uns dem Trunke ergeben, unnatürliche Sünden begehen, alle Art von Unmäßigkeit ausüben usw., welches alles den Menschen weit unter die Tiere erniedrigt. Ferner wenn ein Mensch sich kriechend gegen andere betätigt, immer Komplimente macht, um sich durch ein so unwürdiges Benehmen, wie er wähnt, einzuschmeicheln, so ist auch dieses wider die Würde der Menschheit. Die Würde des Menschen würde sich auch dem Kinde schon an ihm selbst bemerkbar machen lassen [...]«.

This is the most extensive and coherent text in Kantʼs oeuvre in which the term ›dignity of man‹ is used several times and as a basic term.84 It is rather perplexing that this occurs in a text on childrenʼs education, teaching good manners, modesty, cleanness: no drinking, no unnatural sins, sharing bread and butter. This reminds us of Ciceroʼs attempt to bring his son to self-control and restraint; his argument, too, was the excellence and dignity of man over beasts.85

83 I. Kant, »Über Pädagogik« (1803), in: Kantʼs Werke, vol. IX (ed. by Friedrich Theodor Rink, notes by Paul Natorp), Berlin – Leipzig 1923 (Akademie-Ausgabe), pp. 437-499; p. 489: »Die Pflicht gegen sich selbst aber besteht, wie gesagt, darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahre«. 84 More important for philosophical anthropology than for the history of ideas are fundamental statements in Kantʼs Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), pp. 393ff.; 439 etc.; cf. G. Löhrer, Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants, Freiburg/Munich 1995, passim. 85 Cicero, de officiis 1.30.105. – In Kantʼs pedagogy the editor (p. 496) has rightly commented Kantʼs teaching on sex and shame by Ciceroʼs passage on this topic from de officiis 1.35.

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The impact of Stoicism on Kant is generally agreed on.86 It was effective through the ancient authors themselves and their contemporary translators and, indirectly, through Kantʼs teachers and colleagues (Christian Wolff, Alexander G. Baumgarten, Christian Garve).87 Max Wundt recognized88 that Kant started his foundation of the metaphysics of morals as an »Anti-kritik« of the translation and the meditations on Ciceroʼs treatise On Appropriate Actions which Christan Garve (1742-1798) had published in 1783.89 His translation of our core text (Cic., de officiis 1.30) reads as follows:90 »Zur Beobachtung dieser Pflicht aber, so wie aller andern, ist es ein großes Hülfsmittel, sich die Vorstellung von der Würde des Menschen , und seinem über die Thiere erhabenen Range gegenwärtig zu erhalten [...] Ein inneres Gefühl sagt uns also, daß das körperliche Vergnügen der Würde unserer Natur nicht angemessen genug sey; und daß [...] In der That, wenn wir bedenken, was der Mensch sey, welche Kräfte in seiner Natur liegen, zu welcher Vortreflich-

86 Katharina Franz, Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Moralphilosophie der deutschen Aufklärung, 1940; Willi Schink, »Kant und die stoische Ethik«, in: Kant-Studien 18 (1913) 419-475; Maximilian Forschner, Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, pp. 60-68; 104-107; G. Löhrer, Menschliche Würde, p. 35 with notes 3 and 4. 87 Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935, pp. 27ff.: Panaetius – Cicero, de officiis; Carlos Melches Gibert, Der Einfluß von Christian Garves Übersetzung Ciceros ›de officiis‹ auf Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹, Regensburg 1994 (doctoral thesis Trier 1991), 102 pp. 88 Max Wundt, Kant als Metaphysiker, Stuttgart 1924, p. 306; Reich, Kant, pp. 27f. quotes a letter of Johann Georg Hamann to Johann Gottfried Herder, February 8, 1784: »Kant soll an einer Antikritik über Garvens Cicero arbeiten«. 89 Chr. Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero übersetzt von C. G., Breslau bey Wilhelm Gottlieb Korn 1783; the book is dedicated to Frederick II, King of Prussia. – Together with the translation, Garve published his Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros Büchern von den Pflichten (Breslau 1783). – The fourth edition of the translation and explanation printed in Breslau (Wroclaw) 1792 has a few changes. 90 Garve, Abhandlung, pp. 79-80.

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keit er gelangen könne: so werden wir seiner nichts unwürdiger finden, als in Weichlichkeit diese Kräfte zu verzehren [...]«.

In the discourses in which Garve deals with several topics from Ciceroʼs treatise, Garve did not pay any attention to the passage on the dignity of man. The term ›dignity of man‹ has little systematic relevance in Kant, it is irrelevant for Garve. There are, on the other hand, some hints that, already in the last decades of the eighteenth century, the rhetoric of dignity became irksome. In 1797 Friedrich Schiller published a couple of epigrams on political topics. One out of this series runs as follows:91 »Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, Habt ihr die Blösse bedeckt, giebt sich die Würde von selbst«.

§4 R ESULTS FOR A H ISTORY ›D IGNITY OF M AN ‹

OF THE

F ORMULA

In my short notes on the formula ›dignity of man‹, seven stages may be discerned. It is but a sketch dealing exclusively with the formula, not the idea, the concept, nor opinions, images, vague notions which should have existed much earlier; my concern is the word, the formula, and its context and influence.92 1)

Rome ca.128/44 BCE First emergence of the terms ›dignitas hominis‹ and ›prima persona‹ in Stoic anthropology.

91 F. Schiller, Musenalmanach 1797, pp. 32-33. English version: »No more on this, I pray you. Give him food and shelter; When you have covered his nakedness, dignity will follow by itself«. – The titles of the other epigrams: »An die Gesetzgeber«; »Die beste Staatsverfassung«; »Politische Lehre«; »Würde des Menschen«; »Majestas Populi«; »Das Ehrwürdige«. 92 The formula is »dignitas hominis (et excellentia, praestantia)«, not: humana dignitas (which is e. g. in Thomas of Aquino, STh II II q. 64.2) nor dignitas humanae substantiae (which was in Christian liturgy, and now has been abolished).

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2)

3)

4)

5)

6)

7)

Italy, Quattrocento (1452; 1496) The formula is used for the first time as a title (Manetti; Pico) – out of Ciceronian tradition, but apparently without influence on the discourse on natural law and human rights. Bavaria (Germany), 1488 (and 1531) First occurence in a German dialect – translation of Cicero, de officiis. Sweden, 17th century93 The formula appears, for the first time, in a more or less »central position« (Hans Welzel) and in a juridical system – direct influence of Cicero – the context is neo-Stoic. Massachusetts, 18th century First appearance in an English94 draft constitution; direct influence of Pufendorf. Prussia (Germany), 1787-1803 The term »Menschenwürde« gains a certain subordinate place in Kantʼs anthropology; direct and indirect influence of Stoic tradition and Cicero. Leipzig (Germany), 1941 First appearance of an anthology in German with the title »Von der Würde des Menschen«; Kantian anthropology and morals.

Historical sentences, which claim ›first occurence of something‹ are liable to be disproved soon. Nevertheless they give, I hope, a certain orientation in a broken ground of intellectual history. The various stages of this history are not strongly interconnected. There is no ›evolution‹ from Pico to Pufendorf, nor from Pufendorf to Kant. Up to the

93 Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium was published in Lund (1672) and Frankfurt (1684). 94 Earlier probably in an English translation of Cicero, de Officiis. The earliest instances in the British Museum Catalogue of Printed Books are: (a) The thre bookes of Tullyes offyces, bothe in latyne tonge & in englysshe, lately translated by Roberte Whytinton poete laureate. London: Wynkyn de Worde, 1534; (b) Marcus Tullius Ciceroes thre bokes of duties, to Marcus his sonne, turned out of latine into english, by Nicolas Grimalde. London: Richard Tottle, 1556. – The translation of Ciceroʼs, On Old Age, by T. Tiptoft, Earl of Worcester, was printed in 1481 by Caxton. (Researched and kindly communicated by Ms. Christine Baatz, Tuebingen).

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middle of this century it is mainly the text of Cicero and a general Ciceronian tradition which bestows a certain coherence on the history of the formula ›dignity of man‹.

B IBLIOGRAPHY 1.

Ancient works and authors

Arnim, Hans von, Stoicorum Veterum Fragmenta, Stuttgart 1905, reprint 1965 (SVF). Cancik, Hubert, »Persona and Self in Stoic Philosophy«, in: Self, Soul & Body in Religious Experience. Ed. by A.I. Baumgarten with J. Assmann & G.G. Stroumsa, Leiden 1998, 335-346. Colish, Marcia L., The Stoic Tradition from Antiquity to the Early Middle Ages, vol. I: Stoicism in Classical Latin Literature, Leiden etc. 21990 (chap. 2: »Cicero«; chap. 6: »Stoicism in Roman Law«; rich bibliography). Dyck, Andrew, A Commentary on Cicero, de Officiis, Ann Arbor 1996. Forschner, Maximilian, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 1981. Gill, C., »Personhood and Personality. The Four-personae Theory in Cicero, de Officiis 1«, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 6 (1988), 169-199. Gundel, H., »Der Begriff maiestas im politischen Denken der römischen Republik«, in: Historia 12 (1963), 283-320. Pöschl, Viktor, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Heidelberg 1989, 3. Puhle, Annekathrin, Persona. Zur Ethik des Panaitios, Frankfurt etc. 1987. Rémy, E., »Dignitas cum otio«, in: Le Musée Belge 32 (1928), 113127. Rist, John, Stoic Philosophy, Cambridge 1969. Wegehaupt, Helmut, Die Bedeutung und Anwendung von dignitas in den Schriften der republikanischen Zeit, Diss. Breslau 1932.

352 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Wilkin, Robert N., »Cicero and the Law of Nature«, in: Arthur L. Harding (ed.), Origins of the Natural Law Tradition, Dallas 1954, 125. Wirszubski, C., »Ciceroʼs cum dignitate otium: A Reconsideration«, in: Journal of Roman Studies 44 (1954), 1-13. 2.

Reception of Stoic Philosophy

Buck, August, Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990. Cancik, Hubert, »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Religions- und philosophiegeschichtliche Bemerkungen zu Art. I, Satz 1 GG, (1987), in: id., Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte. Ed. by R. Faber, B. v. Reibnitz, J. Rüpke, Stuttgart/Weimar 1998, 267-291. Forschner, Maximilian, Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998. Franz, Katharina, Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Moralphilosophie der deutschen Aufklärung, Halle 1940. Garve, Christian, Ciceros Abhandlung über die menschlichen Pflichten, Breslau 1783. Löhrer, Guido, Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants, Freiburg/München 1995. Manetti, G., De dignitate et excellentia hominis, ed. E. Leonhard, Padova 1975. Melches Gibert, Carlos, Der Einfluß von Christian Garves Übersetzung Ciceros de officiis auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Regensburg 1994. Pico della Mirandola, Giovanni, De dignitate hominis, ed. E. Garin, Bad Homburg 1968. Pico della Mirandola, Giovanni, Discorso sulla dignità dellʼuomo, a cura di G. Tognon, Brescia 1987. Pufendorf, Samuel, »De iure naturae et gentium«, in: Samuel Pufendorf. Gesammelte Werke, vol. 4 (ed. F. Böhling), 1998. Radbruch, Gustav, »Verdeutschter Cicero. Zu Johann von Schwarzenbergs Officien-Übersetzung«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 35 (1942), 143-154. Reich, Klaus, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935.

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Welzel, Hans, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958. Welzel, Hans, »Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise und Samuel Pufendorf)«, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952, 387-411. Wise, John, A Vindication of the Government of New England churches (1717. 21772). A Facsimile Reproduction with an Introduction by Perry Miller, Gainsville (Florida) 1958 (= Scholarsʼ Facsimiles and Reprints). Zielinski, Thaddaeus, Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Leipzig 4 1929.

IV Kritischer Humanismus

»Alle Gewalt ist von Gott« Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren

§1 »ALLE G EWALT

IST VON

G OTT «

§1.1 Der Text: Römer 13,1-7 A

Jede Seele soll sich den Gewalten, den überlegenen, unterordnen!

BI

Denn nicht ist Gewalt wenn nicht von1 Gott, die seienden aber von Gott geordnet sind sie. So daß, wer sich wider die Gewalt ordnet, der Anordnung Gottes widersetzt er sich. Die sich aber widersetzen, werden sich selbst das Urteil nehmen.

II

Denn die Herrschenden sind nicht Furcht für das gute Werk sondern das schlechte. 1 Willst du nicht fürchten die Gewalt? Das Gute tu und du wirst Lob von ihr haben. Denn Gottes Dienerin ist sie dir zum Guten. 2 Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht grundlos trägt sie das Schwert. Denn Gottes Dienerin ist sie, Anwalt2 zum Zorn dem, der Böses tut.

1

Die Übersetzung »unter« empfiehlt sich aus sprachlichen Gründen nicht. Vgl. 1Clem 61,1: »Sich unter (hypó [ὑπό]) die von (hypó [ὑπό]) dir (Gott) ihnen (den Herrschern) gegebene Herrlichkeit und Ehre unterordnen«. »nicht – wenn nicht« ist ein starkes »nur«, vgl. Röm 7,7. Beachte das Wortspiel: hypér – hypó (ὑπέρ/ὑπό): die oben – die unten.

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C

Deshalb: Zwang (ist), sich unterzuordnen – 1 nicht nur wegen des Zornes, sondern auch wegen des Gewissens.3 Denn deswegen zahlt ihr ja auch Abgaben: Denn die ›Bevollmächtigten‹ Gottes beharren eben hierauf. 2 Zahlt allen die Schulden: dem die Abgabe (geschuldet wird), die Abgabe dem der Zoll, den Zoll dem die Furcht,4 die Furcht dem die Ehre, die Ehre.

§1.2 Die Form Der Schlußteil des Briefes an die Römer (c. 12-15) ist, wie in aller Briefliteratur üblich, eine Reihe von Zurufen,5 von Rufen zu maßvoller Besinnung (12,3), Rufen der Mahnung und Warnung, von Bitten, Wünschen, Drohungen mit dem Gericht und dem Schwert.6 Die Zurufe sind kurze Sätzchen im Imperativ, im höflichen Konjunktiv, im ent-

2

Die Bedeutung des Wortes ékdikos (ἔκδικος); ist unsicher. Vgl. 12,19. Der Bezug 13,4/12,8 ist für die Kompositions- und Quellenanalyse wichtig.

3

Rückbezug auf V. 1. Das Gewissen weiß um die Anordnung Gottes und führt zur Einsicht; der Zorn Gottes erregt Furcht vor Gott bzw. seiner Dienerin, der Gewalt. Dieser Rückbezug zeigt die relative innere Geschlossenheit der Partie 13, S. 1-7.

4

phóbos (ϕόβος) ist »Furcht« und nicht »Ehrfurcht« (aidós [αἰδώς]/verecuncdia), gegen Strobel, 1964: eine Auseinandersetzung mit Strobels Aufsätzen kann hier nicht erfolgen; seine sprachlichen und historischen Argumente scheinen mir nicht überzeugend.

5

parakaleín (παρα-καλεῖν) 12,1/15.30. – Das Verb bedeutet schon im klassischen Griechisch auch »ermuntern«. Der Hinweis auf hebr. nhm und Gen 6,7; Jes 40,1 (Veerkamp) führt also nicht über den griechischen Sprachgebrauch hinaus weiter. »Es geht nicht um einen neuen Moralkodex, es geht nicht um Ermahnungen« (Veerkamp, 8): die Abneigung gegen moralisierende Religion ist verständlich, ebenso das Bedürfnis nach Ermutigung. Aber wozu soll – »zahlt allen die Schulden« – ermutigen? Das Sätzlein – »denn sie trägt das Schwert« – ist eine Bedrohung. Vgl. etwa: Epiktet, Diatriben 4,7,1. 3. 25.

6

13,2. 4.

»A LLE G EWALT

IST VON

G OTT « | 359

schiedenen Futur oder in einem Präsens, das den gewünschten Zustand als bereits bestehend vorwegnimmt.7 Aus dieser lockeren8 Reihe heben sich die zitierten Verse deutlich heraus. Der Stil wechselt von Paränese zur Argumentation. In den zitierten sieben Versen finden sich zehn starke logische Partikeln, doppelt so viele wie in den sieben ersten Versen des zwölften Kapitels.9 Der Themasatz (13,1) formuliert allgemein und sehr abstrakt: »Jede Seele – alle Gewalt«. Die nach Sprache und Inhalt gleichermaßen harte Folgerung – »deshalb Zwang (ist es), sich unterzuordnen« – greift auf das Stichwort des Themasatzes »Unterordnung« zurück. Dadurch entsteht ein relativ geschlossener Komplex von »grundsätzlicher Paränese«.10 Von Kontext und Form

7

Zur Syntax und Logik der paränetischen Sprache s. Hildegard Cancik, Untersuchungen zu Senecas epistulae morales, Hildesheim 1967 (= Spudasmata 18).

8

Die »offene Form« ist die Struktur zahlreicher paränetischer Werke. Hesiod und Theognis sind gut erforschte Beispiele, wie Interpolationen in diese offene Form eindringen und wie schwer sie nachzuweisen sind. Aus diesem Grund können Gliederungen – auch die hier §1.1 vorgeschlagene – nur wenige Aspekte der Struktur einfangen. – Veerkamp/Jankowski versuchen, Röm 13,1-7 sozusagen nahtlos in den Kontext einzupassen; dieser exegetischen Absicht dient auch die fortlaufende Schreibung des Textes, durch die eine gewiß relativ junge Absatzgliederung unserer gedruckten Ausgaben und deren interpretatorische Vorgaben unterlaufen werden. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß es natürlich auch in antiken Texten Absätze gibt, daß die Antike eine hohe Technik der optischen Gestaltung von Texten entwickelt hat; vgl. H. Cancik, »Der Text als Bild. Über optische Zeichen zur Konstitution von Satzgruppen in antiken Texten«, in: H. Brunner/R. Kannicht/K. Schwager (Hg.): Wort und Bild, München 1979, S. 81-100.

9

13,1-7: gar (γάρ) – 7; dió (διό), diá toúto (διὰ τοῦτο) – 2; hóste (ὥστε) – 1. In 12,1-7: gár (γάρ) – 3; oún (οὖν) – 1; katháper (καθάπερ) – 1. Eine ausführlichere stilistische Analyse müßte die Satzformen berücksichtigen (Bedingungssätze), die Antithesen etc.

10 Käsemann 1959, S. 335; 337: »ein selbständiger Block«. Stichwortverbindungen zu den umliegenden Teilen sind vorhanden, aber relativ selten: 12,19/13,4: 13,7/13,8. 12,21 ist m. E. Schlußsatz von c. l2 und nicht Titelsatz zu 13,1-7. Über das Problem von Abgrenzungen, Gliederungen etc. in Texten mit lockerer Struktur s. o. Anm. 8. Eine Parallele zu dieser ›genera-

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her ist also in unserer Partie keine Staatsmetaphysik zu erwarten, wozu sie christliches Obrigkeitsdenken oft genug stilisiert hat. Andererseits ist unsere Partie nicht eine lose Reihe von Verhaltensmaßregeln zum Umgang mit römischen Beamten im alltäglichen hellenistischen Behördenjargon. §1.3 Untertanenspiegel Als Begriff für diese Textsorte bietet sich der Ausdruck ›Untertanenspiegel‹ an.11 Von unten her gesehen der Staat: allgewaltig, unfehlbar, das Richtschwert in der einen, die Steuerforderung in der anderen Hand. Der Untertan hat Pflichten: sich unterordnen, das Rechte tun, zahlen, Furcht und Ehrʼ erweisen. Rechte hat dieser Untertan nicht, vor allem nicht das Recht zum Widerstand. Nach dem Schema der neutestamentlichen ›Haustafeln‹ erwartet man, daß die Pflichten des Untertanen durch die des Fürsten begrenzt werden. »Die Frauen sollen sich ihren eigenen Männern unterordnen«, heißt es bekanntlich im Brief an die Epheser; ergänzend tritt immerhin eine entsprechende Mahnung an die Männer hinzu: »Liebt eure Frau-

lisierenden, argumentierenden Paränese‹ ist 1Kor 11,2-26, vgl. Käsemann, ebd., S. 375f. 11 a) Die lateinische Übersetzung verschärft das griechische »unterordnen« zu subditi (Untergebene), der Ambrosiaster (a. l.) zu subiectum (Unterworfener, Untertan). b) Der Ausdruck ›Untertanenspiegel‹ sei das Pendant zu ›Fürstenspiegel‹, wie sie etwa in Ps 72, Aristeas-Brief 187ff., Philoʼs Josephusvita, den Pythagoreischen Traktaten perí basileías (περὶ βασιλείας); (vgl. Delatte, Chesnut), in der panegyrischen Tradition bis Augustin, de civitate dei 5,24 vorliegen: zu Seneca, de clementia s. hier § 2.1. c) Schon Strobel (1964), 62 spricht treffend von »Untertanenparänese«, meint aber, »daß diese selbstverständlichen Leistungen eines Untertanen (sic!) auf dem antik-hellenistischen Bürgerideal gründen«. Hier ist zumindest übersehen, daß ein Polite oder civis kein ›Subjekt‹ ist. d) Als Beispiel für einen neuzeitlichen ›Untertanenspiegel‹ sei auf den »Volcks-Katechismus« von Speyer (1785) hingewiesen, s.u. Anm. 63. Er baut auf Röm 13 auf.

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en«.12 In Römer 13 aber ist der Untertanenspiegel nicht durch einen Fürstenspiegel ausbalanciert. Über dem Untertan steht – merkwürdig abstrakt – die ›Gewalt‹ (éxousía [ἐξουσία]), nicht das römische Reich, die Republik, ein König, eine Institution oder Magistratur einer ›freien‹ griechischen Stadt, sondern das Prinzip ›Gewalt‹.13 Eine doppelte Negation betont: Alle Gewalt ist von Gott, das heißt auch die schlechte. Ein Nebukadnezzar ist eine Zuchtrute in Jahwes Hand.14 Wer dürfte sich Gottes Züchtigung widersetzen? Doch die Gewalt, von der Römer 13 spricht, ist offensichtlich nicht schlecht: Sie belohnt die Guten, straft die Bösen. Daß es Konflikte geben könnte, wird nicht ausgesprochen. Der zentrale Begriff der Partie ist ›Ordnung‹. Fünfmal in sieben Versen wird das Wort variiert: unterordnen, anordnen, entgegenordnen, Verordnung und wieder unterordnen. ›Unterordnung‹ ist eine wichtige, von der Moral bis zur christologischen Spekulation durchgreifende Kategorie des Neuen Testaments.

12 Eph 5,22ff. Zur Gattung ›Haustafeln‹ vgl. auch die sogenannte ›Standespredigt‹ des Täufers (Lk 3). 13 Dieses Wort ist ein in den Schriften neben »Herrschaft« (arché [ἀρχή]) oder »Königtum« (basileía [βασιλεία]) häufig gebrauchter Ausdruck für staatliche Gewalt, aber auch für ›Engelmächte‹. Die u.a. von O. Cullmann für unsere Stelle vertretene Übersetzung »Engelmächte« ließe sich mit der Bedeutung ›Staatsmacht‹ verbinden. Einen Beweis gibt es m. E. nicht. – Am nächsten kommt Dan 7, ohne daß die Stelle jedoch als direktes Vorbild erwiesen werden könnte und dadurch zwingend eine ›apokalyptische‹ Nuance hinzubrächte. Ob Paulus auf potestas anspielen wollte (vgl. die lateinischen Übersetzungen), ist ungewiß, wird jedenfalls nicht durch den Gebrauch von árchontes (ἄρχοντες) in V. 3 bewiesen (gegen Strobel). Hellenen und Römer werden den Satz Pauli gewiß verstanden haben: Das ist indessen kein hinreichender Grund, hier »profan-griechische« (?) Behördensprache als eigene Sprachschicht anzusetzen. 14 Daß Götter die Städte, Dynastien, Völker führen und auch strafen und prüfen, ist eine weitverbreitete antike Vorstellung. In einen weiten geschichtstheologischen Rahmen gespannt sind diese allgemeinen religiösen Vorstellungen in der augusteischen Zeit bei Horaz, Vergil und Livius. Sie waren im neronischen Rom durch Kult, Kunst, Literatur und Propaganda auch für die griechisch sprechende Bevölkerung selbstverständlich.

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Es sollen sich unterordnen: die Kinder den Eltern,15 die Frauen den Männern,16 die Sklaven den Herren,17 das Fleisch dem Gesetz,18 der Mensch der Gewalt, alle Gewalt und Herrschaft und Macht dem Christus, Christus aber dem Vater, wie es in bedeutsamer Aufnahme der soziomorphen Sprache heißt: »Der Sohn wird sich unterordnen dem (Vater), der ihm (dem Sohn) alles untergeordnet hatte«.19 §1.4 Aporien – Bestimmung des Themas Die Partie, die ich zu paraphrasieren suchte, ist nicht nur wegen sprachlicher und sachlicher Unklarheiten umstritten. Die Verse wurden bei der Legitimation gerechter und ungerechter Herrschaft verbraucht. Der Vatikan erklärte 1885, daß die Fürsten »irgendwie das Abbild der göttlichen Gewalt über das Menschengeschlecht widerspiegelten«;20 man berief sich auf Römer 13 und hoffte, dadurch die demokratischen Bewegungen einzudämmen. Andererseits wurde die Formel auch zur Begrenzung von Herrschaft gebraucht: Von Gott ist alle Gewalt; ihm ist auch der Herrscher Untertan; Gott wird ihn richten. Die Anstöße, die unsere Partie dem liberalen, fortschrittlichen und humanistischen Christen bietet, wurden auf verschiedene Weise aufgefangen: 1.

Kompensation durch den Kontext

(a) Diese Staatslehre sei, natürlich, nur eine Interimslösung; das Ende sei nahe; zwar fehle in Röm 13,1-7 jede eschatologische Relativierung, aber schon in V. 11 heiße es: »Unsere Rettung ist nämlich jetzt näher als damals, als wir zum Glauben gelangten«. 15 Lk 2,51; vgl. Hebr 12,9f. 16 Eph 5,22ff.; Kol 3,18; 1Petr 3,1; Tit 2,5. 17 Tit 2,9; 1Petr 2,18; vgl. 1Tim 6,1. 18 Röm 8,7. 19 1Kor 15,27f. (sechsmal ›unterordnen‹). – Vgl. Tit 3.1 (Anfang 2. Jahrhundert? Vielleicht von Röm 13 abhängig): »Gedenket, daß ihr den Herrschaften, den Gewalten euch unterordnet, gehorcht«. Tit 1,10: Wider die, die sich nicht unterordnen; 1Clem 61,1: »[...] sich unter die von dir (Gott) ihnen (den Herrschern) gegebenen Ruhm und Ehre unterordnen«. 20 Leo XIII., Immortale Dei, ASS p.162: (die Fürsten) imaginem quamdam divinae in genus humanum potestatis [...] referrent. – Vgl. § 3.4.

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(b) Der Zusammenhang relativiert, so sagt man, diese ›Staatslehre‹. Es folge das Liebesgebot, in dem das ganze Gesetz erfüllt sei. Vorausgehe der Satz: »Laß dich nicht besiegen vom Bösen, sondern besiege durch das Gute das Böse!« Aber: Ist die staatliche Gewalt an sich ein Böses? (c) Die Schrift als ganze relativiere diesen Untertanenspiegel. Ist nicht in der Apokalypse Rom als Babylon, als Tier aus dem Abgrund verurteilt? Wird nicht am Ende »alle Herrschaft und alle Gewalt und alle Macht vernichtet« (1 Kor 15,24)? Hat nicht Jesus die Sphäre von Kaiser und Gott deutlich abgegrenzt durch das Wort: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist«? Soll man nicht »Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29)? Wird nicht der Aufstand der Makkabäer gegen die Seleukiden von Jahwe mit Erfolg gesegnet?21 Gibt es nicht in Israel von Anfang an den grundsätzlichen Protest der Stämme gegen ein zentralistisches Königtum, die Kritik der Propheten an den schlechten Königen, an der Habgier des Adels, den Übergriffen der Richter?22 Das ist richtig, zeigt aber, wie anders Römer 13 ist. 2.

Kompensation durch Annahme von Einflüssen und Interpolationen. Die Stelle wirkte so befremdlich, daß einige Gelehrte an der paulinischen Herkunft zweifeln.23 Immer wieder werden Einflüsse der stoischen Philosophie oder der hellenistischen Verwaltungssprache angenommen.24

21 E. Bickermann, Der Gott der Makkabäer, Berlin 1939, S. 36ff. 22 Vgl. die Jothamfabel in Ri 9,7ff.; das Königsgesetz (1 Sam 8; 10,25; Dtn 17,14-20), die Weigerung Samuels, einen König über Israel zu machen (1Sam 8). 23 Drei Beispiele: Wilhelm Nestle, Die Krisis des Christentums, Stuttgart 1947, S. 144: »Die Stelle könnte ein Einschub sein«. Barnikol, 1961 (aus textgeschichtlichen und historischen Gründen unwahrscheinlich); Schmitthals, 1975. 24 Zum Beispiel von Barnikol, 73f. (ohne Belege), Käsemann, Schelkle, Strobel.

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Als könnte und müßte man Paulus auf diese Weise entlasten! Eine Verbindung zur stoischen Staatslehre ist meines Erachtens bisher noch nicht nachgewiesen worden. Ich möchte auf diese wichtigen, schwierigen und oft behandelten Fragen nicht eingehen. Ich möchte vielmehr zwei eher nebensächliche Fragen stellen: • Welche Staatslehren waren damals in Rom bekannt? Wie mußten

nichtjüdische Römer unsere Partie verstehen? Was war ihr Rezeptionshorizont? Was war das Selbstverständnis der Römer, deren Staat Paulus hier eschatologisch relativiert? • In der Geschichte der Auslegung von Röm 13 wurden die Kirchenväter und das Mittelalter erforscht.25 Die Bedeutung aber, die Röm 13 für die Stabilisierung der neuzeitlichen Monarchien, für den Kampf gegen Republik und Demokratie, für die Restauration und die konservativen Staatslehren des 19. und 20. Jahrhunderts hatte, ist bisher nicht ausreichend gewürdigt.

§2 I N

POPULI POTESTATE OMNIA

§2.1 Römische Staatslehren Im Frühjahr 58 wurde in einigen Häusern, vielleicht auch in Synagogen Roms der Brief eines Wanderpredigers Paulus verlesen.26 Die Gebildeten oder dem Hofe näher Stehenden werden sich der kurz zuvor erschienenen Schrift des Consuls a. D. L. Annaeus Seneca, »Über die Milde« erinnert haben.27

25 Vgl. Affeldt, Bauer, Keienburg, Schelkle, Staab. 26 Zur Datierung des Briefes an die Römer vgl. z.B. W. Sanday/A.C. Headlam, A critical and exegetical commentary on the epistle to the Romans, Edinburgh 51902, XIII: »during the winter 57-58 or early in the spring of the year 58«. 27 Zur Datierung von de clementia s. Préchac (Sénèque, de la clémence, texte établi et traduit par F. Préchac, Paris 1961) CIII: 55/56 n.Chr. – Zur Orientierung: Seneca war 56 n.Chr. consul suffectus: Nero regierte 54-68; 64 brannte Rom; 65 kam Seneca der Hinrichtung durch Freitod zuvor.

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Der damals 60 Jahre alte Politiker, Dichter und Philosoph – ein Altersgenosse also des Paulus – schrieb seinem achtzehnjährigen Schüler Nero, kurz nach dessen Regierungsantritt (54 n.Chr.), einen Fürstenspiegel.28 Auf der Grundlage eines aufgeklärten Monarchismus, im höfisch-panegyrischen Stil formuliert Seneca den Pflichtenkatalog des Kaisers: Er regiere als Stellvertreter der Götter, schulde ihnen und den Gesetzen Rechenschaft; er sei dem gemeinen Wohl (salus communis) verpflichtet.29 Terror und Furcht werden ausdrücklich als Mittel der Staatsführung abgelehnt.30 Nicht Rache und Strafe für die Bösen, sondern Fürsorge, Schonung, Besserung ist Ziel des staatlichen Lebens.31 Der Fürst wird an die stoische Ethik gebunden und diese zum Prinzip der Menschlichkeit gesteigert.32 Es ist, scheint mir, genau diese philosophische, aber durchaus religiöse und humane Sinngebung des Staates, die in Römer 13 so schmerzlich vermißt wird. Die Verbindung Senecas mit dem Prinzipat war keine notwendige Folge seiner stoischen Philosophie. Vielmehr waren es gerade stoische Gruppen, welche die Erinnerung an die freie Republik wachhielten und die geistige und politische Opposition gegen den Prinzipat stützten. Senecas Fürstenspiegel ist auch nicht die Quintessenz stoischer Staatslehre. Der Gründer der Stoa, Zenon von Kition, hatte zum Beispiel in seiner Staatslehre behauptet, Eros, der Gott der Freundschaft, der Freiheit und der Eintracht, sei der Helfer für das Heil des Staates; alle Menschen seien, zusammen mit den Göttern, Bürger der großen

28 Der erste Satz lautet: Scribere de clementia, Nero Caesar, institui, ut quodam modo speculi vice fungerer et te tibi ostenderem perventurum ad voluptatem maximam omnium. 29 1,2-4; 3,17,9: qui se ex deorum natura gerit. – bonum commune; 2,3,3; 3,1,2; salus communis: 3,11,1. 30 3,24,1; gegen tyrannische Grausamkeit: 2,4,1. 31 3,20,2. 32 2,3,3; 3,1,2. Der Fürst als erster Diener des Staates, 3,27,8: non rem publicam suam esse, sed se rei publicae. Weitere monarchistische Staatslehren in neutestamentlicher Zeit, s. z. B. Dion von Prusa (geb. ca. 40 n.Chr.): Königsreden; Plutarch (geb. vor 50 n.Chr.): ad principem ineruditum; an seni sit gerenda res publica; praecepta regendae rei publicae; de tribus rei publicae generibus.

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Welt-Stadt (Kosmopoliten).33 Gewiß waren, durch Cicero vermittelt, die platonischen und aristotelischen Staatslehren im Rom der fünfziger Jahre bekannt. Von den Lehren der Epikureer über die Entstehung der Menschen, der Gesellschaft und des Staates wurde besonders einflußreich die Vorstellung von einem Gesellschaftsvertrag. Der Ursprung aller Gemeinschaft ist, auch nach Lukrez,34 die Liebe, mythisch gesprochen alma Venus. Später, so rekonstruiert Lukrez die Frühgeschichte der Menschheit, hätten sich die Nachbarn verabredet, einander keinen Schaden zuzufügen und die Schwachen, Frauen und Kinder, zu schonen. Ohne diesen »Vertrag« (foedera: 5,1025), sagt Lukrez, hätte die Menschheit nicht überleben können.35 Diese Vertragstheorie, von Epikur übernommen, geht tief in das 5. Jahrhundert v.Chr., bis zu Demokrit und Protagoras, zurück.36 Daß sie eine Fiktion, ein soziologischer Mythos sei, war den Erfindern gewiß deutlich. Der Mythos will die soziale Gleichheit der Menschen begründen. Alle sind Kinder der Mutter Erde; im Hades sind wieder alle gleich. Über diese natürliche Gleichheit hinaus erzeugen die mythhistorische Fiktion vom Urvertrag37 und die verschiedenen geschichtlichen und juristischen Traditionen vom Herrschaftsvertrag das Gefühl der Gleichheit all jener, die an diesem Pakt beteiligt sind. Die Gleichheit impliziert die Freiheit; ein Vertrag unter Zwang ist nichtig. Alle diese Lehren waren in mehr oder weniger vermischter und verdünnter Form in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung

33 SVF I 263; vgl. III p. 164; 180f.; SVF I 256-248. – Seneca kennt Zenons Politie: de otio 3,2 = SVF I 271. 34 Lucrez, Über das Wesen der Dinge 5,962ff.; 1011ff.; 1105ff.; Liebe und Zuneigung der Menschen als Grundlage der Gesellschaft auch bei Cicero, de legibus 1,15,43: quod natura propensi sumus ad diligendos homines, quod fundamentum iuris est. 35 Zugrunde liegt Epikur, Kyriai Doxai 31; 33. 36 Vgl. Demokrit 245. 255; Platon, Protagoras 322; Gorgias 484: Politeia 2,359a: Aristoteles, Politik 3,9, 1280b. Die in diesem Abschnitt skizzierten Staatslehren wirken in verschiedener Weise in die Staatslehren der Neuzeit. 37 Ein historisch nachweisbarer »Urvertrag« ist der Pakt der Pilgrim Fathers der Mayflower, 41 historisch und politisch höchst gebildeter Männer, die 1620 n.Chr. vor der Küste von Amerika eine »politische Körperschaft« gründen: s. Voigt, Herrschaftsvertrag, S. 24.

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Roms im Jahr 57/58 präsent. Diese Lehren sind bei den Hörern des paulinischen Briefs damals und später vorauszusetzen. Sie stecken einen Rahmen ab, in dem der Ort von Römer 13 bestimmt werden kann. §2.2 Die römische ›Verfassung‹ zur Zeit Pauli Der Satz, alle Gewalt sei von Gott, verbleibt als allgemeine Aussage über die umfassende Fürsorge der Götter für das Menschengeschlecht im Vorstellungsrahmen aller antiken Religionen. Die Frage war höchstens, von welchem Gott sie sei. Als spezielle Aussage jedoch, daß jede besondere Gewalt in dieser Stadt, in diesem Reich, insofern sie besteht, von Gott sei, steht sie in deutlicher Spannung38 zur römischen Verfassung. Die offizielle ›Verfassung‹39 des römischen Staates zur Zeit Pauli ist nicht, wie man nach den theologischen Exegeten erwarten muß, ein Gottkaisertum; auch nicht eine konstitutionelle Monarchie, wie man nach Senecas Fürstenspiegel meinen könnte. Der römische Staat ist, mindestens im Prinzip, immer noch eine Republik. Das Volk und der Senat (populus senatusque Romanus) delegieren dem Fürsten ihre Gewalt. Ein »Gesetz über die Herrschaft Vespasians« (lex de imperio Vespasiani) legt die Kompetenzen des neuen Cäsar fest und bestimmt u. a., daß, was vor der Annahme dieses Gesetzes von Vespasian bereits getan, beschlossen, befohlen ist, »hier ebenso recht und ratifiziert sein soll, als ob es auf Befehl von Volk und plebs getan worden wäre«.40 Diesen Vertrag zwischen Vespasian auf der einen, Volk und Senat auf der anderen Seite, entdeckte Cola di Rienzo um das Jahr 1345 auf

38 Von ›Widerspruch‹ kann man nicht sprechen, da das Sprachsystem, in dem hier argumentiert wird, unbestimmt bleiben muß. Durch die Einführung etwa der Wörtlein »un-/mittelbar« lassen sich alle ›Widersprüche‹ aufweichen. 39 ›Verfassung, Konstitution‹ – natürlich nur mit Einschränkungen auf die römischen Verhältnisse anzuwenden. 40 Lex de imperio Vespasiani, CIL VI 930 = ILS 244 = M. Mc Crum/A. G. Woodhead, Select Documents of the Principates of the Flavian Emperors, Cambridge 1966, nr. 1, Z. 30ff.: utique quae ante hanc legem rogatam acta gesta decreta imperata ab imperatore Caesare Vespasiano Aug. [...] sint ac si populi plebisve iussu acta essent.

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einer Inschrift mitten im Schutt der heiligen Stadt.41 Er stützte damit seinen Traum von der römischen Republik: Das Volk von Rom legitimiere den Kaiser, nicht der Papst oder die Fürsten in Deutschland. Ein phantastischer Traum; aber schon gab es in Italien zahlreiche starke Republiken, Alternativen zu Kirchenstaat und feudalem Kaisertum. Niemand wird die Bedeutung republikanischer Ideen unter dem Prinzipat überschätzen wollen.42 Aber sie waren bis in das 2. Jahrhundert hinein lebendig und konnten, wie schließlich auch das Beispiel des Cola di Rienzo lehrt, wieder wirksam werden, wenn die Zeit dafür reif war. Die Tradition beruht glücklicherweise nicht allein auf Zufallsfunden römischer Inschriften. Zu Beginn eines großen römischen Rechtswerkes konnten die mittelalterlichen Juristen den erstaunlichen Satz lesen: »Was der Fürst beschlossen hat, hat Gesetzeskraft, da ja mit dem königlichen Gesetz, das über seine Herrschaft verabschiedet wurde, das Volk ihm und auf ihn alle seine eigene Herrschaft und Gewalt überträgt«.43

41 F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Nachdruck dtv 1978, II. 2, S. 684ff. – di Rienzo stand mit diesen Gedanken nicht allein. Hier sei nur an die Theorien des Marsilius von Padua erinnert. Sein Defensor Pacis (vollendet 1324) ist weniger römisch-antik als Cola; er ist vor allem dem Aristoteles verpflichtet (averroistisch, er benutzt den Aristoteles Latinus des Moerbecke); s. R. Schulz, »Marsilius von Padua und die Idee der Demokratie«, in: Zeitschr. f. Politik 1 (1908), S. 61-91. – Die lex de imperio war – natürlich mit Modifikationen – das Mittelalter hindurch bekannt; di Rienzo konnte an Bekanntes anknüpfen; für ihn kam es darauf an, daß es das Volk von Rom ist, das die lex praktizieren soll (also nicht die Deutschen als neues Reichsvolk oder die Churfürsten als dessen ›Repräsentanten‹); vgl. Suerbaum, Staatsbegriff, S. 386f. (Bibliographie, wichtig bes. die Arbeiten von F. Crusara, S. Gaines Post). Vgl. noch die Berufung auf die lex regia in Friedrichs des II. »Constitution von Melfi, I tit. XXXI«, in: Die Konstitutionen Friedrichs des Zweiten von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien. Nach einer lateinischen Handschrift des 13. Jahrhunderts herausgegeben und übersetzt von H. Conrad, Th. von der Lieck-Buyken, W. Wagner, Köln 1973, S. 45. 42 Suerbaum, Staatsbegriff, S. 15f., 88f. 43 Ulpian (gest. 228 n.Chr.), »Institutiones I«, in: Digesten 1,4,1 pr.; zu mög-

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Daraus war zu deduzieren, daß nicht alle Gewalt von Gott sei; das wiederum konnte dem Kaiser wichtig werden im Kampf gegen päpstliche Ansprüche auf das Kaisertum.44 Daß der Staat die Sache des Volkes sei, daß – wie Cicero einmal formuliert – »alle potestates, imperia, curationes von dem gesamten römischen Volke ausgehen (proficisci),« ist das allgemeine Selbstverständnis der Republik.45 Dieser republikanische Konsens kann natür-

lichen Interpolationen: Suerbaum, S. 53. – Vgl. Marcian (um 115 n.Chr.), in: Dig. 1,3,2, älteres Recht zusammenfassend. 44 Es sei denn, der Kaiser benutzt Röm 13 selbst in einem unpäpstlichen Sinn: Die Gewalt des Kaisers sei direkt von Gott, nicht indirekt vermittelt durch Krönung und Salbung von den Händen eines Papstes. Vgl. Gierke, Althusius, S. 77: »Die (sc. mittelalterliche) Jurisprudenz war auf Grund ihrer Quellen von vornherein darüber einig, daß die kaiserliche Gewalt als Nachfolgerin des Imperium der römischen Caesaren zuletzt auf der durch die lex regia vollzogenen einstmaligen Volksübertragung beruhe. Gerade die Vorkämpfer der weltlichen Macht bauten dieses Fundament weiter aus, indem sie [...] die konstituierende Kraft aus der päpstlichen Mitwirkung in den Volkswillen verlegten. Sie folgerten, daß das Reich, wie es vom Volke ausgegangen sei, so auch bei jeder Erledigung an das Volk heimfalle«. Die mittelalterlichen Quellen in Anm. 3 und 5, mit dem Zusatz: »Dabei waren die älteren Juristen im Banne ihrer Quellen so befangen, dass sie als den populus Romanus, an welchen das Reich heimfallen mußte, das römische Stadtvolk ihrer eigenen Zeit setzten. Und um die Mitte des 12. Jahrhunderts versuchten die Arnoldisten ganz ernsthaft, daraus praktische Folgerungen zu ziehen«. 45 Cic. leg. agr. 2,7,17; rep. 2,13,25: [Numa] ipse de suo imperio curiatam legem tulit: 17,31: Hostilium [...] populus regem [...] comitiis curiatis creavit: ebenso Wahl der Könige Ancus Marcius und L. Tarquinius: 18,33; 20,35. Cic. leg. 3,12,28: cum potestas in populo, auctoritas in senatu sit. Daß Cicero kein Demokrat war, ist bekannt; vgl. aber seine Bestimmungen in rep. 1,31,47 (die Freiheit hat dort ihre Heimstatt, wo populi potestas summa est: 1,26,42 (illa autem est civitas popularis [...] in qua in populo sunt omnia); vgl. 1,25,39; 3,33,45 (cum per populum agi dicuntur et esse in populi potestate omnia); Cic. har. resp. 6,11: populus Romanus, cuius est summa potestas omnium rerum: pro Rabirio 2,5: vos, Quirites, quorum potestas proxime ad deorum immortalium numen accedit, oro [...]; Cic. cum sen. gr. 25 u.ö.; Sallust, hist. 3,48,15 (Rede des Licinius Macer,

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lich populär, aristokratisch oder auch monarchisch modifiziert werden: Nie aber, soweit ich sehe, wird das ›Volk‹ durch Iuppiter oder einen anderen Gott ersetzt. Die Begründung der Republik ist politisch, nicht theokratisch. Der einzelne Beamte ist magistratus populi/plebis; er wird gewählt. Kaum ein römischer Steuereintreiber wird sich als ›Diener Iuppiters‹ verstanden haben. §2.2.1 Paulusʼ Appellation an den Caesar Das Neue Testament enthält eine personalisierte, biographische Variante zu Römer 13: Im 25. Kapitel der Apostelgeschichte appelliert Paulus an den Kaiser. Wie immer es um die Historizität dieses Berichts im einzelnen bestellt sein mag, hier wird ein Stück römischer Verfassungswirklichkeit deutlich. Paulus erklärt das jüdische Gericht des Synhedrion für nicht zuständig, da er sich keines Religionsfrevels schuldig gemacht habe. Der römischen Polizeigewalt gegenüber beruft er sich auf sein römisches Bürgerrecht: Dies schützt ihn vor entehrender Behandlung – Verhör unter Folter – und sichert ihm einen Prozeß vor dem Statthalter. Schließlich, wohl aus Sorge, doch noch »den Juden« in die Hände zu fallen, appelliert er an den Kaiser. Der Statthalter Festus gibt der Appellation statt. Paulus wird »zum Caesar gehen«. Der römische Bürger, der in der Mitte des 1. Jahrhunderts an den Kaiser appelliert, hätte sich in der freien Republik an das souveräne Volk gewandt. Das Recht der provocatio ad populum hatte sich das römische Volk in zähem Kampf errungen. Die republikanische Tradition läßt es unmittelbar mit der Konstitution der Republik – das ist der Vertreibung der Könige – entstanden sein.46

Volkstribun 73 v.Chr.): vis omnis, Quirites, in vobis [est]; Liv. 4,3,5: ut quibus velit populus Romanus mandet honores; vgl. 4,5,1; 8,33,17: [populus] penes quem potestas omnium rerum esset. 46 Vgl. Cicero, pro Rabirio 3,10: [...] maiorum nostrorum, Quirites, qui expulsis regibus nullum in libero populo vestigium crudelitatis regiae retinuerunt [...] – Ausführlich zu dem gesamten Komplex: Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht III, S. 351ff.; 351: das »iudicium populi gilt den Römern als der rechte Ausdruck der souveränen Gewalt der Bürgerschaft«; zu der in Apg vorliegenden Situation s. Staatsrecht II, S. 269f. Vgl. The Acts of the Apostles, hg. v. F.J.F. Jackson/K. Lake, Vol. 5: Additional Notes to the Commentary, hg. v. K. Lake/H.J. Cadbury, London 1933, S. 312-319: Roman Law and the Trial of Paul. Bd. III: The Appeal to Caesar.

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Diese Verumständlichung – vor allem der Kapital-Gerichtsbarkeit – hat viel zu der immer stärkeren Zurückdrängung der Todesstrafe für römische Bürger beigetragen.47 In der Appellation an den Kaiser lebt dieses republikanische Recht fort. Der Jurist Paulus lehrt:48 »durch die lex Iulia über öffentliche Gewaltanwendung wird der verurteilt, der in Ausübung irgendeines Amtes einen römischen Bürger, der früher an das Volk, jetzt an den Kaiser appelliert, tötet, foltert [...]«.

Der Kaiser als Repräsentant des souveränen Volkes ist wie dieses oberster Gerichtsherr und schützt als solcher die Bürger gegen magistratische Willkür.49 Wenn der Apostel Paulus an den Kaiser appelliert hat, so hat er ein Recht in Anspruch genommen, das letztlich auf dem römisch-republikanischen Grundsatz beruht: Alle Gewalt geht vom Volk aus. §2.3 Jüdische Staatslehre – der Ort von Römer 13 Der geistige und politische Ort von Röm 13 ist natürlich in erster Linie durch die jüdischen Staatslehren um die Zeitenwende und die konkreten Erlebnisse des Paulus von Tarsos im hellenistischen Osten des römischen Reiches bestimmt. Diese außerordentlich mannigfaltigen Lehren und Erfahrungen können hier nicht referiert werden.50 Nur zwei

47 Zur Geschichte der Kapitalstrafe vgl. H. Cancik, »Christentum und Todesstrafe«, in diesem Band. 48 Paulus, sententiae 5,26,1; lege Iulia de vi publica damnatur qui aliqua potestate praeditus civem Romanum antea ad populum, nunc ad imperatorem appellantem necavit [...] Vgl. Ulpian, Dig. 48,6,7: civem Romanum adversus provocationem [...] 49 Th. Mommsen (Römisches Staatsrecht II, S. 959f.) sieht in der kaiserlichen Jurisdiction das »alte königliche jurisdictionelle Imperium« wiederaufleben; eine Anlehnung an das iudicium populi der Republik lehnt er ab, ebd. Anm. 1. Angesichts der Verbindungslinie, die die römischen Juristen selbst ziehen (s. hier Anm. 48), scheint mir Mommsens Begründung nicht überzeugend. 50 Zu den zentralen Texten im Aristeas-Brief, bei Philo und Josephus vgl. Lebram, Idealstaat; Kippenberg, Religion, S. 104f., Goodenough, Politics, S. 100: »The prophets who announced this interpretation of evil rulers in-

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Punkte seien für die Einordnung von Röm 13 in einen gesamtantiken Rahmen hervorgehoben: 1.

2.

Von den Staatslehren und den Verfassungstraditionen der Griechen und Römer her gesehen, bedeutet Röm 13 eine Entpolitisierung und eine Sakralisierung. Die Juden waren seit dem Exil – mit wenigen Ausnahmen – Gastvolk (Metoiken, peregrini). Obschon viele Juden das römische Bürgerrecht erworben hatten, spiegelt Röm 13 dennoch die Situation von Nicht- und Halbbürgern, die zudem gesellschaftlich nicht selten diskriminiert waren. Die Juden durften/brauchten nicht Militärdienst zu leisten – dies aber verschloß ihnen auch den Weg in die staatlichen Institutionen. Die Christen waren, je mehr sie sich vom Judentum lösten, desto stärker auf den Schutz durch den römischen Staat angewiesen, auch zum Schutz vor ihren jüdischen Brüdern.

Deshalb verbindet sich im Neuen Testament eine tiefgreifende Entwertung des Staates mit einer ausgeprägten, allmählich sich steigernden Romtreue. In Röm 13 sind diese beiden widerstrebenden Tendenzen unter eine theokratische Formel gezwungen.

§3 »ALLE S TAATSGEWALT VOM V OLKE AUS «

GEHT

§3.1 Das Ringen um GG Art. 20 II Satz 1 Im Parlamentarischen Rat brach – in den Protokollen nachzulesen – im November des Jahres 1948 ein Streit aus, dessen Gegenstand auf den ersten Blick banal scheinen mag. Sollte der neue deutsche Staat die Formel der Weimarer Reichsverfassung – »die Staatsgewalt geht vom Volke aus« – übernehmen, oder sollte man der Formulierung des Vor-

sisted, that the only way out was by moral reform on the part of the people, not resistance to the oppressor, or tyrannicide. It is most interesting, that this Jewish idea, worked into the body of Greek political tradition by Philo or his group, was reflected in Paulʼs unqualified assertion that the ›powers that be are ordained by God, [...]«.

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sitzenden des Grundsatzausschusses, Dr. von Mangoldt (CDU), – »das Volk ist Träger der Staatsgewalt« – zustimmen? Für die Formel der Weimarer Verfassung plädierten die sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Otto Suhr und Dr. Carlo Schmid.51 Die gesamte Diskussion ist von der Sorge getragen, einen Mißbrauch der Staatsgewalt, wie ihn der deutsche Faschismus »im Namen des Volkes« getrieben hatte, zu verhindern. In dieser Absicht waren sich im Jahr 1948 alle Abgeordneten einig. Darüber hinaus wird in den Debatten um die Formulierung eine grundsätzliche Differenz sichtbar. Von Mangoldt lehnte damals die Fassung »geht vom Volke aus« mit der Begründung ab, »der Teil der Bevölkerung, der das Religiöse in den Vordergrund stelle, habe Anstoß daran genommen«.52 In von Mangoldts Grundgesetz-Kommentar (1953) wird diese Debatte reflektiert: »Die heutige Fassung des Satz 1 des Abs. 2 bedeutet schließlich eine klare Absage an die katholische Staatsauffassung. Sie ersetzte die Fassung: ›Das Volk ist Träger der Staatsgewalt‹, welche der katholischen Auffassung entgegenkam, daß alle Staatsgewalt vor dem göttlichen Willen zurückzutreten habe und daher vom Volke nur getragen werden könne«. Carlo Schmid betonte demgegenüber die demokratisch-republikanische Tradition der Lehre von der Volkssouveränität, die sich in der umstrittenen Formel konzentriert. Der Grundsatzausschuß entschied sich am 10.11.48 für die Fassung: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«.53 Zweimal noch – am 15.12.48 im Hauptausschuß und am 6.5.1949 im Plenum – stellte die CDU bzw.

51 Vgl. den auf der Grundlage der verschiedenen Protokolle angefertigten Bericht zur »Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes« von K.B. von Doemning/R.W. Füsslein/W. Matz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts N.F. 1 (1951), S. 194-202. – Wie sich die Fassung »alle Staatsgewalt« statt »die Staatsgewalt« schließlich durchgesetzt hat, ist mir aus dem Bericht nicht klar geworden. Jedenfalls liegt jetzt im GG eine Verstärkung der Weimarer Formel (»die Staatsgewalt«) vor. Vgl. Anm. 53. 52 Von Mangoldt nach JÖR 1 (1951) 198. 53 JÖR 1,199. – Redaktionsausschuß 16.11.48: »Das Volk ist Träger der staatlichen Gewalt«. – Hauptausschuß 17.11,48: »[...] Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«.

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CDU/CSU Änderungsanträge zugunsten der Fassung, ›das Volk ist Träger der staatlichen Gewalt‹. Beide wurden abgelehnt.54 Die Diskussion setzt sich in der Kommentierung des Grundgesetzes fort. Der zitierten Interpretation von Mangoldts widerspricht zum Beispiel Wernicke:55 Das Volk sei die »letzte irdische Quelle der Staatsgewalt«, die katholische Auffassung werde »in Wahrheit überhaupt nicht tangiert«. Durch die Einführung des Wörtchens ›irdisch‹ in den Text des GG wird versucht, Röm 13 dem GG als überirdische Quelle der Macht vorzuschalten. – Es handelt sich also hier nicht um einen Streit um Worte; auch die Sorge um faschistischen Mißbrauch ist nur ein zeitgeschichtlich bedingtes Nebenmotiv: Die skizzierte Diskussion um das GG öffnet die historische Perspektive ins 18. Jahrhundert, zur französischen Revolution. §3.2 Die Tradition der Formel Die Formel »alle Gewalt geht vom Volke aus« wird häufig als Verdrehung oder Säkularisierung von Röm 13 verstanden. Am Ende der Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit, vom Heiligen Reich zur geheiligten Volkssouveränität, stehe ein Staat, »[...] der sich selbst für heilig hält, weil er auf den Altar gestiegen ist, von dem er Gott vertrieben hat, weil er Götze wird an Gottes Stelle«.56

54 JÖR 1,201 und 202. Die Antragsteller am 6.5.49 waren: Dr. von Brentano, Dr. Schwalber, Dr. Seibold. 55 K.G. Wernicke, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz, 1950ff.: Art. 20, 1968, S. 5f., wo die Stellungnahme von C. Schmid stark verkürzt wiedergegeben ist. Ähnlich Maunz (1976) in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetzkommentar, Nachtrag zu Art. 20, S. 17, Rdnr. 47. 56 F.A. von der Heydte, »Vom Heiligen Reich zur geheiligten Volkssouveränität (1955)«, in: Kurz, Volkssouveränität, S. 350-389; 355f. Zum politischen Hintergrund dieses Geschichtsbildes vgl. J. de Maistre, Du Pape. 12

1854 (= 21821), S. 19f; S. 161: »Le protestantisme, au contraire [sc. ge-

genüber der katholischen Lehre], partant de la souveraineté du peuple, dogme quʼil a transporté de la religion dans la politique, ne voit [...]«; S. 167: »[...] toute la théologie française repoussait justement le système de la souveraineté du peuple comme un dogme antichrétien«. Für de Maistre ist »[...] die Souveränität eine heilige Sache, ein Ausfluß der göttlichen

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Diese eingängige und pathetische Schau verkürzt ungebührlich die historischen Tatsachen, wie ein Blick auf die Geschichte unserer Verfassungsformel lehrt. Weimarer Reichsverfassung: Vorschlag 3.1.1919: »§2: Alle Staatsgewalt liegt beim deutschen Volke«. Fassung 17.2.1919: »Art. 2: Die Staatsgewalt liegt beim Volke«. Fassung 11.8.1919: »Art. 1,1: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus«. Diese Formel geht über verschiedene Zwischenstufen zurück auf die Verfassung der französischen Republik von 1793 und die Constitution Française von 1791: Constitution Française 1791: »Titre I art. 3: Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation«. »Titre III art. 2: La nation, de qui seule emanent tous les pouvoirs, [...]« Constitution de la République Française 1793: »Art. 25: La souverainete réside dans le peuple«. Der früheste Beleg in einer neuzeitlichen Verfassung ist die Virginia Bill of Rights, in der zum erstenmal in der politischen Realität ein Grundrechtskatalog formuliert wurde (1776): Virginia Bill of Rights 1776: »That all power is vested in and consequently derived from the people«. In die Frühgeschichte der Formel für die Souveränität des Volkes führt die Geschichte der Theorien, die die Entstehung des Staates auf einen Vertrag – Herrschaftsvertrag bzw. Gesellschaftsvertrag – zurückfühMacht« (S. 164). Sein Geschichtsbild ist einigen (späteren) Säkularisationshypothesen nicht fern.

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ren. Diese Theorien setzen, wie bereits angedeutet, die Selbstbestimmung des Menschen, seine Vertragsfähigkeit, Gleichheit und Freiheit voraus. §3.3 Progressiver Humanismus Die Ideen von Volkssouveränität, Republik, Urvertrag und Herrschaftsvertrag, Repräsentation und Konsenstheorie gehen auf die Antike zurück.57 Sie sind vermittelt durch (a) das römische Staatsrecht (Digesten), (b) die römische Staatsphilosophie (Lukrez, Cicero, Seneca), (c) die römische Geschichte und ihre Geschichtsschreiber (Sallust, Livius, Plutarch, Tacitus). Diese antiken Ideen wirken mehr oder weniger stark durch die Spätantike und das Mittelalter hindurch. Zu Beginn der Neuzeit erfolgt jedoch, gerade auf dem Gebiet des Staatsrechts und der Staatslehren, eine erneute direkte Rezeption der antiken, besonders der römischen Traditionen. Die »von der Antike beeinflußte philosophische Staatslehre« war es, welche der »theokratischen Idee allmählich den Boden entzog«.58 Das aufsteigende Bürgertum begründet auch mit ihrer Hilfe 57 Reibstein, Volkssouveränität II, S. 21 (knappste Zusammenstellung der Faktoren). – Die folgenden Hinweise sind keine Aussagen über den Umfang des Einflusses der Literaten und Philosophen auf Vorbereitung und Verlauf der französischen Revolution, noch über den der antiken Gedanken im Vergleich zu den anderen Traditionen. Auch die Umformung und Weiterentwicklung des antiken Gedankengutes in den mittelalterlichen Rechten von Kirche (Konzilsbewegung!), Kaisern und Fürsten kann hier nicht berücksichtigt werden, vgl. vor allem die Arbeiten von Jolowicz, Gaines Post und Oestreich. 58 Gierke, Althusius, S. 63. Gierke fährt fort: »Indem man zunächst die Entstehung des Staates auf den Naturtrieb oder auf menschliche Willensvorgänge zurückführt, verblaßt die Idee der göttlichen Stiftung: [...] Indem man ferner das Recht aller Herrscher aus dem Willen der unterworfenen Gesammtheit ableitet, verschwindet die Vorstellung von der unmittelbar göttlichen Einsetzung und Vollmacht der Person des Herrschers: der Satz, dass alle Obrigkeit von Gott ist, bleibt allerdings aufrecht, schwächt sich aber zu einer Doktrin ab, nach welcher die Gesammtheit unmittelbar von

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seinen neuen politischen und geistigen Ort. Der Begründer des Staatsrechts der Restauration, Karl Ludwig von Haller (1758-1854), bekämpfte in seinem vielbändigen Werk »die Lehre, daß die Staaten oder gar die menschliche Gesellschaft überhaupt durch einen bürgerlichen Social-Contract willkührlich gestiftet sey und mithin alle Gewalt vom Volke herkomme«; die Macht der Fürsten, Staaten und Obrigkeiten komme vielmehr »von Gott selbst her«.

Die Quelle dieses Irrtums kann Haller eindeutig feststellen. Es sei »nicht zu verkennen, daß die ausschließende Belesenheit in der römischen Literatur [...] die Quelle dieses Irrtums ist«. Ein Beispiel habe man an Hugo Grotius.59 Ähnlich äußerte sich 1792 Ernst Brandes in einem kenntnisreichen Aufsatz über »Die Entstehung republikanischdemokratischer Literaturströmungen in Deutschland«:60 »Die Phantasie des Jünglings ward durch Dichtungen gegen monarchische Regierungsformen erhitzt. Der Verstand des Mannes erhielt Eindrücke, die eben dahin abzielten. Das Lesen der alten Schriftsteller, vorzüglich der römischen, hat zwar wahrscheinlich in den letzten 20 Jahren nicht zugenommen, aber eine vernünftigere Behandlungsart der Alten kam, durch die Bemühungen einiger großer Männer in diesem Fache der Litteratur, sehr ins Steigen. Die Sprache

Gott die Befugniss und die Fähigkeit empfängt, eine hiermit ohne Weiteres der göttlichen Sanktion theilhafte Obrigkeit zu erzeugen. Indem man endlich der Gesammtheit die freie Wahl der zu errichtenden Verfassungsform überläßt, erlischt das göttliche Recht der Monarchie [...] Schließlich rückt auch auf diesem Gebiet in das Erbe der scholastischen Philosophie die humanistische Dichtung ein, deren mehr oder minder antik-heidnisch gefärbte Staatsbetrachtungen selbst der Form nach jede theokratische Grundlage fallen lassen«. Gierke bezieht sich u. a. auf Aeneas Sylvius, Franc. Patricius sen., Machiavelli, Thomas Morus. Vgl. P.J. Winters, Die »Politik« des Joh. Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 1963. 59 L. von Haller, Restauration I, S. 36f. 60 E. Brandes, »Die Entstehung republikanisch-demokratischer Literaturströmungen in Deutschland«, in: ders., Über einige bisherige Literaturströmungen in Deutschland, Hannover 1792, S. 45-71 (hier nach dem Facsimile bei J. Garber, Kritik, S. 5f.). – Vgl. J.G. Dyk, »Über Antike, Aufklärung und Republikanismus« (1798), in: Garber, S. 129-133.

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blieb nicht mehr der einzige Endzweck [...] So wenig auch die Schriftsteller Roms auf reine demokratische Grundsätze hinwirken konnten, so beförderten sie doch, in empfänglichen Gemütern, einen edlen hochherzigen Sinn, Vorliebe für Republikanische Verfassungen und Tugenden«.

Die hier befürchteten Wirkungen sind in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts mühelos nachzuweisen. Es sei hier nur erinnert an das plebeische Manifest des Gracchus Babeuf, den Essay von Desmoulins über Tacitus und vor allem an Emmanuel Joseph Sieyès, einen hochgebildeten Politiker (1748-20. Juni 1836),61 dem die Einführung der Formeln von der Volkssouveränität in die französische und damit auch in die deutsche Verfassungstradition zu verdanken ist. §3.4 ethnica superstitio Diese Lehren wurden natürlich von den Royalisten und den Politikern der Restauration heftig bestritten. Röm 13 erhielt in diesem Kampfe eine große, man möchte sagen, zu große Bedeutung. In den römischkatholischen Staatslehren des 19. Jahrhunderts liefert diese Stelle das wichtigste biblische Argument gegen Gesellschaftsvertrag und Volkssouveränität. Die Enzyklika Leos XIII. »Diuturnum illud« (1881) ist eine große Predigt über Röm 13. Von dieser Stelle aus wird die Demokratie als Staatsform zwar nicht abgelehnt, aber ausdrücklich betont, die politische Gewalt komme von Gott, die Wahl des Volkes bezeichne nur den Fürsten, der die Herrschaft ausüben solle; keinesfalls übertrage das Volk die Herrschaft als solche.62 Wer solches behauptet, verbreitet nach vatikanischer Lehre »heidnischen Aberglauben« (ethnica superstitio), womit offenbar die griechisch-römischen Staatslehren gemeint sind.

61 Gracchus Babeuf, Manifest der Plebejer (30.11.1795), s. Grab, S. 278-284 (mit Bezug auf die tribunizische Historiographie bei Livius und die secessio der römischen plebs auf den »Heiligen Berg« im Jahre 493 v.Chr.). – E.J. Sieyès: s. Schmitt/Reichardt, z.B. 116 (Livius 4,56: tribunizische Historiographie); vgl. 252 (»Jede Gewalt...«); 256. – C. Desmoulins, Le Vieux Cordelier, Nr. 3: In Freiheit leben oder sterben (15.12.1793), s. Grab, S. 202-215 (lange Paraphrase und Interpretation zu Tacitus). – Vgl. J. von Stackelberg, Tacitus in der Romania, 1960. 62 ASS 14,1881, 3-14. – Vgl. P. Tischleder, Die Staatslehre Leoʼs Xlll., 1927.

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Diese Lehren Leos XIII. wurden von den Päpsten des 20. Jahrhunderts bestätigt. Aus dem politischen Pietismus sei nur eine ältere Stimme angeführt. Der Staatsmann, Patriot und Publizist Friedrich Carl von Moser,63 kein extremer Mann also, bezeichnet im Jahr 1792 die Lehre von Röm 13 als den »wahren Contract social«: »Laßen wir diesen Faden, laßen wir diesen Glauben, ›die Obrigkeit ist von Gott!‹ dem Volck [...] verdächtig und zweifelhaft machen, wohl gar aus dem Herzen reißen, so ist kein anderes menschliches Band stark genug, das man nicht wegphilosophieren, wegraisonnieren, wegdemonstrieren kann, dann istʼs um die Sicherheit der Thronen, um die rechtmäßige Gewalt der Fürsten, um das Ansehen der Obrigkeit, um Ruhe und Sicherheit der ganzen menschlichen Gesellschaft geschehen, dann haben wir hohe Volksmajestät mit LaternenPfählen, statt Scepter [...], wovon uns Franckreich so schreckliche Beyspiele darstellt [...]«.

Wenn man den »religiösen und politischen Glauben« der Menschen nicht verwirrt, dann ist »ein wahrer Christ [...] auch der beste Unterthan«! Die moderne Demokratie ist für die christlichen Theologien ein im Grunde immer noch unbewältigtes Problem.64 Eine tiefe Kluft, so Böckenförde, trennt den Theologen von den geistigen Ursprüngen der modernen Demokratie; die demokratische Gesellschaft bedürfe, politisch gesehen, des Segens der Kirche nicht; strukturell ist sie nicht auf

63 Friedrich Carl von Moser, »Von dem göttlichen Recht der Könige, vom Ursprung der Landesherrlichen und Obrigkeitlichen Gewalt und von der Natur und den Gränzen des Gehorsams«, in: ders., Neues Patriotisches Archiv für Deutschland 1 (1792), S. 536-550 (hier nach dem Facsimile bei Garber, Kritik, S. 171f. Vgl. ebd. S. 179: eine historische Einordnung von Röm 13: Paulus schreibe an Judenchristen, um ihre unruhigen und brausenden Köpfe von neuen Empörungen gegen die Römer abzuhalten). – Röm 13 ist das Fundament, auf dem der Bischof von Speyer einen »Volcks-Katechismus« »zum Gebrauch der Trivialschulen im Hochstift Speyer« im Jahre 1785 baute. Moser hat das Stück (S. 309-402: s. bes. 336) abgedruckt und bedachtsam kritisiert. 64 E.-W. Böckenförde, »Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche«, in: Hochland 50 (1957), S. 4.

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christliche Legitimation angewiesen; Demokratie sei für die Kirche deshalb so schwierig, »weil ihre eigene Verfassung auf Autorität und Gehorsam gründet«; deshalb habe die Kirche auch eine »innere Affinität zu autoritären Regimen«.65 Vor diesem Hintergrund ist die Debatte im Parlamentarischen Rat über die Formulierung von GG Art. 20 besser zu verstehen, werden die verschiedenen Aspekte in den Kommentaren zum Grundgesetz deutlicher.

§4 Z USAMMENFASSUNG 1. Der hier vorgetragene Versuch hat eine eng begrenzte Aufgabe für die Auslegung und Wirkungsgeschichte einer grundsätzlichen Aussage des Neuen Testaments über die »Gewalt« im Lichte antiker Staatslehren und ›Verfassungen‹ einschließlich ihrer religiösen und/oder politischen Legitimationen. Methode und Ziel sind religionsgeschichtlich. Die verfassungsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Sachverhalte müssen referiert werden; spezifisch juristische und politologische Fragen liegen außerhalb der Fachkompetenz des Verfassers.66

65 Böckenförde, ebd. S. 13; 16f. Böckenförde berücksichtigt vornehmlich die katholische Kirche. Man vergleiche dazu die Äußerungen des Jesuiten Fr. Muckermann im Bayrischen Kurier vom 29./30.4.1933: »Der Führer des Staates ist Gott verantwortlich. Die Autorität, ob sie Brüning heißt oder Hitler, ist aus Gott. Der katholische Volksteil folgt dieser Staatsautorität nicht aus bloßer Begeisterung oder Erwartung auf Stellung. Er folgt grundsätzlich! [...] Unsere Väter sahen das Weltbild so: Der Papst als geistlicher Stellvertreter Gottes, der Kaiser als weltlicher Stellvertreter Gottes und darüber die ewige Autorität Gottes! Und ich möchte den Nationalsozialisten kennen, der zu einem solchen Weltbild, wenn es ihm überhaupt ernst ist um Volk und Vaterland, nicht ›Ja‹ sagen könnte«. – Schärfstens dagegen – »Jeder Nationalsozialist muß ›Nein‹ dazu sagen!!!«: H. Kremers, in: Heliand 23 (1935), S. 10 (woraus das Zitat). 66 Dasselbe Methodenproblem stellte sich in dem Referat über die Religionsgeschichte der Todesstrafe, vgl. H Cancik, »Christentum und Todesstrafe«, in diesem Band.

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2. Röm 13 bedeutet im Hinblick auf die griechischen und römischen Staatslehren und Verfassungen eine Entpolitisierung und Sakralisierung. 3. In Röm 13 ist eine prinzipielle christlich-eschatologische Entwertung von Staat und Kultur mit dem politischen Schutzbedürfnis der neuen jüdischen Sekte der Christianer durch eine theokratische Formel zusammengezwungen. 4. Der römische Staat und die antiken Staatslehren des 1. Jahrhunderts n.Chr. können nicht als die »profanen« oder gar die »antichristlichen« Gegenbilder zu Röm 13 abgetan werden; sie bilden eine eigene geschichtliche, politische, juristische, philosophische und literarische Tradition, von der die Neuzeit mitgestaltet worden ist. 5. GG Art. 20 II betont sehr stark die Aussage, daß alle Staatsgewalt vom Volk selbst erzeugt wird (radikal-demokratisch). Andererseits hat das GG in bewußter Entscheidung das plebiszitäre Moment weitestgehend zugunsten eines rein repräsentativen Systems ausgeschaltet.67 6. Die Formel des Grundgesetzes ist nicht die antichristliche Perversion oder die Entheiligung (sogenannte Säkularisierung) der Formel »alle Gewalt ist von Gott«, sondern eine in einer besonderen Situation ermöglichte Renaissance durch antike Tradition. 7. Die Formel »alle Gewalt geht vom Volke aus« läßt sich leicht und geistreich ironisieren; natürlich muß man fragen: Und wo geht sie hin? Man sollte dabei nicht vergessen, daß sie einen emotionalen Über-

67 Vgl. H. Kelsen über die Weimarer Verfassung: »Man hat sie die freieste Verfassung genannt, die sich je ein Volk gegeben hat. Und das ist wahr. Denn sie ist in der Tat die demokratischste Verfassung der Welt. Keine gibt dem Volke soviel Recht wie sie, keine entspricht, ihrem ganzen Inhalt nach, so wie sie dem Grundsatz, der an ihrer Spitze steht, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht« (»Verteidigung der Demokratie«, in: Demokratie und Sozialismus, S. 60). Für das GG sind diese Sätze zu modifizieren, da hier jener Grundsatz nicht an der Spitze steht und die repräsentativen Elemente gegenüber den plebiszitären verstärkt worden sind, s. Ernst Fraenkel bei Rausch, 1968.

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schuß enthält, eine humanistische und revolutionäre Erinnerung an konkrete Demokratie.68 Für ein volles Verständnis von GG Art. 20 II müssen die skizzierten geistes- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen berücksichtigt werden.

B IBLIOGRAPHIE I.

Politologie

E. Fraenkel, »Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (1958)«, in: H. Rausch, s. u. G. Franz (Hg.), Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, München 21964 (darin auch die zitierten englischen, französischen und amerikanischen Texte). G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 31914 (S. 184 ff.: Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates, 1. Die religiös-theologische Begründung des Staates, bes. zur Wirkung Augustins; S. 201ff.: Vertragstheorien). H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925. Ders., »Staatsform und Weltanschauung (1933)«, in: ders.: Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, Darmstadt 1967, S. 4059. H. Kurz (Hg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, Darmstadt 1970 (mit Beiträgen von Stockhammer/Maritain/Scheuner/Maunz/ von der Heydte/Thieme u.a.).

68 Die psychologischen Probleme von Demokratie können hier nicht verhandelt werden. Zum Sprachgebrauch muß aus aktuellem Anlaß bemerkt werden, daß Emotionalität nicht Irrationalismus ist. Die nationalsozialistische Bewegung hat – im Unterschied zur Weimarer Republik – einen Teil jener Emotionen für sich zu mobilisieren vermocht (Volksgemeinschaft; ein Reich; Nation), vgl. H. Cancik, »›Wir sind jetzt eins‹. Mystik und Rhetorik in einer Rede Hitlers (Nürnberg, 11.9.1936)«, in: G. Kehrer (Hg.), Zur Religionsgeschichte der BRD, 1980 (= Forum Religionswissenschaft II), S. 13-48 (Ndr. in: Antik – Modern, hg. von R. Faber/B. von Reibnitz/J. Rüpke, 1998, S. 229-264).

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H. Rausch (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, Darmstadt 1968 (mit Beiträgen von Reuss/Fairlie/Köttgen/Wolff/Leihholz/Fraenkel/Scheuner u.a.). Ders. (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten, Bd. I, Darmstadt 1980 (Allgemeine Fragen und europäischer Überblick, u.a. zu repraesentatio, Einfluß des römischen Rechtes, Herrschaftsvertrag). E. Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Texte und Studien zur politischen Theorie des 14.-18. Jahrhunderts, hg. v. C. Schott, Freiburg 1972. L. Schnorr v. Carolsfeld, »Repraesentatio. Eine Untersuchung über den Gebrauch dieses Ausdruckes in der römischen Literatur (1939)«, in: H. Rausch, 1968, S. 15-29. A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948 (von der Magna Charta bis 1945, mit Dokumentenanhang, u.a. aus der deutschen Reichsverfassung von 1849). Ders. (Hg.), Der Herrschaftsvertrag, Neuwied 1965 (mit Texten von Kritias bis Hegel in deutscher Übersetzung; historisch nicht immer einwandfreie Einleitung, übersichtliche Bibliographie). II.

Geschichte – Rechtsgeschichte

1. Römisches Recht, römischer Staatsbegriff und ihre Wirkungsgeschichte G. von Below, Die Ursachen der Rezeption des römischen Rechtes in Deutschland, München 1905. O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. III : Die Staatsund Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Berlin 1881. M.P. Gilmore, Argument from Roman Law in Political Thought 12001600, Cambridge (Mass.) 1941. P. Koschacker, Europa und das römische Recht, (1948) 31958. G. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969. G. Post, Studies in medieval legal thought. Public law and the state, 1100-1322, Princeton NJ 1964 (= Sammlung von Postʼs Arbeiten zum Begriff ›Gewalt‹, consensus, Repraesentation etc. im Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung der antiken Tradition).

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R. Stark, »Res publica (Diss. Göttingen)«, in: H. Oppermann (Hg.): Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1967, S. 42-110 (mit Nachträgen). W. Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster 31977. 2. Frankreich W. Grab (Hg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation (= Nymphenburger Texte zur Wissenschaft 14), München 1973. Ders., Die Debatte um die Französische Revolution (= Nymphenburger Texte zur Wissenschaft 22), München 1975 (beide Bände mit umfangreicher Bibliographie). E.J. Sieyès, Politische Schriften 1788-1790, mit Glossar und kritischer Sieyès-Bibliographie. Übers. u. hg. v. E. Schmitt/R. Reichardt, Darmstadt 1975. 3. Deutschland E.W. Böckenförde, »Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche«, in: Hochland 50 (1957), S. 4-19. J. Flemming u. a. (Hg.), Die Republik von Weimar, Bd. I: Das politische System, Düsseldorf 1979, S. 1ff. (Verfassung, plebiszitäre und repräsentative Elemente). E. Fraenkel s. o. I. J. Garber, Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservativismus 1790-1810, Bd. l: Dokumentation, Kronberg i. T. 1976 (darin: Brandes/Claudius/Gentz/von Moser/von Haller/Müller u. a.). O. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 21902 (u. a. zur Iurisprudentia Romana des Althusius von 1586; S. 56ff.: zur theologisch-theokratischen und zur philosophisch-humanistischen Begründung von Staat und Gesellschaft; S. 76ff.: Die Lehre vom Staatsvertrage). H. Hildebrandt (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 101977. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, Stuttgart 1957. H. Kelsen, »Verteidigung der Demokratie (1932)«, in: ders., Demokratie und Sozialismus, Wien 1967, S. 60-68.

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Ders., »Grundsätzliches zur Interpretation von Röm 13«, in: Exegetische Versuche und Besinnungen 2 (1964), S. 204-222. H.G. Kippenberg, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 1978. J. Lebram, »Der Idealstaat der Juden«, in: Josephus-Studien. Festschrift O. Michel, Göttingen 1974, S. 233-253. K.H. Schelkle, »Staat und Kirche in der patristischen Auslegung von Röm 13, 1-7«, in: Zeitschr. f. Neutestamentl. Wissenschaft 44 (1952/3), S. 223-236. W. Schmithals, Der Römerbrief als historisches Problem, Gütersloh 1975 (Interpolationshypothese). K. Staab, Pauluskommentare aus der griechischen Kirche, Münster 1933. A. Strobel, »Zum Verständnis von Röm 13«, in: Zeitschr. f. Neutestamentl. Wissenschaft 47 (1956), S. 67-93. Ders., »Furcht wem Furcht gebührt. Zum profangriechischen Hintergrund von Röm 13,7«, in: Zeitschr. f. Neutestamentl. Wissenschaft 55 (1964), S. 58-61. T. Veerkamp, »Ermutigung; eine Übersetzung (Röm 12-13,14)«, in: Texte und Kontexte 2 (o. J.), S. 5-11.

Christentum und Todesstrafe Zur Religionsgeschichte der legalen Gewalt

§1 D IE B ESTIMMUNG DES T HEMAS Das oft behandelte Thema ›Todesstrafe‹ wird in diesem Beitrag nicht juristisch, volkskundlich oder soziologisch, sondern religionsgeschichtlich betrachtet.1 Der Gegenstandsbereich ist die Religionsgeschichte Westeuropas: Deutschland im 20. Jahrhundert, Italien in der Epoche der Aufklärung, die antiken Voraussetzungen der christlichen Anschauungen im Afrika des heiligen Augustinus. Dies ist eine kleine Auswahl aus einem überreichen Material. Die Christen haben sich häufig und mit widersprüchlichen Ergebnissen zu dem Thema geäußert. Waldenser und Täufer, Karl Marx und Karl Barth lehnten die Todesstrafe ab; Thomas von Aquino und Luther, Kant, Bismarck und Wilamowitz haben sie gefordert.2 1

Wie wichtig gerade soziologische Beobachtungen sind, belegt die folgende Statistik: In den USA wurden von 1930 bis 1950 wegen Notzuchtverbrechen 352 Personen hingerichtet. Davon waren 35 Weiße; Quelle: K. Rossa, Todesstrafen, S. 70-73.

2

Die Ablehnung der Todesstrafe durch die Waldenser ist am deutlichsten zu fassen in der für reuige Mitglieder vorgeschriebenen kirchlichen Abschwörformel: »Von der weltlichen Gewalt versichern wir, daß sie ohne Todsünde die Blutgerichtsbarkeit ausüben kann, [...]«. (Denzinger nr. 795, im Jahre 1210 dem für Konvertiten obligaten Bekenntnis von 1208 hinzugefügt). – K. Barth, Kirchliche Dogmatik III 4 (1951), S. 503ff., bes. S. 510: »Vom Evangelium her ist nichts, gar nichts für diese Einrichtung [sc. die Todesstrafe], Alles gegen sie zu sagen«. Eine gewisse Ausnahme im Sinn einer ›ultima ratio‹ einzuräumen, sieht sich Barth freilich durch Röm

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Nach dem Neuen Testament sei sie unmöglich, sagen die einen – die anderen, sie sei »einfach eine Frage des Gehorsams oder Ungehorsams gegen den Auftrag, den Gott der Obrigkeit gegeben hat«.3 Aufhebung der Todesstrafe wäre unter dieser Voraussetzung »Abfall von Gottes Recht, und zwar ein Abfall von Grund aus«.4 Im Jahre 1943 schrieb Emil Brunner: »Gerade das Schwert, die Todesstrafe, ist und soll sein: Ausdruck des göttlich heiligen Zornes über die verletzte Gottesordnung«.5 Die begrenzte, den juristischen oder soziologischen Aspekten nachgeordnete Aufgabe des Religionsgeschichtlers besteht in der philologischen und historischen Interpretation der Quellen. Sie soll die religiösen Implikationen der politischen und die politischen Implikationen der religiösen Sprache offenlegen und an einem Sonderfall die Zusammenhänge von Staat und Religion, Politik und Religionspolitik aufzeigen. Die sachgemäße religionsgeschichtliche Deutung dieser Texte und Sachverhalte benötigt fachübergreifende Begriffe, die unklar und umstritten sind oder deren politologische, philosophische,

13 gezwungen, s. ebd. S. 455. – Th. v. Aquino, Summa theologica II, II q. 64 a 2 s. – M. Luther: zum Grundsätzlichen vgl. Von weltlicher Obrigkeit (1523); zur Erlaubtheit der Todesstrafe im besonderen z. B.: Sendbrief vom harten Büchlein wider die Bauern (1525); Predigt über das 1. Buch Mose (1527); Hauspostille (1534) usw. – I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke 1, S. 452ff. – Bismarck: vgl. die Rede im Reichstag vom 1.3.1870 (s. hier im Anhang). – U. von Wilamowitz-Moellendorff, in: Deutsche Juristenzeitung 16, 1911 (s. hier im Anhang). 3

P. Althaus, Grundriß der Ethik, 21953, S. 135f.; diese Auffassung ist im Prinzip nicht verschieden von der Richard Rothes in seiner Theologischen Ethik, Bd. 5 (21871), S. 278ff.

4

A.F.C. Vilmar, Theologische Moral, 1871, S. 387, vermittelt durch E. Wolf, Theologische Argumente gegen die Todesstrafe, 1960, S. 63.

5

Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 266, vermittelt durch E. Wolf, Theologische Argumente, ebd. Ebenfalls 1943 (am 17.6.) wies der Osservatore Romano auf eine Predigt des Franziskaners Bernardin von Siena (13801444) hin, in der es heißt: »Es gibt viele Verbrecher, die man nur mit Feuer und Schwert ausrotten kann. Solche sind: hartnäckige Häretiker, unverbesserliche Verführer von Kindern, Mörder und Gotteslästerer. All diese müssen mit dem Tode bestraft werden« (mit bewundernder Zustimmung zitiert von Sigisbert Greinwald, Die Todesstrafe, 1948, S. 223f.).

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staatsrechtliche Voraussetzungen der Religionsgeschichtler von seinem Fach her nicht überblicken kann. Schon die Abgrenzung der staatlichen Todesstrafe gegen Blutrache und Formen von sozialer Exkommunikation, die oft den physischen Tod zur Folge haben,6 erfordert erheblichen Aufwand. Macht ist potentielle Gewalt. Sie schützt und droht. Die Drohung erzeugt Sicherheit und Furcht. Die Wirkung von Gewalt beruht letztlich auf Schmerz. So weit wird man sich über den Sprachgebrauch verständigen können. Weitergreifende Definitionen werden schwierig. Die Formen der ›legalen Gewalt‹ müßten erläutert und von denen der nichtlegalen unterschieden werden (Ausnahmezustand, Streik, Revolution, strukturelle und psychische Gewalt usw.). ›Staat‹ wird hier – gewiß einseitig – unter dem Aspekt der ›zentralen (Zwangs-)Gewalt‹ betrachtet (Zentralisierung des Rechts, der Sanktionen usw.). Max Weber hatte seinem Staat ›das Monopol legitimen physischen Zwanges‹ zugesprochen in der Hoffnung, der Staat werde als ›rationale Anstalt‹ dieses Monopol nach kontrollierbaren Grundsätzen verwalten. Das Monopol wird in dieser Konstruktion dem Staat von den souveränen Bürgern übertragen. Ob in dieser Übertragung aber das Recht über Leben und Tod enthalten sein kann, bleibt unklar (s. hier §3.2). Unklar bleibt auch, wie die Souveränität der Bürger mit dem Satz, daß alle Gewalt von Gott komme (Röm 13), zu harmonisieren sei. Können ›säkulare‹ – was nicht heißt: ›säkularisierte‹ – Staaten, können ›demokratische‹ – d. h. nicht-theokratische – Staaten, können ›soziale‹ – das heißt durch contrat social entstandene – Staaten die Tötung als ›Strafe‹ verhängen, Leben als ›Gnade‹ gewähren? Ist die Todesstrafe der sittliche Ausnahmezustand der Justiz, der Bürgerkrieg auf Raten, ein getarntes Kriegsrecht? Hat die Propaganda für die Todesstrafe den Zweck, die Aura des Mächtigen zu verstärken, der es wagt, für so Furchtbares die Verantwortung (›vor unserem Herrgott‹) zu tragen? Die Arbeit der Religionsgeschichte soll Erfahrung vermitteln, Erinnerungen – auch ungute Erinnerungen – wachhalten, soll zeitgenössische Argumentation aufklären und den Opfern die Möglichkeit einer Antwort geben.

6

Zum Beispiel Bann, Acht, Exil, Hetze, Lynchjustiz, ›Volksjustiz‹, Proskription, Interdikt, Fluch (vgl. Festus 318 s. v.: sacratae leges).

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§2 Z UR R ECHTSLAGE IN DER B UNDESREPUBLIK D EUTSCHLAND a) Im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates7 wurde im Februar des Jahres 1949, vor nunmehr dreißig Jahren, über Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe diskutiert. Carlo Schmid, Thomas Dehler und Heinz Renner sprachen als Vertreter der SPD, FDP und KPD gegen die Todesstrafe; einige Vertreter der CDU und FDP sprachen dafür. Die Abstimmung im Plenum des Rates am 6. Mai 1949 ergab eine überwiegende Mehrheit für den jetzigen Artikel 102 des Grundgesetzes: »Die Todesstrafe ist abgeschafft«. Dieser Artikel gilt auch im Notstand oder im Verteidigungsfall.8 Ob der Bundestag durch eine Verfassungsänderung die Todesstrafe wieder einführen könnte, ist umstritten. Wer die Ansicht vertritt, daß der Schutz des Lebens unteilbar ist, daß auch die ›sauberste‹ Hinrichtung die Würde des Menschen antastet, daß das »Leben die vitale Basis der Menschenwürde« sei, der bindet damit den Artikel 102 GG an den Artikel 1 GG: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Der Artikel 1 GG gehört jedoch zum ›unveränderbaren Kern‹, der laut Grundgesetz (Artikel 79, Abs. 3) nicht einmal berührt werden darf.9

7

Der Rat hatte, nach Düsing, S. 278, folgende Zusammensetzung: CDU – 27 Sitze, SPD – 27, FDP – 5, DP – 2, Zentrum – 2, KPD – 2. Von den Mitgliedern waren vier weiblichen Geschlechts, 47 Akademiker, 6 Professoren, 1 Arbeiter.

8

Zur möglicherweise ungenügenden Schutzfunktion des Art. 102 im Kriegsfall vgl. den Grundgesetzkommentar von Maunz/Dürig/Herzog, Bd. III zu Art. 102 Rdz. 31 (mit Lit.). Vgl. die neue spanische Verfassung, die jetzt mit großer Mehrheit gebilligt wurde. Sie beseitigt die Machtstellung der katholischen Kirche als Staatsreligion, läßt alle Macht vom Volk ausgehen und schafft die Todesstrafe ab. Nur im Militärstrafrecht bleibt sie bestehen (Quelle: dpa vom 8.7.78; 2.11.78).

9

Diese Argumentation wird z. B. in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 zur Frage des legalen Schwangerschaftsabbruchs vertreten: »Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde [...] Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu« (Der Spiegel 39, 1977, 27). Nur hingewiesen sei auf die Problematik des ›polizeilichen Todesschusses‹. Ob das GG vor der Einführung einer derartigen Prä-

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Wenn diese Argumentation zutrifft, kann aus verfassungsrechtlichen Gründen die Todesstrafe nicht wieder eingeführt werden. b) Den ersten Versuch, den Artikel 102 des Grundgesetzes aufzuheben, unternahmen, ein dreiviertel Jahr nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, die 14 Vertreter der Bayernpartei. Ihr Antrag im Bundestag wurde von der DRP und Vertretern der DP und FDP unterstützt, von der Mehrheit des Bundestages jedoch abgelehnt.10 Den vorerst letzten Vorstoß unternahm der Österreicher Otto Habsburg. Habsburg, Präsident der Pan-Europa-Union und Kandidat der CSU für das EuropaParlament, forderte auf einer Kundgebung in Freiburg am 30.4.1978 im Fall des Notstandes die Diktatur, eine »schnell arbeitende Justiz« und die Todesstrafe.11 Alle diese Versuche zeigen dasselbe argumentative Profil: Die kriminologischen und juristischen Probleme werden höchstens ge-

ventivmaßnahme schützt, ist umstritten; die Todesstrafe, die durch Art. 102 GG abgeschafft ist, ist repressiver Natur. Ich danke cand. iur. Ulrich Köstlin BL für förderliche juristische Kritik. 10 Gesetzesantrag der Bayernpartei vom 24.2.1950, Drucksache des deutschen Bundestages Nr. 619 (hier referiert nach Düsing, 302). Am 10.5.1951 beantragte die Bayernpartei im Bayrischen Landtag, die Regierung des Landes Bayern möge bei der Bundesregierung »auf Wiedereinführung der Todesstrafe bei Verbrechen des Mordes« hinwirken. Der im Rechtsausschuß einstimmig abgelehnte Antrag wurde im Plenum von der Mehrheit der CSU, u. a. durch Hundhammer und den Prälaten Meixner unterstützt, von der SPD abgelehnt. Er wurde mit 90:72:6 Stimmen angenommen (Stenogr. Berichte des Bayer. Landtages, bei Düsing, 323f.) – Ein unbestechlicher und überzeugender Kämpfer gegen alle Wiedereinführungsanträge im deutschen Bundestag war Thomas Dehler. Seine Rede vom 2. Oktober 1952, die vor allem die weltanschaulichen Hintergründe der Debatte analysiert, ist abgedruckt bei W. Höfer (Hg.), Knast oder Galgen, 1975. 11 Referiert nach Südwestpresse vom 27.4.78 (Bonn, hps). Vgl. auch Otto von Habsburg, »Zeitgerechte Abwehr«, in: Zeitbühne 4 (1978), S. 12-15: »Das Wesentlichste wäre: Alle Macht, ohne Verzug, wird auf neun Monate an eine einzige Person übertragen«. – »Es scheint absolut geboten, für eine solche Situation eine schnell arbeitende Justiz bzw. die letzte Strafe wieder einzuführen«.

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streift; im Vordergrund stehen weltanschauliche und politische Motive, die mit Hilfe des, wie man glaubt, populären Themas ›Todesstrafe‹ propagiert werden sollen. Bevor wir auf die religionswissenschaftlichen Hintergründe dieser Argumente eingehen, sei eine Auskunft des Bundesjustizministers vom 22.11.1978 referiert. Danach sind in der Bundesrepublik von 1949 bis 1964 mindestens 12 Personen, die wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren, in Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden.12 Zwölf gravierende Justizirrtümer also in fünfzehn Jahren. Wäre in diesen zwölf Fällen die Todesstrafe vollstreckt worden, hätte wahrscheinlich kaum Interesse bestanden, die Verfahren wieder aufzunehmen – die Justizirrtümer wären nicht einmal entdeckt worden. Wir erinnern daran, daß der Bundestagsabgeodnete Neumayer (FDP) den erwähnten Vorstoß der Bayernpartei im Jahre 1950 mit folgendem Argument unterstützte: Die von der Wissenschaft und Kriminalstatistik entwickelten Hilfsmittel der Justiz seien heute so weit fortgeschritten, daß mit Justizirrtümern aufgrund von Indizienbeweisen heute nur noch in den seltensten Fällen zu rechnen sei.

12 Südwestpresse vom 23.11.78 (ddp/dpa). – Neumayer (FDP) in der Bundestagssitzung vom 27.3.1950 (Stenogr. Ber. d. dtsch. Bundest., referiert nach Düsing, 305). – Vgl.: ›Unschuldig verurteilt‹, in: A. Koestler, Die Rache ist mein, S. 75-92.

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§3 C ESARE B ECCARIA (1738-1794) §3.1 Aufklärung und Absolutismus Der grundsätzliche geistige und politische Widerstand gegen die Todesstrafe beginnt im Jahr 1764 in Italien.13 Im Juli dieses Jahres erschien in Livorno, im Großherzogtum Toscana, wo die Zensur milde war, ein Büchlein mit dem schlichten Titel: Über Verbrechen und Strafen (Dei delitti e delle pene). Der Verfasser, ein fünfundzwanzigjähriger Jurist aus Mailand, blieb aus Furcht vor der Inquisition und im Blick auf seine berufliche Laufbahn zunächst anonym. Dabei war Cesare Beccaria gewiß kein Radikaler. Er steht, wie seine Mailänder Freunde von der ›Akademie der Fäuste‹ (Accademia dei pugni), im Dienst des aufgeklärten Absolutismus. Er hofft auf Reformen für das aufsteigende Bürgertum und die ›Armen‹; er glaubt an die Vernunft, das Glück und den Fortschritt und ist dabei nicht einmal antiklerikal. Beccaria ist Sensualist,14 aber nicht Atheist; Vernunft und Religion hat er streng geschieden. So trennt er denn auch das Verbrechen von der Sünde, die Justiz von der Religion: Der irdische Richter ist kein Beauf-

13 Die Ablehnung der Todesstrafe, bzw. ihres Vollzugs durch Christen, wie sie in der frühen Kirche und bei christlichen Randgruppen (z. B. den sog. Waldensern, s. o. Anm. 2) vertreten wurde – auch Thomas Morus (14781535) hatte in seiner Utopia die Todesstrafe abgelehnt –, blieb in der neuzeitlichen Diskussion ohne Gewicht. Dagegen haben die Strafrechtsreformen in Rußland (Elisabeth II., 1709-1761) Beccaria sehr beeindruckt; vgl. Dei delitti e delle pene, c. 28, mit der Anmerkung von Venturi. Ein unmittelbarer Vorläufer Beccarias ist der Österreicher von Sonnenfels (1746). – Zur Geschichte des Problems ist nach wie vor unentbehrlich: H. Hetzel, Die Todesstrafe in ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung, 1880, hier bes. S. 484-515. 14 Genauer: ein »Gefolgsmann des Aristipp«. Diese Angabe aus seiner selbstverfaßten Grabschrift zeigt eine gute Kenntnis des antiken Materialismus: Üblich wäre die Berufung auf Epikur gewesen oder Lukrez. Die Grabschrift lautet: Caesar Beccaria/Johannis F. Francisci N./Aristippi sectator/voluptatem virtuti sociavit/errores hominum/luce metyphysices prosequutus/sibi potius quam posteris/consulens/vitam minus ambitiose/quam tranquille vixit. (Text nach Fr. Venturi, Illuministi Italiani III, 1938, S. 5).

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tragter des höchsten Wesens.15 Dies widerspricht der Bibel und wird die heilige Inquisition interessiert haben. Beccaria setzt Aufklärung und Humanismus voraus: Aristipp, Epikur und Lukrez unter den Alten, von den Modernen Bacon, Montesquieu, Helvetius, Rousseau, Diderot, dʼAlembert.16 Der junge Mailänder Jurist zieht aus diesen Voraussetzungen konkrete Schlüsse: er ist gegen das Duell, gegen den Eid, gegen die Folter;17 er ist gegen die Bestrafung des Freitodes und gegen die Verbrennung Andersgläubiger: damit freilich greift er die Inquisition direkt an;18 Beccaria ist gegen die harte Bestrafung der griechischen Liebe,19 des Ehebruchs und

15 Beccaria, Vorrede an den Leser; c. 18 u. ö. Diese Trennung widerspricht dem Wortlaut und der Intention von Paulus (?) Röm 13,4: ékdikos eis orgén (ἔκδικος εἰς ὀργὴν). Die Gottheit ist Schirmerin des Rechts in allen Hochreligionen; auch das Alte Testament kennt den Richter als Jahwes Beauftragten, siehe z. B. Dtn 17,12 u. ö. – Zur historischen Situation vgl. Lewandowski, Die Todesstrafe in der Aufklärung, der richtig hervorhebt, daß die Diskussion über die Todesstrafe der Aufklärung verdankt wird (S. 162-165); zu Beccaria s. S. 85-148 passim. 16 Beccaria nennt seine Lehrer in einem Brief an André Morellet (Text bei Venturi, Cesare Beccaria, 361-369): dʼAlembert, Diderot, Helvetius, Buffon, Hume, Baron von Holbach, Montesquieu, Condillac, Bacon. – Montesquieu (1689-1755) wird von Beccaria zitiert in der Einleitung und den Kapiteln 2 und 15; Beccaria kannte die Lettres persanes und L'esprit des lois. Bacon liefert das Motto für sein Werk. Rousseauʼs ›Emile ou de l'éducation‹ war kurz zuvor erschienen (1762), Montesquieuʼs ›Geist der Gesetze‹ 1758. – Was die Alten betrifft, so ist u. a. auf die Schulbildung Beccarias zu verweisen, der von 1746 bis 1754 das Collegio dei Nobili, ein Jesuitenkolleg in Parma, besuchte. 17 Beccaria, c. 10; c. 18; c. 16. – Vgl. die Schrift eines anderen bedeutenden Mailänder Illuministen: Pietro Verri, Osservazioni sulla tortura, 1776/77; Text bei: Romagnoli, Illuministi settentrionali, S. 213-309. – Zur christlichen Rechtfertigung der Folter s. u. §3.3. 18 Beccaria, c. 32; c. 39. 19 Beccaria, c. 31: »Lʼattica venere così severamente punita dalle leggi e così facilmente sottoposta ai tormenti vincitori dellʼinnocenza, ha meno il suo fondamento su i bisogni del uomo isolato e libero che sulle passioni del uomo sociabile e schiavo«.

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der Kindestötung;20 gegen die Grausamkeit der Strafen an sich – die geringste, meint er, sei die gerechteste;21 gegen eine Klassenjustiz, in der die Reichen sich mit ›Geldstrafen‹ freikaufen, die Armen wegen Diebstahls verdammt werden: Wer reich ist, braucht nicht (mehr) zu stehlen.22 Beccaria ist nicht nur gegen, er ist auch für, zum Beispiel für Vorbeugen statt Strafe, für Erziehen statt Abschrecken, für eine Beschränkung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. All dies ist philanthropischer Optimismus. Beccaria vertritt »die Interessen der Menschheit« (glʼinteressi dellʼumanità).23 Die Klassenkämpfe der französischen Revolution werfen erst schwache Schatten.24

20 Beccaria, c. 31. 21 Beccaria, c. 3; c. 12; c. 27; c. 47. 22 Beccaria, c. 21: pene dei nobili, und c. 22: furti. 23 »glʼinteressi dellʼumanità« (Vorrede an den Leser, Venturi, 6). Vgl. Alff, S. 47ff., S. 50; vgl. Beccaria, c. 34: dei debitori. 24 Beccaria ist sich unsicher in der Begründung des Privateigentums, c. 34 und Anmerkung: »Handel und Eigentum an Gütern gehören nicht zu den Zwecken des Gesellschaftsvertrags, können jedoch ein Mittel sein, ihn herbeizuführen. Die Mitglieder der Gesellschaft den Übeln auszusetzen, für deren Entstehung es so viele Zusammenhänge gibt, hieße die Zwecke den Mitteln unterzuordnen, ein Fehlschluß aller Wissenschaften, vor allem jedoch der Politik, in den ich selbst in früheren Auflagen verfallen bin, wo ich sagte, der unschuldig in Zahlungsunfähigkeit Geratene müsse als Pfand für seine Schulden in Haft gehalten oder zur Zwangsarbeit für die Gläubiger veranlaßt werden. Ich schäme mich, dies geschrieben zu haben. Ich bin der Irreligiosität angeklagt worden, und ich habe es nicht verdient. Ich bin des Aufruhrs angeklagt worden, und ich habe es nicht verdient. Ich habe die Rechte der Menschheit verletzt, und niemand hat mir daraus einen Vorwurf gemacht« (Übersetzung von Alff, S. 137).

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§3.2 ›Das Opfer für den Götzen Staat‹ Beccaria hat, wie gesagt, als erster25 die juristischen, historischen und philosophischen Gründe gegen die Todesstrafe zusammengestellt: • Die Geschichte lehre, daß die Todesstrafe nicht abschreckend wir-

ke, eine Aussage, die heute, zweihundert Jahre nach Beccaria, als fest gesichert gelten kann;26 • die Geschichte lehre, daß Staaten auch ohne Todesstrafe auskommen, wie etwa der römische;27 • die Hinrichtung errege nicht nur Furcht, sondern auch Mitleid, Grausamkeit, »geheimes Wohlgefallen an der eigenen Autorität«, sie sei deshalb nicht nützlich; • lebenslängliche Zwangsarbeit sei ein hinreichender Ersatz;28

25 Romagnoli, Illuministi settentrionali, 505: »II Beccaria allora ci apparirà, senza alcun dubbio, il primo deciso negatore del diritto della pena di morte«. Selbst Montesquieu hatte an der Todesstrafe, als Talion für schwere Delikte, festgehalten (Esprit des lois, B. 12, c. 4.). 26 Die vorgeblich abschreckende Wirkung der Todesstrafe wurde von Liepmann mit reichem, inzwischen vermehrtem Material als unhaltbar erwiesen (Die Todesstrafe, 1912). Das Argument des unheilbaren Justizirrtums hat Beccaria in ›dei delitti e delle pene‹ nicht gebraucht; es erscheint erst in dem 1792 von Beccaria, Gallarati Scotti und Risi verfaßten Gutachten zur Reform des Kriminalsystems in der österreichischen Lombardei: Beccaria betrachtet hier den Justizirrtum angesichts eines Verbrechens, das den Staat in seiner Existenz bedroht, als das kleinere Übel: Übersetzung und Erläuterungen zu diesem Gutachten bei K. Esselborn, Über Verbrechen und Strafen, Leipzig 1905, S. 190-199. Vgl. auch die Zusammenfassung der Wirkung Beccarias bei Düsing, 14-21. 27 Hierbei ist die Tötung von Angehörigen der Unterschicht (Sklaven) offenbar nicht beachtet. Richtig ist, daß die Hinrichtung freier römischer Bürger außerordentlich selten war. Anderseits gab es den Terror der Bürgerkriege, Proskriptionen und die Erklärung zum ›Staatsfeind‹: Wesentlich an dem rechtgeschichtlichen Argument bleibt, daß die Todesstrafe keineswegs desto häufiger und desto magischer wird, je weiter man in die Geschichte zurückgeht. 28 Beccaria hält die Todesstrafe nur dann für ›notwendig‹, wenn trotz Einkerkerung der Schuldige die Sicherheit des Staates bedrohe oder wenn nur

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• ein Mörder könne den Sinn dieser Strafe, die ihm antut, was er

selbst getan hat, nicht einsehen; er müsse sich sagen: »Ah, diese Gesetze sind nur die Vorwände der Gewalt und die bewußte und grausame Formalität der Justiz; sie sind nur eine verabredete Sprache, um in größerer Sicherheit uns zu opfern, als Schlachtopfer bestimmt für die Opferung an den unersättlichen Götzen der Herrschaft."29 Todesstrafe ist, nach Beccaria, Götzendienst. Diese Behauptung, aus Gründen der Eindringlichkeit und der Vorsicht dem hinzurichtenden Verbrecher in den Mund gelegt, mußte die Christen hart treffen, wenn sie Tötung von Menschen im Auftrag ihres Gottes vornahmen. Todesstrafe ist Menschenopfer an das Idol Staat: Diese Formel ist mehr als ein geistreiches Bild. Sie verweist kritisch auf den Grundsatz der aufklärerischen Staatslehre, aus der Beccaria seinen prinzipiellen Einwand gegen die Todesstrafe abzuleiten versucht, auf den contrat social. Die Souveränität und die Gesetze entstehen, nach Beccaria, aus jenen »Portionen von Freiheit«, die jeder Einzelne an den Staat abgetreten hat.30 Der Herrscher ist Verwalter der volontà generale. Weder der Staat noch die Souveränität sind von Gottes Gnaden. Der Grund der menschlichen Gemeinschaft ist Nutzen und Sicherheit. Bei diesem Gesellschaftsvertrag hat niemand an den Staat das Recht, ihn selbst zu töten, abgetreten; denn dieses ›Recht‹ besitze niemand: »Die Strafe des Todes ist also kein Recht [...], sondern der Krieg des Staates gegen ei-

durch Tötung andere von der Begehung eines Verbrechens abgehalten werden können. 29 Beccaria, c. 28: della pene di morte: »Ah, queste leggi [...] non sono che un linguaggio di convenzione, per immolarci con maggiore sicurezza, comme vittime destinate in sacrificio all'idolo insaziabile del dispotismo«. – Die Ausdrücke ›Übereinkunft‹ und ›größere Sicherheit‹ sind ironische Zitate aus dem contrat social. 30 Beccaria, c. 1 (Ursprung der Strafen); c. 2 (das Recht zum Strafen); c. 3 (Folgerungen) und c. 42 (von den Wissenschaften) – mit einer ausführlichen Kulturentstehungslehre.

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nen Bürger«.31 Damit ist in der Tat die Tötung als Strafe aus dem (normalen) Rechtssystem ausgeschlossen. Aber: Auf dem Umweg über das Kriegsrecht und den ursprünglichen Krieg aller gegen alle hatte schon Thomas Hobbes (1651) die Tötung von Menschen gerechtfertigt;32 auch Beccaria hat sie in Ausnahmefällen zugelassen, wenn nämlich ein Angriff auf die Gesellschaft selbst nicht anders abgewendet werden könne. Das Kriegsrecht bleibt auch bei Beccaria eine Möglichkeit, die Tötung zu rechtfertigen – eine sehr dehnbare Möglichkeit. Und es ist offenkundig, daß man den Bestand der Gesellschaft auch durch ein Sakrileg oder durch einen Diebstahl gefährdet sehen kann, weil diese die ›religiösen oder wirtschaftlichen Grundfesten der Gesellschaft erschüttern‹. Der Weg über den Gesellschaftsvertrag führt also so lange nicht zwingend zu einer prinzipiellen rationalen Ablehnung der Todesstrafe, wie der Krieg eine rechtlich erlaubte Handlung bleibt. Die Staatslehre der Aufklärung reduziert die Tötung von Menschen auf Notwehr, auf Krieg. Wenn der Staat nicht mehr Abbild göttlicher Ordnung ist, wenn der Allmächtige, der Herr über Leben und Tod, dem Mächtigen nicht mehr von seiner Macht delegiert, werden Versuche einer religiösen Begründung sinnlos, oder sie mißraten zur Empfehlung von Menschenopfern an das Idol Staat, das ist an den Levia-

31 Beccaria, c. 28: »Non è dunque la pena di morte un diritto [...] ma è una guerra della nazione con un cittadino«. 32 Thomas Hobbes (1588-1679), Leviathan; hier benutzt in der Ausgabe von Iring Fetscher/Walter Euchner, Berlin 1966; c. 28: »[...] Aber ich habe oben ebenfalls gezeigt, daß vor Errichtung des Staates jedermann ein Recht auf alles [...] hatte, was ihm zu seiner Selbsterhaltung nötig schien, nämlich zu diesem Zwecke jeden zu unterwerfen, zu verletzen oder zu töten. Und dies ist der Grund des in jedem Staat ausgeübten Strafrechts«. Beccaria hat – trotz seiner kritischen Rezeption Rousseaus – auch aus John Locke und Hobbes gelernt; in seiner Urgesellschaft herrscht ebenfalls »ein ständiger Kriegszustand«, der durch den Gesellschaftsvertrag überwunden werden soll (Beccaria, c. 1). Wer den Gesellschaftsvertrag an sich bedroht, kann im Notfall – auch nach Beccaria – getötet werden (s. o. Anm. 28). – Da jener Urkrieg freilich so wenig nachweisbar ist wie ein Urfrieden, wollen wir beide Mythen aus unserer Untersuchung ausklammern.

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than, an den »sterblichen Gott«, den sich die Menschen durch ihren Gesellschaftsvertrag erzeugt haben.33 §3.3 ›Socialista‹ Ferdinando Facchinei, ein Mönch aus Vallombrosa, hat die Gegengründe der katholischen Kirche Italiens gegen Beccarias Gedanken auf die Nachwelt gebracht:34

33 Hobbes, Leviathan, c. 17: »Von den Ursachen, der Erzeugung und der Definition eines Staates« (S. 134): »Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinigte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Die ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken«. – Der Ausdruck ›sterblicher Gott‹ war Hobbes vielleicht aus der stoischen Philosophie geläufig, die den ›idealen Weisen‹ einen mortalis deus nannte (Quintilian 1,10,5). Auch der genius des Menschen heißt deus mortalis, vgl. Horaz, epist. 2,2,188. 34 F. Facchinei, Note ed osservazioni sul libro intitolato Dei delitti e delle pene, Venezia 1765. Ich kenne diese Schrift nur aus dem Teildruck bei Venturi, Cesare Beccaria, S. 164ff. und der ›Risposta‹ der Brüder Verri, s. u. Anm. 37. – Der Mönch Facchinei war freilich kein offizieller oder auch nur offiziöser Vertreter der Kirche oder gar der Inquisition, er war vielmehr selbst mit ihr in Konflikt gekommen, s. Venturi, Socialista e socialismo, S. 130. Was die offizielle Haltung der katholischen Kirche zur Folter angeht, so findet man bei Denzinger, Enchiridion Symbolorum, 1963 eine einzige Stelle, Nr. 648: Im Jahre 866 lehnt Papst Nikolaus I. die Folter in Gerichtsverfahren zur Erzwingung von Geständnissen ab. Das Wort ›Inquisition‹ fehlt im Index des Enchiridion ebenso wie die diese Einrichtung betreffende päpstliche Gesetzgebung im Text. Nur eine mild tadelnde Fußnote zu Nr. 648 verweist auf die Fundstellen für diese Gesetzgebung in: Bullarum, Diplomatum et Privilegiorum Rom. Pontificum Taurinensis editio, ed. G. Tomasetti et al., Turin 1857ff. Nach Ausweis der Numerierung war die Äußerung Nikolaus‹ I. (sie gehört zu einer Anzahl von Antworten an eine bulgarische Gesandtschaft) in den vor 1963 erschienenen Ausgaben des Enchiridion nicht enthalten; demgegenüber mutet es fast wie ein Versehen an, daß die Verdammung des Luthersatzes, Verbrennung von Häretikern sei gegen den Willen des Geistes (Nr. 1483), in der neuen Ausgabe nicht getilgt wurde. Es ist freilich zu be-

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• Ohne Inquisition, Folter und Todesstrafe müsse die alte Ordnung in •

• •



den Staaten Italiens zusammenbrechen; der Ersatz der Todesstrafe durch Zuchthaus mit Zwangsarbeit sei ungerecht und wirkungslos, weil für die unteren Schichten zwischen Zuchthaus und ihrem alltäglichen Leben kein spürbarer Unterschied bestehe; die Idee von Freiheit und Gleichheit der Menschen sei »falsch und absurd«; die Trennung von Verbrechen und Sünde, von religiös-moralischer Schuld und juristischer Strafe entheilige das menschliche Zusammenleben, trenne die Kirche von der Justiz; wer die Gesellschaft durch Gesellschaftsvertrag aus einem ursprünglichen Kriegszustand herleite, müsse dem Staat das Recht auf Notwehr und damit Tötung von Bürgern zugestehen: Diese Behauptung ist nur teilweise richtig; sie beruht auf der Annahme, die staatliche Gerichtsbarkeit übernehme einfach die private Selbsthilfe oder Blutrache und setze sie fort; die Rechtsgeschichte lehrt, daß dies nicht der Fall ist.35

Im Jargon des Religionswissenschaftlers zusammengefaßt, lauten die entscheidenden ›Vorwürfe‹ gegen Beccaria: Entsakralisierung36 und Entklerikalisierung von Gesellschaft, Staat und Justiz, Ersatz der religiösen Begründungen durch philosophische, Begründung der legalen

dauern, daß durch die an sich begrüßenswerte Tendenz der katholischen Kirche, sich von den Barbarismen ihrer Geschichte zu distanzieren, ein so wichtiges religionsgeschichtliches Arbeitsinstrument wie die Sammlung der Definitionen und Deklarationen durch ungenügend kenntlich gemachte Änderungen in seiner Aussagekraft unzuverlässig wird. 35 Die geschichtliche Entwicklung lehrt, daß bei der Übertragung von Selbsthilfe und Blutrache auf den Staat dieser keineswegs diese Formen der Vergeltung ohne weiteres fortsetzt. Die Befürworter der Todesstrafe übersehen meist, daß schon in frühester Zeit auch hier neben Talion verschiedene Formen von Sühne (wie etwa Wergeld) möglich waren. 36 Der Begriff ›Entsakralisierung‹ soll nicht implizieren, daß Theorie und Politik der Aufklärung ›nur‹ eine Säkularisierung christlicher Gedanken und Institutionen gewesen seien. Hier wurde teils Neues geschaffen, teils hellenische und römische Traditionen in Staatslehre, Recht und Philosophie aufgenommen und aktualisiert.

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Gewalt: auf das Volk, nicht auf Gott; Einführung von demokratischen Prinzipien. Der Mönch von Vallombrosa verquickt seine theologischen Bedenken mit auch politisch und persönlich gefährlichen Beschuldigungen:37 Beccaria erkenne die göttliche Gerechtigkeit nicht an; er glaube nicht an die heilige Schrift; er behaupte, ein guter Staat und Religion seien unvereinbar; sein Buch sei voller Häresien, antiker und moderner; er sei ein Aufrührer, ein Feind des Christentums, ja ein Feind des Allerhöchsten. Er wolle der »Rousseau der Italiener« sein; er sei ein Nachfolger jenes Protestanten, der ein Buch ›gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen‹ geschrieben habe. Weniger gefährlich als der Verdacht auf Protestantismus war damals der Verdacht, ein ›Gesellschafter‹ zu sein, ein Mensch also, der die menschliche Gemeinschaft, den Staat und das Recht nicht auf göttliche Stiftung, sondern wie die antiken Materialisten und viele derzeit moderne Philosophen auf einen ›Vertrag‹ gründet, auf synthéke, foedus oder contrat social. Beccaria war so ein ›Gesellschafter‹, ein socialista also, der erste übrigens, auf den das Schimpfwort ›Sozialist‹ gemünzt war.38 Am 3.1.1766 setzte der Vatikan Beccarias Strafrechtsreform auf den Index librorum prohibitorum der römischen Kirche, wie üblich ohne Begründung. Dennoch wurde, im Lauf der Zeit, nicht zuletzt un-

37 Referiert nach der »Risposta ad un scritto che s'intitola Note ed osservazioni... « von Pietro und Alessandro Verri (1765), in: Beccaria, Dei delitti..., Bd. II (1789), S. 99ff.; vgl. Venturi, Cesare Beccaria, S. 178-188. 38 Venturi, Socialista e socialismo, S. 129-140. Der Mönch F. Facchinei fand mit seinem Gebrauch des Wortes ›socialista‹ als Beschimpfung eines Anhängers des contrat social (Venturi, ebd. S. 133) zunächst keine Nachfolger. Die nächste Fundstelle für das Wort ist der 1789 erschienen Band III des Werks: Della restaurazione di ogni filosofia dei secoli XVI, XVII e XVIII von A. Bonafede: Hier werden ›socialisti‹ genannt die Naturrechtler Grotius, Pufendorf und Cumberland (Venturi, S. 137). Venturi hält eine Herkunft des Wortes ›socialista‹ letztlich von dem durch Genovesi vermittelten Begriff socialitas für wahrscheinlich.

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ter dem Eindruck von Beccarias Argumenten, die Todesstrafe in Italien abgeschafft. 1930/31 wurde sie wieder eingeführt.39

§4 W ALTER K ÜNNETH Nicht nur der Vatikan tat sich schwer mit den neuen und doch so traditionsreichen Begründungen der legalen Gewalt und des Rechtswesens.40 Die evangelischen Christen hatten sich in der Confessio Augustana (XVI; 1530) gegen die Täufer, Schwärmer und Pazifisten darauf festgelegt, »daß Christen mögen in Oberkeit, Fürsten- und Richteramt ohne Sünde [...] Übeltäter mit dem Schwerte strafen, rechte Kriege führen«. Diese Ansicht wird seitdem von der Mehrzahl der evangelischen Theologen vertreten.41 Auch nach der Abschaffung der Todesstrafe hat man sich eifrig um die Revision dieses Artikels des Grundgesetzes bemüht. Aus den zahlreichen einschlägigen Schriften von Walther Künneth möchte ich die religionsgeschichtlich wichtigen Aussagen referieren.42 Walter Künneth, seit 1953 Professor für systematische Theologie in Erlangen, meint, daß durch die Todesstrafe im Fall von Mord einerseits Gottes Heiligkeit und Majestät wiederhergestellt werde (S. 53), anderseits der Staat erst so seine »letzte metaphysische Würde, letzte Hoheit zum Ausdruck bringe« (S. 57). Dabei handle das Amt als

39 Vgl. auch das Parteiprogramm der NSDAP (verabschiedet am 25.2.1920): §18 fordert die Todesstrafe für »gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw«. 40 Zur Rechtsgeschichte vgl.: P. Koschaker, Europa und das römische Recht, München/Berlin 1947; G. von Below, Die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, München 1905; M.P. Gilmore, Argument from Roman Law in Political Thought 1200-1600, Cambridge (Mass.) 1941. 41 E. Wolf, Theologische Argumente, 60ff.; er nennt: Th. Haering, A. Schlatter, R. Seeberg, E. Hirsch, E. Brunner, P. Althaus u. v. a. m. 42 Nach Künneth, 1950. – Die von Künneth hier vorgelegten Argumente sind eine Zusammenfassung seiner Reden anläßlich einer Beratung der Großen Strafrechtskommission ›Für und Wider die Todesstrafe‹ vom 17.10.1958. Trotz Künneths Plädoyer lehnte die Kommission mit großer Mehrheit die Wiedereinführung der Todesstrafe ab.

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»Dienerin Gottes«. Gottes Zorn werde durch den Tod des Verbrechers besänftigt (S. 53f.) Sein – des Verbrechers – Tod habe »Sühnekraft«, und zwar »objektiv«: Unabhängig davon, ob der Delinquent die Sühne personal vertritt oder nicht, wirkt sein Blut besänftigend auf den Zorn seines Gottes. Künneth nennt diesen Akt deshalb – unabsichtlich, aber für Künneth zutreffend – ein ›Opfer‹.43 Facchinei, der Mönch von Vallombrosa aus dem Jahre 1765, wirkt gegenüber dieser Veterinär-Theologie von 1960 fortschrittlich. Es nutzt jedoch wenig, diese Gedankensprünge des ›magisch-transcendenten Realismus‹ (Hans Dombois)44 als abwegig, ›primitiv‹ oder etwa ›heidnisch‹ zu beklagen: Kein Hellene oder Römer hat die Todesstrafe

43 Künneth, 55: »Freilich müssen wir noch einem Einwand gegen den Sühnegedanken begegnen [...]; der Gedanke lautet: Der Glaube an eine Sühnekraft des Todes kann die Todesstrafe nicht als Sühne verständlich machen, weil es doch nicht entsühnt, einen andern zu opfern statt sich selber, und die erzwungene Gewaltsamkeit der Hinrichtung mit dem Ethos des Sühnegedankens im Widerspruch steht. Dagegen aber muß folgender Gedanke ausgesprochen werden: [...] Entscheidend ist die Restitution als objektiver Tatbestand [...]. Die Objektivität des Sühneereignisses ist daher gültig und wesentlich, gleichviel, wie das Bewußtsein des Menschen darauf reagiert [...]« – Karl Barth hatte in seiner Kirchlichen Dogmatik (III 4, 506) gefragt: »Wie kann man angesichts des für die Sünde der Welt ans Kreuz geschlagenen Jesus Christus zur Begründung der Todesstrafe immer noch und wieder mit dem Sühnegedanken operieren?« 44 H. Dombois, Mensch und Strafe, 111f., hat den Tod Jesu selbst für die Begründung der Todesstrafe auszuwerten versucht; er sieht in ihm einen »magischen Realismus« der aber »transzendiert« werde: »Der Christ kann die Berechtigung der blutigen Todesstrafe nicht grundsätzlich leugnen, ohne die alleinige Grundlage seines Heils zu einem rechtsgeschichtlichen Anachronismus zu machen. Man stelle sich nur vor: Jesus als gefährlicher Aufrührer in lebenslänglicher Haft oder nach dem Grundsatz der Religionsfreiheit freigesprochen«. Derselbe Gedankengang findet sich bei dem oft genannten Gefängnisgeistlichen Greinwald (Die Todesstrafe, 1948); sein Kronzeuge dafür ist (233) Joseph de Maistre (dessen Hauptwerk: Du Pape, erschienen 1819). Die Passage bei Greinwald ist eine der Stellen dieses demagogischen Buches, in denen der Autor, der sich gern als einfacher, aus langer leidvoller Erfahrung sprechender Gefängnisseelsorger gibt, seine philosophisch-theologischen Ahnen deutlich erkennen läßt.

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je so ›theologisch‹ begründet. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß einige dieser Vorstellungen – in vergröberter Form – vor nicht langer Zeit sehr volkstümlich waren. Eine religionspsychologische Untersuchung dieser Spekulationen ist eine wichtige Aufgabe. Wie ist dieses Konglomerat aus Blutmystik, Staatsvergötzung und Christentum entstanden? Eine wichtige Station ist Augustin.

§5 D IE L EHRE AUGUSTINS §5.1 Irdische und himmlische Gerechtigkeit a) Für Augustin war die Todesstrafe ein notwendiger Bestandteil der Rechtspflege. Man konnte in dieser Welt nicht darauf verzichten, so wenig wie auf Folter oder Krieg.45 Die Anzahl der todeswürdigen Delikte und der vollzogenen Hinrichtungen war zur Zeit Augustins viel höher als in der Republik.46 Der römischen Republik genügten Bann oder Deportation, wo der autoritäre Staat der Spätantike töten mußte.47 Für die unteren ›Stände‹ war

45 Siehe Anhang. 46 Cicero z. B. rühmt die Milde der römischen Gesetzgebung (pro Rabirio 3,10): zur Einschränkung der Capitaljustiz durch das Recht auf Provokation an das Volk, das der Tradition nach unmittelbar mit dem Beginn der Republik eingeführt wurde; Vertreibung der Tyrannen, Konstitution der Freiheit, Abschaffung der Todesstrafe sind quasi Synonyme; der Bitterkeit der Strafen (acerbitas suppliciorum) stellt Cicero die Sanftheit der Gesetze (lenitas legum) gegenüber. Zum Stolz der Römer auf die Abschaffung barbarischer Strafen vgl. noch Livius 1,26,5-8: zum Prozeß gegen den dritten Horatier, der seine Schwester getötet hatte; 1,28,10: die Zerreißung des albanischen Königs Mettius Fufetius durch zwei Quadrigen unter Tullus, das letztemal, so betont Livius, daß diese Strafe angewandt wurde. – Daß die ›Milde‹ der Gesetze im wesentlichen der herrschenden Schicht zugute kam, und daß sie in der Praxis oft genug umgangen wurden, tut der Dignität dieser Staatskonzeption keinen Abbruch. 47 Zur Verschärfung der Strafen unter den Severern s. Paulus (1. Hälfte 3. Jh. n.Chr.), Sententiae 5,23,1: in Fällen, für die die Lex Cornelia früher Deportation vorsah, wird jetzt auf Tod erkannt; dieselbe Verschärfung gilt im Falle der Lex lulia maiestatis: Ders., 5,29,1. – Eine Zusammenstellung to-

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zum Beispiel das Führen falscher Standesabzeichen ein todeswürdiges Delikt.48 Augustin hat diese Praxis nicht, wie einige Kirchenväter vor ihm, stillschweigend geduldet oder gar kritisiert.49 Kritik wäre damals

deswürdiger Delikte nach Paulus, bei Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 1045-1049. 48 Paulus, Sententiae, 5,25,12. 49 Schöpf, Tötungsrecht, S. 243, faßt seine Untersuchungen, wie folgt, zusammen: »Gegen die Notwendigkeit und innere Zulässigkeit der Todesstrafe wendet sich kein einziger christlicher Autor; doch erklärten Athenagoras, Tertullian, Origenes und Laktantius ganz entschieden, daß Christen weder direkt noch indirekt am Urteil oder der Exekution sich beteiligen dürfen. Nach dem endgültigen Siege Konstantins werden jedoch solche Bedenken nicht mehr vorgebracht, wie die Darstellung des Eusebius zeigt«. Eine Prüfung der auf S. 151ff. ausgebreiteten Stellen führt indessen zu dem Ergebnis, daß der erste Satz der zitierten Passage umgekehrt zu formulieren wäre: Außer Clemens von Alexandria hat vor dem 4. Jh. kein Kirchenvater die Todesstrafe eindeutig bejaht. Viele der angeführten Stellen, die Schöpf, da sie nicht eindeutig ablehnend formuliert sind, für zustimmend hält, müßten genau auf ihren Zeugniswert untersucht werden. Daß nicht wenige Kirchenväter – nicht zu vergessen die Synode von Elvira (can. 73, Anfang 4. Jh.) – den Gläubigen ausdrücklich verbieten, irgendwie an einem Todesurteil beteiligt zu sein, ist gewissermaßen nur ein Symptom für eine allgemeine Ablehnung der staatlichen Gewalt durch die alte Kirche; unter diesem Gesichtspunkt kann die Leichtigkeit, mit der Schöpf das eigentliche Problem im Schlußsatz der zitierten Passage überspielt, nur befremden. Unverständlich sind die Schlußfolgerungen Schöpfs (S. 254ff.), der Harnacks These von der zunehmenden Verweltlichung der christlichen Ethik glaubt korrigieren zu können: »Also darf auch die Entwicklung der Ethik nicht einfach als fortschreitende Verweltlichung charakterisiert werden, sondern als fortschreitende behutsame Anpassung an die gottgegebene Weltordnung. Entartungserscheinungen lassen sich nur bei Eusebius nachweisen. Auch die Hereinnahme naturrechtlicher Überlegungen bedeutet keine Verwässerung der christlichen Sittenlehre, sondern eine unbedingt notwendige Vervollständigung der Lehre vom Guten und Bösen« – eine zumindest ungewöhnliche Verklärung der spätantiken Welt. Immerhin hat Constantin im Hinblick auf den Tod Jesu die Kreuzesstrafe für Sklaven abgeschafft (s. Mommsen, Strafrecht, 921 und Anm. 1); diese Maßnahme

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auch – drei Generationen nach Constantins Machtergreifung – schwieriger gewesen: Kaiser, Richter, Soldaten und Untertanen waren ja Christen; aber die Welt hatte sich nicht geändert; die Justiz blieb, was sie zu Diokletians Zeiten gewesen war; ein christliches Strafrecht gab es nicht,50 man trieb weiter, was man übernommen hatte.51 Nur die Begründungen der Theologen änderten sich: Sie wurden länger, abschreckender und besser. So wird denn bei Augustin die Todesstrafe Element einer umfassenden und detaillierten Lehre vom Menschen, vom Staat und von der Welt. Seine Lehre ist ›heilsgeschichtlich‹, dogmatisch und praktisch. Ihr zentraler Punkt ist das Zusammenwirken von himmlischer und irdischer Justiz. Hierzu ein Beispiel aus der Praxis: b) Um das Jahr 400 schrieb Augustin eines seiner zahlreichen ContraWerke.52 Er wandte sich gegen den offenen Brief eines bereits verstor-

hätte ein Anlaß sein können, das Problem der Todesstrafe gründlich zu durchdenken und nicht nur an äußeren Symptomen zu kurieren. 50 Bezüge zu den Gesetzen des Alten Testaments sind schon in der Antike hergestellt worden, vgl. z. B. die Mosaicarum et Romanarum legum collatio, ed. Th. Mommsen (Collectio librorum iuris Anteiustiniani, Bd. III, [1890], S. 107-198). – Augustin selbst bezieht sich des öfteren auf Gerichts- und Strafpassagen aus dem Neuen Testament, so etwa in der bereits zitierten Stelle (Anm. 45 a) civ. 21,11: Der Begriff der secunda mors, des zweiten – ewigen – Todes, dürfte aus Apk 20,15 und 21,8 entlehnt sein; dort findet sich auch ein Katalog von Verbrechen, die mit dem zweiten Tod bestraft werden. Augustin nennt (Z. 31) nur drei: Mord, Ehebruch, Sakrileg, wobei allerdings nicht klar wird, ob er damit behaupten will, diese seien in der staatlichen Justiz seiner Zeit tatsächlich mit dem Tod bestraft worden. 51 Diese Übernahme des römischen Strafrechtes in den christlichen Staat und die christliche Theologie ist dem Druck der Tradition und der Tatsachen zu verdanken und wohl kaum als eine vertiefte Einsicht in das Naturrecht zu bezeichnen (Schöpf, S. 256). 52 Augustin, contra epistulam Parmeniani (PL Bd. 43; CSEL Bd. 51, S. 17141). Die Datierung schwankt zwischen 398 (Willis, Deane) und »in late 400« (P. Brown, Religion and Society, S. 266). – Zum Verhältnis von theoretischen Formulierungen bei Augustin und ›spontanen‹ Reaktionen in Briefen, Predigten und polemischen Schriften s. Brown, ebd. 28.

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benen Bischofs, Parmenian (gest. 391 oder 392). Dieser Parmenian war das Haupt der von ihren Gegnern so genannten ›Donatisten‹, der Führer also der ›afrikanischen Kirche‹, der Kirche der ›Heiligen‹ und Reinen, die mit den Verrätern (traditores), den romtreuen Katholischen, nun schon seit drei Generationen in schwerem und nicht nur geistlichem Kampfe lag.53 Constantin hatte, wahrscheinlich um seine Macht in Afrika zu sichern,54 einige Führer der afrikanischen Kirche der Heiligen verurteilt. Darüber klagen die ›Heiligen‹ noch immer, nach fast 90 Jahren. Augustin wundert sich: »Was haben die denn [damals] nicht Gerechtes erlitten, wo sie doch leiden aufgrund des höchsten Urteilsspruches Gottes, (a) der [in der Gerichtsverhandlung Constantins] den Vorsitz führte und (b) der mit derartigen Schlägen55 zur Vermeidung des ewigen Feuers anmahnte [...]«.56

53 Die sogenannten Donatisten beanspruchen, allein die wahre, heilige katholische Kirche zu sein, so ausdrücklich in einem offiziellen Schreiben donatistischer Bischöfe (Gesta Collationis Carthaginiensis III, S. 258, s. u. Anm. 68); ebenso Acta Saturnini 20 (PL VIII, Sp. 703), Augustin, contra Cresconium III 56; vgl. dazu Frend, Donatist Church, S. 318-321. Dieser Anspruch wird natürlich von Augustin bestritten, vgl. contra litteras Petiliani II 38,90 und 91; s. dazu Frend, ebd. S. 323 mit Anm. und Lit. Augustins Auffassung wird von dem kaiserlichen Beamten Marcellinus, der die Konferenz von Karthago im Jahre 411 leitet, geteilt: Gesta Collationis Carth. III 92. Vgl. auch P. Brown, Augustine, S. 221-223. Anspruch und Gegen-Anspruch sind besonders deutlich in Augustins Schrift contra litteras Petiliani zu beobachten, in der die Argumente des Donatistenbischofs Petilian von Augustin angeführt werden. II 41,97 und 99 wirft Petilian Augustin vor, Schismatiker zu sein. Augustin antwortet, §§98 und 100, nach der bewährten Manier, ›was du sagst, bist du selbst‹. – Für die sog. Circumcellionen (u. §5.2) ist die Selbstbezeichnung ›Heilige‹ bei Optatus von Mileve (3,4) belegt. 54 Vgl. u. §6.1. 55 Euphemistisch und biblizistisch für Auspeitschung und Enthauptung? Die unter Constantin hingerichteten Donatisten waren gewiß römische Bürger. 56 Augustin, contra epistulam Parmeniani 1,8,13: quid enim non isti iuste patiuntur, cum ex altissimo dei praesidentis et ad cavendum ignem aeternum flagellis talibus ammonentis iudicio patiantur et merito criminum et ordine potestatum?

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Dasselbe hatte – etwa 90 Jahre zuvor – Constantin selbst gesagt.57 Die ordentliche, rechtmäßige irdische Gewalt (ordinata potestas; ordo potestatum) ist als solche, als geordnete, als Ordnung von Gott; sie ist Gottes Dienerin; nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Augustin zitiert ausführlich und häufig diese Lehre des Neuen Testaments, die man – allerdings nicht ohne Zweifel – dem heiligen Paulus zuzuschreiben pflegt.58 Augustin versucht dadurch, die Klagen der ›Heiligen‹ zu entkräften bzw. die ›Heiligen‹ als Staatsfeinde zu entlarven.59 c) Die Lehre Augustins über die Todesstrafe, wie sie in dem zitierten Satze konzentriert ist, wirkt entlastend, enthemmend, tröstend: • Sie tröstet den Delinquenten, der durch eine zeitliche Strafe die

ewige vermeidet – eine zwingende Rechnung, aber von vielen umstrittenen Voraussetzungen abhängig. • Sie enthemmt den Henker, der sich als Gottes Arm fühlen kann, der das Richtschwert des göttlichen Zornes führt oder auch nur Holz für den Scheiterhaufen schleppt. Der Henker, sagt Augustin, ist wild, grausam, böse – sonst hätte er nicht diesen Beruf ergriffen; aber er ist ein notwendiger Bestandteil eines gut geordneten Staates, und so dient seine Grausamkeit dem Guten.60

57 Sacerdotum (gemeint sind die römisch-katholischen Bischöfe) iudicium ita debet haberi ac si ipse dominus residens iudicet. Nihil enim licet his aliud sentire vel aliud iudicare, nisi quod Christi magisterio sunt edocti (Constantin, Schreiben an die Synode von Arles, August 314, überliefert bei Optatus, Append. V = von Soden, nr. 18, Z. 41ff.); vgl. das Schreiben der Synode an Papst Silvester in Rom: [...] Placuit ergo praesente Spiritu Sancto et angelis eius [...] (bei Optatus, Append. IV – von Soden, nr. 16, Z. 28f.). Vgl. die Rechtfertigung der kaiserlichen Donatistengesetze, August. epist. 105,9,11: hoc iubent imperatores quod iubet et Christus. 58 Röm 13,1-7. Schon ordo potestatum bereitet dieses Zitat vor. Gegen die Authentizität der Stelle: E. Barnikol, Römer 13. 59 Das Zusammenwirken himmlischer und irdischer Justiz ist bei Augustin und seinen Zeitgenossen oft zu belegen, s. Deane, Political Ideas, S. 138ff. (Fortsetzung s. Anhang). 60 Augustin, de ordine 2,4,12 (CSEL 63,115); de diversis quaestionibus 83; ad Simplicianum 53,2 (PL 40,36); zu den unbegrenzten Möglichkeiten au-

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• Sie entlastet den Richter, der unter dem Vorsitz des Allerhöchsten

sein Urteil spricht, seine Macht von oben hat, der im schlimmsten Fall auf den Ausgleich seines Irrtums im Jenseits hoffen kann. Diese Lehre Augustins über die Todesstrafe stützt sich, wie gesagt, auf das Neue Testament, insbesondere auf Römer 13,1-7. Den Rahmen aber bildet Augustins eigene Lehre vom Wesen des Staates und des Menschen. §5.2 Mensch und Staat Augustins Staat ist legale Gewalt, ein bißchen Ordnung und vor allem Strafe.61 Durch Furcht vor Strafe hält er die bösen Triebe des Menschen im Zaum; aber staatliche Strafen bessern den Menschen nicht. Ohne Staat versänke die Gesellschaft in Anarchie. Furcht vor Strafe ist nach Augustin die einzige Garantie für Sicherheit und Frieden. Dieser Staat ist ein Zuchthaus, das gerade nur das Schlimmste verhindert. Politik kommt von Polizei. Soziale und kulturelle Aufgaben, wie sie antike Staatsdenker für den ›gerechten‹ und den ›besten‹ Staat forderten, werden dem Staate aberkannt und, gegebenenfalls, ein Monopol der Kirche. Augustin hat den autoritären Staat der Spätantike mythologisch und anthropologisch begründet: Sein Staat ist Strafe für Adams Ungehorsam und ein Heilmittel gegen die bösen Folgen dieses Ungehorsams: Habgier, Stolz, Herrschsucht – gerade so wie die Ehe, nach Au-

gustinischer Argumentation vgl. carnifex vita (contra litteras Petiliani 2,86,191). 61 Zur Staatslehre Augustins vgl. die Bibliographie in der Ausgabe von de civitate dei (B. Dombart/A. Kalb), CC 1965; sehr nützlich ist die ›Anthologie‹ bei Deane, Political Ideas, S. 116ff.: The State: The Return of Order upon Disorder; H.J. Diesner, Studien zur Gesellschaftslehre und sozialen Haltung Augustins, 1954, bes. S. 37ff. gibt die sozialen Voraussetzungen dieser Staatslehre. Weniger ergiebig: B. Lohse, Augustins Wandlung in seiner Beurteilung des Staates; viele der von Lohse konstatierten Unterschiede sind eher dem verschiedenen Kontext als einer Entwicklung in der Zeit zuzuschreiben; die mangelnde Unterscheidung zwischen Aussagen über ›den‹ Staat und über konkrete Staaten trägt nicht zur Klärung bei. Wichtig Augustins Beurteilung der Aufgaben der Polizei den Sklaven gegenüber: epist. 57,58; 89; 108,18; 112; 185,15.

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gustin, eine Einrichtung ist, die bösen Folgen der Ursünde Adams und Evas zu zügeln: ein Heilmittel gegen die Lust, ein Krankenhaus der Erotik.62 Als Strafanstalt ist dieser Staat ein Übel. Aber als wohlgeordnete Gewalt ist der Staat eine Einrichtung Gottes, und insofern ist er ein Gut: non est potestas nisi a Deo (es gibt keine Gewalt, sie sei denn von Gott). Zu einer Staatsvergötzung geben diese Vorstellungen zwar wenig Anlaß. Andererseits ist offenkundig, daß christlicher Absolutismus seine Untertanen mit dieser Staatsreligion trefflich leiten kann. Die logischen Widersprüche dieser Doktrin sind so offenkundig wie ihre Opportunität. Zwei Beispiele: (a) ›Der Staat ist von Gott‹ – wer sich gegen ihn auflehnt, wie es die ›Heiligen‹ tun, ist ein Sünder; anderseits: (a') ›Der Staat ist Menschenwerk, das Werk des Brudermörders Kain und ein Übel‹ – kein Wunder also, daß Rom jetzt zusammenbricht: 410 ist Alarich in Rom, schändet heilige Jungfrauen und raubt geweihte Kelche. Von diesem Staat heißt es Abschied nehmen. Oder: (b) ›Du sollst dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist‹ – Trennung also von Staat und Kirche. Anderseits aber kann Augustin sagen: (b') »Die Kaiser befehlen, was auch Christus befiehlt«, und gegen die Heiligen der afrikanischen Kirche, die separatistische Tendenzen

62 Zu remedium concupiscentiae vgl. H. Cancik, »Zur Entstehung der christlichen Sexualmoral«, in: B. Gladigow (Hg.), Religion und Moral, 1976, S. 48-68. Martin Luther: Politia enim ante peccatum nulla fuit, neque enim ea opus fuit. Est enim politia remedium necessarium naturae (W. A. 42,79,7). – Zum ›Zuchthaus‹ Staat vgl. noch August. civ. 19,6: das Elend menschlicher Justiz, und civ. 22,22, wo die anthropologisch umfassende Verbindung hergestellt wird zwischen der Zuchtrute im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft: väterliche und staatliche Gewalt; mit dieser Verknüpfung wird Gewaltanwendung auch in epist. 138,14 gerechtfertigt. Vgl. noch P. Brown, Augustine, S. 239.

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verfolgen, hebt er das Eingriffsrecht der römischen Zentralgewalt hervor.63 Aus dem Adam-Mythos folgert Augustin aber mehr als nur die Notwendigkeit einer solchen staatlichen Strafgewalt. Wie nämlich Adam und Eva für ihre Sünde mit dem Tod bestraft wurden – so wenigstens versteht Augustin den Text der Bibel –, so werden auch alle, die aus ihrem Stamme sind, sterben.64 Der Tod als solcher ist Strafe, ob der Mensch auf dem Schafott stirbt oder im Bett. Augustin weiß: Es gibt Schlimmeres als den Tod des Körpers. Den ›Heiligen‹, die immer noch jene ›Verbrecher‹ beklagen, die Constantin vor nunmehr schon drei Generationen hinrichtete, wirft er vor, sie hätten ihr »Herz in den Augen«.65

63 August. epist. 105,3,11: hoc iubent imperatores quod iubet et Christus: c. epist. Parmen, 1,9,15: an forte de religione fas non est ut dicat Imperator vel quos miserit Imperator; ebd. 10,16: [...] an quia de religione vitiosa vel falsa nihil curandum est talibus potestatibus? Vgl. dazu Constantins Selbstverständnis: Optatus, Append. III – von Soden nr. 14, Z. 615-676 und Euseb. hist. eccl. 10,7,1f. – von Soden nr. 9, Z. 6-15. P. Brown, Religion and Society, S. 257, gestützt auf Brisson: »Augustine appears as the theorist of the Constantinian revolution«. Zu Augustin und Constantin s. u. §6.5; zu betonen ist a) daß die trinitarische Theologie Augustins ihn in keiner Weise von einer eusebianischen (arianischmonotheistischen) und konstantinischen Staatslehre und Kirchenpolitik abhielt, und daß b) die ›konstantinische Position‹ auch in der civitas des späten Augustin aufgehoben bleibt. 64 August. civ. 13,3: sed eosdem primos peccatores (sc. Adam und Eva) ista fuisse morte multatos, ut etiam quidquid de eorum stirpe esset exortum eadem poena teneret obnoxium. 65 C. epist. Parmen. 1,8,14: Et tamen quid tale isti patiuntur quale faciunt, nisi quia hominum multitudo non in corde cor habet sed in oculis? Nam si sanguis exit de carne mortali, quisquis aspicit exhorrescit. Si a pace Christi praecisae animae atque separatae in haeresis vel schismatis sacrilegio moriuntur, quia non videtur non plangitur: imo vero mors tetrior atque luctuosior et ut plane dixerim verior, iure consuetudinis deridetur [...] et siquid temporalis molestiae passi fuerint per certissimum atque rectissimum ordinem potestatum, cum ipsi privatis furiosorum agminibus multo graviora passim atque cottidie nulla regia, nulla ecclesiastica lege com-

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»Denn wenn das Blut aus dem sterblichen Fleische austritt, entsetzt sich jeder, der es sieht. Wenn Seelen sterben, weil sie vom Frieden Christi abgeschnitten oder getrennt werden in Häresien oder Schismata, jammert man nicht, weil man es nicht sieht [...] Und wenn sie (Constantins Opfer) wirklich etwas Unbill im Zeitlichen (die Todesstrafe) erlitten haben sollten, so geschah es durch die sicherste und richtigste Ordnung der Gewalten (sc. die legale Justiz), während sie selbst mit ihren privaten (d. h. außerordentlichen, illegalen) Banden von Wahnsinnigen viel Schwerwiegenderes begehen, überall Tag für Tag, durch kein königliches, kein kirchliches Gesetz gedeckt. Uns (Katholische) nennen sie (die ›Heiligen‹) Leib-Verfolger, sich nennen sie nicht ›Seelen-Mörder‹ – dabei verschonen sie in den Gewaltakten, die sie privat ausüben, nicht einmal unsere Körper«.

Damit deutet Augustin an, daß die ›Heiligen‹ nicht nur im Schisma leben – das wäre noch eine innerkirchliche Angelegenheit –, sondern daß sie Häretiker sind – und das war »durch göttliche und kaiserliche Gesetze verboten«.66 Mehr noch, die ›Heiligen‹ beschimpfen die Staatsgewalt, indem sie Constantins Verbrecher ›Martyrer‹ nennen. Indem sie gegen das Machtmonopol der Zentralgewalt private Schutztruppen bilden, betreiben sie doch schon fast, was die Staatsmacht als Aufruhr verstehen mußte.67 Augustin spielt auf die ›Circumcellionen‹ an, Gruppen von Saisonarbeitern, Kleinbauern, wandernden Asketen, Habenichtsen, die nicht einmal Latein sprachen, entlaufenen Sklaven, schwärmerischen Jünglingen und verblendeten Frauen, die den Römern, den Städtern und den Großgrundbesitzern das Leben schwer machten. Die ›Heiligen‹, so

mittant: nos corporum persecutores vocant, se animarum interfectores non vocant, cum privata licentia nec corporibus parcant. Vgl. c. litt. Petil. II 63, S. 141ff., die ›Heiligen‹ werfen ihren Gegnern vor, blutdürstige Verfolger und Henker zu sein. 66 Augustin drückt sich – noch – relativ vorsichtig aus. Die ›Heiligen‹ behaupten natürlich, sie seien die wahre Kirche (s. o. Anm. 53), Augustin und seine Anhänger lebten im Schisma. Eine Definition Augustins zum Unterschied zwischen Schisma und Häresie: c. Crescon. 2,7,9: haeresis est schisma inveteratum. Häresie war, wie bereits erwähnt (Anm. 59), seit 379 strafbares Delikt. 67 Vgl. Augustinus, c. epist. Parmen, 1,9,15; 10,16; vgl. epist. 87,7; 97,3; 185,5.

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deutet Augustin an, arbeiten mit diesen Gruppen zusammen. Ihr Martyrerkult und ihr sei es Schisma, sei es Häresie sind deshalb eine Bedrohung der Zentralgewalt. Der religiöse Gegensatz zwischen Katholischen und Heiligen, will Augustin sagen, ist von größter Bedeutung für die politische Gewalt. Wer so Constantin schmäht, Constantins Opfer als Martyrer feiert, der macht auch vor anderen Kaisern nicht halt. Für den bibelfesten Leser hat Augustin an der zitierten Stelle noch eine weitere Andeutung versteckt. Die Ausdrücke ›Leib-Verfolger‹/ ›Seelen-Mörder‹ (corporum persecutores / animarum interfectores) erinnern an die Mahnung Jesu: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet vielmehr den, der Macht hat, Seele und Leib zu verderben in der Hölle (Mt 10,28).68 Und so werden der Adam-Mythos und Seelenglaube, Augustins Lehre von Staat und Todesstrafe zu Waffen im sozialen und politischen Kampf. Dies ist das Neue, das Augustin in die Diskussion um die Todesstrafe eingebracht hat: ein umfassendes und detailliertes System von Mensch, Staat und ›Heilsgeschichte‹, in dem Tod, Strafe und Todesstrafe in einen festen Zusammenhang gebracht sind. Was waren die Gründe und Interessen, die Augustin zu dieser Lehre veranlaßten? Ein Blick auf die Lage in Nordafrika um das Jahr 400, als Augustin die bereits öfter zitierte Schrift gegen Parmenian verfaßte, kann uns vielleicht zu einer Antwort auf diese Frage verhelfen.

§6 D ER

GESCHICHTLICHE DER AUGUSTINISCHEN

O RT L EHRE

§6.1 Die politischen Anfänge des afrikanischen Schismas (312-313) Die Geschichte des Falles, der ein notorischer Präzedenzfall wurde, beginnt mit dem Sieg Constantins an der Milvischen Brücke (28.10.312). Constantin besiegt Maxentius, besetzt Rom und versucht

68 Diese Anspielung dient dazu, den Anspruch der Donatisten, die wahre katholische Kirche, nämlich die Kirche, die Verfolgung leidet aber nicht verfolgt, zu sein, auf subtile Weise zu unterlaufen, ja ins Gegenteil zu verkehren (Fortsetzung s. Anhang).

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sogleich, Nord-Afrika, das zum Herrschaftsbereich seines Gegners gehörte, in den Griff zu bekommen. Einen Ansatzpunkt bietet die christliche Kirche. Constantin, im Unterschied zu Maxentius als Christenfreund bekannt, erstattet der Kirche in Afrika das Kirchengut zurück.69 Etwa gleichzeitig70 überweist er 3000 folles denariorum, das sind ca. 375 Pfund Gold, an Caecilian, den Bischof von Carthago; er solle es an Diener der heiligsten katholischen Kirche verteilen gemäß einer Liste, die Hosius ihm bereits gesandt habe; falls er mehr benötige, möge er sich an Heracleides, den Verwalter des kaiserlichen Vermögens, wenden. Auffällig an diesem Vorgang ist nicht so sehr die finanzielle Transaktion, als der Mittelsmann und der Adressat. In Carthago gab es nämlich damals noch einen Bischof, Maiorin,71 den Vorgänger des Donatus. Hosius aber ist jener geistliche Berater Constantins, den die ›Heiligen‹ der afrikanischen Kirche später für die ersten Opfer von Constantins Religionspolitik verantwortlich machen.72 Um sich die ›Partei Caecilians‹ noch mehr zu verpflichten, verfügt Constantin für ihren Klerus, und nur für diesen, steuerliche Vergünstigungen.73

69 Constantin an Anullinus, bei Euseb. hist. eccl. 10,5,15-17 – von Soden nr. 7. 70 Constantin an Caecilian, Euseb. hist. eccl. 10,6,1-5 = von Soden nr. 8; von Soden verweist auf Augustin, contra epistulam Parmeniani: Dieser Hinweis ist, soweit ich sehe, wenig beachtet worden. Datierung des Briefes: sicher nach dem 28.10.312 und vor dem 15.4.313, dem Datum von Anullinusʼ Antwortbrief. – Seeck, Regesten 151 und 159f., datiert Constantins Brief auf »Anfang April 313«, Baynes, Constantine, S. 10f. (mit Anm.), plädiert auf »Winter 312«. 71 Der genaue Zeitpunkt seiner Wahl im Jahr 312 ist unsicher. 72 August. c. epist. Parmen. 1,8,13: [...] et hoc (supplicium) eum (Constantinum) tamquam immaniter iussisse Hispano Ossio suggerente... – Hosius dürfte gute Kenntnisse der afrikanischen Verhältnisse besessen haben, da die Kirchenprovinz seiner Heimat – er stammte aus Corduba – nach Afrika hinüberreichte; Seeck, Untergang III, 323, vgl. Frend, Donatist Church, S. 145ff. – Weitere Literatur s. Anm. 76. 73 Constantin bei Euseb. hist. eccl. 10,7,1 – von Soden nr. 9, später ausdrücklich bestätigt: von Soden nr. 33 (1.9.326).

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Augustin erwähnt diese Geschäfte nie,74 obschon er häufig die Frühgeschichte der Kirchenspaltung in Afrika erzählt.75 Er beginnt immer erst damit, daß die ›Partei Maiorins‹ sich an Constantin gewandt habe; damit habe sie selbst die Autorität des Kaisers in Kirchendingen anerkannt; folglich solle sie sich auch jetzt seinem Urteil fügen, auch wenn es für sie ungünstig sei. §6.2 Soziologische Hintergründe Wer stand auf der Liste des Hosius? Warum überwies Constantin das Geld an Caecilian, nicht an Maiorin?76 Hierfür lassen sich politische, soziologische und religiöse Gründe anführen. (a) Der Zusammenbruch des Maxentius war durch einen Aufstand in Nordafrika beschleunigt worden.77 Zwischen der Partei des Caecilian und dem Führer des Aufstandes bestanden Verbindungen.78 Der Nutznießer war Constantin.79 (b) Caecilian und seine Partei repräsentierten die Städte, die Römer im Flachland und an den Küsten; sie sprachen punisch oder lateinisch. Seine Gegner sprachen libysch, eine Frühform der heutigen Berbersprachen; sie saßen in den Bergen und zur Wüste hin.80 Der soziale und kulturelle Gegensatz zwischen ›Numidern‹ und ›Rö-

74 Vgl. Deane, Political Ideas, S. 183; Frend, Donatist Church, S. 146. 75 Zum Beispiel August. epist. 88 (mit Aktenbeilage) u. v. a. m. 76 Die Bedeutung dieser beiden Fragen für die Frühgeschichte des afrikanischen Schismas scheint mir nicht kritisch und politisch genug betrachtet zu sein (Fortsetzung s. Anhang). 77 Aufstand des Domitius Alexander: Frühjahr 308 bis 311. Auch hier ist die Datierung umstritten, s. R. Andreotti, »Problemi sul significato della usurpazione di Lucio Domizio Alessandro«, in: H. Diesner u. a., Afrika und Rom, S. 245-276. – Maxentius war auch in Nord-Afrika unbeliebt. 78 Caecilian war Archidiakon des Bischofs Mensurius; dieser starb Ende 311/Anfang 312 auf der Reise nach Rom, wo er sich vor Maxentius dafür verantworten mußte, daß einer seiner Priester ein Pamphlet gegen diesen geschrieben hatte: Optatus 1,17. 79 Vgl. H.G. Pflaum, Lʼalliance entre Constantin et L. Domitius Alexander. 80 S. Frend, Donatist Church, passim, und zur Kritik etwa P. Brown, Religion and Society, S. 282ff.

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mern‹ steigerte sich im 4. Jahrhundert zum ›Klassenkampf‹:81 Flucht der Sklaven, Bedrohung des Privateigentums; Leute, die sich »Führer der Heiligen« nannten, schüchterten Kreditgeber so ein, daß diese nicht um Zinsen, sondern um ihr Leben bettelten. Die Rollen von Herr und Sklave wurden vertauscht: Diese Leute setzten Sklaven auf Wagen und ließen sie von ihren Herren ziehen82 – sehr symbolisch, und vielleicht vom Neuen Testament angeregt, aber, wie sich zeigte, wenig wirkungsvoll. (c) Die Führer der Heiligen waren eine religiöse Elite, streng, rein – katharisch, das heißt schon ketzerisch –, schon immer kompromißlose Kämpfer gegen den römischen Staat und seine alte Religion, wie einst Makkabäer und Zeloten immer zum Martyrium bereit.83 Das taugt nicht für Weltreligion und Großkirche, die alle Untertanen umfassen soll. – Die Partei Caecilians hingegen war moderner, milder gegen die Schwachen, die – an Geschäft und Liegenschaften gebunden – sich nicht zum Martyrium drängen mochten; diese Leute hatten etwas zu verlieren.84 Constantin und sein Hosius werden noch mehr Gründe gehabt haben, die 375 Pfund Gold an Caecilian zu überweisen und an keinen anderen. Der Bischof Augustin wohnt in Hippo an der Küste und spricht Latein; seine Freunde sind Beamte, reiche Grundbesitzer, Gelehrte. Er wirbt

81 Siehe die Arbeiten von Diesner (Bibliographie) und bes. ders., »Die Lage der nordafrikanischen Bevölkerung«, in: Staat und Kirche, S. 127-139. 82 Optatus 3,4. Zur Richtigkeit und Bedeutung dieses Berichts siehe die in der Bibliographie aufgeführten Arbeiten von Diesner, bes. ders., »Konservative Kolonen, Sklaven und Landarbeiter im Donatistenstreit«; P. Brown, Augustine, S. 229, und seine Rezension von Diesner (Kirche und Staat im spätrömischen Reich) und E. Tengström, »Donatisten und Katholiken«, in: Religion and Society, 1964, S. 332-334, bzw. S. 335-338. 83 Zu makkabäisch-zelotischen Traditionen in Nord-Afrika vgl. Frend, »The Persecutions: some links between Judaism and the Early Church«, in: Journ. of Eccles. History 9 (1958), S. 141-158; s. auch Brown, Religion and Society, S. 258. 84 Schon zu Cyprians Zeiten waren die meisten der bei der Verfolgung Gestrauchelten (lapsi) aus mittleren und oberen Schichten gekommen; s. Diesner, Studien zur Gesellschaftslehre und sozialen Haltung Augustins, 1954, S. 55.

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für Ordnung, selbst wenn sie schlecht ist – wie könnte sie denn anders sein? Die verschiedenen Formen der Unfreiheit sind nötig, sagt er. Ungehorsam ist die schwerste Sünde. §6.3 Die ersten Verfolgungen (314/16-320) Als die Heiligen weder vor dem Bischof von Rom85 noch vor der Synode von Arles86 ihr Unrecht eingestehen wollten, mußte Constantin sie festnehmen; er versprach ihnen etwas Schlimmeres als den Tod.87 Dies sind vielleicht die Opfer, die Parmenian nach drei Generationen immer noch beklagt.88 Dann ließ Constantin die Kirchen der Heiligen beschlagnahmen.89 Dabei begab sich, was den Kaiser Aufruhr, ja Rebellion dünkte (seditio, tumultus).90 Er drohte, selbst nach Afrika zu kommen; er werde »die Personen, die derartiges machen und erregen, so daß der Höchste Gott nicht mit der geziemenden Verehrung gepflegt wird, verderben und zerschmettern«. Seine Beamten übernahmen die Aufgabe: Ihre Opfer hießen, je nachdem, Verbrecher oder Martyrer.91 Constantin verquickt in dem zitierten Satz auf das sorgfältigste den religiösen Anstoß mit dem politischen Vorwurf, Gottlosigkeit mit Aufruhr.92

85 Synode von Rom: Oktober 313. 86 August 314. 87 Schreiben Constantins an die Synode von Arles, bei Optatus, App. 5 — von Soden nr. 18, Z. 62ff.: ceterum direxi meos homines, qui eosdem infandos deceptores religionis protinus ad comitatum meum perducant, ut ibi degant, ibi sibi mortem [sic!] peius pervideant. 88 Ob sich die ›Klagen‹ Parmenians (August. c. epist. Parmen. 1,8,13) hierauf beziehen (s. o. §5.1), ist unklar, wird aber durch die Reihenfolge der Erzählung bei Augustin nahegelegt; vgl. aber auch Anm. 91. Worauf Constantin sich für diese Bestrafung juristisch stützte, geht aus dem zitierten Brief nicht hervor; er ergeht sich in Klagen, Drohungen, Beschimpfungen. Vgl. Baynes, Constantine, S. 14. 89 August. epist. 88,8 u. ö.; s. von Soden nr. 26; Datierung: 316 (?). 90 Schreiben Constantins an den Vicar Celsus (316), bei: Optat., App. 7 = von Soden, nr. 23. 91 Siehe Anhang. 92 Dieselbe Verkoppelung auch in dem Donatistengesetz, Cod. Theod. 16,5,38 (12.2.405): Nemo Manichaeum, nemo Donatistam, qui praecipue

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Augustin führt diese erprobte Tradition aller Religionsverfolger weiter: Die ›Heiligen‹ »sind verurteilt sowohl nach göttlichen als auch nach menschlichen Gesetzen«.93 Keines dieser menschlichen Gesetze, so betont Augustin – und die Gelehrten haben es gern wiederholt –,94 habe je befohlen, die Heiligen sollten getötet werden; sie sollten weiterleben, diese »Seelen-Mörder« (§5.2) wie Kain, der Brudermörder, ja auch nicht von Gott getötet worden war. In der Tat, es gibt kein Gesetz, das die Religion der ›Heiligen‹ mit der Todesstrafe belegt – zu winzig waren ja auch die im engeren Sinn religiösen Unterschiede.95 Falls eine juristische Begründung gesucht

ut comperimus furere desistunt, in memoriam revocet. Vna sit catholica veneratio, una salus sit trinitatis [...] et si turbae forte convenerint seditionis, concitatos aculeos acrioris commotionis non dubitet exserendos – hier ist die Möglichkeit der Anwendung verschärfter Strafen durch Deliktverschiebung bzw. Delikthäufung schon im Edikt selbst ausdrücklich angeführt. 93 August, c. epist. Parmen. 1,13,20: quae cum ita sint, cum et divinis et humanis legibus ita [Dittographie] damnentur, tanta est tamen mansuetudo christiana [...] Das Kapitel gibt eine Rekapitulation und eine Gliederung und damit einen wichtigen Hinweis zur Gesamtinterpretation des Buches. Zur Gleichsetzung von göttlicher und irdischer Justiz vgl. schon §5.2. 94 Augustin, contra litteras Petiliani 2,86,191: Si occisori fratris Deus noluit inferri mortem sed relinqui carnificem vitam: vide ne forte hoc sit, quod cum regis cor in manu Dei sit, unde multas ad vos commonendos et corripiendos leges ipse constituit, nulla tamen lex regia vos iussit occidi; fortasse propterea, ut quicumque vestrum in pertinaci sacrilegi furoris aura persistunt Cain parricidae supplicio, vita carnifice crucientur. Deane, Political Ideas, weist verschiedentlich darauf hin, Donatisten seien nicht durch das Gesetz mit dem Tod bedroht worden. Augustin habe sich gegen die Todesstrafe gewandt – dies ist formaljuristisch richtig; aber es gab (s. o. Anm. 92) Möglichkeiten, die Todesstrafe dennoch anzuwenden, und Augustin hatte natürlich Gründe, die Hervorbringung donatistischer Martyrer zu fürchten. – Wohlmeinend, aber falsch: A. Koestler, Die Rache ist mein, S. 74f. 95 Die religiösen Differenzen häuften sich in der Lehre von der Taufe (Würdigkeit der Spender), in der Praxis der Aufnahme von ›Verrätern‹ aus den Verfolgungen, was von Dogmatikern als ›ekklesiologische Frage‹ traktiert wird. Für das Volk wichtiger waren die Probleme des Martyrerkultes.

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wurde, hatte man sie eben, wie Augustin selbst nahelegte, wegen Aufruhr oder Majestätsbeleidigung hingerichtet. Um 320 brach Constantin die Verfolgung der Heiligen ab, ohne sie damit rechtlich zu rehabilitieren.96 §6.4 ›Heilige‹ – ›Aufrührer‹ – ›Heiden‹ Um das Jahr 400 bot sich die Gelegenheit, den Fall noch einmal aufzurollen. Augustin hat in der Schrift gegen Parmenian alle Gründe für ein hartes Vorgehen zusammengestellt. • Die Kirche der Heiligen hat sich gespalten, jetzt konnte man die

Radikalen isolieren.97 • Einige Heilige haben Staatsfeinde unterstützt, wilde Barbaren gegen die legitime Gewalt der Römer;98 daß ein Führer der Aufständischen römisch-katholisch war, verschweigt Augustin.99 • Die Heiligen schmälern die Autorität des Kaisers, indem sie seine Kompetenz in der Kirche bezweifeln,100 indem sie ›Verbrecher‹ als

96 Augustin kommentiert dies so: die Donatisten seien mit für sie überaus schmachvoller Nachsicht dem Gericht Gottes überlassen worden (ad Donatistas post collationem 31,54 und 33,56 = von Soden nr. 30). 97 C. epist. Parmen. 1,10,16; 1,11,17: Maximianisten, Primianisten, Rogatisten. 98 Aufstand des Firmus (372-75): c. epist. Parmen. 1,10,16; 11,17; Aufstand des Gildo: 395 (vielleicht 397) bis Sommer 398. 99 Zur Konfession des Firmus vgl. A. Demandt, »Die afrikanischen Unruhen unter Valentinian I«, in: Diesner u. A., Afrika und Rom, S. 283. – Auffällig, daß Augustin die Hinrichtung des Bichofs Optatus von Timgad (398) nicht auswertet. 100 C. epist. Parmen. 1,9,15: An forte de religione fas non est ut iudicet Imperator vel quos miserit Imperator? Augustin fordert das Eingreifen der Kaiser; Schindler (1973, 101) verzeichnet diese Stellungnahme, wenn er schreibt: »Man hört (sc. bei Augustin um 400) kaum davon, daß der Staat eigentlich nur für die äußere Ordnung zu sorgen habe, und die Forderung der Nichteinmischung scheint vergessen«. Augustin hatte diese Forderung gewiß nicht vergessen; sie war die Parole der ›Heiligen‹, die er in dieser Zeit bekämpfte.

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Martyrer verehren,101 indem sie das Schwert, das die legale Gewalt nach Römer 13 nicht ohne Grund führt, als »geistliches Schwert« deuten, mit dem die »kirchlichen Ämter« die Kirchenstrafen verhängen.102 Augustin weiß, wohin das führt:103 »Das also fehlt noch, daß sie mit ihren Diskussionen Christen daran hindern, Steuern zu zahlen, [...]« • Die Heiligen stützen sich auf die Circumcellionen, also nicht auf die »legalen Gewalten« (ordinatae potestates), sondern den »außerordentlichen Wahnsinn« (extraordinarii furores), »auf wilde Schwärme angetrunkener Männer, denen sie gar Führer stellen, die zunächst nur mit Knüppeln, jetzt aber auch mit Eisen sich zu bewaffnen beginnen«;104 die Heiligen organisieren den Aufstand, sie sind also auch für Verbrechen verantwortlich zu machen, die jene Banden begehen.105 Damit sind jene religiösen Spannungen, die wir seit Cyprian (um 250) in Nordafrika beobachten können, aufs engste mit sozialen und politischen Problemen verflochten worden; über die Richtigkeit der meisten Anklagen ist Sicheres nicht auszumachen. Klar ist jedenfalls, daß die Partei der Heiligen ebenfalls kulturelle und soziale Differenzen religiös artikulierte.

101 C. epist. Parmen. 1,9,15; vgl. schon 1,8,13. 102 C. epist. Parmen. 1,10,16: propter quid ergo gladium portat qui dictus est minister dei vindex in iram eis qui male agunt? nisi forte quemadmodum nonnulli eorum sane imperitissimi hoc intellegere solent, de honoribus ecclesiasticis dictum est, ut gladius intellegatur vindicta spiritualis quae excommunicationem operatur [...] – ebendies war die Auffassung Cyprians gewesen, der die leibliche Todesstrafe dem Alten Testament zuordnet, für das Neue Testament aber das ›geistliche Schwert‹, die Exkommunikation, allein zuläßt: epist. 54,3: [...] spirituali gladio superbi et contumaces necantur, dum de ecclesia eiciuntur. 103 C. epist. Parmen., ebd.: hoc ergo iam restat, ut istis disputationibus suis prohibeant Christianos tributa persolvere [...]. 104 C. epist. Parmen. 1,11,17: »[...] multa cotidie per furiosos ebriosorum iuvenum greges quibus principes constituunt, qui primum tantummodo fustibus, nunc etiam ferro se armare coeperunt, [...]«.– vgl. Optat. 3,4: duces sanctorum. 105 Ebda.

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Einen weiteren Anlaß, gegen die Heiligen und ihresgleichen nun wieder energisch vorzugehen, bot eine neue große Verfolgung der nichtchristlichen Religionen in Afrika (399-401), der sogenannten Heiden.106 Die Heiligen und ihre wahnsinnigen Hilfstruppen haben dabei »unablässig«, wie Augustin betont, mitgewirkt,107 Tempel einzureißen, Götterbilder umzustürzen und zu zerbrechen, die Durchführung von Opfern zu verhindern. Für die Heiligen wird das ein Teil ihres Kampfes gegen Rom gewesen sein, das sich in diesen Tempeln und Riten so herrlich repräsentierte. Aber die Heidenverfolgung war staatlich befohlen: Auf Heidentum stand schon längst terror capitalis – Todesstrafe, was durch frische Gesetze auf die Augustin sich beruft, eingeschärft wurde.108 Kein Heiliger, kein römischer, kein griechischer Christ oder Theologe hat damals, soweit ich weiß, gegen diese Verfolgung der sogenannten Heiden protestiert. Augustin jedenfalls hat diese Verfolgung begrüßt. Die ›Dämonen‹ werden ja bekämpft, wenn ihre Tempel zerstört, ihre Verehrer bestraft werden.109 Und es ergeben sich zwei wirkungsvolle Argumente gegen die Heiligen: • Durch ihre Mitwirkung an der Verfolgung hätten sie, so behauptet

Augustin, den kaiserlichen Gesetzen Folge geleistet und damit die weitgehende Kompetenz der Kaiser in religiösen Fragen zugege-

106 Vgl. die an den Proconsul von Afrika gerichteten Erlasse vom August 399 (Cod. Theod. 16,10,18. 17), in denen Übergriffe gegen die Tempelgebäude selbst – offenbar aus gegebenem Anlaß – verboten (18) und althergebrachte öffentliche Feste weiterhin gestattet werden, sofern nicht Kulthandlungen damit verbunden sind (17). Die einschlägigen Stellen aus Augustin sind gesammelt bei P. Brown, Augustine, S. 231f. 107 C. epist. Parmen. 1,10,16: cur ergo ipsi ubi possunt templa subvertunt et per furores Circumcellionum talia facere aut vindicare non cessant?, vgl. ebd. 9,15 (Anm. 108). 108 C. epist. Parmen. 1,9,15: at utque et ipsi (sc. die ›Heiden‹) falsa religione sunt impii, quorum simulacra everti atque confringi iussa sunt recentibus legibus inhiberi etiam sacrificia sub terrore capitali (Fortsetzung s. Anhang). 109 C. epist. Parmen. 1,9,15: Text s. u. Anm. 112.

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ben:110 Wenn es um religio prava (falsa, vitiosa) geht, können und müssen sie eingreifen; so hatte es Constantin auch schon gesagt.111 • Die Heiden, die ihrer Religion wegen bestraft und gegebenenfalls hingerichtet werden, sind doch nun gewiß ›Verbrecher‹ und keine Martyrer; das mußten nun auch die Heiligen zugeben, sonst, so übertreibt Augustin, könnten ja sogar die Dämonen sich der Ehre des Martyriums rühmen.112 So rechtfertigt damals Augustin das Eingreifen des (›christlichen‹) Staates in die Angelegenheiten der Kirche. Unter dem dehnbaren Begriff der »falschen Religion« will er die ›Heiligen‹ den ›Heiden‹ juristisch gleichstellen: Und das bedeutet die Forderung des capitalis terror. Er hat zugleich, was die Heiligen Martyrium nennen, als hundsgemeine Strafe bzw. als legale Todesstrafe entlarvt.113 §6.5 Zusammenfassung Augustin hatte – zu Recht – behauptet, es gebe kein Gesetz, das die Tötung der Heiligen befehle.

110 C. epist. Parmen. 1,10,16: non [...] ad imperatorem potestatem haec (sc. Sakrilege aller Art) coercenda vel punienda pertinere debere? qua in re quaero quid dicant (sc. die ›Heiligen‹): an quia de religione vitiosa vel falsa nihil curandum est talibus (sc. den kaiserlichen) potestatibus? 111 Vgl. §6.3. 112 C. epist. Parmen. 1,9,15: non ergo quisquis in aliqua religionis quaestione fuerit ab imperatore punitus, martyr efficitur. Neque enim vident qui talia sentiunt in eum locum se progredi, ut ipsos etiam daemones martyrum gloriam sibi vindicare posse contendant, qui istam patiuntur persecutionem per imperatores christianos, ut paene toto orbe terrarum eorum templa evertantur, idola comminuantur, sacrificia subtrahantur, qui eos honorant, si deprehensi fuerint, puniantur. 113 C. ep. Parmen. 1,8,13: [...] alioquin si quisquis ab imperatore vel a iudicibus ab eo missis poenas luit, continuo martyr est, omnes carceres martyribus pleni sunt, omnes catenae iudiciariae martyres trahunt, in omnibus metallis martyres aerumnosi sunt, in omnes insulas martyres deportantur, in omnibus poenalibus locis iuridico gladio martyres feriuntur, omnes ad bestias martyres subriguntur aut iussionibus iudicum vivi ignibus concremantur.

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Augustin hat aber in seiner Schrift gegen Parmenian alle Gründe gesammelt, die eine harte Verfolgung und mehrfach verschärfte Todesstrafe rechtfertigten. • Die Heiligen sind Staatsfeinde, die mit den Barbaren gegen die rö-

mische Ordnung arbeiten; sie sind Aufrührer, die den sozialen Umsturz betreiben; sie sind für die »Verbrechen« der Circumcellionen verantwortlich. • Sie haben die falsche Religion (falsa religio); also konnte man sie den sogenannten Heiden gleichstellen, an deren Verfolgung die Heiligen selbst ›unablässig‹ mitgewirkt hatten. Dieser Terror fiel nun auf sie selbst zurück, denn ›Heidentum‹ war ein Kapitaldelikt: Hinrichtung von Heiligen also wäre eine ganz normale Todesstrafe, nicht etwa martyrium.114 • Augustin hat den klassischen Präzedenzfall in Erinnerung gebracht, indem er immer wieder Constantins Kirchenpolitik vertritt und das Recht, ja die Pflicht der Kaiser, in kirchliche Angelegenheiten einzugreifen. Augustin spricht mit höchstem Pathos zu den Heiligen: »Das Urteil Constantins gegen euch lebt«.115 Augustin hat als erster die Todesstrafe von Christen für Christen theologisch (Lehre von Staat und Mensch) und heilsgeschichtlich (AdamMythos) und ›juristisch‹-politisch (Verfolgung der Heiligen) begründet. Er schuf diese Begründung als Römer und als Katholik in einer Situation, die zeitweise Züge eines ›Klassenkampfes‹ trug. Er machte sich zum Vollstrecker der constantinischen Politik; er wurde auch dadurch zu einem Vorbild christlicher Staatslehre im Mittelalter116 und

114 Dennoch hat Augustin die staatlichen Behörden ermahnt, möglichst keine ›Martyrer‹ zu machen; vgl. z. B. Augustin, epist. 133; 134; 139. Diese Mahnungen zur Milde hat zutreffend in ihrem Kontext beurteilt Deane, Political Ideas; weniger präzis: P. Brown, Religion and Society, S. 275f. 115 August. epist. 105 II 10 (Anfang 409): iudicium Constantini contra vos vivit. 116 Brisson, Autonomisme et christianisme, dazu P. Brown, Religion and Society, S. 255ff.; vgl. Frend, ›Donatismus‹ in: RAC 4,128: die antidonatistischen Schriften Augustins bedeuten »einen wichtigen Schritt in der Herausarbeitung der mittelalterlichen Theorie über das Verhältnis von Kirche und Staat«. – Eine genauere Untersuchung des ›Constantinismus

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speziell mit seiner Lehre vom terror utilis117 zum ›Vater der Inquisition‹. Diese Tradition muß kennen, wer auf der Grundlage augustinischer Lehren heute die Todesstrafe zu rechtfertigen versucht.

§7 E PILOG : D IE S TELLUNGNAHME DER FRANZÖSISCHEN B ISCHÖFE Das schwierige und düstere Thema, über das hier zu sprechen war, erfordert einen Lichtblick zum Schluß. Ich möchte hinweisen auf die Stellungnahme, welche die Sozialkommission der französischen Bischöfe im Januar 1978 veröffentlicht hat.118 In Frankreich ist die Todesstrafe bekanntlich noch nicht abgeschafft. Gegner und Befürworter verteilen sich auch dort überwiegend auf die mehr Linken und die mehr Rechten. Die entschiedene Stellungnahme der Bischöfe gegen die Todesstrafe bedeutet deshalb einen mutigen Schritt.

bei Augustin‹, wie sie hier nicht gegeben werden kann, könnte vielleicht die persönlich und politisch aufgeladene Kontroverse über die Entstehung der christlichen politischen Theologie, wie sie seit 1922 zwischen Carl Schmitt und Erik Peterson (Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, 1935) geführt wird, auf den philologischen, soziologischen und historischen Kern führen. Vgl. bes. C. Schmitt, Politische Theologie II, 1970, S. 88ff.: »Die Konfrontation Eusebius – Augustin«. – Vgl. hier Anm. 63. 117 August. epist. 93,1,3f. (ca. 408): Im Sinn der alttestamentlichen Erziehungstheologie (Gott züchtigt, die er liebt) läßt Augustin die Sünder, die – wie in einer Krankheit – im Irrtum Befangenen durch heilbringenden Schrecken (salubriter terrere) zur Umkehr gebracht werden; nach dem Zwang zur Bekehrung folgt die innere Umkehr durch Überzeugung: terrori utili doctrina salutaris adiungitur (93,1,4). Eine weitere Rechtfertigung des Zwangs gegen Häretiker findet Augustin bei Lk 14,23 (der Hausvater trägt dem Knecht auf, alle zur Hochzeit zu laden: ›und nötigte sie, hereinzukommen‹): In vielfachen Variationen berichtet Augustin, wie die Bekehrten den anfänglichen Zwang im Nachhinein als den ersten Schritt zu Rettung empfinden: z. B.: epist. 185,6,23; 93,2,5; sermo 112,8; epist. 93,5,17-6,20; Stichworte sind: timor, terror, metus, cogere, compellere. 118 Siehe Anhang.

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Natürlich wird der Wissenschaftler auch in diesem Memorandum Punkte finden, die seinen Widerspruch herausfordern: etwa die Ausführungen über die Menschenopfer, den Begriff der Sühne oder den kirchengeschichtlichen Rückblick, in dem der Name Augustin fehlt. Die Theorien Beccarias über Gesellschaftsvertrag und Todesstrafe werden referiert, aber der Name des indizierten Italieners wird nicht genannt. Bedeutsam ist der entschlossene Verzicht auf die augustinischen Lehren von Mensch und Tod und Staat und Justiz, Lehren, welche die bisherige Diskussion so oft belastet haben. Wie stark der positive Beitrag werden wird, den die Kirche im Kampfe gegen die Todesstrafe leisten kann, muß die Zukunft lehren. Die Stellungnahme der französischen Bischöfe ist ein erster Lichtblick.

ANHANG – E RGÄNZENDE ZU DEN ANMERKUNGEN

N OTEN

Zu Anm. 2: Aus der Reichtstagsrede Bismarcks vom 1.3.1870 (zitiert bei M. Liepmann, Die Todesstrafe (11 Anm. 8), gerichtet an die »Herren Juristen«): »schrecken Sie angesichts der hohen Aufgabe, die Ihnen von der Vorsehung auferlegt ist, nicht vor der Erfüllung derselben in ihrem höchsten Stadium zurück und werfen Sie das Richtschwert nicht von sich. Sie können sich dazu nur gedrungen fühlen, wenn Sie Ihrem Arm in seiner Handhabung lediglich menschliche Kraft zutrauen. Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwerts nicht stark genug«. Stellungnahme Ulrichs v. Wilamowitz-Moellendorff, in: Deutsche Juristenzeitung 16 (1911), Sp. 16-17: »Es widerstrebt mir eigentlich, mich in einer Sache vernehmen zu lassen, die mich nicht speziell angeht, und in allem, wo die innerste sittliche Überzeugung den Ausschlag gibt, helfen fremde Worte wenig. Allein da Sie es verlangen und ich allerdings mit sehr lebhafter sittlicher Überzeugung beteiligt bin, sage ich Ihnen ein paar Worte, die ja nichts als meinem Rechtsgefühl scharfen Ausdruck geben. Wer es miterlebt hat, wie Bismarcks mannhaftes Eintreten dem deutschen Strafrechte die Todesstrafe erhielt, und wie bald danach die Fürsten, die lange aus schwächlicher Milde der Gerechtigkeit in den Arm gefallen wa-

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ren, sich gedrungen fühlten, im Einklang mit den Forderungen des erregten Rechtsgefühls dem Rechte seinen Lauf zu lassen, der kann sich kaum denken, daß von neuem um den Grundpfeiler der staatlichen Rechtshoheit ein ernsthafter Streit entbrennen könnte. Verbrechen, auf denen der Tod steht, sind im ganzen bei uns so selten, daß es scheinen könnte, als hätte die Bemessung ihrer Strafe geringe Bedeutung. In Wahrheit handelt es sich um die Berechtigung der staatlichen Rechtspflege überhaupt. Wenn die Justitia sich das Schwert entwinden läßt, so ist sie ein altes Weib und verdient, daß die Keule der Gewalt sie vom Throne stoße. Denn als der Staat, die geordnete Gesellschaft, dem einzelnen Manne verwehrte, sich selbst sein Recht zu nehmen, durfte, und konnte er das nur, weil er nun die verwirkte Strafe verhängte und vollzog. Fehlt es ihm jetzt an Macht oder Mut dazu, so ist der Bluträcher oder der Richter Lynch sittlich berechtigt, wieder hervorzutreten. Der Staat verlangt von jedem tüchtigen Bürger die Hingabe seines Lebens, und gerade der Beste opfert es freudig auf dem Felde der Ehre. Und das Leben des Mörders, der sich selbst zu den friedlosen wilden Tieren stellt, soll er schonen, soll dem Schuldigen vielmehr Obdach, Kleidung und Nahrung gewähren oder gar die Bestie wieder auf die Gesellschaft loslassen? Die Tat fordert Vergeltung. Der Täter hat sie gewollt. Darum muß er sie büßen. Alle Sophismen, die wahrscheinlich machen wollen, daß er anders gewollt haben würde, wenn das oder jenes ihn nicht ungewollt beeinflußt hätte, ändern daran nichts, daß er gewollt und getan hat. Dafür hat er zu büßen. Die Sorge dafür, daß jene unheilvollen Einflüsse beseitigt werden, geht die strafende Gerechtigkeit nichts an. Es ist ein vollkommener Widerspruch, einerseits die Verantwortung von dem einzelnen auf die Gesellschaft zu schieben, und andererseits das Leben des einzelnen als ein individuelles Gut zu behandeln, das der Gesellschaft unantastbar sein soll. In Wahrheit ist der Kampf wider die Todesstrafe nur ein Akt aus dem Ansturm anarchischer Gelüste gegen die staatliche Ordnung, d. h. gegen die menschliche Gesittung«.

Zu Anm. 45: (a) Todesstrafe: civ. 1,21 – die Tötung von Menschen, grundsätzlich verboten durch das 5. Gebot, ist, wenn Gott sie befiehlt, sei es allgemein durch das Gesetz, sei es im Einzelfall durch besondere Weisung, erlaubt. Solche durch das Gesetz sanktionierten Ausnahmen sind der Krieg (deo auctore) und die Todesstrafe, ausgeführt durch die Exekutivinstitutionen der staatlichen Gewalt; der

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Vollstrecker tötet nicht selbst, er ist nur ausführendes Organ. – Diese Stelle ist als Traditionsbeweis für die sittliche Berechtigung der Todesstrafe zitiert bei Stelzenberger, Lehrbuch der Moraltheologie, 21965, 356. Eine weitere Kernstelle zu Augustins Auffassung der Todesstrafe ist civ. 21,11, wichtig nicht zuletzt wegen der theologischen Implikationen: Die Höllenstrafe als ›ewiger Tod‹, das heißt ewiger Ausschluß aus der Gemeinschaft der Seligen, ist konzipiert nach dem Modell der Todesstrafe als dem unwiderruflichen Ausschluß aus der Gemeinschaft der Lebenden. (b) Folter: Zur grundsätzlichen Notwendigkeit der Folter, begründet aus der Notwendigkeit menschlicher Gemeinschaft: civ. 19,6. Mit Recht betont Deane, Political Ideas, S. 135f. mit Anm. 61, daß Augustin die Folter in Kauf nimmt: Passagen, in denen er sie – meist aus kirchenpolitischen Gründen – ablehnt, widerlegen dies nicht. In der von Deane dazu zitierten epist. 104,4,17 handelt es sich allerdings nicht, wie Deane schreibt, um ein Vorgehen gegen Donatisten, sondern, wie auch in epist. 91, um die Bestrafung des heidnischen Aufstandes von Calama. (c) Krieg: civ. 1,21 – Tötung im (gottgewollten) Krieg gehört zu den durch Gottes Gesetz sanktionierten Ausnahmen vom 5. Gebot (s. o.); im gleichen Sinn wird civ. 1,26 argumentiert. Zu Unrecht sieht B. Lohse, Augustins Wandlung, 465, in dieser Stelle einen Beleg dafür, »welch unüberwindliche Distanz den Christen Augustin von dem Römer seiner Zeit trennen (sic)«. Augustin hätte, so Lohse, andernfalls ausdrücklich hinzugefügt, daß der Soldat »auch im christlichen Sinne recht handelt«. Es handelt sich bei dieser Stelle um einen Hinweis auf eine Ausnahme vom allgemeinen Tötungsverbot, die durch den Gehorsam gegenüber der legitimen Obrigkeit und damit durch Gottes Befehl gerechtfertigt ist; einer eigenen christlichen Rechtfertigung bedarf es in diesem Zusammenhang, zumal nach den Ausführungen des cap. 21, nicht mehr. – Die christliche Rechtfertigung des Soldatenstandes liefert Augustin z. B. in epist. 138,15 oder 189,4 – diese Stelle wiederum bei Stelzenberger zusammen mit civ. 5,22-26 zur Rechtfertigung des Kriegs angeführt (Moraltheologie, 363). (d) Sittliche Gründe für den Freitod läßt Augustin hingegen nicht als Ausnahmen vom Tötungsverbot gelten, s. bes. civ. 1,19-27.

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Zu Anm. 59: (a) Vgl. etwa August. in Joann. Evg. 5,12 (CSEL 36,47). Das Zusammenwirken irdischer und ewiger Strafen wird indessen nicht einsträngig, etwa im Sinn einer Verstärkung oder einer Art Amtshilfe gesehen; je nach argumentatorischem Zusammenhang wird die zeitliche Strafe als Vermeidung der ewigen gerechtfertigt, z. B. epist. 105,13, oder das Ausbleiben irdischer Strafe mit dem Hinweis auf die unausbleibliche Verdammnis plausibel gemacht. Vgl. Constantin an die römisch-katholischen Bischöfe Numidiens (Optat. Append. X = von Soden nr. 36 Z. 56f.): Gott erträgt die Bösen [...]: hoc est scire quod maior vindicta in contrarios ecclesiae provocetur cum hisdem in saeculo parcitur. Augustin nimmt (epist. 204,2) die Selbstverbrennung einiger Donatisten, von diesen als Reaktion auf Zwangsbekehrung angedroht, in Kauf, da einige ohnehin von Gott zur Verdammnis prädestiniert sind, wenn nur die größere Zahl durch die Zwangsbekehrung gerettet wird. In dem unmittelbar folgenden Paragraphen indessen legt er großen Wert darauf, den Adressaten des Briefes, den kaiserlichen Bevollmächtigten Dulcitius, davon zu überzeugen, er dürfe auf keinen Fall eine Todesstrafe verhängen. (b) Vgl. die einfachere, aber nicht wesentlich verschiedene Argumentation des Ambrosiaster, bes. im Kommentar zum Römerbrief 13,4 (CSEL 8, 1966, S. 420): Dei enim minister est, vindex in iram in eum qui male agit. Quoniam futurum iudicium deus statuit et nullum perire vult, in illo saeculo rectores ordinavit, ut terrore interposito hominibus velut paedagogi sint, erudientes illos quae servent, ne in poenam futuri iudicii incidant.

Zu dem ganzen Komplex vgl. Keienburg, Geschichte der Auslegung von Römer 13,1-7, und Affeldt, Die weltliche Gewalt in der PaulusExegese, hier bes. S. 55-85. Himmlische und irdische Justiz in der kaiserlichen Gesetzgebung: Seit dem Jahr 379 sind Häresien »nach göttlichen und kaiserlichen Gesetzen verboten«, cod. Theod. 16,5,5. Die Formulierung divinis et imperialibus legibus ist auffällig; das Wort divinus war zur Zeit der ›heidnischen‹ Herrscher diesen selbst vorbehalten – z. B. domus divina – ›Kaiserhaus‹; noch Constantin wird diesem Brauch gemäß als divus princeps bezeichnet (cod. Theod. 16,10,2,

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a.341); cod. Theod. 16,6,2 (a. 377) wird mit einer kleinen Modifikation auf eine lex divalis parentum, gemeint sind Constantin, Constantius etc., verwiesen. Zu Anm. 68: Frend hat in seiner Darstellung der Martyriums- und Verfolgungsideologie der Donatisten (Donatist Church, S. 318-323) darauf hingewiesen, daß Augustin den Anspruch, Verfolgung sei das Kriterium der wahren Kirche, mit der Behauptung abwehrt, Verfolgung geschehe zu Recht gemäß kaiserlichen Erlassen (c. epist. Parmen. 1,9,15-10,16; Frend, 325); von der Verfolgungstheologie der Donatisten zeugt ein Brief donatistischer Bischöfe, der auf der Konferenz von Karthago verlesen wurde: In ihm werden die Nicht-Donatisten nur als persecutores – Verfolger bezeichnet, in der Eingangsfonnel nennen sich die Verfasser mit dem Ehrentitel: »Januarius et ceteri episcopi veritatis catholicae, quae persecutionem patitur non quae facit« (PL XLIII, Sp. 8348f.). Augustin nun nimmt an unserer Stelle (c. epist. Parmen. 1,8,14) den Terminus persecutores auf, modifiziert ihn aber unter Anspielung auf die Stelle aus der Aussendungsrede Jesu an seine Jünger, in der er ihnen Verfolgung um seinetwillen als ihr Schicksal ankündigt und sie tröstet mit dem Hinweis auf die eigentliche Machtlosigkeit der Verfolger, die nur den Leib töten können (Mt 10,28; vgl. Lk 12,4f.). Durch Hinzufügung von corporum ›Leib-Verfolger‹ gelangt Augustin zu einer Differenzierung, die ihm erlaubt, gemäß seiner Theorie vom ›zweiten Tod‹, dem unendlich viel schlimmeren ewigen Tod (z. B. civ. 21,11), die Trennung der Seelen von Christus, das heißt der seinem Verständnis nach wahren Kirche, als Tötung zu bezeichnen. So werden die Donatisten ihm zu ›Seelen-Mördern‹, womit ihnen nicht nur der Ehrentitel, Verfolgung zu leiden, genommen, sondern sogar unterstellt wird, sie betrieben Schlimmeres als Verfolgung, sie mordeten Seelen. Natürlich verzichtet er nicht darauf zu erwähnen, daß die Gegner auch Leib-Verfolger sind, und das noch durch privata licentia – in privater Willkür, also nicht in Ausübung legaler Gewalt. Ausführliche Diskussion der Verfolgungstheologie der Donatisten in: contra Gaudentium XX 23-XXIII 26 (geschrieben ca. 420); dort (XX 23) ist Mt 10,23 zitiert, von Gaudentius selbst angeführt in XVIII 19.

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Zu Anm. 76: H. Dörries, Konstantin der Große, S. 39, referiert die drei Kaiserbriefe (Datierung: Wende 312/313); seine Darstellung ist ungenügend, weil er z. B. nur von einem Bischof von Karthago spricht und damit verschweigt, daß Constantin bereits eine Auswahl getroffen hatte. Frend, Donatist Church, S. 145ff., übergeht die Nennung des Hosius im Brief Constantins, obwohl dieses Faktum seine Argumentation unterstützen würde. – Baynes, Constantine, S. 10f., übergeht die Liste des Hosius ebenfalls und erklärt nicht, weshalb gerade Caecilian in den Genuß der kaiserlichen Geldsendung kam. – Unrichtig Seeck, Untergang III, S. 323: »Als daher Constantin [...] der afrikanischen Kirche eine bedeutende Geldsumme zuwies, legte er ihre Verteilung in die Hände Caecilians [...]«; unmittelbar vorher weist er freilich auf die Beratertätigkeit des Hosius und seine Kenntnisse über die afrikanische Kirchenspaltung hin. – Unseriös durch tendenziöse Darstellung und mangelhafte Dokumentation ist L. Völkl, Der Kaiser Konstantin (München 1957), S. 56f. – In aller Knappheit ist der entscheidende Einfluß der constantinischen Religionspolitik auf die Entwicklung des Schismas richtig betont bei K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 12 1960, §25f. – Die Darstellung von V. de Clerq (Ossius of Cordova, Washington DC 1954, S. 161-175: »Ossius and the Donatist Crisis«) kann nicht historisch-kritisch genannt werden. Unreflektiert nimmt er den dogmatisch-katholischen Standpunkt ein, den schon Hosius und Augustin vertreten hatten, daß nämlich die ›Donatisten‹ die Schismatiker (»the new sect«, S. 163) seien. Folglich wertet er alle Anklagen Parmenians gegen Hosius als feindselig und nicht vertrauenswürdig ab. Zu Anm. 91: (a) Verfolgung durch die duces Africae Leontius und Ursacius: s. von Soden nr. 27 mit Quellen und Literatur. Die von Parmenian beklagten Opfer (s. o. Anm. 88) können auch in dieser Verfolgung umgekommen sein. (b) Die Formulierung Augustins (c. epist. Parmen, 1,8,13: eos Constantinus ad campum id est ad supplicium duci iussit) ist auffällig: ad campum duci scheint als Ausdruck für ›zur Exekution führen‹ nicht belegt zu sein. Immerhin ist ducere Terminus tech-

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nicus der Rechtssprache für den Zwang vor Gericht, zum Kerker, zur Hinrichtungsstätte: in ius ducito (XII Tab. bei Gellius 20,1,45); moriturus ad supplicii locum ducitur (Apuleius, liber de mundo 35); ducere condemnatum (Ulpian, Disputat., frg. I, ed. Lenel, Zeitschr. d. Savigny-Stiftung 24, 416ff.; II, ebd. 25, 368ff.) campus – absolut gebraucht als Richtstätte ist ebenfalls nicht belegt; immerhin konnte das Marsfeld in Rom auch einfach campus genannt werden; in Reihen wie curia, forum, campus kann der Ort für die Institution – campus für die dort tagende Volksversammlung – stehen; Hinrichtungsstätte ist gemeint bei Cicero, pro Rabirio 10: carnificem de foro, crucem de campo sustulisse; vgl. noch Sueton, Claudius 25: Hinrichtungsstätte: in campo Esquilino. Vielleicht hatte Augustin eine derartige Formulierung vor Augen. Die Glosse i. e. ad supplicium könnte er selbst oder auch ein späterer Herausgeber hinzugefügt haben. (c) Der Sachverhalt, daß ›Donatisten‹ auf Geheiß Constantins ›zum campus d. h. zum supplicium geführt worden‹ seien, scheint in anderen antidonatistischen Schriften nicht vorzukommen. – In der Sekundärliteratur findet sich weder eine sachliche Erklärung noch eine genaue Übersetzung der Stelle. Nach der Formulierung von Sodens (Anm. zu nr. 26, S. 37 der Urkunden zur Entstehung [...]) hat dieser die Stelle als von den ›Verbannungen donatistischer Bischöfe‹ handelnd aufgefaßt; er zitiert dazu noch August., contra Cresconium 3,30,34, wo von Verbannung (in exsilium actus) die Rede ist, und weist auf die strittige Datierung dieser Verbannungen hin: 316 oder 318/19 oder 321 (Spätdatierung Seeck). – Seeck, Untergang, III, S. 331, nennt zur Spätdatierung der Verbannung u. a. die zitierte Stelle aus contra Cresconium, nicht aber contra epist. Parmen. 1,8,13; er nennt diese unter vielen anderen aber S. 329 als Beleg für die endgültige Rechtfertigung Caecilians gegen seine donatistischen Ankläger. Von Verbannung jedoch ist nicht die Rede – der Zusammenhang zeigt, daß es um eine Todesstrafe gehen muß, zu welchem Zeitpunkt auch immer diese verhängt oder vollstreckt worden sein mag. Eine weitere Erwähnung unserer Stelle bei Seeck (Zeitschr. f. Kirchengesch. 10 (1889), S. 545 A. 1) bezieht sich auf den dort wiedergegebenen Vorwurf gegen Hosius, ebenso bei von Soden zu nr. 8.

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(d) Optatus 3,4 über Klagen der Donatisten (vgl. Augustin: conqueri audet Parmenianus) über die Verfolgungen unter Leontius und Ursacius sowie Paulus und Macarius: [...] quid hoc ad nos? Zu Anm. 108: Auf welche jüngst erlassenen (recentes) Gesetze Augustin sich bezieht, ist nicht deutlich. Aus den neunziger Jahren sind im Codex Theod. keine Erlasse aufgeführt, die Zerstörung von Götterbildern (simulacra) oder Tempeln anordneten. Die Kaiser verfolgten eher die Tendenz, die Tempelgebäude selbst zu erhalten, vgl. Cod. Theod. 16,10,18 (o. Anm. 106); aus früherer Zeit: Cod. Theod. 16,10,3. 8. 15. Die Anordnung vom Juli 399 (Cod. Theod. 16,10,16), gewisse templa in agris sollten, wenn ohne Aufsehen möglich, zerstört werden, steht isoliert, ob sie für das ganze Reich gilt, ist nicht klar. Der Vollzug von Opfern und anderen Riten wird seit Constantin immer wieder unter verschieden scharfen Sanktionen verboten (besonders eingeschärft in den Jahren 392 und 395: Cod. Theod. 16,10,12. 13). Einen ausdrücklichen Befehl zur Zerstörung von Götterbildern aber bezeugt der Cod. Theod. erst für das Jahr 408: 16,10,19. Unter der Voraussetzung, daß der Cod. Theod. keine gravierenden Lücken enthält, hätte Augustin also hier (c. epist. Parmen. 1,9,15) in polemischer Absicht der kaiserlichen Gesetzgebung verschärfend vorgegriffen. Zu Anm. 118: Schlußfolgerung aus der Stellungnahme der französischen Bischöfe: »Eléments de réflexion sur la peine de mort«: »Können wir, als Bischöfe, am Ende dieser Überlegung versichern, die Todesstrafe sei unannehmbar? Wir stellen eine Übereinstimmung fest zwischen der Verfeinerung des ethischen Bewußtseins und einem besseren Verständnis des Wortes Gottes. Die Ablehnung der Todesstrafe geht bei unseren Zeitgenossen Hand in Hand mit einem vollendeten Fortschritt in der Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben. Für uns ist dieser Fortschritt in der Ehrfurcht vor dem Menschen eine Annäherung an die Ehrfurcht, mit der Gott seine Schöpfung umgibt. Seit der Sohn Gottes Mensch geworden ist, erscheint Jesus Christus hinter dem Angesicht eines jeden Menschen, wie schwer seine Sünde auch sei; er ruft

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ihn zum Heil. Im Laufe seiner Geschichte hat das Volk Gottes Zug um Zug in immer lebendigerer Weise ein Bewußtsein gewonnen von der Tiefe des Anspruchs auf Ehrfurcht vor dem Menschen, dem Bild und Sohn Gottes. In der heutigen Zeit legt die Kirche durch verschiedene Interventionen (zum Krieg, zur Folter, zur Abtreibung ...) Zeugnis dafür ab, daß dieser Anspruch ohne Rückhalt gehört werden muß. Sie will, daß durch ihr Angesicht hindurch immer besser das Angesicht Jesu erkannt werden soll, der gekommen ist, nicht um zu verdammen, sondern um zu retten. Aus diesem Komplex von Gründen, für ihren Teil und nach vertiefter Überlegung, halten die Unterzeichner dieser Stellungnahme dafür, daß in Frankreich die Todesstrafe abgeschafft werden muß. den 20. Januar 1977 André Fauchet, Bischof von Troyes, Präsident der Sozialkommission des Episkopats – Pierre Boillon, Bischof von Verdun – Henri Derouet, Bischof von Sées – Louis Ferrand, Erzbischof von Tours – Paul Gouyon, Kardinal, Bischof von Rennes – Louis Kuehn, Bischof von Meaux – Gabriel Matagrin, Bischof von Grenoble – Jacques Menager, Erzbischof von Reims – Jean Mouisset, Bischof von Nizza – Jean–Paul Vincent, Bischof von Bayonne – Mitglieder der Kommission – Pierre Toulat, Sekretär.«

Veröffentlichung: Bulletin du secrétariat de la Conférence épiscopale française, nr. 1, janvier 1978 (S. 10). Verf. dankt Monseigneur A. Fauchet, Bischof von Troyes, der ihm das Dokument zur Verfügung gestellt hat, und seinem Freund Serge Boucheron, Paris, für die Beschaffung von Kommentaren aus der französischen Presse.

ANNOTIERTE B IBLIOGRAPHIE I.

Die Todesstrafe

1. Allgemeines H. Buchen, Die Todesstrafe, geschichtlich, religiös und rechtlich betrachtet, Berlin 1956. (Eine Sammlung von Argumenten gegen die T. unter den gen. Gesichtspunkten, knappe Darstellung von eher hinweisendem als beweisendem Charakter).

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B. Düsing, Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland, Offenbach/Main 1952. (Detaillierte, verläßliche Information). R. Maurach, Die Frage der Todesstrafe. Zwölf Antworten (= Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks 24), München 1962 und 1965. H. von Hentig, Die Strafe, 2 Bde., Berlin u a. 1954. (Grundlagenforschung aus rechts- und kriminalgeschichtlicher Sicht. Weitere Arbeiten von Hentigs im Literaturverzeichnis bei D.R. Keller, s. u.). H. Hetzel, Die Todesstrafe in ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung, Berlin 1870. (Bisher nicht ersetzte Materialsammlung). W. Höfer (Hg.), Knast oder Galgen? Gewaltverbrechen und Strafvollzug zwischen Urteilsfindung und Volksempfinden, Percha 1975. (Der derzeit letzte einer ganzen Reihe von Sammelbänden mit Stellungnahmen pro und contra Todesstrafe [vgl. z. B. o. ›Heidelberger Studio‹, u. K. Krämer]. Der Stand der Diskussion unterscheidet sich nicht wesentlich von dem früherer Jahre; symptomatisch die absolute Divergenz unter ›den Christen‹: Gegner wie Befürworter beanspruchen das Neue Testament, s. die Beiträge von R. Jäger, Nulltarif für Mord? [S. 91-109] und U. RankeHeinemann, Todesstrafe und Religion [S. 313-324]). D.R. Keller, Die Todesstrafe in kritischer Sicht (Diss. Zürich 1965), Berlin 1968. (Vorzügliche Analyse, weit über rechtshistorische und juristische Argumentation hinausgehend; reichhaltiges Literaturverzeichnis). A. Koestler/A. Camus/E. Müller-Meiningen Jr./F. Nowakowski, Die Rache ist mein, Stuttgart 1961. (Leidenschaftliches Plädoyer gegen die Todesstrafe auf hohem Niveau, eindringliche philosophische und rechtsphilosophische Argumentation, kompetente Auswahl historischer Fakten, vor allem aus der neueren Geschichte). K. Krämer (Hg.), Todesstrafe? Theologische und juristische Argumente (= Kirche im Volk, Bd. 24), Stuttgart 1960. H.-H. Lewandowski, Die Todesstrafe in der Aufklärung, Diss. Bonn 1961. M. Liepmann, Die Todesstrafe, Frankfurt/Main 1912. (Nicht überholtes Gutachten gegen die T. mit reichem Zahlenmaterial). J.F. Mortimer, Henker, Genf 1976. (Selbstzeugnisse, Tagebücher, zeitgenössische Berichte. Dokumente menschlicher Grausamkeit im Namen des Gesetzes – Ein wichtiger Ansatz: Die Menschen-

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würde des Henkers. Mangel: Keine wissenschaftlich verwertbare Darbietung des Materials). K. Rossa, Todesstrafen, Oldenburg 1966. (Ausführliche Untersuchung des Vollzugs der T. im 20. Jahrhundert sowie der Rolle des Henkers. Soziologische Analyse unter den Gesichtspunkten Klassenund Rassenjustiz). 2. Antike (ohne Christentum) H. Christ, Blutvergießen im Alten Testament. Der gewaltsame Tod des Menschen untersucht am hebräischen Wort dam, Diss. Basel 1977. K. Latte, »Todesstrafe (griech. und röm.)«, in: RE Suppl. VII (1940) Sp 1599-1619 (= Kl. Schriften, München 1968, S. 393-415). Ders., Beiträge zum griechischen Strafrecht (1931) (= Kl. Schr., S. 252-293). E. Levy, Die römische Kapitalstrafe, SB Heidelberger Ak. d. Wiss., Heidelberg 1931. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899. E. Ruschenbusch, Untersuchungen zur Geschichte des athenischen Strafrechts, Köln 1968. Ders., »Phonos. Zum Recht Drakons und seiner Bedeutung für das Werden des athenischen Staates«, in: Historia 9 (1960), S. 129154. H. Schulz, Das Todesrecht im Alten Testament, Berlin 1969. 3. Cesare Beccaria W. Alff, Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben, Frankfurt/Main 1966. (Mit historischer Einleitung). F. Facchinei, Note ed osservazioni ad un libro intitolato Dei delitti e delle pene, Venezia 1765 – s. u. Venturi. S. Romagnoli, Opere die C. Beccaria, Firenze 1958. Ders., Illuministi Settentrionali, Milano 1962. Fr. Venturi, Illuministi Italiani. Bd. III: Riformatori lombardi, piemontesi (= La letteratura Italiana 46,3), Milano 1958. (Enthält Schriften und Briefe von C. Beccaria). Ders., »›Socialista‹ e ›socialismo‹ nellʼItalia del Settecento«, in: Rivista storica italiana 75 (1963), S. 129-140. Ders., Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene. Con una raccolta di lettere e documenti relativi alla nascità dellʼopera e alla sua fortu-

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na nellʼEuropa del Settecento, Torino 1965; 31973. (Mit Excerpten aus F. Facchinei, s. o. Anm. 37). II.

Christentum und Todesstrafe

1. Neuzeit (s. auch o. I.1) P. Althaus, Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik, München 1955. H. Dombois, Mensch und Strafe, Witten 1955. Ders., Die weltliche Strafe in der evangelischen Theologie, Witten 1959. Ders., »Todesstrafe«, in: Evangel. Soziallexikon, 1954, Sp. 1040f. G. Ermecke, Zur ethischen Begründung der Todesstrafe heute, Paderborn 21963. W. Künneth, »Die Theonomie der Macht«, in: Ztschr. f. systemat. Theologie 21 (1950), S. 69-82. Ders., Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen 1955, Berlin 1961. E. Wolf, Naturrecht oder Christusrecht, Todesstrafe, Berlin 1960. 2. Römer 13 E. Barnikol, »Römer 13. Der nichtpaulinische Ursprung der absoluten Obrigkeitsbejahung von Römer 13,1-7«, in: Studien zum Neuen Testament und zur Patristik, E. Klostermann zum 90. Geburtstag dargebracht, Berlin 1961, S. 65-133. K. Barth, Der Römerbrief, 21922 = Zürich 1947; s. auch o. Anm. 2. E. Käsemann, »Römer 13,1-7 in unserer Generation«, in: Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 56 (1959), S. 316-376. (Ausführliche Diskussion der Forschungslage; seine ›entschärfende‹ Deutung von Röm 13, die sich v. a. auf Strobel (s. u.) stützt, überzeugt nicht). Ders.. An die Römer (Handb. z. NT), 21974. A. Strobel, »Zum Verständnis von Römer 13«, in: Zeitschr. f. d. neutestamentliche Wissensch. 47 (1956), S. 67-93. Ders., »Furcht, wem Furcht gebührt. Zum profangriechischen Hintergrund von Röm 13,7«, in: Zeitschr. f. d. neutestamentliche Wissensch. 55 (1964), 58-62. (Ein Versuch, die Argumentation als aus der römischen Beamtensprache herleitbar und daher nicht spezifisch christlich zu erklären; weder vom Material noch von der Folgerung

C HRISTENTUM UND TODESSTRAFE | 437

her überzeugend. Ein vergleichbarer Versuch des ›Weg-Interpretierens‹ bei U. Ranke-Heinemann, bei W. Höfer, s. o. I 1). Exegesegeschichte: P. Affeldt, Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Röm 13,1-7 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zum Ende des 13. Jh, Göttingen 1969. F.H. Keienburg, Die Geschichte der Auslegung von Röm 13,1-7, (Diss. Basel 1952), Gelsenkirchen 1956. III. Augustin und die Todesstrafe 1.

Zur Geschichte des 3.-5. Jahrhunderts,

besonders in Nordafrika N.H. Baynes, Constantine the Great and the Christian Church (1929), London 21972. (Reiche Literatur zur Religionspolitik Constantins). J.P. Brisson, Autonomisme et christianisme dans lʼAfrique romaine de Septime Sévère à lʼinvasion vandale, Paris 1958. H.J. Diesner, Der Untergang der römischen Herrschaft in NordAfrika, Weimar 1964. Ders., Kirche und Staat im spätrömischen Reich, Berlin 1963. Ders. et al., Afrika und Rom in der Antike, Halle 1968. Ders., »Konservative Kolonen, Sklaven und Landarbeiter im Donatistenstreit«, in: Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 36 (1962), S. 214-219. Ders., »Gildos Herrschaft und die Niederlage bei Theueste«, in: Klio 40 (1962), S. 178-186. Ders., Studien zur Gesellschaftslehre und sozialen Haltung Augustins, Halle 1954. W.H.C. Frend, The Donatist Church. A Movement of Protest in Roman North-Africa, Oxford 1952 (= 1971). (Der entscheidende methodische Neuansatz, ausgehend vom archäologischen Befund. Ders., Donatismus, in: RAC 4 (1959), S. 128-147). Ders., Martyrdom and Persecution in the Early Church, Oxford 1965. H.G. Pflaum, »Lʼalliance entre Constantin et L. Domitius Alexander«, in: Bulletin d’Archéologie Algérienne 1(1962/5), 159ff. O. Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Berlin 31909, bes. Bd. III., VI.

438 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Ders., »Quellen u. Urkunden über die Anfänge des Donatismus«, in: Zeitschr. f. Kirchengesch. 10 (1889), S. 505-568. Ders.. Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n.Chr., Stuttgart 1919. J. Vogt, »Christenverfolgung I«, in: RAC 2, 1954, Sp. 1159-1208. 2. Augustin: Staat – Donatisten – Todesstrafe P. Brown, Augustine of Hippo. A Biography, London 1967 (= 1975). Ders., Religion and Society in the Age of St. Augustine, London 1972. H.A. Deane, The Political and Social Ideas of St. Augustine, New York 1963. A.A.T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, Bd. III, Tübingen 1969. E.L. Grasmück, Coercitio. Staat und Kirche im Donatistenstreit, Bonn 1964. B. Lohse, »Augustins Wandlung in seiner Beurteilung des Staates«, in: Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 81 (1962), S. 447-475 (s. o. Anm. 45 (Anhang) und 61). F.G. Maier, Augustin und das antike Rom. Diss. Tübingen, Stuttgart 1955. R. Rimml, »Das Furchtproblem in der Lehre des hl. Augustins«, in: Zeitschr. f. Kathol. Theol. 45 (1921), S. 43-65 und S. 229-259. A. Schindler, »Querverbindungen zwischen Augustins theologischer und kirchenpolitischer Entwicklung 390-400«, in: Theol. Zeitschr. 29 (1973), S. 95-116. B. Schöpf, Das Tötungsrecht bei den frühchristlichen Schriftstellern bis zur Zeit Konstantins, 1958 (s. auch Anm. 49. 51). H. von Soden (Hg.), Urkunden zur Entstehungsgeschichte des Donatismus, Bonn 1913.

Antike Religionskritik im Colloquium Heptaplomeres

§1 ANTIKE T RADITION IM C OLLOQUIUM H EPTAPLOMERES (CH) §1.1 Religionskritik im Vorgespräch (CH I S. 3-4 N) 1. Der Gegenstand des hier vorgelegten Versuchs ist die antike Religionskritik, wie sie im Colloquium Heptaplomeres aufgenommen, modifiziert, abgewiesen wird.1 Im Mittelpunkt dieses Versuchs steht die ausdrückliche, argumentative Ablehnung von Epikureismus und Atheismus (Buch I) und die Übernahme der Vorstellung einer natürlichen Religion aus der stoischen Philosophie (Buch IV). Mit platonischer Philosophie jedoch beginnt das Colloquium. Die Gesellschaft der sieben Weisen sitzt beim Essen und hört dabei, »römischer Sitte folgend«, eine Lesung: Platons Phaidon, über die Unsterblichkeit der Seele und den Tod des Sokrates.2

1

Bei Couzinet, Bibliographie 2001 ist weder in der Sektion »Sources« noch in der Sektion »CH« eine umfassende Arbeit zur Antikerezeption bei Bodin oder speziell zum CH genannt. Nur Ciceros Einfluß ist behandelt worden; ein Überblick bei Günter Gawlick, »Ciceros Bedeutung für Bodin«, in: R. Häfner (Hg.), Bodinus Polymeres, Wiesbaden 1999, S. 922; die beiden Partien, die in dem hier vorgelegten Versuch interpretiert werden, sind bei Gawlick nicht berücksichtigt.

2

CH I, S. 3 (Noack): Romanorum morem secutus, qui etiam inter epulas lectionibus rerum memorabilium animos una cum corpore pascebant. [...] ego Phaedonem Platonis quem antea legere coeperam persequi iussus.

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Die Inszenierung des Colloquiums ist ganz antikisch: ein Gelehrtengastmahl wie die Deipnosophisten des Athenaios oder die Saturnalien Macrobs; die Gattung: aporetischer Dialog, in einer Ich-Erzählung (wie der Phaidon); die Konstitution eines privaten Besinnungsraumes der Gebildeten jenseits von Staat und Staatsreligion. Immerhin ist Sokrates der Gottlosigkeit angeklagt,3 er soll neue Götter eingeführt, die Jugend verdorben haben. Der Phaidon erzählt von Seelen, Totengeistern, Dämonen und Unterwelts-Geographie, er referiert Mysterienlehre und Bestattungsriten und deutet sie um durch philosophische Allegorese. Das Lektüreprogramm der Gelehrtengesellschaft gibt dem CH Stoffe vor, Formen, Methoden und Themen. Die knappe Erwähnung einer Mumie im Phaidon ist eine äußerliche Rechtfertigung für eine lange Erzählung über eine Ägyptenreise, Seesturm und Sturmgeister.4 Das zentrale Thema des Phaidon, ob es einen philosophischen Beweis gebe für die Untersterblichkeit der Seele, führt direkt in das Zentrum antiker, vielleicht jeglicher Religionskritik. Den sieben Weisen des Colloquiums ist die Unsterblichkeit der Seele »schon längst« eine feste Überzeugung, mit und ohne Beweise; entscheidend hierbei ist die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Schlechten in einem Jenseits: 5 persuasa iam pridem est immortalitas animae et sempiterna bonis praemia, supplicia sceleratis decreta.

Das ist die erste theologische Aussage des CH; sie bleibt ein Leitmotiv neben und hinter den vielen daemonologischen, christologischen, mariologischen, ekklesiologischen Disputen des Colloquium. Hierin stimmen alle Anwesenden überein, hier finden sie den gemeinsamen Gegner. 2. Es ist Diego Toralba, der Vertreter einer natürlichen Religion, der mit besonderer Vehemenz auf die weitere Untersuchung dieses Themas drängt.6 Denn gerade er, der den gewaltigen Apparat von Riten

3

Vgl. Platon, Apologie 26 c: ou nomizein theous.

4

Platon, Phaidon 80d: Mumien in Ägypten.

5

CH I, S. 4 (Salomo).

6

CH I, S. 4; vgl. S. 193: et quoniam disputatio saepe [!] est cum Epicureis, qui litteras sacras pro fabulis habent.

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und Kultfunktionären in den Großreligionen für überflüssig hält, muß sich von denen absetzen, die unsere Seelen für sterblich, die Gottheit für fern und des Kultes nicht bedürftig ansehen: von den zeitgenössischen Epikureern.7 Der knappe Abriß der Lehre Epikurs, der an dieser Stelle gegeben wird, erfaßt sechs wichtige Punkte der atomistischen Theologie und Ethik: (a) Die Götter existieren, sie werden jedoch ohne Erwartung von Belohnung verehrt; (b) maßvolle, ja karge Lebensweise; (c) moralische Integrität; (d) Sterblichkeit der Seele; (e) keine Vorsehung; (f) das höchste Gut: ein ruhiger, ›stabiler‹ Zustand geistiger Freuden (tranquillitas).8 Das ist ein zutreffendes, wenn auch unvollständiges Bild epikureischer Philosophie, entworfen von dem weitherzigen Senamus, der alle Religionen respektiert und deshalb den Atheismusvorwurf weniger fürchtet. Toralba jedoch, der Naturalist, zerstört sogleich das schöne Bild; er widerlegt zwar nicht die philosophischen Thesen Epikurs, insistiert aber auf den gesellschaftlichen Folgen. Epikur amputiere die Furcht 7

Howard Jones, The Epicurean Tradition, London/New York 1989, bes. S. 166ff. (Pierre Gassendi, 1592-1655). – Zur Abwehr des Atheismus durch Vertreter einer natürlichen Religion vgl. W. Schröder, Urspünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Cannstatt 1998 (= Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 11), S. 80ff. (der junge Diderot und H. Samuel Reimarus).

8

Senamus: a) Deos nulla praemiorum spe colere (vgl. Velleius bei Cicero, de natura deorum 1,17,45: nullus metus) b) frugalissime vivere (vgl. Cicero, Tusculanen 5,9,26 = 459 Usener) c) mortales animos (vgl. Lukrez 3,417 f.: mortales/esse animos animasque). d) nec ullum ab immortali Deo negotium (Cicero, de natura deorum 1,17,45) e) summum bonum: non in voluptatibus, sed in animi tranquillitate (Cicero, de natura deorum 1,20,53).

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vor der Gottheit an der Wurzel (a radice amputare); ohne Hoffnung auf Praemien und Furcht vor Strafen im Jenseits könne eine Gesellschaft aber nicht bestehen:9 sublata numinis ac poenarum metu hominum inter homines nulla societas stare potest.

Da ist, so heißt es später im Colloquium, sogar Aberglaube und Irrglaube, so groß er auch immer sei, bei weitem besser als Unglaube:10 multo praestabilius esse falsam quam nullam habere religionem.

Denn Aberglaube erzeugt wenigstens Furcht und hält so den Menschen irgendwie in der Pflicht.11 Diesen Test, den Nutzen des Aberglaubens gegen den des Unglaubens aufzurechnen, verdanken wir einer Schrift Plutarchs über den Aberglauben. Allerdings gelangt Plutarch zu einem gänzlich anderen Urteil als die sieben Weisen des Colloquiums.12

9

CH I, S. 4. – Vgl. Cicero, de natura deorum 1,43,121: extraxit radicibus (Cotta); 1,2,4: pietate adversus deos sublata fides et societas humana [...] tollatur).

10 CH IV, S. 124 (Coronaeus): nulla est tanta superstitio, quae metu divini numinis improbos in officio continere et naturae lege quodammodo tueri non potest cum praemia bonis supplicia peccatis irrogari divino iudicio persuasum habeant – auch Coronaeus wendet sich ausdrücklich gegen Epikur. Er wiederholt seine Position fast wörtlich S. 182. Auch Senamus, der prinzipiell alle Religionen gleich achtet, hält die Gottesfurcht für deren raison dʼêtre; S. 126: mortalibus necessario numinis metu; S. 192: er verehre alle Religionen, um nicht als »gottlos« zu erscheinen, und auch damit die anderen divini numinis metu terreantur – auch fiktive Götter bewirkten Tugendhaftigkeit, und die religiösesten Völker seien immer die erfolgreichsten gewesen. 11 CH V, S. 182-186; S. 183 (Coronaeus): Superstitio, quantacumque sit, quovis atheismo tolerabilior est; nam, qui superstitione aliqua obligatur, hunc numinis metus in officio quodammodo ac naturae legibus continet, [...]. 12 Plutarch, de superstitione 1-2: atheotes ist weniger schlimm als deisidaimonia/superstitio; überdies erzeugt gerade die Furcht vor den Göttern ih-

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3. Noch ein drittes Beispiel antiker Religionsphilosophie wird in dem Vorgespräch eingeführt: der Atheismus und der systematische Zweifel. Das Beispiel wird vorbereitet durch eine poetische Anspielung auf die mythischen Gottesverächter und Theomachen, die himmelstürmenden Giganten.13 Solche Gottesverächter, sagt Senamus, kenne er viele; sie unterscheiden sich nur durch die äußere Gestalt von Bestien; und man muß, so ist zu ergänzen, dementsprechend mit ihnen verfahren.14 Der antike Atheismus wird exemplifiziert an dem notorischen Diagoras von Melos (5. Jh. v.Chr.) und an Protagoras, der am Anfang seines Buches Über die Götter sagt:15 »Über die Götter habe ich keine Möglichkeit zu wissen – weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind«. 4. Die beiden ominösen Namen vervollständigen nicht nur unseren Eindruck, wie antike Religionskritik im CH rezipiert wurde, sie geben auch einen Hinweis auf seine antike Quelle. Der Eingang des Vorgesprächs bezieht sich, so scheint es, auf den Eingang von Ciceros Dia-

rerseits Gottlosigkeit; vgl. H. Cancik-Lindemaier, Gottlosigkeit im Altertum, 21f. – Im weiteren Sinne gehört auch die Furcht vor Dämonen, Hexen, Totengeistern u. ä., die ausführlich in den Büchern II-III des Heptaplomeres thematisiert wird, in den Komplex ›Furcht vor der Gottheit‹. 13 CH I, S. 4: contemptor deorum; vgl. Vergil, Aeneis 7,648; Ovid, Metamorphosen 1,160; 3,514: contemptor superum Pentheus. 14 CH I, S. 4: Multos Deorum contemptores, plures etiam qui nihil a beluis nisi figura differunt, [...] reperi [...] Wer ist gemeint? Julius Caesar (Lucilio) Vanini, der 1616 verbrannt wurde, ist, nach der strikten Terminologie von W. Schröder, Ursprünge, S. 63, »Neuheide«, nicht Atheist. Eine Spätdatierung des CH ließe einen Bezug zu. 15 Protagoras, »Über die Götter«, in: VS, nr. 80, frg. 4. Das Zitat war zu Bodins Zeit zugänglich über Diogenes Laertios 9,51 und Eusebius, praeparatio evangelica 14,3,7; die Bezeichnung als Atheist bei Epiphanius, adversus haereses 3,2,9; vgl. auch Eusebius, praeparatio evangelica 14,3,7. Die entsprechenden Angaben bei M. Leathers Kuntz (Hg.), Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime by Jean Bodin. Translation with Introduction, Annotations and Critical Readings, Princeton 1975, S. 7, sind unklar.

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log »Über die Natur der Götter«.16 Hier wird Epikurs Lob zuerst von einem überzeugten Epikureer, Velleius, vorgetragen, dann zurückgewiesen von dem Skeptiker Cotta. Diese beiden Rollen sind im CH sozusagen verteilt auf Senamus (partiell positiv) und Toralba (völlig ablehnend). Die inhaltliche Übereinstimmung von Cicero und CH und einige wörtliche Anklänge lassen vermuten, daß Cicero die Quelle ist für Epikur und Epikurkritik, für Diagoras und Protagoras im CH.17 Sollte diese Vermutung zutreffen, wäre auch die akademische Skepsis im Vorgespräch des CH vertreten.

16 Cicero, de natura deorum 1,1,2: dubitare se Protagoras, nullos esse (sc. deos) omnino Diagoras Melius et Theodorus Cyrenaicus putaverunt (Wiederholt: 1,23,63; 1,42,117); de natura deorum 1,12,29: Protagoras qui sese negat omnino de deis habere quod liqueat. 17 CH I, S. 4//Cicero, de natura deorum: CH: Deos nulla praemiorum spe colere (Senamus)//Cicero, de natura deorum 1,17,45: nullus metus (Velleius); CH: nec ullum ab immortali Deo negotium//Cicero, de natura deorum 1,17,45: nec habere ipsum negotii quicquam nec exhibere alteri; CH: summum bonum: non in voluptatibus, sed in animi tranquillitate// Cicero, de natura deorum 1,20,53: nos autem beatam vitam in animi securitate et in omnium vacatione munerum ponimus; CH: divini numinis metum [...] a radice amputaret (Toralba)//Cicero, de natura deorum 1,43,121: extraxit radicibus (Cotta); CH: ficta opinio integritatis//Cicero, de natura deorum 1,2,3: in specie autem fictae simulationis; vgl. 1,44,123; CH: libri de religione//Cicero, de natura deorum 1,41,115: de sanctitate, de pietate adversus deos libros scripsit Epicurus; Diagoras [...] Protagoras//Cicero, de natura deorum 1,1,2: dubitare se Protagoras, nullos esse (sc. deos) omnino Diagoras Melius et Theodorus Cyrenaicus putaverunt. – Wiederholt: 1,23,63; 1,42,117.

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§2 R EFLEXION

ÜBER

R ELIGION

IN DER

ANTIKE

§2.1 Philosophische Texte 1. Ein früher und fester Bestandteil der hellenischen Kultur ist die Beobachtung eigener und fremder Religion, die Konstituierung von Religion als kultureller und historischer Sachverhalt, die reformerische und die radikale Kritik der eigenen bzw. von Religion überhaupt: die Ausbildung einer Reflexion über Religion also, die ihrerseits nicht religiös ist.18 Die Kritik zielt meist auf Mißstände, Übertreibungen (»Aberglauben«), Mißbrauch durch Schadenszauber und Scharlatanerie, aber auch auf zentrale Vorstellungen und Praktiken wie Gebet, Reinigungsritualistik, Opfer, Divination. Die explizite Religionskritik setzt an bei der Menschenförmigkeit der Götter – so schon Xenophanes (6./5. Jh. v.Chr.), bei der Tiertötung für das Opfer – so Empedokles (5. Jh. v.Chr.), bei der mythischen Erklärung von Naturphänomenen: die Sonne nur ein glühender Stein – so Anaxagoras (5. Jh. v.Chr.). Antike Religionsphilosophie und Religionskritik ist eine Sache der Gebildeten. Der unaufgeklärte Glaube der Massen ist Gegenstand von Spott, kann aber aus herrschaftstechnischen Gründen durchaus bejaht werden. Wenn sich im CH die Weisen darüber zu verständigen suchen, ob Verheimlichung und Vortäuschung von Religion, ob eine Differenz zwischen persönlicher und öffentlich gezeigter Religion zulässig sei, wird Platon zitiert.19 Er habe Apoll und Athene geopfert, in »heimlicheren Briefen« jedoch die Freunde zu der Erkenntnis und Verehrung des einen ewigen Gottes ermuntert. Drei antike Autoren seien, da im CH am häufigsten genannt, hier ausführlicher vorgestellt: Epikur, Cicero und Porphyrios. 2. Epikur (342/1-271/70 v.Chr.) lehrt einerseits die natürliche Gotteserkenntnis aller Menschen, andererseits die fundamentale Kritik der

18 Einige Belege bei H. Cancik, »Religionskritik«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 337-339. 19 CH V S. 187 (Senamus) mit Bezug auf Platos Siebenten Brief.

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praktizierten Religion, von Opfer und Divination.20 Vor allem aber: Epikur widerlegte die Lehren, welche die Sterblichkeit des Menschen leugneten. Auch Geist und Seele sind sterblich:21 mortalis/esse animos animasque. Also gibt es kein Lohn-Strafensystem in der Unterwelt, keine Furcht vor den fernen Göttern, aber auch keinen Trost in der Hoffnung, eine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits werde Unrecht auf Erden schon richten. Lukrez entmythologisiert die Jenseitsmythen: Die Hölle ist hier, in unserem Leben; Sisyphus ist hier, vor unseren Augen und in unserem Gewissen:22 Sisyphus in vita quoque nobis ante oculos est. Dies ist intellektuell und moralisch anspruchsvolle Aufklärung: ein helles Licht, sagt Lukrez, in so großen Finsternissen.23 3. Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), ein Zeitgenosse des Dichterphilosophen Lukrez, bietet in seiner kontroverstheologischen Trilogie – »Über die Götter«, »Über Weissagung«, »Über das Schicksal« – epikureische und stoische Theologie und deren Widerlegung, dazu radikale und gemäßigte Skepsis. Philosophie kann Religion nicht beweisen, sagt der radikale Oberpontifex Aurelius Cotta; sie kann sie auch nicht widerlegen; also muß man an die römische Religion »glauben«, auch ohne jeden vernünftigen Beweis.24 Cicero selbst findet diese Position weniger »wahrscheinlich«. Er neigt zu stoischer Theologie. Auf der Grundlage von Natur und Vernunft konzipiert er eine utopische Religion für Kosmopolis.25 Dieses Konzept und die theologia naturalis seines älteren Zeitgenossen Varro sind wichtige Quellen für die naturalis religio im CH und die fünf »Allgemeinen Einsichten bezüglich Religion«, die Edward Lord Herbert of Cherbury aufgestellt hat.26

20 Epikur, Brief an Menoikeus, bei Diogenes Laertios 10, §123. – Vgl. Lukrez 1,62ff. 80ff. Eine historische Erklärung von Religion im Rahmen einer Kulturentstehungslehre: 5,1161-1240. 21 Lukrez 3,417f. 22 Lukrez 3,978-1023. 23 Lukrez 3,1: E tenebris tantis tam clarum extollere lumen. 24 Cicero, de natura deorum 3,2,6: etiam nulla ratione reddita credere. 25 Cicero, de legibus 1,7,23; 1,10,29. 26 Vgl. §3.

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4. Porphyrios von Tyros (ca. 234 – ca. 310 n.Chr.) überliefert die pythagoreische Religionskritik und Forderungen nach einer reinen Religion ohne kultischen Pomp und spektakuläre Tieropfer. Eine Form der Kritik ist auch hier die Utopie. Im Anschluß an Empedokles konzipiert Porphyrios eine Urreligion.27 Als noch nicht Zeus herrschte, noch nicht Kronos, Poseidon oder Ares, ganz im Anfang, da war Aphrodite Königin. Sie wurde verehrt mit gemalten Bildern, Räucherwerk und Honig, aber nicht mit dem Blut von Stieren. Das Haupt- und Staatsopfer der Hellenen, Tötung und Verzehr von Rindern, ist der schlimmste Frevel – Mord und, infolge der Seelenwanderung, Kannibalismus. Porphyrios benutzt eine systematisch und historisch angelegte Studie des Aristotelesschülers Theophrastus mit dem Titel »Über Frömmigkeit«.28 Der Verfasser der umfangreichsten Sammlung antiker Religionskritik, die es bis heute gibt, benutzt den guten Namen des antiken Gelehrten und gibt sich das Pseudonym »Theophrastus redivivus« (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts).29 §2.2 Weniger philosophische Autoren 1. Um diese Skizze über Art und Umfang antiker Religionskritik zu vervollständigen, seien drei weniger philosophische Autoren vorgestellt, ein Dramatiker, ein Historiker, ein Essayist und Romancier. In einem öffentlichen Theater in Athen gegen Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. wird radikale Religionskritik inszeniert.30 Sisyphos,

27 Porphyrios, de abstinentia 2, cap. 20-21. 27. 31 nach Empedokles, Katharmoi, frg.128 (VS). 28 Diese Schrift ist rekonstruiert von J. Bernays, Theophrastos’ Schrift über Frömmigkeit. Mit Bemerkungen zur Porphyrios’ Schrift über Enthaltsamkeit, Berlin 1866 (Ndr. 1979). Vgl. Diogenes Laertios 5,36-57: Theophrast, mit Werkverzeichnis, darunter drei Bücher »Über Götter«. 29 Guido Canziani/Gianni Paganini, Theophrastus redivivus. Edizione prima e critica, Florenz 1981, 2 Bde. 30 Kritias/Euripides, »Sisyphos«; Text und Übersetzung, in: VS, nr. 88, frg. 25; Bardo Maria Gauly, Musa Tragica. Die griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel, Göttingen 1991, S. 120-123. Zur Interpretation vgl. H. Cancik-Lindemaier, »Gottlosigkeit im Altertum«, in: dies., Von Atheismus bis Zensur. Römische Lektüren in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg.

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Vater des Odysseus, einer der notorischen Unterweltsbüßer, entlarvt Religion, jede Religion, nicht nur die der Hellenen, als »Erfindung« eines klugen Mannes. Dieser erfand die »Furcht« vor den Göttern, damit die Menschen auch im Geheimen kein Unrecht begingen. Er siedelte die Götter im Himmel an; deren Schönheit und die Angst vor Blitz und Donner habe die Menschen dazu gebracht zu glauben, daß es das Geschlecht der Götter gibt. Hier sind alle Argumente einer grundsätzlichen Religionskritik gesammelt: der Betrug der Massen durch einen weisen Mann; die Götter sind eine Erfindung, die historisch in den Prozeß der Kulturentstehung einzuordnen ist; Unwissenheit über die Ursachen von Naturerscheinungen; die Erfindung dient einem guten Zweck. Der Text, bei dem Arzt und Skeptiker Sextus Empiricus (um 200 n.Chr.) überliefert, war im Druck, griechisch und in lateinischer Übersetzung, seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zugänglich.31 Im CH ist dieser Autor nicht benutzt.32 2. Die Geschichtsschreibung bietet in Griechenland, neben der Philosophie, einen ›Besinnungsraum‹, in dem über Religion in nichtreligiöser Sprache gehandelt werden kann. Die griechische Geschichtsschreibung hat Religion als eigenes kulturelles Phänomen entdeckt, fremde Religionen ohne Abscheu oder Bekehrungseifer wahrgenommen, ausführlich beschrieben, mit der eigenen verglichen. So hat Herodot die Religion der Ägypter, Dionysios von Halikarnass die der Römer, Tacitus die germanische mit viel, die jüdische mit wenig Sympathie beschrieben. Auch die Instrumentalisierung von Religion zur Disziplinierung der Massen und Herrschaftssicherung ist von den Historikern erkannt und, etwa von Polybios, bejaht worden. Im sechsten Buch seiner Historien, dem Verfassungsbuch, bestaunt er die aufwendigen Rituale römischer Staatsreligion und schließt:33 »Sie (die Römer) machen das (die Staatsreligion) um der Masse willen«.

von H. Harich-Schwarzbauer/B. von Reibnitz, Würzburg 2006, S. 15-31, hier S. 22-25. 31 Ausgabe von Henricus Stephanus und Hervetus Aurelius, Paris 1569. – Zur Bedeutung von Sextus für die Anfänge der modernen Philosophien vgl. R.H. Popkin, History of Scepticism, Assen 1964, XVII. 32 Kein Eintrag bei Kuntz, Colloquium, Register s.v. Im »Theophrastus Redivivus« ist Kritias vertreten. 33 Polybios (ca. 200-120 v.Chr.) 6,56.

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Das ist ganz so, wie Sisyphos es sich gedacht hatte.34 Das Verfassungsbuch des Polybios ist im Colloquium zitiert, die Bedeutung der römischen Staatsreligion mit Anerkennung gewürdigt.35 3. Um diesen Überblick über die antike Religionskritik mit einem heiteren Autor abzuschließen, sei Lukian von Samosata (ca. 120 – ca. 200 n.Chr.) genannt. Er hat den Lügenpropheten Alexander von Abonuteichos entlarvt und dabei enthüllt, wie eine neue Religion gemacht wird. Lukian hat den Typus des religiösen Scharlatans konstruiert und dabei in seinem Essay über die Selbstverbrennung des Peregrinus Proteus in Olympia (165 n.Chr.) auch die Christianer verspottet. Mit seinen Himmels- und Unterweltsfahrten, den Toten-, Hetären- und Göttergesprächen hat er die Jenseitsmythologie der Alten Welt alltäglich real und unglaubwürdig gemacht. Daß er ein Sprachartist war, daß er mit heiterem Ernst über Freundschaft, das richtige Leben, über die Göttin seiner syrischen Heimat geschrieben hat, konnte Lukian nicht helfen. Für die Philologen in Deutschland war er ein Aufklärer, ein versatiler Syrer, ja ein »Journalist«.36 Für die sieben Weisen im Colloquium ist er der »Dreimalgrößte der Atheisten«,37 offenbar im Hinblick auf den Lucianisme des 16. Jahrhunderts und in Anspielung auf den altehrwürdigen Hermes Trismegistos.38

34 Schröder, Ursprünge, S. 271f., bemerkt zu dieser Stelle mit Recht, daß die Gottesidee als solche nicht geleugnet sei: Im Gegenteil, muß man sagen, sie wird affirmiert »um der Massen willen«. Das ist philosophiegeschichtlich vielleicht unspektakulär; für die europäische Religions- und Geistesgeschichte aber ist der Topos ›Religion ist Betrug‹ ein wichtiges Element der Religionskritik. In der Tradition von den »Trois imposteurs« wird dieses Element virulent. 35 CH, S. 123. Auch Herodots Ägypterbuch und Tacitus’ Judenexkurs (hist. V) sind im CH zitiert: S. 6; vgl. 137, 142, 164 bzw. 195. 36 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, »Die griechische Literatur des Altertums«, in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von S. Hinneberg, Bd. I, VIII, Berlin/Leipzig (1905; 21907) 31912, S. 247-249 zu Lukian; »Journalist«: S. 248 und 249. 37 CH, S. 236: atheorum ter maximus. Der Text ist unsicher. CH zitiert Lukian, Peregrinus Proteus 13 (Octavius). 38 Christiane Lauvergnat-Gagnière, Lucien de Samosate e le lucianisme en France au XVIe siècle: Athéisme et polémique, Genf 1988.

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§2.3 Die Rezeption der antiken Religionskritik im CH 1. Viele antike Autoren sind im CH genannt, darunter einige, die Reflexion auf Religion und Religionskritik vermitteln konnten. Natürlich steht nicht hinter jedem Autorennamen auch ein Text und nicht hinter jedem Zitat eigene Lektüre. Da uns eine Spezialarbeit über die Quellen des CH nicht bekannt geworden ist, möge die folgende Liste eine Übersicht geben über die religionsphilosophischen Autoren der Antike, welche der Verfasser des CH wohl direkt benutzt hat.39 Die Liste zeigt lediglich eine Auswahl der Autoren – also keineswegs die gesamte Antikerezeption, eine Auswahl der Titel und der Belegstellen im CH. Aristoteles, de anima Augustin, de civitate dei Celsus, in Christianos Cicero, de natura deorum Cicero, de divinatione Iulianus imperator, Briefe Lukian, Alexander, der Lügenprophet Lukrez, de rerum natura Plato, de legibus Plato, de republica Plato, Timaeus Philo Alex., de vita sapientis (= de vita Abraham) Plutarch, de superstitione Plutarch, de oraculorum defectu Polybios, historiae VI (röm. Rel.) Porphyrios, de abstinentia Porphyrios, in Christianos Seneca, Naturales Quaestiones Tertullian, apologeticum Tacitus, historiae V (de Iudaeis) Varro, antiquitates rerum divinarum

p. 178 p. 120 p. 118 p. 129; 125 p. 135 p. 72 (ep. 81); 263 p. 181 p. 27 p. 270 p. 175 p. 125 p.190 p. 155 p. 135; 136 p. 123 p. 353 p. 71; 75 p. 120 p. 117 p. 195 p. 148; 248.

39 Vgl. M.-D. Couzinet, Jean Bodin, in der Sektion »Sources« und »Colloquium Heptaplomeres«. Ein Vergleich mit den antiken Quellen Bodins könnte fruchtbar sein.

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2. Eine Deutung dieser Liste, eine Rekonstruktion der Bibliothek des Verfasser des CH, ein Vergleich mit der Benutzung antiker Quellen bei Bodinus ist uns, mangels Vorarbeiten und Kompetenz, nicht möglich. Nur auf drei Lücken sei hingewiesen. Es fehlen Plutarchs Theologie der Isis-Religion, Sisyphos, Sextus Empiricus und Pyrrhon.40 Hervorzuheben ist die ausgiebige Benutzung der Religionskritik der antiken Christianer – gegen Griechen und Römer – und eben dieser gegen die Judäer und Christianer.41 Das erstaunliche multireligiöse Gespräch, das wohl im 6. Jahrhundert n.Chr. Hellenen, Juden, Christianer und Magier am Hofe der Sasaniden geführt haben sollen, ist im CH nicht genannt, bietet jedoch nach Form und Inhalt reichen Stoff für einen vergleichende Untersuchung.42

§3

LEX , THEOLOGIA , RELIGIO NATURALIS

§3.1 Das Orakel des Apoll von Klaros Die – sei’s positive, sei’s negative – Aufnahme antiker Religionsphilosophie im CH wird aus der vorgelegten Liste hinreichend klar. Die damals zukunftsreichste Tradition aber, die sich auch im CH bemerkbar macht, muß gesondert besprochen werden, nämlich die stoische. Der zweite Teil des vierten Buches wird eingeleitet durch ein Orakel des Apollo von Klaros.43 Gefragt, angesichts der unendlichen Viel-

40 Die Werke des Sextus Empiricus wären dem Verfasser etwa in der griechisch-lateinischen Ausgabe von Hernricus Stephanus und Gentianus Hervetus Aurelius (Paris 1569) zugänglich gewesen. 41 CH, S. 71; 75; 104; 118; 127. 135. 244 f. 253. 281 u. ö. 42 E. Bratke, Das sogenannte Religionsgespräch am Hofe der Sasaniden. Texte und Untersuchungen, NF IV 3, Leipzig 1899. 43 CH IV, S. 133 (Senamus): [...] extat vetus oraculum Apollinis, qui, consultus de infinita religionum varietate, quaenam esset optima, respondit uno verbo: Antiquissima. Cum rursus ambigeretur, quaenam esset antiquissima, respondit: Optima. Die Orakelstätte in Klaros ist uralt (geometrische Epoche), blüht im 2. Jh. n.Chr. K. Buresch, Klaros. Zum Orakelwesen des späteren Altertums. Nebst einem Anhange, das Anecdoton Chresmoi ton Hellenikon theon enthaltend, Leipzig 1889; H.W. Parke, The Oracles of Apollo in Asia Minor, London 1985. – Porphyrios, Über die Philosophie

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falt von Religionen, welche denn die beste sei, antwortete er mit einem einzigen Wort: »die älteste«. Als wiederum Zweifel herrschte, welche denn die älteste sei, antwortete Apoll: »die beste«. Die Suche nach der ältesten Religion führt, wie zu erwarten, auf Adam und die Patriarchen. Nicht zu erwarten war, daß diese Religion mit Begriffen der stoischen Philosophie definiert wird:44 Die älteste und beste Religion ist dem menschlichen Verstand eingepflanzt zusammen mit der vollkommenen Vernunft; Gott ist Schöpfer und Erhalter;45 reiner Kult, das natürliche Sittengesetz. Diese Terminologie ist antik breit bezeugt. Der antike Begriff für die philosophische Erforschung dieses »höchsten, besten« Gottes und des Kosmos, den er »gegründet« hat, ist im CH jedoch nicht verwandt, nämlich theologia naturalis. Die älteste Religion wird aber nun, offensichtlich in strikter Auslegung des Begriffs naturae lex, als naturalis religio bezeichnet:46 »Wenn das Gesetz der Natur und die natürliche Religion, welche dem menschlichen Verstand eingepflanzt ist, ausreicht, um das Heil zu erlangen, sehe ich nicht, warum die Riten, Zeremonien des Moses nötig sein sollten«.

aus den Orakeln, ist zitiert in CH, S. 135, auf Griechisch, also nicht aus Augustin (de civitate dei 19,23). 44 CH, S. 142 (Toralba): Constat igitur, optimam atque antiquissimam omnium religionem ab aeterno Deo cum recta ratione mentibus humanis insitam [....] Qui ergo sic vixerit, ut purum Dei cultum et naturae leges sequatur, quis dubitet, quin eadem felicitate fruatur, qua nunc justus Abel [...]. 45 Zu dieser Formel vgl. Hildebrecht Hommel, Schöpfer und Erhalter. Studien zum Problem Christentum und Antike, Berlin 1956. 46 Vgl. CH, S. 143 (Toralba): Si naturae lex et naturalis religio, mentibus hominum insita, sufficit ad salutem adipiscendam, non video, cur Mosis ritus, ceremoniae necessariae sint. – Vgl. CH IV, S. 172 (zitiert Paulus, Röm. 1; Übereinstimmung Toralba mit Salomo); CH IV, S. 174 (Octavius übernimmt das Prinzip einer natürlichen Religion für den Koran); CH VI, S. 351-352 (das Résumé Toralbas am Schluß des CH); CH VI, S. 352 (Salomo stimmt Toralba zu, aber Riten müssen sein für die plebs, das »unwissende Volk«).

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Dieser Ausdruck naturalis religio ist u.W. in der Antike nicht belegt. Er ist aber durchaus mit stoischen Vorstellungen über die natürliche Gotteserkenntnis und über Religion zu vereinbaren. §3.2 Die stoische Tradition 1. Die Begriffe ›Vernunft‹ und ›Natur‹, ›Logos‹ und ›Physis‹, sind in der Physik und der Ethik der Stoiker fest ineinander verschränkt. Ihre Beschreibung der Natur ist notwendig ästhetisch und normativ: Der Kosmos ist schön und geordnet. In Schönheit, Ordnung, Regelhaftigkeit zeigt sich überall in der Natur, in Stein, Pflanze, Tier und Mensch, ein- und dieselbe Vernunft, eine feurige, aitherische Substanz, die den Kosmos steuert. Der Logos zeigt sich auf den verschiedenen Stufen der Wesen in verschiedener Stärke. Als orthós lógos (recta ratio) ist er die vollkommene, rechte Vernunft des erwachsenen Menschen. Die recta ratio ist zugeordnet der ethisch wertvollen, »richtigen« Handlung (katórthoma). Sie ist auch der Maßstab für das »wahre«, allgemeine Gesetz; Cicero definiert:47 »Das wahre Gesetz ist die rechte Vernunft, übereinstimmend mit der Natur, ausgegossen in alle (sc. Menschen), beständig, ewig dauernd; es ruft zur Aufgabe durch Befehl, durch Verbot schreckt es ab vom Trug [...] alle Völker und zu jeder Zeit wird dieses eine und ewige und unveränderliche Gesetz umfassen [...] Jener (sc. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Kosmos) ist der Erfinder dieses Gesetzes [...]«.

Die Begriffe ›Natur, Vernunft, recta ratio, Naturgesetz‹, die im CH zur Bestimmung von ›natürlicher Religion‹ gebraucht werden, stammen, durch welche Vermittlung auch immer, aus dieser Tradition. Dabei ist, um es zu wiederholen, der Ausdruck ›natürliche Religion‹ in

47 Cicero, de republica 3,22,33: Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens, diffusa in omnis, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat [...] omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et inmutabilis continebit [...] ille (sc. deus) legis huius inventor (= SVF III nr. 325). Vgl. D. Tsekouriakis, Studies in the Terminology of Early Stoic Ethics, Wiesbaden 1974, S. 23ff. – Vgl. SVF III, S. 78 = Cicero, de legibus 1,12 (summi Iovis lex); S. 68,1; 108,39; 136.

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der antiken Stoa nicht gebräuchlich, wohl aber der Ausdruck ›natürliche Theologie‹. 2. M. Terentius Varro hat als Grundlage seiner religionsgeschichtlichen Altertümer eine »dreiteilige Theologie« benutzt – theologia naturalis, theologia fabularis, theologia civilis –, offensichtlich, wie die Terminologie zeigt, aus der griechischen Stoa des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts.48 Die theologia naturalis bezeichnet hier die naturphilosophische Entmythologisierung (Allegorese) der traditionellen Mythen und Theologumena. Varros zweite Art von Theologie ist die mythische, die dritte die staatliche. Varros Maßstab ist die theologia naturalis. Wenn er einen neuen Staat gründen würde, wäre die Natur, also Naturphilosophie die »Formel«, nach der er Götter und ihre Namen weihen würde.49 Die Urreligion der Römer, so sagt er, war eine solche, man ist verführt zu sagen, ›natürliche Religion‹: ein reiner, einfacher, ja ärmlicher Kult; Numa hatte Götterbilder verboten; Gott ist die Weltseele, die mit Vernunft die Welt bewegt und steuert. Das Konzept dieser römischen Urreligion ist aufgrund derselben philosophischen Ansätze eine klare Analogie zum Konzept der Religion der jüdischen Patriarchen. Das varronische Modell dient zur Kritik der römischen Religion, wie sie zur Zeit Varros, Caesars, Ciceros praktiziert wurde; es entfaltet einen reformerischen Impuls, da – mindestens in der Frühzeit – das religiöse Ideal einmal verwirklicht war. Das Konzept begründet darüber hinaus universale Tendenzen der römischen Religion, die das multireligiöse Imperium Romanum auch religiös integrieren sollten. 3. Das stoische Konzept von ›Natur, Vernunft, Gesetz‹ wurde, bereits in der Antike, von Juden und Christianern übernommen und in die eigene Tradition eingepaßt. Philo von Alexandrien schreibt:50 »Die

48 Varro, antiquitates rerum divinarum (hg. von B. Cardauns, Wiesbaden 1976) I: theologia naturalis – fabularis – civilis (griech.: physiké – mythiké – politiké), überliefert bei Augustin, de civitate dei 6,5. 49 Varro, antiquitates rerum divinarum, nr. 12, bei Augustin, de civitate dei, 4,31: si eam civitatem novam constitueret (sc. Varro) ex naturae potius formula deos nominaque eoreum se fuisse dedicaturum. – Vgl. ebd., nr. 13; 14; 38. 50 Philo, Vita sapientis (de Abrahamo) 5.

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Edikte der beiden Tafeln (sc. des Moses) weichen in keiner Weise von der Natur ab«. Salomo zitiert diese Erkenntnis im CH mit Zustimmung.51 Paulus konzediert den nichtjüdischen Völkern, daß sie auch ohne das Gesetz Moses Gott erkennen können aus seinen Werken – so umschreibt Paulus vorsichtig den Begriff ›Natur‹ –, und daß sie ethisch richtig handeln können. Auch diese Stelle wird gern und zustimmend im CH zitiert.52 Im mittelalterlichen Judentum werden ähnliche Lehren tradiert. Abraham Ibn Ezra schreibt, ähnlich wie Philo von Alexandrien:53 »Dieser Dekalog ist ein Zusammenschnitt (eine Epitome) des natürlichen Gesetzes«. Im CH zitiert Salomo diese griffige Formel mit Zustimmung. §3.3 Ausblick Die natürliche Religion wird im CH nicht philosophisch entwickelt. Es wird vielmehr, dem Orakelbescheid des Apollo entsprechend, die älteste Religion gesucht. Diese wird dann mit der natürlichen Religion identifiziert. Hier wird mehrfach eine anscheinend feste Formel aus stoischen Begriffen benutzt, die, wie immer vermittelt, auf die antike Religionsphilosophie zurückführt. Die Formel erinnert einerseits an

51 CH, S. 190: Nam cum Abrahamum legem altissimi coluisse legimus, quid est aliud, quam naturae legis exemplar secutum esse? Et quidem Philo Hebraeus: Edicta, inquit, duarum tabularum nihil a natura discrepant, [...]. 52 Paulus, ad Romanos 1,20; 2,14, in CH, S. 172; 182. 53 Abraham Ibn Ezra (gest. 1164) in CH, S. 147 (Salomo): Hunc autem decalogum legis naturalis epitomam esse judicavit Abraham Aben Esra. Der Ausspruch – vermittelt durch lateinische Übersetzungen des 16. Jahrhunderts – steht wohl in dem Langen Kommentar zu Exodus 20,13-14. Wir danken Guy Stroumsa für prompte Auskunft. Vgl. S. Campanini, »Ut latere possit neminem. Riflessi dell’ebraismo nel Colloquium Heptaplomeres«, in: K. Faltenbacher (Hg.), Der kritische Dialog des Colloquium Heptaplomeres: Wissenschaft, Philosophie und Religion zu Beginn des 17. Jahrhunderts, Darmstadt 2009, S. 259-284. – Michel de Montaigne übersetzt 1596 die (sogenannte) Theologia naturalis des Raymundus Sabundus; Justus Lipsius, de constantia (1584) I cap. 4-5 zum »Seelenfunken« (scintilla animae) mit Zitat von Seneca, epistulae 66,12 und 73,16.

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die Einteilung der stoischen Theologie:54 die Existenz der Götter; ihre Eigenschaften; ihre Leitung des Kosmos; ihre Sorge für die Menschen, womit Vorsehung, Lohn und Strafe gemeint sind. Die Formel für natürliche Religion im CH erinnert andererseits an die fünf »Allgemeinbegriffe die Religion betreffend« in Lord Edwardʼs Schrift über Wahrheit und Offenbarung:55 esse deum – coli debere – virtus cum pietate – horror scelerum – praemium vel poena post hanc vitam. Die Ähnlichkeiten zwischen der naturalis religio des CH und den Grundbegriffen des Deismus verweisen auf gemeinsame Tradition.56 Wilhelm Dilthey bestimmt sie folgendermaßen:57 »Das ist die im Humanismus wirksame und in der niederländischen Philologie kulminierende Erneuerung der römischen Stoa. Ihre Lehre von den allen Menschen gemeinsamen Begriffen, von den natürlichen moralischen und religiösen Anlagen und ihre hierauf gegründete natürliche Theologie sind die entscheidenden Mittelglieder in der Verkettung dieser großen Ideen«.

Dieser Tradition verdanken wir, mindestens teilweise, die Lehre vom ius naturale und von den droits naturels de l’homme – den Menschenrechten.

54 Cicero, de natura deorum 2,1,3: esse deos – quales sint – mundum ab his administrari – consulere rebus humanis; leicht variiert in 3,3,1. – Vgl. die Präambel zu Ciceros Religionsgesetz in de legibus II: Auch sie liest sich wie eine Kurzfassung einer naturalis religio. 55 Edward Herbert of Cherbury, De veritate, Paris 1624 (1645, hg. v. G. Gawlick, 1966), S. 208-220: notitiae communes circa religionem: esse deum – coli debere – virtus cum pietate – horror scelerum – praemium vel poena post hanc vitam. Die notitiae communes (énnoiai koinaí) sind bei Lord Edward angeborene Ideen. 56 G. Gawlick, »Der Deismus im Colloquium Heptaplomeres«, in: G. Gawlick/F. Niewöhner (Hg.), Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres, Wiesbaden 1996, S. 13-26. 57 W. Dilthey, »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« (1891/93), in: ders., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften II, Stuttgart 1971 (Ndr. Darmstadt 1977), S. 90-245; Zitat: S. 107.

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B IBLIOGRAPHIE CH Colloquium Heptaplomeres, hg. von L. Noack. SVF Stoicorum Veterum Fragmenta, hg. von H. von Arnim. H. von Arnim (Hg.), Stoicorum Veterum Fragmenta, Stuttgart 1964. H. Cancik, »Historisierung von Religion – Religionsgeschichtsschreibung in der Antike (Varro – Tacitus – Walahfrid Strabo)« 2001; Ndr. in: ders., Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 28-41. Ders., »Religionskritik«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 Bd. 7, 2004, 337-339. Ders., »Der Ort der Antike in einer europäischen Religionsgeschichte«, in: H.G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte, in diesem Band. H. Cancik-Lindemaier, »Gottlosigkeit im Altertum«, in: dies., Von Atheismus bis Zensur. Römische Lektüren in kulturwissenschaftlicher Absicht. Hg. von H. Harich-Schwarzbauer und B. von Reibnitz, Würzburg 2006. 15-31. M.-D. Couzinet, Jean Bodin. Bibliographie des Ecrivains Français 23, Editions Memini, Paris 2001. K. Faltenbacher (Hg.), Magie, Religion und Wissenschaften im Colloquium heptaplomeres. Ergebnisse der Tagungen in Paris 1994 und in der Villa Vigoni 1999. (= Beiträge zur Romanistik 6), Darmstadt 2002. G. Gawlick/F. Niewöhner (Hg.), Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres, Wiesbaden 1996; darin: G. Gawlick, »Der Deismus im Colloquium Heptaplomeres«, 13-26. D. Großklaus, Natürliche Religion und aufgeklärte Gesellschaft: Shaftesburys Verhältnis zu den Cambridge Platonists, Heidelberg 2000. R. Häfner (Hg.), Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk, Wiesbaden 1999 (= Wolfenbütteler Forschungen 87). Edward Lord Herbert of Cherbury, De religione gentilium errorumque apud eos causis, ed. G. Gawlick, Stuttgart 1967. H. Jones, The Epicurean Tradition, London/NY 1989. M. Leathers Kuntz (Hg.), Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime by Jean Bodin. Translation with Introduction, Annotations and Critical Readings, Princeton 1975.

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L. Noack (Hg.), Joannes Bodinus, Colloquium Heptaplomeres, Schwerin 1875; Ndr. Hildesheim 1970. R.H. Popkin, History of Scepticism, 1964. W. Schröder, »Religion bzw. Theologie, natürliche bzw. vernünftige«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, 713727. Ders., Urspünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Cannstatt 1998 (= Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 11).

Antike – Christentum – Humanismus Ein Versuch zu Grundbegriffen von Friedrich Heers europäischer Religions- und Geistesgeschichte

§1 D IE B ESTIMMUNG DES T HEMAS §1.1 Übersicht 1. Feldwebel Friedrich Heer hatte sich bei Kriegsende mit seiner zweiten Jagddivision den Engländern ergeben, sich beherzt der Gefangenschaft entzogen und in Husum Unterkunft gefunden. Hier, im Momme-Nissen-Haus, hält Friedrich Heer im Januar 1946 seinen ersten öffentlichen Vortrag über Humanismus. Den Rahmen bildet eine Tagung über »Ursprünge europäischer Kultur«. So erscheint denn sein Vortrag über »Europäischen Humanismus« nach Vorträgen über »Europäische Antike« und Europäisches Christentum«.1 1

Aufsätze und unpublizierte Manuskripte Heers werden zitiert nach A. Gaisbauer, Friedrich Heer (1916-1983). Eine Bibliographie, Wien u. a. 1990 (Kürzel: Gaisb.), mit Jahreszahl und Nummer, falls nötig auch mit Seitenzahlen. – Der genannte Vortrag wurde nicht gedruckt; das Manuskript ist erhalten (Gaisb. 1946/15; vgl. S. 430; S. 446); ich habe es nicht eingesehen. – Der Text ist nicht identisch mit einem Aufsatz gleichen Titels, den Heer in der Zeitschrift Gloria Dei 4, 1949/50, S. 61-73 publiziert hat (Gaisb.1949/8). Herrn Adolf Gaisbauer (Wien) danke ich für freundliche Auskunft. Folgende Werke Heers sind mit Kürzeln zitiert: DK Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, Frankfurt/Main 1959; EG Europäische Geistesgeschichte, Zürich 1953;

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Die Stichworte der Titel – Europa, Humanismus, Antike, Christentum – umschreiben ein spezifisches Nachkriegsprogramm in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands: Westbindung, Rückkehr in die europäische Völkergemeinschaft, zu Christentum, Humanität, Humanismus. Das Thema, das der dreißigjährige Kriegsteilnehmer aus Wien in Husum formuliert, ist die unmittelbare Reaktion eines gebildeten »Linkskatholiken« (Heer) und studierten Mittelalterhistorikers auf die Katastrophe der deutschen Politik, Kultur, Religion. Es hat aber eine Vorgeschichte in Wien auf dem Akademischen Gymnasium, das Friedrich Heer von 1926 bis 1934 besucht hat. 2. Das Akademische Gymnasium war eine liberale Schule. Heer rühmt ihre große humanistische Tradition und seine Lehrer Dr. Daniel Emmanuel Ephraim Oppenheim, der ihn in Latein und Griechisch, und Edelmann, der ihn in Geschichte unterrichtete.2 Sie sind, schreibt er, »die größten Lehrer meines Lebens«; beide wurden in nationalsozialistischen Konzentrationslagern umgebracht. Seine stärksten Bildungserlebnisse verdanke er dem Gymnasium, seine »Geistesbildung«, »Humanität«, den »aufgeklärten Humanismus«: »Oppenheim wurde mein geistiger Vater«.3 Schüler Heer ist seit seinem zehnten Lebensjahr politisch interessiert; er habe schon damals begonnen, sich »als Humanist zu verstehen«. Auf dem Lektüreplan stehen Aischylos, Sophokles, Platon. Er liest Phaidon, das Gastmahl, den siebenten Brief. »Hellas leuchtet Ihm ein«: Heer versteht Platon mystisch.4 Die römische Welt wird kaum

EMR Europa. Mutter der Revolutionen, Stuttgart 1964; GEL Gottes erste Liebe, München 1967; HDK »Humanismus als dritte Konfession«, in: F. Heer, Abendrot und Morgenröte, Zürich 1972, S. 73-88; OH Offener Humanismus, Bern, Stuttgart 1962. 2

Gaisb. S. 440-443, mit Quellen.

3

Gaisb. 1971/3. Heer widmet Oppenheim seinen Aufsatz »Oesterreichischer Genius und Judentum« (Gaisb. 1955/24). Er bezeichnet ihn als Agnostiker und Atheisten; dieser Umstand könnte für die letzte Phase der Beschäftigung Heers mit Humanismus von Bedeutung sein (vgl. §4.1).

4

F. Heer, Scheitern in Wien, 1974; in dem Roman ist Heers Gymnasialzeit verarbeitet. An die Platon-Lektüre erinnert auch Gaisb. 1980/92; vgl. S. 461.

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erwähnt, bleibt auch in späteren Äußerungen schemenhaft und stereotyp. Aber Platon, das »Licht aus Hellas«, begründet sogar seine »innerkatholische Spiritualität«.5 Noch sein großes Werk über die »Dritte Kraft«, den europäischen Humanismus im 16. Jahrhundert, verdanke dieser »großen humanistischen Tradition« und seinem Lehrer Oppenheim »sehr, sehr viel«.6 Worin dieser Einfluß im einzelnen bestand, ist unklar. Er kann sich aber m.E. nicht auf Heers Darstellung von Antike oder Antikerezeption beziehen, da diese paradoxer Weise sowohl in der Darstellung des 16. Jahrhunderts als auch in der »Europäischen Geistesgeschichte« nur eine geringe Bedeutung haben. 3. Folgende Phasen lassen sich in der Beschäftigung Heers mit Humanismus abgrenzen. Auf die humanistische Bildung im Akademischen Gymnasium (1926-1934)7 folgt in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine, wie es scheint, deutlich kritische Phase, in der dem europäischen Humanismus und sogar Erasmus Selbstsucht, Lebensgenuß, Versagen gegenüber den Problemen seiner Zeit, einseitige Auffassung des Menschen vorgeworfen werden (1946 bis etwa 1950).8 In einer dritten Phase wird Humanismus als eine Tendenz der nachantiken Geistesgeschichte im Kontext des Christentums erfaßt (EG, 1953) und als »Dritte Kraft« zwischen den konfessionellen Fronten des 16. Jahrhunderts konstituiert (DK, 1959/60). Schließlich läßt sich, ausgelöst durch die Enttäuschung über die Entwicklung der Großkirchen und unter dem Einfluß von Ernst Bloch und Gerhard Szczesny, in einer letzten Phase eine Ausweitung des Begriffs Humanismus und eine Neubewertung seiner nichtreligiösen, naturwissenschaftlichen, medizinischen Ausprägungen bei Heer feststellen (OH, 1962; EMR, 1964; HDK, 1972).

5

Gaisb. 1975/25 (S. 442).

6

Gaisb. 1981/34 (S. 441).

7

Ob Heer während seines Studiums der Geschichte, Kunstgeschichte und

8

Gaisb. 1949/8; vgl. S. 463.

Germanistik sich mit Humanismus befaßt hat, ist mir unbekannt.

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§1.2 »Ein sauberer Begriffsapparat« (F. Heer) 1. »Einen sauberen Begriffsapparat« will Heer erarbeiten.9 Er bietet jedoch keine explizite Definition von ›Humanismus‹ oder ›Humanist‹. Nicht einmal eine Klage über die Vieldeutigkeit des so oft mißbrauchten Ausdrucks erlaubt er sich, aber auch keinen Wink zur obligaten Wortgeschichte, zur Differenz von Humanität und Humanismus und zu beider Bezug auf das ehrwürdige humanitas bei Marcus Tullius. Nicht selten zeigen distanzierende oder ironische Anführungszeichen, daß er die Unsicherheit der Terminologie berücksichtigt.10 Heer hat aber, soweit ich sehe, keinen Kanon aufgestellt, keine humanistische Bibliothek empfohlen, keinen Erzhumanisten nach Werk und Gestalt analysiert und dabei das Paradigma des umanista aufgestellt. Selbst Erasmus heißt zwar der »religiöse Humanist«; die Kriterien für diese Bestimmung sind in der Narrative und der Charakteristik der Personen enthalten, werden aber nicht systematisch entwickelt.11 Erasmus von Rotterdam (1469-1536) ist der Humanist schlechthin.12 Die Erasmianer, viele der Männer der »Dritten Kraft«, von Heer als Gruppe und Bewegung konstituiert, sind (auch) Humanisten.13 Justinos (gest. 165 n.Chr. in Rom) ist »der erste Humanist in der Geschichte des Christentums«,14 John Henry Newman (1801-1879) ein später.15 Für Bettina von Arnim (1785-1859) erfindet Heer – wohl als Pendant zu Pantheismus – den »Panhumanismus«;16 Thomas Mann (1875-1955) ist »europäischer Humanist«.17 Was haben diese Personen gemein? Heers Kriterien treffen nicht immer alle Beispiele: Eine intensive Antikerezeption, humanitäres Engagement; seine Humanisten sind kosmopolitisch, eher pazifistisch, to-

9

Heer, EG, S. 6.

10 Beispiel: Heer, Karl der Große, 1975, S. 197ff. 11 Heer, DK, S. 215. 12 Heer, DK, S. 215. 13 Vgl. u. §2.2. 14 Heer, EG, S. 13. 15 Heer, EMR, S. 703. 16 Heer, EMR, S. 444. 17 Heer, EMR, S. 8. – Weitere von Heer als »Humanist« bezeichnete Personen: Lord Acton; Friedrich Hölderlin; Johannes von Salisbury (11151180); Eduard Spranger.

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lerant; ihr Denkstil ist »Offenheit« – gegen Fronten und Ghetto, ihre Form das Gespräch, das Ziel nicht die Vernichtung, sondern »Koexistenz« oder »Versöhnung« der Gegensätze und Gegner.18 Antihumanisten sind getrieben von Angst (vor den Massen, dem Untergrund), die Haß, Fanatismus und Terror erzeugt. Es ist offensichtlich, daß Heers Gebrauch der Worte ›Humanist‹ und ›Humanismus‹ weit über deren primären Gebrauch hinausgeht. 2. ›Humanismus‹ ist ein ungeschütztes, nicht festgestelltes Wort. Kein Handbuch humanistischer Grundbegriffe, keine Enzyklopädie des Humanismus kann da helfen. ›Humanismus‹ ist primär ein auf die klassische Antike gegründetes pädagogisches Programm, dann eine Denkrichtung (Weltanschauung), die den Menschen als Menschen, seine humanitas ins Zentrum und als Maß setzt,19 und ist schließlich, erst seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, auch eine unsichere Epoche (›Humanismus‹, ›Renaissance‹, ›Reformation‹). ›Antike‹ ist immerhin eine Epoche, deren Anfang mit ›Homer‹ gesichert, die durch ein Corpus von Kunstwerken, von Klassikern, einen Kanon der Schulautoren, eine Reihe von Symbolorten (Troia, Athen, Delphi, Rom) als normative Tradition von Christentümern und Nationalkulturen abgegrenzt ist.20 Da ›Antike‹ eine lange und reiche Geschichte mehrerer Völker umfaßt, ist sie ein Reservoir für widersprüchliche Traditionen: Demokratie und totaler Staat wurden hier gedacht und gelebt; Theorien für Sklaverei und für Gleichheit und Frei-

18 Heer, DK S. 9-11 (eine stark harmonisierende Beschreibung der »offenen Welt Alteuropas« = »offener Humanismus«); S. 213 (Kriterien: Dialog, Ironie, Selbstkritik). 19 Vgl. Cicero, de officiis 3,6,27: Natura praescribit, ut homo homini quicumque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit – »Die Natur schreibt vor, daß der Mensch dem Menschen, wer immer er sei, helfen wolle aus genau diesem Grunde, daß der ein Mensch ist.« Deshalb bilden, in Anlehnung an die stoische Ethik und Anthropologie, die Begriffe Natur und Vernunft, Naturrecht und Menschenrecht und die humanitäre Praxis für den schwachen, immer gefährdeten Menschen ein einheitliches Programm. 20 Vgl. H. Cancik, »Antike«, in: RGG4, Bd. 1, 1998, Sp. 536-542; ders., »Klassik/klassisch«, in: RGG4, Bd. 4, 2001, Sp. 1041-1042; ders./H. Mohr, »Rezeptionsformen«, in: Der Neue Pauly, Bd. 15.2, 2002, Sp. 759-762.

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heit von Natur aus wurden hier entwickelt, die Ausdrücke Menschenwürde (dignitas hominis), Naturrecht und Menschenrecht (ius naturale, ius humanum) geprägt, religiöse Repression praktiziert und die Religionsfreiheit (libertas religionis) gedacht.21 ›Christentum‹ ist kein pädagogisches Programm, keine Weltanschauung, keine Philosophie, keine Kultur, keine Epoche, sondern eine jüdische Reformbewegung, die sich zu einer gemeinantiken universalen Erlösungsreligion entwickelt, im Westen zum römischen Katholizismus bildet und schließlich von dem römischen Staat als Reichsreligion rezipiert wird. Auch diese Geschichte schafft eine reiche, widersprüchliche Tradition, mit vielen regionalen und epochalen Unterschieden:22 nota varietas huius sectae. §1.3 Die Begrenzung des Themas Im Mittelpunkt der »Europäischen Geistesgeschichte«, wie Friedrich Heer sie entworfen hat, stehen Christentum und Humanismus, mit Einschränkungen Antike und Antikerezeption, ihr wechselseitiges Verhältnis und ihre Wirkung auf die europäische Kultur, auf die Entstehung und Legitimität der Neuzeit. Seine »Geistesgeschichte« umfaßt Christentums- und Kirchengeschichte, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte der Geistesarbeiter (Intellektuellen), Teile von Literatur- und Kulturgeschichte. Das universalhistorische Projekt im Ganzen und die Unmenge von Aussagen, für die zahlreiche Einzeldisziplinen sich zuständig wissen, erregte, wie zu erwarten, Bewunderung und Kritik.23

21 Vgl. H. Cancik/H. Cancik-Lindemaier, »Moralische tolerantia – wissenschaftliche Wahrnehmung des Fremden – religiöse Freiheit und Repression. Bemerkungen zum ›Kulturthema Toleranz‹ in der griechischen und römischen Antike« (1996) in diesem Band; H. Cancik, »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹« (2005), in diesem Band. 22 Tertullian, Apologeticum 47,9: »Bekannt ist die Mannigfaltigkeit unserer Schule (›Sekte‹)«. 23 Vgl. die ausführlichen Referate bei A. Gaisbauer (1990) und Evelyn Adunka, Friedrich Heer (1916-1983). Eine intellektuelle Biographie, Innsbruck 1995.

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Der Versuch, der hier vorgelegt wird, ist weder eine geschichtstheoretische Würdigung des Projektes noch eine historisch-kritische Prüfung aller Details. Beides läge außerhalb der Kompetenz des Verfassers dieses Versuchs, die auf Altertumswissenschaft, Antikerezeption, Wissenschaftsgeschichte beschränkt ist. Gegenstand des Versuchs sind lediglich jene drei Grundbegriffe – ›Antike‹, ›Christentum‹ und besonders ›Humanismus‹ – aber auch diese nur in einer kleinen Auswahl aus Heers gewaltigem gedrucktem œuvre:24 Europäische Geistesgeschichte, 1953; Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, 1959; Offener Humanismus, 1962; »Humanismus als dritte Konfession«, in: F. Heer, Abendrot und Morgenröte, 1972, S. 73-88. Für dieses Corpus soll untersucht werden, welches Bild von der Antike Friedrich Heer sich gemacht hat, welchen Ort in der europäischen Geistesgeschichte er den antiken Traditionen zugewiesen hat, wie er ›Humanismus‹ geschichtlich und theologisch begründet, und wie er das Verhältnis von Humanismus zu seinem spezifischen Christentum bestimmt.

24 Die Beschränkung auf gedruckte Quellen schließt viele Fragen von vorneherein aus: Welche Hilfsmittel hat Heer benutzt, eigene und fremde Bibliotheken? Im Hinblick auf seine Kenntnis und sein Verständnis von Antike wären seine Reisen nach Süden, in die klassischen Landschaften, in die Museen zu prüfen; briefliche Kontakte mit Altertumswissenschaftlern, biographische Zeugnisse über die von ihm in der Schule erfahrene Antike (Stoffpläne seines Gymnasiums) u.a.m.

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§2 D IE

HISTORISCHE K ONSTRUKTION DES H UMANISMUS

§2.1 Humanismus in Friedrich Heers »Europäische Geistesgeschichte« (1953) 1. Vorbereitet durch zahlreiche Aufsätze, das Mittelalterwerk »Die Tragödie des heiligen Reiches« (1952/1953)25 und Vorlesungen an der Universität Wien,26 veröffentlicht Heer im Jahre 1953 eine umfassende Synthese seiner historischen und kulturkritischen Arbeiten: »Europäische Geistesgeschichte«. Auf 727 Seiten stellt Heer »das nachgriechische Westeuropa zwischen Konstantin und Hitler« dar, also das christliche Europa ohne Byzanz und ohne Antike.27 Daß dieses gewaltige Vorhaben zu begrenzen ist, leuchtet ein: die Auswahl aber, die Heer trifft, hat erhebliche Konsequenzen nicht nur im Hinblick auf die ausgeschlossene Antike selbst, sondern auch für die Konstellation der Begriffe ›Antike, Christentum, Humanismus‹. Die Interpretation des Eingangs dieses Werkes möge die Folgen dieser Epochenbildung veranschaulichen. 2. Den Gegenstand seiner europäischen Religionsgeschichte umschreibt Heer am Anfang des Werkes (a) mit einem unerwarteten Datum und einer kleinen Geschichte des Wortes Europa, (b) mit der Entwicklung eines antiken und offensichtlich zeitgenössischen Ost-WestKonflikts, (c) mit einem schnellen Rückblick auf den Anfang der griechischen Hochliteratur und das »niederständische Volk« aller Länder, schließlich (d) mit der Einführung des Ausdrucks »christlicher Humanismus«.28 Die Erzählung beginnt mit einem genauen Datum: 199 n.Chr. im Iraq. »Ostsektor« des Reiches nennt ihn Heer in der Nomenklatur der Besatzungszeit. Bei einer gefährlichen Belagerung der Wüstenstadt

25 Zu der langen Vorgeschichte dieses Werkes (seit 1938) vgl. Gaisb. 1952/3. 26 Sommersemester 1952 und Wintersemester 1952/53 jeweils »Einführung in die europäische Geistesgeschichte«. Ob Vorlesungsmanuskripte erhalten sind, ist aus Gaisb. 1952/71 und 1952/72 nicht ersichtlich. 27 EG, S. 6. – »Nachgriechisch«, eine ungewöhnliche Bezeichnung, meint wohl ›nach der klassischen und hellenistischen Epoche‹. 28 EG, S. 9-10.

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Hatra, westlich von Mossul, verweigern Truppen aus dem Westen des Reiches, »die Europäer«, in der Armee des Kaisers Septimius Severus den Sturm, »die Syrer« wagen ihn und werden geschlagen.29 Unsere Quelle, L. Cassius Dio (um 164-nach 220 n.Chr.), ein gebildeter griechischer Historiker, römischer Senator und Consul, beschreibt den Vorfall nur wenige Jahre später und bemerkt keinerlei universalhistorischen Sinn. Friedrich Heer jedoch sieht in jenem Vorfall und in den Zufällen der Wortgeschichte30 eine Vorentscheidung über »Europas geistiges Schicksal«; hier sei Europa »geistig konzipiert« worden und zwar »als Gegensatz« zum Osten und »zum ersten Male«. Aber schon Herodot von Halikarnass (Karien/Türkei; ca. 485-424 v.Chr.) hat Hellas im Konflikt mit den Persern durchaus »geistig konzipiert« – ›Freiheit gegen Despotie‹ – und den Perserkrieg in eine Reihe von Konflikten zwischen »Asia und Europa« (Hdt. 4,1) eingeordnet. Zuerst, schreibt Herodot, haben Phönizier die Prinzessin Io aus Griechenland, dann, um 1520 v.Chr. nach antiker Chronologie, Kreter die Prinzessin Europa aus Tyros geraubt. Das wäre ein klassischer, ein myth-historischer Anfang der europäischen Geistesgeschichte. Er führt zu den Symbolen hellenischer Selbstbehauptung und Selbstdefinition: Marathon, Salamis, Thermopylen. ›Europa‹ ist hier eine Königstochter und ein Kontinent, ›Orient‹ ein hochgerüsteter Staat. Heer dagegen gewinnt aus Cassius Dio folgende Begriffe:31 »›Europa‹, das sind zunächst Heere und geschlossene politische Gebilde«; »der ›Osten‹, das ist ein Sich-Begegnen, Zusammenströmen, Verschmelzen und Wiedertrennen religiöser Bewegungen, philosophischer Ideen«. Wo liegt dieser Osten? Im Perserreich Herodots? Im iraqischen Hatra, wo der römische Kaiser gerade gescheitert war? Der Versuch, von Dio und der Historia Augusta ausgehend, europäische Geistesgeschichte zu entwickeln, kann nicht gelingen.

29 Cassius Dio 75,12: Europaíoi – Syroi . Heer gibt die Stelle nicht an. 30 Die Nennung von »Europäern« im Iraq. Das Ethnikon ist jedoch schon bei Herodot (7,73) gebraucht. 31 EG, S. 9: Weder aus Dio noch aus den beiden anderen von Heer angedeuteten Stellen – Scriptores Historiae Augustae, Vita Aureliani 31; Vita Probi 19 – lassen sich die von Heer gewonnenen Begriffe ableiten. Die beiden Texte der Historia Augusta bieten übrigens res (exercitus) Europenses (nicht: »Europeenses«).

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3. Der Einsatz im Jahre 199 n.Chr. ist für Heer auch dadurch motiviert, daß er einerseits erst »nachgriechisch«, mit Konstantin (4. Jh. n.Chr.) beginnen, andererseits die frühchristliche Geschichte (1.-3. Jh.) einbeziehen will. Denn natürlich ist die Genese eines griechischen Judentums und Christentums im gesamten Mittelmeerraum ein zentrales Thema jeder europäischen Geistesgeschichte. Und erst im religiösen – nicht im philosophischen, medizinischen, juristischen – Kontext, und zwar im christlichen – nicht im hellenischen oder jüdischen – Kontext fällt dann zum ersten Male, nach einem offenbar unverzichtbaren Blick auf die Ikonen griechischer Frühe und in die Niederung des Volkes,32 das Wort ›Humanismus‹:33 »Clemens von Alexandrien und Origines, ihnen folgend die drei großen Kappadozier, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz sind die Chorführer im Reigen dieses ›christlichen Humanismus‹, der über Hieronymus, Abälard, Petrarca, Erasmus, Budé, Leibniz zum 19. Jhdt. die hohe Einung von ›heidnischer‹ und ›christlicher‹ heiliger Altheit und Weisheit besingen wird.«

Der Satz ist voll Pathos und seltener Worte (›Einung‹, ›Altheit‹). Die beiden Kriterien für die Aufnahme in diesen erlauchten Chor sind Christlichkeit und Gelehrsamkeit, die eine höchst selektive Antikerezeption notwendig einschließt. Die hohen Worte und das harmonische Bild verdecken die Polemik, Repression, Destruktion, welche die Antikerezeption der Christianer begleitet. Und nicht jede Antikerezeption ist Indiz für Humanismus.

32 EG, S. 9-10: »Es ist hier nicht näher zu sprechen vom ersten Vater des Abendlandes, von Homer«; Heer spielt an auf Theodor Haecker, Vergil Vater des Abendlandes, München 1931. Heer bezieht sich, ohne Nachweis, auf Werner Jaeger, den wichtigsten Vertreter des »Dritten Humanismus« in Deutschland vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das »niedere Volk«, dem Heer immer wieder seine Aufmerksamkeit und oft seine Sympathie schenkt, bleibt eine auffällig ungeschichtliche Größe; sogar Erinnerung an das Diluvium wird dieser immer gleichen »Masse« im Untergrund zugeschrieben. 33 EG, S. 10. Die Wörter »christlicher Humanismus« sind von Heer in Anführungszeichen gesetzt, ein Zitat wird jedoch nicht nachgewiesen.

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Entscheidend ist, daß Heer (a) die griechischen und römischen Grundlagen von Humanismus, die stoische Philosophie und deren Wirkung im Naturrechtsdenken der Neuzeit, die Konjunktion von Barmherzigkeit und Bildung bei M. Tullius Cicero, das Argument homo qua homo ausscheidet und (b) die geschichtlich und kulturtheoretisch entscheidende Differenz zwischen Humanismus und Religion, die jeder etwaigen Synthese vorausgehen muß, nicht entschieden erfaßt. 4. Eine Folge dieser reduktionistischen und sakralisierenden Ursprungsgeschichte von Humanismus ist es dann, daß sich die intendierte »Geistesgeschichte Europas« zu einer Kirchen-, Theologie- oder Religionsgeschichte verengt und alle nichtchristlichen Formen von Humanismus als ›Saekularisate‹ konstruiert werden müssen, da sie keine eigene Begründung und Tradition neben den Christentümern zu haben scheinen.34 Heer schreibt:35 »Die europäische Theologie wird geboren bei den Apologeten des 2. Jhdts., in der christlichen Gnosis, in der alexandrinischen Katechetenschule: denkwürdiger Auftakt unserer Geistesgeschichte.36 [...] Die Gedankengänge dieser Theologen werden für das Europa des 8.-19. Jhdts. alles Material liefern, das Humanisten, Moralisten, Atheisten, Bibelkritiker und Naturalisten benötigen, um das Christentum überzuführen in eine innerweltliche Ethik, um es aufzulösen in Lebenslehre und ›Weltanschauung‹«.

Ein Blick in die Quellenregister von Petrarca, Michel de Montaigne, Edward Lord Herbert of Cherbury, John Toland, Immanuel Niethammer, Wilhelm von Humboldt, Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge lehrt, daß diese Autoren die christlichen Theologen des 2.-3. Jahrhunderts gegebenenfalls berücksichtigen, jedoch für ihren Humanismus, Moralismus, Atheismus und Naturalismus direkt und indirekt auf Platon und Aristoteles, Epikur37 und Lukrez, auf Cicero und Seneca, Horaz und

34 Vgl. §3.2. 35 EG, S. 13. 36 ›Geistesgeschichte‹ ist hier gleich ›Theologiegeschichte‹. 37 Epikur, dessen Werke verloren sind, war durch die positive Darstellung bei Diogenes Laertios und die ihr beigefügten Dokumente dem Abendland hinreichend bekannt.

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Persius zurückgreifen. Eben dies ist ja die Struktur der europäischen Religions- und Geistesgeschichte und die Bedingung ihrer Fruchtbarkeit, daß sie die alten Kulturen erhält und enthält als Ruinen, als ästhetische Objekte, als reale Möglichkeit paganisierender Revitalisierung, als Aberglauben, als Bildungsgut, als Wissenschaft, Reservoir von Techniken und Erfahrungen, als Rechtssystem, in paradigmatischen Gestalten und Mythen und so ›Renaissancen‹ ermöglicht, Horizonte offenhält, Alternativen zu den jeweils herrschenden geistigen, religiösen, politischen Mächten ermutigt. Diese Struktur der europäischen Geistes- und Religionsgeschichte ist in der historischen Konstruktion des Humanismus im Eingang von Friedrich Heers monumentalem »Essay«38 nicht erfaßt. §2.2 Humanismus in Heers »Die Dritte Kraft« (1959/60) 1.a) Das Projekt »Europäische Geistesgeschichte« hat Friedrich Heer nach dem umfassenden »Essai« von 1953 in verschiedenen Detailarbeiten, Nahaufnahmen, Erweiterungen ausgearbeitet. Ein Aufsatz über »Untergang und Wiedergeburt der Dritten Kraft« im Herbstheft der Neuen Rundschau 1955 signalisiert eine wiederum gewaltige Monographie über den europäischen Humanismus im 16. Jahrhundert.39 Der Aufsatz ist Thomas Mann gewidmet: »dem Repräsentanten des Dritten europäischen Humanismus«. Im Sommer jenes Jahres war Mann gestorben, Heer hat sofort reagiert und dem wenig christlichen Autor einen Platz im europäischen Humanismus angewiesen. Gewiß zu Recht, aber warum die Numerierung? Weder hat sich Heer, soweit ich sehe, mit Eduard Spranger, Werner Jaeger und deren »3. Humanismus« und dessen vertrackter Nähe zum 3. Reich auseinandergesetzt, noch dürfte Thomas Mann sich also etikettiert haben. Wollte Heer den berühmten Autor mit der »Dritten Kraft« assoziieren? Der Aufsatz wurde, allerdings ohne die Widmung, in den Sammelband »Quellgrund dieser

38 EG, S. 6. 39 F. Heer, »Untergang und Wiedergeburt der Dritten Kraft«, in: Die Neue Rundschau 66.3 (1955), S. 471-507 (Gaisb. 1955/42). Der Ausdruck »Dritte Kraft« erscheint bereits in EG (1953), S. 251; 290f.; vgl. 446: »dritter Weg«; auch die Epochengrenze um 1540 ist bereits bestimmt (EG, S. 262).

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Zeit« aufgenommen.40 Er bildet als »Prolog« und »Epilog« den Rahmen für mehr als 600 Seiten »Dritte Kraft«. 1.b) Die Bezeichnung »Dritte Kraft« für eine christliche Gruppierung des 16. Jahrhunderts ist in Anlehnung an viele und beziehungsreiche Triaden der christlichen Religionsgeschichte von Heer gewählt. Er dürfte dabei auch von dem zeitgenössischen Sprachgebrauch, der Suche nach einem »Dritten Weg« zwischen Kommunismus und Kapitalismus oder dem Ausgleich zwischen den beiden Großkirchen in Deutschland geleitet sein. Heer bezieht sich auf »das Wort der griechischen Kirchenväter vom genus tertium«.41 Gewährsmann ist ihm Tertullian, ein Römer in Karthago (Provinz Africa) und ein sehr bezweifelter Kirchenvater. Heer nennt ihn den »großen Berber«. Das klingt exotisch und philafrikanisch, ist aber irreführend. Der Mann ist Römer, publiziert griechisch und lateinisch; Berbertum spielt hier keine Rolle. Der Ausdruck »drittes Geschlecht« (genus tertium) enthält nicht, wie Heer paraphrasiert, »von Anfang an die Vorstellung der Überwindung von Gegensätzen (scil. ›Juden‹ und ›Heiden‹), sondern ist ein schwer verständliches Spottwort der Römer – wie »Hundskopf«, »Schattenfüßler«, »Gegenfüßler«.42 Tertullian weist den Ausdruck zurück; er bildet nicht den scheinbar so nahe liegenden Begriff ›Heide‹ noch den Dreischritt ›Heiden‹ – ›Juden‹ – ›Christianer‹, sondern unterscheidet gerade Griechen, Römer, Ägypter. Insofern ist Tertullian aus der Frühgeschichte des Ausdrucks »Dritte Kraft« auszuscheiden. Die symbolische Kraft einer Triade ist groß, die analytische gering, und sie verführt zu antithetischer Verzeichnung. »Mörderische Angst«, sagt Heer in seiner Erklärung des Ausdrucks »drittes Geschlecht«, hätten die »alten Juden«, Gesetzesfurcht, Gottesfurcht: warum »alt«? Weil die Christianer die Heilige Schrift der Juden »Altes Testament« nennen? Warum »mörderisch«? Die »Heiden«, so nennt Heer mit einem ebenso häufigen wie unwissenschaftlichen Ausdruck die Religio-

40 F. Heer, Quellgrund dieser Zeit. Historische Aufsätze, Einsiedeln 1956, S. 132-170. 41 DK, S. 8. 42 Tertullian, Adversus nationes 1,8. – Da das Werk DK keinen Anmerkungsapparat mit Stellennachweisen hat, ist unklar, ob Heer sich zusätzlich auf griechische christliche Autoren, etwa Clemens Alexandrinus, beziehen wollte. Eine Neuausgabe des Werkes sollte alle Zitate nachweisen.

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nen der Hellenen und Römer, hätten »Leiden und Leidenschaften«: ja, gewiß, die Juden nicht? Muß die fremde Religion so verkürzt und auf einen Reim gebracht werden, damit die Christianer als »Dritte Kraft« zwischen ›Juden‹ und ›Heiden‹ gestellt werden können? Für eine umfassende Geistesgeschichte, die europäisch und humanistisch ist, sind diese Bestimmungen zu den Ausdrücken »Drittes Geschlecht« und »Dritte Kraft« nicht fruchtbar. 2.a) Die »Dritte Kraft« ist eine von Heer konstituierte und benannte Gruppe von Christen, Reformern und Humanisten, von 1500 bis 1540 (bzw. 1555).43 Die Gruppe steht – als die eigentliche Mitte – zwischen den Fronten der Konfessionen, den Lutheranern, Calvinisten, ›Schwärmern‹ einerseits, dem vatikanischen Katholizismus, der Gegenreformation andererseits. Mit der symbolträchtigen Bezeichnung der Gruppe und der kirchengeschichtlichen Epochenbildung wird die »Dritte Kraft« als eine religiöse, christliche, überwiegend katholische oder katholisierende Gruppe eingeführt. Ihr Symbol seien Michelangelos (1475-1564) ›Kreuzabnahme‹ im Dom zu Florenz und seine Pietà in der Peterskirche zu Rom: der leidende, gescheiterte, tote Mann und die hilfreiche, trauernde Frau unter den Gewölben der Macht.44 Mitte und Norm für die »Dritte Kraft« sind Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536), seine Freunde und Schüler, Karl V. (1519-1596) »mit seinem Hofkreis erasmianisch gebildeter Humanisten«.45 Ausdrücklich als Vorläufer, Keim oder Erben der »Dritten Kraft« bezeichnet Heer folgende Personen: Nikolaus von Cues, Colet, Thomas Morus, Erasmus, Bodin, Budé, Cisneros und seine Schüler, Juan Luis Vives, Zwingli, Melanchthon, Grotius (1583-1645), Rembrandt (16061669) u.a.m. Gemeinsam ist diesen Männern die Herkunft aus dem »offenen Alteuropa«, aus der katholischen Frühreform des 15. Jahrhunderts, die Kritik an Ablaßmißbrauch, Reliquienwesen, Mönchtum, an Unbildung des Klerus und Verderbnis der Kirchenfürsten; Urkirche, einfaches Leben, aber auch Hebung der Bildung und Volkserzie-

43 Die Verschiebung des Endes in DK (1959) gegenüber Quellgrund (1956) berücksichtigt die Todesdaten von Kopernikus (1543), Luther (1546), Ignatius (1556). 44 DK, S. 7 und S. 687-689. 45 Heer, Quellgrund, S. 180.

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hung seien ihr Programm.46 Das Edikt von Nantes (1598) und die Gründung der Académie Française seien ihnen zu verdanken;47 die Forderung nach Toleranz, Weltfrieden, ja »pluralistischer Gesellschaft« werde von ihnen erhoben.48 2.b) Ob diese Gruppe homogen, hinreichend abgegrenzt, vollständig ist, wird bei Heer nicht prinzipiell erörtert. Durch den Zeitschnitt, den er wählt – Einsatz um 1500 –, werden Trecento und Quattrocento ausgeschlossen. Die Darstellung des europäischen Humanismus wird von den Daten der Kirchengeschichte begrenzt, nicht von einer spezifischen Epochengliederung des europäischen Humanismus: so kann er immer nur in Rückblicken und Ausblicken einbezogen werden.49 Dadurch verengen und verformen sich die Genealogien von Humanismus und »Dritter Kraft«. Sie komme aus der katholischen Frühreform des 15. Jahrhunderts, aus dem offenen Alteuropa, einem »tausendjährigen Humanismus«, den Heer zu den spätrömischen und christlichen Autoren des dritten bis sechsten Jahrhunderts zurückführt.50 Wiederum werden die klassischen Autoren und sogar die neuen griechischen Texte, auf die sich doch die europäischen Renaissancen direkt und indirekt immer beziehen, ausgeschlossen. Die Engführung auf die Geschichte des Katholizismus und dessen »tausendjährige« Kontinuität verdeckt die Sprünge, Brüche, die Quellen für die innovative Dynamik der Epochen, die ›Renaissance‹ und ›humanistisch‹ genannt werden: den unerwarteten Zustrom von Menschen und Texten aus dem untergehenden griechischen Osten, den Sprung zu den Quellen über Autoritäten und Traditionen hinweg, die Rezeption auch ›unklassischer‹ Texte aus Astrologie, Hermetik, Orphik, die Wiederentdeckung von Stoa, Materialismus, Skepsis, die Entstehung neuer wissenschaftlicher, literarischer, künstlerischer Foren und Zentren. Andererseits muß betont werden, daß Heer die fruchtbaren Positionen

46 DK, S. 14-21. 47 DK, S. 562f. 48 DK, S. 22; 684ff.: ›Gespräch der Feinde‹. 49 Coluccio Salutati (1331-1406), Notar, Kanzler in Florenz, ein Paradigma für Genese und Struktur des europäischen Humanismus, wird knapp erwähnt, Savonarola breit dargestellt (DK, S. 43f.). 50 DK, S. 11; vgl. S. 17; 26; 501: »offener italienischer Humanismus«, Florentiner Platonismus.

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in den Lehren der beiden Sozzini, Laelius (1525-1562) und Faustus (1539-1604) gesehen hat, ihren Zusammenhang mit dem Humanismus (z.B. die Anwendung der historisch-kritischen Methode auch auf Heilige Schriften und Dogmengeschichte), ihren rationalistischen Impuls und damit ihre Funktion als Mittelglied zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung.51 Da in diesem Versuch jedoch keine Analyse, geschweige denn Würdigung von Heers Werk als Ganzem gegeben, sondern lediglich das Thema ›Antike – Christentum – Humanismus‹ bei Heer behandelt werden soll (vgl. §1.3), kann diese Entwicklungslinie hier nicht weiter verfolgt werden. 3. Ein »soziologisches Merkmal« charakterisiert die »Dritte Kraft«:52 Sie sei die erste große Bewegung von Intellektuellen, erst freischwebenden, dann beamteten. Dieser fruchtbare kultur- und wissenssoziologische Ansatz wird aber durch die Annahme blockiert, diese Notare, Kanzler, Professoren, Ärzte, Lehrer, hätten nicht genug »sakrale Würde«. Sie seien nur »Priester ohne Weihe«. Heer schließt Petrarca und Erasmus ein, die immerhin noch die niederen Weihen erhalten hätten; aber dies reiche nicht aus, um einen geistigen und spirituellen Ort zu sichern. Diese klerikale Typologie verfehlt die soziologischen Neuerungen (Rollen, Berufe, Legitimationen), die mit der Ausweitung und Verselbständigung des Bildungswesens (Schulen, Universitäten, Akademien), mit der Vergrößerung des literarischen Marktes (Druck, Zeitschriften, ›Journalismus‹), dem Ausbau des staatlichen Verwaltungswesens in den Stadt-Republiken und Monarchien der frühen Neuzeit sich ergaben. Diese Entfaltung der staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Systeme kann nicht aus »sakraler Würde« abgeleitet und auch nicht mit Würdegraden erfaßt werden.53

51 Vgl. Otto Fock, Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesammtentwicklung des christlichen Geistes dargestellt, Kiel 1847; Delio Cantimori, Italienische Haeretiker der Spätrenaissance, Basel 1949. 52 DK, S. 20-21. 53 Vgl. hier §3.2: Humanismus als Säkularisat.

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§3 D IE

THEOLOGISCHE K ONSTRUKTION VON H EERS ›H UMANISMUS ‹

§3.1 Der Mensch Jesus ›Humanismus‹ hat bei Heer viele Beinamen, auch »religiöser Humanismus«,54 und nicht nur geschichtliche und philosophische Begründungen, sondern auch eine theologische: der Mensch Jesus.55 Deshalb beginnt und schließt Heers »Dritte Kraft« mit Bildbetrachtungen. Die Pietà in St. Peter, die Kreuzabnahme im Dom von Florenz zeigen den leidenden und toten Gottessohn, Heer betont: den menschlichen Christus, Gott ist ein Mensch.56 Heer rekapituliert die Lehre von der »Einfleischung« des Sohnes und zitiert das Identifikationsschema der deutschen Mystik, die Geburt Gottes »in dir«: dies entspreche dem Denken der »Dritten Kraft«. Die Malerei Rembrandts (1606-1669) sei das »Testament der Spiritualität der »Dritten Kraft«:57 »Gott ist Mensch geworden: und das heißt hier: er ist ganz eingegangen in die Niedrigkeit jedes Menschenantlitzes«. Diese Portrait-Kunst sei »nichts anderes als ein Ausdruck seines Ergriffenseins vom Wunder der Inkarnation, der Geburt Gottes im Menschen«. Daß Rembrandt von dieser mystischen Deutung der Inkarnationslehre beeinflußt sei – und nur davon, wird nicht belegt. Heer aber gewinnt einen Zeugen für einen »mystisch inspirierten, religiösen Humanismus«. Dessen Grundlage ist die Vermenschlichung Gottes und Vergöttlichung (deificatio) des Menschen, also die christlichen Dogmen von unbefleckter Empfängnis, jungfräulicher Geburt, von Leidensmystik und Sakramententheologie. Die (katholische) Christologie, die Heer in seinen Schriften entfaltet, ist gewiß sehr zu respektieren, ebenso die vielerlei »Synthesen«, die von Vielen zwischen Humanismus und Christentum gelebt worden sind. Gewiß sind die epochenbedingten Parallelentwicklungen in Kunst, Bildung, Wissenschaft auf der einen, Theologie und Mystik auf der anderen Seite und die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen diesen Kultursegmenten nicht zu übersehen. Aber die Grundlegung eines universalen europäischen Humanismus, der Antike, Judentum und Islam nicht

54 DK, S. 499. 55 Vgl. Heer, OH, S. 17f.; DK, S. 76. 56 DK, S. 7; S. 687-689. 57 DK, S. 580.

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ausschließen wird, kann nicht Mariologie, Christologie und Mystik sein.58 Humanismus ist keine Religion. Er kann nicht theologisch begründet werden. Deshalb dienen Ausdrücke wie »religiöser Humanismus« nicht der Klarheit. §3.2 Die sogenannte ›Säkularisierung‹ 1. Eine christologische Begründung von Humanismus und die Ausgrenzung nichtchristlicher Traditionen (Antike und ihre Rezeption) führt, wenn dann daraus die kulturelle Dynamik und Kreativität (West-)Europas erklärt werden soll, mit einer gewissen Notwendigkeit auf das ›Säkularisierung‹ genannte Denkmuster. Die Desakralisierung (Profanierung) eines heiligen Erbes schaffe eine nur abgeleitete, heillose Kultur, Ersatzreligion, Auflösung und Dekadenz.59 Sogar die große Literatur der Dritten Kraft ist nur ein Derivat aus sakraler Substanz, geschaffen von Autoren »ohne Weihe«.60 So entstehen, nach Heer, die Literaturgattungen »aus großen sakralen Formen«: der Roman »tritt an die Stelle« der Sitten- und Bußpredigt der Bettelmönche, »die Prophetie wird zur Utopie«, »die Weissagung wird zum literarischen Dialog«. Diese extrem sakralisierende Literaturgeschichte

58 Fr. Niewöhner, »Anmerkungen zum Begriff eines ›jüdischen Humanismus‹«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 34, 1991, S. 214-224, zieht sozusagen die Konsequenz aus Heers Ansatz: einen jüdischen Humanismus kann es nicht geben, Niewöhner schreibt: »Das Judentum als Religion betrachtet ist seinem Wesen nach antihuman, antihumanistisch und unhumanitär. Während das Christentum anthropozentrisch ist, muß das Judentum als theozentrisch bezeichnet werden: im Christentum opfert [sic] ein Gott seinen Sohn in Menschengestalt für die gesamte Menschheit« etc.; »darum« gebe es keinen Humanismus in der jüdischen Religion. Das Zitat zeigt, wie gefährlich die Vermengung von Humanismus und Religion werden kann. Vgl. aber Chr. Schulte, »Noachidische Gebote und Naturrecht. Ein Beispiel für die Verteidigung des Universalismus aus den Quellen des Judentums«, in: R. Faber/E. Rudolph (Hg.), Humanismus in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2003, S. 141-166. 59 Heer, EG, S. 607ff.; DK, S. 21; EMR, S. 875: »Am Abgrund der Ersatzreligion« (H. Ullmann, Der Weg des neunzehnten Jahrhunderts. Am Abgrund der Ersatzreligionen, München 1949). 60 DK, S. 21.

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übersieht die Selbstzeugnisse der Autoren. Thomas Morus, um nur weniges zu nennen, bezieht sich auf Aristophanes, Plato, Lukian; Bodins Heptaplomeres inszeniert sich nach den gelehrten Gastmählern der Antike; Dialog und Prosafiktion haben eine ehrwürdige Genealogie ganz außerhalb der »großen sakralen Formen«. Auch den Stammbaum des Literaten, Autors, Fachmanns denkt Heer sich als fortschreitenden Verlust an sakraler Würde. Der Weg gehe vom spiritualistischen Reformer zum humanistischen Gelehrten, zum Aufklärer in der Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts: jede Stufe sei eine »Verwandlungsform der ecclesia spiritualis«. Am Ende stehe, »in dekadenter Form«, der Fachmann.61 Dieses ecclesiogene, sakralisierende Konstrukt läßt sich in der neueren Geschichte von Literatur und Bildung, Forschung und Verwaltung nicht aufweisen. 2. Das Denkmuster ›Säkularisation‹ ist ein wichtiges Moment für Heers Geistesgeschichte und für seine (theologische) Konstruktion des Humanismus. Der Protestantismus, schreibt Heer, habe sich in den »Großteil der zivilisatorischen und wissenschaftlichen Leistungen des 19. Jhs.« hinein ausgegossen, in großherziger und verschwenderischer Weise.62 Dies sei hier, so wenig »wie an allen Säkularisationen des Christentums zu beklagen«. Der Prozeß kultureller Interaktion, den Heer allerdings nur in einer Richtung untersucht, wird hier also nicht mehr als solcher »verteufelt«, wie bei dem frühen Heer geschehen.63 Das Denkmuster ›Säkularisation‹ wird aber auch nicht als apologetisch-polemische Strategie durchschaut, sondern weiterhin benutzt, das Ergebnis, die sogenannten Säkularisate, immerhin positiv bewertet. Allerdings hat diese großherzige Verschwendung dem Protestantismus geschadet: er habe sich »von der Quelle« gelöst. Da ist es dann wieder, das alte Schema: Kultureller Gewinn ist Verlust von sakraler Substanz.64 Kultur jedoch hat mehr und andere Wurzeln als Religion.

61 DK, S. 21. 62 EG, S. 545. 63 Gaisb., S. 462. 64 Vgl. Heer, EG, S. 651: »Dekadenz«, die im Nationalsozialismus enden mußte: von Schleiermacher über den angeblich auf diesem fußenden Bildungshumanismus zu Hitler; S. 607: die »Ersatzkirchen der ›Gebildeten‹« – Oper, Konzertsaal, Theater; DK, S. 684: »über 300 Jahre kalter [sic] Krieg der Konfessionen und ihrer säkularisierten Erben, der religiös-

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3. Den »Säkularisationen des Christentums« schreibt Heer viele und verschiedenartige Errungenschaften der europäischen Geistesgeschichte zu. Demnach sind aus dem »Schoße« der gregorianischen Reform65 hervorgegangen die Nationalstaaten und der Reformadel, die stadtbürgerliche Humanität und Scholastik, der philosophische Rationalismus und Materialismus unserer Tage, die Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie Europas.66 Man wird, ohne die Bedeutung der Reformen Gregors zu schmälern, sagen dürfen, daß diese Genealogie unmöglich ist. In »Experiment Europa« gibt Heer eine Aufstellung der »fünf großen ›Säkularisationen‹ des Hochmittelalters«:67 der Verfall des Mönchtums; der Aufbau eines rein »weltlichen« Beamtenstaates am Hofe des Papstes; das Versagen der Kleruskirche; das Auftreten gelehrter Laien auf dem Baseler Konzil; das Entstehen der europäischen Staatskirchen; die Glaubenskriege vom 11. bis 17. Jahrhundert. Die Heterogenität der Aufzählung und die qualitative Differenz zu den Ergebnissen der gregorianischen ›Säkularisierung‹ lehrt, daß ihr heuristischer Begriff »Säkularisation« keine historisch prüfbaren Erkenntnisse bringt.68 §3.3 Manichäismus als Sündenbock 1. Der westeuropäische Humanismus und die allgemeine Antikerezeption transportieren auch dingliche und literarische Fragmente der hellenischen und römischen Religion, der Mythen von Göttern und Heroen, auch von Theologien, seiʼs der geoffenbarten (Chaldäische Orakel,

politischen Weltanschauungsparteien«. – Heer, »Die Chancen des Christentums in einer säkularisierten Welt«, in: nouvelle revue luxembourgeoise 3 (1967), S. 217-222 (nicht eingesehen). 65 Papst Gregor VII, 1073-1085; 1075: Dictatus Papae. 66 EG, S. 80. – Bemerkenswert scheint mir, daß Heer die von Kardinal Humbert eingeleitete Trennung der griechischen von der römischen Kirche (1054) für richtig und notwendig hält, weil die Theologie Ostroms »dem Islam innerlich nahe« gestanden habe. 67 Referiert nach Gaisb. 1952/1. 68 Vgl. H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (1965), Freiburg 21975; W. Jaeschke, »Säkularisierung«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von H. Cancik/B. Gladigow/ K.-H. Kohl, Bd. V, Stuttgart 2001, S. 9-20.

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Hermes, Hesiod, Orpheus, Sibyllen), seiʼs der philosophischen Theologien aller Schulen. Eine christliche Begründung von Humanismus gerät hier in besondere Schwierigkeiten. Der Manichäismus mag als ein – allerdings extremes – Beispiel für Heers Erfassung von nichtchristlichen Religionen dienen.69 ›Manichäismus‹ meint bei Heer einmal die von Mani (216-276 oder 277) gestiftete Religion oder, im übertragenen Sinne, dualistische, weltfeindliche, Leib und Leben verneinende Motive, auch wenn diese im geschichtlichen Manichäismus nicht nachgewiesen sind. So sollen etwa bei Luther »manichäische und pelagianische Elemente vereint« sein;70 der Jansenismus mit seiner harten Gnadenwahllehre sei ein »katholischer Calvinismus und Manichäismus«.71 So wird ›Manichäismus‹ zu einer Chiffre für Anti-Humanismus und die Leugnung des großen »Und« sowie zum Sündenbock, auf den man Fehlentwicklungen der Christianer abladen kann. 2. Zwei Religionen aus dem persischen Raum konnten sich im römischen Imperium einrichten: die staatskonforme Mithrasreligion (seit dem 1./2. Jh. n.Chr.) und die Kirche des Mani, eine antike Stifter-, Offenbarungs-, Universalreligion neben Juden, Christianern, Islam. Verfolgt von Zarathustriern im Iran, von Römern und Christianern, dient die Chiffre ›Manichäismus‹ seit der Antike als Ketzerwort.72 Heer gebraucht es, um die »große Angst in Europa« zu etikettieren; der »uralte

69 Eine weitergehende Darstellung der fremden Religionen bei Heer kann aus Platzgründen hier nicht erfolgen. Außer den hellenischen und römischen Religionen sind Judentum, Gnosis, Islam, germanische, slawische u.a. Religionen, von Heer meist ›Heiden‹ genannt, und deren Revitalisierungen (›Paganismus‹ im genaueren Sinne) zu berücksichtigen. 70 Heer, Quellgrund, S. 182. 71 Heer, EG, S. 394. – In EMR, S. 28, erinnert Heer an Abbé Augustin Barruel, der Jakobiner, Illuminaten, Enzyklopädisten als Manichäer bezeichnet. Schon der Name verurteilt sie, so die alte Praxis der Haeresiomachen und Inquisitoren. 72 Priscillian wurde u.a. des Manichäismus verdächtigt und 385 in Trier hingerichtet. Paulikianer, Bogumilen, Albigenser wurden als angebliche »Neu-Manichäer« verfolgt. F.C. Baur eröffnete die moderne religionswissenschaftliche Erforschung mit seinem Werk: Das manichäische Religionssystem (1831), Ndr. Göttingen 1928.

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Manichäismus« sei von den Männern der »Dritten Kraft« bekämpft worden. In lutherischer, calvinistischer, jansenistischer Einkleidung »zersetzt er als Krebsgeschwulst die europäischen Christentümer«.73 Die Erbsünde Augustins, die Hexenprozesse, die Inquisition, den Antisemitismus führt Heer auf diese Quelle zurück: das ist eine bequeme Entlastung der Christentümer, mittels eines Sündenbocks, der sich nicht wehren kann, in einer Sprache von unguter Provenienz:74 »Dieser Antisemitismus gehört zu den Metastasen, den krebswuchernden Mißbildungen im Schoße der Christenheit. Sie alle kommen vom Manichäismus her [...]«. Mit Hilfe dieses völlig ungeschichtlichen Feindbildes wird die europäische Geistesgeschichte gesäubert und vereinfacht. Die Leistungen der »Dritten Kraft« und ihres offenen Humanismus werden diskreditiert, wenn sie dergestalt auf die Gegnerschaft zu einem angeblichen universalen Manichäismus fixiert werden.

§4 Ö FFNUNG 1. Die letzte Phase von Heers Arbeiten am Humanismus (1960-72), die hier kurz referiert werden soll, beginnt noch während seiner Arbeit an der »Dritten Kraft«. Heer durchbricht die »Reduzierung und Zentrierung der Geistesgeschichte auf das Christentum«.75 In Gerhard Szczesny76 und Ernst Bloch77 lernt Heer jetzt unmittelbar, jenseits der

73 DK, S. 14. Siehe auch Heer, »Ist der Teufel los? (Der Manichäismus ist die Krebskrankheit der weißen Zivilisation)«, in: Die Furche 35, 31.1.1983 (Gaisb. 1983/15). 74 Heer, GEL (1967), S. 72f. – Heers Manichäismuslegende steht im Zusammenhang mit geschichtsphilosophischen Erwägungen über die Rezeption der antiken Gnosis und ihr Verhältnis zur »Legitimität der Neuzeit«. 75 E. Adunka, Friedrich Heer. Eine intellektuelle Biographie, S. 451. Vgl. die hilfreiche Skizze des »wachsenden Werkes«, seiner Entwicklung, Korrekturen, Widersprüche bei Gaisb., S. 462f. 76 G. Szczesny, Die Zukunft des Unglaubens, 1958; F. Heer/G. Szczesny, Glaube und Unglaube. Ein Briefwechsel, München 1959; G. Szczesny, Die Zukunft des Unglaubens. Mit einem erweiterten Briefwechsel F. Heer – G. Szczesny, München 1965. Vgl. Gaisb. 1959/3; 1959/85; 1960/1; 1960/123. Im Wintersemester 1965/66 liest Heer »Geschichte des Atheismus«.

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christlichen Kirchen-, Dogmen-, Frömmigkeitsgeschichte Repräsentanten der anderen Traditionen der europäischen Geistesgeschichte kennen, die er intellektuell und menschlich respektiert. Die Begegnung verändert Heers Beurteilung von Skeptizismus, Agnostizismus, Materialismus, des atheistischen Humanismus, des Pathos und Ethos in neuzeitlicher Wissenschaft und ihres humanitären Engagements. Nicht verändert sich, abgesehen von einer Verschärfung seiner Christentumskritik,78 der Standort Friedrich Heers. Er steht ihnen gegenüber, gesprächsfähig, offen, lernbereit: der Theist den Atheisten, der Nichtmarxist dem Marxismus, der Gläubige dem Skeptiker. Er bleibt christlich, ja katholisch, er sucht Gemeinsamkeiten und findet genug, aber er tritt nie auf die andere Seite, die Seite eines Humanismus ohne Gott, ohne Religion, ohne Christentum. Gegenüber Szczesny erscheint Bloch ihm als »religiöser Denker«, »homo religiosus«, »gläubiger Mensch«, ja als »Prophet aus ältestem Geblüt, aus dem Samen des alttestamentarischen [sic] Prophetismus«.79 Der politische und philosophische Streit um Blochs Philosophie verführt zu reicher haeresiologischer Metaphorik: Die Partei ist die »rote Kirche«, Bloch der »rote Ketzer«, seine Feinde und Kritiker »Ketzerrichter«, Engels »Kirchenvater«, Streitgegenstand das »orthodox marxistische Denken«.80 Damit wird Bloch, der Philosoph, Schreiber, Lehrer, der Repräsentant eines dialektisch-utopischen Humanismus, sakralisiert, die anthropologische Wende seiner Religionskritik neutralisiert, die Radikalität seines humanistischen Impulses gebrochen. In paradoxer Weise entsteht dadurch genau »Ernst Blochs Religion des Marxismus«, gegen

77 Heer, »Ein Denker des Menschen«, in: Magnum 6.32 (1960), S. 52-54 (Gaisb. 1960/14); ders., »Ernst Bloch – Der rote Ketzer«, in: Die Furche 40, 7.10.1981, S. 4 (Gaisb. 1961/10); ders., »Vision in Rot und Gold: Ernst Bloch«, in: Hochland 1 (1960/61), S. 35-52 (Gaisb. 1960/59), aufgenommen in Heer, OH, 1962, S. 116-160. 78 Heer, Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des oesterreichischen Katholiken Adolf Hitler, München 1967; ders., Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München 1968; ders., 1967; Abschied von Höllen und Himmeln. Vom Ende des religiösen Tertiär, Frankfurt/Main 1970. 79 Heer, OH, S. 129, 137, 116. 80 OH, S. 120, 116, 127, 128.

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die, mit den entgegengesetzten Voraussetzungen und Zielen, die Parteileitung der Universität Leipzig (DDR) angetreten war (1957).81 2. Eine weitere Öffnung, weit über den Rahmen hinaus, der in der Europäischen Geistesgeschichte (1953) abgesteckt wurde, unternimmt Heer in einem weiteren, großen Europa-Buch: »Europa. Mutter der Revolutionen«.82 Sein »Sprung« in die moderne Naturwissenschaft trifft auf einen völlig anderen Begriff von Humanismus, als Heer ihn bis dahin untersucht und benutzt hatte.83 Der naturwissenschaftliche, biologische, medizinische Begriff ist weit von Antike und Antikerezeption entfernt; er steht in Spannung zur traditionellen Philosophie, oft in Gegnerschaft zu Mythen, Magie und Anti-Aufklärung der christlichen Kirchen. Dieser anthropologische Begriff von Humanismus ist um 1800 entstanden, also um dieselbe Zeit wie der klassische deutsche Humanismusbegriff.84 »The Humanist Frame« von Julian Huxley (1961) zeigt den Stand dieser Denkrichtung zur Zeit von Heers »Sprung« zu den geistes- und religionsgeschichtlichen Grundsätzen der modernen Chemiker, Biologen, Physiker.85 Rudolf Virchow (18211902) definiert die »gesamte Wissenschaft vom Menschen« als »Humanismus« oder »Anthropologie«.86 Heer stimmt zu und erneuert seine Kritik des alten Humanismus:87 »Der Humanist tritt – seit dem hohen 19. Jahrhundert bis heute – viel öfter und reicher als Naturwissenschaftler in Erscheinung, denn als ›Geisteswissenschaftler‹, Philologe, Theologe, Historiker«. Heer rühmt den Willen zur Wahrheit, das Ar-

81 OH, S. 137: »[...] der Atheist auch Theist von morgen, der ungläubige Jude (sc. Bloch) ist gleichzeitig Mosaist [sic], der Gegenchrist ist auch ›Christ‹ [...]«. Heer vermeidet den festgelegten Ausdruck ›Antichrist‹. 82 Heer, Europa. Mutter der Revolutionen, Stuttgart 1964, 21967 (EMR). 83 EMR, S. 832ff. 84 Vgl. schon J.G. Herder, Wie die Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann, 1765: Forderung nach einer »Kopernikanischen Wende« in der Philosophie, und zwar als Reduktion der Philosophie auf »Anthropologie«. 85 Julian Huxley (Hg.), The Humanist Frame, London 1961; deutsch unter dem Titel Der evolutionäre Humanismus, München 1964; ders., Religion without Revelation, London 1957. 86 EMR, S. 842. 87 EMR, S. 847f. im Zusammenhang mit Hermann von Helmholtz (1821-94).

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beitsethos, das politische und soziale Engagement dieses Typus »humanistischer Naturforscher« (Virchow, Helmholtz, Justus von Liebig, Heinrich Hertz, Robert Bunsen, Wilhelm Ostwald). 3. Im Jahre 1972 unternimmt Friedrich Heer einen weiteren, soweit ich sehe, seinen letzten Versuch, die Programme (Tendenzen, Impulse) und deren Träger zu bestimmen, die mit den Worten ›Humanismus‹/›Humanisten‹ bezeichnet werden. Es ist charakteristisch, daß Heer nach dem Verhältnis zu Religion, Kirche, Atheismus, Mystik fragt, um daraus seine Bestimmung für ›Humanismus‹ in der Moderne zu gewinnen: »Humanismus als dritte Konfession?«88 Die Terminologie wird prekär:89 »Wenn hier im Ernst die ominöse Frage nach einem Humanismus als dritte Konfession behandelt werden soll, ist also dies zuerst zu erinnern: die humanistischen Bewegungen der letzten Jahrhunderte und noch der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sind mitgeschaffen und mitgetragen worden durch Menschen, die jener Dritten Konfession des Christentums angehörten, die von den beiden Großkirchen nicht als eine christliche Konfession anerkannt wurde. Menschen, die sehr oft sich selbst nicht in das System einer Konfession eingebunden verstanden. Es ist unmöglich, die Menschen dieser Dritten Kraft, die nicht identisch ist mit jener Dritten Kraft katholischer und evangelischer Humanisten, die ich in meinem Buch ›Die Dritte Kraft – der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters‹ (Frankfurt 1959) behandelt habe, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, sie über einen Leisten zu schlagen, über einen Kamm zu scheren.«

Entscheidend für diese letzte Phase von Heers Arbeit am Humanismus ist seine Öffnung, deutlicher und hoffnungsvoller als je zuvor, für das, was er den »nichtchristlichen politischen Humanismus« nennt. Er hatte ihn bereits in seinem Europa-Buch (1964) beschrieben, in den Biographien der Naturforscher, Künstler, Techniker. Hier fänden sich die »wirklichen Humanisten«, nicht in den »papierenen Schulhumanismen

88 Heer, Abendrot und Morgenröte, 1972, S. 73-88 (HDK). Wer dieses Schlagwort »Humanismus – dritte Konfession« geprägt hat und wozu, ist bei Heer nicht angegeben. 89 HDK, S. 75f.

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[...], in den Festreden von Gymnasiallehrern«, nicht im Humanismus der Karolinger, der italienischen Renaissance, der Goethe-HumboldtZeit.90 Die Vermutung, Humanismus sei eine »dritte Konfession« neben Protestantismus und römischem Katholizismus, wird von Heer zwiefach abgewiesen. Die christlich-humanistischen Gruppen der Reformationszeit, also die »Dritte Kraft« und ihre Erben, bildeten keine Konfession. Auch die »neuen Humanisten«, »die wirklichen«, »die jungen«, »die kämpferischen«, die das experimentum humanitatis in Wissenschaft, Technik, Kunst wagen, bilden, erfreulicher Weise, keine Konfession.91 Wie allerdings dieser »neue Humanismus« begrifflich, theoretisch, historisch mit all den Phänomenen vom neunten bis zum zwanzigsten Jahrhundert zusammenhängt, die bei Heer auch jetzt noch ›Humanismus‹ heißen, wird nicht diskutiert. Der Einsatz über den Begriff ›Konfession‹ blockiert das Argument. Aber Friedrich Heer erweist sich auch jetzt als Zeitzeuge der Religions- und Geistesgeschichte der alten Bundesrepublik. Sein Symbol für den »jungen Humanismus unserer Tage« ist weiblich und paradoxerweise hellenisch: »die junge, neue Pallas Athene«.92

90 HDK, S. 73 und 84. 91 HDK, S. 84f. 92 HDK, S. 88.

Der Ismus mit menschlichem Antlitz ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ von Niethammer bis Marx und heute

§1 »AUSGEHEND

VON DEN HUMANISTISCHEN T RADITIONEN

...«

Vor etwa einem Jahr mußte für die schlichte Wort- und Begriffsgeschichte, die ich in der Ringvorlesung ›Antike heute‹ über ›Humanität und Humanismus‹ vortragen wollte, ein draller Obertitel gefunden werden. Der Jahreswechsel 1989/90 war, wie Sie sich erinnern werden, gefüllt mit Sprachspielen, die dem Wort ›Sozialismus‹ einen neuen Sinn zu geben versuchten. Am leichtesten war auch damals Sinnanreicherung durch Kreuzung mit einer anderen Schablone, hier also ›Sozialismus‹ mit ›Humanismus‹, so der damalige Hoffnungsträger, der Vorsitzende des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin (Ost) und in der DDR am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz.1 Diese 1

Gregor Gysi, in: Annegret Hahn, u. a. (Hg.), Protestdemonstration Berlin DDR, 4.11.89, Henschel-Verlag 1989, S. 127: »Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen, Perestroika und Glasnost. Und nur wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Vielen Dank.« Vgl. André Brie (Stellvertretender Vorsitzender der PDS), in: FR 20.9.1990, über die »humanistischen Wurzeln und Inhalte« sozialistischer Politik. – Walter Janka vertritt einen »menschlichen Sozialismus« (Inter-

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Kreuzung von Ismen hat wenig neuen Sinn, aber doch wenigstens den gesuchten Obertitel erzeugt. Seine verstümmelte Form – ›Der Ismus mit menschlichem Antlitz‹ – soll auch anzeigen, daß meine Wort- und Begriffsgeschichte zu einem mangelhaften, lückenreichen, aporetischen, ja rätselhaften Schluß führen wird. Der Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi war nicht der erste oder einzige, der damals das entstellte Wort ›Sozialismus‹ mit Hilfe eines anderen, zumindest unklaren und angestaubten, wenn nicht entleerten und verbrauchten Begriffes ›Humanismus‹ zu retten versuchte. Die neu gegründete KPD/DDR verpflichtete sich in ihrer Gründungsurkunde auf »Humanismus«.2 Andere, etwa Alexander Dubcek und Vaclav Havel, forderten den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Diese Formel entlarvt die gesichtslosen, unsichtbaren, abstrakten, high-bürokratischen Herrschaftssysteme. Sie nutzt das hohe Wort ›Menschenantlitz‹ als Auslöser für den Instinkt zum Menschen, zum Nächsten, zur medienfreien, unmittelbaren, wortlosen, optischen Kommunikation: »schauen von Angesicht zu Angesicht und erkennen«.3 Die Präambel der Verfassung, welche die Arbeitsgruppe des Runden Tisches für eine »Neue Verfassung der DDR« beschlossen hat, beginnt mit dem Worten:4 »Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben [...], geben sich die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung«.

Der schwer belastete ›Sozialismus‹ ist nicht genannt, aber ›Humanismus‹ war – einstimmig – konsensfähig. Wer oder was ist damit gemeint? Der Schuhflickersohn aus Stendal, Winckelmann genannt, oder der fürstliche Park bei Dessau, wo um 1750 Antike und befreite Natur,

view im Schweizer Fernsehen, 12.4.90). In der evangelischen Kirche der DDR war die Formel »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« seit dem Staat-Kirche-Gespräch im März 1988 üblich geworden. 2

ADN, in: Südwest Presse, 2.2.1990.

3

Paulus, 1.Kor. 13,12.

4

Offizielle Publikation: Neues Deutschland, 18.4.1990; hier zitiert nach FR, 18.4.1990, S. 10; vgl. DDR-Chronik, April 1990.

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Klassizismus und Philanthropie in »humanistischer Tradition« verbunden sein sollten?5 Oder ist auch jene Spekulation über die Entfremdung und Versöhnung von Mensch, Gesellschaft und Natur gemeint, die Dr. Karl Marx – allerdings nur bis etwa 1845 – mit dem Namen »Realer Humanismus« bezeichnete? »Ausgehend von den humanistischen Traditionen« – von woher also? Das Wort ›Humanismus‹ ist beliebt und schafft Konsens, weil es eine undeutliche Beziehung auf eine starke und ferne Tradition besitzt. Der leichte antike Faltenwurf verdeckt dabei einen etwa vorhandenen Sachgehalt mehr, als daß er ihn zeigte. Denn die vielen Partei- und Schulprogramme, Festreden und Abendlandrettungskongresse haben einen ewigen Humanismus hervorgebracht – humanismum perennem, so edel, hilfreich und gut, so unantastbar und unwiderleglich: Er wird die Menschheit überleben.6 Gegen diese Erblast ist Polemik nicht mehr nötig. Um die vermutete Sache zu finden, scheint die Konzentration auf Wort- und Begriffsgeschichte nützlich, die Suche nach dem historischen und dogmatischen Ursprung. Wir beginnen bei einer pädagogischen Bewegung im bürgerlichen Deutschland um 1800, als ein Schwabe und Tübinger Stiftler gar, Friedrich Immanuel Niethammer aus Heilbronn, das Wort ›Humanismus‹ erfand, als erster, wie die Wörterbücher behaupten.

§2 H UMANISMUS 1808 §2.1 Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) §2.1.1 Friedrich Immanuel Niethammer wurde 1766 in Heilbronn geboren.7 Er stammt aus alter schwäbischer Familie mit langer Pastorentradition. Im Tübinger Stift lernt er 1784-1789 Theologie; er will jedoch nicht Pfarrer werden, so wenig wie seine Kommilitonen Hölder-

5

E. Hirsch/Th. Höhle (Hg.), Dessau – Wörlitz, Beiträge I-II, Halle 1988, bes. I , S. 45ff. (Literatur); vgl. E. Hirsch, Experiment Fortschritt und praktizierte Aufklärung, Dessau 1990.

6

Frei formuliert nach Stanislaw Jerzy Lec (gest. 1966), Unfrisierte Gedanken (1959), München 111968.

7

Alle folgenden Angaben aus Michael Schwarzmaier, 1937.

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lin, Hegel, Schelling. In Jena findet er »das Reich der wahren Geistesfreiheit« (seit 1790); hier trifft er Hölderlin, Hegel und Schelling wieder und einen anderen Schwaben, Friedrich Schiller, der seit 1789 in Jena lehrt. Niethammer wird Privatdozent und Professor für Philosophie, bzw. Theologie. Eine Freundschaft verbindet ihn mit Fichte; Friedrich August Wolf, Wilhelm v. Humboldt, Voß, die beiden Schlegel u. v. a. gehören zu diesem »Jenaer Kreis«, in dem Niethammers Vorstellungen von idealistischer Philosophie, klassizistischer Kunst und humanistischer Pädagogik wurzeln. 1804 erhält er einen Ruf nach Würzburg; im Jahre 1808, dem Jahr, in dem seine Programmschrift über Philanthropinismus und Humanismus erscheint, ist Niethammer Studienrat bei dem geheimen Ministerium des Inneren in München. Dort hat er eine pädagogische Richtung angebahnt, die zu einem Sieg des Humanismus im bayerischen Schulwesen führte. Doch Niethammer war keineswegs ein bornierter Gymnasiallobbyist. Er hat vielmehr, als überzeugter Humanist, »als erster eine philosophische Begründung des Bildungswertes der Realien versucht und im ›Realinstitut‹ einen wirklichen Vorläufer der heutigen (1937!) Oberrealschule geschaffen – 100 Jahre vor ihrer staatlichen Anerkennung«.8

Münchner Schulpolitik, der Jenaer Kreis, das Tübinger Stift: Dies ist der Ursprung des Humanismus, wie Niethammer ihn konstituiert hat. §2.1.2 Zu Beginn seiner Tätigkeit als Schulpolitiker in Bayern veröffentlicht Niethammer eine Programmschrift: »Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit« (Jena 1808). Hier werden, in Fortsetzung älterer Ansätze zu einer Geschichte der Pädagogik,9 zwei »Parteien« unter-

8

Schwarzmaier, S. 1; ebd. ein Schriftenverzeichnis; hervorgehoben seien: »Das Gastmahl von Plato oder das Gespräch über die Liebe«, ein zentraler Text des Humanismus (in: F. Schiller (Hg.), Neue Thalia, 1792), und die Monographie Über Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer Urkunden (1795), in der er den Begriff »Religionswissenschaft« benutzt (S. 109), eine Skizze ihrer Aufgaben gibt und auf ihren Nutzen für den Religionsunterricht hinweist.

9

August Hermann Niemeyer, Ansichten der deutschen Pädagogik und ihrer Geschichte im 18. Jahrhundert, II. Abt.: 18. Jh. und einer Weiterführung

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schieden, die sich über den Gymnasialunterricht entzweit hätten; die Namen Humanismus und Philanthropinismus sollten aber darüber hinaus einen allgemeinen Gegensatz der alten und der modernen Pädagogik selbst bezeichnen:10 »Die Benennung des Humanismus paßt keineswegs bloß auf die Partei, welche das Studium der sogenannten Humanioren in den Gelehrten-Schulen gegen übel berechnete Beeinträchtigungen in Schutz nimmt; sie paßt vielmehr in einem noch weit eminenteren Sinne auf die ganze ältere Pädagogik überhaupt, deren Grundcharakter es immer war, mehr für die Humanität als für die Animalität des Zöglings zu sorgen, und die ihre Forderungen gegen die moderne überwiegende Bildung zur Animalität noch immer, obgleich nur als minderzählige Opposition, fortsetzt. Das moderne Erziehungssystem dagegen, welchem vermöge desselben Eintheilungsgrundes die Benennung des Animalismus zukäme, wird schicklicher durch den Namen des Philanthropinismus bezeichnet«.

Der Zusammenhang legt nahe, daß Niethammer das Wort ›Humanismus‹ neu, als Gegenstück zu dem bereits eingeführten Begriff ›Philanthropinismus‹, gebildet hat.11 Letzterer bezeichnet die pädagogische Richtung der ›Menschenfreunde‹, die vor allem in Halle und Dessau für eine aufgeklärte Schulreform im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft gewirkt haben: Johann Bernhard Basedow (1724-1790), Jo-

ins 19. Jh., Halle 1801, S. 378f.: Die vier Haupt-Richtungen der Pädagogik (zitiert in: Niemeyer, hg. v. H.-H. Groothoff/U. Herrmann, S. 342f.). Niemeyer unterscheidet die Franckesche oder religiöse Schule, Schule der Humanisten (diese wünsche, »womöglich allen Ständen eine genaue Bekanntschaft mit dem Studium der alten Classiker zu verschaffen, wovon sie fast einzig die rechte Bildung des Kopfs und Herzens erwarteten«), Schule der Philanthropen, Eklektiker. Zu den Humanisten rechnet er: C. Cellarius, J.M. Gesner, J.A. Ernesti, C.G. Heyne, C.A. Klotz, C.G. Schütz, J.H. Voß, G.F. Creuzer. 10 Niethammer, Der Streit, S. 7f. 11 Niethammer erhebt aber, soweit ich sehe, nicht ausdrücklich einen Anspruch auf Erfindung.

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achim Heinrich Campe (1746-1818), Ernst Christian Trapp (17451818), Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811).12 In drei Abschnitten mit je vier Punkten werden für beide Parteien aufgelistet: die Grundsätze über den Zweck des Unterrichtes, die Unterrichtsgegenstände und die Methode. Es ist verständlich, daß zum Zwecke der Kürze und Deutlichkeit beide Positionen überzogen werden. Immerhin findet man so auf nur neun Seiten (S.76-84) das gesamte System des pädagogischen Humanismus, wie es sich 1808 in Münchner Perspektive ausnahm. Niethammer notiert folgende Grundsätze:13 »1. Zweck der Erziehung ist die allgemeine Bildung des Menschen; dieser Zweck ist autonom. 2. Die Bildung der Jugend ist nicht Abrichtung zu einem bestimmten Geschäft, zu ›gemeiner Brodkenntnis‹, sondern Bildung des Geistes ›für die höhere Welt‹, zur ›Humanität‹. 3. Diese Bildung vermittelt nicht vielerlei Wissen, sondern beschränkt sich auf die Ideen des Wahren, Guten und Schönen in ihrer ›classischen Form‹. 4. Die Auswahl der Gegenstände »kann eben darum kein anderes Gebiet als das des Alterthums finden, indem unläugbar wahre Classicität in allen Arten der Darstellung des Wahren, Guten und Schönen in ihrer größten Vollendung nur bei den classischen Nationen der Alterthums angetroffen wird«.

»Humanismus« also ist nach Niethammer: Bildung zur Humanität durch die Aneignung der Ideen des Wahren, Guten und Schönen in der classischen Form, wie sie bei Griechen und Römern – und nur dort – anzutreffen ist. Alle spezielle Berufsausbildung, in der die Philanthropen die Mitte der Erziehung sehen, ist demgegenüber sekundär; sie darf die allgemeine Bildung der Jugend nicht belasten; zeitlich ist sie nach der Allgemeinbildung anzusetzen. §2.1.3 Alle Ausdrücke, die Niethammer zur Definition von Humanismus gebrauchte – Humanität, Classicität, Bildung, Ideen des Guten, Wahren und Schönen etc. – müßten und könnten aus Niethammers

12 Herrmann, »Die Pädagogik der Philanthropen«, in: Scheuerl, 1979, S. 135ff. 13 Nach Niethammer, S. 76ff. (Auswahl). Als Unterrichtsmethode wird bei den Humanisten die Übung des Gedächtnisses hervorgehoben.

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Schriften und aus denen seiner Freunde in Tübingen, Jena, Weimar, München erläutert werden: ›Humanismus‹ ist ein pädagogischer Begriff, der in Spätaufklärung, deutscher ›Klassik‹, Idealismus und Altertumswissenschaft zu begründen ist. Niethammers Text bezeichnet dreierlei: das Ende der kreativen, namenlosen Epoche des ›Humanismus‹; den Beginn seiner Verschulung im humanistischen Gymnasium und seiner Verwissenschaftlichung in dem großartigen Entwurf von F. A. Wolf »Altertumswissenschaft« (1807). Eine Kritik an Niethammers Begriffsbildung braucht hier nicht durchgeführt zu werden. Schon in seinem Ursprung ist Humanismus ein apologetisch-polemischer Begriff, antimodern und retrospektiv, defensiv und elitär, zumal da die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für eine humanistische Bildung verschwiegen werden; dogmatisch und exklusiv: nur das Klassische zählt, und das gibt es nur bei »den classischen Nationen«. Entscheidend scheint mir das Postulat, humanistische Bildung mit dem Bildungsziel ›Humanität‹ sei autonom und autark: nicht bloße Vorbereitung auf einen Beruf oder nur ein Teil eines umfassenderen staatlichen, nationalen oder religiösen Sinnsystems. Sozialgeschichtlich ist dieses Postulat ermöglicht durch die Emanzipation der Bildung im 18. Jh.: Lehrer wird staatlich anerkannter Beruf, ein Lehrer muß jetzt nicht mehr Kleriker sein. §2.2 Zur Systematik von Niethammers Begriffsbildung Niethammers ›Humanismus‹ ist keine Philosophie, keine Religion, keine wissenschaftliche Methode, sondern ein pädagogisches Programm, Neuformierung einer Tradition, vielleicht eine Weltanschauung. ›Humanismus‹ ist meistens – immer? – Teilsystem der mentalen und emotionalen Ausstattung eines Menschen oder einer Gruppe. Ursprung der Tradition ist das Altertum: es ist ›classisch‹, insofern normativ; seine Sonderstellung in der Kultur der Menschheit wird geschichtsphilosophisch begründet. Die Mitte des ›Humanismus‹ als Weltanschauung ist ›Humanität‹.

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Diese wird zur Zeit Niethammers, in losem Anschluß an ciceronische Formulierungen,14 aufgefaßt als ein universaler, kulturübergreifender Begriff. Er bezeichnet, unter Absehung von Geschlecht, Alter, Klasse, Stand, Rasse, Konfession, (a) die ›Gattung‹ Mensch, alle Menschen, das genus humanum und die societas humana, und (b) die (Mit-)Menschlichkeit, die emotionale und tätige Zuwendung zu Menschen, die in Not sind. Diese erhalten ›humanitäre‹ – im Gegensatz etwa zu militärischer – Hilfe. Dies ist der Aspekt ›miseri-cordia‹ – ›Barmherzigkeit‹ des Wortes humanitas schon in der Antike. Niethammers Bestimmung der humanistischen Pädagogik läßt sich also folgendermaßen fassen: ›Humanismus‹ bezeichnet Weltanschauungen, die (a) ihrem Selbstverständnis nach ›den Menschen in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen‹ (›humanozentrisch‹) und (b) dabei mehr oder weniger stark an verschiedene Epochen der Antike (klassisch oder archaisch) oder an historische Exempel (das demokratische Athen; das militaristische Sparta; das Lebenswerk von Cicero, Seneca, Marc Aurel) anknüpfen. Hierbei wird Gelehrsamkeit vorausgesetzt und Bildung, meist überwiegend sprachlicher, aber oft auch gymnischer oder musischer Art, gefordert. Dies ist der Aspekt ›eruditio‹ – ›Erziehung‹ des römischen Ausdrucks ›humanitas‹. Dieser ›Humanismus‹ kann zu einem soziologischen Typus verallgemeinert werden (vgl. ›Salomonischer Humanismus‹ der altisraelitischen Schreiberintelligenz). Eine Erweiterung von Niethammers Bestimmung des Begriffs ›Humanismus‹ läßt sich dadurch gewinnen, daß seine »Ideen des Wahren, Guten und Schönen« ein wenig konkreter gefaßt werden. Aus den Schriften Niethammers und seiner Tübinger und Jenaer Freunde bis etwa 1808 ließe sich ein Katalog von Stichworten erarbeiten, wie z.B.: Mensch, Bildung, Natur, Vernunft – Sprache, Person – Gewissen; Freiheit – Gleichheit; Toleranz. Dieser Katalog ist nicht vollständig, nicht systematisch sortiert, nicht abgeschlossen. Aber er dürfte ein zutreffendes Bild geben, was sich Freunde und Gegner des ›Humanismus‹ zu Beginn des 19. Jh. unter den »Ideen des Wahren, Guten und Schönen« vorstellten, die das ›classische Alterthum‹, vor allem natür-

14 M. Tullius Cicero (106-43 v. Chr,), de officiis (verfaßt 44 v.Chr.), 1,4,1112 (der Mensch in der Natur); 1,30,106 (Würde des Menschen); 1.30,107 (persona); 3,6,26-28 (»allein aus dem Grunde, weil er Mensch ist«) u. a.

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lich die Griechen im 5. bis 4. Jh. v.Chr., dem Abendlande überliefert habe.

§3 G RENZEN

DES BÜRGERLICHEN

H UMANISMUS

§3.1 Die theologische Grenze gegen das Christentum §3.1.1 Niethammers Definition von Humanismus umschreibt ein relativ offenes System: Humanismus als pädagogisches Programm, als Tradition und Weltanschauung des deutschen Bildungsbürgertums um 1800. Die Grenzen, Eigenart, relative Konsistenz dieser Tradition sollen nun durch die Gegenüberstellung mit christlicher Dogmatik und dem System, das bei Karl Marx ›realer Humanismus‹ heißt, erprobt werden. In drei, vielleicht vier Punkten nur bestehen, soweit ich sehe, dogmatisch unüberbrückbare Spannungen zwischen dem spät- und nachantiken Christentum und denjenigen Richtungen der europäischen Geistesgeschichte, die später, wohl in Analogie zu Niethammers Bestimmung, ›Humanismus‹ genannt werden:15 (a) peccatum originale (hereditarium) – Urschuld, Erbsünde; (b) creatio ex nihilo – Schöpfung aus dem Nichts; (c) Gotteslehre: (a') Trinitätslehre: die Natur des Geistes (b') Christologie: Zweinaturenlehre (Jesus von Nazareth, der Messias, Gott und Mensch). Hinzu kommt mit Einschränkung: d)

Seelenlehre: Ewigkeit der Seele im Verhältnis zu ihrer Erschaffung und etwaige Folgen für einen Körper-Seele-Dualismus, Abtötungsaskese (Nekrosis) etc.

15 Voigt, der die Bezeichnung ›Humanismus‹ für die Renaissance durchgesetzt hat, bezieht sich nicht auf Niethammer; möglicherweise repräsentiert er eine andere Tradition und eine zweite Wurzel der neuzeitlichen Geschichte des Wortes ›Humanismus‹.

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Mit diesen drei (bzw. vier) abstrakten Fragen und ihren praktischen Konsequenzen haben sich Humanisten immer wieder auseinandergesetzt. Hier liegen ›Bruchstellen‹, an denen, wie die Geschichte lehrt – Tötung von Michael Servet durch Calvin (Genf, 1553), von Giordano Bruno durch die heilige Inquisition (Rom, 1600) –, Kompromisse schwer zu finden waren. §3.1.2 a) Peccatum originale (hereditarium); Die Lehre von der ›Erbsünde‹ oder der ›Ursprungsschuld‹ hat, zu Beginn des 5. Jh. Augustinus in der Polemik gegen Pelagius entwickelt. Demnach pflanzt sich die Sünde Adams durch den Akt der Zeugung in seinen Nachkommen fort. Infolge dieser Sünde ist der Verstand des Menschen so getrübt, sein Wille so geschwächt, daß er nicht aus eigener Kraft das Gute erkennen und vollbringen kann. Deshalb ist die Teilhabe an den Sakramenten der Kirche für das Heil seiner Seele notwendig. Die gegenteilige Lehre des Pelagius, die Natur des Menschen sei durch ihre Vernunft sittlicher Vervollkommnung fähig, wurde auf verschiedenen Synoden verurteilt.16 Dadurch wurde eine partikuläre, persönlich und geschichtlich bedingte Auffassung von Sexualität, Zeugung und Vererbung in der römisch-katholischen Kirche des Westens und – modifiziert – in der Reformation lehrmäßig verfestigt. Der Streit um diese Lehre, also um den Adam-Mythos und Augustins spätantikes Menschenbild, markiert in den Jahren 1525-1527 den Bruch zwischen Luther und Erasmus, zwischen dem Reformator und den Humanisten. Luther vertritt in de servo arbitrio die These: Wenn es einen freien Willen gibt, gibt es keine Gnade; entweder freier Wille, der von sich aus, in Übereinstimmung mit Natur und Vernunft, das Gute tun kann, oder Gnade; Luthers Entscheidung: servus arbitrium. Dagegen Erasmus in de libero arbitrio: Augustin habe im Eifer des Kampfes gegen Pelagius übertrieben; der freie Wille sei Voraussetzung für eine sittliche Entscheidung; die Menschen besäßen eine Nei-

16 Synode von Mileve (416), von Karthago (418), Konzil von Trient (1546); die augustinischen Texte: CSEL 42 und 60; zu den bibelexegetischen Fragen s. Herbert Haag, Die Bibel und der Ursprung des Menschen, Tübingen 1966; zu Augustin und Pelagius s. Peter Brown, Augustine of Hippo. A Biography, London 1967, ch. 29: »Pelagius and Pelagianism«.

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gung zum Guten; auch die Ungetauften könnten eine gewisse Vollkommenheit erlangen.17 §3.1.2 b) Creatio ex nihilo: Mythen von einer Erschaffung dieser Welt und des Menschen finden sich in mehreren altorientalischen und mediterranen Religionen. Der Vorgang wird meist handwerklich oder biologisch vorgestellt, so auch in der jüdischen Bibel: ex amórphou hyles.18 Die alten Symbola der Christianer bekennen Gott als omnipotentem creatorem caeli et terrae.19 Der Begriff ›Nichts‹ findet sich in diesen Texten nicht. Die Formel von der creatio ex nihilo wird, soweit ich sehe, zum ersten Male in der lateinischen Übersetzung eines der jüngsten biblischen Bücher gebraucht. Die Mutter der sieben makkabäischen Brüder erklärt ihrem jüngsten Sohn, angesichts des Martyriums, die Auferstehung des Fleisches:20 Der die ganze Welt aus dem, was nicht (so) vorhanden war (ouk ex ónton), geschaffen hat, der wird auch deinen Leib wiederherstellen können. Da der lateinische Übersetzer kein Partizip von ›sein‹ zur Verfügung hatte, übersetzte er, verschärfend, ouk ex ónton mit ex nihilo. Die Formel ist im 2. Jh. n.Chr. bekannt; auf dem 4. Laterankonzil (1215) ist sie dogmatisiert. Sie steigert die Allmacht des Schöpfergottes der Welt gegenüber. Die Natur wird entgöttert, entzaubert, zu vernunft- und gestaltloser Materie degradiert. Diese Materie ist nicht ungeworden und unvergänglich; auch ihr Sein ist nur verliehen und wird, in einer weiteren Verschärfung dieser Lehre, nur durch die andauernde Fortsetzung des Schöpfungswillens (creatio continua) im Sein gehalten: ohne diesen würde Alles zu Nichts sich auflösen.21 Die Gegenposition, die Welt (Materie) sei ohne Anfang und ohne Ende, wird von allen antiken Philosophen vertreten und von einigen christlichen Theologen (Origenes und seinen Anhängern), die sich nicht durchgesetzt haben. Auch dieser Streit führte, paradoxer Weise,

17 Vgl. Fr. Heer, Europäische Geistesgeschichte, S. 250ff.; ders., Offener Humanismus, S. 516f. 18 Weisheit 11,18; vgl. 1,14; Paulus, Röm 4,17; Hebr 11,3. 19 Symbolum Nicaenum, 325 n.Chr.; erweiterte Fassung: Constantinopolitanum, 381 n.Chr. 20 2 Macc. 7,28; der griechische Text sagt nicht: ex oudenós – »aus nichts«. Daselbst auch das Gleichnis ›Empfängnis – Geburt‹/›Auferstehung‹. 21 Thomas von Aquino, Summa theol. 1,65,3.

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zu einer Verstärkung der historisch-kritischen Philologie, da in der Bibel offenbar nichts über die Herkunft der für die Schöpfung benutzten Materie ausgesagt ist.22 §3.1.2 c) Trinität- und Zwei-Naturen-Lehre. Der doxographische Kern der jahrhundertelangen, intensiv und verlustreich geführten Diskussionen über Trinität und Christologie sind zwei Fragen: (1) Ist der Geist eine Kraft oder eine Person? (2) Ist der Messias, der in der Bibel den Juden verheißen ist, ein Gott? In religionsgeschichtlicher Sicht geht es in dieser Diskussion um die Gleichstellung des Erlösergottes der Christianer mit dem Schöpfer- und Bundesgott der Juden. Dabei ist, wiederum doxographisch gesprochen, die Person des Gottessohnes als Gott-Mensch in diesem ›transzendenten‹ System, das den ›Bruch‹ Gott – Welt eher verstärkt (vgl. creatio ex nihilo), besonders heikel zu definieren. Die Gegenposition zur ›orthodoxen‹ Trinitäts- und Zwei-Naturenlehre findet sich bei Judenchristen, die, ihrer heiligen Schrift folgend, die Göttlichkeit des Messias nicht anerkennen und das Prädikat ›Sohn Gottes‹ nicht biologisch auffassen; der Geist ist die Kraft, die die Propheten inspirierte, nicht eine Person. Ähnliche Positionen werden vertreten von Monarchianern (2. Jh. n.Chr.), Arianern (325 in Nicaea verurteilt) und allen Unitariern: die Trinitätslehre sei nicht supra sondern contra rationem, sei Tri-theismus. Auch dieser Streit hat die Entfaltung der Humanwissenschaften, der Philologie und der wissenschaftlichen Erforschung von Religion vorangetrieben. Insbesondere Faustus Sozzini (1539-1604) und die nach ihm benannten Sozzinianer haben, zur Widerlegung dieser bibelfremden und vernunftwidrigen Dogmen, die philologisch-historische Bibelexegese und die Dogmengeschichte gefördert; wissenschaftliche Exegese und ›vernünftige‹ Theologie führten sie zur Dogmenkritik. Diese Bewegung, von Friedrich Heer als »dritte Kraft« bezeichnet, mündet, an Reformation und Gegenreformation vorbei, in Deismus, Aufklärung, Rationalismus. Sie verstärkt die Ausbildung der Humanwissenschaften im 18. Jahrhundert, damit auch, gegen Ende dieses Jahrhunderts, Altertumswissenschaft und Humanismus.23

22 Wollgast, Philosophie, S. 360f. 23 Wollgast, Philosophie, S. 349; 357; 359ff.

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§3.2 Vom »bürgerlichen« zum »realen Humanismus« »Entfremdung« – »Schein der Menschlichkeit« §3.2.1 Eine Generation nach Niethammers Begriffsbildung erkennt Karl Marx, immerhin von 1830-1835 Schüler des humanistischen Gymnasiums in Trier, daß die Verheißungen der Vernunft, die Erklärung der Menschenrechte, die Fortschritte der Human- und Naturwissenschaften die wirklich menschliche Gesellschaft nicht herbeigeführt haben. Die Wirklichkeit war weder christlich, noch vernünftig, geschweige denn classisch, gut, wahr, schön oder gar hellenisch geworden. Marx nimmt den Humanismus beim Wort; er will die Realisierung humanistischer Postulate in Gesellschaft, Wirtschaft, Staat, daher sein Schlagwort »realer«, d.h. in der Gesellschaft zu realisierender »Humanismus«:24 »Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das Selbstbewußtsein oder den Geist setzt«.

Der »wirkliche Mensch« aber lebt, nach Marx, in der Entfremdung, und zwar sowohl die Besitzenden wie die Besitzlosen:25 »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz [...] Innerhalb des Gegensatzes ist

24 Fr. Engels/K. Marx, Die heilige Familie (1844/45), MEW 2, S. 7. Vgl. ebd. S. 138f. (= Landshut, Frühschriften, S. 333f.). 25 Ebd. S. 37; vgl. S. 38: »Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, [...]« Die Worte ›ausgebildet‹ und ›praktisch‹ zeigen Bruchstellen zwischen Theorie und Empirie; die Bereiche, Arten, Grade von Entfremdung und sekundärer oder scheinhafter ›Versöhnung‹ sind innerhalb aller Schichten, auch der ›Arbeiter‹, nach Quantität und Intensität sehr verschieden und schnellen historischen Wandlungen unterworfen.

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der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei.«

›Menschlichkeit‹ meint hier zunächst die konkreten Bedingungen der Wohnung, Ernährung, Kleidung, Arbeit. Zum »Schein der menschlichen Existenz« und zu den Machtmitteln der besitzenden Klasse gehören aber auch die Erzeugnisse von Wissenschaft, Kunst, Philosophie und die Möglichkeiten der Bildung, die den Besitzlosen vorenthalten werden. Die Entfremdung entsteht, nach Marx, durch das Privateigentum, durch die gesteigerte Arbeitsteilung in den neuen Industrien, durch die Umbildung aller Gegenstände zu Waren und aller menschlichen Beziehungen zu Tauschbeziehungen. Dadurch werde der Mensch – ob Kapitalist oder Arbeiter – von den realen Produkten seiner Tätigkeit getrennt, von den Mitmenschen, von der Natur und schließlich sich selbst entfremdet. Diese Entfremdung ist eine »Entmenschung«.26 Erst die tatsächliche, nicht nur gedachte oder pädagogisch vorbereitete Aufhebung dieser Entfremdung kann den ›Humanismus‹ real machen:27 »Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung«.

§3.2.2 Die Unterschiede dieses »realen Humanismus« zum Programm Niethammers, seiner Freunde und Gewährsmänner bestehen in folgenden Punkten: (a) Der philosophische Hintergrund und dementsprechend die Ausfüllung der Begriffe Natur, Logos, Gewissen – Bewußtsein u. a. ist nicht kantianisch oder idealistisch, sondern materialistisch.

26 Marxens Analyse der ›Entfremdung‹ hat Restbestände ›natürlichen Lebens‹, unentfremdeter Tätigkeit etc. zu wenig beachtet. 27 Karl Marx, [Ökonomisch-philosophische Manuskripte, verfaßt 1844], publiziert 1932 (MEW, Erg.-Bd. 1.Teil, S. 536 = Landshut, Frühschriften, S. 235).

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(b) Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit steht die Gesellschaft, ihre Eigengesetzlichkeit, ihre Verbindungen zu den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Zentral werden Begriffe wie Arbeit, Ware, Geld, Entfremdung, Verdinglichung. Ich glaube nicht, daß sich diese Verschiebung innerhalb der oben aufgereihten Grundbegriffe des bürgerlichen Humanismus auffangen läßt:28 »Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen«.

(c) Die Verwirklichung des programmatischen Humanismus wird eingefordert: Humanismus soll »real« werden für alle Klassen, Menschen mit und ohne Besitz. Also: ›Materialismus, Gesellschaft/Entfremdung/Versöhnung, Realisierungsdruck‹ sind die drei Punkte, an denen der »reale Humanismus« das ›System‹ des bürgerlichen teils modifiziert, teils auf eine ganz andere Ebene stellt. Die materialistische ›Füllung‹ geht, wie angedeutet, in einzelne Begriffe des ›Systems‹ ein; die Begriffe ›Gesellschaft/Entfremdung/Versöhnung‹ sind ein neuer Punkt. Der Leidens- und Handlungsdruck lädt das ganze System politisch ungeheuer auf. Ab etwa 1846 hat Karl Marx das Wort ›Humanismus‹ gemieden, wahrscheinlich auch ›Humanität‹; die Begriffe waren ihm wohl mit bürgerlicher Ideologie so sehr belastet, daß er sie nicht beerben mochte. Sein Thema aber hat er, wie ich glaube, durchgehalten: also Wechsel der Terminologie, nicht »anti-humanistische Wende«.29

28 Die heilige Familie, MEW 2, S. 138f. (Landshut, S. 333f.) 29 Anders formuliert z. B. Werner Raith, Humanismus und Unterdrückung, Frankfurt/Main 1985, S. 97ff.: Die ›antihumanistische Wende‹ in der ›Deutschen Ideologie‹. Dagegen Erich Fromm, Menschenbild, S. 5: (Marxʼ Philosophie) »wurzelt in der humanistischen philosophischen Tradition des Westens, die von Spinoza über die französische und deutsche Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts bis zu Goethe und Hegel reicht, und deren innerstes Wesen die Sorge um den Menschen und um die Verwirklichung

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Thema bleibt der Mensch in der Entfremdung, deren Entstehung und Aufhebung. Der Diskurs aber wird seit 1845 strikt ökonomisch, soziologisch, historisch oder politisch, nicht anthropologisch oder religionshistorisch in der Fortsetzung von Ludwig Feuerbach. Dazu, ein letztes Mal, das klassische Zitat:30 »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Das ist logisch, philosophisch, geistesgeschichtlich, aber nicht politisch kompatibel mit den frühliberalen Absichten des bürgerlichen Humanismus. Die Kritik der Religion hatte Ludwig Feuerbach (1804-1872) vollendet; seine Hauptschrift »Das Wesen des Christentums« erschien in zahlreichen Auflagen seit 1841 (21843, 31849). Der Ausdruck, der Mensch sei das höchste Wesen für den Menschen, verknüpft sich mit verschiedenen Kulten der Französischen Revolution: dem Kult der Natur, der Vernunft, eines être suprême, eines grand être. Zu derselben Zeit, als Marx in Paris die Kritik der Religion für abgeschlossen erklärt, gründet Auguste Comte ebenda seine Religion de lʼhumanité (1846/47), eine veritable Kirche mit Festkalender, eigener Ära (ab 1789), Kulträumen, Kanon, Katechismus. Eine Church of Humanity hat in England bis 1933 bestanden, in Brasilien, aber m. W. nur dort, gibt es die Menschheitsreligion bis heute als eine der öffentlichen Konfessionen.31

seiner Möglichkeiten ist«. – Zur Kontinuität von Marxʼ Denken vgl. ebd. S. 71f. u. ö. 30 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44), MEW 1, S. 385. 31 Vgl. T.R. Wright, The Religion of Humanity, Cambridge 1986; G.M. Regozini, Auguste Comteʼs ›Religion der Menschheit‹ und ihre Ausprägung in Brasilien, Diss. Bonn 1977 (mit reichem Material). Für die Ausstrahlung der Menschheitsreligion nach Rußland vgl. J.H. Billington, »Intelligentsia and the Religion of Humanity«, in: The American Historical Review 65 (1959), S. 807-821. Diesen Hinweis verdanke ich Hans G. Kippenberg.

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§4 D REI

HUMANISTISCHE

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G ESCHICHTEN

§4.1 Die erste Geschichte Aesop, der Fabeldichter, so wird erzählt,32 mußte einst seinem Herrn früher als gewöhnlich das Essen machen. Er lief mit einer Laterne umher, um sich Feuer zu besorgen, und kam auf dem Rückweg im hellen Sonnenschein mit brennender Laterne über den von Menschen wimmelnden Markt. Ein Schwätzer hielt ihn an: »Aesop, was willst du mit der Lampe mitten am Tag?« – »Ich suche«, sagte der, »einen Menschen«, und ging schnell davon, nach Hause, an die Arbeit. Der Schwätzer aber merkte, daß dem Aesop nicht als Mensch erschienen war, wer einen anmacht, der zu arbeiten hat. Die Moral: Wer so privilegiert ist, daß er über Humanismus forschen und reden darf, soll nie vergessen, wer ihm das Essen kocht. §4.2 Die zweite Geschichte Ein Schmetterling sah eine Wespe vorbeifliegen und sprach:33 »O ungerechtes Geschick! Als die Körper noch lebten, aus deren Resten wir die Seele empfangen haben, war ich ein Mann, beredt im Frieden, tapfer im Gefecht, in jeder Kunst34 der Erste meines Jahrgangs! Jetzt aber bin ich ganz und gar Leichtigkeit und fliege wie Staub und Asche. Du aber warst nur ein Packesel und verwundest jetzt, wen du willst, mit deinem Stachelstich.« Die Wespe aber gab das denkwürdige Wort von sich: »Sieh nicht zurück, was wir einst waren, sondern was wir jetzt sind«.

32 Phaedrus 3,19; B.E. Perry, Aesopica I, Urbana 1952, nr. 510. Die Fabel ist (ursprünglich?) als Zeichenhandlung von Diogenes, dem Hund, erzählt. Nietzsche hat sie benutzt für die Suche nach dem toten Gott. 33 Phaedrus, Appendix 31; Perry, nr. 556; vgl. das Gegenstück bei Babrios, Prolog 1,19 und Prol. 2,14f. (Biene). Die Seele als Schmetterling vgl. Amor und Psyche, vgl. Phaedrus 1,19; 3,16. 34 Die Formel eloquens, fortis, arte omni princeps umschreibt das klassische römische Bildungsideal, wie Cicero es in der Grundlagenschrift seines (Proto-)Humanismus »Über den Redner« (de oratore) begründet hat.

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Die Geschichte zeigt: Das humanistische Bildungsideal – beredt, tapfer, in jeder Kunst hervorragend – ist ausgebrannt, mürbe Asche (putris cinis), die bare Leichtigkeit (levitas),35 ein Schmetterling, den der Wind dahinschaukelt. Kritischer Humanismus hat die Seele des Packesels (mulus clitellarius) und den Stachel der Wespe. §4.3 Dritte und letzte Geschichte Als Oedipus seinen Vater erschlagen hatte und nach Theben wanderte, um seine Mutter zu heiraten, mußte er an der Sphinx vorbei, einer Mischgestalt aus Frau, Löwe und Raubvogel, die an der Straße lauerte und alle zerfleischte, die ihre beiden Rätsel nicht lösen konnten; wenn aber jemand, so lautete der Spruch des Schicksals, die Rätsel löste, sollte sie sich selbst zu Tode stürzen. Die Sphinx legte also auch Oedipus ihre Rätsel vor, zwei, nicht nur eines, wie manche sagen. Das erste Rätsel lautete: Es ist ein Lebewesen; es hat erst vier Beine, dann zwei, schließlich drei – was ist das?36 Oedipus dachte nach und fand die Lösung, die Sie kennen. Da sagte ihm die Sphinx ihr zweites Rätsel: Es ist ein Ismus, es hat ein menschliches Antlitz – was ist das? Oedipus dachte lange nach. Dann ging er von dannen und ließ die Sphinx auf ihrer Säule hinter sich.

B IBLIOGRAPHIE Ast, F., Über den Geist des Altertums, Landshut 1805. Betzendörfer, W., Hölderlins Studienjahre im Tübinger Stift, Heilbronn 1922. Euler, P., Pädagogik und Universalienstreit, Weinheim 1989. Fromm, E., Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx, Frankfurt am Main 1963. Graffmann, H., Die Stellung der Religion im Neuhumanismus, Langensalza 1929. 35 levitas im Gegensatz zur gravitas des echten Römers. 36 Das Rätsel ist überliefert in den Handschriften von Sophokles, Oedipus, in einem Scholion zu Euripides, Phoenissen 50 und von Asklepiades bei Athenaios 456b.

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MENSCHLICHEM

A NTLITZ | 503

Heer, F., Europäische Geistesgeschichte, Zürich 1953. Ders., Offener Humanismus, Bern 1959. Herrmann, U., »Die Pädagogik der Philanthropen (Basedow, Campe, Trapp, Salzmann; Der Übergang zum Neuhumanismus)«, in: H. Scheuerl (Hg.), Klassiker, S. 135-158. Ders. (Hg.), »Das pädagogische Jahrhundert«. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut in Deutschland, Weinheim 1981. Humboldt, W. v., »Über das Studium des Alterthums und des griechischen insbesondere (verf. 1793; Druck 1896)«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Darmstadt 31979, Bd. 2, S. 1ff. Huntemann, G.H., »Der Gedanke der Selbstentfremdung bei Karl Marx und in den Utopien von E. Cabet bis G. Orwell«, in: Zeitschr. f. Religions- und Geistesgeschichte 6 (1954), S. 138-146 Loewe, H., Die Entwicklung des Schulkampfs in Bayern bis zum vollständigen Sieg des Neuhumanismus, Berlin 1917. Landshut, S. (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 1968. Mehring, F., »Feuerbachs Humanismus (1901)«, in: ders., Gesammelte Schriften 13, Berlin 1961, S. 105-111. Niemeyer, A.H., Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Erzieher, 1876 (Ndr., hg. v. H.-H. Groothoff und U. Herrmann, Paderborn 1970. (Mit Anmerkungen, reicher Bibliographie, Zeittafel, Register). Niethammer, F.J., Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit, 1808 (Ndr., hg. v. W. Hildebrecht, Weinheim, Berlin u. a. 1968). Ders., Über Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer Urkunden, Neu-Strelitz 1795. Prawer, S.S., Karl Marx and World Literature, Oxford 1976. Sannwald, R., Marx und die Antike, Zürich 1957. Scheuerl, H. (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Herbert Spencer, München 1979. Schwarzmaier, M., Friedrich Immanuel Niethammer, Ein bayerischer Schulreformator, 1. Teil, München 1937. Voigt, G., Die Wiederbelebung des classischen Alterthumes oder das erste Jahrhundert des Humanismus (1859), Berlin 31893. Wolf, F.A., Darstellung der Alterthumswissenschaft, Berlin 1807

504 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Wollgast, S., Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung, 1550-1650, Berlin 1988. (Mit reichen Quellen- und Literaturangaben).

Siglenverzeichnis

ANTIKE AUTOREN UND S CHRIFTEN Aristot. polit.

Aristoteles Politik

Aug.

Augustin civ.

de civitate dei

c. Crescon.

contra Cresconium

c. epist. Parmen.

contra epistulam Parmeniani

c. litt. Petil.

contra litteras Petiliani

ep(ist).

epistulae

Gesta Coll. Carth.

Gesta Collationis Carthaginiensis

in Joann. Evg.

in Joannis Evangelium

Cic.

Cicero (leg.) agr.

de lege agraria

Cat.

in Catilinam

de or.

de oratore

ep. fam.

epistulae familiares

fin.

de finibus bonorum et malorum

har. resp.

de haruspicum responsis

imp. Pomp.

de imperio Gnaei Pompei

inv.

de inventione

leg.

de legibus

Marcell.

pro Marcello

Mur.

pro Murena

nat. deor.

de natura deorum

off.

de officiis

part.

partitiones oratoriae

506 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Phil.

in M. Antonium orationes Philippicae

Pis.

in Pisonem

p. red. in sen.

oratio post reditum in senatu

Rosc.

pro Sex. Roscio Amerino

Scaur.

pro Scauro

Sull.

pro Sulla

Tusc.

Tusculanae disputationes

Vatin.

in Vatinium

Verr.

in Verrem

CodJust

Codex Justinianus

CodTheod Dig.

Codex Theodosianus Digesten

Diog. Laert.

Diogenes Laertios

Epict.

Epiktet

Euseb.

Eusebios

hist. eccl.

Gaius

historia ecclesiastica

Gaius

Inst.

Justinian

institutiones

Justinian

Inst.

institutiones

Lact. Lactanz inst. div.

institutiones divinae

mort. pers.

de mortibus persecutorum

Opt.

Optatus von Mileve

Plat.

Platon rep.

de re publica

Rhet. Herenn. Rhetorica ad Herennium Sall.

Sallust hist.

Sen.

historiae

Seneca ben.

de beneficiis

const. sap.

de constantia sapientis

ep(ist).

epistulae morales

S IGLENVEREZICHNIS | 507

tranq. an.

Tac.

de tranquillitate animi

Tacitus ann.

annales

Tert.

Tertullian

XII Tab.

Zwölf-Tafel-Gesetz

B IBLISCHE S CHRIFTEN AT Dan Dtn Gen Jes Ps Ri Sam

Daniel Deuteronomium Genesis Jesaja Psalm Richter Samuel

NT Apg Apk Jh Lk Mk Mt Paul

Apostelgeschichte Apokalypse Johannes Lukas Markus Matthaeus Paulus

Eph

Brief an die Epheser

Hebr

Brief an die Hebräer

Kol

Brief an die Kolosser

1Kor

1. Brief an die Korinther

Röm

Brief an die Römer

1Tim

1. Brief an Timotheos

Tit

Brief an Titus

1Petr 1Clem

1. Petrusbrief 1. Clemensbrief

508 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

S AMMELWERKE ASS

Acta Sanctae Sedis in compendium opportune redacta et illustrata, Rom 1870-1908 (ab 1909: AAS: Acta Apostolicae Sedis). CC Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953ff. CIL Corpus Inscriptionum Latinarum, Berlin 1863ff.; Einzelbände in verschiedenen Nachdrucken. CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1864 ff. Denzinger Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hg. v. Heinrich Denzinger u.a., Freiburg im Breisgau, 34. Aufl. 1967. FGrHist Die Fragmente der griechischen Historiker, hg. v. Felix Jacoby, Leiden 1929 ff. GG Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. HrwG Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u.a, Stuttgart u.a. 1988-2001. JÖR Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Kirk/Raven/Schofield Geoffrey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield (Hg.), Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart u.a. 1994. MEW Marx-Engels-Werke in 40 Bänden, Berlin 1968. PL Patrologia Latina, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1841 ff.; mehrere Nachdrucke. RAC Reallexikon für Antike und Christentum, hg. v. Th. Klauser, Stuttgart 1950 ff. 4 RGG Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Auflage, hg. v. Hans Dieter Betz u.a., Tübingen 1998-2007. SVF Stoicorum veterum fragmenta, hg. v. Hans von Arnim, Stuttgart 1905; Ndr. 1965. von Soden Urkunden zur Entstehungsgeschichte des Donatismus, hg. v. Hans von Soden, Bonn 1913. VS Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Hermann Diels; 6. verb. Aufl., hg. v. Walter Kranz, 1951 ff.

Verzeichnis der Erstpublikation

I

D AS T HEMA

»Europa – Antike – Humanismus«. Gekürzte Fassung unter dem Titel: Die Rezeption der Antike. Kleine Geschichte des europäischen Humanismus, in: J. Rüsen/H. Laass (Hg.), Interkultureller Humanismus, Schwalbach/Ts. 2009, S.24-52. »Orte der ›Antike‹ in einer ›europäischen Religionsgeschichte‹«, in: H. G. Kippenberg/J. Rüpke/K. v. Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen 2009, Bd. 2, 667693. »Classical Tradition, Humanity, Occidental Humanism. HellenicRoman Civilization and its Claim for Universal Validity«. (Vortrag Iserlohn 2007, ungedruckt). »Humanistische Begründung humanitärer Praxis. Antike Tradition – neuzeitliche Rezeption«, in: H. Groschopp (Hg.), Humanismusperspektiven, Aschaffenburg 2010, 11-29.

510 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

II

W ORTE , AUSDRÜCKE , B EGRIFFE

»Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis. Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe«. (2008, ungedruckt). »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, in: Klaus M. Girardet/Ulrich Nortmann (Hg.), Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 94-104. »Moralische tolerantia – wissenschaftliche Wahrnehmung des Fremden – religiöse Freiheit und Repression. Bemerkungen zum ›Kulturthema Toleranz‹ in der griechischen und römischen Antike«, in: A. Wierlacher (Hg.), Kulturthema Toleranz. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung, München 1996, 263-282 (mit Hildegard Cancik-Lindemaier). »Freiheit und Menschenwürde im ethischen und politischen Diskurs der Antike«, in: humanismus aktuell, Heft 22 (Humanismus und »Böckenförde-Diktum«), Berlin 2008. »Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität«, in: M. Vöhler/H. Cancik (Hg.), Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Genese und Profil des europäischen Humanismus, Heidelberg 2009, 113-126. »›Schule der Humanität‹. Johann Gottfried Herder über Ethik und Aesthetik der griechischen Plastik«, (im Druck).

III M ENSCH ALS M ENSCH – UND H UMANISMUS

STOISCHE

E THIK

»›Mensch als Mensch‹. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen zu den antiken Grundlagen des Humanismus« (Vortrag Essen 2006, ungedruckt).

V ERZEICHNIS DER E RSTPUBLIKATION | 511

»Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen von Humanismus«, in: Richard Faber (Hg.), Streit um den Humanismus, Würzburg 2003, 223-41. »Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte«, in: G. Kehrer (Hg.), ›Vor Gott sind alle gleich‹. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen, Düsseldorf 1983, 190211. »Persona and Self in Stoic Philosophy«, in: Self, Soul & Body in Religious Experience. Ed. by Albert I. Baumgarten with Jan Assmann & Guy G. Stroumsa, Leiden 1998, 335-346. »›Dignity of Man‹ and ›Persona‹ in Stoic Anthropology. Some Remarks on Cicero, de Officiis I 105-107«, in: D. Kretzmer and E. Klein (Hg.), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, Den Haag/London/New York 2002, 19-38.

IV K RITISCHER H UMANISMUS »›Alle Gewalt ist von Gott‹. Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren«, in: B. Gladigow (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, 53-74 »Christentum und Todesstrafe. Zur Religionsgeschichte der legalen Gewalt«, in: H. von Stietencron (Hg.), Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und ihre Bewältigung in den Religionen, Düsseldorf 1979, 213-251 (gewidmet Carl Andresen). »Antike Religionskritik im Colloquium Heptaplomeres«, in: K. F. Faltenbacher (Hg.), Der kritische Dialog des Colloquium Heptaplomeres: Wissenschaft, Philosophie und Religion zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ergebnisse der Tagung vom 6. bis 7. November 2006 am Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin, Darmstadt 2009, 75-90 (mit Hildegard Cancik-Lindemaier).

512 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

»Antike – Christentum – Humanismus. Ein Versuch zu Grundbegriffen von Friedrich Heers europäischer Religions- und Geistesgeschichte«, in: R. Faber (Hg.), Offener Humanismus zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Über den Universalhistoriker, politischen Publizisten und religiösen Essayisten Friedrich Heer, Würzburg 2005, 151-170. »Der Ismus mit menschlichem Antlitz. ›Humanität‹ und ›Humanismus‹ von Niethammer bis Marx und heute«, in: R. Faber/B. Kytzler (Hg.), Antike heute, Würzburg 1992, 249-260 (gewidmet Friedrich Heer).

Register der Personen- und Ortsnamen

»vgl.« am Ende der Fundstellen-Reihe verweist auf ein weiteres einschlägiges Stichwort. »s.« mit Stichwort anstelle einer Fundstellenangabe verweist auf das Stichwort, bei dem die Fundstellen verzeichnet sind. Abailardus, Petrus 72 Abegg, Friedrich Wilhelm 237 (A. 1) Abraham Ibn Ezra 455 Agila, der Arianer 171-172 Aischylos 92, 130-132 Alberti, Leone Battista 226 Alexander der Große 288-289 Ammianus Marcellinus 158160 Apuleius 164-165 Araber 16-17, 26-28 Aristophanes 49 Aristoteles 27, 49, 178, 188, 285, 289 Athen 19, 179-180 auctor ad Herennium 258-261 Augustin 404-424, 426-428, 494 Aurelia Faustiniana 255-256, Babeuf, François Noel (Gracchus) 303-305 Basedow, Johann Bernhard 33

Beccaria, Cesare 393-404, 424-425 Bertuch, Friedrich Justin 219 Bismarck 425 Bloch, Ernst 480-481 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 379-380 Bodin, Jean/Pseudo-B. 53, 5658; 439-458 Bolkestein, Hendrik 105-107 Böll, Heinrich 92 Brandes, Ernst 377 Brunner, Emil 388 Buzyges 95 Byzanz 24-26 Campe, Joachim Heinrich 302 Cassin, René 40 Chrysippos 316-317 Cicero, Marcus Tullius 31-32, 64, 67, 90, 97-102, 112113, 122, 136-139, 147153, 162-163, 247-253, 262-270, 271-274, 312-

514 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

317, 323-351, 439 (A. 1), 443-444, 446 Cola di Rienzo 22, 367-368 Comte, Auguste 500 Dalberg, Friedrich von 121, 127 Dehler, Thomas 391 (A. 10) Diagoras 443 Diderot, Denis 287-289 Dilthey, Wilhelm 204 (A. 39), 456 Epikur 393-394 (vgl. Epikureismus) Erasmus von Rotterdam 4546, 52, 338, 461-462, 472, 494 Eudemos von Laodicea 271 (A. 47) Europa (s. u. Begriffe) Eysenck, Hans Jürgen 112 Fromm, Erich 499 (A. 29) Gaius 296-297 Galerius 147 (A. 49) Garve, Christian 101-102, 348-349 Gellius 256-258 Goethe, Johann Wolfgang 215, 217 Gottfried, Johann 121-128 Grotius, Hugo 301-302 Guilleaume de Conches 323 Gundisapur 44 Haller, Karl Ludwig von 377 Heer, Friedrich 459-484 Hekaton von Rhodos 141 (A. 21) Herbert of Cherbury, Edward 58-61, 456 (A. 55) Hercules 100

Herder, Caroline 211, 215 Herder, Johann Gottfried 2930, 87-89, 93-97, 120, 128-133, 191-209, 211233 Herodot 156-158, 467 Hirt, Aloys 219-220 Hobbes, Thomas 398 Homer 85-87, 197 Homers Schildbeschreibung 85-86 Humphrey, John 40 Hunain 27 Hunnen 158-160 Isis 164-165 Isokrates 267 Italien 21-24, 205, 211-220 Jaeger, Werner 37, 470 Johann von Salisbury 24 Johannes Chrysostomus 110111 Julianus Augustus 108-110, 147 (A. 49) Kant, Immanuel 101-102, 345-350 Kaufmann, Angelika 215 Kautsky, Karl 50 Knebel, Karl Ludwig 194, 214-217 Köbel, Jacob 122, 127 Konfutse 89 Konstantin 46-47, 146-148, 186-187, 407-408, 413419 (vgl. constitutum Constantini) Kritias 73, 447-448 Künneth, Walter 402-403 Licinius imperator 146-148, 186-187

R EGISTER

Löwith, Karl 284-286 Lukian 48, 449 Lukrez 446 Lullus, Raimundus 72-73 Maimonides 59 Maistre, Joseph de 374 (A. 56) Manetti, Gianozzo 137, 339341 Mangoldt, Hans von 373-374 Mann, Thomas 470 Marathon 92 Marsilio Ficino 67 Marsilius von Padua 368 (A. 41) Marx, Karl 34-35, 238, 497500 Maximin 147 (A. 48, 49) Melanchthon, Philipp 338 Menander 248-249 Mithras 51 Morus, Thomas 48-53, 60 Moser, Friedrich Carl von 379 Moskau 15, 17, 24-25 Muckermann, Friedrich 380 (A. 65) Narciss 324 Neuber, Johann 101, 137, 338 Nicolaus Cusanus 53 Niethammer, Friedrich Immanuel 33-34, 87-88, 237245, 274-277, 487-493 Nietzsche, Friedrich 21, 208 Niewöhner, Friedrich 476 (A. 58) Odysseus 15-16 Oppenheim 121-122 Panaitios/Panaetius 315-316, 330-331 Paulsen, Friedrich 36

DER

P ERSONEN - UND ORTSNAMEN | 515

Paulus (Römer 13) 357-386, 408-409, 419-420 Persius 196 Petrarca, Francesco 22-23 Philotheos von Pleskau 24-25 Pico della Mirandola, Giovanni 137, 330 (A. 7), 340342 Platon 49, 68, 70, 177-179, 243, 439-440, 445, 460461 Plethon, Gemistos 67 Plinius d. Jüngere 227-230 Plutarch 49, 288-289, 442 Polyklet 229 Pomponius Laetus 67 Porphyrios 447 Prometheus 100, 129-133 Protagoras 444 Pufendorf, Samuel 137-138, 342-345 Pythagoras 231 Quintilian 226 (A. 53) Raimondi, Cosma 121, 125126 Rembrandt 475 Rom 117-121, 364-371 Rousseau, Jean-Jacques 204, 242-243, 246, 293 Ruge, Arnold 35 Salutati, Coluccio 21-22 Schaeder, Hans Heinrich 28 Schiller, Friedrich 349 Schmid, Carlo 373, 390 Schmitt, Carl 176-177 Seneca 140-141, 143, 152153, 198, 243, 245-246, 299-300, 313, 318-323, 364-365

516 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Shaftesbury, Anthony AshleyCooper 197 Sieyès, Emmanuel Joseph 378 Sisyphos 447-449 Sozzini, Laelius und Faustus 474, 496 Spranger, Eduard 36, 470 Szczesny, Gerhard 480-481 Tacitus 170 Taubes, Jacob 323-325 Tertullian 52, 141-144, 184186, 318, 471 Theophrast 447 Theophrastus redivivus 69-78, 73-76 Thomae, Hans 346 Thukydides 179-180

Toland, John 61-66 Troeltsch, Ernst 284 Troia 14, 18, 38, 84 Valla, Lorenzo 126 Vanini, Lucilio (»Julius Caesar«) 74-75, 443 (A. 14) Varro 60, 143, 454 Venus 119-120, 366, 447 Voigt, Georg 35-36, 238, 493 (A. 15) Vossius, Gerardus 59 Weishaupt, Adam 67 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 425-426 Wimpfeling, Jacob 341 Wise, John 138, 344-345 Zenon von Kition 288-291, 365-366

Register der Begriffe und Sachen

Adam-Mythos 409-411, 494 (vgl. Erbsünde) Ästhetik 128, 216-218 Afrikanische Kirche (›Donatisten‹) 166, 406-408, 413424 Akademie 61, 66-68, 78 Almosen 102-111 Amsterdamer Erklärung 112, 233 Anthropologie 38, 342-345 epikureische 123-126 negative 294, 409-413 positive 99-100 stoische 55, 184-185, 245247, 272-274, 311-326, 327-353, 335-336 Antike 14, 17-21, 83-84, 9597, 463-464 Antikerezeption 117-134, 439458 Armut 177-180, 240 artes liberales 243 Atheismus 53, 56, 69-70, 7376, 439-444 Aufklärung 29, 75, 129-131, 158, 284 (A. 7), 393-395, 446

Autarkie 183 Barmherzigkeit 32, 250, 260261 Bilderdienst 119-121 Bilderverbot 207-208 Bildungsbürgertum 241 Brief 196 Bücherverbrennung 167-170 Christentum 43-48, 103-107, 108-111, 145-148, 165167, 171, 293-294, 387438, 459-484, 464 (vgl. Paulus) Christologie 475-476, 496 Church of Humanity 500 Circumcellionen 412, 420 coge intrare (»nötige einzutreten«) 142, 424 (A. 117) conciliatio 245, 263-264, 294295, 317-318 conscientia 321-322 (vgl. Gewissen) conservatio sui 302-303, 317318 Constitutio Antoniniana 143 Constitutum Constantini, (»Konstantinische Schenkung«) 46-48

518 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Deismus 51, 58-61, 456 Demokratie 19, 177-180, 362, 369-370 Dialog 70-71 dignitas 328-330, 331-334 Dritte Konfession 483-484 Dritte Kraft 461, 470-474 Dritter Humanismus 36, 470 Drittes Geschlecht 471 Entfremdung 497-500 Epikureismus 74, 121-128, 439-444 Erbsünde 494 (vgl. AdamMythos) erkenne dich selbst 324 Erziehung 86-87 (vgl. Pädagogik) Europa 13-17, 83-84, 466470, 482-483 Europäische Religionsgeschichte 43-48, 170-172, 449 (A. 34), 459-484 Folter 427 Fortschritt 246, 264-268 Freiheit 92, 154-155, 175-189, 281-309 Freimaurer 65-66 Fremde 156-160 Freundschaft 62, 127, 199 Ganzheit 88, 92, 124, 127128, 239, 241 Gemeinwohl 365 gender 290-291, 295, 298 Gerechtigkeit 100, 102-111 Geschichtlichkeit 138 Gesellschaftsvertrag 366, 397398 Gewissen 154-155, 321-322 (vgl. conscientia)

Gleichheit 50, 140, 178, 179180, 281-309, 366 Grausamkeit 262-263 griechische Religion 96, 102103, 108-109, 157-158, 227, 311-312 Grundgesetz der BRD Art. 1 390 Art. 20 372-380 Art. 102 390-392 Häßlichkeit 207 Hellene 72 (vgl. Philhellenismus) Hermetik 69 Herrschaft 335-336, 339-340 Humanismus (Definitionen) 13, 33-39, 91-92, 113, 208-209, 237-238, 462463 (vgl. Neuhumanismus) anthropologischer H. 482483 atheistischer H. 480-482 christlicher H. 468-470 jüdischer H. 476 (A. 58) pädagogischer H. 490-492 realer H. 497-500 Humanismuskritik 77 humanitäre Praxis 38-39, 93113 Humanität 21-22, 29-30, 3839, 88-89, 128-130, 191209, 216-220 humanitas 30-32, 89-90, 93, 200, 249-251, 265-279 imago Dei 341 Imperium (Romanum) 16-19 Individuum 176, 183-184, 203, 238-239

R EGISTER

Inhumanität 17-18 Innerlichkeit (homo internus) 319-323 Islam 44, 56, 76-77 ius gentium 140 ius humanum 139, 299-300 Juden, Judentum 43, 56, 77, 103-107, 108-109, 163164, 208, 227, 230, 330 (A. 7), 371-372, 454-455, 471 Kanon 229-230 Katholizismus 45-48, 362, 378-380, 399-401, 424425, 472-473 Kinderbuch 219-220 Kirche 46-48 Klassik 490-491 Komitee ›Freies Deutschland‹ 346 (A. 80) Kosmopolitismus 248, 287291, 335 Kreisauer Kreis 346 (A. 80) Kunst 204-208, 227-231 Laienbildung 126-128 libertas religionis 143 (vgl. Religionsfreiheit) lumen naturae 55, 202 Mängelwesen 94, 268 maiestas 332-333 Manichäismus 44, 145, 478480 Mensch als Mensch 97-102 Menschenliebe 129, 295 Menschenrecht(e) 32, 39-40 (Tag der M.), 94-95, 135, 139-144, 186, 249, 281309

DER BEGRIFFE UND

S ACHEN | 519

Menschenwürde 51, 101, 135138, 183-184, 192, 268270, 327-353 Menschheitsreligion 500 municipalia sacra 143 Musik 230-231 Mysterien 66-67 Natur 32, 50, 54-55, 97-98, 102, 123-125, 140, 185186, 202-203, 243, 247249, 263, 291-295, 304, 334-336 naturalis lex 72, 451-456 natürliche Religion 57, 141142, 440-441, 451-456 natürliche Theologie s. theologia naturalis Naturrecht 55, 162-163, 181182, 293-300, 334-336 Neuhumanismus 36 Neu-Stoizismus 203-204 Nichts 495 Nikodemismus 78, 445 Öffentlichkeit 18, 67 Opfer 103, 397-398, 402-403, 445-446, 447, 476 (A. 58) Orient 15-16, 69, 84, 106-107, 252 (A. 47) Orphik 69 Pädagogik 238-241, 246-247 (vgl. Erziehung) Paganismus 52, 64, 215, 470 Pantheismus 62-66 Person 138-139, 311-326 persona 183-184, 251-252, 268-270, 312-313 Philanthropie 32-33, 109, 129133, 489-490 Philhellenismus 48

520 | E UROPA – A NTIKE – HUMANISMUS

Philosophie 68-76 Plastik 208, 211-233 Popularphilosophie 127 Priestertrug 59-60, 73 proprietas 138, 313-314 Protestantismus 477 ratio 335-336 (vgl. Vernunft) Rechtsphilosophie 296-300 Reflexivität 316-323 Reichsreligion 148, 163-164 religio licita (»zugelassene Religion«) 143-144 religio naturalis s. natürliche Religion Religion 19-20 (vgl. griechische R., natürliche R., römische R.) Religionsbegriff 60-61, 158 Religionsfreiheit 51-52, 5758, 108, 139-148, 165167, 184-187 Religionsgeschichte 387-389 Religionsgeschichtsschreibung 59-61, 157-158 Religionsgespräch 68-73, 451 Religionsgespräch am Hof der Sasaniden 72 Religionskrieg 163, 167-168 Religionskritik 68-76, 439458 Religionswissenschaft 53, 5861, 71, 445-451, 488 (A. 8) Renaissance 21-24, 35-36, 226 Rhetorik 32 römische Religion 102-103, 145-148, 160-170, 322323, 420-422, 432, 448, 454

Saekularisierung 68, 176-177, 187-188, 283-284, 374, 381, 400, 469, 476-478 Sakralisierung 372 Schöpfung 495 (vgl. Natur) Schwäche 201-203, 250, 260261 Selbst 155, 183, 246, 254, 273, 292, 316-323 Selbstliebe 245, 294-295, 317318, 339 Skepsis 56, 74, 443-444, 446 Sklaverei 20, 180-182, 281 (A. 1), 285, 290, 292-293, 298-300 socialista 401 Societies of the Learned 61-68 Soziabilität 31, 99-100, 203, 247-249, 295, 342 (A. 63), 401 Sprache 203 Staatslehre 357-386 augustinische 409-413, 423-424 stoische 291-295 Stoa 54-55, 76, 89, 90-91, 97102, 140-141, 142-143, 144-145, 151-153, 196204, 245-247, 287-300, 451-456 Symposion 62 Tapferkeit 152-153 terror utilis (nützlicher Terror) 424 Theater 67 theologia naturalis 60-61, 6869, 446, 451-456

R EGISTER

Tier 136, 203, 239, 250, 260, 265-268, 272, 343, 426, 443 Todesstrafe 41, 371, 387-438 tolerantia 144, 151-153 Toleranz/Intoleranz 52, 144148, 151-173, 165-170, 171-172, 420-422 Toleranz-Edikte 145-148, 154-155 Tradition 226 Trinität 496 Universalismus 86, 87, 90-92, 98-99, 140, 155, 160-170, 238-239, 250, 272, 286, 454

DER BEGRIFFE UND

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Universität 21-22 Utopia 48-53 Vernunft 54-55, 88, 130, 136, 138, 239-240, 246, 291295, 334-36, 452-455 (vgl. ratio) Volkssouveränität 372-380 Waldenser 387 Wille 138, 185, 314 Wohltätigkeit 100, 106-109 Wohltat 140-141 Würde des Menschen s. Menschenwürde Zensur 167-170, 193-194 Zentralität 47, 170, 389 Zweite Natur 19, 264-268

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-7

Jörn Rüsen (Hg.) Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen 2010, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1414-5

Chun-chieh Huang Humanism in East Asian Confucian Contexts 2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5

Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique 2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9

Helmut Johach Von Freud zur Humanistischen Psychologie Therapeutisch-biographische Profile 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1294-3

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1172-4

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Carmen Meinert, Hans-Bernd Zöllner (eds.) Buddhist Approaches to Human Rights Dissonances and Resonances 2010, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1263-9

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Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten (hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier) Oktober 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-6

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