Zukunftsfähiger Humanismus: Präzedenzfälle und Perspektiven [1. Aufl.] 9783839425794

What role can and should humanism play in the Era of Globalization? Hilmar Kallweit critically discusses and reconstruct

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Zukunftsfähiger Humanismus: Präzedenzfälle und Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839425794

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Hilmar Kallweit Zukunftsfähiger Humanismus

Band 20

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Bochum), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Hilmar Kallweit (Prof. in Ruhe der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) lehrt und forscht im Bereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Deutschen Philologie. Schwerpunkte seiner Tätigkeiten sind: Theorie und Geschichte des Romans sowie Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts.

Hilmar Kallweit

Zukunftsfähiger Humanismus Präzedenzfälle und Perspektiven

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorbemerkung | 7 Einleitung | 9 I

Rhetorischer Humanismus – Philipp Melanchthons Lehre von den

1. 2.

II

Loci communes (Rekonstruktion) | 19 Cicero: Kulturisation der menschlichen Natur durch eloquentia | 21 Begründung und Funktion der Loci communes in Melanchthons Rhetorik von 1519 | 32 Klassischer Humanismus – Epochale Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen (Demonstration) | 55

5.

Neubestimmung und Rangerhöhung der Anthropologie | 56 Winckelmann: Ästhetisierte ›Connexion von Leib und Seele‹ | 61 Kant: Anthropologie in ›pragmatischer‹ Hinsicht | 64 Humboldt: In den Standpunkt des Geschichtsschreibers implizierte Anthropologie | 69 Novalis: Die Natur als ›Plan unseres Geistes‹ | 73

III

Deutungskompetenter Humanismus heute –

1. 2. 3. 4.

Zu den Grenzregimen von Biogenese und Kulturgeschichte (Debatte) | 79

1. 2. 3.

Natur/Kultur, Körper/Geist: Auflösung traditionaler Begriffsoppositionen | 81 Historische Muster der Deutungskompetenz des Humanismus | 83 Zeitdiagnose und humanistische Deutungskompetenz | 90

IV

Das Dilemma der Kulturspezifik am Beispiel der Genese von ›Individualität‹ (Quelleninterpretation) | 95

V

Anmerkungen zur Humanismus-Debatte | 113

Bibliographie | 137

Vorbemerkung

Die Studie ist im Kontext des von der Mercator-Stiftung geförderten Forschungsprojektes »Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung« entstanden. Sie ist unternommen worden in der Überzeugung, dass so zu fragen mittlerweile dringend geboten ist. Sie ist geschrieben worden im Bewusstsein, dass dieses Problemfeld in der Weite und Komplexität der Materie derzeit allenfalls in der Form vorbereitender Klärungen erschlossen werden kann. Wie dies etwa in den grundsätzlich gehaltenen Bestimmungen von Jörn Rüsen entworfen worden ist.1 Die Studie will demgegenüber – wenigstens in einigen Hinsichten – die sich stellenden Fragen materialer und damit in der ihnen eigenen Widerständigkeit aufwerfen, mit der ein heute erneut zur Geltung zu bringender Humanismus konfrontiert ist. Daraus folgt aber auch ein Plädoyer zur denkbaren Überwindung dieser Problematik. Auf dem Weg dazu muss die Studie sich bewusst dem Vorwurf und Einspruch im Einzelnen nicht geleisteter Sachverhaltserschließung und entsprechender Kritik aussetzen. Die Weite und Komplexität der Materie fordern diesen Tribut. In Kauf genommen ist so ein Vorgehen in variablen Erörterungsformen. Mit dem die Studie sich einerseits (anthropologiebezogen) auf einen grundlegenden As-

1

Von daher ist auch die Titelformulierung »Zukunftsfähiger Humanismus« entlehnt. Vgl. Jörn Rüsen: »Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus«. In: Martin Vöhler/Hubert Cancik (Hrsg.): Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert. Band 1. Heidelberg 2009, S. 201-216. Die Humanismus-Debatte ist hier vom sog. klassischen Humanismus der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert her aufgenommen. Auf die so entwickelten – meines Erachtens auch irreführenden – Bestimmungen Rüsens ist zurückzukommen.

8

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pekt des Humanismus konzentriert, und andererseits (rhetorischer Humanismus, klassischer Humanismus, heutige Problemlage) zum Teil auch nur in verkürzter Annäherung verfährt: Allein die Kapitel I und IV (Rekonstruktion und Quelleninterpretation) genügen den Anforderungen historisch-philologischer Sachverhaltserschließung. Die Kapitel II und III (Demonstration und Debatte) pointieren und verdeutlichen, was m.E. wesentlich und klärend für einen »zukunftsfähigen Humanismus« in Betracht zu ziehen ist. So mag die Studie in dieser Form für die jetzt begonnene Humanismus-Debatte aufschlussreich sein.

Einleitung

Diese Studie erörtert eine Doktrin humanistischen Denkens, die zwar ein wesentliches Kapitel in der Geschichte des europäischen Humanismus bildet, für die heutige Humanismus-Debatte aber nur noch als historische Vorgeschichte von Bedeutung zu sein scheint. Diese Doktrin gehört in den Bereich der Topica universalis humanistischer und barocker Wissenschaft, mit der die Topik »im Humanismus zum universalwissenschaftlichen Modell« wurde. 1 Erörtert werden soll die insbesondere von Philipp Melanchthon prägend entwickelte Lehre von den Loci communes, die zeitgenössisch zu einer Art ›Universalschlüssel‹ des ganzen kulturellen Wissens und seiner Deutung wurde. Diese spezifischen Loci richteten sich auf das, was als communis und allgemein gültiges Wissen zu erschließen und bestimmbar war. Ihrer ›topischen‹ Herkunft nach begründeten sich die Loci communes aus ihrer Stellung zwischen dialektischer Logik und Rhetorik. Für die Erörterung von Melanchthons Loci-Lehre wird also deren Kontext im Feld von Dialektik und Rhetorik zu klären sein. Insoweit ist die Studie eine ins Einzelne gehende historische Rekonstruktion im Bereich des rhetorischen Humanismus.

1

Vgl. dazu die umfassende Rekonstruktion dieser Epistemologie durch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. Der für die Studie zu Melanchthon grundlegende Befund ist: »wenn […] Topik im Humanismus zum universalwissenschaftlichen Modell wird, dann liegt das an ihrer Besonderheit: Topik liegt im wissenschaftlichen Feld zwischen Logik und Rhetorik – kann in bestimmtem Sinne als deren Grundlage begriffen werden« (S. XVII).

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Weitergehende Absicht ist es aber, mit dieser Rekonstruktion auch Gesichtspunkte für die heutige Humanismus-Debatte zu gewinnen. Wie zu zeigen sein wird, können sie bedenkenswert sein, obwohl ein in der Topik gründendes Erkenntnisprogramm wie die Loci-Lehre Melanchthons im historischen Wandel der Heuristik längst keine Geltung mehr hat. Dieser Wandel verstellt den Blick, wie derartige Gesichtspunkte gleichwohl ausgewiesen werden könnten. Einleitend soll diese Problematik, mit der die Studie von vorn herein konfrontiert ist, in der Verkürzung auf drei Beispiele in die Moderne führender Substituierung der Topica universalis herausgestellt werden. Zur exemplarischen Verdeutlichung sind sie als in bestimmten Aspekten Melanchthons Erkenntnisprogramm nahe stehend gewählt. Einerseits ist dafür die »kulturanthropologische Grundauffassung« des rhetorischen Humanismus maßgebend.2 Zum anderen die Nähe in der Grundlegung umfassender Ordnungen des Wissens. Die drei Beispiele führen in Schritten zurück zur Topik von Melanchthons Loci-Lehre: Bezug wird genommen auf die von Wilhelm von Humboldt entworfene »Theorie der Bildung des Menschen«, auf Immanuel Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« und auf Francis Bacons »Instauratio magna« der Wissenschaften als exemplarischem Schwellenereignis zum Geltungsverlust der topischen Erkenntnisverfahren. Die drei Skizzen markieren Entwicklungsstufen kategorialer Differenz zur Loci-Lehre des rhetorischen Humanismus. Und sie pointieren vorab die Fragwürdigkeit, aus einer von Dialektik und Rhetorik fundierten Heuristik zu Gesichtspunkten für die heutige Humanismus-Debatte zu gelangen. Wilhelm von Humboldts Fragment gebliebene »Theorie der Bildung des Menschen« ist der theoretische Entwurf, alles Wissen (»Bildung«) mit Bezug auf das Gattungssubjekt (»der Mensch«) grundlegend zu ordnen. Hier wird der Versuch unternommen, für die verschiedenen »Fächer« der menschlichen Erkenntnis die Prinzipien einer »allgemeinen Übersicht« zu entwickeln.3 Humboldt stützt sich dabei 2

Vgl. dazu Karl-Otto Apel: »Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico«. Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 8. Bonn 1963. Apel hebt als wesentlichen Aspekt des rhetorischen Humanismus heraus: »seine ganzheitliche ›kulturanthropologische‹ Grundauffassung der Sprache […]«, (S. 275).

3

Wilhelm von Humboldt: »Theorie der Bildung des Menschen«. In: Wilhelm von Humboldts Werke, hg. von Albert Leitzmann. Erster Band. Berlin 1903. Vgl. S. 285.

E INLEITUNG | 11

auf Annahmen der damaligen Debatte zur Anthropologie, sein »Plan einer vergleichenden Anthropologie« ist daher aufschlussreich. Dort richten sich die Überlegungen darauf, den »Charakter« ganzer »Classen von Menschen« zu erfassen, aus der Sicht der »Bildung« allerdings beschränkt auf die »bleibenden« Charaktere im »kleinen Kreis der höchsten Kultur«: Klassen von Menschen, wie sie nach dem Unterschied der Geschlechter, nach den Altersstufen der Menschen, nach deren Temperamenten, insbesondere aber auch nach Nationen und Zeitaltern wie dem 18. Jahrhundert vorfindlich sind. Physische, physiologisch-charakterologische und Kriterien geschichtlicher Entwicklung und Kulturisation sind unmittelbar zusammengeführt. In ihnen konkretisiert sich der Grundgedanke, dass der Mensch zwar »Glied der Natur«, aber in seiner Kulturentwicklung und historisiert zu verstehende »freie Natur« ist.4 Im Theorieentwurf zur Bildung des Menschen wird die anthropologische Perspektive von Humboldt spezifischer auf die Fächer der menschlichen Erkenntnis gewendet. Demnach verdanken diese sich dem Umstand, dass der Mensch zur Erhöhung seiner Kraft und zur Vollendung seiner Bildung einen adäquaten Gegenstand braucht, damit sich die Wechselwirkung »seiner Empfänglichkeit und seiner Selbstthätigkeit« entfalten kann. Auf die Fächer selbst führt dann die genauere Frage nach den menschlichen »Fähigkeiten«, die jedes von ihnen zu seiner Erweiterung voraussetzt. So gefragt, ließe sich ein »Mittelpunkt« konstituieren, die Betrachtung gelange »aus der Unendlichkeit der Gegenstände in den engeren Kreis unserer Fähigkeiten und ihres mannigfaltigen Zusammenwirkens«. 5 Insoweit hat Humboldts Entwurf seinen Ausgangspunkt im Allgemeinen des Gattungssubjekts, wird zugleich aber konsequent historisiert. So soll die allgemeine Übersicht ihre materiale Ausarbeitung erfahren durch eine Geschichte der Erkenntnis aller Fächer. Was sich auf diese Weise als historische Entwicklung erschließt, will Humboldt dabei rückvermittelt wissen an das im Menschen Angelegte. Das heißt rückgebunden an die Veränderungen des menschlichen »Charakters«, die dieser mit der Entwicklung der Fächer erfahren hat und erfährt.

4

Wilhelm von Humboldt: »Plan einer vergleichenden Anthropologie«. In: Wilhelm von Humboldts Werke, hg. von Albert Leitzmann. Erster Band. Berlin 1903. Vgl. S. 384, 390.

5

Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen, l.c., S. 285.

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Was im Entwurf Humboldts in dieser Zusammenführung von anthropologischer und historischer Perspektive noch sehr offen gefasst ist (»der Mensch«, sein »Charakter«, seine »Bildung«), markiert eines der grundlegenden Erkenntnisprogramme für die weitere Moderne. Es hat auf ein ganzes heuristisches Spektrum geführt, das bis heute – was hier nicht zu entwickeln ist – in den vielfältigsten Modifikationen fortwirkt. Für die Fragestellungen dieser Studie soll allein hervorgehoben sein: Humboldts Entwurf ist – als der damals sich formierenden und im Einzelnen noch zu erörternden Geistesgeschichte der Natur des Menschen zugehörig – kategorial vom ›topisch‹ grundgelegten Erkenntnisprogramm Melanchthons und der darin erkundeten natura hominis geschieden. Wie sollten also über diese kategoriale Differenz hinweg anhand der Loci-Lehre des rhetorischen Humanismus sich instruktive Hinweise noch für die heutige Humanismus-Debatte geltend machen lassen? In anderer Weise stellt sich diese Frage auch am Beispiel von Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Bekanntlich hat Kant mit dieser Schrift (zuerst als Vorlesung 1772/ 1773) innerhalb der spät-aufklärerischen Diskussion zur Anthropologie dieser das Statut einer neuen wissenschaftlichen Disziplin gegeben.6 Damit kommt den Überlegungen Kants im Kontext des verbreiteten sog. »Studium des Menschen« der Zeit eine besondere Bedeutung zu. Das manifestiert sich bereits in den Grundannahmen Kants, auf die hier in Kürze Bezug genommen wird. Die zur eigenen Disziplin entwickelte Anthropologie sieht Kant aus der fortschreitenden Kultur hervorgehen, setzt ihr das Ziel im »Gebrauch für die Welt« und in der Anwendung auf jenen Menschen, der »sein eigener letzter

6

Vgl. Immanuel Kant: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. In: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 10. Sonderausgabe Darmstadt 1983. Zur Entstehungsgeschichte der Kantischen Anthropologie bis zum Druck von 1798 vgl. Norbert Hinske: »Kants Idee der Anthropologie«. In: Die Frage nach dem Menschen. Festschrift für Max Müller, hg. von Heinrich Rombach. Freiburg/München 1966, S. 410-427. Dazu, wie Kants Anthropologie schon ihrer Herkunft nach Erfahrungswissenschaft ist (»Beobachtungskunst«), sich in ihrer Wendung auf »Menschenkenntnis« allerdings nicht auf deren bloße Mannigfaltigkeit richtet, sondern auf eine stets vorausgehende »Generalkenntnis«, vgl. Hinske: Kants Idee der Anthropologie, S. 412 ff.

E INLEITUNG | 13

Zweck« ist.7 Kants Vorhaben einer systematisch entworfenen und zugleich – durch die von jedem ergänzbaren Beispiele – ›populären‹ Anthropologie stellt sie in den Diskurs der vielen Selbstdenkenden hinein, macht sie zu einem Gemeinschaftsunternehmen der sich vollziehenden Kulturentwicklung und der kulturellen Selbstaufklärung. Entsprechend ist die Kantische Anthropologie nicht qua Physiologie in sich zentriert, worauf auch bereits die für diese Anthropologie in Betracht gezogenen Quellen führen. Sie erweitert ihr Wissen durch Weltkenntnis, weite Bekanntschaft mit Menschen, durch Reisen und Hilfsmittel wie die Lektüre jener Texte, in denen das zeitgenössische »Studium des Menschen« immer schon geschieht. Namentlich beruft Kant als Quellentexte Weltgeschichte und Biographien, aber auch Romane und Schauspiele. Denn auch in den letzteren finde – wenngleich in fiktionaler Übertreibung der Charaktere und Situationen – jene »Beobachtung des Tun und Lassens der Menschen« statt, welche die Grundzüge der »menschlichen Natur« ans Licht bringe. So auf die sich vollziehende Kulturentwicklung gewendet, zielt Kant mit der »pragmatischen Hinsicht« auf die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Menschen: Was dieser »als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll«. Als Anthropologie mit diesem geschichtsphilosophischen Kontext stellt sie sich in das Fortschreiten des Menschen zu freier Selbstbestimmung hinein. Grundlegend gilt der Mensch dabei als »mit Vernunft begabtes Erdwesen«.8 Auf dessen Anthropologie Kant sich richtet mit einer Wissenschaft nicht vom Individuum, sondern vom Menschen »seiner Spezies« nach. Gewendet auf die sich vollziehende Kulturentwicklung und den Prozess kultureller Selbstaufklärung werden so Grundzüge der menschlichen Natur ermittelt. Wie Humboldts »Theorie der Bildung des Menschen« hat auch das auf ein bis heute fortwirkendes heuristi-

7

Vgl. zur Anthropologie und den Zitaten auch im Folgenden Kant: Anthro-

8

In der Konzeption von Kants Anthropologie konkretisiert sich das zeit-

pologie, l.c., Vorrede, S. 399-402. und autorspezifisch so, dass Kant die von Baumgarten übernommene Vermögenstheorie als allgemeines Schema nutzt und zugleich dieses Schema noch einmal dem Oberbegriff des Erkenntnisvermögens unterstellt wird. Die Erörterung des Menschen erfolgt also grundlegend von der Bestimmung des »Selbstbewusstseins« her. (Vgl. dazu Hinske, l.c., S. 412 ff.)

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sches Spektrum geführt und wird als eine Spielart der damaligen Geistesgeschichte der Natur des Menschen noch genauer zu erörtern sein. Mit der auf Generalkenntnis gerichteten Kantischen Anthropologie ist erneut – gegenüber Melanchthons rhetorischem Humanismus genuin spät-aufklärerisch entwickelt – eine kulturanthropologische Grundauffassung leitend. Diese Anthropologie hält, mit Intentionen wie denen von kultureller Selbstaufklärung oder vom Menschen als eigenem letzten Zweck und frei handelndem Wesen, durchaus Bestimmungen von regulativem Sinn noch für die heutige Humanismus-Debatte bereit. Kants Ausarbeitung der Anthropologie führt aber auch exemplarisch darauf, in welchem Maße seine anthropologischen Erkundungen im Kontext der zeitgenössischen Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹ zugleich Blockaden für die gegenwärtige Debatte fördern. Kant macht unter anderem, im Rahmen der damaligen Wendung zur ›Genieästhetik‹, die Erscheinungsform des Menschen als Genie zu einem Aspekt seiner auf Generalkenntnis gerichteten Beobachtungskunst. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Talent oder Vermögen der »Nachforschungsgabe«, das im Falle des Genies sich auszeichnet als Talent zum »Erfinden«. So werde der Name des Genies dem zuerkannt, »der etwas zu machen versteht, nicht dem, der bloß vieles kennt und weiß, aber auch nicht einem bloß nachahmenden, sondern einem seine Werke ursprünglich hervorzubringen aufgelegten Künstler […]«.9 Mit dem Vermögen zum Erfinden aus eigenem Ursprung gelingt dem Genie das Schaffen von original Neuem. Vom Regelzwang etwa der Kunstdoktrin der Naturnachahmung »befreiter« ist das Genie der »Originalität« umso fähiger.10 Worauf es hier nur ankommen soll: Die ins Einzelne gehenden Begründungen für diese besondere Leistung des Genies zeigen, in wie hohem Maße dabei das Moment anthropologischer Generalkenntnis zeit- und kulturspezifi-

9

Vgl. Kant: Anthropologie, l.c., S. 542 ff., Zitat S. 543. Vom Genie ist gemäß Kants Konzeption seiner Anthropologie innerhalb der Erörterung des Erkenntnisvermögens die Rede; genauer: als Explikation der Talente im Erkenntnisvermögen und hier dann in der Wendung »Von der Originalität des Erkenntnisvermögens oder dem Genie«. In diesen vermögenstheoretischen Ansatz zu ›Generalkenntnis‹ gebunden, weist Kant die Kriterien aus, die im Ergebnis auch Bestimmung der spezifischen Erscheinungsform des Menschen als Genie sind.

10 Vgl. ebenda, S. 544.

E INLEITUNG | 15

scher Argumentation aufsitzt. In exemplarischer Deutlichkeit zeigen dies die in Vielem parallelen Überlegungen Kants zum Genie in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«. Kant geht hier in der Erörterung der schönen Kunst, zu der Genie erfordert ist, vor allem vom Vermögen der Einbildungskraft aus.11 Genauer: Es wird ein besonderes Zusammenspiel von Einbildungskraft und Begriffen bzw. Verstand geltend gemacht. Die Einbildungskraft führe den Begriffen eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen bzw. Stoffen hinzu und erweitere sie dadurch. Zugleich bleibe diese »Belebung der Erkenntniskräfte« in dem Zusammenspiel angemessen unter dem »Zwange des Verstandes«. Und nur das Genie steht in dem »glücklichen Verhältnisse« von sich aus gelingenden Zusammenwirkens der Gemütskräfte. 12 Auf das Allgemeine der »Natur des Menschen« ist diese Erklärung der im Genie angelegten schöpferischen Produktivität dabei nur metaphorisiert rückbezogen. Kant fasst das in die kurze Wendung, mit ihren besonderen Fähigkeiten seien die mit der schönen Kunst begabten Genies »Günstlinge der Natur«.13 Wie die Argumentation in Humboldts »Theorie der Bildung des Menschen« ist diese Explikation des Genies ein Zeugnis jener zeitgenössischen Wendung zur Geistesgeschichte der Natur des Menschen, die im Verlauf der Studie noch genauer zu erörtern sein wird. In den gehaltvollen Begründungen für das den »Günstling der Natur« Auszeichnende argumentiert Kant dabei hochgradig zeit- und kulturspezifisch. Für die Aufgaben der heutigen Humanismus-Debatte, mit der

11 Immanuel Kant: »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«. In: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Sonderausgabe Darmstadt 1983. Vgl. S. 405 ff. Kant argumentiert hier ganz zeit- und kulturspezifisch innerhalb der seit Baumgartens »Aesthetica« sich entwickelnden Konjunktur der Ästhetik und der Aufwertung des Vermögens der Einbildungskraft. Mit dem in Folgenden hervorgehobenen Gedankengang kommen wesentliche Argumentationen des Passus (wie die Erörterung der ›Regeln‹ oder der ›ästhetischen Idee‹) nicht in den Blick. 12 Vgl. Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, l.c., S. 417. Der Grundgedanke ist: »Die Gemütskräfte also, deren Vereinigung (in gewissem Verhältnisse) das Genie ausmachen, sind Einbildungskraft und Verstand«. 13 Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, l.c., S. 408. Kant spricht hier auch von der »Naturgabe der Kunst« und der dem Genie »unmittelbar von der Hand der Natur« erteilten Geschicklichkeit.

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Dispositive gerade für das zwischen den Kulturen aufeinander Beziehbare zu generieren sind, werden so aber eher Barrieren jeweiliger Spezifik der kulturanthropologischen Deutungen geschaffen. Aufgabe ist deshalb zwar noch nicht etwa, das jeweilig Differente der ›Gedankenwelten‹ zu marginalisieren. Aber Erkenntnisprogramme und Wissenschaftskonstruktionen, die Gesichtspunkte für das zwischen den Kulturen aufeinander Beziehbare genuin in sich enthalten, verdienen besondere Beachtung. Wie innerhalb der Tradition des Humanismus die ›topische‹ Loci-Lehre des rhetorischen Humanismus. Obgleich mit dem hier gleich einleitend geltend zu machenden Vorbehalt längst vollzogener Delegitimierung der ›topischen‹ Erkenntnisverfahren dieser Lehre. Das ist über die Beispiele von Humboldt und Kant hinaus an einem locus classicus dieser Delegitimierung zu erläutern. Bezug wird dafür genommen auf Francis Bacons »Instauratio magna« der Wissenschaften.14 Mit Bacons Projekt dieser »Großen Erneuerung« wird die Topica universalis bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts grundlegend in Frage gestellt. Die zwischen Dialektik und Rhetorik regulierten ›topischen‹ Erkenntnisverfahren werden prinzipiell entwertet. Bacon hatte zwar in Cambridge selbst noch ein humanistisches Studienprogramm einschließlich der Lehrbücher Melanchthons durchlaufen. Vieles davon hat Bacon auch bewahrt, aber transponiert in eine umfassende Neubestimmung der Wissenschaften. Mit ihr wurde die humanistische ›Wortwissenschaft‹, das ganze Instrumentarium eines sich primär sprachlich-argumentativ aufbauenden Wissens dem Vorrang einer anderen Instanz untergeordnet. Ausgangspunkt dafür war bekanntlich Bacons Grundgedanke von der weitaus größeren subtilitas naturae, welche die Verstandesoperationen wie auch das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen übertreffe. Entsprechend bestimmt Bacon das zuvor dialektisch-rhetorische Invenieren neu. Der Blick wird auf Prozeduren der »Naturinvention« gewendet, die zu gesicherten Erkenntnissen führen sollen nach den Verfahren einer vera inductio.15

14 Bacon wird zitiert nach: The Works of Francis Bacon. Zusammengestellt und hg. von James Spedding/Robert Leslie Ellis/Douglas Denon Heath. Bd. I-XV. New York 1869 ff. 15 Vgl. zum Grundgedanken von der subtilitas naturae etwa Bacon: Novum organum I, 10. Vgl. zur vera inductio die folgende Anmerkung.

E INLEITUNG | 17

Zur Delegitimierung des humanistischen Wissenschaftstypus auch in dessen sprachlich-argumentativem Kernbereich führt das, indem Bacon seine Methode des Invenierens als gleichermaßen umfassend entwirft, wie sich die Logik des Syllogismus auf alle Wissenschaften erstreckt hätte. Über die Naturerkenntnis hinaus ist damit auch das dialektisch-rhetorische Invenieren im Bereich der philosophia moralis et civilis eingeschlossen und in Zweifel gezogen. Die genaueren Begründungsschritte, in denen diese Umorientierung in den Prozeduren des Invenierens vollzogen wird, sind hier nicht zu erörtern.16 Hervorzuheben sind aber die weitreichenden Konsequenzen, wie Bacon sie bündig als Unterscheidung von invention und discovery zum Ausdruck gebracht hat: »The invention of speech or argument is not properly an invention«. Tatsächliches Fortschreiten leiste nur das zur discovery weiterentwickelte Invenieren: »For to invent is to discover what we know not, and not to recover or summon that which we already know […]«.17 Das dialektisch-rhetorische Invenieren verfällt hier dem Verdikt des bloßen Aufrufens der zu einer Sache vorhandenen Gesichtspunkte und des nur erinnernden Wiederfindens des bereits Gewussten zu Zwecken der Applikation. Entsprechend stellt Bacon der Tradition und humanistischen Neubelebung des Offiziums der Rhetorik das office of knowledge gegenüber. Das sich in Abgrenzung von dem, wozu die ›Wortwissenschaft‹ geführt habe, so bestimmt: »which I have set down to consist not in any plausible, delectable, reverend, or admired discourses, or any satisfactory arguments […]«; und dem neuen Ziel nach: »but in effecting and working, and in discovery of particulars not revealed before for the better endowment and help of man’s life«.18 Mit Bacons »Instaura-

16 Vgl. Bacon: Novum organum I, 127. Trotz der Wendung zur alles umfassenden Induktionsmethode vollzieht Bacon deren Ausarbeitung in einer eigentümlichen Verschränkung von Kritik am Instrumentarium der ›Wortwissenschaft‹ und Bewahrung eines Kerns topisch angeleiteter Erkenntnis. So macht die vera inductio seiner Naturinvention das rhetorische Verfahren der enumeratio zum Ausgangspunkt. Freilich wird dieses Verfahren methodisch diszipliniert durch die Forderung nach zunächst vollständiger Induktion des untersuchten Sachverhaltes, deren gehäufte Ergebnisse dann in Schritten der Exklusion gleichsam gegengeprüft werden. 17 Bacon: Works, l.c., Band VI, S. 268 f. (The Advancement of Learning). 18 Bacon: Works, l.c., Band VI, S. 36, 39 (Valerius Terminus).

18

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tio magna« der Wissenschaften und in diesem Falle im Ausgang von der Naturinvention wird so das ›topisch‹ grundgelegte Erkenntnisverfahren empiristisch entkräftet. Das in Melanchthons humanistischem Reformprogramm noch das tragende Gerüst des Lehrens und Lernens in den Wissenschaften gebildet hatte. Der über Bacon hinaus komplexe Prozess sich fortentwickelnder Konzepte für den Fortschritt von Erkenntnis ist hier nicht zu erörtern. Immerhin kann das darin liegende Problem im Rahmen dieser Einleitung im Verweis auf die Heuristiken des Invenierens angedeutet werden: Vom antik fundierten dialektischrhetorischen invenire über Bacons Forderung nach invention als discovery bis zu Kants Bestimmungen für die Auszeichnungen des Genies als original Neues schaffend. Trotz dieses vorab zur Anschauung gebrachten Problems unternimmt die folgende Studie es, die ›topisch‹ fundierte Loci-Lehre Melanchthons nicht nur zu rekonstruieren, sondern von daher auch Gesichtspunkte für die heutige Humanismus-Debatte zu entwickeln. Das setzt eine eingehende Klärung des Statuts der Loci communes im Kontext des rhetorischen Humanismus und seiner kulturanthropologischen Grundauffassung voraus. Gegenüber den Skizzen der Einleitung ist dafür in eine auch ins Einzelne gehende materiale Untersuchung einzutreten. Als Rekonstruktion von Melanchthons Loci-Lehre und dem daran anschließenden Entwurf einer Untersuchungsperspektive zum Humanismus in der Epoche der Globalisierung mutet die Studie mehrfach einen derartigen Wechsel in der ›Dichte‹ der Sachverhaltserschließung zu.

I

Rhetorischer Humanismus Philipp Melanchthons Lehre von den Loci communes (Rekonstruktion)

Die Loci-Lehre ist integraler Bestandteil von Melanchthons humanistischem Reformprogramm wie dann seiner reformatorischen Wendung. Vorgabe dafür waren die Bestimmungen zu den Loci communes innerhalb des Regelwerks der antiken Rhetorik. Diese klären aber noch nicht die viel weiter gehende Substanziierung, die Melanchthon den Loci communes als formae seu regulae omnium rerum zugeschrieben hat. Zu Recht ist die Frage aufgeworfen worden: Die antike Rhetorik kennt die loci nur ganz allgemein als die sedes argumentorum. Wo liegen die Wurzeln für Melanchthons Aufstellung, die die loci communes als Grundbegriffe für die Einzelwissenschaften abhebt von den rhetorischen loci argumentorum, die ja für die einzelnen genera causae ihre Bedeutung behalten?1

Zur Klärung dieser Frage sind vorab auch die autoritativen antiken Rhetorikschriften – für die Einzelbestimmungen zu den Loci communes vor allem die Lehrschriften Ciceros – in Betracht zu ziehen. Die folgende Untersuchung der Loci-Lehre erörtert von diesem Ausgangspunkt her die wesentlichen Uminterpretationen innerhalb des Offiziums der Rhetorik, mit denen Melanchthon den Grundriss für das von ihm aufgestellte Statut der Loci-Lehre entwickelt hat. In der Rhetorik hat aber nicht nur die epistemologische Seite der Loci-Lehre, 1

Uwe Schnell: Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons. Berlin und Hamburg 1968. S. 46 (Anm. 46).

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sondern auch die in ihr enthaltene Interpretation der Lebenswelt ihren Ausgangspunkt. Substanziell bündelt sie sich in Melanchthons Frage – entschieden anders beantwortet im Schritt vom humanistischen Reformprogramm zur reformatorischen Wendung – nach der natura hominis. Prägnantes Zeugnis für diese Überlegungen Melanchthons, schon in der Rhetorik von 1519 wie dann in der Vorbereitung und Durchführung der »Loci communes theologici« von 1521, ist sein Brief an Johannes Heß vom 27. April 1520.2 Hier berichtet Melanchthon von seiner kommentierenden Arbeit an den Sentenzen des Petrus Lombardus. Bemerkenswert daran ist nicht nur die mitgeteilte Umorientierung im Kommentieren durch das Übergehen von annotationes zu dem von den Rhetoren angeratenen Verfahren nach Loci communes, sofern in den Wissenschaften eine zusammenfassende Darstellung geleistet werden soll. 3 Dieses comprehendere ist genau das Gelenk zu den alten Summen, mit denen Melanchthon in einen Ersetzungswettstreit tritt. Eine Ersetzung, die auch Erasmus schon, von dem Melanchthon darin wie für seine Loci-Lehre gelernt hat, durch scharfe Kritik an diesen Summen vorgezeichnet hat. Die Sentenzen des Petrus Lombardus als Bezugstext für das Übergehen zu Loci communes erwähnt Melanchthon in seinem Brief an Johannes Heß allerdings zuerst in einem anderen nicht weniger bedeutsamen Gedankengang. Die Rede ist hier von den nicht verfügbaren empfehlenswerten Schriften de natura hominis. Plinius wird als Maßstab für das Wissen im nicht menschlichen Bereich der Natur angeführt. Als möglicherweise hilfreich will Melanchthon Cassiodors »De anima« erst noch prüfen. Jedenfalls ist es aber seine Absicht, in Obelisken zu den Sentenzen des Petrus Lombardus die Fehlleistungen der scholastischen Autoren zu dieser Thematik aufzuzeigen und dem hier vorliegenden Mangel abzuhelfen. 4 Den Zusammenhang von grundlegenden Sach-

2

Für die Zwecke dieser Studie nimmt die folgende Rekonstruktion Eingrenzungen des Problemfeldes vor, das umfassend im Kontext einer anderen Untersuchung vorgelegt werden wird.

3

Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierende Gesamtausgabe, hg. von Heinz Scheible. Band I. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977. Vgl. S. 72 f.

4

Vgl. CR I, S. 157 (siehe Nachweis zum Corpus Reformatorum Philipp Melanchthon in der Bibliographie).

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verhalten der natura hominis und dem besonderen Statut der Loci communes hatte Melanchthon aber auch vorher bereits seiner Rhetorik von 1519 eingeschrieben. Dort ging es allerdings zunächst um Begründungen innerhalb der Rhetorik als diesen Zusammenhang schon von sich aus enthaltend. Was sich im Falle der Loci communes manifestiert als die in ihnen auch gefassten Grundsachverhalte des menschlichen Lebens. Die folgenden Untersuchungen gewichten dementsprechend zwei Leitlinien. Zum einen die kulturanthropologische Grundauffassung des rhetorischen Humanismus und die darin implizierte Frage nach der natura hominis. Wobei den antiken Voraussetzungen nach für Melanchthon vor allem auf seinen Leitautor Cicero zurückzugehen ist. Allerdings klärt sich durch Ciceros Letztappell an die menschliche natura und deren Ausfaltung in den leges naturales noch nicht die eminente Geltungskraft von Melanchthons Loci-Lehre in der zeitgenössischen Epistemologie. Dafür ist zum anderen Melanchthons Rhetorik von 1519 mit der darin eingeschlossenen Dialektik im Einzelnen zu entfalten. Denn was sich in der Form von Loci communes als epochales Statut für das allgemeine wie das disziplinäre Wissen der Zeit austrägt, hat hier seinen Grund. Das ist im Einzelnen zu erörtern in den oft unscheinbaren Uminterpretationen, mit denen Melanchthon über die antiken Vorgaben hinaus diese Loci zu einem zentralen Bestandteil seines humanistischen Reformprogramms macht. Im Blick auf die Vorgaben für Melanchthon durch Ciceros Zielsetzungen für die Rhetorik gewinnt das erste Kontur.

1. C ICERO : K ULTURISATION DER N ATUR DURCH ELOQUENTIA

MENSCHLICHEN

Melanchthons Rhetorikschrift von 1531 ist aufschlussreicher Beleg für die Weise, wie die antiken Quellen – insbesondere Ciceros – auf sein Rhetorikverständnis eingewirkt haben. Melanchthon entnimmt dem dort Entwickelten, dass die praecepta Rhetorices für sich nicht hinreichen, um zur Eloquenz instand zu setzen. Die Eloquenz ist die zugrunde liegende facultas (sapienter et ornate dicendi), die Rhetorik die dis-

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ziplinierte ars (quae docet viam ac rationem recte et ornate dicendi).5 Melanchthon geht hier auf die facultas zurück, ohne den in den Quellenschriften formulierten ursprünglichen kulturanthropologischen Begründungszusammenhang der eloquentia noch eigens zu erörtern. Gerade die Loci-Lehre zeigt aber prägnant, in welchem Maße auch die von Melanchthon zum Lehren und Lernen in den Wissenschaften gewichteten praecepta Rhetorices diese umfassendere Zielsetzung der Rhetorik – die Aufklärung über die natura hominis ineins mit deren Kulturisation – bewahren und fortsetzen. In den Quellenschriften sind Ciceros Überlegungen zum Ursprung der Rhetorik für diese Zielsetzung besonders instruktiv. Cicero begreift gleich in seiner ersten Rhetorikschrift »De inventione rhetorica libri tres« die eloquentia in direktem Zusammenhang mit den Bedingungen und Entwicklungen der menschlichen natura. Zu ihr heißt es (die Übersetzung ist hier besonders prägnant) im Ausgang von einer Erörterung der Gerechtigkeit: »The law of nature is that which is not born of opinion, but implanted in us by a kind of innate instinct: it includes religion, duty, gratitude, revenge, reverence and truth«.6 Dieses ius naturae ist übergänglich zum ius consuetudine, das entweder nur in geringem Maße von der Natur abgeleitet und durch Gebrauch in seiner Geltung stark geworden ist oder ab natura profectum durch Gewohnheit gestärkt worden ist wie alle durch ihr Alter zu allgemeiner Zustimmung geführten Dinge. Cicero erklärt dieses Funda-

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Diese Erörterung wird programmatisch am Beginn der Elementorum rhetorices libri duo von 1531 geführt. Die schon in der Rhetorik von 1519 (vgl. unten) deutliche Richtungnahme ad docendum wird dabei sofort und manifest geltend gemacht. Die Eloquenz als facultas erfordere zwar zuerst und vor allem eine vim naturae maximam ad dicendum. Aber ebenso auch: multarum bonarum rerum scientiam. Und die rhetorischen praecepta will Melanchthon nicht nur darlegen ad recte dicendum, sondern (dem gilt die ausführlichere Erörterung) ad prudenter intelligenda aliena scripta und als Hilfe in bonis auctoribus legendis (CR XIII, S. 417 ff.).

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Marcus Tullius Cicero: De inventione. Übersetzt von H. M. Hubbell (= The Loeb Classical Library. Bd. II.). London/Cambridge 1868, S. 329. Der lateinische Wortlaut: »Naturae ius est quod non opinio genuit, sed quaedam in natura vis insevit, ut religionem, pietatem, gratiam, vindicationem, observantiam, veritatem«.

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ment der eloquentia in einem umfassenden Entwurf von dem das Gemeinschaftsleben konstituierenden Ursprung, dem Verfall und der gegenwärtigen Erneuerung der Eloquenz, der seine Schrift »De inventione rhetorica« einleitet.7 So wird die oratio in einen kulturanthropologischen Begründungszusammenhang gerückt. Ciceros Ausgangsfrage – ob die Rhetorik hominibus et civitatibus mehr Schaden oder Nutzen gebracht habe – stellt sie gleich anfangs in das Licht einer für die Kulturisation des Menschen entscheidenden Macht. Die positive Beantwortung dieser Frage hänge aber, gerade angesichts des früher wie gegenwärtig auch angerichteten Schadens, vom rechten Verständnis der Rhetorik ab. Cicero entwickelt es auf der Grundlage einer unabdingbaren Verschränkung von eloquentia und sapientia: […] existimem sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium prodesse plerumque, prodesse nunquam.8

Ohne die ernsthaftesten studia rationis et officii (von Philosophie und Moral) wäre die Eloquenz nutzlos, in der Einheit mit ihnen ist sie aber für den Redner selbst wie für die öffentlichen Belange von unschätzbarem Wert. Diese unabdingbare und gleichsam ›anthropologisch‹ gegründete Verschränkung führt Cicero vor Augen in einer ursprungsmythischen Erzählung von der Verflochtenheit der Eloquenz in den Beginn der Kulturisation. Erläutert wird der Schritt von den wie Tiere lebenden Menschen – ohne jede Leitung ratione animi und vor allem ihrer Körperkraft vertrauend – zur befriedeten sozialen Gemeinschaft. Wichtiger als der von Cicero aufgenommene Mythos vom großen weisen Mann, der die im Menschen vorhandenen Fähigkeiten erkannte und diesen Schritt in die Wege leitete, ist hier etwas anderes. Möglich wurde diese Wendung 7

Vgl. zu dieser in der Jugendschrift schon erfassten Problemstellung, die in den Grundzügen erhalten bleiben sollte, Etienne Gilson: »Eloquence et sagesse chez Cicéron«. Phoenix 7 (1953), S. 1-19. Übersetzt in dem Band: Das neue Cicerobild, hg. von Karl Büchner. Darmstadt 1971. S. 179-207. Vgl. S. 179 f. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Ursprungserzählung führt Barwick: Das rednerische Bildungsideal Ciceros, l.c., S. 20 ff. und S. 36 f. Hier auch der Vergleich mit entsprechenden Passagen in »De oratore« und die Rückführung auf Isokrates.

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Cicero: De inventione, I,1; vgl. zum ganzen Abschnitt: I,1-3.

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zur Kulturwelt nämlich nur durch ratio und oratio zusammen. Gemeinsam bezeichnen sie die Differenz zum als Tier lebenden Menschen, wobei Cicero die Eloquenz vor allem in das Licht der Einübung in die kulturellen Verhaltensweisen durch das Gewicht der Rede stellt. Wie hätte sich diese Einschränkung des einzelnen zugunsten des Gemeinwohls vollziehen können, nisi homines ea quae ratione invenissent eloquentia persuadere potuissent? Doch die oratio ist nicht nur Mittel, sie ist wie die ratio konstitutiver Grund für den Beginn der kulturellen Vergemeinschaftung. Sie kommt zur Geltung ineins mit dem Akt erzieherischer Befreiung der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten: quae materia esset et quanta ad maximas res opportunitas in animis inesset hominum. Sie steht derart am Anfang dieser Entwicklung, dass sie zentraler Bestandteil eines in dieser materia des Menschen gründenden Fortschritts zur Kultur ist. Für diesen Fortschritt ist die sapientia der Zentralbegriff, sie ist dessen Ziel. Cicero denkt dabei an eine – über die Verfallszeiten hinweg – wiederherzustellende Einheit von Rhetorik und Philosophie. In ihr kommen die sapientia als virtus und die griechische philosophia als mater omnium artium überein. Was in diesem Zusammenhang ›virtus‹ heißt, bedenkt Cicero vom ingenium des Einzelnen her, sieht sie in ihrer Zielsetzung aber stets historisch konkret vermittelt als das prodesse civitatibus. Zugleich soll die entwickelte griechische doctrina zur Geltung gebracht werden, so dass Ciceros Vorhaben sich – auf der einheitlichen Grundlage der auszubildenden natura – als ein umfassender Vermittlungsprozess verstehen lässt: Einerseits geht es um die Einheit von ingenium, der sapientia und doctrina, andererseits um die von mores und doctrina; es ist so nicht nur die Vermittlung von römischer ›Praxis‹ und griechischer ›Theorie‹, sondern ganz wesentlich, der Zusammenhang von auszubildender natura (die für Cicero die einheitliche Bedingung sowohl römischer ›Praxis‹ als auch griechischer ›Theorie‹ als ingenium und sapientia ist und damit […] das Vermittlungsmoment) und aus ihr schon ausgebildeter doctrina.9

In der Ursprungserzählung am Beginn von »De inventione rhetorica« ist dieser Zusammenhang geronnen in den Schritt zur Leitung durch

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Josef Mancal: Untersuchungen zum Begriff der Philosophie bei M. Tullius Cicero. München 1982, S. 79 f. Vgl. zum Vorherigen auch S. 66 f.

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die ratio und in die unabdingbare Verschränkung von eloquentia und sapientia. Die zentrale Bedeutung der sapientia wird in dieser Erzählung insbesondere auch ex negativo klar. Wenn nämlich die Gründe für den zwischenzeitlichen Verfall der Eloquenz im Verlust dieser Einheit gesehen werden. Sie missriet in einer Zeit der Staatsführung und des öffentlichen Rechtswesens ohne die so verstandene oratio in den Privatprozessen zum häufigen Agieren contra verum. Dass die so handelnden Männer aber – mit ruinösen Ergebnissen – auch nach der Staatsführung griffen, brachte die eloquentia in Verruf. Die homines ingeniosissimi zogen sich zurück, und in der Folgezeit wurden die anderen Studien von ihnen ohne Beachtung der eloquentia glänzend entwickelt. Damit ging ebenso der Nutzen der eloquentia für die res publica verloren wie ihre unabdingbare Gründung in der sapientia. Denn diese fasst nicht nur den Schritt zur ratio und zur gemeinschaftsverpflichteten virtus, sondern auch die scientia der göttlichen und menschlichen Dinge. Für Ciceros Vorstellung von der Restitution der eloquentia spielt dieses mit der sapientia verbundene ›Wissen‹ eine entscheidende Rolle. Dieser Sachverhalt ist aber auch – über die kulturanthropologische Gründung der Eloquenz hinaus – einsichtige und genauer zu erörternde Vorgabe für Melanchthons umfassendes Reformprogramm im Ausgang von der Rhetorik. Das Fundament dieses Wissens von den göttlichen und menschlichen Dingen bilden in Ciceros Argumentation die semina innata virtutum (realisiert im usus sui) und die adumbratae intellegentiae rerum omnium (die sich in der Führung durch die sapientia als inlustratae intellegentiae realisieren). In Ciceros Verständnis ist die sapientia Grundbegriff und Zielbestimmung dieses Wissens, zugleich aber auch als studium sapientiae der Weg zu ihm. Die beiden Realisierungen als virtus und als ars sind in ihrer Differenz gemeinsam in der umfassenden sapientia aufgehoben: »Die als Einheit vorausgesetzte sapientia umfasst so das studium sapientiae als ars, als doctrina und die, in der geschichtlichen Realität sich als virtus realisierende sapientia«.10 Für die Beredsamkeit konkretisiert sich das in zwei grundlegenden Richtungsnahmen Ciceros. Einmal in der Abwehr der den Fachwissenschaften eigenen Tendenz, sich je für sich abzusondern. Zum anderen

10 Vgl. Mancal: Zum Begriff der Philosophie bei Cicero, l.c., S. 193. Zum Vorhergehenden vgl. die genauere Argumentation S. 89 ff.

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in der Gründung der Eloquenz auf ein bestimmtes Wissen, auf doctrinae und artes. In »De oratore« hält Cicero seinem Bruder Quintus diesen Standpunkt so entgegen: »[…] quod ego eruditissimorum hominum artibus eloquentiam contineri statuo, tu autem illam ab elegantia doctrinae segregandam putes«.11 Was die eloquentia so in sich einschließt, führt in seinen Grundzügen auf die auch von Melanchthon programmatisch verbindlich gemachte scientiam multarum bonarum rerum.12 Für die Bildung des Redners hat dieses Wissen seine besondere inhaltliche Ausrichtung und seine methodische Vergewisserung. Zur letzteren führt die von den Philosophen geübte Kunst der Dialektik: Cicero unterscheidet die scientia oder das Wissen, von der ars, die für ihn nichts anderes zu sein scheint als eben dieses Wissen in methodischer Einteilung und Ordnung (artificiose digesta) mit dem Ziel, bequem genutzt werden zu können. Jede Kunst setzt also entsprechendes Wissen voraus, das sie in bestimmten Formen zusammenfasst und mit Hilfe der Dialektik ordnet.13

Der inhaltliche Umkreis dieses Wissens ist für die ars oratoria aber weniger disziplinär hergeleitet als in der Wendung auf das Gemeinwohl vorgegeben. Als Wissen also vor allem um die res publicae und um die natura hominum: Neque enim sine multa pertractatione omnium rerum publicarum neque sine legum, morum, iuris scientia neque natura hominum incognita ac moribus in his ipsis rebus satis callide versari et perite potest.14

In der Einheit von eloquentia und sapientia ist dieses Wissen zugleich Beredsamkeit und Philosophie, deren übernommene hellenistische Einteilung in Physik, Logik und Sittenlehre Cicero für die Zwecke des Orators ganz auf die genauestens zu beherrschende Sittenlehre hin gewichtet.15 Die Sittenlehre als Wendung in vitam atque mores gibt der

11 Cicero: De oratore, I, 2,5. 12 Vgl. CR XIII, S. 417 (Elementorum rhetorices libri duo). 13 Gilson: Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero, l.c., S. 194. 14 Cicero: De oratore, I, 11, 48. 15 Vgl. Cicero: De oratore, I, 15, 68-69. Das ist generelle Disposition für die schon in den antiken Rhetorikschriften wesentliche Funktion der Loci com-

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Rhetorik ein Gerüst, das zugleich ›Ethik‹ und für den wirkungsvollen Vollzug der Rede empirisch-praktische ›Psychologie‹ ist. Sie genauestens zu kennen und recht zu handhaben, entspricht die Verpflichtung auf die sapientia. Ihr Substrat aber sind die natura gegebenen menschlichen Leidenschaften.16 Dieses Wissen des Redners um die res publicae und die natura hominum ergänzt und entfaltet sich in den Kenntnissen von der Geschichte und deren exempla, in der Ausschöpfung der Dichter und aller Meister der freien Künste. Dieser ganze Bereich der eruditio liefert dem Orator das Material, um in allen für die Rede aufgeworfenen Fragen kenntnisreich und copiose verfahren zu können.17 So gibt Cicero – für die Belange des Orators – jene grundlegende Figur vom Wissen vor, das von der Rhetorik aus zu den Erscheinungsformen der accumulatio copiosa, zu den umfassenden, verfügbaren und jederzeit verwendbaren Kenntnissen von allen wichtigen Dingen führt: Ac mea quidem sententia nemo poterit esse omni laude cumulatus orator, nisi erit omnium rerum magnarum atque artium scientiam consecutus. Et enim ex rerum cognitione efflorescat et redundet oportet oratio […]18

Allerdings ist dabei die Akzentuierung zu sehen. Gleichsam noch vor der Spannbreite dieser Figur in Melanchthons Argumentation – der universa, artificiosa et compendiaria ratio in der dialektischen Sachverhaltserschließung und dem in promptu habere im arbeitspraktischen Gebrauch – macht Cicero vor allem geltend: nihil enim aliud est eloquentia, nisi copiose loquens sapientia.19 Eben diese Dignität der

munes für laudatio und vituperatio, in Melanchthons Loci-Lehre für das auf die Tugenden und Laster gerichtete Register der Loci communes. 16 Vgl. zur ganzen Passage Gilson: Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero, 1.c., S. 191 f. 17 Vgl. Cicero: De oratore, I, 34, 158-159. Vgl. – insbesondere auch zur Offenheit des eruditio-Begriffs – Gilson, S. 192 f. 18 Cicero: De oratore, I, 6, 20. In diesen Einleitungsüberlegungen pointiert Cicero den ganzen Umkreis der erforderlichen Kenntnisse und zählt hier bereits auf: Philosophie (Sittenlehre), die in der Natur des Menschen gelegenen omnes animorum motus, literarische Bildung, Geschichte und Rechtskunde. 19 Cicero: De partitione oratoria 23, 79.

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Eloquenz rückt die Erzählung vom Stiftungsakt der Kulturisation ins Licht, dessen Linie sich zum doctus orator hin fortsetzt. Dabei ist allerdings in Ciceros Verschränkung von Eloquenz und Philosophie die letztere leicht bloßzustellen. Hegels Urteil über Ciceros ›Populärphilosophie‹ findet sich in anderer Form fortgesetzt in der Einsicht vom ›oberflächlichen Charakter‹ derartiger Bildung: Vorausgesetzt, man ist dialektisch geschult und beherrscht außerdem omnes philosophiae locos als da sind: Religion, Tod, Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, das Gute und Böse, Tugenden und Fehler, Pflicht, Schmerz, Freude, die Leidenschaften der Seele, ein wenig Physik und Astronomie, das Recht und die Geschichte der Völker und der großen Männer, die sie geführt haben, so reicht das aus, um weise zu sein.20

Weder Hegels – im Faktum durchaus zutreffendes – Verdikt über Ciceros unentwegten Letztappell an die Natur noch diese Charakterisierung philosophischer Restriktion reichen aber hin für die Frage nach dem internen Gefüge dieses Wissens. Darauf führt auch noch nicht die zutreffende Feststellung über Ciceros oratorische Praxis, das Besondere stets in das Licht allgemeiner Bedeutung zu stellen. Mithin also die einzelne Prozesssache als Sonderfall einer allgemeinen Thematik zu verhandeln.21 Für die Loci communes verweist das zunächst einmal nur darauf, dass sie – von Cicero nicht zufällig besonders differenziert erörtert – in diesem oratorischen Vorgehen einen besonderen Ort haben. Aus der Sicht der von Melanchthon den Loci communes zugeschriebenen Leistungen und Funktionen ist die Frage nach diesem zur sapientia versammelten Wissen – unbeschadet seines ›populärphilosophischen‹ Mangels – anders zu stellen. Als für die Rhetorik erfordert und von ihr für die Zwecke des Orators handhabbar gemacht, ist auf die Grundzüge seiner Strukturierung zu blicken. Innerhalb des copiosam reddere orationem haben die Loci communes als Bestandteil des

20 Gilson: Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero, l.c., S. 203. Zu Hegels Kritik an Ciceros appellatorischen Berufungen auf die Natur als eines populärphilosophischen Mangels vgl. Mancal, Untersuchungen zum Begriff der Philosophie bei M. Tullius Cicero, l.c., S. 17. Mancal schreibt mit seiner ganzen Untersuchung gegen diese auf Cicero gewendete Perspektive an. 21 Vgl. Gilson, ebenda.

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dialektischen artificium an dieser Strukturierung teil in der Form der amplificatio und des am rechten Ort commune quiddam dicere. Insbesondere aber bewerkstelligen die Loci communes das Geltendmachen der virtutes in der Rede, das in Ciceros Verpflichtung der Eloquenz auf die sapientia (als Einheit von doctrina und virtus) angelegt ist. In diesem Zusammenhang ist nicht der offensichtliche ›Letztappell‹ an die Natur, sondern die ›kulturanthropologische‹ Gründung in ihren Folgen zu bedenken. Also innerhalb des Gefüges rhetorischer Formierungen des Wissens – in einer Formel: copiose, artificiose, natura – die letztere, die sich in Ciceros Entfaltung der leges naturales konkretisiert. Das betrifft Melanchthons Loci-Lehre nicht nur im größeren Kontext der ›kulturanthropologischen Grundauffassung‹ des rhetorischen Humanismus22, sondern instruiert diese Lehre bis in die identisch übernommenen ciceronianischen Grundbegriffe der virtus hinein. Das Fundament dieser fortwirkenden Geltung wird in Ciceros Herleitung der leges naturales klar. Demnach hat die lex ihren einen – Menschen und Götter gleichermaßen verpflichtenden – Grund im Logos. Mit Berufung auf die ratio recta summi Iovis ist die recta ratio auch lex: Diese ›lex‹ ist ebenso die ratio summa, in-sita in natura, quae iubet ea quae facienda sunt, prohibetque contraria: eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et perfecta lex est. Dieses ›facere‹ aber tritt gerade durch die ›virtus‹ auf als das der perfecta et ad summum per-ducta natura.23

Diese Begründung des Naturrechts in der divina mens als der summa lex ist Teil der einheitlichen sapientia, die Cicero in seiner Ursprungserzählung der Eloquenz wie in seinen Erörterungen über die Entstehung des Rechts zur Geltung bringt. Leitendes Kriterium ist die ratio, sie schafft das Gesetz in einer Kulturisation der elementaren menschlichen Natur. Innerhalb des ›kulturanthropologischen‹ Ansatzes bedeutet dies aber auch: der ratio Geltung zu verschaffen

22 Vgl. Apel: Die Idee der Sprache, l.c., S. 275. Apel hat hier die kulturanthropologische Grundauffassung der Sprache im Blick, was aber im rhetorischen Humanismus zwangsläufig die in das Verständnis der eloquentia verflochtene inhaltliche Erschließung der natura hominis mitumfasst. 23 Mancal: Zum Begriff der Philosophie bei Cicero, 1.c., S. 176. Vgl. den ganzen Passus S. 175 ff.

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heißt, dem in der menschlichen Natur Angelegten zu folgen. In diesem Vorgang verschränken sich Ursprung des Rechts und Eloquenz. Die ratio ist besonders gegenwärtig bei den Weisen und im Wissen der philosophia, das heißt aber beim Orator in der Einheit von sapientia und eloquentia. Im Vollzug der ratio verschafft er den leges naturales Geltung, und damit dem, was insita in natura ist.24 Für die Fortwirkung dieses Fundaments in dem, was Melanchthon innerhalb seiner Loci-Lehre als leges naturae fasst,25 ist genauer auf das Verhältnis von lex und virtutes zu blicken. Villey hat in seiner Erörterung der Naturrechtslehre Ciceros – im Hinblick auf Aristoteles zum einen und auf die Stoa zum anderen – nachdrücklich gezeigt, wie Cicero seinen stoischen Lehrern folgt und das Recht mit der gesamten Gesellschaftsmoral gleichsetzt.26 Dem entspricht als Kern des oratorischen Wissens die als ›Psychologie‹ und ›Ethik‹ genauestens zu beherrschende Sittenlehre. Diese Gewichtung trägt sich fort in Melanchthons Gründung der Loci communes in den res humanae omnes und den daraus insbesondere entfalteten Tugenden und Lastern. Nahezu unverändert schreibt Melanchthon die vier ciceronianischen Grund-

24 Vgl. Michel Villey: »Rückkehr zur Rechtsphilosophie«, in: Das neue Cicerobild, l.c., S. 259-303, S. 284 f. Villey macht besonders auf den Status theoretischer Erklärungen der Rechtsentstehung in den Überlegungen Ciceros aufmerksam. Auf dieser Ebene aber ist die Bedeutung der Begriffe eindeutig so zu verstehen, dass »unsere moralischen und juristischen Regeln von der Natur stammen, aus dem Logos: Natura initium iuris. Oder, um eine üblich gewordene Metapher zu gebrauchen, sie ist ihre Quelle: fons iuris. Cicero ist der Urheber dieser Metapher, wenn er sie nicht seinen griechischen Vorbildern entlehnt hat, und wir müssen sie bei ihm wörtlich auffassen: das Recht rührt aus dem Logos her, dem alle Ordnung der Dinge entstammt; zum Logos muss man zurückgehen, will man seinen Ursprung entdecken. In diesem Sinne darf man von natura ius est sprechen, wie Cicero es tut. – ›Ex natura ortum est ius‹«. (S. 273) Vgl. zu Ciceros philosophischer Begründung des Rechts als »exigences de la nature« auch Alain Michel: Les rapports de la rhétorique et de la philosophie dans l’oeuvre de Cicéron. Paris 1960, S. 520 f. 25 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., E 8r. 26 Das ist aus anderer Sicht das von Mancal festgehaltene Verständnis Ciceros vom facere der lex durch die virtus. Vgl. dazu Cicero: De legibus I,25.

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begriffe der virtus (prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia) seinen Beispiellisten von Loci communes ein: Voco igitur locos communes formas rerum […] virtutem, prudentiam, iustitiam, liberalitatem, temperantiam: et his contraria […].27

Melanchthon führt in dieser Darlegung der Loci-Lehre den Zusammenhang von ratio und lex und vom ›facere‹ der lex durch die virtus (als perfecta et ad summum perducta natura) nicht aus. Aber auch in seiner kurzen Argumentation sind die Loci communes der Tugenden und Laster als regulae der Lebensführung hervorgegangen ex intimis naturae sedibus. So gegründet, sind sie die überzeugenden leges naturae und haben innerhalb der Rhetorik an deren Verpflichtung auf die sapientia teil. Was schon in der Rhetorik von 1519 angelegt ist, hat eine darüber hinausgehende Tragweite. Melanchthon hat das im Verhältnis von lex und virtutes und insbesondere in der Sittenlehre als ›Psychologie‹ und ›Ethik‹ liegende Interesse an einer Erschließung der natura hominis über das humanistische Reformprogramm hinaus entschieden festgehalten. Auch das von ihm in den »Loci communes theologici« entwickelte reformatorische Paulusverständnis ist als Theologie weitgehend eine ›psychologische‹ Entdeckung und Erkenntnis. Sie führt allerdings auf eine ganz andere Einsicht in die natura hominis. Deren Kern ist – wie hier nur gesagt sei – das genau umgekehrte Verhältnis von vis cognitionis und vis affectuum. Im Rahmen der Paulinischen Rechtfertigungslehre gilt für den gefallenen Menschen: vincitur affectu ratio.28 Diese von Melanchthon festgehaltene Erkenntnisperspektive ist aber von Cicero bereits in dem Maße vorgegeben, wie er natura nurmehr als die ›Natur des Menschen‹ begreift. Aus Villeys Sicht auf den juristischen Gehalt der Naturrechtslehre Ciceros ist das ein Versuch, »dem

27 Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., E 2v. 28 Die fortwirkende Bedeutung der Naturrechtslehre für Melanchthon und die Umkehrung in der ›psychologischen‹ Erkenntnis der »Loci communes theologici« pointiert besonders Sperl: Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, l.c., S. 93, S. 100 ff. (Zitat: S. 101). Vgl. zum ganzen Abschnitt auch Clemens Bauer: »Die Naturrechtsvorstellungen des jüngeren Melanchthon«. In: Festschrift für Gerhard Ritter. Tübingen 1950, S. 244-255, besonders S. 247.

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Recht die Theorie der stoischen Moral aufzupfropfen«.29 Obwohl Cicero meint, gleichermaßen auf der Seite von Aristoteles wie der Stoiker zu stehen, bringe er dessen Rechtsherleitungen aus der äußeren Natur (den vorfindlichen und bereits ausgebildeten Ordnungen) nicht zur Geltung. Ciceros theoretische Erklärung der Rechtsentstehung schränkt ›anthropologisch‹ ein: Sie gründet sich auf den in der menschlichen Natur angelegten Schritt zur ratio, der in den Weisen als recta ratio verbindlich wird und jene Kulturisation bewirkt, in deren Zentrum der Orator steht.30

2. B EGRÜNDUNG UND F UNKTION DER L OCI COMMUNES IN M ELANCHTHONS R HETORIK VON 1519 Die Loci communes sind fester Bestandteil der rhetorischen Tradition seit der Antike. Melanchthon führt sie in der für sein humanistisches Reformprogramm zentralen Rhetorik von 151931 nicht nur immer wieder an, er gewichtet sie auch zusätzlich durch Abhandlung in einem eigenen Kapitel. Terminologisch gibt es dafür eine klare Traditionslinie, komplex ist dagegen das sich wandelnde Sachverständnis. Die aristotelische Rhetorik enthält bereits in generellen Verwendungen den Terminus topoi koinoi. 32 Die rhetorischen Lehrschriften von Cicero

29 Villey: Rückkehr zur Rechtsphilosophie, l.c., S. 286. 30 Vgl. Villey: Rückkehr zur Rechtsphilosophie, l.c., S. 285, 291. 31 Philippi Melanchthonis: De rhetorica libri tres. Wittenbergi 1519. (Exemplar der Universitätsbibliothek Düsseldorf. Druck: Argentorati MDXXIII.) 32 Vgl. dazu Alain Michel: Les rapports de la rhétorique et de la philosophie dans l’œuvre de Cicéron, l.c., S. 205 ff. Michel weist darauf hin, dass die »idées générales et douteuses«, die Grundlage des auf alle möglichen Umstände beziehbaren rhetorischen Argumentierens, für Aristoteles in zweifacher Form gegeben sind. Einmal sind sie den anderen Disziplinen entlehnt, die sich in bestimmten Fällen auf derartige »idées générales« beziehen. Dieser Typus von Locus communis heißt eidos. Zum anderen können diese »idées générales« aber auch rein dialektischen Charakter haben (wie das Große und das Kleine, das Mehr und Minder etc.). Diese allgemeinen Hauptgesichtspunkte dialektischer und rhetorischer Argumentation heißen topoi koinoi. Sie werden in der aristotelischen Rhetorik im zweiten Buch

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und Quintilian weisen dagegen vielfache Einzelbestimmungen aus, mit denen die Loci communes für spezifische rhetorische Verfahren und Funktionen in Gebrauch genommen werden. Von einer abgehobenen Lehre – wie sie von Melanchthon formuliert wird – kann keine Rede sein. Gleichwohl zeigen sich in den Bestimmungen von Cicero und Quintilian (mit vielfachen Überschneidungen zwischen den einzelnen Schriften) prägnante Richtungnahmen im Verständnis der Loci communes. Im Grundsatz formiert sich das Besondere der Loci, die als communes fungieren, im rhetorischen Regelwerk der antiken Autoren nach Gesichtspunkten des Hinausgehens über den inhaltlich spezifischen einzelnen Fall. Vor allem Cicero gibt vielfältige und genaue Modalitäten des generatim Sprechens in der Form von Loci communes vor. Es wird sich zeigen, dass und wie für Melanchthons Lehre ganz bestimmte Dispositionen dieser Bestimmungen zur Geltung kommen. 33 Zunächst elementar gesagt, sind dies die Grundgedanken des Absehens vom spezifischen einzelnen Fall (das führt letztlich auf die Loci communes als die übergeordneten Sachbegriffe) und der Verwendung von Loci communes als Amplifikation (das trägt sich aus in der mit der Loci-Lehre verbundenen Wissensfigur der accumulatio copiosa). Ohne

ab Kapitel 22 ff. dargelegt. Insgesamt bewirkt dieses Vorgehen von Aristoteles: »Ce faisant, il rattache la rhétorique à l’art de la discussion, la philosophie à la recherche de la vérité. Il la soustrait à l’arbitraire des technologues. Les lieux communs, chez lui, sont une technique de la rigueur intellectuelle et non un ensemble de recettes passe-partout«. (S. 206). Vgl. dazu auch E. Thionville: De la théorie des lieux communs dans les Topiques d’Aristote et des principales modifications qu’elle a subie jusqu’à nos jours. Paris 1855. 33 Vgl. als Überblick zur Begriffsentwicklung bis in die Neuzeit hinein die orientierende Untersuchung von Edgar Mertner: »Topos und Commonplace«. In: Strena Anglica. Otto Ritter zum 60. Geburtstag, hg. von Gerhard Dietrich und Fritz W. Schulze. Halle 1956, S. 178-224. Weiter in das Belegmaterial der antiken Rhetorikschriften als die folgende Klärung der Dispositionen für Melanchthon greift die Studie von Berthold Emrich aus: »Topik und Topoi«. Deutschunterricht 18 (1966), S. 15-46. Emrich führt so das ganze widersprüchliche Spektrum der Ansätze, Leistungen und Funktionen insbesondere auch der Loci communes vor. Vgl. vor allem S. 39 ff.

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Belang für Melanchthons Lehre bleiben dagegen die genauen Modalitäten im Procedere der Gerichtsrede oder die einzelnen Gesichtspunkte des aptum und ornatus. Auch der Wirkungsaspekt, der für Cicero etwa bei der Verwendung von Loci communes in der indignatio und conquestio ganz im Vordergrund steht, ist kein Anknüpfungspunkt. Bezeichnenderweise sind Ciceros Erörterungen zu diesen Abschnitten der Rede, die privilegiert dem Gewinnen von oratorischem Glanz und oratorischer Wirkung dienen, Disposition für Melanchthon aber in den mit ihnen verbundenen inhaltlichen Registern. Diese Register verdienen eigene Aufmerksamkeit für die in Melanchthons Loci-Lehre inkorporierte Ethik. Ciceros ausführlichste Abhandlung von indignatio und conquestio zeigt, in welchem Maße dabei die Sachverhalte der im sozialen Gemeinschaftsleben geheiligten oder üblichen Verhaltensgepflogenheiten durchlaufen werden. 34 Communes sind die Loci hier in dem Sinne, dass sie sich bewertend auf das richten, was im sozialen Gemeinschaftsleben die übliche Regel ist. Das überschneidet sich mit dem von Quintilian so entschieden für die Loci communes abgehobenen Feld des laudare und vituperare, bezieht aber weiter gefasst auch die Wechselfälle der menschlichen Existenz ein. So ist hier schon jenes umfassende Feld für die Loci communes angesprochen, das Melanchthon in seiner rhetorischen Grundlegung der Loci-Lehre von 1519 als die res humanae omnes zur Geltung bringt. Allerdings wird dabei eine Wendung vollzogen. Für die Gliederung der res humanae omnes geht Melanchthon von den Einteilungen der Philosophen aus und knüpft an die Loci communes als thesis an; also an die disputationes de universo genere, die über jedes Thema pro und contra zu führen sind. Melanchthon nimmt dabei jedoch nicht den konstitutiven Disputationscharakter auf, sondern gibt den Loci communes ein festes Statut als formae und regulae.

34 Vgl. Mertner: Topos und Commonplace, l.c., S. 188 ff. Mertner legt Ciceros Ausführungen zur indignatio und conquestio so aus, dass die Loci communes hier nicht mehr so sehr als Fundorte für Argumente, sondern als ›allgemeine Erwägungen‹ zu verstehen sind, und sieht darin den Ausgangspunkt für die spätere allgemeine Bedeutung von ›commonplace‹. Allerdings sagt Cicero in der Einleitung seiner Ausführungen ausdrücklich, dass hier alle Loci der Beweisführung Anwendung finden können (De inventione I 53, 100).

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Diese Gewichtungen und Interpretationen gegenüber den Bestimmungen zu den Loci communes in den antiken Lehrschriften führen bereits auf die Richtung der Loci-Lehre im humanistischen Reformprogramm Melanchthons. Sie klären aber noch nicht die gedankliche Strukturierung der Lehre und das substanziell mit ihr Beabsichtigte. Melanchthon nimmt dafür die rhetorische Überlieferung unter bestimmten Bedingungen (deren allgemeinste seine Stellung gegen die Scholastik ist) und mit besonderen Zielsetzungen (deren prägnanteste das Lehren und Lernen in den Wissenschaften ist) in Gebrauch. Seine Rhetorik von 1519 stellt in dieser Absicht das Regelwerk der Rhetorik noch einmal und erneut in einem Lehrbuch zusammen. Die Loci communes sind wie in den antiken Lehrschriften in dieses ganze Regelwerk eingelassen und werden zugleich schon als eine daraus abgehobene Lehre von besonderem Rang erörtert. Was sich mit der LociLehre als Konzeptualisierung des Wissens von epochaler Wirkung austrägt, hat den Ausgangspunkt seiner Legitimation in diesen innerrhetorischen Begründungen. Hier erschließt sich das zum ›Universalschlüssel‹ befähigende Statut, das Melanchthon den Loci communes bereits mit dieser frühen Schrift gegeben hat. Widmung des Rhetorik-Lehrbuches an Bernhard Maurus Die folgende Erörterung muss eine detaillierte Rekonstruktion dieser Form des rhetorischen Humanismus zumuten, um Sinn und Bedeutung der Loci-Lehre fundiert zu klären und den Blick zu öffnen für die womöglich gegebenen Anknüpfungspunkte noch für die heutige Humanismus-Debatte. Erste Orientierung schafft die Widmung des Rhetorik-Lehrbuches an Bernhard Maurus. In ihr werden dessen Ziele einleitend entwickelt in einer Invektive gegen die vorherrschend gewordenen impuras literas.35 Verpflichtendes Vorbild für die angestrebte Erneuerung ist der einst übliche Gebrauch, die Jugend durch rhetorische Übungen zu aller Art von Studien in Stand zu setzen. Dass diese Tradition abgerissen ist, rechnet Melanchthon einer Fehlentwicklung der Dialektik zu. Die recht verstandene Dialektik aber gilt ihm als Anfang aller Studien. Ohne sie ist sein Anliegen – die accessio bonis studiis –

35 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., A 1v: Nam crede mihi, alia est literarum ratio, qua ingenium, qua mores, qua rerum communium sensum erudias.

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nicht zu verwirklichen.36 In diesem Kontext ist auch gleich von den Loci communes die Rede. Inhaltlich werden Grundsachverhalte des menschlichen Lebens (communes causae) angeführt, auf die der Heranwachsende zu leiten ist, indem er in seinen Studien Loci communes bearbeitet. Dies aber erst, nachdem die Fundamente des Umgangs mit der Dialektik gelegt sind.37 Nicht abgehoben, sondern im Kontext des dialektischen Könnens werden so im Vorwort bereits die Wendung ad communes causas und die dafür einschlägigen Loci communes artikuliert. Damit ist der Loci-Lehre ihr programmatischer Ort im rhetorischen Reformprogramm Melanchthons zugewiesen, d.h. insbesondere: der Loci-Lehre in ihrem erkenntnismethodischen Statut. Gleich anschließend führt Melanchthon aus, welche Stellung die Loci communes so für die wissenschaftliche Erkenntnis im Umgang mit den Texten erhalten sollen. Ihre zukünftige Aufgabe ist es, einen geordneten und unterrichteten Geist für die höchsten Wissenschaften hervorzubringen. Man muss sie aufgezeichnet in manibus habere, um über die Schriften anderer richtig und gut urteilen und sie Erkenntnis fördernd kommentieren zu können.38 Schon in der Widmung leitet also die Wendung ad communes causas zur methodus in den Studien. Einmal hat das seine arbeitspraktische Seite: das in manibus habere ist eine Form des in promptu habere. Vor allem aber erfährt die LociLehre so ihre Begründung im Kontext disziplinärer Erkenntnisverfahren. Das heißt in dem Teil der Rhetorik, der die Loci communes im Zusammenhang der dialektischen ratio erörtert und dann im Einzelnen sie als Bestandteil der Texterschließung in den literis vorführt. Diese Bestimmungen zu den Loci communes werden expliziert in dem ad docendum gerichteten Teil des genus demonstrativum, das Melanchthon besonders gewichtet.39

36 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., A 2r: Rhetoribus successerunt, qui iuventutem dialecticis illis inconditis, ut modeste dicam, imbuunt. Und: Ac nisi me fallit opinio mea, ex dialectica pendent omnia, quae ut sunt initia studiorum, reliqua ex suo modo temperant. 37 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., A 3v: omnio ad communes causas perducendum adolescentem censeo. In his locos communes, vitiorum, virtutum, fortunae, mortis, divitiarum, litterarum et similes exerceat. 38 Vgl. ebenda. 39 Melanchthon stellt für das genus demonstrativum heraus, dass sich an ihm die wesentlichen Fragen für alle drei genera dicendi darlegen lassen. Hier

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Die Loci communes im genus demostrativum Das dort Entwickelte ist grundlegend für den zentralen Gebrauch der Loci communes zum Lehren und Lernen in den Wissenschaften. Es ist als methodus aber nur Teil der Loci-Lehre in deren Repräsentanz für Melanchthons rhetorischen Humanismus. Diese Gesamtkonzeption verdient über die Zeitgebundenheit der Loci-Lehre hinaus besondere Beachtung. Das gilt insbesondere für den dabei hergestellten Kontext der Loci communes in den res humanae omnes in Korrespondenz zur »kulturanthropologischen Grundauffassung« des rhetorischen Humanismus. Diese Gesamtkonzeption bringt Melanchthon in dem auf Lob und Tadel gerichteten Teil des genus demonstrativum zur Geltung und ist, bevor die Loci communes als methodus Thema sein sollen, zunächst zu erörtern. Melanchthon formuliert hier einen eigenen Abschnitt de locis communibus, der nach einer Grundlegung beispielhaft-praktische Anweisungen zum Gebrauch dieser Loci enthält und abschließend den besonderen Anspruch und die universelle Geltung der Loci-Lehre festschreibt.40 Diese bündigen Formulierungen sind beim Wort zu nehmen als der für Melanchthon von Beginn an unstrittige Kern der Loci communes, das ganze Wissen in seinen gegliederten Ordnungen zu fassen. Das begriffliche Gerüst dieser Passage ist aber auch in die Vorgaben der für Melanchthon autoritativen Texte und Autoren hineinzustellen. Allerdings nicht als Regress möglichst genauer Herkunftsbestimmungen durch die vielfach aufeinander Bezug nehmenden Texte hindurch. Diese Vorgaben sollen hier nur so weit skizziert werden, dass der von Melanchthon eingeschlagene Weg beurteilbar wird.41 Zunächst jedoch Melanchthons bündige Bestimmungen.

ist also schon der ganze Bereich der inventio und der iudicandi ratio abzuhandeln. Damit aber auch die Grundlage für den rechten Umgang mit den Texten und für die Handhabung der (in diesem Gedankengang ausdrücklich unmittelbar angeschlossenen und zugleich abgehobenen) causae communes (vgl. A 6r). 40 Dieser Abschnitt hat im genus demonstrativum mit dessen doppelter Ausrichtung (ad docendum und in laude et vituperio) seinen Ort im Anschluss an die auf Lob und Tadel gerichtete Erörterung und stellt die Loci communes hier in den Kontext der res humanae omnes. 41 Für die Probleme der Herkunftsbestimmungen vgl. Karl Bullemer: Quellenkritische Untersuchungen zum 1. Buch der Rhetorik Melanchthons.

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Was Melanchthon der Loci-Lehre zumisst, wird in dem abgehobenen kurzen Abschnitt de locis communibus in einem überblickenden Entwurf festgelegt. Die Passage geht als Grundlegung der Loci-Lehre von der von den Philosophen geübten Ordnung aller menschlichen Dinge in formas quasdam vivendi aus. Diese etlichen Grundsachverhalte (quasdam formas) führt Melanchthon in dreifacher Einteilung auf: • • •

von Natur aus gegebene Sachverhalte (wie Leben, Tod und forma) durch Zufall und Glücksumstände (fortuna) gegebene Sachverhalte (wie Reichtum, Geburtsstand, Ehrenstellung) in der Hand des Menschen (in nostra potestate) liegende Sachverhalte (wie Tugenden und Laster)

So wie in diesem Bereich der res humanae omnes pflege man aber auch das in den Wissenschaften Abgehandelte auf gewisse capita zu beziehen (Melanchthon führt Beispiele aus Theologie und Jurisprudenz an). Die Argumentation wird im Folgenden methodisch im Sinne einer ratio ausgerichtet, indem für das Beziehen der Einzeltatsachen auf die capita ein dreifacher Gewinn geltend gemacht wird: •

• •

für das rechte Urteil de rebus humanibus muss, was sich auf gut Glück regellos ereignet, auf diese formas rerum hin untersucht werden wer in den Studien recht urteilen will, muss tales locos in numerato habere darüber hinaus helfen diese formae rerum außerordentlich dem Gedächtnis und so der Aneignung des Wissens

In diesem grundlegenden Teil des Abschnitts de locis communibus (es folgt ein praktisch-beispielhaft im Gebrauch der Loci communes anweisender Teil) ist vielfach, aber unexpliziert von forma die Rede. Dieser für Melanchthons Loci-Lehre zentrale Begriff bedarf einer Erläuterung. Wie gerade angeführt, fasst Melanchthon die Loci communes in der Herleitung von den res humanae omnes als die formae vivendi. Für

Würzburg 1902. Vgl. zu den folgenden Textstellen aus dem Abschnitt de locis communibus zunächst Melanchthon: De rhetorica libri tres, 1.c., E 2.

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den Gebrauch in den Wissenschaften werden sie prädiziert als die formae rerum. Wie unmittelbar forma strukturierende Erkenntniskategorie ist, zeigt sich, wenn Melanchthon innerhalb der Dreiergliederung der res humanae omnes in der Reihe der elementaren Naturtatsachen aufführt: vita, mors, forma. So also mit forma die gegebene grundlegende Verhaltensdisposition der Menschen bezeichnet. Damit kommt bereits das insgesamt sehr breite Bedeutungsspektrum von forma in den Blick, mit dessen weitreichendem und vielfältigem Kontext. Etwa in dem – neben den Berufungen Melanchthons auf Aristoteles – von Beginn an gegebenen Traditionszusammenhang mit Plato. Der für Melanchthon aber auch, enger und unmittelbarer auf die Rhetorik bezogen, in den Schriften Ciceros vorgegeben war. Dieses begriffsgeschichtliche Geflecht soll hier nicht rekonstruiert werden. Zumal dies auch für Melanchthon auf die bekannten Schwierigkeiten humanistischer Ingebrauchnahme der philosophischen Tradition trifft: In der Wendung zu Fragen der praktischen Lebensführung unterliegen die philosophischen Lehrmeinungen einem Synkretismus ohne die Ambition strenger theoretischer Darlegung.42 Festgehalten werden kann aber, dass Melanchthon den forma-Begriff für seine Zwecke zu einem universell anwendbaren Instrument gegliederter Ordnung der Sachverhalte gemacht hat. Wie ja beispielsweise Aristoteles (in der Wendung gegen Plato mit dem Ansatzpunkt der Form-Materie-Problematik in der »Physik«) schon ein vielfältig auslegbares theoretisches Feld eröffnet hat: »he made the concept of form into a powerful, flexible and universally applicable explanatory tool«.43 Melanchthon geht es mit dem Berufen der forma um die Legi-

42 Vgl. dafür Quellenbelege in Rüdiger Landfester: Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972, S. 70 ff. 43 Norma E. Emerton: The scientific Reinterpretation of Form. Ithaca u.a. 1984, S. 48. Vgl. zur Problematik des forma-Begriffs auch C. v. Bormann/ W. Franzen/A. Krapiec/L. Oeing-Hanhoff: »Form und Materie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter. Band II. Basel/Stuttgart 1972, S. 977-1030. Vgl. insbesondere, wie erst mit Aristoteles die Bedeutungen von eidos und idea (im Gegensatz zu Platon) so auseinander treten, dass eidos zum Teil des Begriffspaars Form-Materie wird (S. 978). Natürlich hat der Formbegriff in diesem Zusammenhang eine distinktere kategoriale Ausrichtung als in Melanchthons nivellierender Ver-

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timation der mit der Loci-Lehre verfügbar werdenden Ordnungsstruktur. Die mit dem forma-Begriff ihre generelle Rechtfertigung als ein Erkenntnisinstrument hat, das in Adäquanz zu dem natura Vorgegebenen steht. In rhetorischer Argumentation: als das ex intimis naturae sedibus Erschlossene. Mit Bezug darauf geht Melanchthons Loci-Lehre von den Grundsachverhalten und den ganzen Umständen der menschlichen Lebenswelt aus. Deren Gliederung nach den formae vivendi wird zugleich als Methode der Urteilsbildung wie der Stoffaneignung nach den formae rerum im Procedere der Studien verbindlich gemacht. Der beide Bereiche übergreifende Terminus ist der der Loci communes, wie in diesem Falle einmal im ausführlicheren Zitat auch der einschlägigen Sachverhalte zur Anschauung gebracht sei: Voco igitur locos communes formas rerum, quae fere in usum rerum humanarum et literarum cadunt, ut fortunam, opes, honores, vitam, mortem, virtutem, prudentiam, iustitiam, liberalitatem, temperantiam: et his contraria, paupertatem, ignominiam, exilium, temeritatem, iniustitiam, sordes, intemperantiam, seu luxum.44

wendung. Für Melanchthons festschreibenden Gebrauch von forma (wie in den formae vivendi und der ganz selbstverständlichen Prädizierung der Loci communes als formae rerum) ließe sich auch auf eine Bestimmungsrichtung von forma hinweisen, die Aristoteles (obwohl für ihn das Allgemeine nicht außerhalb oder neben den Einzeldingen existiert) mit Platon teilt. Durch das eidos ist das Einzelding was es ist in seinem ursprünglichen Wesen: »Die Form ist also ousia nicht im Sinne der selbständigen Einzelsubstanz, sondern als dasjenige, was das Wesen eines Dinges konstituiert und aufgrund dessen ein jedes ist, was es ist«. (S. 981). Hier wird die Form also als Wesensbegriff eines jeden Dinges verstanden. Das ist nicht identisch mit Melanchthons einerseits von den Philosophen übernommenem, andererseits rhetorisch entwickeltem Verständnis der Loci communes als formae. Ganz eindeutig zielt aber auch Melanchthon mit dem Grundgedanken von der Adäquanz des Erkannten zum natura Gegebenen auf das, was die Dinge ihrem ursprünglichen Wesen nach sind. 44 Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., E 2r. Die in CR XX, S. 695 f. abgedruckte Textfassung (aus einem Sammelband, der zuerst Basel 1531 erschienen ist) formuliert an dieser Stelle etwas anders, indem zuerst der alles umfassende Geltungsbereich der Loci communes hervorgehoben und

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Die so weit im eigenen Abschnitt de locis communibus vollzogene Grundlegung der Loci-Lehre wirft offensichtlich Fragen auf. Vor allem: Wie das Zitat demonstriert, sind die Loci communes als inhaltliche Register ausgewiesen, genauso und zugleich sollen sie aber in methodischer Funktion zur Erkenntnis führen. Und vorab: Wie können Loci communes gewonnen und aufgestellt werden? Darüber unterrichtet Melanchthon im praktisch-beispielhaft zum Gebrauch der Loci communes anweisenden Teil des Abschnitts de locis communibus. Hier wird – im Erasmus-Zitat – ein doppeltes Register der Loci communes angeführt: die vitia ac virtutes und die in rebus mortalium praecipua, die durch natura, fortuna, fatum belegt werden. Melanchthon stützt sich hier auf die aktuelle zeitgenössische Diskussion, indem die am besten unterweisende Literatur angeführt wird (Agricolas »De ratione studii« und die erasmische Schrift »De copia«). Erläutert wird das Verfahren im Aufstellen der Loci communes, unmittelbar fasslich gemacht durch Beispielausführungen. Diese ganze Erörterung folgt weitgehend – und unmittelbar zitierend – Erasmus. So auch in der grundlegenden Verfahrensanweisung zum Aufstellen der Loci communes. Es erfolgt: […] iuxta rationem affinitatis et pugnantiae. Nam et quae inter se cognata sunt, ultro admonent quid consequatur, et contraiorum est eadem memoria.45

Melanchthon folgt also dem von Erasmus in die Terminologie von affinitas/pugnantia bzw. cognata/contraria gefassten Durchlaufen der Sachverhalte. Erasmus hatte das genauer ausgeführt als Entfaltung zunächst des innerhalb derselben Reihe Benachbarten, dessen ›Affinität‹ ebenso in der Natur der Dinge selbst gründet wie das ihm Widerstrebende. So offensichtlich wie der inhaltliche Umriss der res humanae omnes hat dieses Verfahren seine hier nicht auszubreitenden rhetorikgeschichtlichen Vorformulierungen.46

sie als communes formae bestimmt werden. Dann wird eine Beispielliste angeführt, in der die Sachverhalte, die Melanchthon in der Dreiteilung der res humanae omnes vorbringt, um eine Reihe von Tugenden und Lastern erweitert und mit ihnen in eine Reihe gestellt sind. 45 Melanchthon: De rhetorica libri tres, 1.c., E 2v. 46 Dazu nur zwei Hinweise. Einmal verfährt Aristoteles in seiner Erörterung der Affekte ganz selbstverständlich in derart gliedernder Gegenüberstel-

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Hervorzuheben ist aber an diesem Verfahren zum Aufstellen der Loci communes ein für Verständnis und Tragweite der Loci-Lehre innerhalb des rhetorischen Humanismus zentraler Umstand. Die gegliederte Ordnung der Loci communes, die so gewonnen wird, ist zwar durch die Sachverhalte selbst vorgegeben, gleichwohl ist sie nicht offenbar. In der abschließenden Rückwendung des Abschnitts de locis communibus (über den praktisch anweisenden Teil hinweg) auf die Grundlegung am Beginn der Erörterung macht Melanchthon das so ansetzende Statut der Loci-Lehre ganz klar. Resümierend werden die Loci communes in das Licht zutiefst in der natürlichen Beschaffenheit der Dinge verwurzelter Grundtatsachen der Erkenntnis und des Verhaltens gerückt. Dementsprechend können sie – wie dieser Resultativ-

lung: Zorn und die ihm gegenüberstehende Sanftmut, Freundschaft und Liebe mit ihrem Gegenteil Feindschaft und Hass etc. (Rhetorik, l.c., S. 91, 97). Das sind die den Affekten gleichsam ›natürlich‹ innewohnenden Konstellationen, für die auf den umfassenderen Hintergrund der Naturordnung gemäß affinitas und pugnantia zu verweisen ist. (Zu der von Aristoteles über die Rhetorik hinaus entwickelten Analyse dessen, was sich gegensätzlich verhält, vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1980, S. 249 ff.) Für den zweiten Hinweis auf die Fundierung dieses Gliederungsverfahrens in der Dialektik ist Ciceros »Topica« besonders anschaulich. Cicero beginnt seine Darlegung des dialektischen Locus e contrario mit den Sachverhalten, die zu demselben Genus gehören (in eodem genere), sich aber in höchstem Maße unterscheiden (wie etwa sapientia und stultitia). Das ist genau das erasmische Filiationsprinzip: Nachbarschaft durch Zugehörigkeit zum selben Genus und Zuordnung aufeinander durch kontradiktorische Differenz. Die weiteren von Cicero ausgeführten Formen des Locus e contrario wenden sich dann nicht mehr unmittelbar auf die mit den Sachgehalten der Dinge gegebenen Oppositionsbeziehungen. So wenn in den privantia ein Wort durch das Präfix ›in‹ seine eigentliche Kraft und Bedeutung verliert (wie etwa im Fall dignitas/indignitas). Oder wenn allgemeine Vergleichsfragen gestellt werden (duplum/simplum, multa/pauca, longum/ breve, maius/minus) oder in den negantia der gegenseitige Ausschluss geprüft wird (etwa: Si hoc est, illud non est). Hier geht es dann also ›abstrakter‹ um das diszipliniert richtige Finden der als Argument verwendbaren Oppositionsbeziehungen: Tantum intelligatur, in argumento quaerendo contrariis omnibus contraria non convenire (Topica 11.47-49).

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satz festhält – nicht erfunden werden (confingi), sondern sind das Ergebnis besonders tief grabenden Invenierens: Neque vero putes eos temere confingi, ex intimis naturae sedibus eruti, formae sunt seu regulae omnium rerum.47

Für Melanchthon ist es unstrittig, dass die Grundsachverhalte sich nach der Übung der Philosophen als formae vivendi und im jeweiligen Wissen der Disziplinen als formae rerum festlegen lassen, weil sie als Loci communes in dieser Weise nachforschend ermittelt sind. Das der Loci-Lehre im Abschnitt de locis communibus gegebene Statut gründet damit letztlich auf einer angenommenen Adäquanz des von Natur aus Gegebenen mit dem nach der Loci-Lehre Erkannten. Dabei erklärt sich die Doppelbestimmung formae seu regulae in diesem Abschnitt – als Teil des auf Lob und Tadel gerichteten genus demonstrativum – durch eine in diese Grundlegung eingeführte Unterscheidung in Bezug auf die res humanae omnes. Sie gliedern sich in die dem Menschen nicht verfügbaren und die in nostra potestate liegenden. Entsprechend sind die Loci communes für die in unserer Hand liegenden Tugenden und Laster nicht nur formae, sondern als regulae Erkenntnis zum ethisch verantwortlichen Handeln. Damit ist der umfassende Anspruch der Loci-Lehre statuiert: als die Grundsachverhalte gliedernde Ordnung von Erkenntnis und Ethik zugleich. Dies führt bereits auf die epochale Ingebrauchnahme der Loci-Lehre als eine Art ›Universalschlüssel‹ für alles wichtige und nützliche Wissen. Diese Rolle hat die Loci-Lehre aber auch nur spielen können, weil Melanchthon sie zugleich und insbesondere in der dialektischen ratio fundiert hat. Hier ist das genauere erkenntnismethodische Statut ausgewiesen, das sie für die Sachauseinandersetzungen in den Wissenschaften instand setzt. Diese Legitimation als methodus erörtert Melanchthon seiner Wissenschaftsorientierung entsprechend in dem ad docendum gerichteten genus demonstrativum seiner Rhetorik.

47 Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., E 3v.

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Die Loci communes im Kontext der dialektischen Methode Mit den Loci communes innerhalb der dialektischen ratio stellt sich auch die bereits aufgeworfene Frage, wie die Loci communes gleichermaßen inhaltlich fixierte Register und methodisch gegründete Sachverhaltserschließung sein sollen, besonders nachdrücklich. Auf den erkenntnismethodischen Status führt, dass Melanchthon die Loci communes und die communes causae einander zuordnet. Denn von causae ist grundsätzlich zu sprechen, wenn der Rhetor die zu verhandelnde Sache nach bestimmten Gesichtspunkten in der inventio erschließt, das heißt durch die dialektischen Loci. Die Loci communes werden hier also im unmittelbaren Kontext der dialektischen Topik erörtert.48 Die Zielbestimmungen und generellen Anweisungen, die Melanchthon mit der dialektischen ratio für das Lehren und Lernen in den Wissenschaften darlegt, markieren zugleich die Eckpunkte der auch für die Loci communes gültigen dialektischen Sachverhaltserschließung: Die Adäquanz der Erkenntnis zu natura et conditio der jeweiligen Sache; die Gewissheit der Erkenntnis durch Verwendung von certis locis; die Vollständigkeit der Erkenntnis durch Umfassen dessen, was sciri omnino licet.49 Ganz offenkundig tritt diese erkenntnismethodische Seite der Loci communes in eine erklärungsbedürftige Spannung zu deren inhaltlicher Fixierung in den auf die res humanae omnes gerichteten Registern. Man hat versucht, diesen Widerspruch durch Hinweis auf eine »fließende Differenz« zwischen formaler und genereller Allgemeinheit der Loci communes zu erhellen. Demnach wären die im Zusammenhang der dialektischen ratio zu verstehenden Loci (communes) formale, die

48 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., B 6r. Worauf Melanchthon zielt, wird ganz klar in Quintilians Erörterung der ersten rhetorischen Übungen im zweiten Buch der »Institutio oratoria«. Die Loci communes werden hier als Übungsaufgaben für das Loben und Tadeln empfohlen, aber noch ohne dialektische Grundlage. In Melanchthons Ausrichtung ad docendum sind die Loci communes dagegen a primis praeludiis magnorum studiorum in die dialektische ratio eingelassen. 49 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., A 6r seq.

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in den Beispiellisten inhaltlich fixierten aber generelle.50 Auch so gesehen bleibt allerdings eine Widersprüchlichkeit, die Melanchthon nicht zum Thema gemacht hat. Der unvermittelte Übergang zwischen den beiden Formen von Loci communes könnte jedoch erklärbar werden durch einen gemeinsamen substanziellen Hintergrund der ganzen Loci-Lehre. Auch für die im Abschnitt de locis communibus als formae seu regulae festgeschriebenen Loci communes gilt bereits, dass sie ex intimis sedibus naturae ermittelt werden müssen. Gleichermaßen wird mit dem dialektischen Instrumentarium grundsätzlich inveniert gemäß naturam et conditionem cuiusquam rei. Die Adäquanz der Erkenntnis zur in der Natur der Dinge liegenden Beschaffenheit ist die gemeinsame Richtlinie. Sei es in den als inhaltliche Register gefassten res humanae omnes oder in der durch die dialektische ratio zu leistenden Sachverhaltserschließung. Auch in dieser erklärungsbedürftigen Frage scheint also die auf die natura gewendete »kulturanthropologische Grundauffassung« des rhetorischen Humanismus sich in wissenschaftsorientiert methodischer Wendung noch auszutragen. Jedenfalls sichert die Berufung auf das in der Naturbeschaffenheit Vorgegebene die Doppelung von Festschreibung (wie in den formae seu regulae der res humanae omnes) und Erkenntnisprozess (den mit dem dialektischen artificium zu erschließenden causae communes). Gleichwohl hat auch so die methodische Frage nach der einerseits ›inhaltlich‹ und zum anderen ›formal‹ ansetzenden Bestimmung der Loci communes Bestand, die sich für Melanchthon

50 Vgl. Hans Georg Geyer: Von der Geburt des wahren Menschen. Probleme aus den Anfängen der Theologie Melanchthons. Neukirchen-Vluyn 1965, S. 50 f. Nach dieser Auffassung sind die ›formalen‹ Loci »die logischen Befragungshinsichten für jedes zur Diskussion stehende Thema«, die ›generellen‹ Loci richten sich dagegen »nach der materialen Bestimmtheit des anstehenden Themas«. Geyer sucht die Tatsache, dass Melanchthon im unmittelbaren Anschluss an die Bestimmung der Loci communes durch das dialektische artificium abrupt auch von Tugenden, Lastern, Leben und Tod etc. als Loci communes spricht, auf folgende Weise zu erklären: »Dennoch hat dieser Übergang, wenn auch unvermittelt und unbelichtet vollzogen, sein sachliches Recht in dem methodischen Zusammenhang, dass alle generellen loci, also auch diejenigen, die sich auf die ›causae communes‹ beziehen, mittels der formalen loci, welche das dialektische Instrumentarium bilden, gewonnen und entwickelt werden« (S. 51 f.).

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aber offenbar nicht stellt. Dazu mag beigetragen haben, dass die ganze Erörterung der Loci communes innerhalb des dialektischen Instrumentariums ausgerichtet ist auf die Zielsetzung, die er diesem Instrumentarium als artificium docendi gibt. Der Gebrauch der Loci communes für das Erkenntnis und Ethik verbindende Lehren und Lernen in den Wissenschaften formiert den Fragehorizont. Demonstriert ist in Melanchthons Rhetorik damit, dass die durch Loci (communes) zu gewinnende Erkenntnis in Adäquanz zur natura et conditio der jeweiligen Sache steht. In dieser Darlegung der zur Rhetorik gehörigen ratio artificiosa wird das erkenntnismethodische Statut der Loci-Lehre weiterhin ausgewiesen durch Instruktionen zur Verwendung von certis locis, die zuverlässig zu sicherer Erkenntnis führen. Diese Erörterung nimmt die im auf Lob und Tadel gerichteten genus demostrativum ganz selbstverständlich vertretene Filiation der Loci communes gemäß affinitas und pugnantia bzw. cognata und contraria genauer auf. Ersichtlich wird (der Terminologie wie der Sache nach), wie das gleichsam ›natürliche‹ Fortschreiten in der Liste der Loci communes, das Melanchthon im Abschnitt de locis communibus in erasmischer Formulierung anführt, seine methodische Rechtfertigung hat. Die Begründungen dafür haben ihren Ort in den Ausführungen zu den einzelnen inveniendi organa.51 Dort gibt die Erörterung der officia den grundlegenden Aufschluss. Hier geht es um die Kräfte und Wirkungen jeder Sache, die ihr von Natur aus innewohnen.52 Dieser Tatbestand, dass aus den Kräften und Gegenkräften sich aller Wechsel in der Natur ergibt – coeli motus, noctem die, diem nocte mutat – wird im gleichen Gedankengang ebenso auch für die kulturelle Lebenswelt als einer der grundlegenden sacherschließenden Gesichtspunkte angeführt. Beispiel ist die Ordnung des Gemeinschaftslebens durch das Recht.53 Dieser Locus von den officia durchquert also Natur und Kulturwelt, um sie nach den ihnen innewohnenden Konstellationen von Kräften und Gegenkräften zu erschließen. Auch die folgenden Loci erhellen weiter das Verfahren

51 Vgl. zur Liste der inveniendi organa Melanchthon: De rhetorica libri tres, 1.c., A 7r seq. In dieser Reihung finden sich auch: »Quae affinia, Quae contraria«. 52 Vgl. dazu etwa B 3r seq: »Neque enim quicquam in universa natura conditum est, cui non sit insita vis propagandi sui latius«. 53 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, l.c., B 3v.

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gemäß affinitas und pugnantia, nach dem die Loci communes aufgestellt und gegliedert werden.54 Die wesentliche Konsequenz ist das dadurch dem Statut der Loci-Lehre Zugeschriebene. Melanchthon vermerkt gleich eingangs seiner Rhetorik für die affinia et contraria, dass auch sie in den Bereich der dialektischen inventio gehören. Das geschieht im Blick auf ihre allgemeinere Gebrauchsweise auch außerhalb der dialektischen ratio. Für die Filiation der Loci communes gemäß affinitas und pugnantia heißt diese Zuweisung, sie eigens dem Anspruch dialektischer Sachverhaltserschließung einzurücken. Melanchthon stellt klar: Was Erasmus (in »De copia«) für die affinia et contraria in Bezug auf die rhetorische Elocutio gezeigt hätte, würde von ihm als methodus, das heißt in den Belangen ad inveniendum erörtert. So hat auch diese Seite der Loci-Lehre (über das in anderen Kontexten zum arbeitspraktischen Hinweis verkürzte Aufstellen und Gliedern der Loci communes hinaus) ihren methodischen Hintergrund in der ratio artificiosa. Wie sehr das im selbstverständlich werdenden und vielfach umstandslosen zeitgenössischen Gebrauch der Loci communes verblassen mag, in Geltung ist die Loci-Lehre als stets anwendbares ›praktisches‹ Instrument, weil sie diese erkenntnismethodische Legitimation hat. Die weitere generelle Anweisung Melanchthons zum artificium docendi, dass der Sachverhaltserschließung nicht entgehen darf, quicquid sciri omnino licet, soll hier nur kurz angezeigt werden. Es muss also alles Wissen erhoben werden, das als natura et conditio in der Form von certis locis zur Aufgabe steht. Was auch immer thematisiert wird, ist in einer ratio, die universa, artificiosa et compendiaria zu sein hat, zu untersuchen und zu prüfen. Nicht die im Kontext des arti-

54 Durch den locus comparatio specierum, der aus dem voranstehenden der officia erwächst, wird erfasst, quid conveniant et quid discrepent (B 4r). Es geht hier um idem et diversum; das heißt um das, was in der Definition übereinstimmt, in Teilen von ihr, in den officiis übereinkommt etc. An dieses für die ganze Lehre von der Topik grundlegende Verfahren (ex comparatione specierum universa oritur) schließt Melanchthon als letzten Locus seiner Aufstellung der inveniendi organa die affinia et contraria. Sie seien ex comparatione specierum leicht zu erfassen und führen auf die Zusammenhänge und Gruppierungen innerhalb der vielen species. Das entspricht offensichtlich dem Vorgehen für das Aufstellen und Gliedern der Loci communes.

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ficium docendi selbstverständliche Forderung nach ›Kunstfertigkeit‹, sondern die nach einem ›umfassenden‹ und zugleich nach einem ›abgekürzten‹ Verfahren ist hier bemerkenswert. Das steht im Kontext von Melanchthons bewusster Vereinfachung – als Wendung gegen die scholastische Fehlentwicklung der Dialektik – auf das ihm wesentlich Erscheinende hin. 55 Das entspricht zugleich den mit der Loci-Lehre immer auch verbundenen ›arbeitspraktischen‹ Überlegungen Melanchthons. Das heißt, mit der Sachverhaltserschließung nach den Loci sogleich alles zur Sache Anführbare in promptu habere. Gerade die Loci communes, die bereits in der antiken Rhetorik insbesondere in der Amplifikation Verwendung finden, erscheinen geeignet für das copiosam reddere der thematischen Inhalte wie für eine ratio, die zugleich compendiaria sein soll. Das hat in den Bücherformen und Texten der Zeit zur Wissensfigur der accumulatio copiosa geführt. Melanchthon weist mit seiner Loci-Lehre dazu an, als ›arbeitspraktische‹ Seite aber nur der eigentlichen Funktion des recte iudicare in den Wissenschaften. Und hier, in der für Melanchthons humanistisches Reformprogramm entscheidenden accessio bonis studiis, findet die umfassende Inschrift der Loci communes in den Wissenshorizont der Zeit statt. Melanchthon entwickelt, dass und wie sie in den Texten gegeben sind und auf die innertextuelle Strukturierung führen. Das wird schlüssig, indem die Schriften in einer von der Rhetorik angeleiteten Texthermeneutik erschlossen werden und die Loci communes dabei das sachliche Wissen der Texte in sich aufnehmen. Melanchthon arbeitet diese Seite der Loci-Lehre aus in Entsprechung zu seiner Gewichtung des ad docendum gerichteten genus demonstrativum, das er auch als didacticon seu dialecticum apostrophiert. Das aptum scholis ist der leitende Gesichtspunkt. An die Erörterung der inveniendi organa schließt Melanchthon demgemäß eine kleine Methodenlehre des wissenschaftlichen Arbeitens mit Texten. In diesen Ausführungen wird klar, wie Melanchthon die Loci communes und ihren Gebrauch sowohl in der Aneignung wie für das Verfassen von Texten im Einzelnen verstanden wissen will.

55 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, 1.c., A 7v. Besonders deutlich wird die Absicht der ›Bereinigung‹ in dem Teil der Erörterung ausgesprochen, der sich innerhalb des ad docendum gerichteten genus demonstrativum auf die diffizileren Formen der causae compositae wendet (vgl. C 7r).

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Inhärenz der Loci communes in den Sachproblemen der Texte Diese ratio des rechten Umgangs mit den Texten lässt genauer erkennen, wie die Loci communes sich den Sachproblemen der Disziplinen als ihnen zugehörig einschreiben. Das geschieht also an der Quelle dieser Sachprobleme, den in einer reduplizierten Rhetorik gelesenen Texten. Indem die rhetorische ratio der jeweiligen Textform der grundlegende Weg zur ihrerseits rhetorisch angeleiteten Interpretation ist, sind auch die Loci communes in den Texten vorfindliche Sachverhalte und Schlüssel zur Textauslegung zugleich. Wie Melanchthon das entwickelt, soll hier nicht durchlaufen, aber wenigstens an einem Beispiel – seinen Erläuterungen zum Locus communis von der Sünde – kenntlich werden. Übergeordneter Gesichtspunkt ist hier die allegorische Interpretation (enarratio allegorica), der Textform nach eine der biblischen Geschichten, die historia Kains. Melanchthon sieht den Locus communis von der Sünde aus dem Sachgehalt der historia Kains hervorgehen und zugleich deren rechte Auslegung gewährleisten. Zwar lässt Melanchthon das allegorische Auslegungsverfahren in Geltung, versieht es aber mit kritischen Vorbehalten. Die Bezugsetzung etwa zwischen den sieben Säulen des Tempels der Weisheit und den sieben freien Künsten oder den sieben Sakramenten sei jedenfalls haltlos. Die allegorische Auslegung bedürfe vielmehr einer sachhaltigen Rückbindung an die rationem naturae des Gedeuteten. Wie es der Fall sei, wenn eine nur umrissene Beweisführung rechten menschlichen Lebens anhand der historia Abrahams in eine aus dessen ganzem Leben erfolgende überführt wird.56 An der historia von Kain macht Melanchthon weiterhin klar, wie die Loci communes gegenüber einer zu einfachen allegorischen Deutung das bessere Interpretationsverfahren sind. Statt in Kain nämlich nur – in der Relation von Sünde und Verfluchung – die Sündhaftigkeit schlechthin zu sehen, könne aus seiner historia der Locus communis von der Sünde hervorgehen in der dialektischen Vergleichs- und Spannungsbeziehung von peccator und iustus.57 Mit dem Loci-Verfahren gewinnt die Auslegung also an Ge-

56 Vgl. Melanchthon: De rhetorica libri tres, 1.c., C 3r. 57 Das Beispiel der historia von Kain zeigt auch, wie Melanchthon mit der rhetorischen Grundlegung seines humanistischen Reformprogramms in Bezug auf biblische Texte bereits auf dem Weg zu den »Loci communes

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halt und Komplexität. Wichtiger aber noch ist ein anderer Sachverhalt, den dieses Beispiel aus der in die Rhetorik Melanchthons einbezogenen kleinen Methodenlehre der Textauslegung vor Augen führt. Exemplarisch wird ersichtlich, wie Melanchthons Loci-Lehre im Wissen der Zeit verankert und epochal wirksam geworden ist: Im Umgang mit den Texten als dem Zentrum des Lehrens und Lernens in den Wissenschaften werden die Loci communes aus den Sachverhalten der Texte heraus, indem sie diese in sich aufnehmen, zu den leitenden Sachbegriffen in omni doctrinae genere. Damit zeichnet sich auch hier bereits der Weg ab, der in Melanchthons reformatorischer Wendung mit den Mitteln der Textexegese zur theologischen Loci-Schrift von 1521 führt. Diese Exegese biblischer Schriften ist rhetorisch instruierte – Übergehen von annotationes zu dem von den Rhetoren angeratenen Verfahren nach Loci communes – Texterschließung. Die Rhetorik tritt in diese Stellung aber nicht nur als accessio bonis studiis. Vom humanistischen Reformprogramm Melanchthons haftet ihr ineins damit das allgemeinere Offizium an, zur Einsicht in die conditio humana und deren rechte kulturelle Formung zu verhelfen. Aus reformatorischer Sicht rückt die theologische LociSchrift diese Einsicht freilich in ein anderes, in manchen Einschätzungen geradezu gegensätzliches Licht. Gleichwohl trägt sich auch darin die schon von antiken Rhetorikschriften vorgezeichnete »kulturanthropologische Grundauffassung« des rhetorischen Humanismus weiter aus. Resümee und Schlussfolgerungen Die Weise, in der Melanchthon sein humanistisches Reformprogramm im Kontext von Rhetorik und Dialektik entwickelt, erklärt sich vorab durch den praktischen Hintergrund der sich gegenüber den antiken Quellenschriften verschiebenden Aufgaben der Rhetorik. Die Oratorik des genus iudiciale tritt zurück gegenüber dem rhetorisch angeleiteten Lehren und Lernen in den Wissenschaften. So werden in Melanchthons Überlegungen auch Ciceros und Quintilians Funktionszuweisungen für die Loci communes innerhalb der Verhandlungsführung vor

theologici« von 1521 ist, in denen dann etwa diese dialektische Spannung von peccator und iustus im Sinne reformatorischer Theologie weiter ausgelegt wird.

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Gericht ebenso randständig wie ihre Leistungen für die Wirkung und den rhetorischen Schmuck der Rede überhaupt. Demgegenüber konzentriert sich Melanchthons Erörterung der Loci communes in den beiden Teilen des genus demonstrativum, dem auf Lob und Tadel und dem ad docendum gerichteten. Damit ist bereits die Richtung eingeschlagen für jene Substanziierung der Loci-Lehre, die noch für die heutige Debatte Beachtung verdient. Das manifestiert sich vor allem in folgenden Konzeptualisierungen der Loci communes. In dem auf Lob und Tadel gerichteten genus demonstrativum zeichnet sich ein festes Gerüst von formae und regulae für die res humanae omnes ab. In dem auf das Lehren und Lernen gerichteten Teil wird innerhalb des artificium docendi ein erkenntnismethodisches Statut für die Loci communes ausgewiesen. Hier werden sie im dialektischen Instrumentarium der inveniendi organa und der iudicandi ratio in ihren Funktionen der Sachverhaltserschließung und Urteilsbildung verankert. Weiterhin hervorzuheben ist schließlich, dass diese Leistung der Loci communes in Bezug auf die literae ihre besondere Ausarbeitung als rhetorisch angeleitete und disziplinierte Texthermeneutik erfährt. Von Melanchthon so gefasst, haben die Loci communes in der Folgezeit die Rolle einer Art ›Universalschlüssel‹ für alles wichtige und nützliche Wissen spielen können. Sie leisteten den Zugang zu diesem Wissen wie dessen Gliederung und Ordnung nach dem schon antiken Grundgedanken spezifischer Loci zum Erfassen dessen, was über die vielen einzelnen Fälle hinaus communis ist. Indem Melanchthon die Loci communes als formae rerum wie als ethische regulae und dabei als methodus bestimmt und ausgewiesen hat, war der Grund für ihre zentrale Rolle im humanistischen Erkenntnisprogramm gelegt. Zugleich konnten die Loci communes das disziplinäre Sachwissen, Ethik und Methode allerdings nur in sich fassen, weil Melanchthon als gemeinsame Fundierung das de natura Gegebene geltend gemacht hat. Das ist zwar gemeinsame Linie der kulturanthropologischen Grundauffassung des rhetorischen Humanismus, die im antiken Rhetorikverständnis ihre Quelle hat, wie anhand von Ciceros Ursprungserzählung der Rhetorik zu zeigen war. Im Fall von Melanchthons LociLehre setzt sich diese Linie fort und konkretisiert sich in den verschiedenen Hinsichten des den Loci communes Zugeschriebenen. In Bezug auf die res humanae omnes fassen sie gerade auch die naturgegebenen unabänderlichen Grundtatsachen der menschlichen Existenz. Und das

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zu den causae communes mit ihrer Hilfe erhobene Sachwissen steht unter der Forderung, dem von Natur aus Vorgegebenen adäquat zu sein. Ebenso wird das methodische Statut der Loci communes begründet als Invenieren gemäß naturam et conditionem cuisquam rei. Wie Melanchthon überhaupt und grundsätzlich die Loci communes begreift als ex intimis naturae sedibus eruti und so gültig als aus den tiefsten Fundstätten der Natur erhoben. Offenbar lassen sich von daher instruktive Hinweise noch für die Erfordernisse der heutigen Humanismus-Debatte entwickeln. Obwohl Melanchthons ›topisch‹ fundiertes Erkenntnisprogramm als Heuristik – wie bereits mit der Einleitung zur Studie demonstriert – längst hinfällig ist, erscheint dies aufgrund der ineins damit konzipierten Deutungskompetenz des Humanismus gegeben. Und obwohl die LociLehre, ihren Begründungskonditionen nach als allgemein gültig unterstellt, europäisch kultur- und als Renaissance-Humanismus zeitbedingt ist, liegt in der hier zur Geltung gebrachten Deutungskompetenz ein Präzedens für die im Globalisierungsprozess erneut zu führende Debatte. Das auch mit der Vita Melanchthons Zeitbedingte seiner LociLehre ließe sich mit seiner – nach dem humanistischen Reformprogramm – vollzogenen reformatorischen Wendung und dem Weiterentwickeln der Lehre im Sinne einer ersten protestantischen Dogmatik (»Loci communes theologici«-Schrift von 1521) instruktiv erläutern. Darauf ist hier mit den Überlegungen zur Humanismus-Problematik aber nur zu verweisen.58 Gegenüber dem zum rhetorischen Humanismus am Beispiel Melanchthons Erörterten zieht das Kapitel II die zweite epochale Artikulationsform des Humanismus – den sog. klassischen Humanismus – in Betracht. In der anthropologiebezogenen Linie der Studie ist dabei auszugehen von der zeitgenössischen Wendung zu einem neuen Anthropologie-Verständnis und dessen Ausarbeitungsformen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Kontext auch dieses Humanismus. Was dadurch in epochaler Weise bewirkt worden ist, führt auf eine kritische

58 Das zur Loci-Lehre Melanchthons innerhalb des rhetorischen Humanismus Erörterte wird demnächst auch in einer Studie vorgelegt, die nicht auf die Humanismus-Problematik gerichtet ist, sondern umfassender und detaillierter die damit geschaffene Konzeptualisierung des ›ganzen Wissens‹ untersucht.

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Einschätzung der Deutungskompetenz, die hier für den Humanismus vorgegeben war und von ihm geltend gemacht worden ist.

II Klassischer Humanismus Epochale Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen (Demonstration)

In Kürze gefasst, ist vorab das unterschiedliche Selbstverständnis des Humanismus in dessen beiden zentralen Entwicklungsphasen – dem Humanismus der Frühen Neuzeit und dem Humanismus der Schwellenzeit zur Moderne – festzuhalten. Bekanntlich richtete sich der Humanismus der Frühen Neuzeit auf eine Wiederbelebung antiker Bildung (›humanitas‹) in Prozessen eines Kulturtransfers. In Stichworten: Im Sinne einer Grundlegung in Italien zielt der Humanismus auf die ›Wiedergeburt‹ und Rehabilitation des ›homo naturalis‹ (Petrarca), so wie dieser in der Geschichte und vor allem in den Texten der Antike Realität gewonnen hat.1

Gegenüber diesem Renaissance-Humanismus entwarf und entwickelte der deutsche Humanismus im Kontext der epochalen Schwelle zur Moderne eine an der Antike orientierte Humanitäts-Kultur. In Stichworten: Individuelle und gesellschaftlich-politische Bildung im Rahmen der Allgemeinbildung durch Aneignung von sprachlichem, literarisch-ästhetischem, gesellschaftlich-politischem und moralischem Wissen aus der griechischen und römischen Antike.2

1

Die Humanismus-Artikel des Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft pointieren die beiden Entwicklungsphasen in dieser Weise. Bd. II, hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2000. Zitat: S. 95.

2

Ebenda, S. 92.

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In derartiger Charakterisierung zeichnet sich auch ab, was für die folgende Erörterung hervorgehoben sein soll: die Verschiebung in Orientierung und Ausarbeitung von einer Rehabilitation des homo naturalis zu einer Kultur der Humanität. Die Grundlage dafür in der jeweiligen Fundamentierung des Humanismus ist in der anthropologiebezogenen Linie dieser Studie nunmehr von Seiten der neuen Anthropologie der Zeit des klassischen Humanismus zu entwickeln. Ausgehend von deren programmatischem Leitmotiv, das sich als Erkenntnisprogramm vom Commercium mentis et corporis (der leib-seelischen Konnexion) formiert hat. Das ineins mit den beginnenden modernen Humanwissenschaften und diesen in Ausarbeitungsformen eingeschrieben eine auch für den Humanismus folgenreiche Wendung genommen hat. Wie diese Wendung vollzogen und geltend geworden ist, soll anhand von drei Beispielen demonstriert werden: ästhetisch-kunsttheoretisch (J. J. Winckelmann), philosophisch-pragmatisch (I. Kant) und historiographisch-geschichtsreflexiv (W. v Humboldt). Vorab eingeleitet durch Erläuterungen zum Entstehen und Sichdurchsetzen der neuen zeitgenössischen Anthropologie.

1. N EUBESTIMMUNG UND R ANGERHÖHUNG DER ANTHROPOLOGIE Der Auffassungswandel, der die Anthropologie seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Zentraldisziplin der Zeit hat aufsteigen lassen, ist von der Medizin und den sog. philosophischen Ärzten ausgegangen. Sie überschritten aus der Sicht der Arzneikunde die bis dahin im Grundsatz physica verstandene Anthropologie zur Berücksichtigung des geistig-seelisch Gegebenen. Nach dem Leitsatz vom Commercium mentis et corporis fand diese Auffassung zunehmende Berücksichtigung und wurde als Bestimmung von Anthropologie auch bereits um 1775 als Gesichtspunkt, die Doppelnatur des Menschen nach Leib und Seele zugleich hinsichtlich ihrer »Vereinigung untereinander« zu betrachten, in die Lexikographie aufgenommen.3 Das bedeutete zugleich

3

Vgl. Johann Georg Walch: Philosophisches Lexikon …, 4. Auflage. Leipzig 1775, Sp. 172 f. Einerseits wird hier zwar die »gedoppelte Natur« des Menschen noch klar auseinander gehalten. Gleichwohl wird aber auch entschieden statuiert, dass beide Naturen des Menschen »den Leib und die

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eine Rangerhöhung der Anthropologie, im weiteren dann auch über den medizinischen Bereich hinaus: Der Aufstieg der Anthropologie zur Zentralwissenschaft vom Menschen, der sich hinsichtlich Beobachtungsgeist und in nicht-metaphysischer Rücksicht verstandenem leib-seelischem Zusammenhang zum Teil als Emanzipation aus der starren Vorherrschaft der Schulphilosophie verstehen lässt, ist, zumindest im deutschen Raum, fast mehr noch eine Emanzipation aus der ausschließlichen Prädominanz der Medizin, in deren Zuständigkeitsbereich sie die Lexikographie des frühen Jahrhunderts verwiesen hatte.4

Diese Neuausrichtung der Anthropologie, die einhergeht mit ihrer wachsenden Zentralstellung im zeitgenössischen »Studium des Menschen« ist die generelle Voraussetzung der folgenden Beispieldemonstrationen.5

Seele« zum Grunde haben, von deren je für sich eigener Beschaffenheit »als auch in Ansehung ihrer Vereinigung untereinander kann gehandelt werden«. Hans Jürgen Schings betont die noch getroffenen Unterscheidungen und die erst dann einsetzende Entwicklungsdynamik, »wenn die Grenzen zwischen Physiologie, Moralphilosophie und Psychologie, die Walch im Auge hat, eingerissen werden und sich aus der Aufhebung dieser Trennungen jene Energien entwickeln, welche die Anthropologie zur Zentralwissenschaft der Zeit und zur mehr oder weniger radikalen Aufklärungswissenschaft machen« (Melancholie und Aufklärung. Stuttgart 1977, S. 13). 4

Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984, S. 124.

5

Wenigstens angemerkt seien hier noch als grundlegende Entstehungsmomente für diese Anthropologie: Es wäre der Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts für den Bereich der theoretischen wie der praktischen Philosophie und weiterhin als Entwicklung der Anthropologie zu einer »eigenständigen, ihrem Charakter nach wesentlich pragmatischen Wissenschaft« seit den siebziger Jahren zu erörtern. (Vgl. Mareta Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Bern/Frankfurt a.M. 1976. Zitat: S. 107) Auch wäre die neue Anthropologie im Zuge des Theodizeeverlustes der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Ensemble der diesem Verlust begegnenden neuen Philosophien einzuordnen. D. h. den ineinander greifenden Entwicklungen von Geschichtsphilosophie, philosophischer

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Die drei Beispiele von Ausarbeitungsformen dieser Anthropologie weisen zwar hin, belegen aber für sich noch nicht das Ausmaß, in dem die neue Anthropologie richtungweisend geworden ist. Signifikant dafür und in Kürze auszuführen sind die Umstrukturierungen in den Wissenssystematiken der Zeit. D. h. die fortschreitende Usurpation dieser Systematiken durch die neue Zentralwissenschaft vom Menschen. Wie exemplarisch das »Lehrbuch der Hodegetik« des Kantianers Johann Gottfried Kiesewetter zeigt, das nach der Jahrhundertwende bereits resümierend auf diesen Prozess Bezug nimmt.6 Zugeordnet wird die Anthropologie hier den empirischen Wissenschaften. Aber gerade die anthropologischen Wissenschaften finden sich dann in der systematischen Übersicht breiter entfaltet als alle anderen – apriorischen und empirischen – Wissenschaften zusammen. Voran stehen dabei die Wissenschaften, die »den Menschen selbst zum Gegenstand haben«, das heißt die »eigentliche Anthropologie« und die »Menschengeschichte« mit ihren Unterabteilungen von Universal- und Spezialgeschichte. Aber auch die Wissenschaften, welche die Erzeugnisse des Menschen zum Gegenstand haben, werden so kategorisiert. Und hierunter werden alle kulturellen Objektivationen von den philologischen Wissenschaften über die schönen Künste bis hin zu den technischen Fertigkeiten aufgefächert. Die Koordinierung und Deutung des Wissens auf das Zentrum der Anthropologie hin ist – zumindest termino-

Anthropologie, philosophischer Ästhetik. (Vgl. Odo Marquard: »Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts«. In: B. Fabian/W. Schmidt-Biggemann/R. Vierhaus (Hg.): Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 2/3. München 1980, S. 193-209. Insbesondere: S. 194 f.) In den Beispieldemonstrationen dieser Studie ist eine derartige Einordnung, wenn auch nicht eigens Thema, doch mit der Bezugnahme auf J. J. Winckelmann, I. Kant und W. v. Humboldt erkennbar. 6

Johann Georg Kiesewetter: Lehrbuch der Hodegetik oder kurze Anweisung zum Studiren. Berlin 1811. Die hier breit entfaltete und kommentierte »enzyklopädische Uebersicht der Wissenschaften« wird – wie in der Nachfolge Kants üblich – grundsätzlich in Wissenschaften a priori und in empirische Wissenschaften unterschieden. Diese werden in die Übersicht gebracht: 1. die Kunde von den materiellen Körpern des Himmels, der Erde und der Natur; 2. die Erfahrungsseelenlehre; 3. die anthropologischen Wissenschaften. (Vgl. hierzu wie im Folgenden insbesondere S. 60-66.)

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logisch und im Bereich der empirischen Wissenschaften – weit fortgeschritten. In der Form einer »Hodegetik« findet sich die Entwicklungstendenz des Aufstiegs der neuen Anthropologie zur Zentralwissenschaft vom Menschen umfassend in die Wissenssystematik überhaupt umgesetzt. Gegenüber den Ansätzen und Schritten dazu7 soll ein zweites bereits resümierendes Zeugnis, das gegenüber der Systematik Kiesewetters inhaltlich ›Ideen‹ zur anthropologischen Erschließung humanwissenschaftlicher Materien entwickelt, in Betracht gezogen werden. In den »Ideen zu einer Geschichte der Menschheit« hat Friedrich August Carus diesen Weg in einer gegenseitigen Fundierung von Anthropologie und Historie beschritten.8 Indem hier zur Begründung dieses Verhältnisses das allmählich gewachsene Verständnis für die »menschliche Entwicklung in Verbindung mit der Geschichte des Menschen« erörtert wird (S. 6). Diese Geschichte des Menschen als begründende und zugleich höchste Form des historischen Wissens ist für Carus Sache der »pragmatischen Anthropologen« und wird von ihm mit Literatur der letzten Jahrzehnte des vorherigen Jahrhunderts belegt (S. 117 ff.). Die anthro-

7

Bezeichnend für die Frühphase dieser Entwicklung ist, dass sich Johann Georg Sulzer (Kurzer Begriff aller Wißenschaften […], 2. Auflage. Leipzig 1759) zwar noch vor allem am Fakultätssystem orientiert. In seinen Einzelargumentationen machen sich aber bereits – noch ohne den Begriff der ›Anthropologie‹ – daraufhin öffnende Umbrüche und Neubewertungen bemerkbar, wie etwa in den Bestimmungen zur Philosophie (vgl. S. 140). Konsequent hat dann bereits sein Kritiker Christian Heinrich Schmid (»Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften«. Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften. Bd. 2 [1779], S. 231251) die anthropologische Perspektive geltend gemacht. Nach dem Grundsatz: Vom Menschen, von uns selbst als dem uns Nächstliegenden und somit als dem »Endzweck« die Überlegungen zur Klassifikation und Rangordnung ausgehen zu lassen. Dementsprechend will Schmid die Philosophie endlich so begriffen wissen: »Denn Philosophie des Körpers und der Seele, oder wenn man will Anthropologie geht vor allen anderen vorher«. (S. 236)

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Friedrich August Carus: Ideen zu einer Geschichte der Menschheit. Nachgelassene Werke. Sechster Theil. Leipzig 1809. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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pologische Wendung steht hier einerseits ein für eine neue Einheit der Geschichte. Sie wird so verstanden, daß durch das unmittelbare und innigere Bewußtseyn der Einen und ungetheilten Menschennatur auch die Geschichte der Menschheit Einheit gewinnen und ein Ganzes homogener Stoffe werden konnte (S. 28).

Dies ist durchaus im Sinne einer »allgemeinen und nothwendigen Entwicklung der menschlichen Anlagen« gemeint (S. 28), wobei die physischen Voraussetzungen den hier entwickelten »Ideen« nach aber untergeordnet sind. Denn die anthropologiebezogene Argumentation stützt vor allem das Konzept einer Teleologie kultureller Selbstaufklärung. Die sich vollziehe als Entwicklung der Menschennatur zu einer vernünftigen Menschlichkeit durch Freiheit. Gemäß dieser »Idee« müsste, in der Verschränkung von Anthropologie und Historie, die Geschichtsschreibung sein: »Darstellung der […] nothwendig erfolgenden Erregung, Entwicklung und Ausbildung der (perfektibeln) Menschennatur [...]« (S. 71). Dabei handelt es sich um einen mehrere Orientierungsrahmen bündelnden Geschichtsentwurf. Die allgemeine menschliche Entwicklungsgeschichte erhält ihre eigene »idealische« Dimension fortschreitend vernünftiger Menschlichkeit durch Freiheit. Bei den Spezialgeschichten rücken die unmittelbar fassbaren Erscheinungsformen der »Natur« des Menschen – wie die Geschichte des männlichen und weiblichen Geschlechts – in den Vordergrund. Die Summe der verstreuten und konzeptionell nicht so leicht einzubindenden Fakten aber wird Gegenstand einer umfassenden Kulturgeschichtsschreibung. Diese wenigen Hinweise können einen Eindruck vermitteln, wie expansiv die anthropologische Nachfrage nach Wissen sich geltend gemacht hat. Was hier als epochale Entwicklung und im Konkurrieren der zeitgenössischen Wissenssystematiken nicht weiter ausgeführt werden kann,9 aber den Kontext der folgenden Beispieldemonstrationen bildet und die grundlegende Bedeutung dieses Entwicklungsprozesses erläutert. Die Präsentation und Kommentierung von Texten Winckelmanns, Kants und Humboldts richtet sich dabei enger darauf,

9

Vgl. dazu Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977 (Archiv für Begriffsgeschichte. Supplementheft 2). Vgl. insbesondere S. 46 ff.

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wie in diesen Ausarbeitungsformen der neuen Anthropologie die Doppelnatur des Menschen nach Leib und Seele in »Ansehung ihrer Vereinigung untereinander« zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen gewendet worden ist. Was sich gerade auch der Humanitäts-Kultur des klassischen Humanismus eingeschrieben hat. Die folgende Erörterung bereitet also vor, inwiefern sich aus dem Vollzug dieser Wendung womöglich weitreichende Konsequenzen noch für die heutige Humanismus-Debatte und einen zukunftsfähigen Humanismus ergeben.

2. W INCKELMANN : ÄSTHETISIERTE ›C ONNEXION VON L EIB UND S EELE ‹ Die gedanklichen Leitlinien für das Mustergültige des antikgriechischen Vorbilds hat Winckelmann bereits 1755, angeregt durch die Dresdener Antikensammlung, in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst konzipiert.10 Der Titel weist auf eine kunsttheoretische Erörterung im Rahmen der Debatten um die zeitgenössisch als ›Nachahmung der Natur‹ geläufige Mimesis-Doktrin. Wenn Winckelmann demgegenüber zur Nachahmung der griechischen Kunstwerke aufruft, begründet er das in einer Herleitung aus der Lebens- und Kulturform der griechischen Stämme. Hier interessiert, wie in diesen »Gedanken« eine – wenn auch anthropologisch noch inexplizite – Argumentation leib-seelischer Konnexion geltend gemacht wird. Sie wird in Winckelmanns kunsttheoretischer Erörterung ästhetisierend entwickelt. Darauf führt bereits, wenn eine Empfänglichkeit für ästhetische Werte gemäß den Kriterien des ›guten Geschmacks‹ konstatiert wird, der sich »zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden« angefangen hätte. Vor allem aber wird, der Erörterung der Kunstwerke vorgeordnet, die Doktrin von der Nachahmung der Natur historisch substantiiert als das »Schöne der Natur« in der Lebens- und Kulturform der griechischen Stämme (S. 3, 9, 13). Wie dieses Schöne

10 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung, hg. von L. Uhlig. Stuttgart 1969. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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sich insbesondere im unverhüllten Körper und dessen von den Griechen zur öffentlichen Kultur entwickelten Formung manifestierte: Bewirkt durch die Leibesübungen in den Gymnasien, gefördert durch Diätetik und eine Kleidung, die der »schönen Form« keinen Zwang antat; allgemein präsent auch auf dem Theater oder in den Fechterspielen. So zur Sichtbarkeit gebrachtes kulturelles Gemeingut – bis hin zu »Wettspielen der Schönheit« (S. 5 f.). Zugleich wird als vorgängige Voraussetzung dafür das bereits physiologisch Zugrundeliegende geltend gemacht. So wenn das »schöne Geblüt« oder allgemein die »schöne Natur der Griechen« berufen werden. Die kulturelle Formung und das körperlich Naturgegebene werden als gemeinsam konstitutiv begriffen, wie in Winckelmanns Hinweis auf die von den Griechen geübte Achtsamkeit darauf »schöne Kinder zu zeugen« (S. 6 f.). Im kunsttheoretisch-ästhetischen Duktus wird dieser die Argumentation fundierende Konnex dann aber entschieden ins ›Geistesgeschichtliche‹ gewendet. Das vollzieht sich gleitend im Übergang zur Erörterung der griechischen Statuen-Kunst. Winckelmann macht für das Schöne der Statuen zwar auch geltend, dass in deren ansichtiger Gestalt sich die »bildende Natur« zeigt, die zum schönen Körper führt. Auf dem Weg zur Begründung des vollendet Schönen dieser Kunst ist die Argumentation aber ganz auf die dem aufsitzende »geistige Natur« gewendet. Sie wird zum Wesentlichen des zunächst als fundierend für die »schöne Natur der Griechen« entworfenen leib-seelischen Konnexes. Diese Argumentation führt in Schritten zu nicht nur ästhetischer, sondern zugleich ethischer Vollkommenheit und Mustergültigkeit der in der Lebens- und Kulturform der griechischen Stämme gründenden Statuen-Kunst: Die Griechen schlugen – gebahnt von den für sie »häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur« schöner Körper – den »Weg zum allgemeinen Schönen und zu idealischen Bildern« desselben ein (S. 6, 10, 13); sie begannen, »sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältniss der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur« (S. 10). Diese geistige ›Erhebung‹ ist in Winckelmanns Konzept zugleich eine dadurch bewirkte ethische: die »Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein« (S. 20). So führt in Winckelmanns Gewichtung der ›schönen Natur‹ der griechischen Stämme die Wendung von der ›bildenden‹ ganz auf die ›geis-

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tige‹ Natur zur ästhetisch-ethischen Maßstäblichkeit: zum Diktum von der in den Statuen ansichtigen »edlen Einfalt« und »stillen Größe«. Was als geschichtlich bereits einmal verwirklicht und so Norm bildend auch dadurch beglaubigt erscheint, dass mit der hier entwickelten Konnexion von Körper und Seele diese Maßstäblichkeit von gleichsam ›anthropologischer‹ Geltung ist. Diese Argumentation ist fundierend, aber ›anthropologisch‹ insofern noch inexplizit, als deren übergeordnetes Thema die »schöne Natur« der Griechen ist. Und diese als das Ansichtige des nackten Körpers in der Lebens- und Kulturform der griechischen Stämme bis hin zu der von der Bildhauerkunst geschaffenen Gestalt der Statuen leitend ist. Im Sinne offenbar der Ästhetik-Debatte, die wenige Jahre zuvor von Alexander Gottlieb Baumgarten eröffnet worden war. Der die Ästhetik als neu zu konzipierende Wissenschaft von der »sinnlichen Erkenntnis« entwickelt hatte.11 In Winckelmanns Argumentation erweist sich – als sinnlich wahrnehmbare Erkenntnis – die ganze körperlichseelische Natur der Griechen als ›schön‹. Die Perspektive der neuen Anthropologie ist eingenommen, als koinzident aber mit dem Erweisen des Schönen. So scheint Winckelmanns Appell zur »Nachahmung der Alten« unabweisbar zu werden. Indem Baumgartens Entwicklung der Ästhetik als ›schönen Denkens‹ substantiiert ist zum in der Natur der Griechen bereits einmal maßstäblich verwirklichten Schönen. Gegenüber diesem frühen, kunsttheoretisch orientierten und ästhetisch dominierten Zeugnis für die Ausarbeitungsformen der neuen Anthropologie entstammt das zweite den siebziger Jahren (zuerst als Vorlesung 1772/73) und ist Ausarbeitung der Anthropologie selbst. Kant hat sich mit dieser »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« inner-

11 Diese grundlegende Bestimmung als »sinnliche Erkenntnis«, die Baumgarten gleich in § l seiner »Aesthetica«-Schrift voranstellt, ist ›erkenntnispsychologische‹ Wendung: »Die ästhetische Wahrheit ist Wahrheit, soweit sie sinnlich erkennbar ist«. Für das Erkennen des Schönen werden – wenn auch nur als eine »gnoseologia inferior« und als eine der Vernunft nur analoge Logik (»aesthetico-logisch«) – bestimmte zuvor als nachrangig ›untere‹ Seelenvermögen begriffene Modalitäten der Erkenntnis wie Empfinden und Gefühl aufgewertet. (Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach, Band 1. Hamburg 2007, S.11. – Erstveröffentlichung in zwei Teilen 1750/58.)

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halb der zeitgenössischen Debatte abgesetzt von spekulativen, theoretischen und schulmäßigen Vorgehensweisen.12 Entwickelt werden soll vielmehr eine Kenntnis vom Menschen als »Weltkenntnis«. Was diese Anthropologie ihren Quellen und deren Beurteilung nach erschließt, richtet sich prüfend auf durch Erfahrungswissenschaft und Beobachtungskunst gewonnene »Menschenkenntnis«. Aber nicht nur auf deren bloße Mannigfaltigkeit, sondern auf eine darin enthaltene »Generalkenntnis« vom Menschen. Mit diesen Erkundungen stellt Kants Anthropologie sich in die fortschreitende Kulturentwicklung hinein im Sinne eines Prozesses kultureller Selbstaufklärung. Die dem Ziel nach zu frei handelnder Selbstbestimmung des Menschen führen soll. Zu zeigen ist, welche Ausarbeitung das Leitmotiv von der leib-seelischen Konnexion in diesen anthropologischen Erkundungen erfährt.

3. K ANT : ANTHROPOLOGIE IN › PRAGMATISCHER ‹ H INSICHT In der Rostocker Anthropologiehandschrift findet sich zu den Titelformulierungen des 1. und 2. Teils von Kants Anthropologie die Variante: »1ster Teil//Anthropologische Didaktik//Was ist der Mensch// 2ter Teil//Anthropologische Charakteristik// (Wie) Woran ist die Eigentümlichkeit jedes Menschen zu erkennen«.13 Gefragt wird also in dieser doppelten Richtung und dabei als in ›pragmatischer Hinsicht‹ zwar auch nach physiologischer Kenntnis vom Menschen, aber nicht in der Absicht des Nachweises von »Naturursachen«. Die Bestimmung des Menschen wird – als »systematisch abgefasst (Anthropologie)« (S. 399) – anders entwickelt. Wie hier mit Hinweisen gerade auf die »Anthropologische Charakteristik« gezeigt werden soll anhand der dort dem physiologisch Naturgegebenen beigemessenen Bedeutung. Beginnend mit dem Charakter der ›Person‹ und dann des Kollektivwesens Mensch (dem ›Charakter‹ des Geschlechts, des Volkes, der Rasse,

12 Vgl. dazu Hinske: Kants Idee der Anthropologie, 1.c., S. 424 f. Mit Hinweisen auch auf die Schwankungen, denen der Gebrauch von ›pragmatisch‹ in Kants Schriften unterliegt. Die Nachweise zu Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« im Folgenden als Seitenangaben im Text. 13 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1.c., S. 623 (// = Absätze bzw. Zeilenanfänge; ( ) = Streichung).

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der Gattung). Wobei es hier nur darauf ankommen soll, in welche Richtung Kants Bestimmungen das Verständnis und die Ausarbeitung der leib-seelischen Korrelation lenken.14 Kant unterscheidet in diesen Bestimmungen zwischen ›physischem‹ und ›moralischem‹ Charakter. So wird im Abschnitt zunächst zur ›Person‹ zwar auch die »Naturanlage« (Naturell) erörtert, aber als Naturell dem Physischen nur aufsitzende Charakteristik der Person als Gemüt, Herz, Gefühl von Lust und Unlust. Und die »Denkungsart« (Charakter schlechthin) der Person wird bestimmt als ›moralische‹ Anlage dazu, was der Mensch »aus sich selber zu machen bereit ist« (S. 625). Anders als zum Naturell oder der Denkungsart nimmt Kant in seiner Charakteristik der Person als »Temperament oder Sinnesart« unmittelbar Bezug auch auf das Physiologische. Erwogen werden die physiologische Betrachtungsweise (gerichtet auf die körperliche Konstitution) und die psychologische (gerichtet auf das Gefühls- und Begehrungsvermögen). Womit es sich dann um die »Temperamente der Seele« handelt (S. 625 f.). Eine Ausarbeitung des Zusammenwirkens dieser beiden Seiten der Person wird nicht gesucht, das Ursächliche etwa der »Blutbeschaffenheit« wird verworfen. Der Konnex wird vielmehr derart ins Konjunktivische gewendet, »daß die Temperamente, die wir bloß der Seele beilegen, doch wohl in geheim das Körperliche im Menschen auch zur mitwirkenden Ursache haben mögen [...]« (S. 626). Darin drückt sich nicht nur eine gebotene Skepsis gegenüber dem Stand der zeitgenössischen Temperamentenlehre aus. Die Charakterisierung der Person von Seiten der Temperamente in der psychologischen Richtung der »Sinnesart« ist bezeichnend für die Ausrichtung von Kants auf die ›Person‹ gerichteten anthropologischen Erkundungen. Das so gewendete Untersuchungsinteresse Kants, das hier der Eigentümlichkeit jedes Menschen als ›Person‹ gilt, manifestiert sich in jeweils anderer Weise auch in seinen Erkundungen dann zu den menschlichen Kollektiva. Für die eine stärker physiologieorientierte Charakteristik nahe liegend scheinen könnte. Eine Wendung, die etwa Kants Erörterung zum ›Charakter des Geschlechts‹ und hier des weiblichen unmittelbar zeigt. Zwar wird vorab gefragt, »was Zweck der Na-

14 Vgl. zur Einschätzung des Kantischen Ansatzes innerhalb der zeitgenössischen Anthropologie-Diskussion Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, 1.c., S. 68 ff., S. 140 ff.

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tur bei Einrichtung der Weiblichkeit war«, und dieser wird physisbezogen bestimmt als Erhaltung der Art. Entfaltet wird die Anthropologische Charakteristik des weiblichen Geschlechts aber als der naturgegeben weitere Zweck: »Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben durch die Weiblichkeit« (S. 651). Wie dies zu verstehen sei, wird im Sinne von Erfahrungswissenschaft und Beobachtungskunst durch ein ganzes Spektrum von weiblichen Verhaltensdispositionen und kulturellen Mustern belegt, erläutert und erklärt. So ist das physiologisch Naturgegebene zwar allgemein zugrunde gelegt, in seiner Explikation aber verkürzt auf eine der »Naturabsicht« inhärente Weisheit des Erfüllens der für die Weiblichkeit erörterten kulturellen Zwecke. Jeweils spezifisch, im Grundsatz aber gleichgerichtet, durchläuft Kants Erörterung auch die weiteren Kollektiva.15 Die gedankliche Disposition für diese Präferenz der Erkundungen Kants entwickelt insbesondere die abschließende Erörterung zum ›Charakter der Gattung‹. Die aus Mangel an Erfahrung, da es über die Menschengattung hinaus keine zweite Spezies vernünftiger Wesen gäbe, zu prinzipiellen Überlegungen wechselt, »um dem Menschen im System der lebenden Natur seine Klasse anzuweisen«.16 Der Grundgedanke ist, dass der Mensch als »mit Vernünftigkeit begabtes Tier aus sich selber ein vernünftiges Tier machen kann«. So ist das wie im Tier

15 So schließen etwa Kants Ausführungen zum ›Charakter des Volks‹ den Hinweis ein, dieser habe seine angeborene und natürliche Seite darin, »sozusagen in der Blutmischung der Menschen« zu liegen (S. 670). Und das von ›Natur‹ aus Gegebene wird in das Licht des älter und zuerst Existenten gerückt. Vor allem aber macht Kant in seiner Charakteristik Bestimmungen anhand der Geschichte und Kultur eines Volkes geltend. Was sich auch (vgl. Kants Präferenzen in der Charakteristik der ›Person‹) in Redeweisen wie der vom »Naturell« oder der »Sinnesart eines Volkes« niederschlägt. 16 In den dabei entwickelten Überlegungen zum Ziel der Menschengattung sind zunächst vorausgesetzt die naturgemäße Bestimmung des Menschen zur Erhaltung seiner Art und das ihn in seinen »Anlagen« von allen anderen Lebewesen Unterscheidende: »durch seine technische (mit Bewußtsein verbunden mechanische), durch seine pragmatische (andere Menschen zu seiner Absicht geschickt zu gebrauchen) und durch die moralische Anlage in seinem Wesen (nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere) zu handeln [...]«. (S. 674)

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Naturgegebene konstatiert, aber die als Anthropologie entwickelte Charakterisierung der Gattung wendet sich ganz auf dieses ›aus sich selber machen‹. Geschichtsphilosophisch im Sinne des Wegs zu freier Selbstbestimmung wird dem Menschen in der ›lebenden Natur‹ die Klasse angewiesen, »daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren« (S. 673). Zwar geht Kant dafür auch durchaus auf das Naturgegebene zurück, indem er dieses Vermögen als den »Zwecken der Natur« gemäß gegeben sieht: entsprechend dem Grundsatz der Natur, für jedes Geschöpf das Erreichen seiner Bestimmung zu wollen. So teleologisch argumentierend, ist das im Menschen als Physiologie Naturgegebene konstatierter Sachverhalt, aber konzeptionell kaum entwickelt. Gerade Kants Bestimmungen zum ›Charakter der Gattung‹ richten seine Anthropologie aus auf die durch »eigene Tätigkeit« des Menschen zustande zu bringende teleologische Entwicklung (S. 684). Das heißt – wie mit Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« selbst – als kulturelle Selbstaufklärung und so »Perfektionierung des Menschen durch fortschreitende Kultur« (S. 674). In einer Resümeeformulierung hat Kant seine Charakteristik der Ausbildung des Menschen gemäß diesem Verständnis von Anthropologie so statuiert: Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren (S. 678).

Die hier für die Menschengattung schlechthin berufene ›Vernunft‹ führt auf einen letzten kurzen Hinweis zu den Voraussetzungen dieser Ausarbeitungsform der zeitgenössischen Anthropologie-Debatte. Wie für die ganze Gattung beruft Kants anthropologische Charakteristik die Vernunftbestimmung gleich anfangs auch für den ›Charakter der Person‹. Demnach komme es für den sich in der »Denkungsart« manifestierenden ›Charakter schlechthin‹ auf den Willen der Person an, sich an von seiner Vernunft vorgeschriebene Prinzipien zu binden. Als ›willentlich‹ agiert der sich so verhaltende Mensch als frei handelndes Wesen. Und als sich qua Vernunft an Prinzipien bindend, gründet dieser Charakter im Vermögen des Denkens. Zudem wenigstens hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die ersten Bestimmungen, mit

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denen Kants Anthropologie (Erster Teil: »Anthropologische Didaktik«) ansetzt: Mit ihnen wird ausgegangen vom Bewusstsein seiner selbst, das den Menschen zu einer Person macht (»eine und dieselbe Person«) und vom diese »Ichheit« ermöglichenden Vermögen des Denkens als Verstand (S. 407). Überhaupt bildet das »Erkenntnisvermögen« des Menschen über mehr als die Hälfte dieses Ersten Teils den Leitfaden der Erkundungen. Im Beispiel von Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« steht zwar – wie im Ansatz der anthropologischen Erkundungen bis hin zur Bestimmung des Menschengeschlechts skizziert – die Doppelnatur des Menschen nach Leib und Seele außer Zweifel. Das im Menschen Naturgegebene wird in bestimmten Erörterungskontexten geltend gemacht. Da in der ›pragmatischen‹ Hinsicht dieser Anthropologie aber nach den »Naturursachen« nicht gefragt sein soll, ist das Physiologische eher konstatiert als exploriert. Das von Natur aus Bewirkte kommt stattdessen in Betracht als für die Bestimmung des Menschen maßgebliche teleologische »Zwecke der Natur«. Was für den ›Charakter der Gattung‹ auf das dem Menschen gesetzte Ziel eines von seiner Vernunft getragenen Weges zur Perfektionierung durch fortschreitende Kultur führt. In Kants Anthropologie ist so die Doppelnatur des Menschen nach Leib und Seele gegebener Sachverhalt, die Problematik der Konnexion aber tendenziell ›halbiert‹. Kants Absicht, die von den philosophischen Ärzten eröffnete zeitgenössische Debatte mit seiner Anthropologie zur Wissenschaft zu machen, hat so die Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen nachhaltig befördert. Ein drittes Beispiel greift die Ausarbeitungsformen auf, in denen diese Wendung den Aufgaben und Zielen jeweiliger Wissenschaftsbereiche eingeschrieben worden ist und sich so im Spektrum der zeitgenössischen Diskurse weiter durchgesetzt hat. Wie etwa in Wilhelm von Humboldts Überlegungen zur Geschichtsschreibung. Die in »Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers« die anthropologische Nachfrage nach Wissen in die grundlegenden Erkenntnisvoraussetzungen des Historiographen transponieren.17

17 Wilhelm von Humboldt: »Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers«. In: Wilhelm von Humboldts Werke, hg. von Albert Leitzmann. Vierter Band. Berlin 1905. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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4. H UMBOLDT : I N DEN S TANDPUNKT DES G ESCHICHTSSCHREIBERS IMPLIZIERTE ANTHROPOLOGIE Die Abhandlung von Humboldt hat mit diesem Implikationsverhältnis teil am epistemologischen Bruch zur Moderne als Wendung vom repräsentierenden zum historischen Bewusstsein. Das kann hier nicht eigens Thema sein, aber mit Michel Foucaults Rekonstruktion dieses Vorgangs wenigstens angedeutet werden. Demnach erhält die Wendung zum historischen Bewusstsein und in eins damit zum humanwissenschaftlichen Paradigma ihre wesentliche Begründung durch die mit den neuen Empirien vom Menschen verschwindende Transparenz im Repräsentations-Modell der Sprache des âge classíque. Worauf es hier ankommen soll: Gegenüber der in diesem Modell verbürgten taxonomischen Wissensordnung und kontinuierlichen Anordnung in Tableaus, verbürgt durch die Koinzidenz von Sprachform, logischer Form und Tatsachenabbildung, entwickelt sich nicht nur eine zeitlich sukzessive und immer nur partielle Abbildung der Tatsachen. Ineins damit wird zugleich die Wendung zu einer letztlich unzugänglichen Tiefenstrukturierung vollzogen. Sie wird im neuen humanwissenschaftlichen Paradigma ausgearbeitet in den Formen eines bis dahin unbekannten erkenntnistheoretischen Bewusstseins wie neuer Empirien vom Menschen. Dabei ist Kern und spezifischer Bezugspunkt dieser Entwicklung die Explikation des Subjekt-Themas mit der Umdeutung des zuvor im Grundsatz als transparent begriffenen Subjekts in ein »Selbstverhältnis ohne auslotbaren Grund«. 18 Der umfassendere Kontext von Humboldts Überlegungen sei vorweg so angedeutet, weil die dabei vollzogene Revision der ›Aufgabe des Geschichtsschreibers‹ sich gerade als Teilhabe an dieser Wendung in die ›Tiefe‹ erschließt.

18 Manfred Frank: »Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskontinuität – Die Epochenschwelle von 1775 in Foucaults ›Archäologie‹«. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (= Poetik und Hermeneutik XII), hg. von R. Herzog und R. Koselleck. München 1987, S. 97-130. Zitat: S. 122. Vgl. zur kurzen Anführung der Rekonstruktion Foucaults und zu deren leitenden Voraussetzungen genauer meinen Beitrag: »Archäologie des historischen Wissens. Zur Geschichtsschreibung Michel Foucaults«. In: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Methode. München 1988, S. 167-199. Speziell S. 180 ff. (II).

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Humboldt hält in seiner Abhandlung einerseits fest an einer der sog. ›pragmatischen‹ Erzähltheorie der Spätaufklärung folgenden Geschichtsdarstellung nach dem kausalgenetischen Nexus der Ereignisse. Aus dieser Sicht steht der Zusammenhang in Raum und Zeit der Erklärung aus den Umständen und in Ursache-Wirkung-Zusammenhängen offen. Zugleich und vor allem macht Humboldt aber geltend, dass so das eigentliche Wirken der Geschichte noch nicht erfasst werden könne. Denn so kämen das »Lebendige« und die »ursprünglich frei wirkenden Impulse« der Geschichte nicht zum Tragen. Der Geschichtsschreiber müsse sich in die Wirklichkeit »vertiefen«, so erst werde die »wahre Verkettung« der geschichtlichen Vorgänge begreiflich (S. 45). Wie dieses eigentliche Wirken der Geschichte zugänglich wird, entwickelt Humboldt in Bestimmungen, mit denen Subjekt und Objekt der historischen Erkenntnis bzw. Mensch und Geschichte als letztlich ›verschränkt‹ verstanden sind. Signifikant dafür sind Humboldts ineinander greifende Bestimmungen für »Kräfte«, »Ideen« und »Individualitäten« in der Geschichte. Demnach ist in der nationalen Individualität der Griechen eine Idee im Sinne einer geschichtlichen »Krafterzeugung« zu sehen. Und für jede menschliche Individualität gilt: Sie ist eine »in der Erscheinung wurzelnde Idee«, sie ist jenseits aller einwirkenden Ursachen etwas »Ursprüngliches«. In der Geschichte verschaffen die Individualitäten ihrer inneren »eigentümlichen Natur« ein äußeres Dasein. Wie sich nicht nur am Einzelindividuum, sondern in vielen Teilen der Geschichte sichtbarer noch an der Individualität der Nationen zeige (S. 54 f.). Zu dieser ›Tiefe‹ des Ineinandergreifens von historischen Kräften, Ideen und Individualitäten vermag die Geschichtsschreibung vorzudringen als – neben ihren Zwecken als Wissenschaft – auch »freie, in sich vollendete Kunst« (S. 38). Die so begriffene Geschichtsschreibung könne mit dem Faktischen historischer Erfahrung auch den »unsichtbaren« Teil der Tatsachen zur Darstellung bringen, die »innere Folge« der Begebenheiten, die »wahrhaft wirkenden Kräfte« (S. 41). Erst so dringe die Geschichtsschreibung vor zu Begriff und Form des jeweiligen »Ganzen«. Dieses von Humboldt konzipierte ›tiefere‹ Begreifen der Geschichte fußt letztlich auf einer Subjekt und Objekt, Mensch und Geschichte ›verschränkenden‹ Erkenntnisposition. Die Schlüssel für die hier interessierende Ausarbeitungsform der Anthropologie in Humboldts Überlegungen ist. Das zeichnet sich ab, wenn dabei etwa von einer nur se-

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kundären Leistung des Geschichtsschreibers im Erfassen des jeweiligen historischen »Ganzen« die Rede ist. Denn die im Labyrinth der Begebenheiten zu findende Form sei diesen selbst »abzuziehen«. Oder wenn für die Ideen geltend gemacht wird, dass sie »aus der Fülle der Begebenheiten selbst« hervorgehen. In derartigen Bestimmungen rückt das Empirische der historischen Tatsachen in eine quasitranszendentale Stellung. Zugleich geht Humboldt aber davon aus, dass die Ideen bei einer echten historischen Betrachtung »im Geist entspringen« (S. 46). In dieser ›Verschränkung‹ zu argumentieren, ist getragen von der grundlegenden Annahme, es bestünde eine vorgängige »ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object«. Dies macht Humboldt für jede Art des Begreifens einer Sache geltend, privilegiert aber für die Geschichte: »Bei der Geschichte ist diese vorgängige Grundlage des Begreifens sehr klar, da Alles, was in der Weltgeschichte wirksam ist, sich auch in dem Inneren des Menschen bewegt« (S. 47). Mit der so verstandenen Grundlage des Begreifens von Mensch und Geschichte ist die anthropologische Fragestellung weiterhin gegenwärtig, aber als in die Erkenntnisvoraussetzungen der Geschichtsschreibung transponiert. Vom unmittelbar anthropologischen Erkunden (wie etwa in Humboldts »Plan einer vergleichenden Anthropologie«) verschiebt sich die Argumentation ins Epistemologische. Sie wird damit im Sinne anthropologischer Nachfrage nach Wissen unspezifischer, aber als Grundlage des Begreifens für das Erfassen der Geschichte umso bedeutsamer. Als in den Standpunkt des Geschichtsschreibers impliziert, ist das anthropologisch allgemein Gültige hier den Bewegungen im »Inneren« des Menschen zugeschrieben. Ineins mit dem ›tieferen‹ Begreifen der Geschichte ist es Bestandteil des Selbstverständnisses und der Heuristik sich neu formierender Wissenschaft geworden. Das von Humboldt Entwickelte kann als eine der wohl in der Folgezeit wirkungsvollsten Formen der Ausarbeitungen gelesen werden, in denen die epochale Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹ vollzogen worden ist. Das hat sich viel breiter geltend gemacht, als mit mit den wenigen diskursiven Beispielen schon zu zeigen ist. Wie eine weitere Textform belegen lässt, mit der dieser Vorgang in die Breite der zeitgenössischen Nachfrage nach anthropologischem Wissen getragen worden ist. Wenigstens hinzuweisen ist damit auf die literarischen Texte und deren Theorie, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als

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›literarische Anthropologie‹ formiert haben. Mit der die Autoren generell gesehen auf Descartes Substanzentrennung von res cogitans und res extensa mit der Problematisierung gegenseitiger Einwirkung geantwortet und den leib-seelischen Konnex zum Leitfaden neuer Lösungsversuche gemacht haben. Diese Nachfrage nach anthropologischem Wissen beginnt im Bereich der literarischen Texte mit einem ganzen Spektrum eher physiologischer Ansätze. Die zugleich begleitet waren vom Interesse an den Zeugnissen ethnographischer Anthropologie und am Material über die von der Natur gegebenen Lebensverhältnisse der Völker. Und ebenso begleitet waren vom fortwirkenden Traditionsstrang des anthropologischen Interesses an der Erkundung der Charaktere, Temperamente und Geschlechter. 19 Wie im literarischen Schreiben auf diese Anthropologie-Debatte referiert wurde, war mitbedingt durch das jeweilige Sujet. So findet sich etwa für die Melancholie-Thematik der ›influxus physicus‹, der unmittelbar ›reelle Einfluss‹ im Verhältnis der zuvor getrennten Substanzen favorisiert. 20 Während im Bereich der wachsenden Zahl von Selbstbiographien das neue Erkenntnisprogramm sich in der Spannweite von eigentlicher Anthropologie und der von diesem Kern aus viel allgemeineren Hinwendung zur »Erschließung des menschlich gemeinhin Interessierenden« entfaltete.21 Eigens erörtert werden soll hier aber in der Reihe der Beispiele für die Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen der bereits nächste Schritt dieser Entwicklung. Mit dem der Mensch nicht allein in seiner leib-seelischen Doppelnatur, sondern als darin in einer Korrelation mit dem ›Ganzen‹ der Natur stehend konzipiert worden ist. Wie dies in der deutschen Frühromantik insbesondere von Novalis, aber zeitgleich etwa auch mit dem Beginn des englischen Romantic

19 Vgl. zur kurzen Bestimmung dieser Richtungen der Anthropologie Marquard: Anthropologie, l.c., Sp. 363f. 20 Vgl. Hans Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 25. 21 Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 4. Zur Frage, in welcher Weise das Commercium mentis et corporis sich als aufschlussreich erweist für die von den Autoren jeweils entwickelte anthropologische Argumentation vgl. passim.

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Movement entworfen worden ist.22 Mit der Wendung auf dieses ›Ganze‹ wurden die anthropologischen Bestimmungen zwar entspezifiziert, aber als grundlegend für das romantische Dichtungsverständnis eine Entsprechungsverhältnis von Mensch (Dichter) und Natur schlechthin entwickelt. Im Spektrum der unterschiedlichen Begründungen dafür ist Novalis in bestimmten Hinsichten ein extremer Fall und so besonders aufschlussreich:Mit einer denkbar konsequenten Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹ nämlich, die Novalis in der Absicht des Vordringens zu einem ›wahren Idealismus‹ unternommen hat.

5. N OVALIS : D IE N ATUR ALS ›P LAN UNSERES G EISTES ‹ Die Komplexität des Hinausdenkens von Novalis über den gegebenen Weltzustand (wie sein Wissenschaftsverständnis, seine chiliastische Geschichtsphilosophie, seine Apotheose der Poesie) kann hier nur in einigen Hinsichten zur Geltung gebracht werden. Pointiert wird, wie von Novalis – über Kant und Fichte hinausgehend – das von Natur aus Gegebene (von Naturkosmos und körperlicher Natur des Menschen) dem Wirken intellektualer Anschauung des Erkenntnissubjekts unterworfen wird. So dass die Natur geradezu als ein »Plan unsers Geistes« begriffen wird und selbst für die körperliche Existenz des Menschen die traditionale Auffassung vom Naturgegebenen als einem beständigen Bestand außer Kraft gesetzt und überschritten wird. Einer der Ausgangspunkte dafür sind die Studien von Novalis zu einem unter den Voraussetzungen des ›wahren Idealismus‹ erweiterten Wissen von der Natur.23

22 Prägnantes Beispiel für das mit dem Romantic Movement Entworfene sind die Lyrical Ballads (1798) von William Wordworth und Samuel Taylor Coleridge mit den dazu von Wordsworth entwickelten dichtungstheoretischen Überlegungen zum – in Kürze gesagt – ›Verwachsensein‹ von Mensch und Natur. Wogegen Coleridge später in anderer Begründung Mensch und Natur als ›ein Ganzes‹ zu erweisen gesucht hat. In diesem Falle bildete, wie für Novalis, die zeitgenössische Philosophie des deutschen Idealismus einen wesentlichen Ausgangspunkt. 23 Für das hier zu Novalis Demonstrierte vgl. die Studie von Eckhard Heftrich: Novalis. Vom Logos der Poesie. Frankfurt a.M. 1969. Zitiert wird

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Schwelle dafür ist einerseits eine Flexibilisierung des Naturbegriffs: »Schon Novalis stößt auf einen Polyperspektivismus, der nach dem Zusammenbruch der Metaphysik und nach den Kritiken Kants für die Moderne kennzeichnend ist«. Deutlicher Beleg in dieser Richtung ist für Böhme, wie Novalis in »Die Lehrlinge zu Sais« ein ganzes Spektrum von »Erkenntnisweisen und Umgangsformen mit Natur« darlegt und nicht »einen Begriff der Natur« zu destillieren unternimmt. 24 Zugleich mit diesem Polyperspektivismus entwirft Novalis aber auch – was hier im Blick ist – das Überschreiten der phänomenalen zu einer noumenal verstandenen Natur.25 Wie sich dies auch in seinen Studien zeigt, mit denen er bekanntlich das Wissen von der Natur zu einer ›höheren‹ Chemie oder auch als ›magische‹ Physik, Mechanik, Mathematik zu erweitern gesucht hat. Geleitet von der Auffassung, dass derartige Erkenntnisse als ein Zusammenspiel von Wollen und Wissen zugänglich werden. Dass sie in der Weise gewonnen werden können, »wie wir unser Denkorgan in beliebige Bewegung setzen«. Auch die sinnliche Apperzeption wird als diesem Zusammenspiel von Wollen und Wissen gefügig entworfen: Zukünftig wird der Mensch »seine Sinne zwingen, ihm die Gestalt zu produciren, die er verlangt [...]«, wird sie »nach Gefallen modificiren und dirigiren können« (II, S. 583 f.). Was Novalis auch in dem Notat »Magie ist = Kunst die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen« statuiert hat (II, S. 546).

nach: Novalis: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Zweiter Band: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965. Nachweise im Folgenden mit Band und Seitenangabe im Text. 24 Hartmut Böhme: »Anthropologische Differenz. Über das Verhältnis von Natur und Kultur in der Debatte über das Humanum und die menschliche Würde«. In: Die Diffusion des Humanen. Grenzregime zwischen Leben und Kulturen, hg. von Jörn Ahrens/Mirjam Biermann/Georg Toepfer. Frankfurt a.M. 2007, S. 53-75. Zitat: S. 73. 25 Vgl. zur detaillierten Analyse der Voraussetzungen dafür Heftrich: Novalis, 1.c., Kapitel 9. Die zeigt: »Damit ist die theoretische Möglichkeit geschaffen, die phänomenale Welt in die noumenale zu transzendieren. Die Dinge so über die Grenze zu bringen heißt, sie in die Welt der Ideen zurückzutragen« (S. 131).

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Dazu ermächtigt ist das Erkenntnissubjekt letztlich durch den ihm von Novalis zugeschriebenen ›Geist‹, der das Denken zur ›hervorbringenden‹ Anschauung befähigt. Heftrich erläutert diese Auffassung von Novalis so »Unser Geist ist nicht nur Denkorgan, sondern absolutes Organ. Denn als Vernunft ist er der göttlichen Vernunft analog und dadurch intellektuale hervorbringende Anschauung«.26 So verstanden kann auch die Natur geradezu als ein »Plan unsers Geistes« aufgefasst werden. Der vom ›undurchdrungenen Chaos‹ des alten Reiches her, in dem sich das künftige spiegelt, wirklich werden soll. Heftrich kommentiert diesen Entwurf: »In dieser künftigen Welt sind Natur und Geisterwelt nicht mehr wunderlich vermischt, sondern die Natur ist als Ganzes in die Geisterwelt heimgekehrt«.27 Das so vorgestellte Verfügen des ›Geistes‹ über die Natur als Ganzes richtet sich selbst auf das im Menschen von Natur aus Gegebene. Das über den bestehenden Weltzustand hinaus auch anders gedacht und vorgestellt werden könne. Im Sinne der Absicht von Novalis, die vorfindlichen Schätze des Wissens nicht nur verzeichnen, sondern »mannichfaltig bearbeiten und benutzen« zu wollen (II, S. 583). Erwogen werden so, kraft der intellektualen hervorbringenden Anschauung, ›bearbeitende‹ Eingriffe in die physische Existenz des Menschen. Nicht nur als das zukünftige Modifizieren seiner Sinne, in Betracht gezogen wird selbst – Hemsterhuis folgend – die Umgestaltung menschlicher Organe. Möglich wird diese Überschreitung der traditionalen Auffassung vom Naturgegebenen als einem beständigen Bestand letztlich durch die dem Denkorgan des Erkenntnissubjekts zugeschriebene Erhöhung zu einem ›absoluten Organ‹. Wobei dieses Modifizieren und Umgestalten seinen größeren Kontext darin hat, dass die Natur überhaupt als ein ›Plan unseres Geistes‹ begriffen wird und dass Mensch, Welt und Naturkosmos als aufeinander zugeordnet gedacht werden. Demnach wären Mensch und Universum als ein Analogon zu begreifen und als dieses untrennbar Ganze Voraussetzung des Verstehens: »Wir werden die Welt verstehn, wenn wir uns selbst verstehn, weil wir und sie zwei integrante Hälften sind« (II, 584). Das ist ein Hinweis nur auf den umfassenderen gedanklichen Kontext, aus dem hier die dem Denkorgan des Erkenntnissubjekts sogar verfügbar gedachte ›Bearbeitung‹ der physischen Existenz herausgehoben worden

26 Heftrich: Novalis. Vom Logos der Poesie, 1.c., S. 138. 27 Heftrich: Novalis. Vom Logos der Poesie, 1.c., S. 121.

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ist. Weil sich darin in besonderem Maße manifestiert, wie weitgehend das von Novalis Entworfene die Doppelnatur des Menschen nach Leib und Seele unter die Prärogative ›unsers Geistes‹ stellt. Beispielhaft erscheint in dieser extremen Form die erörterte Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen zu einer letzten Konsequenz gebracht.28 Das war mit einem Spektrum von Ausarbeitungsformen in den wissenschaftlichen Diskursen wie in den dichtungstheoretischen Entwürfen der Zeit zu demonstrieren, weil diese epochale Tendenz auf eine grundlegende Problematik noch für die heutige Humanismus-Debatte führt, wenn diese sich auf Begründungen und Artikulationsformen beruft, in denen die damalige Humanitäts-Kultur sich formiert hat. Dafür werden im Folgenden nicht eigens deren viele Zeugnisse durchlaufen, sondern spezifischer die mit ihnen für die heutige Humanismus-Debatte geschaffenen Traditionsprobleme in Betracht gezogen. 29 Ausgehend von den in dieser Studie erörterten anthropologischen Implikationen des Humanismus ist dabei die Frage leitend, welche Deutungskompetenz der Humanismus jeweilig entwickelt, wahr-

28 Das von Novalis Entworfene ist als Extremfall dieser Wendung besonders aufschlussreich, aber als Beleg für sie auch einzuschränken durch das Spektrum anthropologiebezogener literarischer Texte und dichtungstheoretischer Entwürfe der Zeit. Wenigstens Hinweise darauf gibt das dazu auf S. 71 f. Angemerkte. 29 Für die Präsenz der anthropologischen Problematik im Humanismusverständnis der Weimarer Klassik vgl. etwa Jürgen Kost: Wilhelm von Humboldt – Weimarer Klassik – Bürgerliches Bewusstsein. Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800. Würzburg 2004. (Zu Schiller S. 80 ff.; zu Goethe S. 62 ff.; zu Wilhelm von Humboldt S. 129 ff.). Vgl. jetzt auch den Band: Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert. Bd. I: Genese und Profil des europäischen Humanismus. Heidelberg 2009, hg. von Martin Vöhler und Hubert Cancik, auf deren Beiträge (S. 127-144 und S. 113126) besonders zu verweisen ist. Die Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen ist dabei als solche nicht eigens Thema, aber mit der Erörterung bestimmter Autoren im Feld von Humanismus und Humanitäts-Kultur vielfach evident. In diesem Band auch der in der Vorbemerkung bereits angemerkte Beitrag von Jörn Rüsen: »Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus«. Die Orientierung dabei am klassischen Humanismus wird (vgl. Kap. III,2) zu erörtern sein.

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genommen und zur Geltung gebracht hat. Rückblickend einzuschätzen ist, wie dies einerseits im rhetorischen Humanismus und andererseits in der Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen konzipiert war. Und vorauszublicken ist auf die sich heute dafür abzeichnende Problemlage und deren Nähe bzw. Distanz zur Tradition des Humanismus. Für das zunächst, was sich heute abzeichnet, kann die Entwicklung geltend gemacht werden, die im Blick auf die entstandenen ›Grenzregime zwischen Leben und Kulturen‹ debattiert wird.

III Deutungskompetenter Humanismus heute Zu den Grenzregimen von Biogenese und Kulturgeschichte (Debatte)

Die dazu geführte Debatte, die in der anthropologiebezogenen Linie dieser Studie bezeichnend ist für die heute gegebenen Voraussetzungen zur Explikation und Deutung der ›Doppelnatur‹ des Menschen, macht zwar die Humanismus-Problematik nicht eigens zum Thema. Die aber in Fragen wie der nach dem Humanum und der menschlichen Würde impliziert ist. Und unmittelbar betrifft diese Debatte den Humanismus insofern, als sie Bedingungen für die Deutungskompetenz klärt, die der Humanismus heute zur Orientierung der menschlichen Lebenspraxis umfassen muss. Sie leistet dies, indem sie sich formiert als kritische Diagnose des expansiven Fortschritts der life sciences und einer »Diffusion des Humanen«, wie diese sich gegenwärtig in den Grenzregimen zwischen Leben und Kulturen und ihren Wissenschaften vollziehe.1 In die Argumentation dieser Debatte ist zunächst einzuführen. Zum Verständnis der Gehirnforschung etwa wird registriert: »es gibt eine neue Deutungsmacht der Biowissenschaften, die mit dem Selbstverständnis von Psychologie und Geisteswissenschaften kollidiert«. Biowissenschaftliche Erklärungen würden als »ultimative Erklärungen« aufgefasst.2 Nicht nur gegen einen sich damit verbinden1

Jörn Ahrens/Mirjam Biermann/Georg Töpfer (Hg.): Die Diffusion des Hu-

2

Andreas Hüttemann (Hg.): Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften. Pa-

manen. Grenzregime zwischen Leben und Kulturen. Frankfurt a.M. 2007. derborn 2008. Zitate: S. 11, S. 10.

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den »allumfassenden Zuständigkeitsanspruch« wird Einspruch erhoben. Registriert wird auch eine im Zuge dieses Anspruchs beobachtbare »problematische Naturalisierung des Menschen«. Herausgefordert sei die Reflexion des damit einhergehenden Trends zur eingreifenden ›Bearbeitung‹ der gegebenen Konstitution des Menschen: […] die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen (wird) bearbeitet, arbeitsteilig von der Sinnesphysiologie über eine behavioristische Psychologie bis zu den Evolutionskonzepten der Anpassung unseres »Weltbildapparates« (Konrad Lorenz) an die Wirklichkeit.3

Vor allem problematisch erscheinen die darüber noch hinausgehenden Entwicklungen des ›Bearbeitens‹. Mit den Fragen also, die sich – im Kontext der Gen-Debatte – radikaler stellen als für den Menschen erreichte Schwelle, »zum technischen Autor ihrer selbst zu werden«. Womit es letztlich um die »anthropologischen Konsequenzen der sogenannten Anthropotechniken« geht.4 Diese kurz skizzierte generelle Fragestellung der Debatte ist von Hartmut Böhme in einer Weise expliziert und konkretisiert worden, die auf eine Grundlagenreflexion auch für die vom Humanismus heute zu leistende kulturelle Selbstaufklärung führt. Indem Böhmes Erörterungen vom Verhältnis von Natur und Kultur ausgehen, schärft sich nicht nur der Blick für die jeweiligen Modalitäten, nach denen gegenüber der heutigen Problemlage dieses Verhältnis in der Epoche des rhetorischen wie des klassischen Humanismus jeweilig ausgearbeitet worden ist. Insbesondere leitet die Argumentation von Böhme grundlegend auf die vom Humanismus heute geltend zu machende Deutungskompetenz: Insbesondere mit den Begründungen dafür, dass mit dem expansiven biowissenschaftlichen und biotechnischen Fortschritt das, was so zunehmend durchschaubar und modellierbar wird, zu-

3

Peter Janich: »Natur und Kultur. Philosophische Argumente für ihre Differenzierung und Polarisierung«. In: Die Diffusion des Humanen, 1.c., S. 7790. Zitate: S. 79 f.

4

Hartmut Böhme: »Anthropologische Differenz. Über das Verhältnis von Natur und Kultur in der Debatte über das Humanum und die menschliche Würde«. In: Die Diffusion des Humanen, 1.c., S. 53-75, Zitate: S. 56. Nachweise zu diesem Beitrag von Böhme im Folgenden als Seitenangabe im Text.

D EUTUNGSKOMPETENTER HUMANISMUS

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gleich und gerade immer ›kulturverwickelter‹ gegeben ist. Auf die darin liegende Perspektive für die heutige Humanismus-Debatte ist genauer einzugehen.

1. N ATUR /K ULTUR , K ÖRPER /G EIST : AUFLÖSUNG TRADITIONALER B EGRIFFSOPPOSITIONEN Aufschlussreich für die heute sich entwickelnde Problemkonstellation ist bereits ein für das Verhältnis von Natur und Kultur wesentlicher Begriffswandel. Der sich vollzogen hat als Verlust der traditionalen Geltungskraft von Begriffsoppositionen wie »Geist/Seele versus Natur; techné versus physis, Kultur versus Natur, Freiheit versus Natur« (S. 72). Wie Böhme dies in kritischer Revision jenes verengten Blicks beispielhaft verdeutlicht, der sich als vom Naturgegebenen geleitet auf den biologischen Anfang des Lebens gerichtet hatte.5 Die nach heutigem Erkenntnisstand hinfällige Geltung der Begriffsoppositionen wird aber auch grundsätzlich geltend gemacht, bis hin zu den geschichtstiefen Befunden der Paläoanthropologie. Wie dies belegbar sei anhand der bereits in der mittleren Steinzeit ausdifferenzierten komplementären Dispositive des sprachlich-symbolischen und des technologischen Feldes: »Beide sind koevolutiv und tragen den take-off der Kultur; und

5

Geltend gemacht wird, wie bereits an diesem ›Anfang des Lebens‹ biologische und kulturelle Bedingungen ineinander greifen. Demnach stehen dem biologischen Anfang im postnatalen Lebenszyklus der Individuen immer neue Anfänge (wie Pubertät, Mutter- oder Vaterschaft) als »SchwellenZeiten« gegenüber, »an denen biologische Prozesse stets bedingend beteiligt sind«. Hier treten ebenso biologische und historisch-kulturelle Konditionen zusammen, wie bereits die pränatale Zeit (Schwangerschaft) »durch eine Reihe von biologischen und kulturellen Einschnitte gekerbt« ist. Die Bestimmungsansätze unterscheiden sich, sind zur Klärung der Sachverhalte aber beide erforderlich und zeigen so vor allem (wie die Schwangerschaft als eine »seit Jahrtausenden [...] komplexe kulturelle Konfiguration«), dass sich der Beginn des menschlichen Lebens nicht einfach »naturwissenschaftlich bestimmen lässt« (S. 58). Was hier zunächst am Beispiel des Lebensverlaufs der Individuen konstatiert ist, wird im Folgenden für die heute spezifisch erreichte ›Verschaltung‹ von Natur und Kultur entwickelt, auf die es in dieser Studie ankommt.

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beide sind in der physis des Menschen fundiert« (S. 61). Diese ›Verschaltung‹ von Natur und Kultur ist durch die Denktraditionen ihrer Entgegensetzung lange verdeckt gewesen. Schon paläoanthropologisch könne aber geltend gemacht werden: Unsere spezifische Physiologie bildet die Voraussetzung für die nicht-determinierte, offene, also historische Überschreitung eben dieser Natur in Richtung auf einen Evolutionsschub, den wir ›Kultur‹ nennen (S. 61).

Genauer einzugehen ist hier aber vor allem auf die so bereits geschichtstief belegbaren Voraussetzungen für die Entwicklung zum heute gegebenen Verhältnis von Natur und Kultur. Böhme hält fest, dass von diesem Evolutionsschub auch der Schritt zu jener Vernunft ausgegangen ist, die zu einer kognitiven Vergegenständlichung und zunehmender technischer Modellierung der Naturgeschichte geführt hat. Von entscheidendem Interesse ist der daraus entwickelte Befund, in welchem Maße das mit diesem Evolutionsschub Begonnene die heutigen life sciences mit ihren Modellierungsmöglichkeiten selbst immer ›kulturverwickelter‹ macht: Gerade indem Molekularbiologie und Medizin, Neurowissenschaften und Bioinformatik immer mehr Segmente der Menschwerdung nicht nur durchschauen, sondern auch technisch zu modellieren vermögen, sinkt die kulturelle Dimension immer tiefer in den Menschen hinein (S. 63).

Das so Diagnostizierte wirft eine doppelte Problematik auf. Zum einen den faktischen Sachverhalt, dass in diesem Prozess das im Menschen Naturgegebene und seine kulturelle Selbstverwirklichung den konstitutiven Ort ihrer Konnexion immer tiefer und komplexer in der Erschließung dieser Segmente haben. Was in dieser Form der ›Verschaltung‹ von Natur und Kultur heute bereits auf »subzellularer Ebene« der Fall sei. Dem ist Rechnung zu tragen: »das ist das Neue« (S. 63). Zum anderen ist die Problematik, wie diese immer tiefer in den Menschen hinein sinkende kulturelle Dimension im Sinne kultureller Orientierung der menschlichen Lebenspraxis zu beurteilen und zu deuten ist. Böhmes zunächst allgemeine Schlussfolgerung ist: Dieses immer weitere Durchschauen und Modellieren des Menschen ist in der Rechtfertigung des Vorgehens wie hinsichtlich der zu verantwortenden Folgen –

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wie immer der biowissenschaftliche Erkenntnisfortschritt sich dies selbst zurechnen mag – unabdingbar kulturell zu verhandeln. Aus der Sicht des Kulturwissenschaftlers ist das grundsätzlicher Einspruch gegen eine mit dem Erkenntnisfortschritt sich zugleich abzeichnende problematische Deutungsmacht der Biowissenschaften: Wenn es heute die life sciences sind, welche die Kultivierung des Menschen vorantreiben, so sind sie all den Aushandlungsregeln zu unterwerfen, die in unserer Kultur gelten. Biologie ist eine Kulturtechnik geworden, und damit fällt sie, als historische Praxis, ins Feld der Geschichte (S. 63).

Ohne diesen Befund in der Breite der darin umfassten Sachverhalte im Einzelnen zu erörtern, kann jedenfalls als evident gelten, dass die mit der diagnostizierten ›Verschaltung‹ von Natur und Kultur gegebene Problemlage unabdingbar kulturell zu verhandeln ist. Mit dieser Aufgabe ist aber gerade auch der Humanismus heute – in der Tradition der von ihm stets beabsichtigen und geleisteten kulturellen Orientierung der menschlichen Lebenspraxis – unweigerlich konfrontiert: Der Humanismus, der damit eine Grundlagenreflexion seiner heute erforderlichen Deutungskompetenz zu leisten hat. In der anthropologiebezogenen Linie dieser Studie zu zwei zentralen Epochen der Entwicklungsgeschichte des Humanismus sind die jeweiligen Konditionen der wahrgenommenen Kompetenz erörtert worden. Ein Rückblick darauf führt auf ein Dispositiv für die heutige Humanismus-Debatte, das dem in dieser Studie Entwickelten Rechnung trägt.

2. H ISTORISCHE M USTER DER D EUTUNGSKOMPETENZ DES H UMANISMUS Innerhalb der Topica universalis und im Kontext der kulturanthropologischen Grundauffassung des rhetorischen Humanismus hat Melanchthons humanistisches Reformprogramm eine umfassende Erschließung, Deutung und Orientierung der menschlichen Existenz und ihrer kulturellen Explikation entwickelt. Was sich – wie gezeigt – gerade anhand der Loci communes als kategorialer Gesichtspunkte und fundamentaler Prozeduren zur Ausarbeitung dieses Programms erweist. Anhand der Loci also, die sich gegenüber den vielen einzelnen und je spezifischen causae auf das richten, was in ihnen zugleich auch

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communis gegeben ist. Die zentrale epistemologische Rolle dieser Loci, die sie zu einer Art ›Universalschlüssel‹ der Wissensordnung und der Wissenschaftspraxis der Zeit hat werden lassen, beruht einerseits auf Melanchthons Ausarbeitung der ›topischen‹ Heuristik rhetorischdialektischer Herkunft. Dabei beruht sie aber zugleich auf der Geltung, die diese Loci im Referieren auf die natura und die natura hominis haben: Sie sind gültig als aus den tiefsten Fundstätten der Natur zu erheben. Wie sich unter diesen Voraussetzungen die Deutungskompetenz des Humanismus formiert, zeigt prägnant der zentrale Abschnitt zu den Loci communes in Melanchthons Rhetorik von 1519. Hier hat Melanchthon ein in diese Loci gefasstes Erkenntnisprogramm von den res humanae omnes konzipiert und geltend gemacht. Bezeichnend für die Perspektive dieses Programms ist, wie Melanchthon hier die Sachverhalte, die als Loci communes gegeben und zu erschließen sind, in zweifacher Richtung als formae bestimmt und ordnet.6 An erster Stelle werden sie statuiert als die formae vivendi der menschlichen Lebenswirklichkeit: Wie diese als Leben, Tod, forma des Menschen Grundsachverhalte jeder menschlichen Existenz sind. Solche Loci communes sind aber auch die der menschlichen Lebenspraxis: Die einerseits sich qua fortuna einstellen (wie Reichtum, Geburtsstand, Ehrenstellung), andererseits aber in nostra potestate liegen (wie die Tugenden und Laster). So richten sich die Loci der formae vivendi – vom natürlich Gegebenen über die historisch-sozialen Umstände und das ethische Verhalten – auf ein umfassendes Grundgerüst des menschlichen ›Lebens‹. Die kulturanthropologische Grundauffassung des rhetorischen Humanismus findet darin unmittelbaren Ausdruck. Die Loci communes bestimmt Melanchthon aber zugleich und im Sinne der studia humanitatis vor allem als gerichtet auf die formae

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Der forma-Begriff ist schwer eindeutig fassbar. Vgl. die bereits von Aristoteles vollzogene Zusammenführung von verschiedenen Bedeutungssträngen mit dem Ergebnis: »he made the concept of form into a powerfül, flexible and universaly applicable explanatory tool« (Norma E. Emerton: The scientific Reinterpretation of Form. Ithaca u.a. 1984, S. 48.) – Zum Bedeutungsgehalt bei Cicero vgl. Alain Michel: Les rapports de la rhétorique et de la philosophie dans l'oeuvre de Cicéron, l.c, S. 191 ff. – Die Klärung von Melanchthons Verwendung des forma-Begriffs trifft auf die bekannten Schwierigkeiten humanistischer Ingebrauchnahme der philosophischen Tradition. Vgl. dazu S. 39, Anm. 42 u. 43.

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rerum. Hier haben sie das Statut, das Gerüst des ganzen wichtigen und nützlichen Wissens, das im disziplinären Lehren und Lernen der Wissenschaften erarbeitet wird, in sich zu fassen. Sie unterscheiden sich von den formae vivendi als auf die Stoffaneignung und Urteilsbildung zum Sachverhalt der res gerichtet. Melanchthon sieht auch, dass sie darin eine andere Qualität haben als gerade die Loci der Tugenden und Laster, die er demgegenüber als regulae spezifiziert. Der entscheidende Befund ist: Melanchthons humanistisches Reformprogramm macht – mit dem so gefassten Statut seiner Loci-Lehre – eine derart umfassende Deutungskompetenz des Humanismus geltend. Demgegenüber hat die erörterte epochale Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen, die Kontext auch des klassischen Humanismus ist, zu anderen Modalitäten seiner Deutungskompetenz geführt. Was in seinen Konsequenzen noch für die heutige Humanismus-Debatte sich aufschlussreich erweist, wobei statt des klassischen Humanismus selbst hier die Ausarbeitung dieser Debatte in Betracht gezogen wird, mit der zur Reflexion eines ›zukunftsfähigen Humanismus‹ die ›Traditionsprobleme‹ des klassischen Humanismus von Rüsen erörtert worden sind. So ist eine Argumentation entwickelt worden, die der vom Klassischen Humanismus wahrgenommenen Deutungskompetenz verhaftet bleibt, aber kritisch expliziert, inwiefern der so formierte Humanismus keineswegs »per se« zukunftsfähig sei.7 Gleichwohl werden hier im Rückbezug auf Leitgedanken des klassischen Humanismus grundlegende Kriterien für die gegenwärtig erforderliche Deutung und Bedeutung des Humanismus entwickelt. Für deren Gebrauch in globalisiert erweiterter Perspektive unter anderem auch ›anthropologische‹ Begründungshinsichten einbezogen werden.8 Insofern berührt sich das von Rüsen zu bedenken Gegebene mit dem

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Rüsen: Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus,1.c., S.

8

Vgl. etwa im Kontext des Ethnozentrismus-Problems die Argumentation

209. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text. Rüsens: »Es handelt sich um die dem Humanismus anthropologisch zugrunde liegende Tatsache, dass dem Menschsein des Menschen selber, ganz unangesehen seiner unterschiedlichen Lebensformen, ein Wert in sich zukommt«. (S. 206) Und in Anm. 21, ebenfalls S. 206: »Es handelt sich nicht um den gleichen Wert, sondern nur darum, dass das Menschsein des Menschen anthropologisch-universell ontologisch-werthaft verstanden wird«.

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in der Linie dieser Studie Vertretenen. Das in ihr Entwickelte stellt aber die Orientierung am klassischen Humanismus – angesichts der von ihm formierten Deutungskompetenz – entschieden in Frage. Darauf richtet sich die folgende Auseinandersetzung mit Rüsens Explikationen zu einem zukunftsfähigen Humanismus. Bezeichnend für diese Orientierung ist die, mit Berufung auf Kant, geltend gemachte essenzielle Bestimmung des Humanismus, dass der Mensch als Kulturwesen sich eine bestimmte »ontologische Qualität« zuschreibt, die seine »Selbstzweckhaftigkeit« ausmacht. Genauer: Diese Qualität des Menschseins ist dann humanistisch, wenn sie das Verhältnis der Menschen zueinander und zu sich selbst mit der Direktive wechselseitiger kritischer Anerkennung bestimmt. Kant hat dieser Direktive die Fassung eines kategorischen Imperativs gegeben. Er besagt, dass man alle Menschen niemals nur als Mittel für die Zwecke anderer, sondern immer auch als Zwecke in sich selbst ansehen und dieser Ansicht entsprechend behandeln müsse (S. 202).

Diese der zeitgenössischen Humanitätskultur verdankte Bestimmung scheint also zunächst allgemein und abstrakt geeignet, den Humanismus für ›alle Menschen‹ – und damit gerade in der Epoche der Globalisierung – als zuständig in seiner Funktion kultureller Orientierung der menschlichen Lebenspraxis auszuweisen. Das generelle Kriterium der »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen lässt sich durchaus konkretisieren und für Anspruch und Leistung des Humanismus sinnfällig machen. So kann etwa die dem Menschen »anthropologisch universell« eigene Bedürftigkeit und Fähigkeit zur Bildung geltend gemacht werden. Oder es lässt sich auf das Recht im Spektrum seiner Erscheinungsformen verweisen: Die als rechtliche Regelung politischer Herrschaft, als Verfassungen oder Menschenund Bürgerrechte »Früchte vom Baum der ethischen Ontologie menschlicher Selbstzweckhaftigkeit« sind (S. 202 f.). Zweifellos sind dies – und bleiben es – genuine Aufgaben und Leistungen des historischen wie eines zukünftigen Humanismus. In Frage steht aber, wie die Deutungskompetenz des Humanismus formiert war, anhand derer die Kultivierungsleistung des Humanismus erbracht worden ist. Und da ist die Direktive von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen – um eine Formulierung von Rüsen kritisch zu wenden – Frucht vom Baum einer Ausarbeitung der neuen Anthropologie der Zeit zu einer einseitigen und limitierten Deutungskompetenz. Die so wahrgenommen worden

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ist im Kontext der epochalen Tendenz zu einer geistig-kulturellen Explikation des im Menschen leib-seelischen Konnexes. Die vollzogen worden ist in Diskursformen wie etwa Winckelmanns Beweisführung, welche die leiblich schöne Natur der griechischen Stämme zur geistigen Natur ihrer Statuen-Kunst und deren ästhetisch-ethischer Vollkommenheit wendet. Oder die in Kants Anthropologie sich manifestiert, indem diese nicht nach Naturursachen fragen will, aber aus den Zwecken der Natur, für jedes Geschöpf das Erreichen seiner Bestimmung zu wollen, eine Teleologie der Kultivierung des Menschen ableitet: sich nämlich gemeinschaftlich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren. Die als epochale Tendenz aber auch für die Grundlagenreflexion der Geisteswissenschaften zur Geltung kommt, wie hier anhand der von Humboldt in den Standpunkt des Geschichtsschreibers implizierten Anthropologie demonstriert worden ist. In Rüsens Fußen auf dem klassischen Humanismus ist zwar die zeitgenössische Vorstellung von der Antike als eines der ›Traditionsprobleme‹ für die heutige Debatte diagnostiziert. Für die Erfordernisse dieser Debatte ist demnach »die für den deutschen Humanismus maßgebliche Vorstellung von der Antike als paradigmatischer Verwirklichung der dem Menschen von Natur eigenen Humanität« (S. 211) hinfällig. Allerdings wird nicht erörtert, wie diese »Fiktionalisierung der Antike« – ausgehend von Winckelmann – zur Geltung gebracht worden ist. Und wenn Rüsen an anderer Stelle dezidiert gegenüber dem klassischen Humanismus feststellt, dass eine der Bedingungen für einen zukunftsfähigen Humanismus »die Reintegration der Natur in das Selbstverständnis des Menschen als Kulturwesen« wäre (S. 216), so bleibt das widersprüchlich. Zwar wird eingeklagt: »Wir bleiben auch dort Natur, wo wir uns zu den Höhen geistiger Selbstzweckhaftigkeit aufschwingen« (S. 216). Aber das zur Bestimmung des Humanismus grundsätzlich geltend gemachte Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit steht im Kontext gerade der tendenziellen ›Naturvergessenheit‹, die in dieser Studie anhand der Ausarbeitungsformen des anthropologischen Leitmotivs von der leib-seelischen Konnexion demonstriert worden ist. Und die geforderte ›Reintegration der Natur‹ kann nicht subsidiär in ein Fußen auf der klassischen Humanitäts-Kultur eingefügt werden. Für einen zukunftsfähigen Humanismus bedarf es dazu einer Grundlagenreflexion zu der Deutungskompetenz, die der Humanismus gegenwärtig zur kulturellen Orientierung der Lebenspraxis

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entwickeln und wahrnehmen muss. Das ist in der Linie dieser Studie die zentrale Frage für die heutige Humanismus-Debatte und weiter zu erörtern. Mit den von Rüsen diagnostizierten Traditionsproblemen des klassischen Humanismus ist auch eine andere besondere Herausforderung für diese Debatte vorgezeichnet. Darauf führen Sachverhalte wie die den universalhistorischen Entwürfen der Zeit zugleich inhärenten »ethnozentrischen Züge«, die in dem Maße zur Geltung kämen, wie die »eigene Bildung« als Modell der menschlichen Selbstzweckhaftigkeit erscheint (S. 212). Oder es wird die Problematik des dieser Epoche des Humanismus und der Humanitäts-Kultur zugehörigen Vernunftbegriffes erörtert, der die mit ihm gegebene Gleichheitsvorstellung nicht ohne »Züge kultureller Spezifik« realisiert. Und der sich in der Form »instrumenteller Vernunft« auch gegen die Humanisierung des Menschen wenden kann (S. 213). Der klassische Humanismus, mit dem das Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit der Menschen geltend gemacht wird, wirft so – wenn auch nur in ›Zügen‹ – die Ethnozentrismus-Problematik auf, die sich für eine globalisierte HumanismusDebatte elementar und unausweichlich stellt. Für die eine Lösung angesichts der differenten Vielfalt ethnozentrischer und kulturspezifisch interpretierter Selbstdeutungen entworfen werden muss. Die von Rüsen dazu entwickelte Perspektive kann als ein Siegel auf seine – wenn auch mit den Traditionsproblemen kritisch gesehene – Orientierung am klassischen Humanismus gelesen werden. Dafür wird ausgegangen vom spannungsvollen »Verhältnis zwischen Selbst- und Anderssein« (S. 206), das unter den heute gegebenen Bedingungen so beschrieben werden könne: Schon längst gibt es eine Zivilisationsökumene mit kulturübergreifenden Lebensformen und regulativen Prinzipien. Aber dort, wo es um Zugehörigkeit und Abgrenzung als elementares Phänomen menschlicher Daseinsorientierung, also um Identität geht, steht die Antwort nach einer zivilisationsökumenischen Regelung des Verhältnisses von Selbst- und Anderssein in individuellen und kollektiven Bezügen der Lebenspraxis noch aus (S. 205).

So ist eine Humanismus-Debatte, die sich der Herausforderung durch die Globalisierung stellt, gerade in dieser Hinsicht als zuständig und weiterführend auszuweisen. Rüsen macht dafür eine Reihe von Präze-

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dentien und einen Perspektivenwechsel des historischen Denkens geltend. Rückblickend werden dafür Vorgaben bereits des klassischen Humanismus zur Bewältigung dieser ethnozentrischen Daseinsorientierung berufen. Wie das über die Kulturen hinweg allgemeingültige Kriterium, das als Bestimmungsgrund des Humanismus vorgeschlagen wird (die mit Kant begründete Selbstzweckhaftigkeit des Menschen). Auch der Vernunftbegriff der Epoche des klassischen Humanismus wird in einer Hinsicht jedenfalls für zukunftsfähig gehalten (mit der ihm inhärenten Gleichheitsvorstellung). Wie auch das zeitgenössische Regulativ der Kritik zukunftsgewendet wird (im Sinne wechselseitiger kritischer und selbstkritischer Anerkennung der Kulturen). Gegenüber derartigen, im klassischen Humanismus schon vorgezeichneten Ansatzpunkten, plädiert Rüsen in heuristischer Wendung aber auch vorausschauend für eine veränderte »Logik« des historischen Denkens: Statt durch eine ursprungsorientierte Teleologie sollten die identitätsbildenden Meistererzählungen und Meisterdiskurse durch eine zukunftsbezogene Rekonstruktion gedanklich organisiert werden. Getrennte Ursprünge werden dann durch eine gemeinsame Zukunft überholt (S. 215).

Die Perspektive ist, dass so dem Maßstab der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ein neuer universalhistorischer Deutungsrahmen »abgewonnen« werden könne. Und dass die auf neue Weise zur Geltung gebrachten vielfältigen Traditionen »unter der Direktive einer Zukunft wechselseitiger kritischer Anerkennung kultureller Differenz auch anerkennungsträchtiger interpretiert werden als bisher« (S. 215). So sehr dies als ›Direktive‹ ein überzeugendes Plädoyer ist, die grundsätzlichere Frage nach der Deutungskompetenz, die der Humanismus für die heute gegebenen Problemlagen unter Beweis stellen muss, ist damit nicht aufgeworfen. Wie Rüsen dies im Ausgehen vom klassischen Humanismus als einem ›Traditionsproblem‹ aber in der Form zu bedenken gibt: Dass für einen zukunftsfähigen Humanismus »die Reintegration der Natur in das Selbstverständnis des Menschen als Kulturwesen« nötig wäre (S. 216). Zwar sei im klassischen Humanismus etwa bei Herder die Natur noch – »ganz im Sinne der lebenswissenschaftlichen Anthropologie seiner Zeit« – mit der Natur der Menschheitsgeschichte vermittelt. Oder Kant begründe, wenn er die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entwi-

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ckelt, diese mit einem »Plan der Natur«. So wäre also die Natur in den Diskursen der Zeit durchaus zur Geltung gebracht. Aber: »Diese Natur […] ist in der Geschichte des modernen Humanismus wenig oder gar nicht zum Zuge gekommen« und insofern bedürfe der heutige Humanismus eine ›Reintegration der Natur‹ (S. 214). Aus der Sicht der vorliegenden Studie bedarf gerade diese, für die Deutungskompetenz des Humanismus zentrale Frage, genauerer Klärungsversuche. Rückblickend ist dafür an das von Cicero vorgegebene und im Erkenntnisprogramm der humanistischen Reform Melanchthons genuine Referieren auf die natura und die natura hominis zu erinnern. Und vorausblickend ist gegenüber der epochalen Tendenz zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen als Kontext auch des klassischen Humanismus auf die heute gegebene Problemlage im Verhältnis von Natur und Kultur Bezug zu nehmen. Die anthropologiebezogen bereits anhand der Debatte um die ›Grenzregime zwischen Leben und Kulturen‹ erörtert worden ist, aber für einen deutungskompetenten Humanismus einen viel umfassenderen Kontext hat. Das soll zunächst beispielhaft erläutert werden, um dann auf die HumanismusDebatte direkt zurückzukommen.

3. Z EITDIAGNOSE

UND HUMANISTISCHE D EUTUNGSKOMPETENZ

Manifestes Beispiel für den viel umfassenderen Kontext ist insbesondere die Klimafrage, wie diese jetzt als »Zeitdiagnose« analysiert und beurteilt worden ist.9 Die Frage stellt sich in mancher Hinsicht analog zu den Konditionen der heutigen Humanismus-Debatte. Wie mit der global gegebenen Sachlage: »So stellt der Klimawandel den Prototyp der Problemszenarien einer globalisierten Welt dar: Keine Entscheidung bleibt in ihren Folgen auf das Lokale beschränkt […]« (S. 35). Oder wie mit der Ethnozentrismus-Problematik: Das Verharren in ethnozentrisch kultureller Selbstdeutung als einem tief verwurzelten »Habitusproblem«, das eine »universelle Rationalität« im Handeln und Entscheiden verstellt (S. 81). Vor allem aber und hier hervorzuheben:

9

Claus Leggewie/Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt a.M. 2009, S. 14. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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Der Klimawandel und seine Folgen führen auf die Diagnose einer »Kulturkrise«, die in der Studie von Leggewie/Welzer komplex entwickelt wird. Die hier zum Klimawandel als Materie der Naturwissenschaften aus der Sicht der Sozial- und Kulturwissenschaften erörtert wird. In dieser Hinsicht überschneiden sich die Befunde der Diagnose mit dem, was der Humanismus gegenwärtig und zukünftig zur Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in sein Selbstverständnis wird aufnehmen müssen. Von Seiten des Klimawandels wird dies evident, wenn angesichts der mit ihm entstandenen Instabilität für verlässlich gehaltener Tatbestände die Fragen kulturell neu zu leistender Deutungen aufgeworfen sind: »Wie das Fraglichwerden kulturell wahrgenommen, mit ›Sinn‹ ausgestaltet, in soziale Verhaltensweisen überführt wird und kulturelle Referenzrahmen bildet« (S. 32). Die Studie zum Klimawandel plädiert zur Klärung und Lösung dieser Problemlage für ein »neues kulturelles Modell« (S. 52 f.). Mit dem Veränderungen in den ›Lebensstilen‹ und ›Handlungsoptionen‹ einzuführen wären, zu denen auch »die Formulierung normativer und identitätsstiftender Zukunftsziele« gehört (S. 135). In Stichworten angeführt, wird das in Argumentationen für eine »Renaissance des Politischen«, eine »Kulturrevolution des Alltags« und »mehr Demokratie« in der Bürgergesellschaft konkretisiert. Die mit dem Klimawandel omnipräsente Frage nach dem heute gegebenen Verhältnis von Natur und Kultur wird hier mit einem kulturellen Modell aus politisch-soziologischer Sicht entfaltet. Demgegenüber ist die sich auch für einen heute zur Geltung zu bringenden Humanismus stellende Frage – angesichts des geschichtlichen Selbstverständnisses des Humanismus – in anderer Weise zu erschließen. Mit dem in dieser Studie anthropologiebezogen Entwickelten zeichnet sich dafür eine Grundlage ab. Konzeptuelle Folgerungen In der humanismusgeschichtlichen und dabei anthropologiebezogenen Linie dieser Studie führen die Eckpunkte der dabei erhobenen Befunde auf ein Plädoyer zur weiteren Ausarbeitung der Humanismus-Debatte. Leitend dafür ist die in drei historischen Schritten untersuchte Frage nach der Deutungskompetenz des Humanismus. Die für das Erkenntnisprogramm von Melanchthons humanistischer Reform mit der dafür konstitutiven Rolle von natura und natura hominis zu entwickeln war.

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Die für den klassischen Humanismus im Kontext der Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen die Problematik tendenzieller ›Halbierung‹ der zeitgenössischen Anthropologie leib-seelischer Konnexion und der Ausarbeitung so einer Humanitäts-Kultur geltend gemacht hat. Nach der zu fragen sich heute dagegen mit den Debatten um die Grenzregime zwischen Leben und Kulturen und der ›bearbeiteten‹ natura und natura hominis neu stellt. Geht man von diesem Szenario aus, dann legen sich einige Folgerungen und Vorschläge für die heutige Humanismus-Debatte nahe. Zunächst: Der Humanismus ist auf der Grundlage eines bestimmten Deutungsrahmens geschichtlich wirksam geworden, wie dieser sich ursprünglich im Bedeutungsspektrum von humanitas formiert hat (humanitas als gerichtet auf die conditio humana, das genus humanum, auf Menschlichkeit im Fühlen und Handeln). 10 Dem Grundkonzept nach handelt es sich also um einen anthropologisch-ethisch ausgerichteten und begründeten Deutungsrahmen, der in dieser Orientierung in der Geschichte des Humanismus jeweilige Ausarbeitungen erfahren hat. Der sich im rhetorischen Humanismus der Frühen Neuzeit – wie mit der Loci-Lehre Melanchthons im Einzelnen entwickelt – zu einem umfassenden Erkenntnisprogramm der formae vivendi mit Letztbegründungen durch die natura und insbesondere die natura hominis entwickelt findet. Der in dieser Orientierung auch für den klassischen Humanismus noch wirksam war. Hier aber im Kontext der zeitgenössisch neuen Anthropologie leib-seelischer Konnexion und ihrer Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen mit vor allem deren Ausarbeitung spezifischer den Weg zur Entwicklung einer Kultur der Humanität genommen hat. Das ist hier so pointiert nicht nur gegenüber dem ursprünglichen Deutungsrahmen herauszustellen. Es ist vor allem aufschlussreich für die heute zu führende HumanismusDebatte aufgrund einer gegenläufig sich entwickelnden Problemlage. Mit der sich die dem Humanismus eigene ›kulturanthropologische Grundauffassung‹ im Kontext des heute erreichten Verhältnisses von Natur und Kultur anders und neu stellt.

10 Vgl. zur Explikation dieses Bedeutungsspektrums den Beitrag von Hubert Cancik in dem Band »Interkultureller Humanismus«, der in Kapitel V dieser Studie (Anmerkungen zur Humanismus-Debatte) erörtert wird. Insbesondere S. 122 f.

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So wird es wesentliche Bedingung für einen unter den heutigen Voraussetzungen neu zur Geltung zu bringenden Humanismus sein, sich für diese Problemlage als deutungskompetent zu erweisen. In der die Natur und das im Menschen Naturgegebene im Horizont der Eingriffe in sie und ihrer ›Bearbeitung‹ der kulturellen Deutung bedürfen. So wie sich dies mit der Klimafrage oder dem Fortschritt der life sciences manifest zeigt. Wie der Humanismus gerade in dieser Hinsicht seine Kompetenz zur kulturellen Orientierung geltend machen kann und muss, gibt etwa die Debatte um die Grenzregime zwischen Leben und Kulturen zu verstehen. Wenn hier entwickelt wird, wie mit dem biowissenschaftlichen und biotechnischen Fortschritt die kulturelle Dimension immer tiefer in den Menschen hineinsinkt. Damit aber gerade diese Vorgänge in ihrer heute und zukünftig in wachsendem Maße existenziellen Bedeutung unabdingbar kulturell zu verhandeln sind. Ein in seiner Deutungskompetenz als dafür zuständig begriffener Humanismus würde so in zentraler Weise in seine geschichtliche Leistung kultureller Orientierung der menschlichen Lebenspraxis wieder eintreten. Womit unter ganz anderen Voraussetzungen der umfassende Deutungsrahmen des Humanismus, der in der Entwicklung seiner Formierungen in Betracht gezogen worden ist, in spezifischer Weise wieder impliziert ist und in Frage steht. Mit dem Plädoyer für einen in dieser Hinsicht deutungskompetenten Humanismus verbinden sich weitere Gesichtspunkte zu einer Konzeptualisierung der in ihrer ›globalisierten‹ Fragestellung durch die Weite und Komplexität der Thematik überaus belasteten Debatte. Die in dieser Fragestellung konfrontiert ist mit der geschichtstief gewachsenen und beharrlich wirksamen Ethnozentrik und Kulturspezifik im Selbstverständnis der Kulturen. Das stellt die HumanismusDebatte, wenn die dazu führenden kulturspezifischen Selbstdeutungen ›beim Wort‹ genommen in Betracht gezogen werden, vor immense Explikationserfordernisse. Die sich aber, wenn man die geltend gemachten Überlegungen zu einem heute deutungskompetenten Humanismus zugrunde legt, absehbarer erörtern lassen. Voraussetzungen dafür zeichnen sich mit dem unabdingbaren Verhandeln der immer tiefer in den Menschen hineinsinkenden kulturellen Dimension ab. Die hier aufgeworfenen Fragen sind in ihren Konsequenzen für die menschliche Lebenspraxis derart essenziell, dass sie einerseits in jeder Kultur tragfähig nur im Horizont der Gehalte ihres geschichtlich gewachsenen Selbstverständnisses verhandelt und entschieden werden können. Als

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aktuell herausgeforderte Debatten wird das Kulturspezifische hier aber die Artikulationsform resultativer ›Verdichtung‹ annehmen. So ließe sich mit diesem Prozess des im Spektrum der Kulturen unabdingbar zu Verhandelnden ein in dieser Weise aufschlussreich formiertes ›Tableau‹ der jeweils kulturspezifischen Sichtweisen erfassen. Die sich mit der Ethnozentrik und Kulturspezifik stellende Problematik ist damit nicht gelöst, aber in Überlegungen zur Entlastung der Humanismus-Debatte in der Weite und Komplexität ihrer ›globalen‹ Perspektive überführt. Mit konzeptionellen Gesichtspunkten wie diesen lassen sich zwar Voraussetzungen dafür entwickeln, die kulturellen Orientierungsleistungen des Humanismus unter den heute gegebenen Bedingungen neu zur Geltung zu bringen. Das kann allerdings nicht gelingen, wenn dem entgegenstehende Problematiken wie die beharrlich ethnozentrischen und kulturspezifischen Selbstdeutungen nicht in aller Schärfe aufgeworfen und auf Lösungsmöglichkeiten hin bedacht werden. Bezogen auf die Problematik des Kulturspezifischen wird das im folgenden Kapitel am Beispiel von ›Individualität‹ und nachdrücklich bis hinunter zu den Quellentexten vergegenwärtigt. In dieser Schärfe aufgeworfen, führt das auf weitere Folgerungen für die Humanismus-Debatte.

IV Das Dilemma der Kulturspezifik am Beispiel der Genese von ›Individualität‹ (Quelleninterpretation)

In der europäischen Kulturgeschichte sind die Begriffs- und Anschauungsformen von ›Individuum/Individualität‹ konstitutives Moment der kulturellen Selbstdeutung. 1 Im Blick auf den Entstehungs- und Begründungsprozess von Individualität manifestiert sich das Problem der Kulturspezifik, mit dem die heutige Humanismus-Debatte konfrontiert ist, in beispielhafter Prägnanz. Eine Entwicklung, die hier anhand dieses Vorgangs in der deutschen Kultur erörtert werden soll. Die sich grundlegend in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als fortschreitende Entdeckung und Ausarbeitung ›individualisierender‹ Deutungsperspektiven in den Texten und Diskursen der Zeit vollzogen hat.2 Und so wahrgenommen die Problematik der Kulturspezifik für einen im Globalisierungsprozess interkulturell orientierten Humanismus in aller Schärfe aufwirft. Beispielhaft für diese Entwicklung ›individualisierender‹ Deutungsperspektiven sind die zeitgenössischen Explikationen zu einer Theorie der Handlung. Inwiefern dadurch das ›Individuelle‹ entdeckt und ausgearbeitet worden ist, zeigt sich besonders aufschlussreich an1

Vgl. in Kürze dazu den Artikel »Individuum, Individualität« (T. Borsche) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 4. Basel/Stuttgart 1976, Sp. 300-323.

2

Vgl. dazu Hilmar Kallweit: »Szenerien der Individualisierung«. In: Individualität (= Poetik und Hermeneutik XIII), hg. von Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988, S. 384-420. Passagenweise ist im Folgenden auf diese Studie Bezug genommen.

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hand der in diesem Kontext neu durchdachten Modalitäten des Erzählens. Die als sog. pragmatische Erzähltheorie gleichermaßen für den Roman wie für die Historiographie ausgearbeitet worden sind. Entwickelt wurde so ein ebenso einfacher wie grundlegender Wandel der Bedingungen, nach denen die Ereignisse einen Zusammenhang bilden und die Einheit einer Erzählung konstituieren. Vorgedrungen werden sollte zu einem erfüllten Begriff der Handlung: von den bloß aufeinander folgenden Begebenheiten zu der auseinander sich entwickelnden Einheit der Handlung. Das ist als Theorie prinzipiell durchdacht worden, hat in seiner Konsequenz aber – was hier interessiert – die von nun an immer stärker in den Vordergrund tretenden ›individualisierenden‹ Züge des Erzählens hervorgebracht. Ausgangspunkt dafür ist die Wendung zu einem möglichst lückenlosen kausalgenetischen Erzählen des Zusammenhangs von Ursachen und Wirkungen. Das sich – in der personenzentrierten Form des Romans – insbesondere als literarisch vollzogene Ausarbeitung jenes »Studiums des Menschen« realisierte, das sich im Kontext der neuen Anthropologie leib-seelischer Konnexion durchsetzte. Exemplarisch auf eine der Gründungsschriften dafür verkürzt, wird in Friedrich von Blanckenburgs »Versuch über den Roman« in besonderem Maße fassbar, wie dabei das ›Individuelle‹ entdeckt und entwickelt wurde.3 Leitend dafür sind bestimmte Erzählprozeduren, die sich auf die Personen des Romans in einem geradezu methodisch strikten Erschließen ihrer jeweiligen Umstände und Situationskontexte richten. Blanckenburg lässt sich dabei auf die in Traktaten ausgebreiteten erzähltheoretischen Streitigkeiten der Zeit wenig ein. Sein Blick ist auf diese Weise frei für einen in den literarischen Texten selbst schon sichtbaren Auffassungswandel, dem er mit der Legitimierung des Romans neben dem Epos zum Durchbruch verhelfen will. Zeitspezifisch sind Rechtfertigungsgrund die sich erweiternden neuen Empirien vom Menschen, die zugleich mit dessen möglicher Perfektibilität in den Figuren des Romans ansichtig werden sollen. Die ineins damit entwickelte Entdeckung des Individuellen wird möglich, indem dieser Beginn des Individualisie-

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Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (Erstdruck 1774). Es handelt sich mit diesem »Versuch« um die erste monographisch umfassende Romantheorie in Deutschland. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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rens noch gehalten ist in einer ›moralisch‹ ausgelegten Anthropologie »des Menschen«. Blanckenburgs Argumentation für die so gewendete Theorie des Romans geht von den Umständen und Situationskontexten der Personen aus: »Der Dichter muss bei jeder Person seines Werks gewisse Verbindungen voraussetzen, unter welchen sie in der wirklichen Welt das geworden ist, was sie ist« (S. 207). Diese Stellung der Personen in ihren Umständen wird strikt und als entscheidender Begründungsgang auf ihre Folgerungen hin bedacht: »so daß all’ diese kleinen Züge aus ihrem Leben und aus ihrem ganzen Sein, mit dem Ganzen dieser Person, in der genauesten Verbindung als Wirkung und Ursache stehen [...]« (S. 208). Erst so ergibt sich die »runde Gestalt«, die wir als »lebend« und »wirklich« erkennen, die wir »sinnlich« vorstellen können.4 Mit der Darstellung des Zusammenhangs von Ursachen und Wirkungen verbinden sich zwanglos zwei wichtige Folgerungen: Die Personen in und aus ihren Umständen darzustellen, heißt sie individualisieren und impliziert, dass sie in ihrer Entwicklung – wie es bei Blanckenburg heißt: werdend – erfasst sind. Jeweilig den Komplex von Ursachen und Wirkungen ansichtig zu machen, führt im Roman auf »die möglichen Menschen der wirklichen Welt« (S. 257). Der noch bestimmungsleeren Redeweise vom »Ganzen« der Personen korrespondiert eine Individualisierung durch die »kleinen Züge«, die den Perso-

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Die möglichst lückenlose Kette von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen kreist dieses »Ganze« der Personen gleichsam ein, das selbst noch kein durch Bestimmungen ausgelegter Grund der Verknüpfungsmodalitäten ist. Die Einheit der Erzählung in ihrer erweiterten Empirie der »Kleinigkeiten« wird vielmehr durch zwei andere Sachverhalte verbürgt. Einmal durch die Nachahmung einer in der Wirklichkeit vorgegebenen Ordnung: »Vernunft, Natur, Erfahrung« bestätigen, dass ein derart »ununterbrochener Faden« von Ursachen und Wirkungen die Realität wie ein »Gewebe« formiert. Die andere Garantie für die Einheit der Erzählung liegt in der ›moralisch‹ ausgelegten Anthropologie, die das Sein des Menschen und seine Tugenden als ineinander gegründet zu denken versucht. In Richtung einer Konstanz moralischer Werte »des Menschen« wird sie den Personen als Zielbestimmung ihrer Perfektibilität eingeschrieben.

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nen mit der Disziplinierung der Zusammenhangskonstitutionen eingeschrieben werden.5 Diese Ausarbeitung der Personen in ihrer individuellen Differenz ist zeitspezifisch auch darin, dass sie sich eröffnet innerhalb der Bestimmungen ihrer Perfektibilität. Zwar interessieren in dieser Romantheorie nicht mehr die ganz guten oder ganz bösen Charaktere, sehr wohl aber die »vollkommenen«, die nach dem jeweiligen Nexus der Umstände ihr bestmögliches Ziel erreichen. In der Begründung dafür steht das Besondere des jeweiligen Individuums in Koinzidenz mit der Bestimmung des Menschen überhaupt: Die so genannten vollkommenen Charaktere heißen in diesem Sinne nichts anders, als solche, welche die, dem Menschen und allen Menschen vorzüglich zukommenden Eigenschaften, Tugend und Verstand in einem solchen Grade besitzen, als Menschen überhaupt, und diese besondern Menschen unter all den Umständen ihrer innern und äußern Lage, sie besitzen können (S. 456).

Als in derartiger Übereinstimmung von Besonderem und Allgemeinem gehalten, werden an den Personen die »Züge« ihrer Individualität entdeckt und entwickelt. Sie stellen sich ein als Ergebnis einer Textur, die von der flächenhaften Erweiterung und Verdichtung der Verknüpfungsmodalitäten ihren Ausgang nimmt und für das Romanerzählen in mehrfacher Weise auf Individualisierungspostulate führt.6 Die Person

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Auch die von Blanckenburg immer wieder pointierte Darstellung der »inneren« Geschichte der Personen enthält allenfalls eine Disposition zur Überschreitung dieses Ausgangspunktes. Die Aufmerksamkeit für die Verarbeitung jeweiliger Umstände durch die »ganze Geistes- und Gemütsverfassung der Person« treibt deren Besonderes heraus, indem die Wendung vom bloßen »dass« der Folge von Begebenheiten zum »wie« ihres Zustandekommens hier größtmögliche Dichte erhält.

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Das konkretisiert sich in drei Stufen: Im kausalgenetischen Nexus verdichtete Handlung – Darstellung durch eine Handlung im Ausdruck – Veranlassung einer Rezeptionshandlung, in der die Leser durch die dargestellten Bewegungen in den Personen selbst in Bewegung gesetzt werden. Die verdichtete Handlung stellt die Personen des Romans unter die Forderung nach »wirklichen Individuen«. Die Handlung im Ausdruck führt auf die Vorzüge des »individuellen Ausdrucks«, d.h. Vergegenwärtigung vieler und bestimmter Dinge in einer möglichst bildlichen und bestimmten Dar-

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als Individuum trägt dabei noch keine eigene Begründungslast, sie wird gleichsam ›von Außen‹ im pragmatischen Nexus und dessen erzählerischer Gestaltung in ihrer individuellen Differenz hervorgebracht. Die Entdeckung und Entwicklung von Individualität, die in derartiger Spezifik der Begründungskontexte beginnt, dringt damit noch nicht vor zu jener ›tieferen‹ Tragweite des Verständnisses von Individualität, das in der Folgezeit ausgearbeitet worden ist. Wie dieses bereits einige Jahrzehnte später im weiteren Vollzug der Wende zur Moderne leitend geworden ist. Auffällig gesagt, handelt es sich dabei um den Schritt des Hervorbringens ›von Außen‹ in die ›Tiefe‹ der Personen selbst im Kontext des kulturellen Prozesses, der als »Umdeutung des transparenten Subjekts in ein Selbstverhältnis ohne auslotbaren Grund« rekonstruiert worden ist.7 Wie das vollzogen wurde, erschließt sich beispielhaft anhand von Goethes Erzählen in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« als dem für die Folgezeit richtungweisenden Entwicklungsund Bildungsroman.8 Hier erhält die mit dem Verständnis von Individualität exemplarisch aufgeworfene Problematik der hochgradigen Widerständigkeit von diffizil kulturspezifischer Selbstdeutung gegenüber dem interkulturellen Anliegen der heutigen Humanismus-Debatte besondere Evidenz. Das zeigt sich in der Weise, wie nunmehr als Wendung in die ›Tiefe‹ der Person Goethes Erzählen in der Figur des

stellung. Die Rezeptionshandlung setzt das individuelle »Selbstdenken« des Lesers frei. Anstelle eines Vordozierens durch den Autor soll der Roman die Personen selbst sehen und sprechen, die Leser selbst Urteile und Schlüsse finden lassen. 7

Vgl. S. 69, Anm. 18. Diese ›Tiefe‹ schreibt sich den Erkenntnismodalitäten in den verschiedenen Objektbereichen der Humanwissenschaften ein: »Die Hermeneutik wird zur Zentraldisziplin avancieren, die im Hintergrund der Ordnungen des 19. Jahrhunderts die konstituierende Leistung einer organisierenden Subjektivität aufspürt [...]«. Zu dem von Michel Foucault in dieser Richtung rekonstruierten epistemologischen Bruch zur Moderne als Wendung vom repräsentierenden zum historischen Bewusstsein vgl. meinen Beitrag: »Szenerien der Individualisierung«. In: Individualität (= Poetik und Hermeneutik XIII), 1.c., S. 391 ff.

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Johann Wolfgang v. Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Goethes Werke. HA, Band VII, 4. Aufl., Hamburg 1959. (Erstveröffentlichung 1796). Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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Wilhelm Meister auf das erfindende Finden der eigenen Person in ihrer Individualität führt. Von besonderem Belang dafür ist eine Reihe von Schlüsselszenen im Roman, die genau aufeinander Bezug nehmen und in die ›Natur‹ Wilhelms jene Disponierungen einschreiben, in deren Austragen sich Individualisierung durch Entwicklung vollzieht. In ihrer szenischen Inszenierung sind sie nicht nur Modifikationen von Wilhelms beständigster Neigung, dem hartnäckig festgehaltenen Wunsch nach einer Selbstverwirklichung im Medium des Theatralischen. Sie wenden auch die Einsicht der erörterten pragmatischen Erzähltheorie in die szenisch am dichtesten gegenwärtige Handlung um in die so tiefste Wirkung auf den in diese Szene Verstrickten. Auf diese Weise schreiben sie in einer anschaulich wahrnehmbaren Hermeneutik des Unbewussten jene Disponierungen in die Person Wilhelms ein, die in der Kontingenz der Ereignisse seiner Entwicklung die Richtung geben. Auf diese Schlüsselszenen wird genauer einzugehen sein. Dies ist aber in Goethes Roman nur die eine Seite der über Irrtümer hinweg diffizilen Selbstfindung Wilhelms. Sie ist das Ergebnis auch von Inszenierungen und Arrangements, die ihm verborgen seinen Weg gelenkt und geleitet haben. Mit ihnen haben die Lehrer und Väter der Turmgesellschaft die von mütterlicher Wunscherweckung ausgegangene Neigung Wilhelms zum Theater begleitet und in sein Leben eingegriffen. Wie die Disponierungen Wilhelms und diese Lenkung und Leitung zusammenwirken, um Wilhelm ans Ziel seiner Entwicklung zu führen, erschließt die Deutungskomplexität, zu der in Goethes Roman das Verständnis von Individualität gewendet und vertieft ist. Der Roman bringt das zur Anschauung als das Sichaustragen der Disponierungen, die in den Schlüsselszenen sich ›tief‹ in Wilhelm eingetragen haben. Der genauere Blick darauf erschließt das in diesem Prozess der Selbstfindung dem Verständnis von der Individualität einer Person Zugeschriebene. Wie komplex und spezifisch hier der Prozess begriffen wird, in dem die Person ihrer Individualität gewärtig wird, führt prägnant auf das Dilemma der je eigenen Ausarbeitungsformen kultureller Selbstdeutung, mit denen die sie übergreifende Humanismus-Debatte heute konfrontiert ist. Dies anhand von Goethes Roman – als einem der ersten Leittexte für das Verständnis von Individualität in unserer Kultur – in Betracht zu ziehen, setzt in diesem Fall eine etwas ausführlichere Texterschließung voraus.

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Initiativ für die Reihe der Disponierungen ist eine Szene in Wilhelms Kindheit und ursächlich dafür, dass sich in dieser Zeit sein ›Geist‹ bereits ganz nach dem Theater richtete und er kein größeres Glück fand »als Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen« (S. 31). Die Szene selbst ist das dem Kind zu Weihnachten geschenkte und aufgeführte Puppenspiel. In ihrer geheimnisvoll tiefen Wirkung wird sie zu einer Schlüsseldisposition für Wilhelms Verständnis seiner selbst. Die Aufführung des Puppenspiels mit seinem »magischen Gerüst« und »mystischen Schleier« des Vorhangs ist noch für den rückblickend davon Erzählenden ein Augenblick unmittelbarster Gegenwärtigkeit. Die aufgegebenen Rätsel wirken als ein Phantasma, in das Wilhelm sich ganz integrieren möchte: »je mehr ich wünschte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen« (S. 18). Das Phantasma, das diese Wünsche und Neigungen weckt, trägt sich in Wilhelms Leben aus als gesteigerte Selbsterfahrung: in den unzähligen Variationen der so eröffneten »Fülle« und »Lebhaftigkeit«, die sich mit dem Beleben theatralischer Figuren Wilhelm selbst mitteilt. Wie im Roman von dieser disponierenden Kraft des Puppenspiels erzählt wird, schließt einen familiären Kontext ein, in dem Kinderneigungen durch Wunscherweckung entstehen. In Goethes Umschrift der früheren »Theatralischen Sendung« zu den »Lehrjahren« ist dies als Wendung zu einer Sozialisation um ihrer selbst willen vollzogen. In den »Lehrjahren« macht Wilhelms Mutter das Phantasma möglich, indem sie mit dem Puppenspiel keine Belohnung gibt, sondern schenkt, »was sie selbst liebt«. In der Wunscherweckung werden keine pädagogischen Maßnahmen vollzogen, sondern der Reiz einer Anregung vermittelt, die »Wunder wirkt«.9 Sie tut dies umso mehr, als sich Wilhelms Erfahrung, im Medium des Theatralischen in allem »belebt« zu sein, sich nach der Kindheit in der Liebe zur Schauspielerin Mariane mit einer ersten Substitution für die mütterliche Wunscherweckung überblendet. So ist in dieser Weise die Selbstfindung Wilhelms in sei-

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Friedrich A. Kittler: »Über die Sozialisation Wilhelm Meisters«. In: Gerhard Kaiser/Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Göttingen 1978. Zitate: S. 23, S. 49. In den »Lehrjahren« wird der Vater randständig, so ist hier die Pädagogik der Lehrer und Väter überführt in eine Sozialisation, deren Träger »Mütterlichkeit« ist.

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ner Individualität – gegenüber den zuvor erörterten Formen der Individualisierung ›von Außen‹ und dem noch bestimmungsleeren »Ganzen« der Person – von Anfang an tief und umfassend in der Entwicklung des Selbstverhältnisses verankert. Die weiteren Schlüsselszenen nehmen genau auf Momente der Disponierung Wilhelms durch das weihnachtliche Puppenspiel Bezug. Die Szene von Wilhelms Bekanntwerden mit Natalie, die später die ihm gemäße Frau sein wird, bringt das in einer irreduzibel geheimnisvollen ›Tiefendisponierung‹ Wilhelms unmittelbar zum Ausdruck. In diesem Falle führt darauf ein geschehensreicher Situationskontext: Wilhelm hat sich einer Theatertruppe angeschlossen, die unterwegs überfallen wird, wobei Wilhelm eine schwere Verwundung davonträgt. Wenig später kommt eine andere Reisegesellschaft vorbei, der dieser Überfall eigentlich gegolten hat. Darunter befindet sich eine junge Dame, herausgehoben auf einem Schimmel reitend, die der Text »die schöne Amazone« nennt. Sie bekümmert sich um Wilhelm und weist den begleitenden Arzt zur Fürsorge um ihn an. Die Amazone trägt den weiten Überrock eines Mannes, den sie für den Verwundeten ablegt. Hier setzt die Tiefendisponierung ein: »Wilhelm, den der heilsame Blick ihrer Augen bisher festgehalten hatte, war nun, als der Überrock fiel, von ihrer schönen Gestalt überrascht«.10 Der Überrock fällt – Analogon zum »mystischen Schleier« der Puppenspiel-Szene – wie wenn ein Vorhang sich öffnet. Damit wird ein lebhaft-tiefer Eindruck auf Wilhelm zum Ereignis. Der »mystische Schleier« des Vorhangs, der das mit dem Puppenspiel beschenkte Kind verlockt hatte, erscheint verwandelt in ein anderes geheimnisvolles Geschehen: Sie trat näher heran und legte den Rock sanft über ihn. In diesem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes stammeln wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht.

10 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1.c., vgl. 4. Buch, 6. Kapitel. Zitate: S. 228.

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Natalie in diesem Strahlenkranz, das wird über alle Begebenheiten und Irrtümer Willhelms hinweg eine latente und schließlich sich erfüllende Disposition seines Lebens sein. Zugleich ist dies eine der Passagen im Roman, mit denen Goethe in erzählter Konkretion das ›Ganzheitliche‹ derartiger Erfahrung in den Verständnishorizont leib-seelischer Konnexion rückt: »Der Chirurgus berührte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, die in der Wunde stak, herauszuziehen Anstalten machte. Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden; er verlor alles Bewußtsein [...]«. In dieser Weise literarischer Tiefenhermeneutik wird zur Anschauung gebracht, wie Wilhelms Selbstfindung zu der ihm entsprechenden Individualität sich formiert. Dies ist in Goethes Roman aber nur die eine Seite von Wilhelms Vordringen – Individualität durch Entwicklung – zu einem begriffenen Verständnis seiner selbst. Eine weitere Schlüsselszene führt dazu erst, indem die Disponierung, Selbstverwirklichung im Medium des Theatralischen zu suchen, wieder aufgelöst wird. Die zwar Irrtum, aber so tief greifend war, dass sie nur im widerrufenden Zitat des ursprünglichen Phantasmas des vom Puppenspiel verlockten Kindes außer Kraft zu setzen ist. Das ist Teil der sog. ›Lossprechungsszene‹ (Einsetzung Wilhelms in die ihm gemäße individuelle Selbstfindung), die von einer anderen zentralen Szene vorbereitet wird. Wie diese Entwicklungsstationen Wilhelms im Roman erzählt werden, ist Paradigma der hier und in der Folgezeit so komplexen Auffassungsweise von Individualität und damit der Problematik, die sich angesichts beim Wort genommener Kulturspezifik für eine interkulturelle Debatte stellt. Dieses Paradigma stellt sich – zugleich autoren- und werkspezifisch – in Goethes Roman in einer Weise dar, die sich erst genauer Betrachtung erschließt. Die vorbereitende Szene der Hamletaufführung bringt eine outrierte Form disponierenden Eingriffs in die Person Wilhelms zur Anschauung.11 Die Aufführung aktualisiert Wilhelms kaum wahrgenommene oder ihm noch verborgene Verbindung zur Sphäre der Väter: nach rückwärts zum verstorbenen leiblichen Vater und nach vorwärts zu den Lehrern und Vätern vom Turm. Alles spielt sich noch einmal im Medium des Theatralischen ab. In die Kraft des anfänglichen Phantasmas, die Wilhelm bis auf die Bühne der Hamletaufführung geleitet

11 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1.c., vgl. 5. Buch, 11. Kapitel. Zitate: S. 322.

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hat, integriert sich ein neues »Wunderbares«. So nämlich wird Wilhelm die ins Geheimnis verborgene Besetzung der Geisterrolle von Hamlets Vater angekündigt. Mit dem Auftritt des unbekannten Geistes gerät die Aufführung zu einer Szene in der Szene. Seine Erscheinung macht einen so starken Eindruck auf Wilhelm, dass sein aus der Rolle der Inszenierung fallendes Spiel wiederum die größte theatralische Wirkung hervorruft. Der mystifizierten Ankündigung entsprechen die »wunderbaren« Empfindungen und Erinnerungen Wilhelms im Angesicht des Geistes. Das auf der Bühne gesprochene »Ich bin der Geist deines Vaters« führt auf den für das Kind Wilhelm randständigen leiblichen Vater zurück. Dieser vergegenwärtigt sich aber im Bild des idealen Vaters, den Wilhelm im Geheimnis des – vom Turm arrangierten – Erscheinens von Hamlets Vater erst zu entdecken sucht. In der Hamletaufführung erfüllt sich Wilhelms früh erweckter Wunsch, sich ins Medium des Theatralischen ganz zu integrieren – zugleich unter den Zauberern und Bezauberten zu sein – mit der Inszenierung des Stückes und seinem Auftritt auf der Bühne. Er erfüllt sich aber in ungeahnter und ironischer Weise gerade durch die Szene in der Szene. Sie schließt sich an die Kette der Bezauberungen durchs Phantasma, um im Augenblick der Wunscherfüllung das Gefälle der Disponierungen umzuwenden. Der Weg Wilhelms führt von nun an unwiderruflich zu den Lehrern und Vätern vom Turm, die jede theatralische Inszenierung noch durchs kalkulierte Arrangement auf der Bühne des Lebens zu überbieten wissen. Sie lassen für das Gewinnen einer Individualität durch Entwicklung der Hermeneutik des Unbewussten absichtsvoll Raum, desavouieren sie aber auch als Maßnahmen gelenkter und geleiteter Disponierungen. Schlüssel dafür ist die Lossprechungsszene, mit der die Tiefendisponierungen Wilhelms in eine andere Modalität seines Individualisierungsprozesses überführt werden. Ins stationär-szenische Arrangement wird hier versammelt, was in der Ereignisfolge des Romans als sorgfältig verborgene pädagogische Lenkung und Leitung Wilhelms durch die Gemeinschaft vom Turm verstreut war. In dieser Szenerie holt die Pädagogik der Lehrer und Väter die Sozialisation um ihrer selbst willen in der Form ein, dass deren Disponierungen durchs bloßstellende Zitat gelöst werden. Der Saal, in dem die Lossprechung geschieht, ist insgesamt ein Raum der Mystifikation. In ihm wird aber das, was Wilhelm im »mystischen Schleier« des Vorhangs verlockte, in die plane Sichtbarkeit eines gelenkten und geleiteten Lebensweges überführt.

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Wie auf einer kleinen Bühne öffnet sich ein Vorhang, hinter dem sich die Pädagogen zu erkennen geben, die Wilhelm auf Stationen seines Weges begleitet und in diesen eingegriffen haben. Im Zitat des Theatralischen wendet sich der Schleier zur Eröffnung eines Wilhelm bisher verborgen gebliebenen, alles wahrnehmenden Blicks. In diesem Spiel ist Wilhelm nicht mehr Zauberer und nicht Bezauberter, sondern Objekt einer ihm nunmehr entdeckten pädagogischen Fürsorge. Das ist aber nur Teil des Arrangements. Wilhelm als Objekt ist in dieser Szenerie in spektakulärer Weise in den Mittelpunkt gerückt. Die Lehrer und Väter sind so um ihn versammelt, wie ihn in den Bücherschränken die Schriftrollen umstehen, in denen der Turm die Wege der Erziehung und Bildung protokolliert hat. In den Mittelpunkt einer alles wahrnehmenden pädagogischen Beobachtung gestellt, verweist das Arrangement Wilhelms eigenen Blick in die Richtung eines irreduziblen Grundes. Wilhelm muss auf einem Armstuhl derart Platz nehmen, dass er in die Morgensonne schaut, die ihn blendet. Wilhelm als Zentrum ist nochmals auf ein anderes geheimnisvolles Zentrum verwiesen. Noch in der Lossprechungsszene verzichtet auch der Turm auf die Disponierung durchs Phantasma nicht, enthüllt dies wenig später aber als absichtsvolle Mystifikation. So lässt diese Szenerie keinen Zweifel daran, dass die irreduzible Individualität Wilhelms zustande kommt auch als eine Maske der Inszenierungen und Arrangements. In diesem Vorgang wird Wilhelm in die Gemeinschaft vom Turm aufgenommen und vom Abbé als Arrangeur der Szenerie ›losgesprochen‹. Dieser beruft bekanntlich – in Reaktion auf Wilhelms Frage, ob Felix sein Sohne sei – für das von Wilhelm mit dieser Frage erreichte Ziel seiner Entwicklung: »die Natur hat dich losgesprochen«. So wird noch einmal die tief ganzheitliche Entwicklung Wilhelms zu seiner Individualität, die ihren Hintergrund in der zeitgenössischen Wendung zu einer Anthropologie leib-seelischer Konnexion hat, zum Ausdruck gebracht. Wie gezeigt, vollzieht sich diese Lossprechung Wilhelms zu einer wie immer problematischen Einheit mit sich als Übereinstimmung mit seiner Natur aber auch in dieser Szene als die im Roman insgesamt betriebene Geistesgeschichte dieser Natur. Es könnte unerheblich erscheinen, den Sachverhalt der Kulturspezifik mit diesem Beispiel aus der Entstehungs- und Begründungsgeschichte von ›Individualität‹ in unserer Kultur nachdrücklich und detailliert vorzuweisen. Erst so aber stellt sich die Problematik der je spezifischen kulturellen Selbstdeutungen in aller Schärfe. Die im

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Spektrum der Kulturen aus jeweiligen Entstehungs- und Begründungskontexten heraus tief verankert ist. Die heutige HumanismusDebatte wird Wege finden müssen, diesen Sachverhalt zur Geltung zu bringen, aber auch – als auf dieses Spektrum gerichtet – die genuine Widerständigkeit der Kulturspezifik gegenüber einer die Kulturen übergreifenden Heuristik in sich ›aufzuheben‹. Die Entwicklung von Konzepten dazu ist in vielfacher Weise denkbar.12 Im Duktus der vorliegenden Studie ist dafür auf Melanchthons rhetorischen Humanismus mit der in ihm entwickelten Loci-Lehre zurückzukommen. Aus dieser Sicht stellt sich die Frage nach der Ausarbeitung von Kategorien, die dem kulturspezifisch Gedeuteten allgemeiner vorausliegen. Die als Begriffs-und Anschauungsformen geeignet sind, die im Spektrum der Kulturen disparaten Deutungen auf das in ihnen zugleich ›Kommune‹ zu beziehen. So wie mit der kulturanthropologischen Grundauffassung des rhetorischen Humanismus Melanchthons die Loci-Lehre auf das in der Existenz der Menschen communis Gegebene geführt hat. Und dies in Melanchthons Erkenntnisprogramm ausgearbeitet worden ist in der Weise kardinaler Gesichtspunkte und fundamentaler Prozeduren der Inhalte und des Aufstellens der Loci communes. Jenseits der dafür gegebenen Begründungskontexte der Topica universalis kann das zwar nur Verweis darauf sein, Kategorien zu entwickeln, die in ihrer Funktion Äquivalente zu den Gesichtspunkten und Prozeduren des als Loci-Lehre Konzipierten zu bilden vermögen. Wirft man das Dilemma der Kulturspezifik in der Schärfe auf – wie mit der Entstehung und Entwicklung von Individualität entwickelt und wie es sich letztlich stellt – so wird ein sich heute interkulturell neu zur Geltung bringender Humanismus dies leisten müssen. Und damit in einen Perspektivenwechsel eintreten gegenüber den langfristig hoch entwickelten Wissenschaftspraxen, die sich als immer weitere Klärung gerade des Kulturspezifischen verstehen und legitimieren. Erst zu zeigen ist allerdings, wie derartige Begriffs- und Anschauungsformen ausgewiesen werden können. Zu diesem Perspektivenwechsel kann die vorliegende Studie vorerst nur eine beispielhafte Anregung geltend machen, die in Bezug steht zu dem als Individualität Erörterten und noch einmal zurückgeht

12 Vgl. dazu in V Anmerkungen zur Humanismus-Debatte die Kommentierung der Überlegungen etwa von Jürgen Straub zur »interkulturellen Kompetenz« (S. 129 ff.).

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auf den antik ursprünglichen Deutungsentwurf des Humanismus. Eingegangen wird auf die dem Verständnis von Individualität vorausliegende Kategorie des ›Personseins‹. Wobei schon die komplexe Begriffsgeschichte von ›Person‹ – allein im Zusammenhang der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte – auf die Problematik derartiger ›Kardinalisierung‹ kultureller Selbstdeutungen führt.13 Im Duktus dieser Studie kann aber auf ein Konzept von ›Person‹, in antik humanismusgeschichtlichem Kontext stehend und kulturanthropologisch impliziert, aufschlussreich Bezug genommen werden. So hat Cicero innerhalb des römischen Sprachgebrauchs für persona das Übergehen von der Grundbedeutung ›Maske‹ des Schauspielers zur übertragenen Bedeutung ›Rolle‹ und deren Explikation vollzogen. Erläutert werden soll mit dieser Bedeutung, »was die natura dem Menschen als Gattungswesen und als je verschieden veranlagtem Typus vorschreibe«. Dabei steht das System der vier Masken (personae) im Mittelpunkt, welche die Menschen gleichzeitig ›tragen‹14: Die beiden ersten Masken sind einmal die Gattungsmerkmale, die alle Menschen sich teilen, insbesondere die Vernunft, zum anderen der für jedes Individuum spezifische Konstitutions- und Charaktertyp; unter den beiden anderen Masken will Cicero einerseits die jeweiligen Umstände, das Milieu, andererseits aber unsere eigene Entscheidung und Wahl, zumal in beruflicher Hinsicht verstanden wissen (Sp. 271).

In diesem Konzept von persona integrieren sich die vier Bestimmungsrichtungen zu einer Art Entwurf von ›Personsein‹. Konzipiert sind damit ganz grundlegende Bestimmungen, wie diese dann auch noch Melanchthon in ähnlicher Weise als die Loci communes der formae vivendi geltend gemacht hat. Dazu dürfte beigetragen haben, dass an der Explikation von persona in den antiken Fachwissenschaften unter anderem die Rhetorik maßgeblich beteiligt war (Sp. 272 f.). Einzugehen ist aber vor allem auf den mit Ciceros Bestimmungen statuier-

13 Vgl. dazu M. Scherner: »Person«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 269-338. Nachweise im Folgenden als Spaltenangabe im Text. 14 Vgl. auch Hubert Cancik: »Persona and Self in Stoic Philosophy«. In: ders.: Europa-Antike-Humanismus. Humanistische Versuche und Vorarbeiten. Bielefeld 2011, S. 311-326. Vgl. insbesondere S. 312 ff.

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ten Deutungsrahmen: Demnach handelt es sich – wie Scherner erläutert – mit persona nicht um eine »subjektive oder individualistische Kategorie«, nicht um »Einheit des Erlebens und Bewußtseins«, sondern vielmehr um eine »konventionelle Gegebenheit, kurz, die perpetuierte soziale Rolle« (Sp. 271). Das ist ein Deutungsrahmen, der in der Pluralität der Kulturen ein vielfach aufeinander beziehbares Grundmuster in sich fassen könnte. Das seine spezifischen kulturellen Deutungen erfährt, aber orientiert ist auf einen Bestand des kategorial Gemeinsamen. So wie etwa die Entdeckung und Entwicklung von Individualität in unserer Kultur – sich beim Wort genommen in hochgradig kultureller Differenz darstellend – im Grundmuster der vier Masken (personae) auf die ›persona‹ des spezifischen »Konstitutions- und Charaktertyps« jedes Individuums beziehbar ist. Das kann Beispiel sein für eine Debatte um ›Kategorisierungen‹, mit denen interkulturell gesehen die Selbstdeutungen in ihrer Spezifik auch aufeinander führen. Zudem kann es wiederum demonstrieren, wieso dafür in der vorliegenden Studie nicht auf das Präzedens des klassischen Humanismus, sondern in der Linie von Cicero zu Melanchthon auf dessen rhetorischen Humanismus Bezug genommen ist. Mit der dort – unter Bedingungen allerdings der Topica universalis – geleisteten Ausarbeitung von kardinalen Gesichtspunkten und fundamentalen Prozeduren in der Form von Loci communes. Wie ist dies aber zu beurteilen anhand der im zeitlichen Kontext des klassischen Humanismus etwa von Kant getroffenen Bestimmungen zur ›Person‹? Zunächst: Aus der Sicht der praktischen Vernunft bestimmt Kant den Begriff der ›Person‹ im Zusammenhang der Freiheit. Geltend gemacht werden dafür das moralische Gesetz, die Vernunft und das Vermögen zur Selbstbestimmung. Scherner erläutert: Durch (das moralische Gesetz) wird die Person sowohl Triebfeder als auch Gegenstand der Freiheit [...] Sofern die Person (der intelligiblen Welt) zugehört, heißt sie bei Kant auch Persönlichkeit. Sie ist das »Vermögen« der Person, ihr eigentliches Sein-Können, dem von der eigenen Vernunft gegebenen Gesetz zu folgen, also sich selbst zu bestimmen (Sp. 307 f.).

Das Ziel der ›Freiheit‹ hat Kant ja auch grundlegend in die Einleitungsbestimmungen seiner Anthropologie aufgenommen (der Mensch als »freihandelndes Wesen«); konstitutiv für sie, die »von nichts anderem als von sich selbst abhängt«, ist dabei: »Sie wird durch das mora-

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lische Gesetz gewährleistet« (Sp. 307). In Kants Argumentation zur ›Person‹ ist auf diese Weise die anthropologisch-ethische Komplexion, die dem Humanismus von seinem ursprünglich antiken Deutungsrahmen her eigen ist, noch erkennbar. Mit diesen Bestimmungen im Kontext der ›Freiheit‹ verbinden sich weitere Beurteilungen der ›Person‹, die auf das für die heutige Humanismus-Debatte Problematische von Kants Explikation führen. Demnach ist das moralische Gesetz die Grundlage des Charakters der sich mit diesem Gesetz in Übereinstimmung befindenden Person. Und dafür macht Kant das Erfülltsein hoher Anforderungen geltend, eines »absoluten Wertes« und eines »objektiven Zweckes«. Was sich so in Bezug auf den Charakter der Person bekundet, manifestiert sich in anderer Weise auch in Kants Unterscheidung von vernunftlosen Wesen – sie haben nur »einen relativen Wert als Mittel und heißen daher Sachen« – im Gegensatz zu den Personen: [...] dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zweck an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist) (Sp. 308 f).

In diesem Zusammenhang spricht Kant dann auch von der Personen eigenen »Selbstzwecklichkeit«. Was in der heutigen HumanismusDebatte als »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen aufgenommen und als eine Art ›regulatives Prinzip‹ und Orientierung des vom Humanismus im globalisierten Maßstab zu Bewirkenden geltend gemacht worden ist.15 Gegenüber Kants Bestimmungen zur ›Person‹ führt die in dieser Studie beispielhaft vorgeschlagene Kategorie des ›Personseins‹ allerdings auf andere Ausgangspunkte und Perspektiven für einen erneut zur Geltung gebrachten und zur Wirksamkeit gelangenden Humanismus. Mit einer abschließenden Einschätzung des skizzierten Beispiels ist das zugleich zu resümieren. Die von Kant zur ›Person‹ entwickelten Bestimmungen sind illustrer Fall einer (moralischen) Ziel- und Zwecksetzung, die den Menschen als »Zweck an sich selbst« in den Stand eines ›frei handelnden Wesens‹ führen will, das nicht als bloßes Mittel missbraucht werden kann und darf. Zweifellos ist das eine Zielsetzung, die man für die

15 Vgl. V Anmerkungen zur Humanismusdebatte S. 126 f.

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heutige Humanismus-Debatte und das heißt im globalen Spektrum der Kulturen als ein leitendes Kriterium für die vom Humanismus zu leistende Orientierung der menschlichen Lebenspraxis geltend machen kann. Fraglich erscheint allerdings die Modalität der Begründungen dieser Zielsetzung, die Kant – wie gezeigt – auch in seiner Anthropologie als Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹ vollzogen hat. So erst – in dieser tendenziellen ›Halbierung‹ – stellt sich auch die skizzierte Kantische Argumentation zur ›Person‹ dar. Und in Zweifel zu ziehen ist, ob mit der (moralischen) Zielsetzung der »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen die heutige Humanismus-Debatte sich in der Begründungsproblematik dieser Debatte nicht zu verkürzt einem Ethos verschreibt. Zwar ist die anthropologisch-ethische Komplexion des Humanismus seit dessen ursprünglich antikem Deutungsrahmen die festzuhaltende und erneut zur Geltung zu bringende Grundlage. Die sich aber offenbar in anderer Weise wirksamer wird ausarbeiten lassen. Die für das Beispiel einer Kategorie wie ›Personsein‹ angeführte Argumentation Ciceros von den vier Masken (personae), welche die Menschen gleichzeitig ›tragen‹, ruft ein – von den gemeinsamen Gattungsmerkmalen der Menschen bis zur je eigenen Entscheidung und Wahl – umfassendes Konzept von ›Person‹ auf. In dem zwar als das Gemeinsame bereits insbesondere die Vernunft figuriert, aber eingeordnet in das, »was die natura dem Menschen als Gattungswesen und als je verschieden veranlagtem Typus vorschreibe«. Wie dies ja auch im Ensemble der Wortbedeutungen von humanitas als dem ursprünglich antiken Deutungsrahmen von Humanismus der Fall ist. Den Humanismus heute in und gegenüber den durch ihre Geschichte ausdifferenzierten Kulturen erneut zur Geltung und Wirkung zu bringen, wird einer äquivalenten Fundierung bedürfen. Nicht nur, weil dies originäres Anliegen des Humanismus ist, sondern insbesondere, weil der Humanismus gerade unter den heutigen Bedingungen eine entsprechende Deutungskompetenz umfassen und geltend machen muss. Mithin seine Zuständigkeit auszuweisen hat für die sich bis hin zu den sog. Anthropotechniken expansiv stellenden Fragen im Verhältnis von Natur und Kultur, die im Sinne der vom Humanismus zu leistenden kulturellen Orientierung der Klärung bedürfen. Was nicht nur heißt, das im Menschen Naturgegebene, das im klassischen Humanismus tendenziell als Begründungsinstanz innerhalb der leib-seelischen Konnexion außer Betracht geraten ist, in dieses Verhältnis zu ›reintegrieren‹. Vielmehr ist das in diesem Verhältnis natura Gegebene in der

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heutigen Problemlage von sich aus konstitutiv für die kognitive Kompetenz eines sich jetzt erneut zur Geltung bringenden Humanismus. Wie der Humanismus dies überhaupt weniger durch das Statuieren (moralisch) ›regulativer Prinzipien‹ als durch das Konzipieren eines entsprechenden Erkenntnisprogramms wird erreichen können, das zur kulturellen Orientierung in den sich globalisiert unabdingbar stellenden Fragen instand setzt. Die Debatte über ein derartiges Erkenntnisprogramm steht am Anfang, so verstanden kann sie sich humanismusgeschichtlich instruieren lassen: Wie in dieser Studie die Erörterung des von Melanchthon Entwickelten zeigt, der seine humanistische Reform – unter den damaligen Bedingungen – ausdrücklich als mit der Loci-Lehre auf die grundlegenden Fragen der formae vivendi gerichtetes Erkenntnisprogramm konzipiert hat. Ohne ein Konzept ›des Humanismus heute‹ schon vorweisen zu können und um den Preis unterschiedlicher ›Dichte‹ des Argumentierens und Belegens (Rekonstruktion, Demonstration, Debatte, Quelleninterpretation) sind Sachverhalte entwickelt worden, die offenbar von konzeptueller Bedeutung für eine erneute Geltung des Humanismus und dessen Zukunftsfähigkeit sind: Wie vorab die Explikation der Deutungskompetenz, die dieser Humanismus sich zuschreiben und verwirklichen muss. So wie dies etwa erfordert ist angesichts der diskrepanten Deutungspraxen zwischen epochaler Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹ als Kontext auch des klassischen Humanismus und den sich heute mit den ›Grenzregimen zwischen Leben und Kulturen‹ stellenden Aufgaben kultureller Orientierung. Wesentliches Präzept für das Führen der Debatte dürfte – nach dem in der vorliegenden Studie Entwickelten – das Ermitteln einer Erkenntnisperspektive sein, die in Melanchthons ›topischer‹ Argumentation zu den kardinalen Gesichtspunkten der formae vivendi und zu einer fundamentalen Prozedur des Aufstellens dieser Loci führt. Was so nicht wiederholbar ist, aber in der heutigen Debatte noch instruktiv sein kann als – wie anhand des ›Personseins‹ skizziert – das Ermitteln von dazu in ihrer Funktion äquivalenten Kategorien. In der anthropologiebezogenen und humanismusgeschichtlich für bestimme Sachverhalte ins Einzelne gehenden Linie der vorliegenden Studie ist eine Einordnung in die viel umfassendere und sich auf das ganze Problemfeld richtende Debatte um den Humanismus in der Epoche der Globalisierung nicht eigens vorgenommen. Stattdessen ist der Weg gewählt, dies in abschließenden ›Anmerkungen zur Humanis-

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mus-Debatte‹ wenigstens in bestimmten Hinsichten in Betracht zu ziehen. Das führt auf die problematische Breite und Tiefe des Problemfeldes, zu dessen Erschließung eine Explikation des Humanismus unter den heutigen Bedingungen herausgefordert ist. Dazu nimmt die folgende Kommentierung Stellung: aus der Sicht der vorliegenden Studie und diese im Spektrum der umfassenderen Debatte lokalisierend.

V Anmerkungen zur Humanismus-Debatte

Das in der vorliegenden Studie Entwickelte ist – im bewussten Rückgang auf die im Wortlaut einschlägiger Texte sich stellenden Fragen – offenkundige ›Engführung‹ gegenüber ganz anderen Konzeptualisierungen der Humanismus-Debatte. Wie etwa – um die entschieden andere Untersuchungsperspektive herauszuheben – durch die Studie von Christoph Antweiler »Mensch und Weltkultur« mit der Zielsetzung »Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung«.1 Das Erkenntisprogramm dieser Studie richtet sich auf die Klärung »heutiger universeller Gemeinsamkeiten«, indem sie »Ideen des Humanismus und Kosmopolitismus mit Anthropologie« verbindet (S. 14, S. 7). Diese Klärung wird so gesucht: Die Menschheit als Einheit beruht nicht nur auf Vernetzung. Die Einheit der Welt besteht mitnichten nur durch den (teilweise) homogenisierenden Zusammenhang, der durch Globalisierung entsteht. Es sind nicht nur Kommunikation, Güterhandel, Finanzvernetzung, Verkehr, Migration [...] Wissenschaft und Weltorganisationen, die die Menschen zusammenschweißen. Unabhängig von der Überwölbung und globalen Integration besteht die Menschheit schon vorgängig durch die biologische und insbesondere psychische Einheit der Menschheit. Menschen gehören einer und nur einer Spezies an. Das ist eine Spezies, die in besonderem Maß von Kultur als Anpassungsweise abhängig ist« (S. 20).

1

Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld 2011. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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Diese Suche wird aus der Sicht von Ethnologie bzw. Kulturanthropologie entwickelt, um »in empirischer Weise nach Gemeinsamkeiten vieler oder sogar aller Kulturen, nach Kulturuniversalien, kurz ›Universalien‹« zu fragen (S. 22). Die Komplexität dieses Untersuchungsfeldes wird mit den dazu vorliegenden Forschungsbefunden eingehend durchlaufen. Das kann hier nicht Thema sein, es werden nur einige Aspekte herausgehoben. Eine der leitenden Prämissen von Antweilers Studie ist das Explizieren eines – die Europazentrik überwindenden – »inklusiven Humanismus«. Gefragt wird damit, »welche Ähnlichkeiten oder Gleichheiten der grundsätzlichen Lebensweise quer durch die Vielfalt der Kulturen und trotz der Einzigartigkeit jeder einzelnen Lebensform bestehen« (S. 24). Die Erörterung des Humanismus in dieser Perspektive des ›Kosmopolitismus‹ greift direkt die Problematik der heute globalisierten Bedingungen auf, die in der vorliegenden Studie nur aus der Sicht der Geschichte des europäischen Humanismus in den Blick kommen. Gleichwohl konvergieren die allgemeiner, grundsätzlicher und weitergespannten Untersuchungen zu »Mensch und Weltkultur« mit den Erörterungen zur Geschichte des europäischen Humanismus in einer Hinsicht von gemeinsam fundamentaler Bedeutung. Diese Untersuchungen im Sinne eines anspruchsvoll »humanistisch verstandene(n) Kosmopolitismus« (S. 72) haben eine ihrer Grundlagen im Zurückgehen auf Sachverhalte der Anthropologie unter der Direktive: Ein neuer Humanismus muss neben der Eurozentrik auch die totale Anthropozentrik vermeiden. So wichtig es ist, einen Anthropomonismus zu vermeiden, so nötig ist es, dass ein Humanismus eine anthropologische Fundierung hat und einer gemäßigten Anthropozentrik folgt (S. 21).

Diese Fundierung wird diskutiert, etwa mit den »Objektive-ListenTheorien« über grundlegende menschliche Fähigkeiten des Wohlergehens. Die eng gefasst sein können (»minimale Anthropologie«) oder umfangreicher (dann »bewusst vage«). Antweiler kritisiert die ›schwache‹ theoretische Fundierung wie die ›unzureichenden‹ empirischen Grundlagen dieser Listen. Einen weiterführenden Ansatz sieht er in der Wendung auf Eigenschaften oder Fähigkeiten, »die nicht jeder Mensch besitzt, aber viele Menschen in allen Kulturen«. Sie wären zu beachten und zu entwickeln: »Solche empirisch feststellbaren pankulturellen Muster im Meer kultureller Vielfalt blieben in der bisherigen Diskus-

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sion des Kosmopolitismus und Humanismus stark unterbelichtet«, sie aber würden benötigt (S. 93, vgl. S. 90 ff). Die wie auch immer problematische Verbindung von Ideen des Humanismus und Kosmopolitismus mit Anthropologie konkretisiert sich aus der Sicht der europäischen Geschichte des Humanismus – wie in der vorliegenden Studie vertreten – als anthropologiebezogene Erörterung der Genese des Humanismus. Die Ansätze konvergieren dabei auch aufschlussreich in Feststellungen zu dem, was den Humanismus schon geschichtlich und nunmehr gerade heute zu einem Interpretament ›universeller Gemeinsamkeiten‹ disponiert. Im Kontext der Erörterung von Ethnozentrismus und seiner Rolle im interkulturellen Umgang geht Antweiler für die Gruppen auf eine »Mindestkohärenz in den Normen und Werten« ein, die für deren Existenz erfordert ist, und erweitert die Erörterung auf das Gemeinsame in ›Weltbildern‹ auch zwischen den Kulturen: Werte hängen mit übergreifenden Konzepten und Kategorien über die Welt zusammen, mit denen Menschen sich in der Welt orientieren. Wir müssen etwas über gedankliche Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen wissen, um die Träger von Werten und die Inhalte von Werten beschreiben und verstehen zu können. Es geht um epistemischen bzw. kognitiven Universalismus […], vor allem um Vorstellungen, die so basal sind, so dass sie von Ethnologen ›Welten‹ oder ›Weltbilder‹ genannt werden. Weltbilder im Sinne von Konzeptionen des Aufbaus und des Funktionierens der Welt (world views), zeigen bei aller Vielfalt auch kulturübergreifende Ähnlichkeiten (S. 163).

Über die dafür naheliegende Bezugnahme auf Kosmologien und Kosmogonien hinaus erörtert Antweiler auch ein Konzept, das für die vorliegende Studie in ihren anthropologiebezogenen Untersuchungen zur Geschichte des europäischen Humanismus von zentraler Bedeutung ist. Mit Berufung auf Adams (The Philosophical Roots of Anthropology) wird geltend gemacht, dass das Naturrecht als allgemeines Konzept nahezu universal ist: Ein stark mit Weltbildern verknüpftes Universal besteht in Vorstellungen über die Existenz eines Naturrechts (natural law). Oft sind das Konzepte zu Verhaltensweisen bzw. Handlungsnormen bzw. -idealen die als universale Errungenschaft aller Völker gesehen werden (S. 168).

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Aus der auf ›kognitiven Universalismus‹ gerichteten Sicht wird das so für erklärbar gehalten: »Innerhalb ansonsten recht verschiedenen Naturrechtsvorstellungen ist die zentrale Denkfigur verbreitet, dass es eine ›essenzielle Einheit‹ zwischen Recht und höchstem Ausdruck der Natur gebe« (S. 158). In Antweilers Argumentation ist dies ein Beleg für seinen Fragehorizont nach Kulturuniversalien innerhalb der Perspektive einer Verbindung von ›Ideen des Humanismus mit Kosmopolitismus und Anthropologie‹. Tatsächlich ist dies eine der grundlegenden ›Ideen‹ des Humanismus, wie die vorliegende Studie von Cicero als Leitautor Melanchthons aus für die fundierende Rolle des natura Gegebenen und anthropologisch Gewendeten in dessen rhetorischem Humanismus entwickelt hat. Eine andere Konkretisierung dieses Fragehorizontes ist Antweilers Erörterung der Menschenrechte, die er als jedenfalls »im funktionalen Sinne universal« diskutiert, insgesamt aber als ›relative Universalität‹ bzw. ›partikularen Universalismus‹ einschätzt (S. 228 f). Die Debatten darum werden als Beleg für einen Sachverhalt verstanden, auf den es hier ankommen soll: Solche Diskussionen reflektieren oft Vorstellungen der Menschheit als kosmopolitischer Interessengemeinschaft, wie sie schon in der Anthropologie der griechischen Stoa und bei Cicero vertreten wurden […] (S. 229).

Blickt man – wie in der vorliegenden Studie – auf die von Cicero entwickelte Kulturisation der menschlichen Natur, so ist diese als rhetorisch-dialektischer Begründungszusammenhang und dabei naturrechtlich anthropologiebezogen ›römisch‹ kulturspezifisch und zugleich implizit ›universell‹ begriffen. Das Ziel einer Kulturisation der menschlichen Natur ist von sich aus ein diese Perspektive einschließendes Interesse. Gegenüber der Debatte zum Humanismus im Globalisierungsprozess als Frage nach den Kulturuniversalien ist dies geschichtlich prägende Substanz der Rede überhaupt von ›Humanismus‹. Die in gewissem Sinne konträren Untersuchungsperspektiven von einerseits der Verbindung von ›Ideen‹ des Humanismus und Kosmopolitismus mit Anthropologie und andererseits der Erkundung des anthropologiebezogenen Begründungsfundaments des Humanismus seit der Antike treten in derartigen Konvergenzen in ein gegenseitiges Erläuterungsverhältnis.

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Diese Aspekte der Annäherung und Übereinstimmung in den Befunden weisen auf Erfordernisse des weiteren Führens der Humanismus-Debatte. Wobei in diesem Falle die ethnologisch-kulturanthropologischen Explikationen zu »Mensch und Weltkultur« gegenüber den anthropologiebezogenen, aber im Wesentlichen historisch-philologischen Rekonstruktionen der vorliegenden Studie, sehr unterschiedlich konzipiert sind. Für das breitere Spektrum der Humanismus-Debatte ist dagegen in Betracht zu ziehen, wie diese – in einem dafür repräsentativen Sammelband – bereits entwickelt und geführt wird. Eine aufschlussreiche Bilanz zur Erschließung des Humanismus in seiner heute globalen Perspektive liegt in dem Band »Interkultureller Humanismus« vor. 2 Auf die hier versammelten konzeptionellen Begründungen der Debatte, bereichsspezifischen Konkretisierungen und den sich abzeichnenden Stand der Diskussion ist zu blicken. Dafür sind neben der Gesamtanlage des Bandes einige Beiträge genauer in Betracht zu ziehen. Der erste besonders umfangreiche Teil des Bandes nimmt Erkundungen zum Humanismus in bedeutenden Kulturen vor (Humanismus in Lateinamerika, in Afrika, Konfuzianischer Humanismus, indischer Humanismus, Spuren humanistischer Traditionen im Islam). So werden in einem weiten Deutungsspektrum von ›Humanismus‹ Befunde und Perspektiven dazu entwickelt, was in der vorliegenden Studie als Frage nach dem zwischen den Kulturen aufeinander Beziehbaren gestellt, aber im Gegensatz zu diesen Erträgen des Bandes keine materiale Erörterung gefunden hat. (Auf den Beitrag von Hubert Cancik zum europäischen Humanismus ist noch gesondert einzugehen). Auch das unter dem Titel »Sachgebiete« in Teil II des Bandes Ausgeführte (Humanismus und Politik; Humanismus, Naturalismus und gerechtes Wirtschaften; Humanismus und Umwelt) ist bezeichnend für das weite Spektrum einer aus der Sicht des Humanismus erneut zu führenden Debatte, die so in der vorliegenden Studie nicht geführt, sondern anthropologiebezogen enger gefasst worden ist. In dieser Linie ist allerdings die im geschichtlichen Selbstverständnis des Humanismus seit den antiken Vorgaben formierte Zuständigkeit des Humanismus zur Thematisierung der ›Sachgebiete‹ tendenziell mit erschlossen worden. So wie Cicero – für die Belange

2

Jörn Rüsen/Henner Laass (Hg.): Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen. Schwalbach/Ts. 2009. Nachweise im Folgenden als Seitenangabe im Text.

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des Orators – jene grundlegende Figur vom Wissen vorgibt, das von der Rhetorik aus zu den Erscheinungsformen der accumulatio copiosa, zu den umfassenden, verfügbaren und jederzeit verwendbaren Kenntnissen von allen wichtigen Dingen führt. Oder wie Melanchthons inhaltliche Erschließung des Wissens sich nach Maßgabe der Loci-Lehre auf alle Sachgebiete erstreckt. Melanchthon entwickelt das innerhalb seines humanistischen Reformprogramms, die Beitrage des Bandes zu den darin erörterten Sachgebieten verfahren dabei mit einem weit gefassten Verständnis von Humanismus, das generaliter wohl als ein so zur Geltung gebrachtes »implizites Ethos«3 einzuschätzen ist. Distinkter zum Selbstverständnis und zum Begriff des Humanismus sind die Beiträge des Bandes ausgerichtet, die hier genauer in Betracht gezogen werden sollen. Wie im Falle von Volker Steenblocks Erörterung von »Humanismus und Bildung«, die – im Kontext des klassischen Humanismus – auch als ›Humboldts Traum‹ figuriert. Oder die Positionen, die in Hubert Canciks Untersuchung zum europäischen Humanismus, in der Einleitung zum Band von Jörn Rüsen wie mit dem Beitrag von Jürgen Straub entwickelt worden sind. Steenblocks Erörterung 4 von W. v. Humboldts Verständnis und Begründung von ›humaner Bildung‹ ist beispielhaft für Positionen des Bestehens auf im klassischen Humanismus konzipierter ›Vervollkommnung‹ des Menschen. Für Humboldt wird dies entwickelt anhand des Bedingungsverhältnisses von Bildung und Humanität; darin erkenne Humboldt »das Wesen des Menschen«: Durch eine kulturelle Selbstformung wird er ›menschlicher‹, als er sich naturhaft vorfindet; es ist sozusagen seine Aufgabe, sich zu verbessern. Die Vorstellung vom Aufstieg des Individuum zu seiner Idealität schließt die Auffassung von einem wesensmäßig im Menschen angelegten Selbstverwirklichungs- bzw. Vervollkommnungsstreben ein (S. 259).

Diese ›Idee‹ sei keineswegs überzeitlich oder eine universal gegebene Vorbildlichkeit – »Humboldt meint vielmehr ein immanentes Ziel, das

3

Henner Laass: »Nach-Denkliches zur Arbeit am Humanismus – statt eines Schlusswortes«. In: Rüsen/Laass: Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, S. 333 – 342, hier S. 333.

4

Volker Steenblock: »Humboldts Traum – Humanismus und Bildung«. In: ebenda, S. 255-278.

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eine unverwechselbare Eigenheit ausmacht und diese als Persönlichkeit im Lebensprozess verwirklicht« (S. 259). Der Weg dazu ist ›Bildung‹ in der Weise »individueller Identitätsfindung« (S. 262). Steenblock unterstreicht, dass sie Teil der kulturellen Arbeit als ›Arbeit am Ich‹ ist (S. 264). Sie ist Bildungsprozess als Begegnung der Perspektive des Subjekts mit dem als Sach- und Weltinformation Gegebenen. So kann bestimmt werden: Der Bildungsbegriff bezeichnet den Modus der Identitätsfindung konkreter Subjekte durch Repräsentanz der Welt als kultureller Konstruktion im sich formenden Ich (S. 265).

Inwiefern auf diesem Implikationsverhältnis von Humanismus und Bildung bestanden wird, führt auf die Fragen der Orientierungskraft von ›Humboldts Traum‹ für die heutige Humanismus-Debatte. Das lässt sich – unangesehen der von Steenblock differenzierten grundlegenden Aspekte, die »in ihrer Balance das Spektrum von Humanität und Bildung aus(machen)« (S. 268) – anhand von zwei Festschreibungen seines Beitrags erschließen. Die in der Argumentation zur Problematik vom ›Individuum‹ bzw. ›Ich‹ und in der Wendung gegen eine ›naturalistische Infragestellung‹ humaner Bildung offensichtlich werden. Steenblock macht geltend, dass die über Bildung vermittelte »humane Subjektvorstellung« auch heute erweisbar erscheint als: die im konkreten historischen Feld statthabende, nichtteleologische, aber darum nicht ›sinnlose‹ Identitätsbildung des sich selbst erweiternden und begreifenden Ich, das mit den Bildungsgehalten der Kultur wachsen, Prägnanz und Form gewinnen kann (S. 275, kursiv gewichtet).

Dies gelte jenseits der traditionalen Annahme eines »ineffablen ›Individualkerns‹«, es gebe »keine quasimetaphysischen Garantien« für eine derartige Entwicklung der Persönlichkeit, die auch unterboten werden oder misslingen könne. Aber auch als derart ›nicht-teleologisch‹ noch für die Gegenwart geltend gemachte Vorstellung vom humanen Subjekt bleibt sie entproblematisierende bildungsgeschichtliche Repristination gegenüber den heute gegebenen Bedingungen zur Selbstdeutung des modernen ›Ich‹. Für diese ›Wiederherstellung‹ humaner Subjektvorstellung des klassischen Humanismus mag hier der

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kurze Hinweis aufschlussreich sein, dass die zitierte Bestimmung Steenblocks sich in ihrem Gehalt geradezu auch für den in Goethes Roman von den Lehrjahren des Wilhelm Meister erzählerisch entworfenen Prozess individueller Identitätsfindung anführen ließe. Worauf es hier ankommt: Mit der von Humboldts Traum ausgehenden Erörterung von Humanismus und Bildung wird die heutige Debatte entschieden auf die Problemperspektive eingeengt, deren Voraussetzungen in der vorliegenden Studie als zeitgenössische Wendung des klassischen Humanismus zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen dargelegt worden ist. Was sich prägnant in der Weise manifestiert, wie Steenblock einer ›naturalistischen Infragestellung‹ entgegentritt. Die dazu vertretene Auffassung ist eindeutig und entschieden: »Der sich bildende Mensch ist keine idealistische Hypostase, als die er naturalistisch ausgehebelt werden könnte – er ist die Aufgabe kultureller Arbeit« (S. 276). Zwar wird dieses Problemfeld in einer Erörterung der strittigen Positionen vergegenwärtigt. Einerseits im Hinweis auf die Argumentation der Gehirnforschung im Sinne naturalistischer ›Determination‹. Und demgegenüber im Geltendmachen einer doppelseitigen Perspektive: Im Feld dazwischen, wo gleichsam Physik und Biologie in Bewusstsein und Bildung umschlagen, bewegen sich die Fronten. Insbesondere, wenn die traditionsreiche Debatte um die Willensfreiheit bemüht wird, geht es um ein Kompetenzgerangel zweier wissenschaftlicher Formationen, wer sich letztinstanzlich zum Menschen äußern dürfe: die Neurowissenschaften oder die Philosophie (S. 271).

Die weitere Argumentation gilt aber nicht einer materialen Erörterung der Problemlage an den ›Fronten‹ dazwischen. Wie diese Lage sich etwa mit den Befunden zur heute immer tiefer in das Naturgegebene des Menschen hinein sinkenden kulturellen Dimension formiert. Geltend gemacht wird vielmehr das Unabdingbare kultureller Orientierung mit ›Kernbegriffen‹ wie: »unüberwindbare Ethik, unverzichtbare Kultur, unvermeidbare Lebensfragen« (S. 273). Aus der Sicht der Freiheit des Menschen – unbeschadet seiner vielfältigen Bedingtheit durch Naturverhältnisse – wird als allererst richtiges Verständnis der ›Arbeit am Ich‹ statuiert: »Für die Zielvorstellung einer Kultivierung statt einer naturhaften Fremdsteuerung der Lebensverhältnisse, für Reflexion und Bewusstwerdung statt Besinnungs- und Gedankenlosigkeit

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steht der Begriff humaner Bildung vor allem, weil in ihm aus physikalischen und chemischen Prozessen Bedeutung entsteht und aus Natur Kultur« (S. 274). So sehr es verständlich ist, dass in der so gesehenen Alternative von Humboldt aus auf dieser Zielvorstellung von Humanismus und Bildung bestanden wird. Damit ist allerdings angesichts des heute komplex gegebenen Verhältnisses von Natur und Kultur, für das ein erneut deutungskompetenter Humanismus seine Zuständigkeit erweisen muss, eine diese Problemlage erschließende Explikation ausgegrenzt. Gegenüber dieser Fortschreibung von ›Humboldts Traum‹ klärt der erste Beitrag des Bandes zum Teil I: »Regionen« die konstituierenden historischen Grundlagen des Humanismus. Diese von Hubert Cancik mit beeindruckender Prägnanz (begriffs-, wort-, geistes- und kulturgeschichtlich) erstellte »Kleine Geschichte des europäischen Humanismus« ist orientiert an der Rezeption der Antike.5 In weit gefasster Perspektive (Antike, Renaissance, Byzanz und slawischer Kulturraum, arabisch-islamischer Kulturraum), aber gerade auch mit der Wende zur »Anthropologie« des 18. Jahrhunderts und deren Folgen werden Befunde erschlossen, die richtungweisend noch für die heutige Humanismus-Debatte sein können. Die Ausführungen zu Antike und Renaissance zunächst berühren sich mit dem in Teil I der vorliegenden Studie Entwickelten. Wobei Cancik die Antike, gerade auch in ihrer Widersprüchlichkeit, geltend macht und ausweist als fundierend für die von ihr ausgegangene Geschichte des Humanismus: Die Antike ist als tatsächliche Geschichte und als Idee Grundlage und immer präsenter Antrieb für europäischen Humanismus in seinen vielen und widersprüchlichen Ausprägungen (S. 28).

Ein Beispiel für die Konkretisierung der so geschaffenen Grundlage: Die »Lernkultur« der Griechen, denen die Erziehung vorrangig war und die Rhetorik zum Medium der Allgemeinbildung wurde (S. 29). In dieser Linie finde sich auch das lateinische Wort humanitas zuerst in der öffentlichen Rede (Cicero). Auf diesen Grundlagen fußt aber auch der in dieser Studie erörterte und zum Lehren und Lernen entwickelte

5

Hubert Cancik: »Die Rezeption der Antike – Kleine Geschichte des Europäischen Humanismus«. In: Rüsen/Laass: Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, S. 24-52.

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rhetorische Humanismus Melanchthons mit dessen Leitautor Cicero. Wobei auf den differenten historischen Kontext hier nur mit Canciks Feststellung verwiesen sein soll: Römische humanitas verbindet universal gültige Argumente philosophischer Anthropologie und Ethik mit gesellschaftlichen Standards der städtischen römischen Oberschicht. Die klassischen Zitate für diese Verbindung bietet Marcus Tullius Cicero (S. 41).

Den ›immer präsenten Antrieb‹ der Antike für europäischen Humanismus belegt und erschließt Cancik insbesondere mit den für diesen ›Antrieb‹ explikativen Bedeutungen, die das Wort humanitas in der klassischen lateinischen Literatur zum Ausdruck gebracht hat. Sie sind aufschlussreich als Konstituierung eines Sinnhorizontes, der bis hinein in die anthropologische Wende des 18. Jahrhunderts einen Deutungsrahmen für die Ausarbeitungsformen des Humanismus gebildet hat. Es handelt sich um drei dem Wort humanitas eingeschriebene Bedeutungsrichtungen, die diesen ebenso grundsätzlichen wie weiten Sinnhorizont vorgegeben haben: Zum Ausdruck gebracht wurden Grundannahmen zur conditio humana (»Dem Menschsein des Menschen«; als seine Schwäche gegenüber den Tieren; als seine Auszeichnung durch Vernunft, aber als unfertig auf die Welt gekommen). Eine zweite Bedeutungsrichtung wendete sich auf das genus humanum (das kollektive Geschlecht der »Menschheit«). Und drittens fasste humanitas leitende Vorstellungen von der rechten Lebensführung (der »Menschlichkeit« im Fühlen und Handeln, als der Fähigkeit zur mitleidig, hilfsbereit, toleranten Mitmenschlichkeit, aber auch als geschickter, urbaner, gekonnter Umgang mit Menschen). Diese Befunde Canciks (S. 41) von im Wort humanitas enthaltenen ›universalen Zuschreibungen‹ machen auf für jedes Humanismus-Verständnis entscheidende Voraussetzungen aufmerksam. Sie leiten in Canicks Erörterungskontext der modernen Pluralisierung des Humanismus auf seine hier einschränkende Feststellung, der Humanismus sei »kein geschlossenes, nur mit sich selbst kompatibles System aus Anthropologie und Ethik [...]« (S. 47, Hervorhebung von H.K.). Zwar ist der Humanismus in seiner Gesamtheit kein derartiges ›System‹, aber er ist seiner wirksam gebliebenen antiken Wurzel nach ein Deutungsentwurf des Menschen und seiner Lebenspraxis als Einheit von anthropologisch Gegebenem und ethischen Anforderungen an

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seine Lebensführung. In beiden Hinsichten wandeln sich historisch die Bedingungen dieser Deutung und so auch für einen heute erneut geltend zu machenden Humanismus. Diese ›Einheit‹ bleibt aber konstitutives Moment und jeweils neu zu erweisende Deutungskompetenz des Humanismus. In Melanchthons humanistischem Reformprogramm manifestiert sich diese festgehaltene Einheit in der Form, dass die Loci communes der formae vivendi ineins die anthropologischen Grundbedingungen, die Sachverhalte der Lebensumstände wie die ethischen Verpflichtungen umfassen. Der Beitrag von Cancik berührt sich mit der vorliegenden Studie insbesondere auch im dort als ›Wende zur Anthropologie‹ des 18. Jahrhunderts Ausgeführten. Auch in dieser Wendung schreibe sich in den europäischen Sprachen das zum Bedeutungsgehalt von humanitas Festgestellte »sehr ähnlich« fort (S. 39). Zwar wird nach der Konzeptualisierung und den Ausarbeitungsformen dieser neuen Anthropologie der Zeit nicht eigens gefragt. Von Herder ausgehend sind aber die so entstehenden Umakzentuierungen gegenüber dem ursprünglichen Deutungsentwurf herausgestellt: Die Thematisierung von »Menschlichkeit« im Rahmen einer Humanitäts-Kultur. Wie dies ganz sichtbar wird, wenn Herder – wie Cancik zitiert – in Erwägung zieht, statt von Humanität von »Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte(n), Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe« zu sprechen (S. 40). Zwar ist dabei in »Menschheit« noch einerseits die ›Gesamtheit von Menschen‹ und so das Menschengeschlecht, aber auch das ›Wesen eines Menschen‹ und so dessen Verhaltensorientierung umfasst. Darauf richten sich Herders weitere Attributierungen im Sinne einer im Fühlen und Handeln human optimierten Selbstdeutung des Menschen. Aus der Sicht der ›Wende zur Anthropologie‹ des 18. Jahrhunderts und der Ausarbeitungsformen des Leitmotivs leib-seelischer Konnexion ins ›Geistesgeschichtliche‹ ist der Boden für diese Umakzentuierungen geschaffen. Die im Wort humanitas enthaltene Komplexion von Anthropologie und Ethik hat die andere Form dieser Humanitäts-Kultur angenommen. Die man mit guten Gründen – »Kein Humanismus ohne Humanität« – angesichts der Realitäten der Gegenwart in die heutige Humanismus-Debatte einbringen könne. Bis hin zur ›kosmopolitisch‹ formierten Erklärung der Menschenrechte: »Die Erklärung gehört zu den Basistexten des modernen Humanismus« (vgl. S. 48 ff.). Womöglich aber ist der Humanismus, zur Orientierung der menschlichen Lebenspraxis und als eine Komplexion von Anthro-

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pologie und Ethik, erst wieder neu zur Geltung zu bringen als derart grundlegend deutungskompetent für die heutige Problemlage, wie dies mit dem Sinnhorizont von humanitas entworfen war. Der ›moderne Humanismus‹ ist – wie Cancik erörtert – zugleich die Geschichte seiner Pluralisierung. Bereits die erste Prägung des Begriffs Humanismus durch F. I. Niethammer (etwa mit seiner Programmschrift »Der Streit des Philantropismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit«, 1808) impliziert diese Deutungskompetenz bereits in ein Konzept von Erziehung und Bildung hinein, gerichtet gegen die »berufsbezogen, praxisnah, bürgerlich« orientierte Reform philanthropischer Provenienz: »Der pädagogische Begriff Humanismus ist die reflektierte Antithese zu der »modernen Pädagogik« der Philanthropen« (S. 44). Mit diesem Humanismus wollte Niethammer »die allgemeine Bildung, die Bildung des ganzen Menschen [...] von Vernunft und Humanität« (S. 44). Wie Cancik zitiert: »die Bildung des Menschen als Menschen, abgesehen von aller Verschiedenheit individueller Beschaffenheit [...] oder die Bildung der Menschheit im Individuum«. In diesem pädagogischen Humanismus ist das Anthropologische zur Bildung ›als Mensch‹ oder zur im Individuum statthabenden Bildung der ganzen ›Menschheit‹ verwandelt und so weiterhin berufen. Wie auch die Ethik in der ästhetisierten Form ›wahrer Klassizität‹, die Niethammer »in allen Arten der Darstellung des Wahren, Guten und Schönen« in höchst vollendeter Weise in der Antike erreicht sah (S. 44). So transformieren sich die Rezeption der Antike und der von Cancik erhobene ursprüngliche Deutungsentwurf von Anthropologie und Ethik in diese Bildungs-Version von Humanismus, die den umfassenden Anspruch dieses Entwurfs im Konzept von »Menschenbildung« noch impliziert. Fragwürdig ist aber, inwiefern diese und andere Befunde zur Epoche des klassischen Humanismus (vgl. den Beitrag zu ›Humboldts Traum‹) über die Klärung der geschichtlichen Artikulationen des Humanismus hinaus auf einen umfassenden Deutungsanspruch für die heute gegebenen Problemlagen noch führen und so den Humanismus erneut zur Geltung bringen können. Diese Frage ist auch an die Einleitung des Bandes von Jörn Rüsen6 zu richten, die sich auf eine Erörte-

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Jörn Rüsen: »Einleitung: Einheitszwang und Unterscheidungswille – die kulturelle Herausforderung der Globalisierung und die Antwort des Huma-

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rung des heute unabdingbar ›interkulturellen Humanismus‹ konzentriert. Entwickelt wird das für jede menschliche Vergemeinschaftung gegebene Grundsatzproblem »von Selbst- und Anderssein, von Zugehörigkeit und Abgrenzung«, das dem Überlebens- und Selbstbehauptungswillen entspringt und mit dem Prozess der Globalisierung in »einer neuen historischen Konstellation« gegeben ist (S. 12). Gegenüber dem darin liegenden Konfliktpotenzial sieht Rüsen den Humanismus damit konfrontiert, »kulturelle Orientierungen zu finden, die den Überlebenswillen menschlicher Gemeinschaftsbildung über alle Abgrenzungen vom Anderssein der Anderen hinweg auf ein differenz-übergreifendes Ziel oder auf eine interkulturell plausible Wertordnung ausrichten« (S. 14).

Gegenüber der raschen Entwicklung zu einer ›Zivilisationsökumene‹ und Initiativen wie der zu einem ›Weltethos‹ diagnostiziert Rüsen doch: »[...] es fehlt eine positive Bestimmung kultureller Differenz in der Gemeinsamkeit eines ethischen Prinzips« (S. 15). Insofern ist auch in diesen Überlegungen – mit dem quasianthropologischen Überlebens- und Selbstbehauptungswillen und dem ethischen Prinzip – der ursprüngliche Deutungsentwurf von Anthropologie und Ethik noch ›da‹ und neu reflektiert. Das trägt sich auch im konzeptionellen Grundgedanken der Erörterung und der für die heutige Humanismus-Debatte entworfenen Perspektive aus. Ausgegangen wird von der in allen Kulturen gegebenen und allgemeinsten »anthropologischen Basis« der menschlichen Selbstverständigung im »Menschsein des Menschen« (S. 15). Von daher hätten sich auch die jeweiligen humanistischen Traditionen herausgebildet, an die für eine heute global umfassende ›Wertbasis‹ angeschlossen werden könnte. In dieser kulturellen Pluralität ließen sich kritisch wie selbstkritisch insbesondere die Gemeinsamkeiten »bis hin zu einem interkulturell akzeptablen Begriff der Menschenwürde« ausarbeiten (S. 16). Rüsen wendet diese Perspektive konkreter, indem dafür je von der eigenen Tradition – hier dem westlichen Humanismus – auszugehen und diese »durch Öffnung auf die gegenwärtige Problemlage zukunftsfähig« zu machen sei (S. 16). Was die darauf gerichtete

nismus«. In: Rüsen/Laass: Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, S. 8-22.

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Erörterung geltend macht, ist also – welche Selbstdeutung des Humanismus; welche Modalitäten der Öffnung; welche Vermittlung zur gegenwärtigen Problemlage? – genauer in Betracht zu ziehen. Vororientiert durch die allgemeinste ›anthropologische Basis‹, die im Menschsein des Menschen gegeben ist, beruft Rüsen auch in dieser Einleitung des Bandes mit Kant die »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen als ein allgemein gültig denkbares regulatives Prinzip des Verständnisses von Humanismus. Auch damit ist erneut eine Komplexion von Anthropologie und Ethik geltend gemacht: »Diese Selbstzweckhaftigkeit stellt eine moralisch unüberschreitbare Schranke der Instrumentalisierung und des Gebrauchs von Menschen als Mittel zu nicht von diesen selbst gesetzten Zwecken dar« (S. 17). Zwar wird eingeräumt, dass sich mit der Kantischen Bestimmung von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen »das, was Humanismus ist, recht abstrakt« darstellt. Daher dürfte diese Bestimmung aber auch »allgemein zustimmungsfähig« sein und geeignet, in einem interkulturellen Dialog »eine wichtige Rolle zu spielen« (S. 17). So sehr dieser Grundsatz in seinem prinzipiellen Gehalt diese ›Schranke der Instrumentalisierung‹ von Menschen statuieren kann: In Kants »Metaphysik der Sitten« steht er im Kontext des ›guten Willens‹ und in seiner Anthropologie bildet dafür Kants Auszeichnung des ›moralischen Charakters‹ der Person als ›Charakter schlechthin‹ eine indirekte Entsprechung. An sich ist allerdings noch nicht entscheidend, wie sehr Kants Bestimmung von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen den erörterten Ausarbeitungsformen der neuen Anthropologie der Zeit als Kontext ihrer Humanitäts-Kultur verhaftet ist, wenn diese Bestimmung als unserer westlichen Tradition entstammender Grundsatz für die unter den heutigen Bedingungen erneut zu führende Humanismus-Debatte geltend gemacht wird. Auszuweisen ist allerdings, wie unter diesen Voraussetzungen die Öffnung und Vermittlung zur gegenwärtigen Problemlage gedacht werden kann. Gewiesen wird dafür auf drei »Qualifikationen« des westlichen Humanismus, die als nicht festgeschrieben »dynamische« seiner modernen Fassung »von Anfang an zukommen« (S. 17). Wie diese Leistungen einerseits in den konkretisierenden Ausarbeitungsformen der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen gegeben sind. Und sich zweitens durch den Humanismus als »Bildungskonzept« als »dynamische Größe« der »Bildungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen« formiert haben. Als dritte dynamisch zu verstehende Qualifikation des Huma-

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nismus macht Rüsen die »politisch« verfasste kulturelle Praxisorientierung in der Form von Verfassungen, Menschen- und Bürgerrechten geltend (S. 18). Gerade auf der Ebene dieses »politischen Humanismus« ließe sich gegenwärtig bereits eine »wachsende interkulturelle Anerkennung« wahrnehmen (S. 19). Rüsen geht es mit dem Namhaftmachen dieser »dynamischen« Qualifikationen um diskursive Erscheinungs- und Konkretisierungsformen einer prozesshaften Öffnung des dem Humanismus nach Maßgabe und in Teilhabe am Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen eignenden Zuständigkeit auch unter den heute gegebenen Bedingungen. Es steht aber aus, ob und wie die unter den Voraussetzungen der Humanitäts-Kultur des klassischen Humanismus und den dort gesuchten Problemlösungen entwickelten Bestimmungen – in der Absicht, »diese durch Öffnung auf die gegenwärtige Problemlage zukunftsfähig zu machen« (S. 16) – diese Problemlage in ihren anderen Voraussetzungen und Deutungserfordernissen noch ›treffen‹. Rüsen entwickelt das Humanismus-Verständnis mit der Berufung auf das Kantische regulative Prinzip der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen und begründet dies – wie gezeigt – gerade auch mit diesem Prinzip eigenen Konstituierungen aus Anthropologie und Ethik. Beispielhaft zeichnet sich darin das für die Öffnung auf die Gegenwart und einen für sie deutungskompetenten Humanismus erst noch zu Leistende ab. Zwar entsprechen diese Konstituierungen aus Anthropologie und Ethik dem Grundverständnis des Humanismus in seinen geschichtlichen Präzedentien. Wie dieses im umfassenden Deutungsentwurf des im Wort humanitas zum Ausdruck Gebrachten gegeben ist. Oder in Melanchthons rhetorischem Humanismus in der Form der Loci communes zu einem umfassenden Erkenntnisprogramm ausgearbeitet worden ist. Darin lag jeweils der Anspruch, eine der zeitgenössischen Problemlage angemessene und für sie kompetente Deutungsperspektive zu entwickeln. Einen derartigen Anspruch wird auch der Humanismus gegenwärtig, wenn er wirksam werden soll, erweisen müssen. Und dies angesichts einer Problemlage, die nicht als ›Öffnung‹ auf sie begreifbar ist, sondern sich mittlerweile essenziell anders stellt. Wie das in dieser Studie anthropologiebezogen im Ausgang vom anderen Konstitutionsverhältnis von Natur und Kultur in Betracht gezogen

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worden ist. 7 Besonders aufschlussreich in dieser Richtung, d.h. die gegenwärtige Problemlage zentral für die Humanismus-Debatte zur

7

Wenigstens hinzuweisen ist angesichts dieser Einschätzungen auf Fortentwicklungen der Humanismus-Debatte mit dem Band: Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, hg. von Jörn Rüsen. Bielefeld 2010. Dieser Band würde eine nochmals eigene Auseinandersetzung erfordern, angeführt werden hier aber nur ergänzende Anmerkungen zu Rüsens Argumentation. In der Einleitung des Herausgebers – und so auf den ganzen Band bezogen – wird die Humanismus-Debatte in einer Richtung weiterentwickelt, die zu Konvergenzen mit dem in dieser Studie vom rhetorischen Humanismus her Erörterten führt. Das von Rüsen geltend gemachte ›Menschsein des Menschen‹ als grundlegend für die dem Humanismus eigene kulturelle Orientierung der menschlichen Lebenspraxis wird damit korreliert, dass und wie die Arbeit am Humanismus sich »der Erkenntnisleistungen der Wissenschaft versichert« (S. 18). Damit diese Orientierungsfunktion gelingt, sei einerseits ein (auch normativer) »MetaSinn« erforderlich und zur Erfüllung dieser Funktion werde ja »letztlich« auch »alles wissenschaftliche Wissen gewonnen« (S. 14). Erforderlich sei ebenso: die Integration von Wissensbeständen zu einer Form, die dem entspricht, was ein ›handlungsleitendes Menschenbild‹ zu leisten hat (S. 13 f). Was wiederum »die Leistung einer anthropologischen Selbstreflexion der mit dem Menschen befassten unterschiedlichen Wissenschaften« erfordert (S. 17). Diese Linie von Rüsens Argumentation sei hier so pointiert, weil damit – wenn auch auf die gegenwärtigen Erkenntnisleistungen der Wissenschaft gewendet – eine Wegweisung für die Humanismus-Debatte geltend gemacht wird, die mit der humanistischen Reform Melanchthons darin übereinkommt, dass diese als ein gerade auch die Wissenschaften integrierendes umfassendes Erkenntnisprogramm konzipiert worden ist. Wobei Melanchthon diese Reform allerdings als ein integrantes Konzept von wissenschaftlicher Sachverhaltserschließung, Methodus und Ethik entwickelt und so ›Menschenbild‹ und ›Erkenntnisleistungen der Wissenschaft‹ zum Horizont der Deutungskompetenz des Humanismus gemacht hat. Hinsichtlich dieser – meines Erachtens für Präzedentien und Perspektiven des Humanismus zentralen Frage nach der Deutungskompetenz – wäre diese Konvergenz weiter auszuarbeiten. Rüsens Beitrag im Band der Perspektiven der Humanität (»Klassischer Humanismus – Eine historische Ortsbestimmung«, S. 273-315) vertritt zugleich und entschieden erneut das Fußen auf dem klassischen Humanismus (S. 276). Die darin vorgenommene ›his-

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Geltung zu bringen, sind die von Jürgen Straub in Teil III: »Ausblick« des Bandes entwickelten Erörterungen zur »interkulturellen Kompetenz«.8 Zur Explikation »interkultureller Kompetenz« geht auch Straub – vgl. Rüsens ›quasianthropologische‹ Gegebenheit von Selbst- und Anderssein, von Zugehörigkeit und Abgrenzung – zunächst von einem sich heute so darstellenden Befund dieses Grundsatzproblems aus: »Wie die Psychologie des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, steht der Vorgang der sozialen Differenzierung unter Gruppen im Zeichen eines quasi ›natürlichen‹ Bedürfnisses nach einer positiven Identität« (S. 301). Der Intergruppen- und so auch der Kulturvergleich führe durchweg auf das Ergebnis: »Die eigene Bezugsgruppe wird in wichtigen – mitunter sorgsam ausgewählten und betonten – Hinsichten als ›überlegen‹, ›besser‹ oder ›höherwertig‹ qualifiziert« (S. 301). So werde eine ›positive Identität‹ der Zugehörigen geschaffen oder verstärkt und zugleich die Gefahr konflikthafter Einstellung zwischen den Gruppen. Dieser sozialpsychologische Befund in seiner Bedeutsamkeit gerade angesichts der expansiven Interaktivität im gegenwärtigen Globalisierungsprozess erläutert die wachsende Bedeutung interkultureller Kompetenz, auch wenn die genauere Bestimmung dieser Kompetenz »bis heute nicht sehr klar« ist (S. 303). Über die Erörterung dieser Kompetenz hinaus will Straub entwickeln, »ob und inwiefern sich der ganze Diskurs über interkulturelle Kompetenz nicht auch in einer humanistischen Perspektive begreifen und weiterführen ließe« (S. 327). Diese Reflexion der Humanismus-Problematik aus der Sicht der gegenwärtigen Problemlage des Entwickelns interkultureller Kompetenz verspricht so einen aufschlussreichen Beitrag zur heute erforderlichen Deutungskompetenz des Humanismus. Straub führt darauf hin, indem er zunächst wesentliche Bestimmungen des Begriffs »Kultur« und seiner Entwicklung erörtert. (Dem-

torische Ortsbestimmung‹ (durch Erörterung auch der »Anthropologischen Voraussetzungen«) berührt dabei die in der vorliegenden Studie entwickelte Infragestellung aufgrund der Wendung zu einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen nicht. Insofern sind die damit geltend gemachten Einwände nicht behoben. 8

Jürgen Straub: »Interkulturelle Kompetenz – eine humanistische Alternative?«, in: Rüsen/Laass: Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, S. 300-332.

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nach wären Kulturen heute als ›offene, historisch veränderliche, dynamische Systeme‹, der Kulturbegriff als ›distinktiv‹ statt normativ zu verstehen.) In der Erörterung der interkulturellen Kompetenz – sie gilt »vielen als die Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts« (S. 309) – zeichnen sich maßgebliche Dispositionen für deren Begreifen in einer ›humanistschen Perspektive‹ ab. Wie die heute lebenspraktisch allgemein anerkannte Wünschbarkeit und Geltung dieser Kompetenz. In Verbindung auch damit, dass die kulturelle Semantik des Kompetenzbegriffs sich immer mehr »zu einem valorativen (werthaltigen) und normativen Konzept [entwickelt], das mindestens ebenso sehr einen idealen Zielzustand bezeichnet wie die tatsächlichen Kenntnisse und Fertigkeiten ›ganz normaler‹ Menschen« (S. 311). Insofern ist eine gewisse Affinität zu der dem Humanismus eigenen ›werthaltigen‹ Orientierung der menschlichen Lebenspraxis gegeben. Eine Disposition zeichnet sich auch in Straubs – hier nicht eigens aufzugreifender Erörterung der Komponentenmodelle interkultureller Kompetenz – dadurch ab, »dass das theoretische Konstrukt ›interkulturelle Kompetenz‹ ein ganzes Bündel von Merkmalen, Fähigkeiten und Fertigkeiten umfasst und integriert« (S. 316). Und das Üben dieser Kompetenz schließt nicht nur das bewusste Reflektieren ein, deren Begriff rührt an »tiefere Schichten« der Person: »Er bezieht sich auf deren dem Bewusstsein teilweise entzogenen ›Gefühlshaushalt‹ [...]« (S. 319). So ist das Erwerben dieser Kompetenz ›tief‹ mit den Prozessen personaler Selbstdeutung verbunden: »Viele in der affektiven, emotionalen und konativen Dimension angesiedelte Lernprozesse berühren Tiefenschichten der psychosozialen Identität eines Menschen« (S. 319). Von Seiten des heute absehbaren theoretischen Konstrukts ›interkulturelle Kompetenz‹ ließe sich also dieses umfassende Berührtsein der Person bereits als eine Disposition für die Frage nach einer ›humanistischen Perspektive‹ der interkulturellen Kompetenz verstehen. Der Grundgedanke, dass diese Kompetenz befähigt, der konflikthaften Problematik kultureller Differenz entgegenzuwirken – »mit erwartbaren Erfahrungen kultureller Differenz, Andersheit und Fremdheit« zurechtzukommen, sie zuzulassen und produktiv mit ihnen umzugehen (S. 313) – enthält in sich eine ›Werthaftigkeit‹. Die diese Kompetenz heute als allgemein wünschenswert erachten lässt und von Straub so festgestellt wird: »[...] als ein normativ (ethisch, moralisch, politisch) besonders hoch stehender Aspekt des menschlichen Handlungspotenzials« (S. 311). Die tief mit den Prozessen personaler

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Selbstdeutung verbundene interkulturelle Kompetenz berührt sich darin manifest mit den anthropologisch-ethisch grundgelegten Deutungsentwürfen des Humanismus. Und dies erschließt sich von Seiten der interkulturellen Kompetenz als eine Modalität der heute gegebenen Problemlage: Interkulturelle Kompetenz betrifft unsere heutigen Vorstellungen einer legitimen Moral und Politik und einer wünschenswerten sozialen Praxis. Sie bildet einen wichtigen Aspekt unseres ethisch-moralischen Selbstverständnisses (S. 323).

Diesen Weg des Entwickelns einer ›humanistischen Perspektive‹ stützt Straub zugleich auch im Blick auf die Selbstdeutungen des Humanismus. Gegenüber der Vielfalt der Bestimmungen wird – wie in Beiträgen des Bandes erörtert – ein Komplex von Grundorientierungen geltend gemacht. In Stichworten: eine universale (anthropologische) Bestimmung des Menschen; ethische und moralische Reflexionen; Vervollkommnung des Menschen durch fortschreitende Bildung und Erziehung; Ausrichtung der menschlichen Lebenspraxis stets auch an humanitären Prinzipien (vgl. S. 329). Gegenwartsbezogen ist der Begriff ›interkulturelle Kompetenz‹ zwar mit diesem Humanismus-Verständnis nicht korreliert. Er taucht in keiner der bisherigen Versionen von Humanismus auf und wurde erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geläufig. Straub macht aber geltend, dass er »humanistisches Erbe« antrat: »weil er die gesamte Menschheit, also die Einheit der Gattung, vor dem Hintergrund der intensivierten und differenzierten Erfahrung kultureller Unterschiede in den Blick nahm«. Und weil dies als ein Erfordernis der Weiterentwicklung »unserer praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten betrachtet wird« (S. 330). Insofern ließe sich also die Entwicklung interkultureller Kompetenz als eine in der gegenwärtigen Problemlage verankerte substituierte Form des Humanismus verstehen. Ins Verhältnis zur Geschichte des Humanismus setzt Straub seine Erörterung der interkulturellen Kompetenz aber auch noch in anderer Weise, die das Problem des Geltendmachens zwar historisch bedingter, aber gleichwohl in die heutige Humanismus-Debatte als gültig eingeführter Grundsätze erneut aufwirft. Auch Straub greift also den vor allem von Rüsen geltend gemachten Kantischen Grundsatz von der »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen auf. In diesem Falle geht es aber nicht generell um das damit

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statuierte ›ethische Prinzip‹ oder die so gesetzte Schranke gegenüber einer Instrumentalisierung des Menschen; Straub setzt den Kantischen Grundsatz ins Verhältnis zu den heutigen Vorstellungen von interkultureller Kompetenz. Diese verknüpfen Immanuel Kants kategorischen Imperativ – in der Variante der sog. ›Zweckformel‹, die eben besagt, dass man Menschen niemals als bloßes Mittel betrachten, behandeln und benutzen dürfe, sondern stets auch als Zweck an sich ansehen und erfahren sollte – auf neuartige Weise mit dem ebenso kategorischen Gebot, Andere und Fremde als solche wahrzunehmen, zu achten und anzuerkennen (S. 325).

Der Rückbezug auf den im Kontext der Humanitäts-Kultur des klassischen Humanismus entwickelten Grundsatz ist hier Ausgangspunkt nur seiner gegenwarts- und zukunftsbezogenen ›Öffnung‹. Die ihre Begründung erfährt anhand der in den heutigen Debatten zur interkulturellen Kompetenz ›mitschwingenden‹ Wendung gegen ein »instrumentalistisches Verständnis des (Mit)Menschen« und gegen die Auffassung dieser Kompetenz als »quasi ›technisches‹ Handlungspotenzial«. Insofern ist mit interkultureller Kompetenz heute durchweg der Anspruch verbunden – Signum des sich ›öffnenden‹ Verständnisses – »den Anderen und Fremden als solchen und damit auch als Zweck an sich zu betrachten [...]« (S. 324). Straub denkt das weiter im Sinne eines zu entwickelnden Bewusstseins von möglicherweise »radikaler Alterität und Alienität« der in der Pluralität der Kulturen verschiedenen Menschen und ihrer so erforderten Wahrnehmung und Achtung. Was zugleich heißt: Ein derartiges Bewusstsein »führt über eine Ethik und Moral z.B. in Kantischer Tradition hinaus«. Ein so verstandener Begriff interkultureller Kompetenz verweist uns vielmehr auf eine »Ethik der Alterität, die erst im 20. Jahrhundert deutliche Konturen annahm [...]« (S. 326). Diese Argumentation soll im Folgenden nur im Hinblick auf das ›Hinausführen‹ über die Berufung auf den Kantischen Grundsatz näher erörtert werden. Kants Leitfrage aus der Vorrede zu seiner ›pragmatischen‹ Anthropologie (was der Mensch »als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll«) anführend und für das Praktizieren einer ›Ethik der Alterität‹ fortschreibend, wirft Straub die Frage auf: Ist das Realisieren dieser Ethik als eine ›Stärkung‹ der Selbstverwirklichung geschichtlich nicht durchweg eher als eine ›Schwäche‹

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gesehen worden? Aufgrund der habituellen Auffassung: »Wer sich Anderen und Fremden gegenüber öffnet, setzt in gewissem Maße sein Selbst aufs Spiel [...]« (S. 327). Damit tritt dieses ›Selbst‹ – welches ›Selbst‹ ist Begründungskontext des Kantischen Grundsatzes, welches ›Selbst‹ Träger einer Ethik der Alterität – als erklärungsbedürftig ins Zentrum. In Kants Nachfrage nach anthropologischem Wissen ist der Grundgedanke der ›Zweckformel‹ bereits in der Vorrede sofort präsent (Wichtigster Gegenstand aller im Fortschritt der Kultur »erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt [... (ist)] der Mensch, weil er sein eigener letzter Zweck ist«). Wie aber die Bestimmung des ›Selbst‹ dieses Menschen in Kants anthropologischer Nachfrage entwickelt wird – im Kontext des Charakters der Person, der teleologischen Perfektionierung der Menschengattung, des Bewusstseins seiner selbst – ist bereits in Kapitel II der vorliegenden Studie erörtert worden. Angesichts der von Straub aufgeworfenen Frage geht es aber nicht um die von Kant vollzogene Wendung ins ›Geistesgeschichtliche‹, sondern um die ineins damit erkundete »Ichheit« des Menschen. So ist von Kant eine Zentrierung im ›Selbst‹ gedacht, als gegenüber allen Veränderungen qua Einheit des Bewusstseins »eine und dieselbe Person«, die als solche dem Grundsatz vom Menschen als seinem eigenen letzten Zweck supponiert ist. Mit der von Straub qua interkultureller Kompetenz geltend gemachten, sich gegenüber Anderen und Fremden öffnenden Ethik der Alterität, geht es dagegen nicht um ein derart gedachtes, sondern anders gegebenes ›Selbst‹: Man kann das Konzept der interkulturellen Kompetenz also ganz zwanglos als eine der vielleicht besonders eindrucksvollen Manifestationen einer seit langem in Gang befindlichen Dezentrierung und kommunikativen Verflüssigung des Selbst des ›modernen‹ Menschen auslegen. Genau dafür steht im Übrigen auch der (spät-)moderne (sozialpsychologische) Begriff der personalen Identität (S. 327).

Auch ohne über diese kurzen Hinweise hinaus in eine genauere Erörterung der Modalitäten von »Ichheit« und »Dezentrierung« einzutreten – exemplarisch zeichnet sich hier eine evidente Problematik der heutigen Humanismus-Debatte und ihrer Konzepte ab. Wie nämlich der Humanismus gegenwärtig erneut zur Geltung zu bringen sei: Mit womöglich allgemein gültigen und so auch heute applikablen Bestimmungen des

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humanistischen Erbes (wie der Kantischen ›Zweckformel‹) und einer Öffnung auf die Gegenwart, oder durch Problematisierung der Deutungskompetenz des Humanismus. Das heißt in deren geschichtlicher Artikulation wie angesichts der Erfordernisse der heute gegebenen Problemlage (wie diese etwa als Erfordernis ›interkultureller Kompetenz‹ zum Ausdruck kommt). Gegenüber dem umfassenden Spektrum des kommentierten Bandes unternimmt die vorliegende Studie eine andere Initiative zur Ausarbeitung der Debatte. Das kann in der Form von zwei leitenden Orientierungen resümiert werden. Einerseits als die anthropologiebezogen entwickelte Deutungskompetenz des Humanismus mit Bezug auf dessen antik ursprünglichen Deutungsrahmen in der ›topischen‹ Explikationsform von Melanchthons humanistischer Reform. Und demgegenüber die sich mit den Ausarbeitungsformen der neuen Anthropologie leib-seelischer Konnexion als Kontext auch des klassischen Humanismus entwickelnde Deutungsperspektive im Sinne einer Geistesgeschichte der Natur des Menschen. Die wiederum angesichts der heute gegebenen Problemlage im Verhältnis von Natur und Kultur die dem Humanismus eigene Kompetenz richtungweisender Orientierung der menschlichen Lebenspraxis, die ihn zu einer geschichtlichen Macht hat werden lassen, erneut zu leisten nicht prädestiniert ist. Insofern plädiert diese Studie in ihrer anthropologiebezogen humanismusgeschichtlichen Linie für eine der heutigen Problemlage kongeniale Neubegründung der im Humanismus angelegten essenziellen Deutung der kulturell zu verhandelnden Lebenspraxis. Dafür hat die Studie einige – wie problematisch immer – erste Überlegungen geltend gemacht. Sie wendet sich andererseits aber auch nachdrücklich ›skeptisch‹ auf einen mit dieser Debatte erst zu leistenden Perspektivenwechsel. Wie dies für den Humanismus ›in der Epoche der Globalisierung‹ mit der ethnologisch und historisch tief sitzenden Spezifik der Kulturen gegeben ist. Die sich als diese Spezifik in aller Schärfe und Problematik für die Debatte stellt, wenn man – wie am Beispiel von ›Individualität‹ – die Entstehung und Entwicklung bis hin zu deren Quellentexten und Begründungskontexten beim Wort nimmt. So gesehen ist der Humanismus, unter den heutigen Bedingungen ›interkulturell‹ neu zur Geltung gebracht, mit einem kaum absehbaren Ausmaß von Erörterungsbedarf konfrontiert. Die Problematik der Kulturspezifik und ihrer ja immer weiter zu leistenden Explikation stellt sich in dieser Schärfe

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und fordert die Humanismus-Debatte dazu heraus, einen Perspektivenwechsel zu Kategorien hervorzubringen, mit denen eine kommune kulturelle Verhandlung der wesentlichen lebenspraktischen Fragen möglich wird. Ein Beispiel dafür könnte womöglich die skizzierte Zuordnung der beim Wort genommenen Spezifik von ›Individualität‹ zur allgemeineren Kategorie des ›Personseins‹ bilden. Das hat zunächst nur Entwurfcharakter unter dem Vorzeichen gebotener Skepsis. Den Humanismus aber, trotz derartiger Infragestellungen, neu zur Geltung bringen zu wollen, erscheint gerade ›in der Epoche der Globalisierung‹ einleuchtend und notwendig. Der Grund dafür liegt vorab in dem für den Humanismus konstitutiven anthropologisch-ethischen Deutungsrahmen, der historisch jeweilig ausgearbeitet worden ist, konzeptuell aber auf eine Deutungspraxis essenzieller Orientierung des kulturell Auszuhandelnden führt. Der kommentierte Band unterstreicht bereits in seinem Untertitel die eine Seite der anthropologisch-ethischen Komplexion: »Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen«. Das in dieser Studie Entwickelte akzentuiert anthropologiebezogen eine andere Leistung des Humanismus. Wie diese mit den szientifischen Erörterungen Melanchthons in die Debatte eingebracht werden kann: Humanistische Reform als Erkenntnisprogramm.

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-7

Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten (hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier) 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-6

Martin Gieselmann, Jürgen Straub (Hg.) Humanismus in der Diskussion Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen eines Programms 2012, 134 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2238-6

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Oliver Kozlarek Moderne als Weltbewusstsein Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne 2011, 324 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1696-5

Anna Sieben, Katja Sabisch, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme 2012, 498 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-9

Jürgen Straub (Hg.) Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1699-6

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