Humanistische Reden und Vorträge [2. erw. Aufl. Reprint 2010] 9783110881721, 9783110025217

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Humanistische Reden und Vorträge [2. erw. Aufl. Reprint 2010]
 9783110881721, 9783110025217

Table of contents :
Vorwort
Philologie und Historie
Der Humanismus als Tradition und Erlebnis
Hermann Diels
Humanismus und Jugendbildung
Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart
Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato
Antike und Humanismus
Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung
I. Kulturidee und Griechentum
II. Der Wandel des Platobildes im 19. Jahrhundert
III. Die platonische Philosophie als Paideia
Die geistige Gegenwart der Antike
Die Antike im wissenschaftlichen Austausch der Nationen
Der Großgesinnte (aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles)
Staat und Kultur
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
Die Griechen und das philosophische Lebensideal
Friedrich Hölderlins Idee der griechischen Bildung
Paideia Christi
Die asketisch-mystische Theologie des Gregor von Nyssa
The Greek Ideas of Immortality
Humanism and Theology

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WERNER JAEGER HUMANISTISCHE REDEN UND VORTRÄGE

WERNER JAEGER

HUMANISTISCHE REDEN UND VORTRÄGE ZWEITE ERWEITERTE AUFLAGE

WALTER DE G R U Y T E R & C O . / B E R L I N

1960

(C) I960 WALTER DE GRUYTER & CO., VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP. — BERLIN W 35. PRINTED IN GERMANY · ARCHIV-NR. 345260. SATZ UND DRUCK: THORMANN & GOETSCH, BERLIN-NEUKÖLLN.

Vorrede zur zweiten Auflage Nach fast einem Vierteljahrhundert erscheint diese stark vermehrte zweite Ausgabe der Sammlung von Vorträgen, die ich im Laufe der Jahre vor einer breiteren Öffentlichkeit gehalten habe. Auch die neue Sammlung bietet nur eine Auswahl. Der dabei maßgebende Gesichtspunkt ist derselbe geblieben wie in der ursprünglichen Gestalt des Buches: die Beziehung all dieser Äußerungen auf das Problem des Humanismus in Geschichte und Gegenwart, die dem Ganzen seine innere Einheit gibt. Doch erscheint es hier um wichtige Aspekte bereichert, ich nenne nur den der Religion, der in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit von jeher stark hervorgetreten ist und bei meiner Übersiedlung an die Harvard Universität (1939) zur Gründung des der patristischen Forschung gewidmeten „Institute for Classical Studies" führte. Meine langjährige Beschäftigung mit diesem Teil des antiken Erbes kommt jetzt auch in den Vorträgen zur Geltung. Die erste Sammlung (1937) spiegelte meine fortgesetzten Bemühungen um die Erneuerung des humanistischen Geistes auf Universität und Schule wie im Leben der Nation nach dem ersten Weltkriege. Ihre Zusammenfassung geschah aus Anlaß meines Weggangs aus Deutschland im Jahre 1936, womit ich zugleich bekannte, daß ich an dem von mir erstrebten Ziele festhielt. Seither hat die humanistische Idee in anderen europäischen Ländern und besonders in Amerika in der geistig führenden Schicht eine Wiedergeburt erlebt und auf die Organisation der Universitäten umgestaltend gewirkt. An diesem Punkt mündete meine Tätigkeit in die beginnende Bewegung zur Selbstbesinnung ein, die ich in meinem neuen Wirkungskreise vorfand.

Ich hätte diese Beiträge durch solche aus anderen Gebieten der Altertumsforschung leicht wesentlich vermehren können, habe aber um der geschlossenen Wirkung willen darauf verzichtet. Meine Aufsätze spezieller philologischer Art habe ich gleichzeitig in der zweibändigen Sammlung meiner Scripta Minora vereinigt (Edizioni di Storia e Letteratura, Rom. Harvard University Cambridge/Mass.

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Inhaltsverzeichnis Vorwort Philologie und Historic Der Humanismus als Tradition und Erlebnis Hermann Diels Humanismus und Jugendbildung Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato Antike und Humanismus Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung I. Kulturidee und Griechentum II. Der Wandel des Platobildes im 19. Jahrhundert III. Die platonische Philosophie als Paideia Die geistige Gegenwart der Antike Die Antike im wissenschaftlichen Austausch der Nationen Der Großgesinnte (aus der Nikomadüsdien Ethik des Aristoteles) Staat und Kultur Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Die Griechen und das philosophische Lebensideal Friedrich Hölderlins Idee der griechischen Bildung Paideia Christi Die asketisch-mystische Theologie des Gregor von Nyssa The Greek Ideas of Immortality Humanism and Theology

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Philologie und Historic (1914) Logische Bestimmungen und methodologische Betrachtungen haben sich in der klassischen Philologie von heute keiner großen Beliebtheit zu rühmen. Die Mathematik und einzelne Teile der Naturwissenschaft kennen neben dem Typus des intuitiven und beobachtenden Forschern noch eine andere Art von Entdeckungen, die auf logisch-abstraktivem Weg gewonnen werden. In der Philologie ist ein solches Finderglück durch die individuelle Natur des Gegenstandes ausgeschlossen, daher die im Vergleich zu jenen Wissenschaften verschwindend geringe Lust der Philologen zur Systematik und Methodik. Dazu kommt ein zweites Hindernis, das auch die zu geschichtlicher Selbstbetrachtung gelangte Philosophie auf ihrem Wege vorfindet: jede neue Philologie kann, wie dies auch von jedem Denksystem der Philosophie heute als selbstverständliche Wahrheit gilt, ihren Begriff einzig von sich selbst herleiten. Sie ist nicht mechanisch übertragbar, und trotz des gerade in der Altertumswissenschaft zu hoher Blüte gekommenen Wesens der Schulen und Sichtungen, trotz des modernen Triumphwortes von der „Organisation" der historisch-philologischen Wissenschaften, die sich den nur körperschaftlich lösbaren Aufgaben der Forschung und Materialsammlung widmet, bleibt es ein unumstößlicher Satz: es gibt so viele Philologien, als es wirklich originale Philologen gibt. Als Vahlen die Art der philologischen Arbeit vor einigen Jahrzehnten schilderte, zeichnete er das von ihm verehrte Bild Immanuel Bekkerscher und Lachmannscher Textkritik. Boeckhs Methodenlehre und System stellt seine eigene monumentale Altertumsforschung dar, überstrahlt von dem Lichte der edlen Philosophie, deren Ethos er und sein Streben atmete. Nicht anders ist es mit Useners Definition der Philologie als Teil einer allgemeinen Wissenschaft vom Menschen; und Wilamowitz verficht seinen an Welcker, Boeckh und G. Hermann gleich lebendig anknüpfenden, universalen Begriff der klassischen Altertumswissenschaft in jedem neuen Buche mit geradezu programmatischer Deutlichkeit. „Die

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Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

Partikel und die Entefecnie des Aristoteles, die heiligen Grotten Apoflbns und der Götze Besas, das Lied der Sappho und die Predigt der heiligen Thekla, die Metrik Pindars und der Meßtisch von Pompeji, die Fratzen der Dipylonvasen und die Thermen Caracallas, die Taten des göttlichen Augustus, die Kegelschnitte des Apollonius und die Astrologie des Petosiris: alles, alles gehört zur Philologie, denn es gehört zu dem Objekt, das sie verstehen will, auch nicht eines kann sie missen." Es hält schwer, eine Erklärung wie diese mit den vorher genannten zusammenzureimen. Ein tiefer Irrtum nur hält die Frage durch die Universalität und Kapazität des modernen Begriffes einer allumfassenden Altertumswissenschaft grundsätzlich für gelöst, welcher nach Ansicht mancher Kreise die alten Ideale in sich mit umfaßt. Begrifflich mag das wohl wahr sein, aber wo bleibt die Wirklichkeit? Und ist es möglich zu verkennen, daß auch der neuere Betrieb der klassischen Philologie so gut an gewisse Personen gebunden ist wie die früheren? Der Begriff und Umfang einer Wissenschaft ist nicht die Frage des guten Willens der Nachfolgenden, sondern ihrer Kraft. Gegenüber dieser Fülle von verschiedenen Typen, die in ihrer Reihenfolge bei weitem keine feste Klimax des Fortschritts bilden, sondern seit zweitausend und mehr Jahren miteinander gewechselt und sich gegenseitig verbunden haben zu immer neuen Gebilden, steht jede Systematik zunächst ratlos da, ja sie wirkt nur als Fesselung der lebendigen Kräfte. Erst in der Arbeitsgemeinschaft der Philologie mit ihren Schwestern, der Archäologie und alten Geschichte, wird der Sondercharakter des Philologen innerhalb der ihnen übergeordneten, dreieinigen Altertumswissenschaft ein ernstes Problem. Ich spreche nicht von den heute durchweg geringschätzig so genannten traditionellen Grenzen der Universitätslehrfächer. Abgesehen von diesen Stoffgrenzen gibt es offenbar gewisse innere Wesensmerkmale, die den geborenen Historiker und den Philologen voneinander unterscheiden. Mit den traditionellen Fachgrenzen geraten aber auch diese inneren Unterschiede allmählich ins Schwanken. Man schilt sie Äußerlichkeit, Pedanterie. Unter der Zustimmung gewiß vieler Mitforscher konnte ein angesehener Philologe vor nicht langer Zeit festlegen: „Diese unbefriedigenden Definitionen und Distmktionen pflegen von der falschen Voraussetzung auszugehen, als ob Fächer, deren Unterscheidung zufällig geworden und nur aus praktischen Lehrzwecken erfolgt ist, eine logisch scharfe Feststellung ihres Verhältnisses forderten

und vertrügen. Es steht jedem frei, den realen Verhältnissen zum Trotz Begriffs- und Grenzbestimmungen aufzustellen, die sein dialektisches Bedürfnis befriedigen. Ob sie richtig oder unrichtig sind, läßt sich ja schwer ausmachen. Aber die Frage der Zweckmäßigkeit ist die entscheidende." Hier stellt sich der Philologe als reiner Historiker vor, wie das öfter von philologischer Seite geschehen ist. Oder spricht er nur vom praktischen historischen Betrieb der Philologie, ohne das Prädikat Historiker dafür zu beanspruchen? Wird von den Historikern, die man heute so nennt, der Philologe auch ohne weiteres als zugehörig, die Philologie als Teil der Geschichte anerkannt? Denn in diesem Fall muß die Philologie sich natürlich unterordnen, da die Idee des Historikers, auch des praktischen Althistorikers, stets auf das Ganze der Geschichte geht, die klassische Philologie aber bei weitem in sich abgeschlossener den nach ganz anderen Zielen strebenden modernen Philologien gegenübersteht. Hier liegt schon das Problem zutage: Der Historiker sieht in der Philologie bis auf den heutigen Tag, wenn er sie in ihrem Verhältnis zur Geschichte betrachtet, eine Hilfswissenschaft, die sich nur graduell für ihn an Bedeutung über die Chronologie oder Numismatik erhebt. Und doch darf man glauben, daß diese Stellung als Hilfswissenschaft der Geschichte von philologischer Seite immer nur als einseitig relative Definition ihres Verhältnisses zu dieser Wissenschaft, nicht als wirkliche Wesensbestimmung anerkannt werden wird. Um so erstaunlicher bleibt es, daß man sich bei näherer Bestimmung des Verhältnisses zur Geschichte auf philologischer Seite immer wieder ganz unzureichend darauf beschränkt hat, die Identität beider Wissenschaften zu lehren und diese auf die Identität der Methode oder der Objekte zu stützen, wenn man nicht gar wie Usener den Begriff der Philologie als Hilfswissenschaft grundsätzlich zugestand. Man glaubt, wenn man die Definition der Geschichte und der Philologie nur genügend weit fasse, dann müßten sie bei völliger Gleichheit der Objekte — wir reden hier immer von alter Philologie und Geschichte — und der Methode schließlich zusammenfallen. Wobei übersehen wird, daß nicht notwendig jede selbständige Wissenschaft sich von ihresgleichen durch Objekt und Methode unterscheiden muß, sondern wesentlich, d.i. durch die Beziehung, die Idee, unter der sie die ihr mit anderen Zweigen der Forschung gemeinsamen Gegenstände betrachtet. In dieser doppelten Hinsicht, auf Objekt und Methode einerseits, auf die Idee und den Gesichtspunkt

andererseits wollen wir das Verhältnis historischen und philologischen Strebens nunmehr prüfen. — Die allmähliche Verschmelzung und unausgesetzte wechselseitige Befruchtung der Geschichte des Altertums und der alten Philologie ist in dieser Form das Werk der Entwicklung der historischen Forschung im XIX. Jahrhundert. Die Ablösung der Philologie von der Theologie und Jurisprudenz und ihre Beseelung mit dem Geiste Winckelmanns und Herders, wie sie in dem Friedrich August Wolfschen Kreise sich am Anfang des Jahrhunderts vollzog, setzte an Stelle der eleganten und geschmacksmäßigen Beschäftigung mit den studia humaniora und der vielfach im eigenen Wust erstickenden Gelahrtheit des XVIII. Jahrh. die lebendige geschichtliche Forschung, die besonders eindrucksvoll in August Boeckh und Barthold Georg Niebuhr in die Erscheinung tritt. Die Stärke des Historikers Niebuhr liegt im politischen Urteil, in der Sicherheit und Lebendigkeit der geschichtlichen Vergegenwärtigung der großen Entwicklungen und in der energischen Beschränkung auf den Staat. Die Vorzüge der Boeckhschen Altertumswissenschaft beruhen auf der Allseitigkeit ihrer Forschungen, der unermüdlichen Kombination aller Stücke und Bruchteile der Überlieferung, der Umspannung von Poesie, Philosophie, Staatsverfassung und Wirtschaft, von Literatur und Inschriften. Boeckhs Schüler Otfried Müller begründet die wissenschaftliche Erforschung der griechischen Religion und die Stammesforschung; andere Schüler Boeckhs ziehen das Recht in den Kreis ihrer Arbeit. Mit dieser Universalität vermochten die folgenden Geschlechter nicht mehr Schritt zu halten. Aber die Idee der Boeckhschen Altertumswissenschaft ist als solche siegreich geblieben. In Wilamowitz besitzen wir den Forscher, der diese Idee in der Wirklichkeit wiederhergestellt hat. Sie bedeutet das Programm: die antike Kultur als Ganzes und aus ihr die Literatur zu erklären. Das Gebiet der Staatsverfassung und Staatsentwicklung, das die Historic von Niebuhr bis Eduard Meyer als ihre eigene Domäne bestellt hat, ist nun aber grundsätzlich nicht außerhalb dieser philologischen Forschung gelegen, wie die bekanntesten Tatsachen beweisen. Künstlich und gegenstandslos ist jedenfalls die berühmte Beschränkung der Philologie auf das Gewesene, Zuständliche (die früher sogenannten Altertümer), während die Geschichte an Staat, Kriegswesen usw. die Entwicklung darzustellen habe. Sobald anerkannt wird, daß die rein antiquarische Behandlung der „Altertümer" veraltet ist, kann niemand

hindern, daß der Philologe die Geschichte der griechischen Staatsverfassung und der antiken Gesellschaft schreibt so gut wie die Geschichte der griechischen Literatur. Umgekehrt kann aber auch die Geschichtswissenschaft den Zaun der ausschließlich politischen Geschichte abbrechen und die Geschichte der alten Kultur als Ganzes für sich beanspruchen. Wir wissen, daß so bald kein Althistoriker die Geschichte der alten Philosophie oder der griechischen Lyriker schreiben wird, daß es ebenso eine Ausnahme bleibt, wenn der Philologe auf die politische Geschichte übergreift. Er tut dies jedoch dann nicht vermöge einer Überschreitung der ihm von seinem sogenannten Fach gesteckten Grenzen — diese umschließen für beide die ganze Wirklichkeit des Altertums — sondern durch die besonders umfassende Kraft seiner Anschauung und unter dem eigentümlichen Aspekt seiner besonderen Wissenschaft. Man kann auf diesem Wege begreifen, wie man zur Konzeption der Idee einer universalen Altertumsforschung gelangte, welche Religion, Staat, Wissenschaft, Kunst, Privatleben, Wirtschaft der beiden antiken Völker gleichmäßig umspannt. Innerhalb dieses Forschungsgebietes kann weder der Historiker philologischer Schulung im engeren Sinne, d. h. der Sprache, noch der Philologe des historischen Denkens und der historischen Grundbegriffe entbehren, und in gewisser Weise haben beide auch ihre sämtlichen Gegenstände gemeinsam. Vom praktischen Betriebe aus erscheint jede Trennungsschranke hier verderblich. Rein als inneres Problem der Philologie angesehen, handelt es sich also bei der Regelung ihres Verhältnisses zur Geschichte um den immer deutlicher formulierten Anspruch der klassischen Philologen, als Historiker der klassischen Kulturen neben die im engeren Sinne sogenannten Historiker zu treten, ohne jedoch die prinzipielle zeitliche Abgrenzung durch das Altertum deshalb aufzugeben. Weit stärker noch als auf die Gemeinschaft der zu bearbeitenden Gegenstände gründet dieses Bewußtsein sich auf den stolzen Anspruch der Philologie, nicht nur den modernen Zweigen der Philologie, sondern vor allem der Geschichtswissenschaft die kritische Methode als Forschungsinstrument zubereitet zu haben. Ohne sie wäre weder in den historischen Disziplinen der Theologie und Rechtslehre noch in der historischen Forschung im engeren Sinne heute noch ein wissenschaftliches Arbeiten denkbar. Die philologische Methode gibt das Ideal ab für jede Art wissenschaftlicher Arbeit, die strenge Urkundlichkeit des Verfahrens zur Voraussetzung hat. Und doch

hat man immer wieder die Methode eben als das Unterscheidende historischer und philologischer Tätigkeit hingestellt, gestützt auf jenen engsten Begriff der Philologie als Wissenschaft der Worte und Buchstaben, der die Geschichte als Tatsachenforschung gegenüberstehe. Aber nicht einmal auf diese Art der Wortphilologie trifft die Unterscheidung zu. Kritik, d. i. Läuterung, reine Herstellung des Gegebenen, des Materials, und Kombination durch den urteilenden Verstand und die geschichtliche Phantasie sind die Ingredientien all und jeder auf Überliefertes, Wort oder Tatsache, gerichteten methodischen Betrachtung. Beide Verfahren des Geistes sind untrennbar voneinander. Sie werden angewandt bei der Rekonstruktion historischer Zusammenhänge und Kausalreihen, etwa bei dem Problem der Gründe der Entstehung einer Revolution oder eines Krieges; sie werden ebenso angewandt bei jeder kleinsten Verbesserung eines schadhaft überlieferten antiken Schriftstellertextes, bei jedem Einsetzen der richtigen Lesart aus der Handschrift in den Text, das der Wortkritiker als notwendig erweist. Die verschiedene Art des Objekts, auf das die Methode bezogen wird, bedingt keinerlei Verschiedenheit der Methode als solcher. Schon die bloße Textkonstitution eines alten Schriftstellers aus den Handschriften setzt — um mit diesem äußersten „philologischen" Fall zu beginnen — meistens das gleiche geschichtliche Verfahren in Gestalt der Textgeschichte, d. h. des entwicklungsgeschichtlichen Verständnisses der ganzen vorhandenen handschriftlichen Überlieferung voraus. Aus dem Befund der verschiedenartigen Abhängigkeit der Handschriften und ihrer Lesarten an zahlreichen Einzelstellen wird ein Bild von der Verwandtschaft der Handschriften und ihrer Familien, wenn solche feststellbar sind, entworfen. Aus den Fehlern und Verderbnissen der Handschriften rekonstruiert der Textkritiker die Abstammungsgeschichte der einzelnen Äste und Zweige der Überlieferung, um von hier aus ein Urteil über den praktischen Verwendungswert der verschiedenen Textquellen zu ermöglichen. Auch die Textverbesserung durch Konjektur fordert Einordnung der besonderen sprachlichen Erscheinung in den Sprachgebrauch und Stil eines Schriftstellers, mittelbar in die ganze Sprach- und Stilentwiddung. Wie die Analyse der Einzelbeobachtungen schließlich zur Erfassung der Totalentwicklung einer Sprache, eines Dialektes, eines rhythmischen Gebildes führt, indem sie schrittweise durch Analogieschlüsse induktiv vordringt, so dient umgekehrt der entdeckte geschicht-

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liehe Zusammenhang wieder als Stütze zur synthetischen Erkenntnis des Einzelnen, Der Prozeß, wie sich in den dauernden Gattungen und Formen der Literatur eine lebendige Entwicklung des Inhalts, der Persönlichkeiten und ihres künstlerischen Schaffens abwandelt, ist in seiner Form derselbe, den etwa Mommsen im römischen Staatsrecht als das Kreuzungsprodukt der kontinuierlichen starr gewordenen Rechtsformen mit einem lebendig und schöpferisch fortzeugenden Verfassungsleben voll neuer Probleme und neuer Kräfte begriffen hat. Die ältere Religions- und Sagengeschichte oder die Stammesgeschichte von Hellas, die nach Otfried Müllers Vorgang in philologischen Händen geblieben ist, setzt vielleicht den höchsten wünschbaren Grad jener gepriesenen kombinatorischen Phantasie voraus. Daß hier ein Unterschied zwischen der Methode des Philologen und Historikers bestehen bleibe, wird auch der Historiker nicht behaupten, der es von der textkritischen Methode vielleicht bejaht. An diese Stelle gehört dann auch die entstehungsgeschichtliche Betrachtung literarischer Werke wie der homerischen Epen, des Corpus iuris, der Elegiensammlung des Theognis oder der Lehrschriften des Aristoteles; schließlich jede Art der Quellenanalyse. Diese kann so wenig wie die bewußte Darstellung eines kritisch gewonnenen geschichtlichen Tatsachenzusammenhangs der Ergänzung durch eine genetische Rekonstruktion des festgestellten Quellenverhältnisses entbehren. Den schönsten Triumph feiert diese Methode im Wiederaufbau verschütteter literarischer oder kultureller Zusammenhänge oder verschollener Werke und Persönlichkeiten des Altertums. Den verlorenen Codex von Lodi, der Ciceros rhetorische Schriften z. T. zuerst in vollem Umfang wieder ans Licht brachte, der aber nach einigen mehr oder weniger zuverlässigen Abschriften bald darauf abermals abhanden kam, hat die Philologie unter großen Mühen mit einem bis heute ständig wachsenden Erfolge rekonstruiert. Ein Beispiel dieser historisch-philologischen Rekonstruktion ist die Wiederentdeckung einer so originellen Persönlichkeit wie der des verschollenen Novellisten und biographischen Künstlers Antigonos von Karystos. Die platonische Frage ist nichts anderes als der zähe, oft schon auf falschem Wege gescheiterte, doch stets wieder aufgenommene Versuch, die in den Dialogen Platons hervortretende künstlerische und philosophische Entwicklung des Meisters in eine widerspruchslose Hypothese zusammenzufassen, welche den Verlauf dieser

Entwicklung zugleich zeitlich festlegt und innerlich erklärt. Indem Boeckh aus den trümmerhaften Resten der üppig reichen griechischen Kalenderliteratur mit Hilfe moderner Himmelskunde die kalendarischen Systeme und Schaltzyklen des Altertums bis in die Einzelheiten wiederherstellte, schuf er eine neue Grundlage für die theoretische Chronologie, dieses Grundgerüst jeder Historic. Die gesamte Biographik und Literaturgeschichte des Altertums ruht auf einem solchen groß angelegten, mit unsäglichem Scharfsinn und peinlicher Sorgfalt ausgebauten Unterkellerungssystem kombinatorischer Wiederherstellung. Die Lückenhaftigkeit der Überlieferung der antiken Literaturen, von deren unzähligen Werken nur wenige Tausende erhalten sind, macht die gewissenhafte Durchführung dieser rekonstruktiven Methode, die Ausnützung jedes kleinsten Fragmentes, jedes Tittelchens der Überlieferung zum fundamentalen Lebensgesetz der Philologie. Diese im wahren Sinne des Wortes historische Methode, die nicht allein das Wort der Überlieferung, sondern ebenso Personen, Tatsachen, Literaturwerke und Zusammenhänge rekonstruiert, ist der Philologie — so dürfen wir behaupten — mit der echten Geschichtswissenschaft nicht weniger gemeinsam als das Objekt, auf das wir sie anwenden. Vom Standpunkt der kritischen Forschung betrachtet, ist Philologie also das historisch-genetische Erkennen der antiken Kultur durch Interpretation der Überlieferung und Rekonstruktion der fehlenden Glieder in der Kette des Werdens. Wir haben absichtlich einen Faktor aus der Rechnung weggelassen, um dieses scheinbar glatte Ergebnis sicherzustellen — das ist ein Objekt, das der Philologe mit dem Historiker ohne jeden Zweifel nicht gemeinsam hat, die Sprache. Innerhalb der großartigen Konzeption der modernen Altertumswissenschaft taucht diese Größe, die „Philologie" im früheren, engeren Sinn des Wortes, die Keimzelle der heutigen historischen Altertumswissenschaft, als selbständiges Problem immer wieder auf. Man kann nicht einwerfen, auch die Geschichte bediene sich der Sprache, d. h. der in der Sprache geschriebenen Literatur als Forschungsmittel. An ihrer verschiedenen Einstellung auf Sprache und Schrifttum scheiden sich auch heute noch wie zu Zeiten Boeddis, ja zu Zeiten Aristarchs und der Urväter der klassischen Philologie, trotz der gemeinsamen Methoden und Gegenstände die Aufgaben wie auch schon die Naturanlagen und Begabungen des Philologen und Historikers. Die Kraft des Philologen wurzelt in seinem Können der Sprache, und kein

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anderer Sinn — auch keine Sprachwissenschaft und theoretische Grammatik — kann den Mangel an feinem Ohr und rhythmischem Gefühl, an Beherrschung der einzelnen Sprachperioden und Stile ihm ersetzen, so wenig wie Tiefe des Gemüts und Lebhaftigkeit der Phantasie oder feine Psychologie beim Philosophen das fehlende Organ für begriffliches Denken ersetzt, oder der Vollbesitz der theoretischen Anatomie und Physiologie dem Arzt über den Mangel an sicherer Hand und scharfem Auge weghelfen kann. Das Wurzelreich philologischer Arbeit bleibt, mag man sie sonst definieren wie man will, stets die Literatur und ihr sprachlichgeistiges Verständnis. Ursprünglich in der Humanistenzeit zur selbständigen Nachahmung antiken Stils und antiker Gebärde erarbeitet, dient das Verständnis der Sprache, seitdem die Wissenschaft den Humanismus ablöste, als Vehikel für die historische Erkenntnis der alten Kultur, insbesondere der geistigen, in der Literatur verkörperten. Worin prägt sich nun die historische Begabung aus? Der Geschichtsforscher sucht in allen Äußerungen der Vergangenheit den Zusammenhang einer großen Entwicklung. Die Menschheit ist ihm kühn eine lebendige Einheit, ein Ganzes, das sich wie ein Organismus gliedert, ihr Leben in aller seiner Mannigfaltigkeit ein Prozeß, ein „Hervorgehen" aller Lebensformen, Taten, Ereignisse, Menschen, Ideen, Zustände aus den ersten Keimen des geschichtlichen Wachstums. Indem er von der Gegenwart ausgeht, die er rückschauend als die Wirkung der vergangenen Entwicklung begreift, lebt er sich ein in die Hinterlassenschaft der vergangenen Nationen und Generationen, um ein Bild von der Kontinuität dieses gewaltigen Werdegangs aufzubauen. So sehr sich die Geschichte dabei auch in die individuellen Erscheinungen großer Persönlichkeiten, Staatslenker, Feldherren, Religionsstifter und Entdecker versenkt, um sie als Exponenten allgemeiner Strömungen oder in ihrer rätselhaften Wechselwirkung mit den bewegten Massen zu bestimmen, sie hält doch immer ihren Blick auf das Ganze der ins Auge gefaßten Zeiträume und Entwicklungsreihen gerichtet. In ihm liegt die Größe und der Sinn der Geschichte. In diesem Zug zum Großartigen und Erhabenen liegt es begründet, daß der echte Historiker vielleicht noch seltener vorkommt als der große Philolog, wenn anders auf Beschäftigungen, die nicht im höchsten Sinne Schöpferkraft voraussetzen, das Wort Größe überhaupt angewendet werden darf. Die historische Erinnerung, , ist eine angeborene Grundkraft des menschlichen Geistes, ihr

Streben ist seiner Natur nadi auf Zusammensicht der Vorgänge der Vergangenheit gerichtet. Das Gedächtnis der Menschheit, durch welches allein diese innere Einheit und Selbstbewußtsein hat, verewigt das Geschehene zu dem Zweck der Erfahrung, der Kunde, die niemals durch Einzelheiten erreichbar ist. Alle Beschäftigung des Historikers mit dem einzelnen kommt nur in einer größeren, wenn nicht totalen Anschauung der Vergangenheit zur Ruhe, sie quiesziert in ihr als in ihrem Ziel. Zu dem einfachen Trieb des Menschen nach Verewigung, der noch nicht zu wahrhafter Geschichte führt, kommt als Hauptmotiv das Verlangen nach Erfahrung und ihrer Aufbewahrung hinzu, ein Trieb, dessen sittliche Dignität sich schon in der Bevorzugung der politischen Geschichte äußert, von Thukydides angefangen bis herab auf unsere Zeit. Der Wille, politische Erfahrung zu lehren, hat die Geschichtschreibung einst unter den Erschütterungen des Peloponnesisdhen Kriegs wie aus dem Nichts erschaffen. Die träge Fiktion des Selbstzwecks, die man für die bloße Aufspeicherung von Nachrichten über die Vergangenheit aus einer bestimmten philosophischen Weltanschauung übernommen hat, deren übrige Ansichten die meisten Tatsachenforscher sonst kaum teilen dürften, darf uns nicht über diese psychologischen Wurzeln der geschichtlichen Forschung wegsehen lassen. Der im vorigen bereits hervorspringende, tiefe und vielleicht unüberbrückbare Unterschied zwischen dem Wesen der Philologie und Geschichte muß jetzt noch weiter bis an die Wurzeln beider Denk- und Lebensrichtungen verfolgt werden. Denn nicht als Methoden oder Forschungsgebiete — um es klar zu sagen — sondern nur in ihrem ganzen Ernste, als in sich ruhende selbständige Lebensrichtungen und Wertkräfte im Bereich unserer geistigen Existenz aufgefaßt, enthüllen uns beide ihre wahren Züge. Fassen beide die Vergangenheit auf, so zeigt die klassische Philologie schon äußerlich die ausgesprochenste Beschränkung hierin, im Gegensatz zur Geschichte. Eine klassische Geschichte gibt es nicht: die Geschichte der Griechen und Römer drängt zur Erweiterung nach oben und unten, und mit den Geschicken der beiden genannten Völker teilen die der Babylonier undAssyrer oder die des Mittelalters das, daß sie „geschehen" sind, daß sie kausaler Verknüpfung durch das historische Denken bedürfen. Mit den Werken Homers, Platos, Pindars, des Aeschylus, mit Cicero und Vergil läßt sich klassische Philologie betreiben, aber bei den 10

Keilinschriften und Hieroglyphen oder den lateinischen Chronisten und Versmachern des Frühmittelalters ließe sich ein der klassischen Philologie und ihrer Mission vergleichbares Unternehmen nicht denken. Das Wesentliche an einer jeden Wissenschaft ist aber gerade der Wertgesichtspunkt, durch den sie sich dem Getriebe einer Kultur einfügt, und die Würde, die sie eben dadurch in ihm empfängt. Betrachten wir nun den Unterschied zuerst in seiner Rückwirkung auf die Auswahl der Objekte. Die Geschichte hat es mit dem Geschehenen, nur illustrativ mit dem Gewesenen zu tun. Die Philologie hat wie gesagt als Zentrum die Sprache; die Äußerungen der „Kultur" in den Schöpfungen der Dichter, Denker, Forscher, Geschichtsschreiber und Redner stehen ihr im Vordergrunde der Forschung. Die Sprache nicht als fünfundzwanzigstes Mitglied irgendwelcher Sprachfamilie, nicht als Aggregat von Sätzen, Wörtern und Silben, sondern als lebender, individueller Organismus, der der Ausdruck und Träger aller in der Kultur einer Nation tätigen Kräfte und ihrer Entfaltung ist, die Sprache mit ihren Stilen und ihrer Literatur, mit den Persönlichkeiten der Künstler und Bildner, den Gefäßen der Kultur. Gerade die praktische Abzweigung der dem Philologen so unentbehrlichen Linguistik vom Körper der Philologie beleuchtet hell die Tatsache, daß die Sprache dem Philologen praktisch im wesentlichen als konkret, d. h. als Trägerin der geistigen Formen gilt. Die universelle Wissenschaft vom Altertum mußte die Philologie werden, eben weil und sofern sie die Wissenschaft von der Sprache und Literatur ist. Sie geht nicht auf das Geschehene, sondern in erster Linie auf das Geschaffene, auf die niemals vergehenden, weil in deutlicher Gestalt — „wie am ersten Tag" — vor der Nachwelt stehenden Werke der Alten. Die Sphäre der politischen Gebilde und Vorgänge lebt für den Tag von dem Tag. Sie ist eine Welt des Relativen und Zeitlichen. Mitten in ihr behauptet sich sieghaft die andere Welt, die der menschliche Geist über dem Abgrunde des Daseins „befestigt hat mit dauernden Gedanken": die Welt des Schönen, der Erkenntnis und der Freiheit, welche uns die Griechen und kein anderes Volk auf Erden entdeckt und geschaffen haben. Von dem Ethos ihres Gegenstandes ist die Philologie ganz erfüllt. Es ist das Ethos der griechischen Denker und der alten Poesie, von der Aristoteles überzeugend sagte, sie sei „philosophischer als die Historic". So verschieden wie die Beziehung zum Objekt (der alten Kultur) 11

sind die seelischen Motive beider Wissenschaften; wir unterscheiden sie am deutlichsten in ihren Anf ngen. Der Stolz auf die Taten eines Volkes, die Furcht vor der Zukunft, die politische Erfahrung, die Hoffnung, Nutzen f r die k nftige Gestaltung der menschlichen Dinge aus ihr zu ziehen, die Ersch tterung ber das gro artige und schreckliche Drama des V lkerlebens und die Erinnerung an das Menschlich-Gro e und Heldenhafte in der Vergangenheit — solcher Art waren die Motive des Geschichtsforschers und -Schreibers. Die ersten Philologen beseelt aufrichtige Ehrfurcht vor dem geistigen Schatz der alten Literatur, das bescheidene Gef hl der Kleinheit der eigenen Zeit und vor allem der eigenen Person, Sehnsucht, sich ganz in die Welt jener Gro en zu versenken und sie der Nachwelt und Mitwelt rein zu erhalten als h chstes Kulturerbe, als Salz der Geschichte; Piet t, verantwortungsbewu te Sorgfalt im kleinsten, die wahren Worte der Dichter hervorzuholen aus dem Schlinggew chs der berlieferung. Der Historiker nutzt die berlieferung, beurteilt sie und erz hlt ihr nach. Der Philologe wird geradezu Mittr ger der berlieferung, wie denn ja die berlieferung nichts Selbstverst ndliches ist, das ohne menschliches Zutun von selbst fortginge. In manchen Zeiten war der Philologe nur Konservator und Kustos dieses gro en antiquarischen Museums, und es war nicht die unwesentlichste Seite seiner Wissenschaft, die in dieser Art der Altertumsforschung zum Ausdruck kam. Die genetische Auffassung ist heute an die Stelle der antiquarischen getreten. Aber alle historische Bem hung der Philologie endet immer wieder — im Gegensatz zum Historiker — bei der Literatur, die ihm nicht nur „Quelle" ist, sondern h chstes Ziel der θεωρία, ruhender Pol. Das f hrt uns zuletzt noch einmal zur Methode zur ck. Es kann zwei Methoden geben, um mit den Alten zu sprechen: από των αρχών und έπι τάς αρχάς. Die άρχαί bildet f r den Historiker wie den Philologen die berlieferung. Der Historiker bewegt sich από των αρχών. Sie sind ihm Erkenntnismittel. Dem Philologen sind sie mehr als das: Verst ndnisziele. So Homer, die Tragiker, Thukydides, Plato und Aristoteles, Sallust und Caesar, Horaz und Vergil, Cicero und Tacitus. Ich unterscheide hierbei zwischen Erkennen und Verstehen. Das Erkennen bezieht sich auf Zusammenh nge von Tatsachen kausaler und zeitlicher Art, deren Verkn pfung aus bestimmten Data synthetisch zu erheben ist. Das Verstehen erstreckt sich nicht auf solche realen Beziehungen

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( ), sondern auf geistige Gegebenheiten ( ) und Werte, die als solche anerkannt und vom Verstehenden angeeignet werden. Das Wesentliche ist die Wertbetontheit des Wortes Verstehen, die beim „Erkennen" fehlt. Nun behaupten wir: die Geschichte sucht nur zu verstehen, um zu erkennen. Die Philologie aber erkennt, um zu verstehen, um gewisse unvergängliche Werte der alten Kultur zu verstehen. Der Sitz alles Wertes ist im Individuellen. Mit solchem hat es der Philologe also zu tun, und wo er Erkenntnis historischer Bedingungen und Wirkungen sucht, verwertet er sie doch wieder alsbald im Dienst und zum Verständnis einiger großer Individualitäten.1 Auch die größten Dichter oder Denker haben wir zwar zeitgeschichtlich verstehen gelernt: Homer, Aeschylus, Plato. Aber ist es darum Aufgabe der Philologie, ihr Werk in Zeitgeschichte verdampfen zu lassen, aus ihm Strömungen und Richtungen zu erschließen und endlich das Ganze einer Literaturgeschichte als letzte Frucht zu gewinnen? Ist das Philologenwort wahr: alle Interpretation ist nur Mittel und Weg zu „höheren" Schlußfolgerungen geschichtlicher Art? Ist der „wahre" Philolog nun also bloßer Literaturhistoriker und Kulturhistoriker? Oder ist er immer und überall Interpret? Rankt sich das Selbstbewußtsein dieser alten Wissenschaft an dem stattlichen Neuling „Geschichtswissenschaft" auf oder ist das Verhältnis ein reziprokes: wie das Philologische eine Hilfswissenschaft für den Historiker ist, so ist umgekehrt für den Philologen die historische Erkenntnis des Altertums ein Hilfsbau zum Verständnis der Alten selbst und zur höchsten Verlebendigung und Veranschaulichung der Überlieferung und ihrer ideellen Werte? Man werfe nicht ein, daß hierbei für Literatur-und Religionsgeschichte, für Inschriften und Papyri, für Hellenismus und Kaiserzeit kein Raum bleibe. Unsere Frage bezweifelt überhaupt nicht, daß der Philologe vorn einzelnen der Literatur zu ihrer Gesamtentwicklung weiterschreiten, daß er die Interpretation der Dichterwerke und Systeme in den Dienst sowohl der historischen wie der kultur- und religionshistorischen Forschungen stellen soll. Wir rufen nicht nach Verengung der Grenzen der Altertumswissenschaft, wir suchen in diesem großen Reich der Alten 1

Dies soll keine Vorschrift sein, sondern es ist nur eine Tatsache. Im Mittelpunkt fast jedes bedeutenden Philologenlebens oder philologischen Zirkels standen bestimmte Dichter oder Denkerpersönlichkeiten, mit denen die Namen der betreffenden Philologen oft dauernd verwachsen zu sein scheinen.

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vielmehr nach der Idee, d.i. nach dem Kraft- und Wertzentrum der philologischen Tätigkeit. Im Gegensatz zur modernen Literaturwissenschaft etwa, liegt dieses Zentrum bei uns nicht in der Literaturgeschichte, wird es nie liegen, wenngleich wir nicht aufhören werden, Literaturgeschichte zu treiben. Es liegt in dem Besitz der großen Meister selbst und in der Notwendigkeit, sie vor die Augen der heutigen Welt immer wieder hinzustellen und ihr Verständnis zu vermitteln. Diese Aufgabe ist eine wissenschaftliche; aber sie ist zugleich von ungeheurem, wenn auch unkontrollierbarem Einfluß auf die moderne Geisteskultur, auf Bildung und Ideale des Volkes. Nicht geschichtliche Überblicke über Einzelgebiete der Antike, sondern die Erklärung der Alten selbst gehört in erster Linie in unseren Hochschulunterricht und unsere Gymnasien. Es macht unser besonderes Glück und unsere Eigenart aus, außer der historischen Erkenntnis über die Gegenstände unseres Forschens noch diese Gegenstände selbst — weil es geistige Güter sind — zu überliefern. Vom Standpunkt der Methode und des methodischen Betriebes aus mag also die Interpretation bloß ein Mittel sein zu „höheren" Schlüssen, vom Standpunkt der Idee unserer Wissenschaft aus sind die „höheren" Schlüsse, ja, das ganze historische Erkenntnismaterial nur Gerüst, ein • zur Schau der „unbegreiflich hohen Werke". Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied der Philologie gegen die Geschichtswissenschaft. Gerade in unserer Zeit, die aus innerer Not das Wertvollste über das bloß Wertvolle und Schätzenswerte bald erheben wird, müssen wir uns unseres Zusammenhanges mit der Wirklichkeit, unserer Stellung im ganzen der heutigen Kultur erinnern. Die oberste Aufgabe und Idee der Philologie ist, den ältesten und zugleich formsichersten Elementen der Gesamtkultur Europas, die keiner modernen nationalen Kultur tiefer als der deutschen mit Bewußtsein einverleibt sind: den Gütern der antiken Geisteswelt, zugewandt zu bleiben. Die letzte Wirkung, die der Philologe den Alten zu verschaffen hat, ist keine irgendwie vermittelte mehr, sondern die ist ungehemmt, ungelehrt und unerzwungen. Geben wir zu, was in Wahrheit unsere Stärke ist: wir leben in und von den Alten. Philologie war von jeher eine vom unmittelbarsten Lebensbedarf und Lebensdrang der Gegenwart ausgehende und die Menschen der Gegenwart zu dem Ewigen leitende Lehrmeisterin. In der Humanistenzeit und im Mittelalter, vor allem im Deutschland Goethes vor 100 Jahren, in den Zeiten

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großer Wandlungen und Befreiungen der Völker, wollten humanistische Männer kräftige und gesunde Säfte aus dem unversieglichen Born der antiken Schöpfungen ihrer Gegenwart zuführen. Wo sich so die Seelen zweier Weltalter anziehen, da vermissen wir meistens jene chronologische Objektivität, die uns mit dem Altertum zugleich die historische Last aller dazwischenliegenden Jahrhunderte aufbürdet. Goethe, der das Wort von der Last der Jahrhunderte sprach, findet die jugendliche Kraft, sich von ihr zu befreien, in den Gesängen Homers. Unmittelbar haucht das Leben das Leben an. Nicht von einem fernen Einst Zeugnis abzulegen, sondern den urbildlichen Schöpfungen des Menschengeschlechts, die die griechische Kultur zu reiner und ewiger Grundgestalt alles wahrhaft Menschlichen und Menschheitlichen geformt hat, ihr Gegenwartsleben zu kräftigen, dazu sind Philologen da. Unsere Zeit besitzt keine einheitliche Kultur, wie das Altertum oder Mittelalter, ja noch das XVIII. Jahrb.. sie kannte. Aufklärung, Individualismus und die Vertreibung des religiösen und kirchlichen Gesamtgeistes aus Staat und Gesellschaft führen immer neue unsichere Gestaltungen des staatlichen und persönlichen Lebens tastend herauf. Es war der Weg der Wissenschaft, der uns so führte. Ob das ein absoluter Fortschritt in kultureller Beziehung war, steht uns hier nicht an zu richten. Die Tatsache ist da, und wir müssen Sorge tragen, daß über der Zersplitterung die Kontinuität des geistigen Lebens gewahrt wird, daß den reinsten, unvermischtesten und echten Elementen der bunten geschichtlichen Kräfteschar ihre entscheidende erzieherische Wirkung erhalten bleibt. Unter diese gehört mit an erster Stelle das Erbe der Griechen und Römer — die man nicht trennen kann —; als Priesterin und Wächterin dieser Güter bestellt, muß die Wissenschaft vom klassischen Altertum sich des Kulturgefühls wieder stärker bewußt werden, das die Wurzel ihrer Existenz zur Zeit der Renaissance wie Humboldts und Goethes war und immer bleiben wird. Sie hat die Pflicht, das Kapital von Einfluß, das sie, besonders durch die Schulen und Universitäten, bei den gebildeten Schichten besitzt, als wertvollstes Unterpfand ihrer Wirksamkeit zu hüten und darf in ihrem Drang nach immer weiterer Ausbreitung über ihren peripherischen Tendenzen den Schwerpunkt ihrer Kraft, die klassische Zeit, ihre Dichtung und ihre Philosophie, nicht aus dem Auge verlieren. Dieser Ruf ergeht an uns Jüngere in erster Linie. Werden wir uns wieder tiefer bewußt der „verehrenden Kraft", aus der unsere wissen-

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schaf tlidhen Bestrebungen alle ihren Ursprung nehmen. Diese verehrende Kraft ist (nach einem feinen Worte Jacob Burckhardts) in ihrem unaufhörlichen Trieb, die Reste der Überlieferung zu verbinden und immer neu zu verstehen, selbst ein Teil unserer Religion. Es kommt hier nicht auf die Dogmatik der „heidnischen Offenbarung", nicht auf ein Programm für humanistische Wertsysteme an, aber auf die Stärke unserer verehrenden und verstehenden Kräfte. Darum seien wir Interpreten: Verkünder der Sonne Homers, Deuter aeschyleischen Ernstes, pindarischer Frömmigkeit, Wecker demosthenischer Glut, Mysten plotinischen Tiefsinns, Sucher aristotelischer Forschung, Anbeter platonischer Wahrheit. Die Tragik der eisernen geschichtlichen Notwendigkeit steht Mnemosyne in die Furchen ihrer Stirn gegraben. Ihre Jünger sollen anbetend die Notwendigkeit des Schicksals weise werden. Aber zu dem, was die frühere Zeit an unveraltendem Gehalt und unvergänglicher Form erschuf, führt Philologia, die Liebe und Lust zum Logos und zu seinen schöpferischen Werken. Und wenn sie etwas taugt, dann führt sie in das Reich der Dauer und der Freiheit.

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Der Humanismus als Tradition und Erlebnis (1919) Die Revolution hat die allgemeine Krise auch in die Gebiete geistigen Schaffens hineingetragen, die, wie Kirche und Schule, durch den Einfluß ihrer weitverzweigten Organisation den Geist des öffentlichen Lebens entscheidend mitbestimmen. Besonders einschneidende Veränderungen erwartet man für das Erziehungswesen. Der soziale Gedanke fordert die Aufhebung der gesellschaftlichen und ständischen Klüfte, die das deutsche Volk bis auf den heutigen Tag durchziehen. Auch die Schule soll mithelfen an dem allmählichen Ausgleich dieser Gegensätze, den man sich von einem gemeinsamen Unterbau der gesamten Schulen, der sog. Einheitsschule, verspricht. Es leuchtet ein, daß diese soziale Ausgestaltung der Erziehungsorganisation grundsätzlich nichts zu tun hat mit dem alten Streit zwischen allgemeiner Geistesbildung und spezieller Berufsvorbildung, humanistischer und realistischer Bildung. Sie berührt als solche überhaupt nicht den objektiven K u l t u r I n h a l t der verschiedenen Richtungen, sondern nur den sozialethischen Geist der S c h u l v e r f a s s u n g . Es ist ein wesentlicher Zug aller Einheitsschulreform, daß sie nicht beschwert ist mit diesen alten Gegensätzen, daß sie, mit einem Worte, überhaupt nicht von einem bestimmten Bildungsideal ausgegangen ist. Darin liegt ein scheinbarer äußerer Vorteil, insofern sie nicht von vornherein mit unfruchtbaren Verneinungen anzufangen braucht. Es liegt darin aber auch eine unverkennbare Schwäche. Denn wo die Einheitsschule, um ihren Gedanken im Lehrplan zu verwirklichen, sich Eingriffe in die vorhandenen Typen der höheren Bildungsanstalten erlaubt, da tut sie es ausschließlich im Namen sozialer Organisationslust, nicht mit jener überzeugenden Kraft, die nur der wirklich innerlichen Ergriffenheit durch ein bestimmtes Ideal der Menschenformung entspringen kann. Man wird aber nicht im Ernst vom Standpunkt der äußeren organisatorischen Zweckdienlichkeit und der bequemeren Fächerverteilung aus entscheiden wollen, welcher Spielraum einer 17 2 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

jeden der vorhandenen Bildungsmädite im deutschen Erziehungswesen zu lassen ist. Die Weimarer Periode des deutschen Geisteslebens ist auch auf dem Gebiet des Erziehungswesens die produktive Zeit gewesen. Ihre Lieblingsschöpfung, das humanistische Gymnasium, hat die Bureaukratie der letzten Jahrzehnte in dem ehrlichen Bestreben, es als Stamm des höheren Schulwesens zu erhalten, mit immer neuen Fremdstoffen belastet und dem „Leben" angepaßt, dadurch aber seiner Idee leider stark entfremdet. Die Wiedererweckung der humanistischen Schule wird neben dem Ausbau der Volksschule eine der vornehmsten Kulturaufgaben des Staates der Gegenwart sein. Nicht auf die Buntscheckigkeit des Lehrplanes kommt es an, sondern auf die reine Intensität, mit der das Wesen dieser Bildung ergriffen und erlebt wird. Es soll jedoch hier nicht in eine parteibeengte Erörterung eingetreten werden über das höhere Schulwesen und das humanistische Gymnasium im besonderen, über Wesen und Art der verschiedenen Bildungsideale und die Möglichkeit ihrer ungeschwächten Erhaltung im Rahmen der Einheitsschule. Es soll der Versuch gemacht werden, ein bestimmtes Bildungsideal, den Humanismus, aus wirklicher innerer Überzeugung heraus, nicht von Gesichtspunkten der äußeren Organisation und des Lehrplanes aus, sondern in seinen geistigen Notwendigkeiten zu verstehen. Es soll nicht so sehr philosophisch neu begründet werden — wozu hier nicht die Stelle ist —, sondern in rein tatsächlicher Betrachtung sollen die kulturgeschichtlichen Grundlagen seines geistigen Typus aufgedeckt werden, um auf diese Weise einem geschichtlichen und philosophischen Verständnis dieses ausgeprägtesten Bildungsideals, das unser Volk hervorgebracht hat, den Boden zu bereiten. Die Zusammenhänge zwischen Antike und Gegenwart, 'die zu diesem Zweck hier dargestellt werden, sind nicht bemessen nach dem, was die höhere Schule davon veranschaulichen kann. Der Humanismus ist von Hause aus nicht auf die Schulbildung zugeschnitten und ihrem Horizonte angepaßt. Er ist ein Geistessystem reifer Kulturen, die sich in ihrem inneren Verhältnis zur originalsten und fruchtbarsten aller dagewesenen Kulturen unseres Völkerkreises selbst erst verstehen lernen und sich so zu höherem Bewußtsein der eigenen Aufgaben erheben. Der Humanismus des Erasmus, Winckelmann, Humboldt, Nietzsche steht und fällt nicht mit der Schule, aber die höhere Schule ist eins der unentbehrlichen Werkzeuge dieses Geistes. Nur wenn es an dieser 18

Aufgabe seine Kräfte mißt, verdient das Gymnasium seine Würde. Dann aber ist es auch das unverlierbare Kleinod deutscher Bildungsarbeit. Die wesentliche Eigentümlichkeit des humanistischen Bildungstypus ist die Wertschätzung und Pflege des Studiums der antiken, insbesondere der griechischen Geisteswerke. Diese Orientierung unserer Bildung nach dem Altertum hat in erster Linie geschichtliche Gründe. Unsere höhere geistige Kultur ist, gleichwie die der anderen europäischen Völker, aus der Fremde gekommen. Von dort übernahm West- und Nordeuropa seinen ältesten künstlerischen Formenbestand und wissenschaftlichen Gedankenbesitz und die christlichen Glaubenslehren. Kulturell vermochten die germanischen Eroberer dem übermächtigen, zugleich zersetzenden und aufbauenden Einfluß der antiken Welt, in die sie eindrangen, keinen Widerstand zu leisten. Für Jahrhunderte ist ihre innere Geschichte ebenso wie die der übrigen europäischen Rassen großenteils ein Ringen darum, dieses Erbe der hochüberlegenen technischen und ideellen Kultur des Altertums in Besitz zu nehmen. Erst nach Jahrhunderten fand der deutsche Geist sich selbst. Nach einer langen Periode der bloß passiven Aufnahme begann er, zwar nicht Eigenes an die Stelle des Überkommenen zu setzen — dazu war es schon viel zu tief mit seiner eigenen Natur verwachsen —, aber das Fremde wieder in semer Eigenart zu empfinden. Jetzt, wo er es als Rohstoff verarbeitet hatte, begann eine neue Entwicklungsphase in seiner Stellung zum antiken Kulturerbe. Er empfand es zum ersten Male geistig, weil er selbst sich durch seine Aneignung vergeistigt hatte. Er empfand es in seiner eigenartigen antiken Form, weil er selbst an ihm zur Form gereift war. Er fühlte es als individuelles Produkt einer anders gearteten Nation, weil er selbst zur Nationalität erwacht war. Er begeisterte sich an der antiken Humanität und ihrem universalen Gesichtskreis, weil er selbst menschheitlich und weltweit zu fühlen anhob. Die älteren, stofflich assimilierten Elemente der Antike sanken allmählich ins Unterbewußte hinab, wurden Unterschicht unserer materiellen Kultur. Aber im hellen Lichte des bewußten Schaffens, zu dem die deutsche Rasse jetzt sich regte, wurde die Antike zum zweiten Male, und nun in einem viel höheren und geistigeren Sinn, Führerin und Anregerin der werdenden Volkskultur. Das Verhältnis zu ihr war nicht mehr das der bloß stofflichen Rezeption, sondern produktive Aneignung. Man darf sich nur die Selbständigkeit nicht auf allen Gebieten gleich 19

groß vorstellen. Der künstlerischen Souveränität des dombauenden Hochmittelalters kommt seine philosophische und wissenschaftliche Kraft nicht gleich. Das revolutionierende Ereignis der abendländischen Philosophie in diesen Jahrhunderten ist die Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles gewesen, die dem Denken neue Wege öffneten. Die Zeit liegt noch nicht gar solange hinter uns, wo die Mathematik an den europäischen Universitäten aus Euklides, wo die Naturphilosophie aus Aristoteles' Physik und die Logik aus seiner Analytik gelernt wurde. Noch Kant durfte aussprechen, daß die Wissenschaft der Logik seit den überragenden Leistungen des Aristoteles keinen Schritt vorwärts getan habe. Bis auf die Tage des alten Fritz studierten die Ärzte ihre Weisheit aus Galenos, dem Arzt der römischen Kaiserzeit. Neben der niemals abgebrochenen Kontinuität in der Fortwirkung der antiken Philosophie und Lebensanschauung, neben der relativ spät abbrechenden Kontinuität in der Überlieferung der antiken Wissenschaften ist vor allem die religiöse Entwicklung das geschichtliche Band, das uns mit der Antike unzertrennlich verknüpft, weil das Evangelium und die Briefe der Apostel und die geistigen Dokumente der ersten sechzehn Jahrhunderte der kirchlichen Entwicklung des Christentums in griechischer und lateinischer Sprache geschrieben sind. All diese Elemente unseres Kulturbesitzes sind in gesetzmäßiger Aufeinanderfolge unserem Organismus erst stofflich einverleibt worden, dann als geistige Kräfte ins Bewußtsein getreten. Der ununterbrochene Prozeß der Tradition vom Ausgang der Antike bis zur Wende des 20. Jahrhunderts ist keine dauernd passive Hinnahme, sondern eine fortschreitende Entmaterialisierung und Vergeistigung unseres faustischen Liebeswerbens um Helena, die griechische Braut. So hat es Goethe im zweiten Teil des Faust als ein für alle Zeiten dem deutschen Wesen angehörendes Teil versinnbildlicht. Von Jahrhundert zu Jahrhundert hört diese Kultur und Literatur mehr und mehr auf, Mörtel für die Fundamente neuentstehender Zivilisationen zu sein. Die griechische Philosophie und Wissenschaft ist dem modernen Geiste nicht mehr unmittelbar nutzbringender Gebrauchsartikel, tägliches Brot, unseren wissenschaftlichen Heißhunger damit zu stillen. Die auctores optimi sind nicht mehr das allgemeine Nachschlagebuch der Menschheit, providentielles Magazin aller Hilfskräfte der Vernunft und Wissenschaft. Der Olymp der Hellenen hat gelernt, auf die wunderliche Ehre zu verzichten, die Rumpelkammer 20

künstlerischer Modelle für ideale Nacktheit und edlen Faltenwurf zu sein. Wir wollen die Zähigkeit der Tradition zwar keineswegs unterschätzen. Unser Wesen wird auf keinem Gebiete ihre Macht jemals verleugnen können. Aber wenn wir heute auf dem Höhepunkt geschichtlicher Selbstbesinnung alles Erbe der Vergangenheit prüfen und auch an unsere Führer zur humanitas den Maßstab des Absoluten legen, soweit man gegenüber Menschenwerk überhaupt von Absolutem sprechen darf, so kann nicht die Tradition als solche über Wert und Unwert entscheiden, möge sie nun nach Jahrzehnten zählen oder nach Jahrtausenden. Aber ebensowenig wird es jemals eine rein rationale Kultur und Erziehung geben, die nicht auf den Fundamenten der geschichtlichen Entwicklung aufzubauen gezwungen wäre. Der Rhythmus des geschichtlichen Prozesses wird bestimmt von den beiden Kräften der Tradition und der Produktion. Auf den ersten Blick verhalten sie sich zueinander wie die träge Materie zur lebendig bewegenden Kraft. Aber so einfach naturwissenschaftlich läßt sich der geschichtliche Lebensvorgang nicht versinnbildlichen. Der Stoff der Tradition ist selbst potentieller geistiger Besitz, in Schrift und Sprache verdichtetes inneres Leben. Die Produktion tritt nicht lediglich von außen an diesen Stoff heran, ihr Funke entzündet sich erst in beständiger Reibung des noch unerfüllten und ungeformten lebenden Subjekts mit der zur festen Kulturform objektivierten geistigen Leistung der Vergangenheit. Je stärker die geistige Kraft des Empfängers, desto weniger ist er das bloße Gefäß der Tradition. Sobald sich das Verhältnis zu ihr vergeistigt, ist sie ihm nicht mehr nährender Lehrstoff, sondern tritt ihm als souveräne Formenwelt frei gegenüber. Sie wird aus einem Abc-Schulmeister der Gegenwart ein Wegweiser zur geistigen Freiheit. Erst in der Form erringt der Geist die Freiheit, indem er lernt, sich gegenüber sich selbst zu stellen. In unserem Erziehungswesen bis hinauf zur Universität haben wir von dieser freien Stellung zur Tradition leider noch wenig gesehen. Das Verhältnis zu ihr ist bei der Menge stumpfe Unterwerfung unter den dargebotenen Stoff, bei selbständigeren Naturen häufig eine als Reaktion zwar verständliche, doch im Grunde ebenso unfreie Absage. Die Verneinung der Überlieferung ist, wenn sie aus innerer Reife kommt, berechtigte Emanzipation vom geschichtlichen Gesetz der Trägheit. Nichts anderes bedeutet die Tradition für den bloß Verneinenden als eine Last, 21

die abgeworfen werden muß. Aber dieses Urteil trifft sie eben nur, soweit sie bloßer Stoff ist. Es gibt sicherlich Traditionen genug, die ihrer Natur nach bloßer Stoff sind, Ungeist, der zu vertreiben ist. Wo es sich aber handelt um die höchsten Geisteswerke der Kulturvölker, da ist die Schuld nicht bei der Tradition, sondern bei dem Unreifen, der sie auf sein materielles Niveau herabzieht und sich dann schließlich durch ihre Geschlossenheit und Unnahbarkeit in seinem eigenen kleinen Schaffen beengt fühlt. Auch unser Verhältnis zur antiken Kultur pflegen die Verächter des Humanismus unter dem Gesichtspunkt der bloßen Tradition zu betrachten. Das Recht dazu haben ihnen einseitige Humanisten zum guten Teile selbst gegeben, indem sie die führende Stellung des Griechentums vergröberten und veräußerlichten zu dem die lebendige geschichtliche Entwicklung vergewaltigenden Glaubenssatz, daß die Antike das feststehende Vorbild aller modernen Kultur sei. Diese schul- und verstandesmäßige Geschichtsphilosophie hat allzulange bei uns gewirkt. Wie nahe lag es, ihr zu entgegnen, daß das antike Ideal für die vergangenen, unmündigen Perioden der deutschen Kulturentwicklung zwar seine Schuldigkeit getan habe, daß wir aber jetzt dem Gängelbande entwachsen seien. Dieser Gedanke schmeichelt dem Selbstgefühl der Gegenwart mehr und ist ihr daher sympathischer. Er befriedigt auch eher den einfachen Gerechtigkeitssinn, der sich ausspricht in dem Wort: Der Lebende hat Recht. Aber er beruht auf einer unhaltbaren Ansicht vom Wesen der Tradition, wie umgekehrt das Dogma von der Vorbildlichkeit der Antike, welches er bekämpft, jedes tiefere Verständnis für das Wesen schöpferischer Geistesvorgänge vermissen läßt und so weder dem antiken „Vorbild" noch der modernen Welt gerecht wird. Der orthodoxe Humanismus hat das traditionelle Element der geistigen Produktion überschätzt; der sogenannte Realismus verkennt die produktive Bedeutung der Tradition und beurteilt daher das Verhältnis der Gegenwart zur Tradition falsch. Kein Zeitalter der Vergangenheit war so schlechthin traditionalistisch, daß es seine ganze Kultur nur äußerlich hingenommen hätte. Auch das frühe Mittelalter hat nicht in dieser Art der Abhängigkeit vom Altertum gelebt. Es hatte ein eigenes Recht. Es suchte die Verbindung des Christentums mit seiner heimischen Gefühlsweise. Das war zunächst nur etwas Inneres, noch nicht zur eigenen Gestaltung Fähiges. Aber allmählich trat der eigene Formwille mit dem Formgeist des fremden Gutes in Wechsel22

Wirkung. Der Unterschied der Gegenwart von der Vergangenheit hinsichtlich dieser spontanen Kraft, das von außen Kommende sich selbst anzugleichen, ist kein absoluter, sondern nur ein gradueller. Ein Zeitalter ohne alle Tradition hat es nirgendwo gegeben und wird es nie geben. Es wäre die grauenhafteste Verödung und Verarmung des Menschenlebens, die sich niemand auch nur vorstellen kann. Die Geschichte lehrt uns, daß die Tradition hin- und hergeht zwischen passiver Hinnahme und lebendigem Schaffen und Ringen, je nach dem Maß der inneren Kraft der verschiedenen Zeitalter. Nach der Vorstellung der Geschichtsmechaniker, die sich in diesem Wahn für äußerst frei und aufgeklärt halten mögen, müßten die kraftvollen, selbstschöpferischen Perioden sich von der Tradition am freiesten gefühlt und sich daher am weitesten vom Altertum abgewandt, und nur die schläfrigen, toten Zeiten könnten ihm angehangen haben. Die Geschichte zeigt etwas anderes, sehr Merkwürdiges. Gerade die Perioden, die als Weltenscheiden aus der Ebene des historischen Geschehens hervorragen, die am bewußtesten ihr eigenes Sein in ihrem Schaffen verkörpern und alles, was bloße Tradition heißt, abzustoßen versuchen, sind die Zeitalter der Wiedererweckung des Altertums und der großen Renaissancen gewesen. Die Zeit der schöpferischen Kraft Italiens spiegelte ihr Wesen im Bilde des wiederentdeckten römischen Altertums. Das hugenottische Frankreich und protestantische Deutschland brachen dann in der Reformation zum Griechentum durch und führten das Griechische, die Sprache der Urschrift des Neuen Testaments, des Plato und Aristoteles, als blankes Schwert im Kampf mit dem mittelalterlich römischen Traditionalismus der lateinisch sprechenden Kirche. Hüben wie drüben sehen wir die großen Humanisten, Italiener wie Laurentius Valla und Marsilius Ficinus, Deutsche wie Melanchthon und Reuchlin, Erasmus und Hütten, in der Reihe der Bahnbrecher des modernen Geistes. Und wieder im Deutschland Lessings, Winckelmanns, Humboldts und Goethes, der Periode des Neuhumanismus, liegt das Land der Griechen groß und leuchtend offen vor dem Blick der neuen deutschen Sehnsucht, die in Iphigeniens Seele lebt. Auch diese Wiedererweckung des Humanismus ist von Italien ausgegangen, von Rom selbst, aber diesmal waren es die Deutschen, die ihn ins Leben riefen. Winckelmann und Humboldt. Der Humanismus der italienischen Renaissance war für den Italiener zugleich eine nationale Ruhmeshalle gewesen. Der 23

neue deutsche war rein innerlich und frei von Eitelkeit, aus dem Trieb zum Ewigen geboren und auf das Universale, Übernationale der antiken Kultur gerichtet. Er faßt das Ideal der Humanität in einer neuen geistigen Weite. Die bewußte Versenkung ins Altertum hat mit der Weimarer Zeit für die Deutschen eigentlich erst begonnen. Das Interesse hat die entscheidende Wendung vollzogen vom christlich religiösen Gebiete, wo die Reformatoren die Antike am mächtigsten erfahren hatten, zur Philosophie und Kunst, wo Goethe und seine Zeit mit ihr in neue Lebensgemeinschaft traten. Ihr Bild vom Altertum ist bestimmt durch ihr fast religiös erlebtes Verhältnis zur Kunst. Die neuen Anschauungen vom Griechentum und die Wertungen, die diese Generation an ihrer eigenen Kunst erarbeitet und in ihren Werken gestaltet hat, sind auf diesem Wege tief ins Allgemeinbewußtsein eingedrungen und haben im Verein mit der bewußten Pflege antiker Literatur auf dem Gymnasium eine Art neuer Tradition, den Klassizismus, geschaffen. Aber der Klassizismus ist nicht die Antike, er ist nur eine neue Erstarrungsform dessen, was zur Zeit Goethes und Humboldts, Herders und Hegels innerste Kraft gewesen war. Nur auf der Schule und in den Kreisen der sogenannten Bildung schleppt man sich mit diesem Petrefakt noch herum. Die Wissenschaft hat ihn längst überwunden. Sie sucht nach neuer Stellung des gegenwärtigen Lebens zur antiken Welt und nach neuen Kräften der Mitteilung, nicht, um an Stelle der echten alten Humanitätsbildung den erschwindelten Reichtum historischer Alleswisserei zu setzen, sondern im Streben nach einem neuen lebendigen Humanismus, der zwischen der geschichtlichen Wissenschaft und dem heutigen Leben die Brücke schlägt. Reflexion und Dichtung haben diesen notwendigen Schritt längst vollzogen und die Bahnen des ästhetischen Klassizismus verlassen. Aber auch hier bedeutete diese Wandlung nicht eine Abkehr von der Antike selbst. Sooft die Deutschen auf ihrem Wege durch das 19. Jahrhundert geistige Höhepunkte erreichten, haben sie die Berührung mit der Antike gesucht und von dem neuen Erlebnis in einer neuen Sprache Zeugnis abgelegt. Und während die Wissenschaft in wachsendem Umfang die durch und durch reale Lebendigkeit und Zweckstrebigkeit jener vermeintlich rein ästhetischen Kultur offenbarte, lehrte die dichtende und bildende Kunst und die ebenfalls aus der klassischen Altertumswissenschaft hervorgewachsene Kulturkritik, die von Nietzsche ausging, das so tief bereicherte Bild des Griechentums 24

nicht länger als ein blasses Bildungsideal, sondern als in sich ruhende Lebensform von unerreichter zauberhafter innerer Mächtigkeitverstehen. Immer wieder ist so der Wandelstern des europäischen Geistes auf seiner mehr als 2000jährigen Bahn mit der hellenischen Sonne in Konjunktion getreten. Seit den Tagen, da die geistig Gebildetsten unter den Römern, die Scipionen, Cicero und Lucrez, Horaz und Vergil, Caesar und Augustus ihren musischen Kreis um das Palladium der griechischen Schönheit und Weisheit schlössen und der römischen Literatur die weltgeschichtliche Aufgabe setzten, sich für die Völker des Imperiums zu formen an den Schätzen des hellenischen Genius, waren alle europäischen Kulturvölker in ihren schöpferischen Zeiten der griechischen Lichtquelle mit vollem Angesichte zugewandt. Das Planetensystem der europäischen Volksgeister war, um zu dem oben gebrauchten Bilde zurückzukehren, in dem geistigen und künstlerischen Teil seiner Bahn immer wieder hellenozentrisch gerichtet. Jedes Volk, das überhaupt an dem höheren Leben der europäischen Seele mitwirkenden Anteil genommen hat, hat seine eigene Renaissance erlebt. Das hellenozentrische Phänomen der europäischen Geistesgeschichte, dessen Wirkung jedoch weit über die geographischen und ethnographischen Grenzen unseres Erdteils hinausreicht, ist nicht als zweifelhafte Machenschaft einer betriebsamen Gelehrtenzunft zu erklären, die aus Gründen der Selbstbehauptung so viel Pomp entfalten müßte, um sich selbst als unentbehrlich in Szene zu setzen. Diese Erklärung traut der klassischen Philologie und Archäologie allzuviel Suggestionskraft zu. Sie ähnelt der naiven rationalistischen Vorstellung des 18. Jahrhunderts, das die Weltherrschaft der christlichen und islamischen Religion als das Werk einiger verschmitzter „imposteurs" auffaßte. Ebensowenig genügt der Hinweis auf die Macht der geschichtlichen Tradition, auf die starken Berührungen der einzelnen Völker mit den Überresten der griechischrömischen Kultur während langer Entwicklungszeiträume. Die Einwirkung dieser Tradition ist der Ausdehnung und Masse nach allerdings die mächtigste und intensiv die nachhaltigste gewesen, welche das Abendland außer dem von der Antike und ihrem Verständnis untrennbaren Christentum bis auf den jetzigen Tag erfahren hat. Aber wenn man die Bedeutung der antiken Kultur für die lebendige Gegenwart abschätzen will, so genügt es nicht, auf diese geschichtlichen Ursachenzusammenhänge hinzuweisen. 25

Audi aus irgendwelcher Art von einseitiger Gesdüchtsphilosophie und gelehrter Gesdhiditskonstruktion ist das Wesen jener gesteigerten Aussprüdie über das Griechentum, jener regelmäßig seit zwei Jahrtausenden sich wiederholenden Gipfel des Erlebnisses der Griechen unmöglich zu begreifen: das muß gerade heute gesagt werden, wo die Irrlehren Spenglerscher Gesdüchtsphilosophie die Köpfe verwirren. Das sind nur Träume eines Geistersehers, der Humanismus dagegen ist selbst eine große gesdiidbtlidie Realität. Das Besondere dieser Verehrung bei einem Horaz und Vergil, bei Petrarca und Dante, bei Byron, Shelley, Goethe und Nietzsche war der dem ungelehrten wie dem gelehrten Spießbürger so hodiverdäditige Hang, die Antike zu idealisieren, sie in einem höheren Lidit zu sdiauen, im geistigen Äther, der in Wahrheit doch nur die Gipfel ihrer künstlerischen Produktion umgibt. Aber gerade dieses Überspringen der geschichtlichen Wirklichkeit, dieses Deuten des Hellenentums aus seinen höchsten Geistesschöpfungen, also von oben her, beweist, wie wenig es sich hier um ein bloßes theoretisdies Geschiditsurteil über ein vergangenes Weltalter handelte. Jede wissensdiaftlidie Betraditung geht genau umgekehrt vor. Sie baut das geschiditlidie Leben von unten, von den erdigen Bestandteilen und bodenfesten Wurzeln her auf und steigt sdiließlidi hinauf zu den geistigen Blüten des Volksbaumes, den Leistungen der großen Einzelnen, der Repräsentanten der Nation und ihres Stils. Die Wissenschaft, welche so vorgeht, kann von dieser Grundlage aus niemals zu einem geschichtlich beweisbaren Werturteil kommen, das die tatsächlich vorhandene Ausnahmestellung eines vereinzelten geschiditlidien Komplexes wie der griediisdien Kultur für das Wertbewußtsein der Nachwelt axiomatisch begründet. Das einzige, was die gesdiiditliche Betraditung hier vermag, ist dies, daß sie die Fülle der objektiv feststellbaren Nachwirkungen einer bestimmten geschichtlichen Größe erläuternd und nacherlebend veransdiaulidit und zum Gesamtüberblick eines Systems magnetischer Kraftlinien vereinigt. Alles, was darüber hinausgeht, ist nidit Wissensdiaft, nicht Historie mehr, sondern unmittelbare Intuition und Erlebnis. Und es bedarf wohl keines Wortes, daß es für den Humanismus auf diesen Glauben, auf die spontane innere Ergriffenheit des Empfangenden letzten Endes ankommt. So sehr das Erleben geistiger Werte, die die Vergangenheit hervorgebracht hat, an die Erkenntnis der Schrift und Spradie oder der sonstigen Ausdrudcsformen des fremden Geistes gebunden ist, also irgend26

welcher Interpretation als Vermittlung bedarf, ist diese Vermittlung doch mehr die conditio sine qua non als der eigentliche Grund des inneren Erlebens. Das Verhältnis von Verstehen und Erleben scheint eher das umgekehrte zu sein. Das Erlebnis ist ein inneres Zusammenschauen der verborgenen Gesetzmäßigkeiten des geistigen Objekts und als solches selbst ein schöpferischer Akt. Es beruht auf einer bestimmten seelischen Teilnahme, auf innigster Wesensberührung mit dem Gegenstande. Aus der Wahlverwandtschaft eines empfangenden Ichs und einer gegenständlichen Macht, die sich mit ihm vermählt, erwächst dieser geistige Zeugungsvorgang. Diese Wesensverbindung wird notwendig ihrerseits wieder eine Quelle tieferen Verstehens und häufig genialer Neudeutung. Man versteht eine Religion oder eine Kunst schließlich doch nur gerade so weit, als man sie selbst innerlich erlebt hat. Im ursprünglichen Akt der Hervorbringung ist jedes echte Geisteswerk unmittelbar zum Absoluten. Das ist aber gerade das Wesen des Erlebnisses, daß es die großen Erscheinungen, denen es sich ehrfürchtig naht, in ihrem lebendigen Kern erfaßt, nicht als nur zeitlich bedingte und interessante, menschliche Dokumente. Wir nennen so jene höchste Form des Verstehens, die ein Geistiges in seiner Notwendigkeit erkennt und in ihm etwas Höheres, Dauerndes zu ahnen vermag. Als die reinste Verkörperung eines höheren geistigen Gesetzes, vollkommenste Autochthonie des Schönen haben die Zeiten hoher Kultur die Werke der Griechen betrachtet. Daher erscheint die Antike in diesen Zeiten niemals als Tradition, sondern umgekehrt als Gegengift und Schutzwehr gegen die Tradition. Mit der antiken Stilform, mit dem Geist der stoischen und epikureischen Philosophie oder der Religion des Neuplatonismus haben die Menschen der italienischen Renaissance die mittelalterliche Überlieferung, den schlechten Stil der Sprache, die Kunstlosigkeit und Dumpfheit des Lebens, den scholastischen Aristotelismus bekämpft. Um die Tradition der römischen Kirche zu brechen, ging die Reformation auf die griechischen Urquellen des Neuen Testaments zurück und erfaßte sie in ihrer tiefen Einfalt und Größe. Die französische Revolution begeisterte sich für die Menschheitsideen der alten Philosophie und für die Freiheitshelden Plutarchs. Lessing befreit die deutsche Poesie vom Banne der Franzosen durch seinen Appell an die aristotelische Poetik und die griechische Dichtung selbst, und Nietzsche geht, um sich von den Umklammerungen des dreitausendjährigen Rationalismus los27

zuringen, auf den griechischen Mythos als höchste Offenbarung des noch ungebrochenen menschlichen Geistes zurück. Überall ist es das Erlebnisder Griechen in ihrer freischöpferischen Naturkraft und Originalität, ihrem Sinn für das Ganze und ihrer souveränen Lebensgestaltung, was die jugendlichen, revolutionären Zeitalter in ihrem schweren Kampf gegen die Tradition stärkt und begeistert. In ihrer originalen Kraft und in ihrer naturhaften Art des Schaffens, wie Goethe bekannte, finden sie etwas Wesensverwandtes und Ermutigendes. Das Griechentum wird ihnen immer wieder zum weithin leuchtenden Symbol des Schöpferischen überhaupt. Alles, was Humboldt, Goethe, Schiller, Herder, die deutschen Philosophen an den Griechen rühmen, gehört dahin: Einfachheit und Größe, sinnenkräftige Naturnähe und Seelenstärke, höchste Lebendigkeit und Totalität des geistigen Wesens. Immer wieder ist der Sinn dieser Hinkehr zu den Griechen: Abbruch der geradlinigen Fortsetzung der bisher gültigen Tradition und Fixierung eines höheren Gesichtspunktes, Einstellung des Blickes auf Absolutes, auf Werte höchster Klarheit und völliger Gesetzmäßigkeit. Nicht um glatte Nachahmung eines Ideals geht es, sondern um weit Größeres, um Zielrichtung des eigenen neuen Strebens, um Weihe und Abklärung des eigenen, tief beunruhigten Schaffens. Aber kein einfacher Bruch mit der Tradition findet bei diesen Neuansätzen und Revolutionen des Geistes statt. Man nimmt nur Abstand von der nächstliegenden Vergangenheit, um eine Stellung über der Gesamtheit aller Traditionen, über früherem und jüngerem Geisteserbe einzunehmen, um in bewußter Vergleichung alles zu prüfen und nur das Beste zu behalten. Man schüttelt ab, was bloß Tradition war, und hebt aus ihr empor, was noch mit unmittelbarer Wucht zu uns redet. Ob eine Zeit das „Leben" besitzt, die ewigen Menschheitswerte neu zu beseelen und tiefer in das eigene Wesen aufzunehmen, ist von jeher der entscheidende Beweis für ihre geistige Höhenlage gewesen. Weit gefehlt, zu glauben, daß dieses Erlebnis der Gegenwart erst bewiesen werden müsse. Nicht die Gegenwart ist das Gericht, ob eine Sache von Gott ist, sondern in dem, was sie erkennt und nicht erkennt, richtet sie sich selbst. Sie richtet zugleich die Statthalter, die zum Dienst an jenen hohen Gutem eingesetzt sind. Denn der Verkündigung bedarf es zu allen Zeiten. Auch das höchste Werk Bachs und Beethovens ist nur ein Haufe bedrucktes Papier ohne die Seele des Künstlers, der es interpretiert. Und für die Tragödien des Sophokles und Aischylos, für die Dialoge Platos 28

gilt dieselbe Forderung. Haben wir sie nicht erfüllt, so waren wir schlechte Knechte und haben nur an uns selbst gedacht. Doch sei alle marktschreierische Anpreisung des Schönen wie einer feilen Ware ganz verbannt. Wir wollen nicht die Gegenwart beschwätzen, daß die großen Geister des Altertums gerade mit ihr so verwandt und für sie so passend seien. Es gibt der tiefen Ströme, die aus der Griechenseele in die deutsche fließen, freilich genug, aber vorher müssen die Deutschen erst wieder Ehrfurcht lernen vor dem echten Geiste und den Abstand gewinnen, der •dem Andächtigen vor dem Heiligtum ziemt. Eine für das wissenschaftliche Verständnis unseres Verhältnisses zur Antike notwendige Vorbedingung wäre es, die Geschichte des Erlebnisses der Antike und die Geschichte der antiken Tradition vergleichend nebeneinander zu stellen und sie, teils in ihrer Verflechtung miteinander, teils in ihrer Sonderung, lierabzuführen bis zur Gegenwart, die für diese weltgeschichtliche Ausströmung nur ein Durchgangspunkt ist. Diesem gewaltigen geschlossenen Stromring ist nur das Christentum und seine Ausbreitung durch Zeit und Raum zu vergleichen. Dieser Vergleich, der sich von selbst bietet, gibt etwas zu denken. Der Blick, eingestellt auf die gesamte Bahn der Entwicklung, soll frei werden von der unerträglichen Philisterenge, welche diese Fragen nur im Rahmen der Schulziele sieht oder mit banalen Schlagworten behandelt. Wer die Doppelkontinuität beider Reihen übersieht und ihre geistigen Ursachen erkennt, wird, wenn er kein Barbar ist, einige Scheu empfinden, in diesen Wechselstrom zwischen der Antike und uns täppisch hineinzutasten. Wie die allernächste Gegenwart sich zum Inhalte der griechischen und römischen Kultur stellen wird, ist zwar aus keiner geschichtlichen Überschau zu ersehen. Es mag genügen, daran zu erinnern, daß die drei Problemkreise, die heute wieder unser öffentliches Leben beschäftigen, das Führer- und Massenproblem, das Problem des Verhältnisses des Machtstaates zum Erziehungsstaat und das Problem der organischen Einheit des öffentlichen Bildungswesens, Lebensstufen sind, welche die Griechen entdeckt und als erste erklommen haben. Die Frage nach der Stellung der antiken Studien auf der Schule bleibt hier absichtlich offen. Wie sie auszubauen sind, ist nach mehr als einem Gesichtspunkt zu entscheiden. Aber daß sie die Grundlage jedes kulturgeschichtlichen Verständnisses sind und bleiben, zu dem die Schule der Zukunft erst noch die Wege finden will, und daß sie im lebendigen Be29

wußtsein des deutschen Geistes als bildende Formkräfte fortzeugen müssen, daran gibt es keinen Zweifel. Man kann wohl die Erkenntnis dieses Lebensgesetzes unserer geistigen Kultur durch Verbreitung roher Unwissenheit vorübergehend verdunkeln, man kann durch die Macht des größeren Heerhaufens den Unterricht und das Bewußtsein davon zurückdrängen und den Zusammenhang in der Kette des Erlebnisses sabotieren. Aber der Hellenismus ist ein historisches Schicksal, dem man nicht entfliehen kann, so wenig wie man die Geschichte des Geistes ungeschehen machen und die lebendige Quelle verstopfen kann. Aus dem Herzen des deutschen Wesens kann man diese Grundfaser nicht herausreißen, ohne den Einschlag des inneren Gewebes mit zu zerstören und sich den reinsten Schöpfungen des deutschen Geistes, dem Verständnis unserer eigenen großen Meister fast ausnahmslos zu entfremden. Tradition und Erlebnis fallen beide heraus aus dem bequemen Schema dessen, was die bürgerliche Historic in ihrer Sprache den Fortschritt nennt. Das Bild der endlosen „Entwicklung" paßt auf sie beide nicht. Wie aber, wenn es mit diesem sonnenhohen Anstieg zu immer fabelhafterer Aufgeklärtheit, Wohlfahrt und Kultur der Völker nichts wäre als Trug und satte Illusion, die der Krieg schließlich jedem, der nicht blind war, zerstört hat? Wenn der Geist, vergleichbar den Gestirnen, in festen Intervallen die ewigen Ordnungen, die ihm eingeboren sind, durchwanderte? Oder ist das Bild zu kosmisch, zu schwer und hoffnungslos für das menschliche Herz, das doch ein Gebot des sittlichen Aufwärtsdranges in sich vernimmt? Dann vergleichen wir den Rhythmus dieses Zusammenhanges dem Fackelwettlauf der alten Athener. Die aneinander vorüberfliehenden Generationen werfen sich gegenseitig die brennende Fackel zu, und wer sie mit fester Faust packt, der schwingt sie hoch empor und trägt sie ein Stück Weges vorwärts, bis er sie dem Nachfolgenden übergibt. Unterscheiden wir Wesen und Erscheinung dieses heiligen Wettlaufs. Nur äußerlich ist er eine stetige „Übergabe" von Hand zu Hand, der Sinn des Laufes ist die Lebendigerhaltung der göttlichen Geistesflamme, die der Titan Prometheus als Samenfunken aller Künste und Erkenntnis seinen Lieblingen, dem Eintagsgeschlecht der Menschen, vom Himmel auf die dunkle Erde gebracht hat.

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Hermann Diels Zum goldenen Doktorjubiläum (1920) Ursprünglich eignen Sinn Laß dir nicht rauben, Woran die Menge glaubt, Ist leicht zu glauben. Natürlich mit Verstand Sei du beflissen; Was der Gescheite weiß, Ist schwer zu wissen.

Der Mann, den wir hier feiern, ist freilich mehr als ein „Gescheiter", könnte man ihn doch mit größerem Recht dem Stil eines griechischen Weisen vergleichen — aber trügt nicht alles, so liegt in der stolzen Anspruchslosigkeit der Goetheschen Mahnung etwas Entscheidendes vom Wesen des großen Forschers angedeutet, das niemand einfacher und überzeugender auszusprechen vermöchte. So schlicht, würdig, aufgeschlossen, als sagte er's bei Tisch zu Gästen, die ihn kennen, könnte wohl auch ein Hermann Diels das Geheimnis seines Wandeins unter den Menschen in Worte fassen, Worte, die wie mit feinem Lächeln wenig andeuten und doch alles sagen: so wissend, ohne alles Pathos des Wissens, wirkend ohne den Trieb zur bewußten Wirkung, gebend aus der Güte eines reichen Herzens und dem Überfluß seines inneren Schatzes von Erfahrung und Gerechtigkeit, und doch immer von einem merklich über uns erhöhten Sitze herab, wie ihn die natürliche Scheu der Mitmenschen stets nur der selbsterrungenen inneren Freiheit einräumen wird. Wohltuend ist es fürwahr, der vielen überlauten Weltverbesserer unserer Tage für Augenblicke vergessen zu dürfen und den Blick auf die ehrwürdige Gestalt dieses reinen Weltverstehers hinzulenken. Wer das Bild einer Persönlichkeit als Ganzes vor sich sieht, möchte ihre innere Lebenseinheit, die ihm das Wesentliche daran geworden ist, auch anderen so zeigen, wie sie vor dem eigenen Auge Gestalt angenommen hat, und den unwiederholbaren Zusammenklang der Wirkun31

gen und Kräfte mit allen kleinsten Zügen, die ihm oft die wichtigsten sein werden, unverwischt in die Seelen derer hinüberleiten, die nur hören, aber nicht sahen. Das scheint fast unmöglich beim Gelehrten, der zeitlebens so wie dieser große Altertumsforscher zurückgetreten ist hinter seinem Werk. Zweifellos würde man ihn in seinen Büchern vergeblich suchen, und dies mag der Grund dafür sein, wenn Fernerstehende auch der eigenen Wissenschaft nur von seiner gewaltigen Leistung, nicht auch von seiner Persönlichkeit eine Vorstellung haben oder höchstens ahnen, daß diese die notwendige Voraussetzung für jene ist. Eine solche Erscheinung war nur möglich im Schöße eines Zeitalters, dem, wie dem mit dem Kriege abgelaufenen, die Arbeit an den objektiven Kulturgütern bedingungslos und ohne Besinnen als höchster Wert feststand. Das quälende Ringen der neuen Generation um den Sinn und die Richtung aller Arbeit, das die natürliche Folge der Erschütterung der durch sie geschaffenen Kultur war, läßt uns zu dieser stillschweigenden Leistungsgröße mit einer Art von schmerzlicher Bewunderung aufschauen. Wir wissen alle, daß wir ihr niemals nachkommen können, doch eben darum wollen wir uns ihr starkes Bild einprägen, wie es aus der Geschichte ihres Werdens uns entgegentritt. Hermann Diels wurde 1848 im rheinischen Biebrich bei Wiesbaden geboren. Schon in dem Fünfzehnjährigen begann sich eigener Forschungstrieb zu regen. Die fast sprichwörtlich gewordenen verunglückten Chemieexperimente auf dem Gymnasium riefen, anstatt ihn wie die meisten anderen abzuschrecken, den Drang in ihm wach, selbst sein Glück damit zu erproben und es besser zu machen. Als Wegweiser diente ein größeres wissenschaftliches Chemiebuch. Eine Anzahl Präparate, die der Vater zu stiften sich überreden ließ, bildete den Grundstock eines kleinen Privatlaboratoriums, das in einer Kammer auf dem Boden des elterlichen Hauses eingerichtet wurde. Hier wurden nun alle in dem Buch vorgeschriebenen Versuche mit zäher Ausdauer der Reihe nach durchprobiert. Und er wurde fertig damit. Nicht minder ganze Arbeit verrichtete der inzwischen Primaner gewordene Diels später auf einem Gebiet, das damals zum erstenmal in seiner ganzen Größe in seinen Gesichtskreis trat und ihn von Anfang an mächtig anzog. Aus dem Bücherschatz eines Oheims kam eine größere Anzahl antiker Autoren in seine Hände. Über die fiel er mit dem gleichen Wissenshunger und mit wachsendem Vergnügen an der seltenen Kost her. Es war für ihn 32

die entscheidende Wendung. Wer wollte sagen, ob aus dem vielseitig begabten Kopf auch ein ebenso bedeutender Naturforscher hätte werden können? Seiner ersten Liebe zur Technik und Naturwissenschaft hat er jedenfalls auch als Altertumsforscher nie ganz vergessen. Auch in seinen beiden als Naturforscher bekannten Söhnen lebte seine Anlage fort. (Der dritte ist Philologe.) Er selbst hat noch in den letzten Jahren rechnend, experimentierend und apparatebauend die Anfänge der antiken Chemie und Technik aufgedeckt, und in dem Kampf um die beste Bildung für die deutsche Jugend verficht er auch theoretisch den Bund zwischen Geisteswissenschaft und Technik. In jedem Falle war es nicht eine von Anfang an alle anderen Entwicklungsmöglichkeiten ausschließende seelische Wahlverwandtschaft, die ihn zur Welt des hellenischen Stils oder zum Ethos der griechischen Weisen hinlockte. Nicht der dionysische Rausch oder ästhetisches Glück, sondern charaktervolle Konsequenz und Strenge gegen sich selbst ließ ihn, nachdem seine fabelhafte Rezeptivität sich erst einmal auf die vergangene Welt gestürzt hatte und diese ihr grandioses Gesetz dem erkenntnishungrigen Jüngling zu erschließen begann, bald mit wachsender Könnerschaft riesige Stoffmassen meistern und verwickelte Verhältnisse wie spielend entwirren. Das zeigte sich bald, nachdem er die Universität bezogen hatte, um dort die klassischen Interessen seiner letzten Schuljahre selbständig weiterzuverfolgen. Wie typische Vorgänge sich oft im Leben wiederholen, eine miserable Vorlesung über Geschichte der griechischen Philosophie, die er in Berlin bei einem der dortigen Philosophieprofessoren — übrigens einem heute fast verschollenen Namen — hörte, trieb ihn, wie einst die mißglückten Schulexperimente, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und es besser zu machen. So kam er zur griechischen Philosophie. In Kürze arbeitete er sich tief in die philosophischen Quellen „von Thaies bis Johannes von Damaskus" ein, und als er bald darauf an die rheinische Hochschule in Bonn übersiedelte, wurde der geniale Meister der Altertumswissenschaft, Usener, auf seine ungewöhnliche Kenntnis der Philosophen aufmerksam. Der junge Diels wandte auf dessen Rat seinen Scharfsinn der Preisaufgabe zu, welche die philosophische Fakultät gestellt hatte, die spätantiken Kompendien der Philosophiegeschichte, die jetzt sog. Doxographen, auf ihre Quellen zu untersuchen, und er erhielt den Preis. Diese Aufgabe sollte die Wurzel nicht nur für seine Doktorarbeit werden, die über eine dem Galen zugeschrie-

33 3 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

bene Philosophiegeschichte handelte und während des Deutsch-Französischen Krieges 1870 gedruckt ist, sondern für seine gesamte Lebensarbeit. In den nächsten Jahren nach Abschluß des Studiums setzte Diels, dei seit 1872 im Schuldienst zuerst in Flensburg, dann am Johanneum in Hamburg tätig war, seine Arbeit an der Überlieferung der Philosophiegeschichte unbeirrt fort, ermuntert durch ein Preisausschreiben der preußischen Akademie der Wissenschaften, die 1874 eben dieses Problem zur Bearbeitung stellte. 1877 gewann er den Preis durch Vorlegung seiner Untersuchungen, die 1879 unter dem Titel Doxographi Graeci erschienen. Diese bahnbrechende Leistung versetzte ihn mit einem Schlag unter die Führer seiner Wissenschaft, 1881 öffnete — eine in der Geschichte dieser Körperschaft ohne Beispiel dastehende Auszeichnung — die Berliner Akademie der Wissenschaften dem 33jährigen jungen Oberlehrer, der inzwischen nach Berlin übergesiedelt war, ihre Pforten und ernannte ihn zu ihrem ordentlichen Mitgliede. So errang er die Ehre, die anderen meist erst auf der Höhe oder am Ende der Laufbahn zuteil wird, an der Schwelle seiner Gelehrtenwirksamkeit. Nach einigen Jahren folgte die Ernennung zum außerordentlichen und zum ordentlichen Professor an der Berliner Universität. Die Doxographi Graeci waren das monumentalste und das methodisch stärkste Buch, das seit langem aus der Feder eines klassischen Philologen erschienen war. Das Allumfassende dieser Untersuchung, die die antike Literatur über die Anschauungen der älteren Denker der Griechen vollständig verarbeitet, und den Scharfblick, womit die verwickelten Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Dokumente untereinander durchdrungen und die gordischen Knoten gelöst sind, kann nur würdigen, wer die bis dahin gemachten Teilversuche einer Quellenanalyse mit ihren vielfachen Irrwegen und ihrem geringen Überblick kennt. Die antiken Berichte, auf die sich der Geschichtschreiber der alten Philosophie meistens statt der verlorenen Originaltexte der Philosophen angewiesen sieht, waren hier in synoptischer Form zusammengestellt, kritisch verglichen und auf ihre Herkunft untersucht. Es war der überraschend exakte Beweis geführt, daß die verzweigten Kanäle der spätantiken Schultradition, aus welchen wir unsere Kunde heute schöpfen, aus einem einzigen Bassin gespeist werden, dem verlorenen Originalwerk des Theophrast . Die Emanation der späten Handbücher aus dieser Urquelle wurde

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mit so überwältigender Überzeugungskraft bis in alle Haupt- und Nebenarme des Systems vor Augen geführt, daß nidit nur die Wertung der Überlieferung sich völlig änderte, sondern auch der Prozeß der Traditionsbildung als solcher zum ersten Male sichtbar wurde, in seiner für das moderne Gefühl fast unfaßbaren Mächtigkeit. Eine einzige Generation, die des Aristoteles und semer Schule, hat die Grundlagen der wissenschaftlichen Philosophiegeschichte gelegt, und mochten Spätere diese Arbeit von Zeit zu Zeit auch ergänzen, indem sie sie bis zur Gegenwart weiterführten, so blieb die communis opinio über die wichtigsten Zeiträume doch immer jene durch Aristoteles und Theophrast festgelegte Vulgata. Abgesehen von dieser geschichtlichen Erkenntnis war aber die Bauart des Buches epochemachend. Der Riesenstoff war durch vollendete Herrschaft über die Methode bis zur Durchsichtigkeit geschliffen und gefeilt. Es war ein Triumph philologischer Technik, der an die Kühnheit einer Brückenkonstruktion oder an die präzise Mechanik eines Uhrwerks erinnert. War es bisher eine rohe Empirie gewesen, die Zeugnisse der Überlieferung zu lesen und zu benutzen, so wurde es jetzt zur sicher geregelten Kunst. Hätte man z. B. früher über Heraklit oder Parmenides eine Nachricht in zwei verschiedenen Brechungen, etwa bei Cicero und bei einem christlichen Kirchenschriftsteller des 4. Jahrh. gehabt, so hätte man sich vielleicht mangels innerer Kriterien für die Quelle entschieden, die das höhere Alter für sich hat. Die Quellenaffiliation der Doxographen bei Diels schaltete den Zeitfaktor fast ganz aus, da sie vor Augen führte, wie gerade die spätesten Berichte oft die geradlinig und mechanisch fortgepflanzten Strahlen der ursprünglichen Lichtquelle sind, während sie bei früheren, aber individuelleren Vermittlern mannigfach gebrochen erscheinen. So erhielt jede Einzelheit erst durch ihre Einordnung in das Ganze des großen Überlieferungsprozesses die richtige Stelle und den richtigen Wertakzent. Die Kontrolle aller Einzelheiten gewann eine Schärfe, wie man sie zur Zeit, als Zeller seine Geschichte der griechischen Philosophie geschrieben hatte, noch nicht für erreichbar gehalten hätte. Als Akademiker entfaltete Diels eine organisatorische Tätigkeit im Stile Boeckhs und Mommsens. Die von Torstrik begonnene Sammlung der antiken Kommentare zu den Werken des Aristoteles hat er durchgeführt. Seine zweibändige Ausgabe des Simpliciuskommentars zur aristotelischen Physik stellte ein Muster für seine Mitarbeiter auf, und 35 3»

an der Spitze seines gelehrten Stabes stehend, schuf er das jetzt (seit 1909) vollendete Werk in 23 Bänden, eine Quellenpublikation, die nicht nur für das Verständnis des Aristoteles, sondern ebenso für das spätantike Geistesleben eine unentbehrliche Fundgrube ist, so unerfreulich spröde zum Teil der scholastische Stoff ist. Mit diesen Forschungen hängen zusammen die reizvollen Arbeiten über die exoterischen Schriften des Aristoteles, über die Textgeschichte der Physik und die Rhetorik und über die neugefundene Medizingeschichte des Aristotelesschülers Menon, ein medizinisches Parallelstüdc zu den doxographischen Texten. Als Akademiker und Organisator nahm Diels ferner tätigen Anteil an dem Monumentalwerk des Thesaurus Linguae Latinae. Als Vorarbeit zum Thesaurus bezeichnet er selbst auf dem Titel seine wort- und kulturgeschichtliche Studie Elementum (1899). Bei den Bestrebungen zum internationalen Zusammenschluß der Akademien zur gemeinschaftlichen Förderung großer Kollektivaufgaben der Forschung wie Inschriftensammlungen, Ausgrabungen, Thesaurus, Expeditionen und Vermessungen, Erleichterungen des internationalen wissenschaftlichen Verkehrs wie Handschriftenversand ins Ausland u. dgl. m. und in der Pflege persönlicher Solidarität der Forscher aller Kulturnationen spielte Diels seit 1895 in der führenden Stellung eines Sekretars der Akademie der Wissenschaften und als eine der im Ausland angesehensten Zierden der deutschen Wissenschaft eine große Rolle, bis der Weltkrieg das mühsame Werk der Verständigung mit einem Schlag zunichte machte, späteren Generationen seine Wiederaufnahme überlassend. Das Umfassendste, was Diels auf organisatorischem Gebiete geleistet hat, ist die Grundlegung der kritischen Gesamtausgabe der griechischen Ärzte, das Corpus Medicorum Graecorum, um das er als Herausgeber wie als Leiter dauernd die größten Verdienste hat. Schon der Katalog der für dieses Riesenunternehmen heranzuziehenden Handschriften umfaßt ein ganzes Buch im großen Akademieformat. Die Fortführung dieses Werkes muß ein Ehrenpunkt für die preußische Unterrichtsverwaltung sein. Die wachsende Erkenntnis der ihm gestellten Lebensaufgabe ließ in Diels den Plan reifen, die Reste der vorsokratischen Periode des griechischen Denkens zu sammeln. Auch dieses Werk trägt die Signatur aller übrigen Arbeiten des Meisters. Auf weite Sicht angelegt, restlos und rastlos durchgeführt, ist es ein mit ebensoviel Scharfsinn wie praktischem Blick für das Erreichbare, mit bewundernswürdiger Überwindung des 36

gewaltigen Stoffs der zu diesem Zweck vollständig verarbeiteten Literaturen griechischer und lateinischer Zunge einschließlich eines großen Teils der Byzantiner aufgerichtetes Monumentalbauwerk, dessen Zweckmäßigkeit im kleinsten Teil ebenso wirksam ist wie in der Anlage des Ganzen. Keine geringe Entschlußkraft gehörte dazu, dieses Bild der Entwicklung der griechischen Philosophie abschließend hinzustellen. Ist doch das in den einzelnen Teilen erreichbare Maß der Sicherheit, was Reihenfolge der Autoren und Fragmente, was Echtheit und Zuteilung und nicht zuletzt auch das wörtliche Verständnis dieser an Rätseln reichen Texte betrifft, ein ziemlich verschiedenes. Daß ein solches Werk für jeden, der die große Kunst gelernt hat, darin zu lesen, eine Geschichte der griechischen Philosophie zwischen den Zeilen enthält, daß auch die unscheinbarsten Züge der Anordnung voll der schwierigsten Entscheidungen sind, ist dem dankbaren Benutzer des Buches schwerlich immer ganz bewußt. Ein Bild des zähen Ringens um die Auffassung der Grundtatsachen des Entwicklungsganges der älteren griechischen Philosophie, das dem Abschluß des Werkes vorangehen mußte, gibt die ganze Produktion von Diels während der Jahre seiner Vorbereitung. Eine große Reihe von Aufsätzen, die Bücher über Heraklit und Parmenides, die Ausgabe der Poetae Philosophi (in der Wilamowitzschen Sammlung griechischer Dichterfragmente) sind die Vorstufen zu dem Lebenswerk, den 1912 in 3. Auflage (jetzt 8. Aufl.) erschienenen Fragmenten der Vorsokratiker in drei Bänden. Neben dieser Fundamentalarbeit, die sich mit mathematischer Sicherheit aus der Arbeit an der Doxographie entwickelte, steht eine erstaunliche Vielseitigkeit der Interessen, durch die Diels auf die verschiedensten Gebiete der Philosophie und Geschichte des Altertums befruchtend gewirkt hat. Wie in der Philosophie, hat er auch in der Chronologie damit begonnen, zuerst einmal die Arbeitsweise der antiken Chronologen festzustellen, welche unsere Überlieferung gemacht haben, und hat so den eigentlichen Schlüssel zur Beurteilung des geschichtlichen Werts der überlieferten Zeitansätze aufgefunden. An Useners Tradition knüpft seine religionsgeschichtliche und volkskundliche Arbeit an, die nicht nur in seiner großen Vorlesung über Religionsgeschichte und in seinem Buch „Sibyllinische Blätter", sondern vor allem auch in den Forschungen seiner Schüler Ausdruck findet. Von seinem Demostheneskolleg rührt das Interesse her für den wiedergefundenen Kommentar des Didymos zu den

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Pbilippischen Reden, von dem er mit Sdiubart zusammen eine größere und eine kleine Ausgabe veranstaltete. Seine durch ihren methodischen Untersuchungsgang bekannten Einzelaufsätze können ihrer großen Zahl wegen nicht einzeln erwähnt werden. Eine Welt für sich sind die Arbeiten über die Medizin, die exakten Wissenschaften und die Technik der Alten. Für die Lesbarmachung der Schriften der griechischen Mechaniker und Ingenieure hat Diels noch in allerletzter Zeit Bedeutendes geleistet. Den Laien interessiert mehr das gemeinverständlich und anschaulich geschriebene kleine Buch Antike Technik (2. Aufl. 1919). Das Reich des antiken Denkens erscheint hier unendlich erweitert und über die schulmäßig enge Grenze der „Systeme der philosophischen Denker" hinaus vorgeschoben. Als akademischer Lehrer wirkte Diels zuerst neben Vahlen und Kirchhoff, seit 1897 an der Seite seines ehemaligen Bonner Studiengenossen U. v. Wilamowitz. Beide sind im gleichen Jahre geboren und haben im gleichen Jahre promoviert. Dieses Paar ist bei aller Verschiedenheit der Charaktere und der Forschungsweise das nun schon klassisch gewordene, von der Person der beiden Gelehrten unabtrennbare, verehrungswürdige Bild der Berliner Philologie, wie alle Welt es kennt und wie es der jüngeren Generation der Schüler unvergeßlich vor Augen steht. Manches Geschlecht sahen die vier Jahrzehnte der Dielsschen Lehrtätigkeit vorüberziehen. Wir Jungen wissen nur von dem Alten zu erzählen. Wie ein Patriarch nahte er da stets seinem Kathederhochsitze, und die riesige Gestalt wuchs noch, wenn er das Podium bestieg. Der Vortrag hatte den Stil seiner Abhandlungen, die ruhige, regelmäßige Klarheit methodischer Untersuchung. Den Eingebungen des Augenblicks pflegte er sich nicht zu überlassen, und doch waren Licht und Schatten in seinen Urteilen aufs lebhafteste verteilt. Wie konnte er Anaxagoras, den nüchternstrengen Forscher mit Wärme uns nahebringen, wie konnte er, der Freund Diderots und Voltaires, den Phantasieüberschwang des „Scharlatans" Empedokles hassen! Nicht bei Plato, sondern bei Aristoteles und bei Leibniz war sein Herz, ja wie Feuer der Leidenschaft konnte es in seinem Gesicht aufzucken, wenn er, in fast feierlich strenger Haltung den Anfang des Lukrezverses markierte: tantum religio potuit suadere malorum. Als objektive Leistung war die Geschichte der griechischen Philosophie wohl seine größte Vorlesung, aber der Lukrez war die persönlichste. Sein Plan einer kritischen Ausgabe des römischen Aufklärungsdichters

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mit Übersetzung wird demnächst vollendet sein, und schon heute darf man voraussagen, daß er nie bei einer Arbeit mehr mit dem Herzen dabei gewesen ist als bei diesem ehrlichen, gravitätischen Manne, durch dessen altrömisch karge und schwerfällige Verssprache, die den trockenen Stoff naturphilosophischer Deduktionen nur mühsam bewältigt, an Stellen freierer Erhebung die Feuerseele hindurchflammt. Berühmt waren das Seminar und die in früherer Zeit oft abgehaltenen Privatissima über die Vorsokratiker, wo ein stauneswertes Wissen, allezeit parat, sich entlud. Aber trotz der Sorglichkeit, mit der Diels seine Kollegs und Übungen pädagogisch ausgestaltet, bleibt er doch überwiegend Forscher, der reine Typus des , wie Aristoteles und Archimedes ihn vorgelebt haben. Die öffentliche Meinung kümmert ihn nicht, der Lärm des politischen Kampfes hallt nur von der Straße zu seinem stillen Fenster herauf. Noli turbare circulos meos! Seine Worte kleidet das Pathos nicht, sie umspielt Humor, eine Art sokratischer Schalkheit. Alles, bis zur urbanen Art, mit der er sich unterhält, ist Ausdruck innerer Freiheit und inneren Maßes. Auch der Stil der völligen Objektivität, der in seinen Arbeiten herrscht, entspringt dieser inneren Haltung. Er ist der Grund dafür, daß sich das Lebenswerk dieses Forschers von seiner Person, mit der es unsichtbar so fest verkettet ist, doch schon jetzt reinlich loslösen läßt. In seiner monumentalen Einheitlichkeit und Festigkeit, dem Verzicht auf allen Schmuck und alles Gefällige, seiner bewußten Beschränkung auf das Grundlegende, Greifbare und Tradierbare steht das Schrifttum, das er einst als sein Denkmal hinterläßt, wie ein massiger Turm da, der den Jahrhunderten trotzt. Diels hat die Grundmauern einer neuen Disziplin gelegt, der Wissenschaft von der Überlieferung der griechischen Philosophie — dies Wort im weitesten Sinne gefaßt, so daß es Technik und Einzeldisziplinen mitumfaßt, wie in vorsokratischer Zeit — und diese hat sich von der Philosophiegeschichte der Philosophiegeschichtschreiber grundsätzlich losgelöst und selbständig gemacht. Man mag diesen Zustand beklagen; er war so wenig aufzuhalten wie die Zerreißung zwischen Rechtsphilologie und Rechtssystematik, die seit Mommsen notwendig wurde. Fortschritt und Spezialisierung sind unlöslich aneinander gebunden, wenn auch festzuhalten ist, daß man die Mittel um des Zieles willen bereitstellt. Dieses Ziel scheint zunächst durch die ungeheure Komplizierung des Weges, der zu ihm führen soll, eher noch weiter entfernt als vormals. Soviel aber steht fest: wenn es

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den stolzen Bau einer Geschichte des griechischen Geistes jemals geben wird, so wird sie gegründet sein auf die Fundamente, die Hermann Diels durch seine Lebensarbeit von seltener Konsequenz gelegt hat, wie auf den Felsen des Kekrops die Akropolis.

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Humanismus und Jugendbildung (1921) Humanismus ist überall zugegen, wo die Antike als lebendige Größe empfunden wird und als erzieherische Kraft gegenwärtig ist. In diesem geschichtlich wohlbegründeten Sinne hat es Humanismus schon lange vor den sogenannten Humanisten der Renaissance gegeben und wird es ihn auch nach ihnen geben, und zwar, wenn wir auf das Grundphänomen dieses Erziehertums zurückgehen, in doppelter Bedeutung des Wortes: erstens als die unmittelbare oder durch andere Medien übertragene erzieherische Einwirkung der griechischen Kultur auf die Völker des europäischen Kulturkreises und ihre Dependenten (weshalb der nicht weniger tiefen Durchdringung des Orients mit griechischen Einflüssen der eigentlich humanistische Charakter im allgemeinen abzusprechen ist, bildet einen hier nicht zu erörternden schwierigen Teil des allgemeinen Problems Orient und Abendland) und zweitens als Prinzip der Jugendbildung, als Bildungsideal im pädagogischen Sinne des Wortes, ein Prinzip, das gleichfalls bei allen europäischen Völkern und ihren kulturellen Dependenten sich findet, und zwar wiederum nur bei ihnen, bei ihnen aber ausnahmslos. Beide Formen des Humanismus hängen eng miteinander zusammen, denn die Existenz einer humanistischen Bildungsidee und Schule ist immer nur der Ausdruck der Tatsache, daß das Zeitalter, welches sie besitzt, den bewußten Zusammenhang mit der Antike als eine notwendige geschichtliche und geistige Lebensbedingung erkennt. Die humanistische Schule ist zwar, äußerlich betrachtet, durch die ehrwürdige Tradition ihrer über zweitausendjährigen pädagogischen Wirksamkeit ein so fest eingewurzeltes Stück unserer Kultur, daß sie vor übereilten Eingriffen von außen schon durch ihr bloßes geschichtliches Schwergewicht geschützt erscheint. Aber die innere Voraussetzung ihres Daseinsrechtes bleibt doch, daß sie im Bewußtsein der geistig führenden Schicht eines Volkes lebendig begründet ist. Sie ruht und kann nur ruhen auf dem humanistischen Geist der ganzen Epoche. 41

Die entscheidenden Faktoren im Verhältnis einer Zeit zur antiken Kultur liegen einmal in ihrer geschichtlichen Anschauung vom Wesen und Wert der Antike, die notwendig der Veränderung unterliegt, dann aber in ihrer Anschauung von Kultur und Erziehung überhaupt, also den allgemeinen in ihr wirksamen geistigen Kräften. Daraus ergibt sich die merkwürdige Erscheinung, daß die Einrichtung der humanistischen Schule sich dauernd erhält, aber die Begründung dieser Einrichtung dauernd dem Wechsel unterworfen ist. Historische Mächte und absolute Zielsetzungen ringen miteinander in lebendiger Dialektik, und es ist notwendig, daß sie sich die Waage halten, wollen wir nicht der Starrheit des Traditionalismus oder der Blindheit des Radikalismus verfallen. Wir werden es niemals beklagen, daß sich die humanistische Schule gewissermaßen ständig im labilen Gleichgewicht befindet und sich niemals der trägen Ruhe erfreuen wird, die ihr das Dasein auf alle Fälle sichert, gleichgültig welches ihre Leistungen sind. Ruht sie doch nicht, wie die übrigen Schularten, auf dem sicheren Boden materieller Lebensbedürfnisse, die schlecht und recht befriedigt werden müssen, sondern nur auf ihrer geistigen Schwerkraft. Echte Aristokratie aber ist niemals ein bloßes Privileg, sie ist immer mit Gefahr verbunden. Wehe den Mittelmäßigen, die sich eine falsche Führerschaft anmaßen l Eine neue Begründung der humanistischen Schule für unsere Zeit muß notwendig auf einer streng geschichtlichen Anschauung vom Wesen der antiken Kulturleistung beruhen, sie muß außerdem Rechenschaft vom Wert ihres erzieherischen Grundgedankens ablegen. Wir können heute unser Altertumsstudium nicht auf einer bloßen ästhetischen Freude an den Werken der Alten aufbauen oder auf einer abstrakten Formel wie derjenigen von der Vorbildlichkeit der exemplaria graeca, die zwei Jahrtausende lang den Ansprüchen eines naiveren Geschichtssinnes genügt hat. Heute bedarf es einer tieferen Erfassung unseres Verhältnisses zu den Griechen, als sie den Römern zur Zeit des Horaz möglich war, die diese Formel dem Ausdrucksschatz der griechischen Rhetorik entlehnten. Aber auch die Griechenauffassung Wilhelm v. Humboldts, die der Begründer des neueren deutschen Gymnasiums diesem, wenn man so sagen soll, in die Wiege gelegt hat, das Ideal der Harmonie und Totalität, erschöpft bei weitem nicht den Reichtum der geschichtlichen Wirklichkeit, den die moderne Altertumsforschung vor uns ausgebreitet hat. Der schöne Bund des Gymnasiums mit dem philosophischen Idealismus der 42

Zeit vor hundert Jahren hat sich als eine Last erwiesen, die wir nicht mehr tragen können, so sehr wir auch die Humanisten von damals beneiden um die innere Sicherheit, die ihnen die Anlehnung an eine feste Weltanschauung gab. Aber es ist unmöglich, sich an die Weltanschauungsformel einer Philosophie anzulehnen, die wie die heutige selbst in schwierigster innerer Entwicklungskrisis ringt, und es ist noch unmöglicher, mit der idealistischen Formel Schillers oder Hegels die gesamte historische Erscheinung der Antike oder auch nur die Welt des einen Plato oder Sophokles zu erfassen, so wie wir sie heute sehen. Zwischen Platos und dem deutschen Idealismus liegen tiefe Unterschiede der geistigen Konstitution. Überhaupt ist es aus mit dem lange Zeit in Schulreden und -Aufsätzen behandelten Thema von der Wesensgleichheit des deutschen und griechischen Geistes, von denen Jacob Burckhardt einmal scherzhaft sagt, sie hätten nach geltender Meinung eine Art von miteinander geschlossen. Woraufhin treiben wir also noch unsere griechischen und lateinischen Studien? Geschieht es, nachdem die klassizistische Anschauung sich überlebt hat, nur zur kulturgeschichtlichen Einführung der Jugend in die Formen der europäischen Geistesentwicklung, die nun einmal in Griechenland und in der Antike ihren Ursprung hat? Die Folge müßte sein, daß wir den Humanismus endgültig abdanken und ein historisches Gymnasium an seine Stelle setzen. Die Erbschaft des Klassizismus würde dann in die Hände der kulturgeschichth'ch orientierten modernen Altertumswissenschaft übergehen. Oder man faßt das Gymnasium als eine Gelehrten-Berufsschule, die für das Universitätsstudium, besonders der historisch-philologischen Fächer die geeignetste Spezialvorbereitung gibt. Auch damit gibt man den humanistischen Grundgedanken preis, nur daß diese Auffassung weniger von dem Gegensatz der geschichtlichen Wissenschaft zum Klassizismus ausgeht, sondern von der Tendenz der modernen Pädagogik, das gesamte Erziehungswesen auf berufsständischer Grundlage aufzubauen und den Gedanken einer „allgemeinen" Bildung fallen zu lassen. Oder drittens — kann es einen neuen Humanismus geben, der mehr will als ein Stück Kulturgeschichte erkennen und der aus einem eigenen Bildungsideal entspringt? Eine Antwort auf diese schwierigen Fragen finden wir am ersten, wenn wir auf die Ursprünge des Humanismus selbst zurückgehen. Ehe wir sagen können, ob er uns taugt, müssen wir wissen, ob wir uns klar sind

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über sein innerstes Wesen, oder ob sich uns bereits etwas anderes, eine Truggestalt, vor das echte Urbild geschoben hat und unseren Blick beirrt. Was Humanismus ist, kann weder die Konstruktion Humboldts noch die Meinung eines anderen Zeitalters über diese Dinge uns sagen. Gemeinsam ist ihnen allen nur das eine, daß die G r i e c h e n als E r z i e h e r auf sie gewirkt haben. Dieser Erscheinung müssen wir auf den Grund gehen. Wie ist dieses Erziehertum im Wesen der Griechen selbst begründet? Die Griechen sind die Meister der übrigen Völker geworden, weil sie das bewegende Prinzip der abendländischen Geisteswelt entdeckt haben, durch das sie sich von allen anderen Welten, die wir kennen, unterscheidet. Diese causa movens unserer Geschichte ist das Prinzip der Kultur. Ich verstehe jetzt unter Kultur nicht die objektive unbewußte Stileinheit, die das Schaffen eines Volkes durchdringt, auch auf primitiver Entwicklungsstufe, sondern das bewußte System der schöpferischen Geister, die sich in der höchsten aller Aufgaben zu gemeinsamem Ziele vereinigen: der Erziehung des Menschen. Diese Art der Bewußtheit setzt freilich eine Höhe der Auffassung vom Wesen der Erziehung voraus, wie sie kein anderes Volk aus sich selbst erreicht hat. Man sollte niemals müde werden, sich und den anderen Menschen, soweit sie überhaupt geistiger Eindrücke fähig sind, diese erschütternde Tatsache in die Seele zu graben, denn ihr und ihr allein haben wir es zu danken, wenn wir es als eine in sich selbst sinnhafte Aufgabe empfinden dürfen, Mensch zu sein, es sei im übrigen unsere Weltanschauung welches sie wolle. Kultur ist Erziehung zum Menschen: dies ist der Gedanke, den die Griechen in die Welt geschleudert haben wie die Fackel des Prometheus unter Troglodyten, die im Finstern hockten. Auf dieser Schöpfungstat beruht die erzieherische Kraft der Griechen für die späteren Völker. Das bloße Wort, mit dem sie das Ganze ihrer geistigen Kultur bezeichnet haben, , führt deutlich zum Bewußtsein, daß Kultur und Erziehung für ihr Denken in gewissem Sinne identisch sind. Im Mittelpunkt ihrer Erziehung steht der Mensch, nicht als Berufswesen, als nutzbares Glied einer Zweckgemeinschaft, wie für die soziale Pädagogik unserer Zeit, sondern rein als Mensch. Die griechische Erziehung ist darin schlechthin einzigartig, daß sie alle Rücksicht auf Beruf und praktische Nutzbarkeit ausschaltet — diese Dinge fallen überhaupt nicht unter den Begriff der Erziehung, sie gehören zur technischen Lehre, die jeder durchzumachen 44

hat — und daß sie einzig und allein den Menschen zu bilden gebietet. In den Dienst der Menschenbildung stellt sie den ganzen Reichtum der objektiven Kultur: Homer, das Urbild aller menschlichen Existenz, die tragische Bühne, die das Herz in Furcht und Mitleid erschüttert und reinigt, die Lehren und Sprüche weiser Dichter wie Pindar und Simonides, Solon und Theognis, die Macht der Musik und der Gymnastik, die Körper und Seele „rhythmisieren", die Disziplin der Rede und des Denkens durch Stil und Wissenschaft. Alle diese formenden Kräfte schließen sich für griechisches Denken zusammen zu einem natürlichen Erziehungssystem, an dem jeder Anteil haben kann, nicht nur der Werdende, sondern noch mehr der Erwachsene, für den das Wort die höchste Anerkennung in sich schließt. Die geistigen Führer und Repräsentanten dieser Kultur, Dichter, Philosophen und Gesetzgeber, fühlen sich ihrerseits ganz als Lehrer und Erzieher ihres Volkes, in deren Händen die schwerste Verantwortung am Ganzen ruht. Es würde weit über das Thema hinausführen, wollte ich das im einzelnen an der griechischen Literatur zeigen. Sie ist eine via triumphalis der erzieherischen Idee, alle ihre Großen haben Anteil an diesem grandiosen Erziehungswerk. Der Erziehertrieb ist offenbar ein Grundzug des griechischen Ethos. Ich brauche mich wohl nicht vor der Mißdeutung zu schützen, als wollte ich die gesamte Kultur der Griechen aus einer einzigen seelischen Wurzel ableiten oder als faßte ich die Schöpfungen des Rausches und der Ekstase, der logischen Spekulation und des ethischen Prophetentums unterschiedslos „didaktisch" auf. Aber in all den Trägern dieser Kräfte war zugleich ein erzieherischer Wille tätig, der sie zwang, ihr Werk in der bindenden Funktion, die es innerhalb des geistigen Gesamtlebens für die anderen hatte, lebendig zu fühlen. Denn der Schaffende war nicht isoliert und vereinsamt, sondern stets zugleich ein Schaffender am Ganzen. Was nun aber die Natur des Griechen befähigt hat, aus dem Chaos der widerstreitenden praktischen Interessen der Einzelnen und der Gruppen die Gestalt des Menschen rein herauszuheben und sie groß und frei in ihrer geistigen Würde und natürlichen Kraft hinzustellen, das ist sein plastisches Vermögen, sein angeborener Blick für das Ganze der Gestalt in ihrer Vollständigkeit und in ihrem organischen inneren Zusammenhang. Diese scheinbar einfachen Dinge sind in Wahrheit ungeheuer schwer, das Größte ist aber, daß der Grieche diesen objektiven Blick 45

für den ganzen und unverkümmerten Menschen nicht nur als Künstler gegenüber dem Stein bewährt, sondern auch als Bildner der lebendigen Form, des lebendigen Menschen. Ein Schauer der Scham überläuft uns, wenn wir zum ersten Male dieses edlen Ursprungs der heute sogenannten allgemeinen Bildung uns bewußt werden, ein Schauer, wie er den Platoniker ergriff bei der Anamnesis der besseren Urbilder der verkümmerten und verkrüppelten Wesen, die ihn „hier" umgaben. Nicht ein wirrer Haufe wesenloser Eindrücke und unverstandener Kenntnisse also war einst unter dem „allgemein" zu verstehen, sondern im Gegensatz zur Dressur des Individuums zu einseitigen Nutzverrichtungen der die plastische Gestaltwerdung des reinen Menschen im Menschen, Formung von Körper und Seele nach dem eigenen, ihnen selbst einwohnenden Gesetz. Plato spricht auf der Höhe der griechischen Philosophie die Erkenntnis aus, die einer Selbsterkenntnis des griechischen Wesens gleichkommt: am Anfang war die Gestalt. Bei den Griechen ist sie in Wahrheit die führende Macht, sie ist das Geheimnis ihrer Wirkung auch als Erzieher. Sie entdeckten in der Gymnastik die reine Bewegung der Körper im Raum als höchste Entfaltung körperlicher Daseins- und Wirkungsweise, ohne äußeren Zweck und Nutzanwendung; sie waren es, die in der Tonkunst das Gesetz der Harmonie und des Rhythmus als den ihr eingeborenen Sinn und als einen in sich selbst gegründeten Wert erkannten; sie fanden den einfachen Satz als das Einheitsprinzip, das Metron der menschlichen Rede, in sich gegliedert wie ein Gebilde der Geometrie; ihr Denken wurde der Schöpfer der Gesetze der reinen Raumgrößen und Zahlenverhältnisse wie der reinen Begriffe und der Theorie um ihrer selbst willen. Sie schufen in ihren leiblich einherwandelnden Menschengöttern die Religion der reinen Gestalt. An ihr ging ihnen das Höhere, Göttliche auf, sie war ihre Offenbarung. So ist es nur natürlich, aber auch nur für sie natürlich, daß sie die Begründer einer reinen Erziehung wurden, welche den zu Erziehenden nicht als Mittel für den Beruf oder für den Staat, sondern als Selbstwert ansah. Für diese Erziehung waren ihnen am wichtigsten die Dinge, die ihren Wert nicht als Mittel für anderes, sondern in sich selbst haben. Es hieße den tiefen Unterschied verkennen — sagt Aristoteles in seiner Verteidigungsschrift für die reine Wissenschaft — welcher zwischen einem bloßen Mittel und einem in sich selbst ruhenden reinen Werte besteht, wollte man von jedem Wissen

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einen Nutzeffekt erwarten und fordern, es müsse doch zu irgend etwas zu gebrauchen sein. Mit dieser Auffassung des Verhältnisses der reinen Werte zum Problem der Erziehung des Menschen und zum Begriff der Kultur überhaupt steht und fällt der Humanismus, der eben gar nichts anderes ist als der Weg zum Menschen, welchen die Griechen gewiesen haben. Die griechische Originalschöpfung der Kultur als System der , und der reinen Formen als ihres Organs, kam den Völkern der Welt wie eine Erleuchtung. Sie füllte eine leere Stelle in ihrem geistigen Leben aus. Aus sich hat keines von ihnen etwas ähnliches erzeugt. Die Bedingung der Übernahme freilich war die Erlernung der griechischen Sprache, die sich aber doch wohl lohnen mußte, so schon für die Gebildeten unter den Römern, die nicht müde werden, den überwältigenden Eindruck ihres Eintritts in den geistigen Kosmos der Griechen zu schildern. Es zerstieben die Schrecknisse des Herzens, es weichen auseinander die Mauern der Welt, ruft Lucrez aus. Was dieser eine Mensch an der Philosophie erlebte, das wurde anderen die Dichtung der Griechen oder überhaupt ihre Form. Die großen Römer, die ihrem Volk zu Verkündern des griechischen Geistes wurden, ein Lucrez, Horaz, ein Humanist und Sprachgenie wie Cicero, der zum erstenmal aus dem Latein eine Sprache formt, die auch griechischem Ohr wie menschenwürdige Laute erscheinen konnte, sind nicht durch bloßen Zufall die Vermittler der griechischen Kultur für das ganze Abendland geworden. Es bleibt immer denkwürdig, wie sie die Griechen ihrem doch politisch und wirtschaftlich bereits sehr mächtigen und selbständig in der Welt dastehenden Volk gebracht haben. Die Römer geben uns das wunderbare Schauspiel, wie eine Nation, die trotz ihrer hohen praktischen, politischen und kolonisatorischen Begabung zu eigenem geistigen Leben nicht die Kraft in sich gehabt hatte, durch die Berührung mit der griechischen Kultur eigentlich erst zu bewußter Persönlichkeit kommt. Das gilt von den Individuen wie vom ganzen Volk. Erst in seiner durch den griechischen Einfluß geformten Gestalt hat römischer Geist die übrige Welt selbst geistig zu prägen vermocht. Ungreifbar verschwommen erscheint die Masse der großen römischen Männer als Individuen in der älteren livianischen Geschichte, nicht weil Livius kein Psychologe ist, sondern weil jeder Anhalt dafür in der vorgriechischen Überlieferung der Römer fehlte. Auch die Deutschen haben später ähnlich erst an der sicheren Hand des Sueton und anderer Vor-

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bilder das Individuelle am Menschen sehen gelernt, wie Einhart und seine Nachfolger zeigen. Aber wie weiß Sallust, aus dem die Natur im Bunde mit griechischer Schulung einen der größten Stilisten aller Zeiten gemacht hat, schon die Charakterköpfe seiner Zeit mit drei Strichen zu zeichnen, als kennten wir sie. Die römische Persönlichkeitskultur, wie sie sich hier und in Ciceros Briefen, in den Sermonen des Horaz, in Senecas Briefen und Traktaten, in Tacitus' Agricola, in Plinius' Briefen und Augustins Confessionen ausgibt, ist das Erzeugnis der individuellen Durchdringung einer hochstehenden Gesellschaft mit dem feinen Äther der griechischen Bildung. So wenig aber der Geist in dem III. Proömium des Lucrez aus der allgemeinen Epikureerstimmung des , die gewaltige persönliche Leidenschaft des Properz aus dem glatten, gezierten Kallimachos und den anderen hellenistischen Elegikern, die Ars poetica des Horaz aus den Kompendien der griechischen Schulrhetorik, die wunderbare persönliche cultura animi und ars vitae des Seneca aus dem faden Diatribengewäsch der hellenistischen Philosophen abzuleiten ist, so sicher bedeutet diese ganze geistige Entwicklung des Römertums die Entdeckung einer neuen inneren Welt, eines persönlicheren und erlebteren Gefühls vom Wesen des Menschen und von der menschlichen Seele. Ansätze zu so feindifferenzierter Selbstzergliederung, wie wir sie hier auf Schritt und Tritt finden, gibt es bei den Griechen nur vereinzelt bei Platon, vielleicht in den verlorenen Briefen des Aristoteles. Plutarch, mit seinen schematischen Kategorien der substantialistischen platonischen Seelentheorie und der stoischen Affektenlehre, zeigt keine Ahnung von der realistischen Innenbeobachtung eines Seneca, Sueton, Tacitus, Augustin. Es ist keine Rede davon, daß Petrarca besser daran getan hätte, an die Griechen anzuknüpfen als an Cicero, Seneca und Augustin, wenn er seinen Weg zu innerer Persönlichkeitsbildung suchte und zu einem dem Stimmungsgehalt nach zwar christlichen, in seinem Inhalt aber völlig weltlichen „inwendigen Menschentum", jenem eigentümlichen Schwebezustand zwischen anima und mundus, in dem die religiöse Mentalität des modernen Menschen schwingt. Auch das nationale Persönlichkeitsbewußtsein ist bei den Römern viel realpsychologischer, weniger idealtypiscfa als das der Griechen, und besonders fein in jener bewußten stolzen Beschränkung, wie es bei Vergil in den berühmten Versen ausgesprochen ist. Es ist nicht das Machtbewußtsein der Herrennation, sondern das deutliche Gefühl persönlicher

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Überlegenheit über die ethisch primitiveren zeitgenössischen Griechen, das die Römer sogar mitunter einen etwas mitleidsvollen Ton ihnen gegenüber anschlagen läßt. Es ist nicht die materielle Leistung der Römer, was ihre Kultur als Ergänzung der griechischen Erziehung und als eine eigene Stufe innerhalb der Entwicklung des Humanismus notwendig macht, so viel wir sachlich in politischer und militärischer Hinsicht von ihnen lernen können. Groß ist und bleibt ihre Selbsterziehung durch die discipline, die in ihrem moralischen und Rechtsbewußtsein wurzelt. Als Disziplin aber fassen sie, echt römisch, auch die strenge Form der Griechen. So gelangen sie durch bewußte eruditio zu einem Typus der „Kultur" und „Humanität", der eine fruchtbare Verbindung des griechischen Geistes der Form und der eigenen Person bzw. Nation ist. Nur in dieser Umprägung haben die Europäer die griechische Formkultur übernehmen können: nicht als völkische, historisch einmalige Erscheinung, der man sich unterwirft, sondern als geistige Führung bei ihrer Selbsterziehung zu gesteigerter persönlicher und nationaler Kultur. Wegräumen läßt sich auch diese geistige Schicht im Werdegang unserer europäischen Kultur nicht mehr. Wie läßt sich nun der griechische Erziehungsgedanke auf der Schule fruchtbar machen? Es hilft nichts, wir müssen eingestehen, daß das höchste Ziel in der überlieferten Form des humanistischen Unterrichts wohl selten erreicht worden ist. Die Schule ringt mit ungeheuren Schwierigkeiten, die kein Verständiger verkennen wird. Der Humanismus in seiner geistbefreienden Kraft, als innere persönliche Renaissance, ist ein Erlebnis, das immer nur wenigen Auserwählten zuteil werden kann. Was die Größten, Winckelmann, Goethe, Humboldt beim Anblick der Antike erfaßt hat, bleibt der Menge der Schaulustigen doch verborgen, und wären sie noch so emsig. Es muß aber wenigstens wieder dahin kommen, daß die Liebe zu den Alten die Menschen durchs Leben begleitet, wie es früher häufig oder die Regel war, jetzt aber leider sehr selten geworden ist. Es ist schmerzlich auszusprechen, wie sehr es heute an der wichtigen Vorbedingung zu einem solchen inneren Verhältnis zur Antike oft fehlt, an den nötigen Sprachkenntnissen. Ich bin kein Linguist und Grammatiker in meiner Wissenschaft, um so unverdächtiger bin ich als Zeuge, wenn ich erkläre, daß sich ein echter Humanismus nur aufbauen läßt, wenn Schüler und Lehrer wirklich Griechisch und Lateinisch können. Ich weiß, es gibt besonders unter den älteren Lehrern noch eine 49 4 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

Reihe von großen Könnern, aber was wir als Universitätslehrer an den Jüngeren erleben, ist unaussprechlich, gar nicht zu reden von den verheerenden Wirkungen der Kriegsbestimmungen, die ich keinem zur Last lege, sondern wie ein Schicksal ansehe. Aber nun ist es da, und wir haben an seinen Folgen zu leiden. Es ist hier notwendig, über die Bedeutung der Sprachen für das humanistische Erziehungsideal ein Wort zu sagen. Nichts wäre unrichtiger als die Meinung, die Beschäftigung mit den alten Sprachen sei nur das gelehrte Übel, das man in Kauf nehmen müsse, um an jene Welt heranzukommen, nach der man eigentlich verlangt. Diese rein stoffliche Auffassung der alten Literatur ist ganz unhumanistisch und erscheint besonders den Griechen gegenüber als eine wahre Barbarei. Nicht weniger unmöglich ist der wohlmeinende Rat, Übersetzungen heranzuziehen oder gar an die Stelle der Originale zu setzen. Seit den Tagen der Römer ist gerade das Innewerden der griechischen Sprachgewalt eines der größten Erlebnisse gewesen. Jeder erinnert sich an die schönen Worte der römischen Dichter über ihr Verhältnis zur griechischen Sprache, die sie zärtlich wie eine Geliebte ansehen. Lucrez ringt, da er griechische Gedankenfülle und Klarheit in lateinische Form bringen will, mit der patrii sermonis egestas. Horaz sagt von den Griechen, die Muse habe ihnen verliehen ore rotunda loqui und welch ein rauschendes Sprachgemälde weiß er von der dithyrambischen Rede Pindars zu geben, der wie ein Bergstrom donnert und braust. Man findet diese ostentative Freude an der Sprache und am Sprechen vor allem bei den Griechen selbst, ja im Gegensatz zu der heutigen allgemeinen Auffassung der Sprache, die sie so gern zu einem schattenhaften Echo des Inhalts macht, fühlt man bei Aischylos und Pindar deutlich die Herrschaft einer schier unerschöpflichen Sprachphantasie über den Stoff. So leidenschaftlich die innerste Seele des Dichters auch erschüttert ist, das eigentlich künstlerische Ereignis ist hier doch die Eruption der sprachformenden Kraft, die diese Leidenschaft hervorstößt. Man muß die hingerissene Freude des Südländers gesehen haben, der sich von seiner klingenden, singenden, rollenden Sprache tragen läßt, den Genuß, mit dem er, der sonst seine Worte überstürzt heraussprudelt, die tönenden Flexionsendungen seiner musikalischen Sprache am Satzende auskostet, und die Unfehlbarkeit seines instinktiven rhythmischen Gefühls, um die Bedeutung dieses Sprachbewußtseins für das Verständnis der poetischen Form bei den Griechen zu verstehen. Wie oft werden 50

die klingenden Epitheta Homers auch dort gesetzt, wo sie dem Sinn nach eher störend wirken, nur weil das Ohr sie nicht entbehren mag. Die Wortungeheuer des alten Skolions, der alten Komödie und des ältesten Satyrtanzliedes zeigen, daß diese Art, sich naiv an der bis zum Bombast gehenden Wortbildungsfähigkeit seiner Sprache zu weiden, gerade auch im einfachen Volk zu Hause war. Was die Griechen schon zur Zeit des Aristophanes als halbkomisch empfanden, der der ältesten Tragödie, kommt ursprünglich aus einem tiefen Gefühl für die angeborene Freude des Volkes an der großartigen Sprach- und Wortform. Und wie zeigt sie sich in der Komödie in der tollen Sucht der Nachahmung fremder Laute und Stile. Das Gebrause und Gedonner des Aischylos, das Gesäusel und Gelispel des Euripides, der schwerfällige lakonische und der plump bäurische megarische und böotische Dialekt, der Zungenschlag des Alkibiades, die Laute der Vögel und Frösche, alle diese Töne schlägt der Komiker an und ist dabei stets sicher, so unermüdliches Interesse beim Publikum zu finden, daß er ganze Szenen damit füllt. Von hier aus erscheint die Entstehung der Rhetorik bei den Griechen mit ihren guten und bösen Seiten in einem neuen Lichte, besonders die der Epideiktik, der Beredsamkeit der großen Worte, in denen man „sich zeigt". Dieser Sprachbegabung verdankt es der Grieche, wenn seine Verse die Prägnanz der erfüllten Raumform und seine Sätze die Klarheit mathematischer Figuren haben. Wer nicht einmal die Periode hat entstehen sehen, wie wir es in der griechischen Prosa beobachten können, der weiß noch nicht, was ein Satz der menschlichen Sprache leisten kann. Es ist hundertmal hingewiesen worden auf die lateinische Sprache als das hervorragendste Mittel der Denkdisziplin, und diese Tatsache bleibt auch bestehen, wenn auch die neueren Kenner der lateinischen Grammatik uns belehrt haben, daß diese Sprache nicht logischen, sondern psychologischen Gesetzen folge. Aber die Psychologie des römischen Denkens ist nun einmal die der strengen Gedankenfolge, und so bleibt es bei der alten Erfahrung. Diesen Einfluß übt aber die Sprache nur, wenn man sie bis zu einem gewissen Grade selbst handhabt, wenn man vom müßigen Betrachten zum selb ständigen Können übergeht. Nicht umsonst sahen die alten Humanisten in der Fähigkeit, lateinische Verse zu machen und einen guten Stil zu schreiben den Prüfstein, wie weit einer es im Verständnis gebracht hatte. Der Verfall des Humanismus datiert seit der Zeit, wo man begonnen hat darauf zu verzichten. Man spricht heute viel 51

davon, der Unterricht müsse durch Literaturgeschichtsüberblicke und andere Zukost schmackhaft gemacht werden. Ich werde darauf noch ausführlicher zurückkommen. Ich glaube, das ist nur die Folge davon, daß die Schüler kein Latein und Griechisch mehr lernen. Wie sollen sie an dem Gestümper Freude haben, dessen Unzulänglichkeit sie selbst empfinden? Ich habe mir versichern lassen, daß man an einer strengen Schule noch die schwierigsten Texte ins Lateinische übertragen läßt und daß die jungen Leute große Freude daran haben. Es wird der Tag kommen, wo wir Universitätsprofessoren von unserem Katheder hinuntersteigen und mit den Studenten wieder lateinisch und griechisch sprechen und schreiben werden, weil ohne diese Voraussetzung all unsere höhere Wissenschaft ins Bodenlose gesäet wird. Es nützt nichts, die schönsten Turmspitzen und Ziergiebel auf ein Haus zu bauen, während man Stein auf Stein aus seinen Grundfesten herauszieht. Die neueren Lehrpläne widersprechen sich selbst in dieser Hinsicht. Eine sogenannte kulturgeschichtliche Vertiefung der Lektüre ohne sichere Beherrschung der Sprache bleibt eine Phrase, die das größte Unglück bringen muß. Das Erlernen der griechischen und lateinischen Sprache ist aber weit mehr als eine heilsame Denkgymnastik, es ist eine Geisteserziehung, wie sie durch keine moderne Sprache ersetzt werden kann. Die Farbigkeit und Plastik des sprachlichen Ausdrucks zu empfinden lernt man an der Fremdsprache und nicht an der Muttersprache, weil man nicht den geistigen Abstand von ihr hat, der zur gegenständlichen Erfassung solcher Erscheinungen nötig ist. Noch wichtiger ist aber die Inadäquatheit der bilderschaffenden Phantasie wie der Syntax und des Stils in den alten Sprachen und der heimischen, die den Übersetzer zwingt, den Gründen der Abweichung nachzuspüren und zur Sprachpsychologie führt, diesem feinsten und sichersten Organ geistiger Charakteristik. Die Mühe, sein Unterscheidungsvermögen so zu schärfen, daß sich ihm die letzten Abschattungen des Sinnes erschließen, ist der einzige Weg zur Form. Er muß also beschriften werden, um zum höchsten Ziele zu gelangen. Diese Art des Sprachstudiums, durch genaue Interpretation, ist die hohe Schule der Geisteswissenschaft, es ist aber auch ein Weg zur deutschen Sprache und ihrem bewußten Verständnis. Ein Sprachkenner wie Humboldt sah im Studium des Griechischen das Mittel, zum Bewußtsein „der Sprache überhaupt" zu kommen. Die Sprache ist das humanistische Bildungsmittel schlechthin, sie ist der Träger aller geistigen Bewegung. 52

Aber wie führt der Sprachunterricht auf das ihm übergeordnete Ziel hin, auf die Bildung des Menschen durch die Werke der schöpferischen Geister, die sich der Sprache bedient haben? Eine schwierige Frage ist besonders die nach dem Verhältnis des Griechischen zum Lateinischen. Wie die humanistische Wertschätzung der römischen Literatur auf ganz anderen Gründen beruht als die der griechischen, so sollten auch die Sprachen unterschiedlich behandelt werden. Das Griechische soll von vornherein auf die Lektüre eingestellt werden, der auf den Oberklassen eine größere Stundenzahl zur Verfügung gestellt werden muß als dem Lateinischen. Im Lateinischen aber muß neben der Lektüre die Einführung in das grammatische Denken als solches als ein selbständiger Zweck des Unterrichts erhalten bleiben. Auf den unteren Klassen ist ein strenger grammatischer Drill gar nicht zu entbehren. Die Gegner des grammatischen Unterrichts, die den formalen Bildungswert dieser Übung bestreiten, sind freilich schwer zu widerlegen, ebenso wie die Gegner des Ubersetzens in die Fremdsprache und der freien Stilübung. Man wendet gegen die lateinischen Scripta ein, sie seien nur ein mechanisches Zusammenstoppeln auswendig gelernter Phrasen, und die Einprägung einer bestimmten Phrase für einen entsprechenden deutschen Ausdruck wirke eher ertötend auf den sprachlichen Sinn als erweckend. Von dem herrschenden System ist das leider nicht zu leugnen, aber es sollte das Streben tüchtiger Sprachpädagogen sein, den Unterricht in der Grammatik vom Albdruck des Mechanischen überall, wo es möglich ist, zu befreien. Die eigentliche Bedeutung des Ubersetzens in die Fremdsprache liegt in der Anleitung zu selbständigem Hervorbringen und in dem Zwang zu logischer Verbindung der Gedanken, in der richtigen Verknüpfung der Sätze und in der Umwandlung deutscher Sätze in die geschlossenere Form der lateinischen Periode. Der Ausgangs- und Endpunkt muß stets das Verständnis der fremden Sprach- und Ausdrucksform sein, gleichviel ob in die Fremdsprache oder aus ihr in die deutsche Sprache übersetzt wird. Es muß vermieden werden, daß der Eindruck entsteht, als ob das mosaikartige Einsetzen mechanisch festgelegter deutscher Äquivalente für die fremdsprachlichen Ausdrücke schon ein Verstehen des fremden Idioms in seiner Individualität bedeute. Aber diese Gefahr ist beim Übersetzen ins Lateinische nicht größer als bei der Übertragung aus dem Lateinischen. Es ist die Klippe alles schulmäßigen Übersetzens überhaupt, und doch wird keiner deswegen diese einzig mögliche Kontrolle des Verständnisses 53

ganz abschaffen wollen. Aus diesem Grunde ist auch ein Scriptum als Übung so lange wünschenswert, als der grammatische Unterricht fortgesetztwird. Auch die Übung im Versifizieren sollte man nicht vollständig aufgeben. Die englischen Staatsmänner und geistigen Führer, die von jeher aus den weltberühmten Colleges von Eton und Harrow hervorgehen, und die mit ihrer alten Schule zeitlebens den engsten Zusammenhang bewahren und Kinder und Kindeskinder wieder dorthin schicken, lernen dort außer ihrem Sport eigentlich nichts anderes als selbständig hunderte lateinischer Verse machen und griechische und lateinische Klassiker lesen und auswendig behalten. Wir kennen die Leistungen dieser Männer und wir wissen, daß die Engländer nur dort konservativ sind, wo es sich bewährt hat. Der Gipfel der humanistischen Erziehung wird nach so strenger Zucht des Sprachverständnisses erreicht in der Anschauung jenes klaren starken Menschentums, jener Welt körpergewordenen Geistes, die die griechische Literatur umfaßt. Die griechische Lektüre auf den höheren Klassen muß diesen Eindruck für das ganze Leben dem jungen Menschen einprägen. Hier geht es nicht um die Klassenleistung, nicht um einen äußeren Rekord der Schularbeit; ein Mittlertum höherer Art wird hier dem Lehrer zuteil. Nicht kraft seines Amtes, dessen muß er sich stets bewußt bleiben, sondern kraft seines Charisma soll er der Führer seiner Schar werden. Nicht ob ein Schüler am schnellsten und geschicktesten griechische Verse übersetzt, gibt den Ausschlag, sondern höher noch soll man es achten, wenn man wahrnimmt, wie die Berührung mit jener Welt die Kräfte der Persönlichkeit in ihm in Bewegung bringt. Und sie bringt sie in tiefe Bewegung, denn was ihm hier entgegentritt, redet zu ihm eine noch nie gehörte Sprache. Es sind Gestalten, die mit einer so imponierenden Sicherheit auf ihren Füßen stehen, daß die innere Bewegtheit und Empfindungsfülle moderner Literaturschöpfungen, Tasso, Iphigenie, Faust, wie schwankende Wesen daneben erscheinen. Wann hätte man überhaupt jemals den Zorn des Achilleus, das Leiden und den Untergang der Antigone oder des ödipus als „Literatur" empfunden? Wenn wir das Größte vergleichen dürfen, was unser eigener Geistesbesitz darbietet, Goethe, so fühlen wir uns durch seine Werke stets in die glückliche Stimmung einer unendlich hohen und reinen persönlichen Lebens- und Bildungssphäre erhoben. An Homer und Sophokles, selbst an Plato denken wir überhaupt nicht persönlich, wenn wir unter dem strengen Eindruck ihrer 54

Kunst und ihres Gedankens stehen, und ein bloß ästhetisches Vergnügen kommt in uns nicht auf, weil sie unmittelbar unseren ganzen Menschen in Beschlag nehmen. Urphänomene hat man sie mit Recht genannt, weil sie die Formen all unseres geistigen Seins geprägt und zuerst entdeckt haben: Tragik, Komik, Theorie, Ekstase, Logos und Rhythmos verwandeln sich unter ihrer Hand zu objektiven geistigen Gebilden. Noch wesentlicher aber ist etwas anderes, das gleichfalls in dem Worte UrPhänomen mitklingt, das eigentlich „Klassische" an ihnen: daß sie diese Gebilde mit einer Kraft der Seele hinstellen, die aus einer nie wieder erreichten, unbeirrbaren Kraft der Natur und physischen Elastizität entspringt. So haben sie vermöge einer staunenswerten Vitalität die Spur von ihren kurzen Erdentagen mit einer Wucht des Erlebens ihrer Umwelt eingegraben wie kein Volk vor oder nach ihnen. Daß ihr Werk die Geschichte ihrer Zeit überragt und etwas von bleibender Gegenwärtigkeit behält, was auch die Menschheit Neues dazu bringen möge, hat hierin seinen letzten Grund. Was sie auch anfassen, es hat immer etwas Durchgreifendes und von den tiefsten Gründen Herkommendes, eben dadurch aber Befreiendes, wie es immer nur bei starken Naturen der Fall ist. Wie gewaltig ist schon der Unterschied ihrer geistigen und moralischen Konstitution von den soviel schwächeren Römern! Die Befreiung und Vereinfachung, die wir durch die großen Griechen erfahren, finden wir bei den Menschen der römischen Literatur nicht. Aber hier kommt uns jene beglückende persönliche Atmosphäre entgegengeflutet, die wir bereits im allgemeinen schilderten. In Horaz steht eine von außen so durchaus unzugängliche Welt vor uns, daß wir auf Schritt und Tritt an die Goethesche Weisheit erinnert werden: Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden, Was euch das Innre stört, Dürft ihr nicht leiden. Dringet es mächtig ein, Müssen wir tüchtig sein, Liebe nur Liebende Führet herein.

Es gehört noch immer zu den höchsten Auszeichnungen, die einem Menschen zuteil werden können, in den Kreis seltener Persönlichkeiten „eingeführt" zu werden, dem Horaz und Vergil und ihre bekannten Freunde angehörten. Die Entwicklung des Dichters Horaz vom Könner55

turn zum höchsten Menschentum ist das schönste Beispiel für das Wort Heraklits: . Schade, wenn die Horazstunden so häufig ins grob Diatribenhafte verfallen. Die Empfindlichkeit des Gegenstandes erfordert die höchste Zartheit menschlichen Verständnisses. In Vergil leuchtet schon viel von dem pathetischen Glanz des Romanentums auf; alles ist durchtränkt mit tiefer persönlicher Empfindung, mit einer dem Griechen fremden Süßigkeit, die wir später auf italienischen Bildern wiederfinden, und mit dem, war wir Modernen „Seele" nennen. Das hebt sich doppelt deutlich ab auf dem literarischen Hintergrund homerischer Reminiszenzen, der überall reizvoll durchschimmert. Ciceros Eigenstes, seine Stilkritik in De oratore und im Orator, ist der Jugend leider ziemlich unzugänglich, weil zu feinhörig und zu wenig anschaulich und unmittelbar, und seine Briefe sind zu schade, um sie nur wegen des historischen Inhalts zu lesen oder als corpus vile für die unbarmherzigen Moralurteile Siebzehnjähriger zu opfern. Ein geschichtlicher Held ist Cicero nicht, der zu Taten begeistert. Immer aber sollte von seiner allumfassenden genialen Sprachkunst den Schülern eine hinreichende Vorstellung gegeben werden. Statt der Tusculanen muß Seneca gelesen werden, der wie Tacitus eine erstaunlich vibrationsfähige Seele in einem neuen reichbewegten Stil spiegelt. Die bewußte Fähigkeit zum Leiden, zu der die Zeit diese Menschen erzogen hat, gibt dem Tacitus die Kraft zu psychologisch vertiefter Darstellung der Menschen und ihrer Schicksale, und dem Seneca zu einer völlig neuen Art, sich in dem geistigen Schutzgehäuse der Philosophie als Dauergast beschaulich einzurichten. Doch damit sind wir bereits bei der schwierigen Frage angelangt, was aus dem Kanon der Lektüre werden soll, und ob er in Zukunft seine Stellung behalten kann. Es geht nicht länger, daß große Teile der Werke Platos, der griechischen Tragödie, des Seneca, die in der Hand eines tüchtigen Interpreten Leben gewinnen können, der Jugend nur deshalb verschlossen bleiben, weil sie nicht zum Kanon gehören. Und wenn er zum Teil wirklich schon jetzt nicht mehr beachtet wird, wie ich weiß, so sollte er auch ganz verschwinden. Er hat seine Berechtigung dann doch verloren. Für Kontinuität und Vermeidung launenhafter Willkür sorgt am besten eine Fachkonferenz, die regelmäßig ihre Erfahrungen bespricht. Im übrigen sollte man der Neigung des einzelnen weiten Spielraum geben. Sobald aber der Kanon fällt, ist grundsätzliche Klarheit über den richtigen Geist der Lektüre erforderlich, da dieser auf die Art 56

der Auswahl von größtem Einfluß ist. In letzter Zeit ist dieses Problem mehrfach erörtert worden, und da hier entgegengesetzte Grundauffassungen sich gegenüberstehen, will ich die Stellung des Humanismus in dieser Frage so klar wie möglich zu umschreiben versuchen. Die moderne klassische Philologie hat den Kreis der Forschung weit hinaus über die Zahl der sogenannten Klassiker erweitert und mit einer gewissen Vorliebe die späteren Schriftsteller herangezogen. Sie war dazu als Wissenschaft verpflichtet, denn die Wissenschaft fragt nicht nur nach dem Werte, sondern zunächst einmal nach dem, was vorhanden ist. Es wäre ein unverzeihliches Verschulden, wenn sie nicht das zu Gebote stehende Material ausnutzte zum Zwecke der möglichst lückenlosen Erkenntnis. Aber es liegt darin die Gefahr für den Anfänger, der in die Nähe der Forschung kommt und sie bei der Arbeit sieht, daß er Kleines und Großes nicht mehr unterscheiden kann. Im Unterricht auf der Schule aber kommt gerade darauf alles an, das Gefühl der jungen Menschen für das Große und Schöne durch reine, ungeteilte Eindrücke zu stärken. Eine weitere Gefahr liegt in der ständigen Versuchung, in der wir als Philologen uns befinden, die neue kulturgeschichtliche und literaturgeschichtliche Methode unmittelbar auf die Schule zu verpflanzen und statt der großen Eindrücke weniger, aber ganzer Werke ein historisches Bild von der antiken Gesamtentwicklung zu geben, das als solches zwar interessant und lehrreich ist, aber doch etwas Sekundäres und Verstandesmäßiges bleibt. Ich will das an einem jüngst aufgestellten Plan zur ertragreicheren Ausgestaltung des altsprachlichen Unterrichts klar machen, der zu meiner Verwunderung im Kreise der Humanisten Anklang gefunden hat und mit einem Preise ausgezeichnet worden ist, ich meine die Abhandlung des Kunstschriftstellers A.Dresdner1. Ich führe sie nicht hier an, um gegen sie zu polemisieren, sondern nur um mich an ihr zu erläutern. Die Unvereinbarkeit unserer Ansichten schließt, wie ich glaube, jede Polemik von selbst aus. Allen Vorschlägen des neuen Reformplanes liegt die Unterscheidung von Inhalts- oder Sachwerten und formalen Werten zugrunde, wenn ich letzteren Ausdruck gebrauchen darf. So viel ich sehe, fehlt es in der Schrift Dresdners allerdings an einer positiven Bestimmung der Rolle, 1

A. Dresdner, Der Erlebniswert des Altertums und das Gymnasium, in: Neues Leben im altsprachlichen Unterricht, Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1918 S. 3—54.

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die der Sprache und der sprachlichen Form im humanistischen Unterricht zufällt, er drängt mit allem leidenschaftlichen Nachdruck darauf, daß der Schüler an die „Sachwerte" und an den Gehalt herangebracht werden solle, den er mit dem Begriff Inhalt synonym gebraucht. Seine Absicht in pädagogischer Hinsicht ist, den „Erlebniswert" des Altertums fruchtbar zu machen, der von ihm ganz oder fast ganz in dem Inhalt der Werke der Alten gesucht wird. Die Sprache ist nur ein Gefäß für diesen reichen und köstlichen Gehalt, sie soll eine bloße Gehilfenrolle übernehmen, nicht mehr wie bisher Selbstzweck sein. Alles kommt auf möglichst rasche Lektüre möglichst zusammenhängender Stücke an, der Lehrer soll alle Schwierigkeiten wegräumen, der Schüler nicht mehr sorgfältig interpretieren, sondern mehr instinktiv den Sinn erraten und so allmählich eine Art unsystematischer, rein praktischer Spracherfahrung erwerben, die ihn zu immer größerer Selbständigkeit und Aufnahmelust befähigt. Das Ziel ist, ein „Rundbild" von der ganzen antiken Literatur und Kultur zu geben, indem man etwa im Lateinischen außer den wenigen kanonischen Schriftstellern: Cicero, Sallust, Caesar, Livius, Tacitus, Vergil, Horaz, Ovid, möglichst reichliche Proben aus Plinius' Naturgeschichte und Cassiodors Variae, aus den Juristen Gaius und Papinian, aus der Patristik und aus Senecas Tragödien, aus Plautus und Terenz, aus Quintilians Rhetorik und Vitruvs Architekturbuch gibt. Der Gesichtspunkt, der für jeden dieser Vorschläge angeführt wird, ist fast regelmäßig die kulturgeschichtliche Nachwirkung auf die spätere Zeit oder die Möglichkeit (wie etwa bei Vitruvs Plan einer Städteanlage), zeitgemäße Fragen an die Lektüre anzuknüpfen. Plautusstücke dienen dazu, in die Geschichte der Lustspielmotive einzuführen, Senecas Tragödien finden „vielleicht" Interesse, weil sie auf die französische tragedie classique und auf Shakespeare gewirkt haben. Die römischen Juristen sollen nicht etwa in erster Linie gelesen werden, um die innere Größe des Römertums an ihren lapidaren Sätzen zu erkennen, sondern um die Fernwirkung des römischen Rechts an ihnen zu illustrieren. Ein weiterer Vorschlag zur Verlebendigung der Werke des Altertums will das Persönliche und Biographische mehr berücksichtigt wissen. Das Zeitkolorit soll stärker aufgetragen werden, wenn Cicero und Horaz gelesen werden. Ihre Schwächen sollen hervorgehoben, ihre Grenzen betont werden. Bei Horaz soll man die griechischen Vorbilder heranziehen, kurz überall die Lichter aufsetzen, die die neuere geschichtliche Literaturforschung 58

und Kulturwissenschaft verschwenderich über den großen Stoff verteilt hat. So soll die Kenntnis der alten Literatur eine Hermeneutik des kulturgeschichtlichen Lebens und zugleich der Gegenwartsprobleme werden. Das psychologische Mittel aber, um die Jugend an den Stoff heranzuführen, ist das Interessante, Moderne, Belehrende, das kritisch Bildende, die Übersicht, das angenehme Bewußtsein, einen schwindelerregenden Reichtum von Beziehungen und Anregungen wie im Fluge und ohne große Mühe eindrucksmäßig in sich aufzunehmen. Es ist mir zweifelhaft, ob eine humanistische Erziehung in denjenigen Schichten der menschlichen Seele ihre Wurzel haben kann, in denen diese Regungen zu Hause sind. Soll der Humanismus seinen hohen Namen mit Recht tragen, so kann es sich für ihn nicht darum handeln, den Anschluß an die innere Verfassung des heutigen Intelligenzmenschen zu suchen und mit dessen Augen das Altertum anzusehen. Auf solche Weise gelangt unsere Zeit nur zu einem Spiegelbilde ihrer eigenen unbefriedigten und ruhelosen Existenz, einer dünnen großstädtischen „Geistigkeit". Wenn die moderne Wissenschaft vom klassischen Altertum wirklich der humanistischen Schule nichts anderes zu geben hätte als diese Musterkarte der antiken Schriftsteller und ihrer „literarischen Beziehungen", so müßte ihr diese Erkenntnis der Anlaß zu ernster Selbstbesinnung werden. Denn dann wäre ihr ganzer historischer Farbenreichtum nichts weiter als eine glänzende Armut. An die Vertreter des starken, gesammelten Menschentums, das die große Zeit der griechischen Geschichte so hochhebt, an Homer, Sophokles und Aischylos, an Plato, an die Kunst des Parthenon kommen wir nur auf geistigem Wege heran, und eben darin liegt ihre erzieherische Kraft, daß sie uns von selbst auf diesen einzig gangbaren Weg bringen. Mit der Unterscheidung von Inhalt und sprachlichem Gefäß werden wir den Chören der Antigone oder der dialektischen Kunst der ödipustragödie nicht gerecht, und wer wollte im Gorgias oder im Phaidon des Plato die philosophischen „Ergebnisse" von der dichterischen Form loslösen oder die Sprache des Phaidros als den dienenden Ausdruck der Gedanken begreifen? Um in den Geist der Form eines Werkes einzudringen, halte ich es zunächst für unerläßlich, seine Wirkung aus einer flüchtigen, einmaligen Vision zu einem Bilde zu verdichten, das immer mit uns geht. Unser ganzes poetisches Empfindungsvermögen z. B. wird zeitlebens bestimmt durch Formeindrücke, die wir früh in unser Gedächtnis aufgenommen 59

haben und die innerlich mit uns völlig verschmolzen sind: die Sprache der Bibel, die einfältigen Rhythmen des Märchens, Kinderverse von Claudius, dann Goethescfae Lieder, vielleicht durch Schuberts Musik erst ganz erschlossen. Die Schule kann hier furchtbar sündigen; durch das Lernen schlechter Verse von minderwertigen „Dichtern", die man um des Inhalts willen den Kindern vorsetzt, werden ganze Scharen Empfänglicher gegen alle wahren und einfachen dichterischen Eindrücke für immer immunisiert. Wir sollten, solange das Gedächtnis aufnahmefähig ist, also namentlich in den mittleren Klassen, möglichst viele griechische und lateinische Verse auswendig lernen lassen, am liebsten einen ganzen Gesang Homers, und keinen Zeitverlust scheuen, den Vortrag der Verse zu üben, bis im stockigen und steifen Innern das Eis gebrochen ist und die Empfindung in Fluß kommt. Ich weiß, daß dies oft schwerer ist als richtige Wort- und Sachbemerkungen zu den Einzelheiten zu geben, viel kommt auf die Fähigkeit des Lehrers selbst dabei an. Wie mancher Lehrer möchte einen sophokleischen Chor gut vorsprechen und kann es selber nicht. Er kann trotzdem ein guter Erzieher sein, aber wir müssen es doch zu erreichen versuchen, und die Universität muß hier mit Macht einsetzen, um das Gefühl dafür zu wecken. Dies ist um so wichtiger, als es das einzige wirksame Mittel bleibt, um den künstlerischen Gesamteindruck aus einem Menschen in den anderen hinüberzuleiten und nach der Zerteilung des Gegenstandes in Einzelerklärungen ihn plastisch wieder aufzubauen. Wer so den Rhythmus Homers in sich aufgenommen und verarbeitet hat, tritt überdies ganz anders geschmeidigt an die strengere und unnahbarere Kunst der Tragiker heran, und wer es an der Poesie gelernt hat, wird schließlich vielleicht auch für die fast unmerklichen Feinheiten guter Prosa hörend und sehend. Eine heikle Frage, die nur dem Takte lösbar ist, bleibt die Heranziehung des Zeitgeschichtlichen. Es ist bei jedem großen Dichtwerk höchstes Gesetz, es möglichst durch seine absolute Kraft wirken zu lassen, also gerade nur so viel Persönliches und Zeitgeschichtliches zu geben, als notwendig ist, um die nicht mehr lebendigen Einzelzüge verstehen zu lehren. Es macht naturgemäß einen Unterschied, ob ich einen Chor aus der Tragödie oder eine Satire des Horaz lese, die von persönlichen Anspielungen strotzt. Das Hauptinteresse sollte sich, um bei dem Beispiel der Tragödie zu bleiben, der plastischen Entfaltung des Werks zuwenden. Die Kunst des Dichters rein als Kunst zu verstehen, erfordert freilich

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«ine Art der Beobachtung, die man in den meist textkritisdien Seminaren unserer Universitäten bisher selten oder nie lernen konnte, ein gutes Kolleg aber gleitet viel zu rasch vorüber, und es ist für den weniger Geübten kaum möglich, darin sofort das Prinzipielle der Betrachtungsweise zu erfassen. Also wird man nicht nur eine neue Art von Kommentar brauchen, sondern muß auch im Universitätsstudium den Versuch machen, neben textkritischen und metrischen Übungen solche im zusammenhängenden Erklären größerer Werke zu halten, wo man sich bei den Einzelheiten nicht zu lange aufhalten dürfte, um zu den tieferen Problemen der Gesamtgestaltung zu gelangen. Ansätze dazu sind im Unterricht wie in der Literatur zwar bereits vorhanden, aber sie bedürfen der allgemeineren Beachtung und Entwicklung. Das Problem der Erklärung von Kunstwerken ist die eigentlich entscheidende Frage für den höheren Unterricht, der wir unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Der richtige Weg zwischen bloßer Kleinarbeit, die kurzsichtig macht für das Ganze, phrasenhaften Allgemeinheiten schönrednerischer Art und ganz primitiver Inhaltsbetrachtung ist schon deshalb so schwierig, weil er einfach und einleuchtend sein muß, um für die Erziehung der Jugend überhaupt in Frage zu kommen, denn sogenannte reine Formfragen finden wenig Anklang bei ihr. Um uns auf diesem Gebiet kurz und treffend mitzuteilen, dazu fehlt es der philologischen Sprache, die sonst so prägnant und scharf sein kann, noch sehr an Ausdrucksmöglichkeiten, ja auch der Beobachtung fehlt es oft am sicheren Blick für das Wesentliche. Sprachliche Werke sind uns immer noch zu sehr bloß eine lange Reihe von Sätzen oder Versen, und so pflegt auch die Erklärung von Einzelheit zu Einzelheit fortzuschreiten, nur ab und zu unterbrochen durch Inhaltsangaben oder Dispositionsversuche sehr ungeschickter Art. Man würde sich wundern, wenn ein Kenner von Bildern vor einem Stück von Rubens oder Mantegna so hilflos dastände. Und doch verhilft erst die Einsicht in die innere Notwendigkeit des Schönen einem Werk zur tieferen, ich möchte sagen sittlichen Wirkung auf unser Inneres. Wenn Sophokles von des goldenen Tages Wimper spricht, so ist es unrichtig zu sagen: hier wendet der Dichter die und die rhetorische Figur an. Diese Erklärung macht ihn zu einer Maschine, die mit Verstand nach Regeln arbeitet, und sie läßt nicht ahnen, welcher unmittelbare anschauliche Akt der Phantasie das Bild in seiner Seele hat aufsteigen lassen, ohne daß er dazu in den 61

Zettelkasten der Figurenlehre zu greifen brauchte. Ich weiß, ich sage damit gar nichts Neues, aber was uns hier im Kleinen geläufig ist, muß es auch im Großen werden. Aber da fällt es uns sauer, ein als Ganzes vom Dichter Geschautes wirklich körperhaft zu sehen. Glücklicherweise wirken die Gestalten des Homer oder Sophokles durch ihre eigene Monumentalität und Einfachheit so stark, daß sich manche pädagogischen Blößen dahinter verbergen können. Aber auch im Homer bedarf es des Interpreten. Die Architektur des Epos ist freilich so fein und gegliedert, daß sie schwer zu übersehen ist, wenn man es noch nicht ganz kennt. Aber ein brauchbarer Interpret ist angesichts so allgemein menschlicher Dinge, wie sie hier mit einer in Sehnähe gerückten Deutlichkeit vor unseren Blick treten, schließlich auch schon das naivste Gefühl für die Schönheit dieser Bilder. Ein sonst sehr seltsamer und pedantischer alter Lehrer, der plötzlich das Buch aus der Hand legte und wie verzückt ausrief: seht, das purpurne Meer! weil er sein Leuchten innerlich erblickte, hatte mit einem Schlag die Kraft erhalten, dieses große, befreiende, urmenschliche Gefühl seinen spottlustigen Buben für ihr ganzes Leben unauslöschlich schön in die Seele zu graben. Nicht den Dichter oder das Ästhetische sucht der rechte Führer durch den Homer, sondern jene einfache und doch ewig bedeutsame Welt, in der das uranfängliche Meer unaufhörlich an seine Ufer schlägt, in der die Sonne täglich purpurn heraufsteigt und doch ewig neu ist und schön, wo es des Menschen unruhiges Herz in die Ferne zieht aus Sehnsucht ins Unbekannte und er doch am Heimweh vergeht, und wo er den Helden vorzeitig treibt in Sieg und Tod. Und ebenso bleibt Plato, nicht nur für die Schule, nein für uns alle, nicht ein zeitlich begrenzter Vertreter einer philosophischen Partei, sondern der Philosoph, der Führer zur Philosophie, weil er nirgendwo eine bloße Lehre vorträgt, und weil er das, was an dem philosophischen Erkenntnistriebe urmenschlich und unausrottbar ist, in unvergeßlichen Bildern vor das Auge hinstellt, als erlebte man noch einmal mit ihm die größte Zeit hochgestimmten Geisteslebens, welche die Geschichte kennt, und den Zauber ihrer originalen Persönlichkeiten und Fragestellungen. Auch der schlechteste Lehrer kann das nicht völlig verderben. Die humanistische Schule ist in ihrer Doppelseitigkeit, einerseits als Anschauung der höchsten menschlichen Werte in ihrer großartigsten geschichtlichen Erscheinungsform, andererseits als strenge Disziplin des 62

Denkens und Willens durch die alten Sprachen, das Kernstück des Erziehungswesens der abendländischen Kulturvölker. In dem Besitz der sprachlichen Disziplin liegt der unbedingte Vorzug dieses Systems vor dem modernen Versuche, den Menschenerziehungsgedanken zwar von den Griechen zu übernehmen, aber nicht seine griechische Erscheinungsform in Sprache, Kunst und Literatur, sondern diese Gegenstände durch unsere eigene nationale Literatur und Kulturgeschichte zu ersetzen. Ich gehe hier auf die schwierige Frage nicht ein, ob sich eine Originalschöpfung wie die hellenische von ihrer geschichtlichen Erscheinungsform überhaupt loslösen und in andere, völlig verschiedene Verhältnisse abstrakt übertragen läßt. Meiner Überzeugung nach wird das Recht und die Aufgabe, den ewigen Gedanken der reinen Menschenbildung den Völkern einzuprägen, in alle Zukunft den Erfindern dieses Gedankens gewahrt bleiben. Denn auch die Geschichte kennt eine Art Urheberschutz: er beruht auf der Unnachahmlichkeit aller echten Originalität. Und das Entscheidende ist doch, daß die Griechen den Gedanken der reinen Erziehung nicht erst hinterher gefaßt und auf ihre Kultur „angewandt" haben, sondern daß er ihnen aus der geschlossenen Form und einheitlichen Richtung ihrer Kultur von selbst entgegensprang. So etwas läßt sich niemals machen. Wir müssen es dankbar so nehmen, wie es uns gegeben wird. Aber wenn man auch wirklich den Versuch macht, junge Leute ausschließlich oder vorwiegend durch unsere deutsche klassische Literatur und durch die Betrachtung der Kultur und Kunst des deutschen Mittelalters menschlich zu erziehen, so bleibt es doch notwendig eine hinter der Denkschule der alten Sprachen zurückstehende, mehr ästhetische Form der Bildung, die als Vorschule für das Studium der Wissenschaft nicht voll genügen kann. Der Vorzug des Humanismus gegenüber der bloßen Berufsausbildung andererseits braucht nicht erst geschildert zu werden, denn deren Einseitigkeit soll er ja eben nach der Meinung der Griechen überwinden. Freilich ist anzuerkennen, daß die Technik des heutigen Berufslebens so viel schwieriger geworden ist als bei den Alten, daß wir ohne eine auf exakt wissenschaftlicher Grundlage ruhende realistische oder richtiger gesagt Berufsschule nicht auskommen. Es muß in diese Berufsschule so viel Humanismus hinübergerettet werden wie möglich, vor allem muß im Technischen das Wissenschaftliche mit aller Kraft hervorgehoben werden. Die Realschule hat daher zur natürlichen Grundlage das natur63

wissenschaftliche Weltbild und die Mathematik, beides wesentliche Bestandteile des modernen Denkens, sie ist insofern ein ganz eigener Typus. Hinzu kommt die Beschäftigung mit den modernen Sprachen. Aber da die geistbildende Wirkung der französischen und englischen Literatur so wenig wie die der deutschen jemals zur Dominante einer aus dem Gedanken der Berufsausbildung entsprungenen Schule werden kann, so bleibt die realistische Bildung im wesentlichen vemunftmäßig und fachwissenschaftlich. Sie ist so der typische Ausdruck der modernen Kultur mit ihrem Überwiegen der Zivilisation, der Berufs- und Arbeitsteilung, des fachmännischen Leistungsprinzips und des Rationalismus. Die humanistische Erziehung übernimmt von diesem Rationalismus die Leistung, das moderne Weltbild, aber nicht den Geist. Der Geist der bloßen Verstandeserkenntnis ist dem Humanismus fremd, so hoch er die Kultur des Denkens als solche auch bewertet. Sein Ziel ist und bleibt ein überwissenschaftliches, weil die Wissenschaft, vor allem die sogenannte exakte Wissenschaft, nicht der ganze Mensch ist. Die moderne Wissenschaft erscheint ihm als ein wundervolles Mittel; aber alle derartigen Wunderwerkzeuge sind zugleich gefährlich. Soweit die Wissenschaft nur ordnende und analysierende, nicht wertschaffende Kraft ist, kann sie uns nur Mittel sein. Erst wo sie durch die Natur ihres Gegenstandes oder durch die Macht persönlicher Kräfte an die Grenzen höherer Erlebnisse streift, erst da ist sie selbst , wie Plato sie verstanden wissen will. Aus diesem Grunde muß mit aller Entschiedenheit betont werden, daß der humanistische Geist, wo er herrscht, jede Selbstherrlichkeit der Einzelfächer a limine ausschließt. Die Schule ist keine moderne Universität im Kleinen. Das Ideal ist nicht eine lockere Zusammenstellung möglichst vervollkommneter Spezialfächer. Alle Fächer bedürfen strenger Einordnung in das Ganze. Nicht der wissenschaftliche Stoff ist Selbstzweck, sondern der erzieherische Zielgedanke des Humanismus. Das hindert die Einzelfächer nicht, ihre Eigenart zu wahren, es zwingt sie nur, das Wesentliche herauszuholen und den Stoff zu überwinden, im Geschichtsunterricht z.B. brauchen wir zunächst eine feste Grundlage der Tatsachenkenntnis; darauf baut sich dann eine strenge historische Durchdenkung des Stoffs auf. Nicht die Modernität der Ereignisse soll den Ausschlag bei der Auswahl des Stoffes geben, sondern die Bedeutsamkeit des Stoffs für die Veranschaulichung der wirkenden geschichtlichen Kräfte und Formen. Damit rückt die Geschichte der Griechen und 64

Römer mit ihrer grandiosen Typik in eine Hauptstelle ein; damit haben wir zugleich aber auch ein Prinzip für die richtige Auswahl und Einordnung der nationalen Geschichte gewonnen, die zum Teil schauerlich mißhandelt worden ist. Die deutsche Geschichte soll kein Museum vaterländischer Altertümer sein, sondern eine Quelle nationaler Selbsterkenntnis. Im mathematischen Unterricht und in der Körperausbildung scheidet sich die humanistische Auffassung von der bloß praktischen so vorbildlich scharf, daß ich besser tue, Bekanntes nicht zu wiederholen. Daß der deutsche Unterricht durch den humanistischen Gedanken ein anderes Gesicht erhält als auf den anderen Schulen, ist ebenfalls selbstverständlich. Ein schweres Problem ist der Religionsunterricht, den ich zwar in seiner jetzt meist üblichen Form als unhaltbar ansehe, den ich mich aber nicht für berechtigt halte durch von außen kommende Gesichtspunkte zu verweltlichen. Humanismus und Religion können wohl in einer Menschenseele beieinander wohnen, nicht aber sich restlos einander unterordnen, ohne sich gegenseitig in ihrem innersten Wesen aufzuheben. Deshalb kann es keinen humanistischen Religionsunterricht geben, so wenig ich mir einen dogmatisch für immer festgelegten christlichen Humanismus vorstellen kann. Die Symbiose von Humanismus und Religionslehre in der Schule anderseits ist eine praktische Frage, die notwendig eine innere Lösung finden muß. Denn das Christentum ist ein notwendiger Bestandteil unseres Lebens. Antike und Christentum sind die beiden welthistorischen Mächte, die sich auf dem Boden unseres Volkstums zu einem Ganzen verbunden haben. Das hier umrissene humanistische Erziehungsbild ist in sich selbst begründet und hat seinen Zweck in sich. Es kann nicht einfach in die riesige Maschinerie eingeordnet werden, die die moderne Pädagogik aus unserem Erziehungswesen machen möchte. Das Gymnasium ist keine spezialistische Vorbereitungsanstalt zum Studium der historisch-philologischen Fächer, obwohl es hierzu der einzig geeignete Weg ist, sondern die Menschenbildung bleibt seine wesenhafte Aufgabe. Auswirken kann sie sich erst im Leben durch den Geist, den sie dem Menschen von Rindesbeinen an einprägt, der aber erst durch spätere Erfahrung sich bewahrheitet. Sollte die innere Notwendigkeit unserer Ablehnung des Berufsgedankens als Halsstarrigkeit ausgelegt werden und in dem Zwecksystem der neuen Erziehungsorganisation für den rein humanistischen Gedanken 65 5 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

kein Platz sein, so wird er abseits dieser Organisation in der Stille weiterleben und seine Kräfte werden ihr verloren gehen, denn daß er leben wird, mit oder ohne Staatsschule, daran zweifeln wir nicht. Aber wir wollen die allenthalben drohende Nivellierung und die Abkehr wertvoller geistiger Kräfte von der Zivilisation nicht noch unterstützen, sondern jeder dazu helfen, den starren Mechanismus zu lockern und mit einem Hauche des humanistischen Sinnes für das organische Ganze zu durchdringen. Dann aber gebe man uns auch das Recht der freien Entfaltung unseres Gedankens. Nur nach seiner inneren Bestimmung kann der Aufbau des Gymnasiums geregelt werden, nicht nach äußerlichen Organisations- und Anschlußmöglichkeiten. Soll zum Schluß ein Leitsatz aufgestellt werden für die äußere Gestaltung der humanistischen Schule, so müssen wir zuerst gestehen, daß auch durch die Gewährung eines Bildungsweges mit neunjährigem Lateinunterricht und sechsjährigem Unterricht im Griechischen noch durchaus keine Sicherheit dafür gegeben ist, daß das ideale Ziel des Humanismus in Wirklichkeit erreicht wird. Bisher haben wir diese Zeit zur Verfügung gehabt, trotzdem sind die Leistungen fast in jeder Hinsicht zurückgegangen, und der herrschende Zustand ist keineswegs irreformabel. Aber dies ist wesentlich eine Frage der Schüler- und Lehrerauslese und zum guten Teil auch der Lehrerbildung, die bei dieser Betrachtung zunächst ausscheiden mußte. Es handelt sich für uns noch gar nicht um die praktische Verwirklichung des Humanismus, sondern um seine Möglichkeit. Mit Gewißheit läßt sich nur eins sagen, daß die sechsjährige Reformanstalt nach Frankfurter Muster zwar unter den besonderen sozialen Voraussetzungen, unter denen sie arbeitet, Vorzügliches leistet, daß sie sich aber schwerlich zur Norm für beliebige andere Verhältnisse verallgemeinern läßt. Man sollte deshalb, wo auf dem Lande kleinere Schulen in kombinierte Anstalten umgewandelt werden müssen, nicht einfach den sechsjährigen Typus für die humanistische Abteilung durchführen, sondern möglichst früh Gelegenheit zur Einführung in das Lateinische geben. Die Hauptsache ist aber die Erhaltung einer nicht zu kleinen Zahl der alten Schulen (und zwar in ihrem jetzigen Aufbau), die auf eine geschichtliche Tradition von Jahrhunderten zurückblicken und als Pflegestätten humanistischen Wesens einen Namen haben. Auf diesen Schulen muß der humanistische Gedanke, getragen von starken Rektorenpersönlichkeiten und von einer auserlesenen Lehrerschaft, wieder in seine alles

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beherrschende Stellung eingesetzt werden. Was er an äußerer Ausdehnung seines Gebietes einbüßt, muß der Humanismus durch intensivere Pflege und Ausprägung seines Geistes an diesen Zentren wieder einbringen. Es kommt nicht auf die Zahl, sondern auf die Triebkräfte der ausgestreuten Samenkörner an. Es ist das Verhängnis des Gymnasiums gewesen, daß es durch seine lange Vorherrschaft zur Schule einer immer breiteren Allgemeinheit geworden war, während es seinem Wesen nach nur den Besten das zu geben imstande ist, was es zu geben hat. Es hat niemals so viele Träger wahrhaft humanistischen Geistes gegeben, als das Gymnasium Lehrer brauchte und Schüler zuließ. Wir hoffen auf seine Wiedergeburt aus dem Geiste des echten Humanismus, damit diese Form schaffende und Menschen bildende Kraft von neuem ausstrahlen möge auf das ganze Leben des deutschen Volkes. Wir hoffen, daß aus unserer Jugend dort Führer erwachsen, die weder zu bloßen Gelehrten und Buchmenschen, noch zu Technikern und Spezialisten, noch zu Literaten und Ästheten gezüchtet sind, sondern erzogen zur Sicherheit im Stehen, Sehen und Gehen, jener höchsten Stärke des Griechentums, zu klarem Urteilen und Denken, zur Erkenntnis des Allgemeinen im Besonderen und des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen, zum Wollen gerechter und uneigennütziger Ziele, zu denen ein ganzes Volk gemeinschaftlich aufblicken kann, und zum Glauben an die unzerstörbare Macht des Geistes.

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Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart (1923) Der Anlaß des heutigen Tages, die Jahresversammlung der Freunde der Christian Albrechts-Universität, legt es nahe, sich allgemeinen Gedanken über Gegenwartsstellung und Zukunftsaufgaben der Universität hinzugeben. Auf tiefste ist sie mit dem allgemeinen Lebensprozeß des deutschen Volkes verwachsen, sowohl durch die ruhmreiche Geschichte ihrer vielhundertjährigen Kulturarbeit wie durch das geistige und praktische Bedürfnis der Gegenwart, und so ist es nicht anders denkbar, als daß auch sie in das furchtbare Schicksal unserer Nation, das nun schon seit Jahren mit unentrinnbarer Logik seinen Gang vollendet, mit hineingerissen ist. Auch dieser hochragende Pfeiler unserer Existenz zittert heute mit dem Ganzen des Staatsbaues bis in die Fundamente. Die besonderen Interessen der einzelnen Universitäten treten diesem Schicksal gegenüber zurück hinter der Frage: Was wird aus der deutschen Universität überhaupt? Ich fühle mich nicht berufen, über so grundlegende Probleme wie die finanzielle Sicherung unsrer Hochschulen mitzureden, auf der in einer Zeit, in der die Wissenschaft nur zum allergeringsten Teil noch ohne kostspielige Hilfsmittel aufrechtzuerhalten ist, die Möglichkeit eines geordneten Betriebes der Forschung und Lehre beruht. Erschreckende, alarmierende Nachrichten über Abbau einzelner Lehrstellen, sogar ganzer Universitäten gehen ein. Man kann gewissenhafterweise heute nicht in eine Erörterung dieser Dinge eintreten, da vorläufig sichere Anhaltspunkte noch fehlen. Ein schematischer Abbau der Lehrstellen würde ganze Wissenschaften, die heute blühendes Leben sind, veröden lassen, schon weil kein Nachwuchs sich mehr einstellen würde, wenn die Aussicht schwindet, in dem Fach eine Lebensstellung zu finden. Denn damit würde die heilsame Konkurrenz wegfallen und die Qualität sinken: der zuletzt Übrigbleibende, der es pekuniär aushält, behält das Feld. — Von anderen Nöten wüßte ich schon zu reden, von der Schwierigkeit der Beschaffung der nötigsten Lehrmittel, der Bücher, Apparate,

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Präparate, Karten, von Raumnot, Kohlennot, vom Elend der Proletarisierung der Professoren und Studenten. Das Werkstudententum, sittlich eine der erfreulidisten Erscheinungen, ist doch vom Standpunkt der Wissenschaft auch ein tragisches Kapitel. Von all diesen wirtschaftlichen Nöten wollen wir heute schweigen. Sie sind ja nur allzu bekannt. Wir wenden uns den nicht geringeren inneren Schwierigkeiten zu, die der Universität aus der geistigen Situation erwachsen, in der sie sich befindet. Bange Fragen drängen sich uns auch und gerade hier auf: wird sich die Universität in den immer dringender werdenden sogenannten Forderungen des Tages verlieren, in dem begreiflichen Streben, überall auch da zu helfen und zu führen, wo es nicht ihres Amtes ist, oder hat sie auch etwas zu behaupten, was wesentlicher und wichtiger ist als alle Tagesnöte? Wird der tagespolitische Streit um ihre Anpassung an die Lebensformen einer veränderten Zeit mehr sein als eine kurze Episode? Die Gegner aller Wissenschaft und Tradition pflegen der Universität vorzuwerfen, sie sei so unmodern. Wir können das mit Bezug auf die äußere Form der Universitätsorganisation bis zu einem gewissen Grade zugeben. Die Sache hat ihre großen Nachteile wie ihre augenfälligen Vorteile. Aber die Substanz der Universität und der Wissenschaft ist sicherlich durchaus das Produkt der geistigen Entwicklung unsrer Zeit. Sie ist der getreue Ausdruck unsrer geistigen Gegenwartslage, und so teilt sie auch die Vorzüge und die Schwächen des Zeitgeistes. Wir wollen deshalb nicht versuchen, die Zeitgemäßheit der Hochschule zu beweisen, was immer ein verfehltes Unternehmen ist, da es stets Menschen gibt, für die das Moderne schon wieder unmodern ist, sondern wir wollen vom bleibenden Wesen der Universität reden, dessen Forderungen niemals bloß modern sein können, weil sie dauernd sind. Die ungeheuerste Wandlung hat sich im 19. Jahrhundert im Verhältnis der Universität zum praktischen Leben vollzogen. Die ältere Universität, wie sie noch in der Zeit der Vorherrschaft des deutschen Idealismus war, die Universität Kants, Fichtes, Schellings und Hegels, unterschied sich darin nicht wesentlich von der Universität des Mittelalters und der Humanistenzeit, daß sie ihr Schwergewicht in der gelehrten Tradition und ihre vornehmste Aufgabe in der Entfaltung theologischer, juristischer und philosophischer Ideen hatte. Selbst die Medizin stand bis tief ins 18. Jahrhundert noch stark im Zeichen der antiken Lehrtradition. Unter 69

den großen Geistestaten des 16. Jahrhunderts war es die Begründung der modernen Naturwissenschaft, das Werk Keplers und Galileis, das in seinen weiteren Auswirkungen den gesamten Geist der Universität verändern und ihren Zusammenhang mit dem Leben auf eine neue Grundlage stellen sollte. Es liegt meiner Aufgabe ebenso fern wie es meine Kompetenz überschritte, den Aufstieg der Naturerkenntnis von Galilei über Newton zur modernen Physik, Astronomie und Chemie in seinen einzelnen Epochen zu schildern. Die Rückwirkung der theoretischen Entdeckungen auf das Erfindertum ist jedem Laien heute vertraut, und als einer der gewaltigsten Triumphe des Menschenwitzes über die Natur ist die reißende Entwicklung der Technik und Industrie im verflossenen letzten Drittel des 19. Jahrhunderts genug gepriesen worden. Die technische Zivilisation der ganzen Welt ruht auf der theoretischen Naturwissenschaft und ist vom Fortschritt der theoretischen Erkenntnis dauernd abhängig, ja die Technik ist selbst Wissenschaft geworden und hat sich in der technischen Hochschule eine Art eigener Universität geschaffen. Die Trennung der technischen Hochschule, die naturgemäß ihren Blick in erster Linie der Praxis zuwenden muß, von der alten Universität hat es "verhütet, daß die alten Fakultäten zum bloßen Anhängsel der Naturwissenschaft und Technik wurden. Ohne die Trennung hätten wir heute keine Universität mehr oder richtiger: wir hätten die Sezession der Geisteswissenschaften und die Gründung platonischer Akademien und kirchlicher Seminare. Die rein naturwissenschaftlichtechnische Universität, die dann zurückgeblieben wäre, hat weitesten Kreisen jahrzehntelang ausgesprochenermaßen oder im Stillen als Ideal vorgeschwebt. Sie wäre eine Reindarstellung des wichtigsten Beitrages gewesen, den das gegenwärtige Zeitalter zur Geschichte der Universität geliefert hat. Zweifellos wäre sie, darin stimmen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft heute überein, trotz der ungeheuren Vitalität der in ihr wirksamen zivilisatorischen Kräfte nicht mehr eine Repräsentation unserer geistigen Kultur im ganzen gewesen. Aber der Torso hätte eine Tatsache der Universitätsgeschichte wahrheitsgemäß zum Ausdruck gebracht, die dadurch nichts an Bedeutung verliert, daß jene Entwicklung äußerlich nicht zum Ziel gelangt ist: wir können sie in den Satz zusammenfassen, daß es in der Geschichte der Wissenschaft und der Universität niemals eine Zeit gegeben hat, in der sie so eng und unauflöslich mit dem praktischen Leben bis in seine letzten und elementarsten Ein-

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zelheiten zusammengehangen hat wie heute. Dieser Zusammenhang beruht wesentlich auf Naturwissenschaft, Medizin und Technik. Es kommt aber noch eine wichtige Größe hinzu, diesen Ring enger zu schmieden. Das ist die Wirtschaftswissenschaft. Wir haben bisher keine selbständigen Hochschulen für Sozialökonomie in Deutschland, und auf unsern Universitäten haftet dieser Wissenschaft im Betriebe wie im äußeren Ansehen noch etwas von der Art des Neulings an, aber eines Neulings, der viel von sich reden macht und der nicht mehr zu übersehen ist. Während die Methodologen sich noch darüber streiten, ob die Sozialökonomie dem geisteswissenschaftlichen oder dem naturwissenschaftlichen Typus näher steht, und ob sie überhaupt eine Wissenschaft ist, steht eine so wenig zu umgehende Tatsache wie das Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft in Kiel da und machen die Sozialökonomen den Hauptprozentsatz der Immatrikulationen in der Berliner philosophischen Fakultät aus. Wenn auch die wirtschaftliche Praxis der neuen Wirtschaftswissenschaft ganz anders gegenübersteht als die Technik der Naturwissenschaft, weil das Objekt des Sozialökonomen ein individuelles, minder strengen Gesetzen unterliegendes ist und der Abstand der Praxis von der Theorie hier daher besonders fühlbar wird, so ist doch das Bedürfnis nach theoretisch durchgebildeten Wirtschaftern in dem letzten Jahrzehnt ungeheuer gewachsen. Der Andrang zum Ökonomiestudium beweist dies um so deutlicher, als mit dem vielumstrittenen Dr. rer. pol., dem jetzt normalen Abschluß dieses Studiengangs, keinerlei äußere Berechtigungen verknüpft sind. Mit der Wirtschaftswissenschaft hat auch der nächst der Technik beherrschende Teil des modernen Lebens seinen Einzug in die Universität gehalten. Nun hat aber die unmittelbare Bedeutung der Wissenschaft für das Leben eine gefährliche Kehrseite, die im Fall der Sozialwissenschaft besonders klar zutage tritt. Das Leben empfängt nicht bloß von der Universität, es stellt auch seinerseits immer weitergehende Forderungen an sie. Es sieht in ihr das Instrument seiner praktischen Bedürfnisse und empfindet eine jede wissenschaftliche Betätigung rein theoretischer Art als unzeitgemäß und überflüssig. Als Maßstab für die Fruchtbarkeit des Wissens und Forschens gilt oft schon nur noch seine Lebensnähe und seine Anwendbarkeit, und es herrscht die Neigung weithin, ich meine natürlich nicht in Universitätskreisen, aber in der öffentlichen Meinung, die Universität als den Ort anzusehen, wo die Mittel für die Kultur 71

der Gegenwart bereitgestellt und lebendige Werkzeuge für sie abgerichtet werden, die wie Schrauben und Räder im Mechanismus des Ganzen funktionieren sollen. Und wie unser Leben zwar nicht von wirklichen Ideen geleitet, aber durch und durch theoretisiert ist, so steht die moderne Universität im Begriffe, die Zentralstelle für die Theoretisierung des gegenwärtigen Lebens zu werden, mit dem Akzent auf dem Gegenwärtigen, nicht auf dem Wissenschaftlichen. Schon ruft man Männer der Praxis ohne theoretische Schulung zu Gastvorlesungen an die Universität, die dort natürlich nicht über ihre Praxis reden, sondern schlechte Theorie und Dilettantentum einführen, weil über Praxis auf die Dauer nicht viel zu sagen ist, vielmehr dort alles auf das Können ankommt. Das Übel, das man vertreiben will, das Vielzuviel an Theorie im heutigen Leben, wird bloß vergrößert, wenn man auch noch das praktische Leben, den Mann der Tat aufs Katheder stellt und theoretisieren läßt. Dem Deutschen erscheint keine Theorie zu hoch und zu schwierig, als daß man sie nicht studieren sollte, bevor man es mit dem Leben selbst probiert. Die Universität kommt durch diese fortschreitende Theoretisierung unseres ganzen Lebens und die Hineintragung seiner praktischen Bedürfnisse in die Hochschule in die schwierigste Antinomie. Je mehr sie diese Bedürfnisse befriedigt, desto mehr wird sie dem Ideal der strengen Wissenschaft untreu, und je ernster sie ein Gebiet theoretisch ausbaut, je tiefer sie es ausschürft, desto weiter lenkt sie den Menschen der reinen Praxis von seiner Aufgabe ab. Besonders deutlich ist das an der Forderung weiter Kreise der Volksschullehrer nach akademischer Ausbildung, die in einigen deutschen Staaten bereits eingeführt ist, während die Frage in Preußen noch nicht geregelt ist. Entweder wird durch die Masse der einströmenden neuen Elemente, die zu echtem wissenschaftlichem Studium in der kurzen ihnen zur Verfügung stehenden Zeit nicht kommen können, das Niveau des akademischen Unterrichts gesenkt, oder die Wissenschaft erweist sich mit ihren in der Sache selbst begründeten Anforderungen als die stärkere, dann lenkt sie die künftigen Volkserzieher unfehlbar von ihrer wahren Aufgabe ab. Das Maß der für die Volksschule notwendigen Kenntnisse erheischt keine fachliche Vorbildung im Universitätsstil. Noch viel weniger aber erscheint die Zukunftswissenschaft der kulturwissenschaftlichen Pädagogik geeignet, die erzieherischen Instinkte in den Lehrerstand hineinzupflanzen, auf die es für die Stufe der Volksschule hundert72

mal mehr ankommt als auf Experimentalpsychologie und philosophische Theorie. Wissenschaft und Empirie, dies Wort im antiken Sinne von praktischer Erfahrung genommen, sind zwei grundverschiedene Dinge, und die Wissenschaft ist dort nicht am Platze, wo es auf Empirie ankommt, denn die Theorie tötet den Instinkt, wie einer der größten Theoretiker aller Zeiten, Aristoteles, hervorhebt. Dieser Mann ist freilich auch der erste Vertreter der theoretischen Pädagogik, aber er hat sie nicht dem Grammatisten zugedacht, sondern dem Philosophen. Weil jeder ein notwendiges Glied im ganzen ist, haben die Bürger des Staates politisch gleiche Rechte. Aber der Unterschied zwischen Bauleuten und Architekt wird dadurch nicht aufgehoben, weil er im Gesetz der Sache begründet ist. Die Universität muß bereit sein, durch geeignete Persönlichkeiten aus ihrer Mitte an dem Aufbau einer besseren Ausbildung des Lehrerstandes wie an dem der Volkshochschule teilzunehmen. Sie selbst aber darf sich nicht mit diesen Aufgaben belasten, denn die dadurch zu gewinnende Popularität würde erkauft werden um den Preis der Entfremdung von ihrem eigentlichen Sinn. Doch wir sind von der Frage nach dem Verhältnis der Universität zum praktischen Leben schon unvermerkt hinübergeglitten zu dem schwierigen Kapitel, wie sie sich zum Erziehungsproblem stellen soll. Schon der erste Gründer einer Philosophenschule von universitätsähnlichem Charakter, in der die Einheit aller Wissenschaften verkörpert war, Aristoteles, hat den Grundriß eines nationalen Erziehungssystems aufgestellt und der Wissenschaft in diesem System die führende Rolle zugewiesen. Unter dem Einfluß dieses Vorbildes hat die Universität, seitdem der Staat der Kirche die Verantwortung für die Erziehung abgenommen hat, durch Männer wie Fichte und Humboldt diese Stellung zurückerobert, und es ist begreiflich, daß diejenigen, die ihre volkserzieherische Bedeutung in diesem Sinne wahren möchten, an Humboldts, Fichtes und Schellings Universitätsidee wieder anzuknüpfen suchen. Die Folge dieser Auffassung war die Einstellung des ganzen Schulwesens auf das Universitätsziel, wie sie während der Periode der Alleinherrschaft des Gymnasiums als selbstverständlich galt. Die Anpassung der Universität an das praktische Leben und die zunehmende Bedeutung des naturwissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Studiums führte notwendig den Zustrom solcher Elemente zur Universität herbei, für die der humanistisch-altsprachliche Bildungsweg ein Umweg war oder schien,

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zumal da er den Anforderungen jener Disziplinen hinsichtlich der fachlichen Vorbereitung nicht genügte. Es erfolgte die Zulassung der Oberrealsdiul- und Realgymnasialabiturienten zur Immatrikulation und damit die Zertrümmerung der Einheit unsres Erziehungssystems. Sie war eine praktische Notwendigkeit, aber ihre Folgen sind bis heute noch nicht überwunden. Jeder der drei Vorbildungswege hat wesentliche Mängel, vom Standpunkt der Universität aus betrachtet; das Gymnasium hat Lücken auf der mathematisch-naturwissenschaftlichen Seite für Studierende dieser Wissenschaften, die realistische Vorbildung in altsprachlichgeschichtlicher Hinsicht für die geisteswissenschaftlichen Fächer. Die Freizügigkeit, die an Stelle des Gymnasialprivilegs getreten ist, ist also doch nur Schein. Der Gymnasiast hat beim Studium der Naturwissenschaft viel nachzuholen, der Realist beim Studium der philologischen, theologischen, juristischen und historischen Wissenschaften und bei dem der Philosophie umständliche, zeit- und kraftraubende Ergänzungskurse durchzumachen, die die Zeit des UniversitätsStudiums stark belasten und ein Element der Freudlosigkeit und Quälerei hineintragen. Die Fakultäten haben die Aufsicht vielfach selbst übernommen und aus Gründen der Selbsterhaltung solider Wissenschaft die Forderungen in diesen Kursen im Sinne des Abiturientenexamens oder eines nach Ansicht der Universität wirklich adäquaten Kenntnisstandes festgesetzt. Daß so ein Teil der Vorbildung von der Schule auf die Universität verlegt wird, also die mittelalterliche Artistenfakultät wieder auflebt, ist bei der allgemeinen Neigung unserer Zeit, den Universitätsbetrieb schulmäßiger und mechanischer als bisher zu gestalten, eine ernste Gefahr. Noch größer freilich ist die Gefahr, die nicht durch Mangel positiver Vorkenntnisse, sondern durch den Geist der Pädagogik im allgemeinen der Universität droht. Die Abneigung der Jugend und der Erzieher gegen strenge formale Denkzucht und das zunehmende Eindringen sogenannter großer Gesichtspunkte in den Unterricht, wo sie in den jugendlich unreifen Köpfen als Schlagwort sich festsetzen, machen überall ihre Folgen geltend. Wie erklärt es sich, daß der Vermehrung des Deutschunterrichts auf der höheren Schule ein unaufhaltsamer Niedergang des Ausdrucksvermögens in der Muttersprache bei den Studenten parallel geht? Die Intensität der Denkschulung hat nachgelassen, und keine „Deutschkunde" kann sie ersetzen. Aus diesem Grunde muß die Universität auch die sogenannte deutsche Oberschule, das „deutsche Gymnasium", als

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Vorbildung für unzureichend erklären, solange sie nicht in sprachlicher und mathematischer Hinsicht Zielforderungen stellt, die denen der universitätsfähigen höheren Schulen gleichwertig sind. So bleibt als Ergebnis einer Betrachtung der Stellung unserer Universitäten im ganzen des staatlichen Erziehungssystems ein starkes Defizit, das seinen Grund in dem Auseinanderstreben von Universität und Schule hat. Die Universität ist stark genug, den Abwehrkampf zu führen, der ihr auf gezwungen worden ist, denn die Forderungen, die sie stellt, sind in der Sache begründet. Sie ist nicht imstande, die geistigen Unkosten des Defizits auf sich zu nehmen, es kann bei dem gegenwärtigen Zustande nur durch die persönliche Initiative und den erhöhten Ernst des einzelnen Studierenden ausgeglichen werden. Aber ein Ideal ist die Zusammenhanglosigkeit unsres Bildungswesens in keinem Falle. Es ist zu hoffen, daß die Schule sich trotz herrschender Unterernährung und Not in zähem Ringen allmählich aus dem Tiefstand der Kriegsjahre und des allgemeinen Gehenlassens wieder emporarbeitet, wenn nicht doch auf die Dauer das Niveau der deutschen Universität sinken soll. Aber die Schule allein kann uns überhaupt nicht retten. Es bedarf nicht nur künstlicher Medizin, sondern der natürlichen Heilkräfte des geistigen Organismus unsres Volkes. Unsere beste Jugend kämpft gegen tias ewig Vorläufige und für klare innere Normen mit einem Ernst und einer neuen Kraft des Glaubens, die einen Durchbruch neuer Innerlichkeit hoffen lassen, einer Innerlichkeit, die nicht in Worten und literarischer Mache oder theatralischer Ungekämmtheit besteht, sondern unmerklich und still mit Taten und dauernder Gesinnung unser entartetes Leben durchdringt wie ein Sauerteig. Aber gerade die besten unserer jungen Generation stellen die Universitäten vor ein schwieriges erzieherisches Problem. Es ist, als käme in solchen ganz von dem Mittelpunkte ihres eignen inneren Wesens ausgehenden, tieferen Naturen wieder die ganze Problematik im Verhältnis des Deutschen zur Kultur zum Durchbruche, ein dumpfer und sinniger Typus Mensch, spät zur Klarheit über sich und die Welt gelangend, nicht ohne Rest aufgehend in dem nüchternen Zwecksystem unsrer Zivilisation und des beruflichen Lebens, mit einer Neigung zu romantischem Stimmungszauber und erfüllt von der Überschwenglichkeit eines gegenstandslosen subjektiven Pathos, das im bloßen Verströmen den Gipfel des Glücks und der Kraft empfindet. Für solche scheint die Universität der ungeeignetste Aufenthalt, denn alles 75

ist hier auf Bestimmtheit, Methode, Objektivierung angelegt. Persönlichkeit tritt zurück hinter Leistung. Ungeheure Stoffgebiete, die der eben geschilderte junge Mensch als fremd und gleichgültig empfindet, sollen durchmessen werden. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen wird in der einzelwissenschaftlichen Arbeit völlig ausgeschaltet, und je endloser diese erscheint, um so quälender wird sie empfunden. Soweit eine objektive Einstellung überhaupt vorhanden ist, hat der Krieg die Entwicklung eines neuen Geistes in der Jugend beschleunigt, denn er hat das scheinbar so sichere Gefüge aller objektiven Kulturwerte von Grund auf erschüttert und den Sinn der unermeßlichen Arbeit, die die Generation vor uns geleistet hat, in Frage gezogen. Es wird heute über Dinge diskutiert, auch unter den Reifsten und Verantwortungsbewußtesten unserer Jugend, die noch vor 20 Jahren der Diskussion entrückt schienen. Damals war man der letzten Ziele anscheinend so sicher, daß man nicht weiter davon redete. Beim Prinzipiellen zu verweilen galt als müßiges Geschwätz, man ging beherzt an irgendeine nützliche Hantierung. In dieser Hinsicht haben die Anschauungen sich entscheidend gewandelt. Der preußische Sachlichkeitsbegriff scheint von seinem Zauber viel eingebüßt zu haben, man fragt nach der Substanz dieser Sachlichkeit und Pflichterfüllung. Auf bloße Autorität und Tradition kann sie sich heute nicht mehr stützen. Nur der Unreife ist an sich ein Leugner dieser hohen sittlichen Werte, aber da das ganze Gefüge der sittlichen und geistigen Gemeinschaft mit dem des Staates zugleich ins Wanken gekommen ist, hilft kein äußerliches Sichberufen auf die alten Formen. Diese großen Selbstverständlichkeiten des täglichen Berufs bilden sich ohne weiteres und von selbst neu, wo der Gehalt, der durch sie verwirklicht werden soll, und das Ziel klar erkannt und bejaht werden. Daher das Sträuben der Jugend gegen das mehr oder minder mechanische Handwerk der wissenschaftlichen Facharbeit, ohne das doch keine Ausbildung möglich ist. Man könnte an Goethes Xenion denken: Mit seltsamen Gebärden Gibt man sich viele Pein, Kein Mensch will etwas werden, Ein jeder will schon was sein.

Und weiter:

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Warum willst du das junge Blut So schnöde von dir entfernen? Sie machens alle hübsch und gut, Aber sie wollen nichts lernen.

Es versteht sich, daß von den Anforderungen an das handwerkliche Können kein Jota preisgegeben werden kann. Aber deshalb ist doch nicht der der beste akademische Lehrer, der in seiner Person diese Seite der Wissenschaft ausschließlich oder überwiegend verkörpert oder absichtlich starr hervorkehrt. Es muß nicht nur mit Worten gesagt, sondern dauernd durch die Tat gezeigt werden, daß und wie das einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wo es seine Stelle in ihm hat. In diesem Ethos gilt es die studierende Jugend zu sammeln. Doch was ist das Ganze? Es ist nicht richtig zu sagen: das Ganze ist ja längst vorhanden, es ist die systematische Einheit aller Wissenschaften oder die Philosophie. Sie ist für den Anfänger nur ein abstrakter Begriff. Das Ganze ist auch nicht wiederzugewinnen durch die „humanistische Fakultät", von der manche träumen, eine Art Musterkarte allgemeinbildender Vorlesungen nach Art der Publica, zusammengestellt aus allen Fakultäten. Ein Publikum kann anregend wirken, wenn es sehr gut gemacht wird und man es sich viel Zeit und Mühe kosten läßt, aber ein systematisches Hören vieler verschiedener Publika könnte nur verheerende Wirkungen haben. „Das Ganze" kann entweder der ganze Mensch sein, wenn wissenschaftliche Arbeitsweise ihm so entgegengebracht wird, daß er die Wirkung der strengen Erziehung auf seine gesamte geistige Haltung zu spüren bekommt, oder es ist die Intensität der geistigen Erfassung, die im einzelnen Fall das Allgemeine sehen lehrt. Nur solche selbsterarbeitete Form des wissenschaftlichen Menschen, mag sein Wissen im übrigen noch so fragmentarisch sein, wirkt befreiend und macht dem einzelnen deutlich, daß der Mensch nicht nur das Werkzeug, sondern der Herr, der Sinn und Zweck dieser Veranstaltungen ist, daß alles irgendwo seinen Abschluß findet, mag die Forschung auch unendlich sein, in der Erhöhung, Erziehung und Gestaltung des Menschen. Die großen Griechen, Plato voran, werden nicht müde, gerade diese erzieherische Bedeutung der Wissenschaft an Beispielen zu zeigen, und was kann erzieherischer sein als gemeinschaftliche Bemühung um die Erkenntnis der Wahrheit rein um ihrer selbst willen, ohne den Ehrgeiz des Rechtbehalten-Wollens, in steter Bereitschaft zu belehren und sich belehren zu lassen. Eine solche Erziehung ist humanistisch im höchsten Sinn. Sie besteht nicht in der Ablichtung von Assistenten und in der Beibringung nützlicher Kenntnisse, sondern gestaltet aus der verworrenen Individualität die aufgeräumte und geklärte. Diese menschenformende Kraft hat die

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Wissenschaft auch heute noch, wo sie mit dem Charisma des Geistes getrieben wird und nicht zu automatischem Mechanismus entseelt ist. Lehrt die Universität sie so, dann muß auch die romantischste Jugend sie anders sehen lernen als in der Stimmung des Faustmonologs. Sie wird den Stufengang der Weihen an sich erfahren, den Platos Symposion als den Werdegang des schildert. Das verfluchte dumpfe Mauerloch öffnet sich, und vor dem Blick tut sich auf das ,, das Platos Jünger auf der höchsten Warte schauten. Die Geburtsstunde der Wissenschaft, die Plato in ihren unaussprechlichen Wehen erlebte, ist nichts Einmaliges, wonach nur der Klassizist im ästhetischen Traume sich zurücksehnen dürfte, sie ist noch nicht vorüber, und wer sie durchgemacht, für den ist Wissenschaft nicht dies oder das, sondern der ganze Mensch. Zum Schlüsse wenden wir uns dem schwierigsten und brennendsten Problem zu, dem Verhältnis der Universität zum geistigen Leben unserer Zeit. Solange die Theologie und die Tradition der antiken Kultur die Lehrmeisterinnen des werdenden Europas waren (nicht nur während des Mittelalters, sondern bis tief herab in die neuere Zeit), war die Universität als die Trägerin dieser antik-christlichen Kulturerbschaft die natürliche Führerin des geistigen Lebens. Eine nicht minder beherrschende Rolle fiel ihr dann wieder in dem jahrhundertelangen Prozeß der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Tradition zu, der auch heute· noch nicht abgeschlossen ist. Nicht nur die aristotelische Bewegung in der mittelalterlichen Philosophie, die sich über alle Hochschulen Europas ausdehnte und sie mehrere Jahrhunderte beherrschte, sondern auch die tiefeingreifenden Geistesumwälzungen der neueren Geschichte haben entweder an Universitäten oder in deren näherem Umkreis ihren Ursprung gehabt oder ihre Ziele doch nicht ohne die geistige Mitwirkung der Universität erreicht: so Humanismus, kirchliche Reformation und Rezeption des römischen Rechts, Naturalismus und Aufklärung, schließlich die deutsche philosophische Bewegung von Kant bis Hegel. Die klassische Dichtung unseres Volkes und seine religiöse Entwicklung haben mehr als die irgendeines anderen Volks unter dem Einfluß der neuen wissenschaftlichen und philosophischen Ideen gestanden, die von den deutschen Universitäten ausgingen. Von der Hegeischen Philosophie in Marxscher Umdeutung ging der Sozialismus, von Feuerbach der moderne Materialismus aus. An den Universitäten fand das werdende deutsche

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Nationalgefühl seine begeistertste Pflege und seine geistige Klärung und Begründung, hier die politische Bewußtwerdung der mittleren Schichten des Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre beredtesten Ideologen und Führer. Von dem Ansehen der Universität in jenen Zeiten ist nun leider viel verlorengegangen, und man fragt sich, ob heute von einer Führerschaft der Universität in jenem früheren Sinne noch die Rede sein kann. Die Gründe sind mannigfach, und es ist Pflicht der Selbsterkenntnis, sich von ihnen Rechenschaft zu geben. Man hat sie zum Teil im veränderten Verhältnis der Universität zum Staate gesucht, in dem Streben nach äußerer Ausstattung und glänzender Dotierung der Institute und dem dadurch hervorgerufenen Wettlauf der Professoren um die Gunst des Staates, woraus sich jener moralische Zustand entwickelt habe, den man das „System Althoff" genannt hat. Der Geist der staatlichen Verwaltung der Universität ist gewiß sehr wesentlich mitentscheidend für die Integrität der Wissenschaft und ihrer Vertreter, ich habe aber den Eindruck, daß hier einzelne Beobachtungen maßlos verallgemeinert sind. Andere Gründe, die man nennt, sind das Spezialistentum, der Mangel an philosophischer Gesinnung bei den Forschern, das Fehlen eines repräsentativen großen philosophischen Systems, überhaupt die Verdrängung der Philosophie aus der beherrschenden Stellung, die sie vor 100 Jahren einnahm. Als wenn der Zustand, wie er zur Zeit Fichtes, Schellings und Hegels an einigen Hochschulen bestand, wo die Philosophie ihre antike Würde wiedergewonnen zu haben schien, nur auf der größeren Rücksicht der Spezialisten gegenüber den Ansprüchen der Philosophen beruht hatte, und nicht vielmehr auf der Geistesübermacht jener großen Männer, die die Philosophie damals von neuem zu Ehren gebracht hatten. Das Ansehen der Universität in den vorhergehenden und nachfolgenden Zeiten hat nicht darunter gelitten, daß es zeitweise durchaus nicht die Philosophie war, von der das eigentliche Leben in der Wissenschaft ausging. Andere Kreise verdenken es den Professoren, daß sie zum großen Teil eine ihnen nicht zusagende politische Haltung eingenommen haben und ihre Ideale angeblich nur in der „Vergangenheit" suchen. Es ist gewiß richtig, daß der Gelehrte im allgemeinen kein Politiker ist, insbesondere kann man über den politischen Wert von Begeisterungsreden und Massenprotestkundgebungen verschieden denken. Und das sind ja jetzt die hauptsächlichsten Formen öffentlicher politischer Betäti-

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gung der Professoren. Anderseits dürfte es wenige Kreise geben, die an aufrichtiger und von persönlichem Interesse freier Vaterlandsliebe die der Universität übertreffen, und man darf es ruhig als eine Naivität bezeichnen, wenn man glaubt, die Fortgeschrittenheit des Geistes unsrer Universitäten an den dürftigen Begriffen messen zu können, die irgendeine bestimmte Partei und ihre Presse sich nun gerade von Fortschritt und Aufgeklärtheit macht. Um die Lage der Universität wirklich zu erkennen, müssen wir schon etwas tiefer dringen. Was bedeutete denn die Führerschaft der Universität etwa zur Zeit des Humanismus und der Reformation? Ein außerakademisches Publikum gab es kaum. Die Menschen teilten sich in Gelehrte und Ungelehrte, es fehlte die vermittelnde Schicht der sogenannten Bildung, in der die Universität heute ihre Resonanz wie ihre Kritik findet. Die im Geist der Humanisten geleiteten Dom- und Klosterschulen züchteten nur Gelehrte. Es fehlte an einem Substrate für eine nationaldeutsche Bildung, nur auf kirchlich-theologischem Gebiet, in einigen wenigen Gegenden auch in der bildenden Kunst gab es eine Art Ersatz dafür. Soweit in den folgenden Jahrhunderten ideelles Leben in das Volk eindrang, geschah es im Zusammenhang mit theologischen und philosophischen Fragen, die sich besonders vom protestantischen Pfarrhaus aus verbreiteten. Von allen akademischen Ständen hat der Pfarrer die engste geistige Verbindung mit dem Volk gehabt und zweifellos auch das weiteste geistige Interesse. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist in Deutschland wesentlich das Werk der rationalistischen Theologie, die bis in das letzte Pfarrhaus drang. Durch die klassische Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts und die neuhumanistische Bewegung wurde die Renaissance in Deutschland nachgeholt: es entstand zum erstenmal eine nichttheologische, profane Bildung und Humanität. Den Kreis derer, die an ihr teilhatten, stellen wir uns natürlich leicht größer vor als er war. W. v. Humboldt verstand unter Deutschland, als er in Paris zum erstenmal ein Gefühl seiner Zugehörigkeit zu dieser im Volke sich bildenden neuen Schicht geistiger Gemeinsamkeit verspürte, doch nur den kleinen Kreis, der Goethe aufzunehmen fähig war. Seither hat ein Jahrhundert deutscher Geschichte diesen Kreis mächtig erweitert, aber auch Wesen und Wert der Bildung von Grund auf verändert. Bildung ist ein Massenartikel geworden, billig und schlecht. So erfreulich jedes geistige Aufwärtsstreben der Gesinnung nach für den

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wissenschaftlich Forschenden ist, so wird in der größten Zahl der Fälle der Wert solcher Bildung durch die Oberflächlichkeit und Voreiligkeit des Urteils, zu der sie führt, und durch die Zerstörung wichtiger seelischer Organe wieder aufgehoben. Ihren Segen gibt die Wissenschaft nicht dem, der die Früchte der entsagenden Forschung anderer leichten Kaufs errafft und zu flüchtigem Genuß sich einverleibt, sondern nur dem, der seinen ganzen Menschen ihr ergibt. Die gesteigerte Teilnahme, die der Wissenschaft aus den Kreisen der sogenannten Bildung entgegengebracht wird, ist für sie Ermunterung und Hemmung zugleich. Denn gerade die Halbbildung, die in der schlechten Tagesliteratur und Presse jederzeit ihr Organ findet, möchte am liebsten die Wissenschaft nach ihrem Bilde umformen und ihren Zwecken dienstbar machen. Gewiß geht von echter Wissenschaft stets auch Bildung aus, aber niemals darf die Universität, wie viele Volksbeglücker es von ihr fordern, ein Institut für Volksbildung oder überhaupt für Bildung werden. Forschung und Lehre, die alte Formel der Universität, ist die allein wahre Bezeichnung ihres Ziels. Noch ferner liegt dem Wesen der Universität die Führerschaft über die Masse. Was die Masse von wissenschaftlicher Erkenntnis aufzufassen vermag, ist immer nur das Äußerliche, das Vergröberte, das Unproblematische. Die Masse ist als Masse urteilslos und fanatisch. Gerade deshalb ist sie durchaus fähig, einzelne wissenschaftliche Lehren in der Form des Schlagworts, des Dogmas aufzugreifen und bedingungslos daran zu glauben. Das Bedürfnis nach solchem Glaubensdogma der Vernunft ist um so größer, seitdem die Massen sich von der Dogmatik der Kirchen emanzipiert haben. Auf der Universität hat sich infolgedessen die neue Erscheinung des wissenschaftlichen Propheten oder Demagogen eingestellt, der dieses Bedürfnis der Menge sei es in gutem Glauben oder auch aus Sensation zu befriedigen strebt. Der eine oder andere ist wohl gar gegen seinen eigenen Willen zum Propheten gemacht worden. Diese Propheten wechseln schnell. In der allgemeinen Bildung gibt es ebenso wetterwendische Moden wie in der Kleidung. Jeder Anhänger solcher Mode ist notwendig ein Verächter der „zünftigen" Wissenschaft, wie man sie nennt, denn sie macht die Moden nicht mit. Es steht zwar meistens hinter diesen Wissenschaftsdemagogien irgendein wirkliches Problem oder eine wirkliche Not, und darin liegt ihre Bedeutung für die Wissenschaft: es sind Zeitsymptome. Aber der Glaube, alle Schäden mit den Mitteln der Wissenschaft heilen zu können, kehrt seine Wirkungen

81 6 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

zuletzt stets gegen die Wissenschaft, ähnlich wie jeder urteilslose und idealisierende Glaube an „den" Menschen schließlich in Menschenverachtung umschlägt. Beide sind gleichermaßen Kennzeichen geistiger Unreife. Schon Plato hat den Menschenverächtern und Wissenschaftsverächtern selbst die Schuld für ihre Enttäuschung zugeschoben. Er hat nach einem langen Leben voll heißer Bemühung, durch Wissenschaft und Philosophie das Leben des Staates und des Einzelnen zu verbessern, die Worte geschrieben: „Wenn ich überzeugt wäre, die philosophische Erkenntnis ließe sich für die Vielen schriftlich und mündlich zureichend darstellen, was hätte ich Schöneres in meinem Leben vollbracht haben können als den Menschen eine große Heilslehre zu schreiben und das Wesen der Dinge für die Gesamtheit ans Licht zu führen? Aber ich glaube nicht, daß dieser Versuch, in Worte gefaßt, für die Menschen ein Gut ist außer für diejenigen wenigen, die imstande wären, auf Grund geringer Anleitung es selbst zu finden. Von den übrigen aber würde es die einen in ganz unpassender Weise mit falscher Verachtung der Wissenschaft erfüllen, die anderen mit verstiegener und aufgeblähter Einbildung, als ob sie wer weiß welche Mysterien kennen gelernt hätten". Aber wenn wir eine unmittelbare Führerschaft der Universität über die Masse und in dem weiten Reich der allgemeinen Bildung ablehnen dürfen, weil sie dem Wesen wahrer Wissenschaft widerspricht, mit welchem Recht zitieren wir Plato als Eideshelfer der modernen Wissenschaft? Ist nicht gerade Plato das Symbol für die mit der heutigen Wissenschaft und Universität Unzufriedenen, die es ihr zum Vorwurf machen, daß sie in mechanischer Häufung des Wissenswustes ersticke und dem Menschen nicht mehr die ewigen Ziele weise? Wo ist in der Zerfahrenheit der Standpunkte und Methoden heute auf der Universität noch Platz für eine Philosophie, eine Weltanschauung, die dem Treiben der Einzelforschung den inneren Sinn gibt? Ist nicht das Organ der Wertbildung und Weltanschauung, die Philosophie, auf den Universitäten immer mehr verkümmert, weil die schöpferische Energie der Ideen erschlafft ist in der Nähe so vieler exakter Wissenschaft? Hat nicht die Universität ihre letzten großen Philosophen, Fichte, Schelling und Hegel nachträglich in Acht und Bann erklärt im Namen der exakten Wissenschaft, die jene verachteten, sind nicht Feuerbach, Schopenhauer und Nietzsche, die großen Feinde aller Kathederphilosophie, nur im Kampfe gegen die Universität durchgedrungen? Die Philosophie hat sich ja in 82

den letzten Jahrzehnten allmählich wieder aufzurichten begonnen, aber ihre Selbständigkeit hat sie nur errungen durch strenge Beschränkung auf die formale Kritik der Erkenntnis, und es ist zu erwarten, daß die alten Konflikte mit der exakten Natur- und Geschichtsforschung sich in verschärfter Form wiederholen, sobald die Philosophie eine ihr eigene, besondere Betrachtung und Deutung von Natur und Geschichte versuchen würde. Das große philosophische System, für das nach dem Abebben der Hochflut des Naturalismus in den 90er Jahren des verflossenen Jahrhunderts der Platz frei zu werden schien, ist nicht erschienen, wie es diejenigen prophezeiten, die nach dem einfachen Prinzip der Reaktion ausrechneten, daß jetzt wieder die Philosophie an der Reihe sei. Die Philosophie hat Wichtiges und Grundlegendes während dieser 25 Jahre geleistet, aber diese Leistung bestand wesentlich nur in der kritischen Klärung ihres Verhältnisses zur Wissenschaft. Die großen Fragen, die unser Denken aufwühlen: wie stehen wir zur Tradition, wie zur menschlichen Gesellschaft, was ist der Sinn der Geschichte, worauf gründe ich meine menschliche Freiheit und den Sinn meiner Existenz angesichts des heutigen Weltbildes und der Gesetze einer ihrer Menschengestalt ganz entkleideten Natur? kann eine neue Privatmetaphysik uns so wenig lösen helfen wie die positiven Wissenschaften, die durch ihren Exaktheitsanspruch die spekulative Philosophie um ihren Kredit gebracht haben. Daher die Beunruhigung in den Kreisen, die nicht zur Wissenschaft geschworen haben, aber die Sehnsucht der Zeit sehen und hören. Ich rede nicht von dem Erstarken des religiösen Sinns und dem einfachen Drang zu festen Glaubensformen, so weit er rein der kirchlichen Frömmigkeit und ihrer Sphäre angehört, sondern von dem allgemeinen Trachten nach einem Philosophieersatz, nach einer neuen Stellung zu dem Sinn unsrer Gegenwart, gleichviel ob man ihn resigniert in der Notwendigkeit eines sich seinem Ende zuneigenden Kulturablaufs erblickt wie Spengler oder ihn optimistisch bejaht wie die „Schule der Weisheit" und ihr Führer Graf Keyserling, ob man dem erschöpften Aktivismus der Westkulturen Hinkehr zur tatenlosen Kontemplation des Orients als Heilmittel predigt oder hinter der Oberflächenwelt das Dunkel des anthiOposophischen Geheimnisses sucht. Auch die Ideen des Stefan GeorgeKreises, soweit sie auf einem bestimmten Geschichtsbild beruhen und eine Erneuerung der geistigen Kultur im ganzen erstreben, sind hier zu erwähnen. Alle diese konkurrierenden Strömungen sind von Männern

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ausgegangen, die zwar keineswegs das Ideal der Wahrheitserkenntnis als solches verleugnen, die es aber auf anderem Wege verwirklichen wollen als die Wissenschaft. Selbst die Anthroposophie will eine höhere Art Wissenschaft darstellen. Sie alle stimmen überein in der Geringschätzung der positivistischen Wissenschaft und erzeugen eine Atmosphäre der Universitätsfeindschaft, teils in den Massen teils gerade unter den höchst Gebildeten, die der Universität nicht gleichgültig sein kann. Eine eigentliche Verteidigung gegen Ansprüche, die zum Teil aus wissenschaftsfremden Motiven entsprungen sind, steht der Wissenschaft nicht an. Ihr einziger Schutz liegt in ihrer inneren Kraft und Gesundheit. Ob diese aber noch vorhanden ist, darüber kann der Außenstehende schließlich am wenigsten urteilen, da er die geistige Wirkung nicht an sich erfährt. Was er als Symptom der Erstarrung ansieht, ist oft in Wahrheit nur ein seinem eignen Geiste Äußerliches, Beziehungsloses. Das Fehlen großer repräsentativer Philosophie, die aus dem Leben der Einzelforschung erwächst, gibt dem Bilde der jetzigen Universität etwas Haltungsloses, Uneinheitliches. Aber nicht die scheinbare Festigkeit einer äußeren Form entscheidet schließlich, sondern die lebendigen Kräfte. Wenn die Natur- und Geisteswissenschaften, auf denen alle Erkenntnis und Weltanschauung doch beruht, sich mit solcher ideellen Expansionskraft erfüllt haben, daß sie von innen her die alte philosophische Systemform und Begriffswelt gesprengt haben, so ist das selbst eine philosophische Tatsache von ganz unabsehbarer Bedeutung. Gewiß besteht dabei die Gefahr, daß der künstliche Zustand eines bis zur Zusammenhangslosigkeit getriebenen Spezialistentums in den Einzelwissenschaften vorübergehend Rückfälle in geistigen Primitivismus zeitigt, wie wir sie auch auf anderen Kulturgebieten unter ähnlichen Bedingungen beobachten. Doch wer wollte verkennen, daß gerade die Einzelarbeit heute in zunehmendem Maße sich unter philosophischer Blickrichtung anf das Allgemeine, Gesetzliche vollzieht. Von der Naturwissenschaft und Mathematik vermag ich nicht zu reden, doch weiß auch der Fernerstehende mindestens so viel, daß in diesem Zweige gerade heute wieder ein schöpferisches Leben kreist. Die theoretische Physik mit ihren Nebengebieten ist in einer Umbildung begriffen, die kaum ohne tieferen Ertrag für das Weltbild bleiben dürfte. Was andererseits die Entstehung der geschichtlichen und philologischen Geisteswissenschaften für Umwälzungen des philosophischen Denkens 84

nach sich zieht, wird mit jedem Tage deutlicher. Es genügt wohl statt aller Einzelheiten den Namen Nietzsche auszusprechen, der kein Schulphilosoph im alten Stil war, sondern mit hellseherischer Kraft unmittelbarer Anschauung das Ganze des geistigen Formenreichtums der historischen Welt, insbesondere der europäischen Kulturen durchdrang und aus dieser unmittelbaren Anschauung heraus philosophierte. Nietzsche, der aus der klassischen Philologie hervorging, nicht, wie die meisten Philosophen damals noch, aus der Theologie, bezeichnet den ersten großen Einbruch des philologischen und historischen Zeitalters in die festverdammten Bezirke der Schulphilosophie, die die reinen Werte nur in der Form absoluter Begriffe kannte, aber nicht in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Mächten und Formen des wirklichen geschichtlichen Lebens stand. Dadurch ist das Normproblem in all seinen Formen, als Religionsphilosophie, als Ethik, Ästhetik, ja selbst als Logik, in heftige Bewegung gekommen, und keine Erneuerung dieser Maßstäbe ist denkbar, die nicht über die Grundbedingungen aller geschichtlichen Geistesstruktur mit sich im reinen wäre. Damit beginnen Geschichte und Literaturen neues Interesse für uns zu gewinnen, das Einzelne empfängt eine nahezu philosophische Bedeutung und Würde. Ähnlich ist das theologische, juristische, ökonomische Denken durch die geschichtliche Einzelarbeit wie durch die Erkenntnis der allgemeinen Strukturgesetze des religiösen, rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens und des periodischen Wandels dieser Strukturen in eine neue Phase der Entwicklung getreten. Hier ist der Punkt, von wo aus die reine Tatsachenwissenschaft den Weg wenn nicht zum Werturteil, so doch zur Werterkenntnis finden wird. So wenig zu wünschen und zu fürchten ist, daß alle diese Wissenschaften einst nur noch als reine Geisteswissenschaften getrieben werden oder daß die Materialbeschaffung von vornherein unter einige einseitige „höhere" Gesichtspunkte gestellt werde, wird zukünftig doch durch sie alle ein Netz kommunizierender Wege sich hindurchziehen, auf denen ein ideeller Austausch sich vollziehen kann. Die höhere Einheit der historischen und geisteswissenschaftlichen Forschung ist heute keine bloße Idee mehr, wie sie dem ahnenden Geiste großer Philologen schon vor Jahrzehnten vorschwebte, sondern sie ist Wirklichkeit geworden. Die Zeit der philosophischen Prolegomena ist vorbei, auf die nie etwas wie eine Erfüllung des Verheißenen folgte. In allen Wurzeln der Einzel-

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forschung drängt und dehnt sich neue Lebenskraft, die sich fühlt als Saft des einen großen Baumes der Allwissenschaft, Philosophie. Wohin dieses Leben wächst, wird heute niemand prophezeien wollen. Aber es sieht nicht danach aus, als wollte die Wissenschaft sich ihres philosophischen Ursprungs endgültig entschlagen und damit ihren geistigen Charakter preisgeben, der in der Lebendigkeit ihres organischen Zusammenhangs wurzelt. Das böse Wort, die Universität sei eine Fachschule mit schlechtem Gewissen, erscheint schon heute als nicht mehr zutreffend. Wir alle suchen Wesenserkenntnis, wenn wir auch von der Fähigkeit des Menschengeistes, in das Innere der Dinge zu schauen, bescheidener zu denken gelernt haben. Aber eine Einsicht in das Wesen, die nicht in dauerndem Ringen mit den Objekten der Erfahrung und in unausgesetztem Umgang mit ihnen gewonnen wäre, erscheint uns nicht als Wesens-, sondern als Oberflächenerkenntnis. Es gibt kein Wissen des Sinns ohne Wissen des Seins. Dies ist die ideale Universitas, zu der wir streben. Von ihr könnte das Wort des Aristoteles gelten, wenn wir uns ihr Ziel als vollendet vorstellen: Der Geist ist in gewisser Weise alles was ist. Er ist das Auge, das alles Wirkliche aufnimmt, im Spiegel der Natur und Geschichte aber erkennt er sich selbst, gereinigt von den Trübungen seiner individuellen und zufälligen zeitlichen Existenz. Es wird die Zeit zwar den Inhalt und die Wege der Wissenschaft ändern, aber keine Zeit wird kommen, so vertrauen wir, die die Empfindung dafür verloren hätte, daß an diesem letzten geistigen Ziel unsere Menschenwürde hängt. Wozu erhalten wir den menschlichen Leib, wozu erbauen wir Maschinen und häufen Mittel über Mittel auf, wenn wir an den Zwedc selbst nicht mehr glauben, an die Entfaltung des höheren Lebens im Menschen? Der große Vorrat des Wissens ist nicht das höchste, was Wissenschaft leisten soll. Wissenschaft ist eine geistige Lebensform. „Denn die wirkende Kraft der erkennenden Geistes ist Leben." So sprach der Gründer der ersten Universitas. Wo immer Wissenschaft diese Forderung wirklich macht, da wird auch sie „leben".

Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato (1924) Der 18. Januar, der in das Schicksalsbuch des deutschen Volkes als Tag der heiligen Erfüllung jahrhundertalter Träume eingezeichnet ist, wird dem Geschlecht der Gegenwart zum Trauerfest. Wohl zwingt er mit dämonischer Gewalt auch heute wieder uns alle zusammen an feierlicher Stätte, aber dem tausendstimmigen Seufzerchor der deutschen Herzen entringt sich nicht rein der weihevolle Akkord der stolzen geschichtlichen Erinnerungen. Zwar ragt noch immer aufrecht der massive Bau Bismarckscher Staatskunst, in dessen Schutz wir wohnen, und insofern haben wir wohl ein Recht, den Tag zu begehen, an dem die Grundlagen unserer staatlichen Existenz gelegt worden sind. Aber den Geist der deutschen Einigkeit, die sehnsuchtsvolle Kraft der Väter, aus der das Werk geschaffen ward, dürfen wir ihn an diesem Tage furchtlos beschwören, ihn, den kein staatsmännisches Genie gemacht hat, dem kein Diktatorwille gebietet und den keine Festrhetorik ersetzt, den Geist, durch den Deutschlands Universitäten führenden Anteil an dem politischen Werke genommen haben, das 1871 in Versailles seine staatsrechtlich endgültige Form erhielt, das aber weit früher in dem hohen sittlichen und philosophischen Pathos Fichtescher Vaterlandsliebe, in des Frhrn. vom Stein volksmächtig deutscher Seele, in dem Staatsideal deutscher Humanisten und politischer Denker seinen inneren Ursprung genommen hatte? Müssen wir nicht fürchten, daß jener Geist, wenn wir ihn stammelnd rufen, uns antwortet: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir? Und wenden wir den Blick nach außen, so ist auch da der Fortbestand der äußeren Staatsform zunächst nur der Ausdruck des allgemeinen Willens der Verständigen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Organisation unserer dringendsten Lebensnotdurft. Die Souveränität dieses Staates aber findet von Seiten der meisten übrigen Völker gerade nur so weit formale Anerkennung, als Deutschland sie dazu anwendet, unmögliche Verpflichtungen aus einem aufgezwungenen Friedensvertrage

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auszuführen, deren buchstäbliche Erfüllung nach der Absicht der Vertragsgegner dazu bestimmt ist, die formell uns zugebilligte Souveränität in Wirklichkeit zu einem schattenhaften Nichts zu machen, und deren durch die Not erzwungene Nichterfüllung den Gegnern jederzeit den willkommenen Anlaß bietet, jenes einzige von der Welt noch anerkannte Dokument unseres Rechts selbst mit Füßen zu treten und dadurch von neuem zu beweisen, daß es in Wahrheit nur die feierliche Sanktion unserer vollkommenen Macht- und Rechtlosigkeit ist. Die tiefe Not des Vaterlandes, die jeder einzelne an seinem Teile mitträgt, hat ihren letzten Grund in unsrer Staatsnot. Sie richtet daher unsere Gedanken auf die Grundlagen aller Staatlichkeit und die in ihr beschlossenen Forderungen. Die Wissenschaft möge der Nation an ihrem Ehrentage, wie es im Wesen strenger Wahrheitsforschung und in alter akademischer Sitte begründet ist, den schuldigen Tribut darbringen, indem sie wissenschaftlicher Erkenntnis das Wort erteilt. Sie möge uns das Staatsproblem eines wenn auch in mancher Hinsicht anders gearteten, hochbedeutenden Volkes der Vergangenheit in seiner geistigen Struktur erkennen lassen. Staat ist zwar ein modernes Wort, aber die Sache ist ihrer ideellen Ausprägung nach eine der großen und dauernden Schöpfungen der Antike, und nur dort ist zu erfahren, was der Staat im höchsten Sinne sein kann. Hier ist er als die umfassendste und beherrschende Form alles menschlichen Daseins gelebt und erkannt worden, hier hatte er ein höchstes Maß von geistiger Bedeutung, Unabhängigkeit und Würde und waltete daher auch im Leben des Einzelnen ein höchstes Maß von Staatlichkeit. In der Zeit des Zusammenbruchs der Macht und Herrlichkeit des perikleischen Reiches, der geistig und materiell großartigsten Staatsschöpfung, die die griechische Geschichte kennt, hat griechisches Denken für die Nachwelt den Grund gelegt zu jeder künftigen Wissenschaft vom Staate. Aus der Tiefe eignen Leidens am Staate hat das mit der schicksalsvollen Gabe des objektiven Erkennens und Gestaltens begnadete Volk den Staat als geistiges Problem erfaßt und die von der Einzelgestaltung seiner Einrichtungen unabhängige Frage nach den allgemeinen Daseinsbedingungen wahrer Staatlichkeit aufgeworfen. In der Schöpfung der Staats idee hat das Griechentum seine eigentümlichste Leistung auf staatlichem Gebiet vollbracht. In dem Ideehaften des griechischen Denkens liegt aber zugleich das Schicksal des griechischen Staates beschlossen.

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Der unstetige Rhythmus unaufhörlichen Abbruchs und Aufbaus, der die griechische Geschichte beherrscht und zur Stabilität römischer Staatsentwiddung in Gegensatz stellt, zeigt nur zu deutlich, daß die „Idee" von jeher eine der treibenden Kräfte des griechischen Staatslebens war, nicht nur dessen schwaches philosophisches Echo. Nicht das Gegebene ist der produktive Ausgangspunkt griechischen Staatsdenkens, sondern das Vollkommene und Wünschenswerte, das Seinsollende und Regelstrenge, das mit bildlicher Anschaulichkeit seinen politischen Geist unwiderstehlich anzieht, wie es seine bildende Kunst beherrscht; nicht das positive Recht, sondern das, was an sich gerecht ist oder was man gerade dafür hält. So durchläuft der Grieche nach- und nebeneinander alle Formen staatlicher Möglichkeiten in radikaler Gegensätzlichkeit und Folgestrenge, und in einem unheimlichen Lebenstempo lebt sich sein Staat zu Ende. Aus gleichem Grunde ist er auch der eigentliche Schöpfer der Staatsethik, der Sucher der absoluten Staatsnorm. Ein berühmtes Wort des Aristoteles sagt: Der Mensch ist ein in Staatsform lebendes Wesen, ein . Viele sprechen es nach, aber wenige verstehen es. Seinen Sinn läßt uns ein anderes Wort desselben Philosophen deutlicher erkennen: Der Staat ist früher als der Mensch, d. h. der Mensch ist Mensch durch seine Staatlichkeit. Staat ist das Wesen des Menschen, insofern er der Inbegriff der höheren Werte des Lebens ist, durch die der Mensch sich vom Tiere unterscheidet. Am und im Staate ist dem Griechen das höhere Leben aufgegangen. Höchste Norm ist ihm das Gesetz des Staates, im öffentlichen wie im privaten Leben. Staatsethik kann für den Griechen also nicht bedeuten: ein Messen des Staats am sittlichen Willen des Individuums, wie für den modernen Menschen, für den die Individualethik der feste Ausgangspunkt ist, wenn es gilt, das Verhältnis von Politik und Moral zu bestimmen. Vielmehr ist a l l e griechische Ethik von Haus aus Staatsethik, solange ein Staat im altgriechischen Sinne existiert. Wie war es möglich, daß der Staat dem Griechen so zum Maß aller Dinge wurde? Die Gründe dafür hegen im einzigartigen historischen Wesen des Stadtstaates, der friihgriechischen Polis. In der engen, alle umfassenden Lebengemeinschaft der Polis, in der die Einzelnen in einer Zeit größter Rechtunsicherheit gegen alle Art von Übergriffen Schutz fanden, bildete sich von Natur die rechtliche Gleichheit der freien, abstammungsgleichen Bürger als das Prinzip heraus, durch das sich sowohl 89

das Ganze wie auch der Einzelne erhielt. Diese Gleichheit fand ihre Festlegung und Sicherung in der Fixierung des Gesetzes. Im griechischen Begriff des Gesetzes, dem Nomos, liegt zwar nicht die Unwandelbarkeit, sondern eher das Gegenteil, die Übereinstimmung des geschriebenen Rechts mit dem lebendigen Rechtsbrauch und Rechtsempfinden. Aber das schriftlich festgelegte Gesetz, vor dem alle gleich sind, dämpft alle Hybris des Stärkeren und stellt das Gleichgewicht der Kräfte her. Dieses Gleichgewicht erweist sich reiferer Erfahrung immer wieder als der Punkt, wo aus dem Zwange der scheinbar so regel- und gesetzlosen Natur selbst die rettende Norm hervorbricht. Es war für das Griechenvolk ein niemals sich abschwächendes religiöses Erlebnis, daß es eine völlig objektive Norm im Leben der Welt und des Menschen gibt, und zwar von Natur. Religiös drückt der erste Künder der Rechtsidee, Hesiod, diese Wahrheit mit den Worten aus: Zeus macht leicht einen mächtig und den Mächtigen stürzt er, den Hochragenden macht er klein und den Geringen hebt er empor. Anaximander von Milet, der erste Schöpfer eines philosophischen Weltbildes, trägt die Idee der Isonomie in das Weltall hinein. Sein strenger Rechtsglaube läßt ihn in der Welt das Spiegelbild der höchsten und unantastbaren Ordnung auf Erden, des Polisstaates erkennen und wandelt so das Chaos in Kosmos. Denn auch die Kräfte im Weltall, die sich titanisch zu vergewaltigen suchen, müssen am Ende sich beugen und einander Rechtsbuße zahlen und Schadensersatz für ihre Übergriffe nach dem Richtspruch der Zeit. Von diesem ältesten Wort, das uns aus griechischem Philosophenmunde entgegentönt, bis zu Euripides „Phönissen" bleibt der Glaube lebendig, daß die Gesetzesgleichheit, das Prinzip des Polisstaates, dem kosmischen oder göttlichen Gesetze eines ewig sich wiederherstellenden Rechtsausgleichs entsprungen sei. Der Grieche, dem das Gesetz König heißt in seinem Staate, war doch kein starrer Gesetzesformalist. Das Gesetz ist ihm nur heilig, weil jenes höchste, von Zeus überwachte Gleichgewicht sich in ihm ausprägt, die ewige Gerechtigkeit, die er den Menschen vom Himmel gesandt hat. Alle Konflikte mit dem Staate entspringen nicht aus dem Zusammenstoß eines sittlich „autonomen" Ich mit dem Staate, sondern aus der Entzweiung der ursprünglichen Harmonie des Staatsgesetzes mit den göttlichen Gesetzen und der Natur. Doch in älterer Zeit haben höchstens einsame Grübler die Kühnheit besessen, das auszusprechen und zu denken, oder vielleicht in seiner Seelennot ein heroisches Weib, das wie Antigone ohne Schwanken dem 90

ungeschriebenen Gesetze in seinem Herzen folgt. Im wirklichen Leben jenes durchaus männlichen Staates der alten Zeit war das Gesetz des Staates tatsächlich der Leitstern alles Tuns. In seinem Ethos wuchs die Jugend heran und erfüllte ihr ganzes Wesen mit ihm. Die Tauglichkeit für den Staat und seine Götter, Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit, das war der Kanon aller „Tugend". Wir können von den Unterschieden der einzelnen Staaten hier absehen. Im Staate Solons stand die Gerechtigkeit, in Sparta die Tapferkeit und die Hingabe des Lebens für den Staat unter den Tugenden des Bürgers seit Tyrtaios' Tagen an erster Stelle. Im wesentlichen sind sie alle gleich: der Staat bestimmt des Menschen Wert und setzt seinem Leben das Ziel. Mit dem Zeitalter Platos beginnt für die Staatsethik die Periode der Auflösung und Neugruppierung. Die Durchdringung des persönlichen Tuns mit staatlichem Gesetz und des Staats mit der höchsten göttlichen Wertordnung setzt, wie wir sahen, die altgriechische Polis mit ihrer gemeindehaft engen Begrenzung, der Symmetrie ihres Lebensstils und ihrem stationären Charakter voraus. In jener Zeit bewahrte das Gesetz trotz der im einzelnen durchbrechenden Schwäche und Übertretung seine unerschütterliche Heiligkeit. Solon nennt sein Werk schön eine Zusammenfügung von Recht und Gewalt. Seit der glücklichen Beendigung der Perserkriege wandelt sich das Bild. Das Umsichgreifen des rationalen Denkens und eines illusionslosen, zielstrebigen Wirklichkeitssinns, die starke Ausbreitung von Handel und Wirtschaft und die erstmalige Anhäufung großer Kapitalien lockern die alte Lebensstrenge und stärken den Hang zu sinnlichem Behagen. Als Vorzug der demokratischen Polis rühmt man jetzt, daß jeder dort nach seiner Fa9on leben könne. Die Autorität des Gesetzes beginnt zu schwinden, je mehr die rastlos arbeitende Gesetzgebung, die den Bedürfnissen der Zeit zu folgen sucht, das Werkzeug des Egoismus und der Begehrlichkeit der Masse wird, die in der Volksversammlung die Gesetze beschließt. Im Drange der Konzentration schließen sich die Einzelstaaten unter der Führung von Athen und Sparta zu zwei großen Gruppen zusammen, die eine bewußte Machtpolitik treiben. Das Schwergewicht verschiebt sich aus dem inneren Gesetzesleben des Staats in die Außenpolitik. Der Antagonismus zwischen Sparta und Athen drängt schließlich zum Entscheidungskampf, der mit Aufwand aller Mittel bis zur Erschöpfung des zwar mächtigeren, aber geistig komplizierteren von beiden Teilen, Athens, geführt wird. 91

Schon lange bevor der Krieg die innere Zwiespältigkeit des Staatsgeistes der neuen athenischen Demokratie aufdeckte, war auch in der Staatstheorie ein Wandel der ethischen Ansichten eingetreten. Der Krieg mit seinen schweren Konflikten hat diese Entwicklung nur äußerlich sichtbarer gemacht und beschleunigt. Unsere Kenntnis dieser Strömungen ist nicht sehr reichhaltig. Wir sehen aber deutlich genug, so verschiedene Richtung die einzelnen Denker einschlagen, daß auch jetzt das Verhältnis von staatlichem Gesetz und natürlicher Weltordnung der Ausgangspunkt der Umwertung aller Werte ist, also alle sogenannte ethische Bewertung aus der Einsicht in die objektive Beschaffenheit der Wirklichkeit, nicht aus einem rein formalen, inhaltlosen inneren Imperativ des Ichs entspringt. Die neue Stellung des Menschen zum Staate und zum Gesetz hat ihren Ursprung in der veränderten Stellung zur Natur, die das Ergebnis der philosophischen Arbeit vieler Jahrzehnte war. Das Neue lag in der Anwendung der modernen entgötterten Naturanschauung auf das menschlich staatliche Gebiet. Hier verdichtet sich die neue Spekulation in mannigfachen Theorien, deren fester Pol die Überzeugung ist, daß der Staat mit seinen Gesetzen nicht, wie der herrschende Staatsmythos es darstellte, ein Ausfluß ewiger Seinsordnungen, sondern eine willkürliche und künstliche Durchbrechung der „Natur" sei. Von göttlicher Satzung und Gerechtigkeit ist jetzt nicht mehr die Rede, sondern schon in dem Wort „Natur", das an die Stelle tritt, liegt für diese Zeit der Gegensatz des von selbst Gewachsenen und Spontanen gegen das Gemachte und Erzwungene. Die zentrale Bedeutung des alten Gedankens der Gleichheit für die griechische Rechtsidee äußert sich auch in dieser Periode der Kritik darin, daß die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Natur vor allem von der Gleichheitsforderung des Gesetzes ausgeht. Je nach der Fassung dieses Begriffs ergeben sich verschiedene Folgerungen, aber alle sind sich einig in der Verwerfung des künstlichen Gleichheitsbegriffs der herrschenden Staatsgesetze. Bei dem Sophisten Hippias und in der jüngst neu gefundenen Schrift des athenischen Sophisten Antiphon, die den charakteristischen Titel „Die Wahrheit" trägt, wird die Gleichheit in kosmopolitischer Konsequenz von den Staatsbürgern, die das Gesetz allein als gleichberechtigt anerkennt, auf die Fremden, von den Freien auf die Sklaven, von den Griechen auf die Barbaren ausgedehnt, d. h. es wird der gesetzlichen Gleichstellung im Staat die physische Gleichartig92

keit als das Höhere und Natürliche gegenübergestellt. Der Staat der damaligen Zeit hat diesen für die Geschichte des neueren Naturrechts folgenreichen Gedankens unbeachtet lassen können, eine staatsgefährliche Wendung aber nahm die Bewegung dort an, wo sie umgekehrt den Gleichheitsideen der herrschenden Demokratie die Tatsache der natürlichen Ungleichheit aller Menschen entgegenstellte und bewies, wie in allen Reichen der Natur der Stärkere den Schwachen beherrsche und zu seinem Vorteil ausbeute. Neu war daran, daß die Tatsache des brutalen Daseinskampfes mit philosophischer Feierlichkeit als Norm des richtigen Handelns verkündet wurde, nicht die Einsicht in die Tatsache selbst. Hatte doch bereits der älteste Dichter und Lehrer der Griechen, der uns als ausgeprägtes Ich entgegentritt, Hesiodos, drei Jahrhunderte vorher denselben Vergleich zwischen Mensch und Tier gezogen. Er hatte in prophetischem Zorn den geschenkefressenden Königen, die aus Eigennutz das Recht beugen, zugerufen: „Dieses Gesetz hat den Menschen Zeus der Kronide verordnet: die Fische und wilden Tiere und geflügelten Vögel sollen einander fressen, da es kein Recht unter ihnen gibt. Aber den Menschen hat er das Recht verliehen, das kostbarste der Güter." Jetzt, in dem Zeitalter übersättigter Kultur, schlug diese Erkenntnis in das Gegenteil um. Das Recht des Stärkeren war bald die herrschende Anschauung der mit der Demokratie unzufriedenen Adelskreise, die bisher unter der Demokratie tatsächlich die Führung behalten hatten, allmählich aber mit der Zunahme des Demagogentums an die Seite gedrängt wurden und nun auf die Gelegenheit warteten, den durch den Krieg geschwächten Staat durch einen Gewaltstreich in ihre Hände zu bringen. Plato hat in dem Kallikles des „Gorgias" und im Thrasymachos seines „Staats" zwei skrupellose und geistreiche Vertreter dieses Typus gezeichnet. Der bedeutendste unter ihnen war wohl sein eigener Oheim Kritias, jene geistig und körperlich glänzende Gestalt des dichtenden Aristokraten und leidenschaftlichen politischen Abenteurers, der in der Revolution nach dem Zusammenbruch des Vaterlandes die Konsequenz des philosophischen Verbrechers bis zum tapferen Tode wahrte und den Plato trotz des Abscheus gegen seine Taten niemals ganz aufgehört hat, mit den bewundernden Knabenaugen seiner Jugend zu betrachten. Der bedenkenlose Naturalismus dieser Leute, dem der unglückliche Krieg und der politische Parteihaß die Kraft der Leidenschaft gab, war in der Form der Lehre vom Recht des Stärkeren natürlich nur das Eigen93

turn der aufgeklärten Kreise, die mit denen der Opposition ziemlich zusammenfielen. Solange das Staatsgesetz noch herrschte, mußten sie äußerlich den Schein wahren, um nicht der Strafe zu verfallen, aber selbst in die Theorie spielt der Unterschied des offenen und des heimlichen Tuns hinein, den sie in ihrem praktischen Verhalten zu den Gesetzen dieses Staates sich vorbehielten. Antiphon schreibt in der „Wahrheit": „Jedermann stellt sich zur Gerechtigkeit am vorteilhaftesten so, wenn er vor Zeugen die Gesetze hochhält, ohne Zeugen aber das, was natürlich ist. Denn die Gesetze sind künstliches Menschenwerk, das Natürliche dagegen ist notwendig." In diesem Sinne stellt Kallikles bei Plato die Pleonexie des Stärkeren und seine Ausnutzung des Schwachen geradezu als das „Gesetz" der Natur dem Staatsgesetz entgegen. Kritias spricht in dem Satyrspiel „Sisyphos" vor einem athenischen Theaterpublikum von Tausenden bereits ungeniert aus, Religion und Gesetz seien nichts als erzieherisch notwendige Fiktionen kluger Gesetzgeber der alten Zeit, um die Masse durch Furcht vor Strafe im Jenseits zur Befolgung des Gesetzes auch ohne Zeugen anzuhalten. Was uns hier abstößt, der Nihilismus, ist für den Griechen bei seiner Auffassung des Ethischen als staatlicher Satzung nicht befremdlich, wenn dieser sittliche Halt wegfällt und der Wille ins Grundlose stürzt. Den Naturalisten ist es außerdem selbstverständlich, daß der Staat, der durch sein Gesetz die Handlungsfreiheit des Starken einschränkt, selbst das natürliche Recht des Stärkeren übt, wo er kann, und diese neue Überzeugung, die Kallikles bei Plato durch geschichtliche Beispiele der Eroberung und Annexion erhärtet, gibt ihnen nach griechischer Ansicht das Recht zu gleichem Handeln. Auch für die Zerstörer und Leugner der alten Staatsethik ist ein Unterschied zwischen Staats- und Privatmoral nicht vorhanden. Ist für sie doch auch das Gesetz, das der Staat dem Einzelnen auferlegt, ein Erzeugnis egoistischer Machtausübung der organisierten Schwachen, daher nur verbindlich, soweit man seinen Zwang nicht umgehen oder durchbrechen kann. Solche Theorien werden psychologisch verständlich durch die Gesetzmacherei und die ausgesprochene Klassenpolitik der entartenden Demokratie jener Jahrzehnte, die dem alten Staatsmythos seinen Nimbus raubte und das allzu Menschliche der sich hinter ihm verbergenden Interessenwirtschaft enthüllte. Uns läßt selbst die platonische Darstellung des Kallikles trotz aller Gegnerschaft noch das Pathos dieser furchtbaren Machtnaturen empfinden: „Wir nehmen unsere Besten und Kraftvollsten von Kindes94

beinen an wie Löwen und beschwören und betören und knechten sie, indem wir ihnen vorsagen, es solle sich jeder mit dem Gleichen begnügen, und das sei eben das Edle und Gerechte. Wenn aber einmal ein Mann von wirklich kraftvoller Natur kommt, der schüttelt all das ab und zerbricht die Ketten und flieht hinaus und tritt unsern Buchstabenkram und unsre Hexereien und Zaubermittel und all die widernatürlichen Gesetze unter seine Füße, und er, der Sklave, reckt sich und tritt in die Erscheinung als unser Gebieter: da bricht der Funke des Rechtes der Natur hervor." So hat Plato in seiner Jugend die ihm Nächststehenden und die liebsten Freunde wohl oftmals reden hören, und so sehr er sich ihnen von jeher widersetzt haben mag, hat ihre Rede doch den Stachel in seiner Seele zurückgelassen durch den aufrichtigen Zorn und die Empörung, aus der sie kam. Nicht kalte Feindschaft, sondern der Haß der Liebe läßt ihn sie so schildern. Hatte doch jeder der demokratischen Griechen in sich einen solchen Tyrannen zu überwinden. Es fehlte dem Staat und dem positiven Recht auch in dieser Periode der geistigen Auflösung des Alten keineswegs an Verteidigern, die das staatliche Recht als das der Natur Entsprechende zu erweisen und die Lehre vom Übermenschen ad absurdum zu führen suchten, aber es fehlt diesen Klügeleien ebenso die religiöse Tiefe einer metaphysischen Staatsbegründung wie der ungeheuchelte Affekt der naturhaften Emanzipation des Starken. Sie fußen auf reinen Nützlichkeitserwägungen und wollen im Grunde mehr die Form als das echte Wesen des alten Rechtsstaates bewahren. Dem Geiste des Staates, den sie verteidigten, waren sie sicherlich unähnlicher als die Machtmenschen vom Schlage des Kallikles, die die Pleonexie offen als Recht für sich forderten. Die gleichen Rechte, die Kallikles aus dem Verhalten des Staates für sich herleitet, nimmt der athenische Staat tatsächlich in den Verhandlungen mit der kleinen Insel Melos in Anspruch, die er mit Gewalt zur Preisgabe ihrer Neutralität zwingen will. Thukydides hat die Unterhaltung der beiderseitigen Unterhändler zu einem Dialoge ausgesponnen, der nicht die wirkliche Unterredung wiedergibt, sondern frei gestaltend die Logik der Macht und die Logik des Rechtes so erschöpfend zu Worte kommen läßt, wie es die Erregung der wirklichen geschichtlichen Situation schwerlich erlaubt haben wird. Thukydides gibt die Dinge ohne Anklage, in vollkommner Erkenntnis ihrer höheren Notwendigkeit wieder. Aber die Tatsache, daß er die beiden Standpunkte der Macht und des Rechts in grundsätzlicher

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Schärfe sich auseinandersetzen läßt in der sonst in seinem Werke nicht vorkommenden plastischen Form eines fingierten Wechselgesprächs, ist Beweis genug, daß er den notwendigen Konflikt des Staats mit dem Prinzip des Rechts, durch das er selber sich begründet, als ein gewaltiges Schicksal empfindet. Die Athener verteidigen ihr Vorgehen mit der Naturnotwendigkeit, die Macht des Staates voll auszunutzen, die im Wesen der Macht selbst liege, und die nicht sie als Gesetz aufgestellt hätten, sondern die zeitlos gelte. Unter Menschen sei diese Tatsache überhaupt nicht diskutierbar, und auch der Zulassung durch die Gottheit glaubten sie sicher zu sein. Euripides erfaßt in derselben Zeit den Machtmenschen als psychologisches Problem in der Figur seines Selbstherrschers Eteokles, des vom Dämon der Macht Besessenen, der das ungeheure Fühlen des neuen Zaubers und der in ihm liegenden bewußten Tragik in dem Vers zusammenpreßt: „Muß denn gefrevelt sein, so sei's gefrevelt um die Macht." Der handelnde Staatsmann, der von der Macht seines Staates rücksichtslos Gebrauch machen mußte, war weit entfernt von solcher Hybris. Er deckte seine persönliche Verantwortung mit dem Namen der Freiheit und des geliebten Vaterlandes, dessen Götter er schützte. Aber er konnte nicht verhindern, daß die seelische Abhärtung, die zu solchem skrupellosen Handeln nötig war, bald auch im Geschäfts- und Privatleben der vielbewunderte Typus des erfolgreichen Mannes und der starken Persönlichkeit wurde und jeder, der nicht seinen Vorteil in gleicher Weise wahrte, als Dummkopf, Feigling oder altmodischer Trottel belacht oder verachtet wurde. Diese Umwertung aller Werte durch den allzulangen und unglücklichen Krieg hat Thukydides als die eigentliche Tragik seiner Zeit geschildert, deren Großartigkeit er im allgemeinen doch fast stärker empfindet als ihre Furchtbarkeit. In Athen hatten sich Machtraison und geistige Kraft im Gleichgewicht erhalten ohne Lösung der Antinomie. Erst durch den Fall Athens kam die naturalistische Staatsauffassung zum vollen Siege. Die Realpolitik zog aus diesem die griechische Welt erschütternden Sturz die Lehre, daß man die Anstrengungen verdoppeln müsse und daß man nur durch eine unumschränkt gebietende Führerpersönlichkeit zum Ziel gelangen könne, die sich wenn nötig über alle Skrupel und verfassungsmäßigen Hemmungen hinwegsetzte. Athen war an der Zwiespältigkeit seines Staatsgeistes zugrunde gegangen, so glaubte man zu sehen, an der unklaren Mischung von altem Gesetzeswahn mit richtigen realpolitischen Maximen. 96

Nachdem es ausgeschaltet war, ging das übrige Griechenland den Weg der konsequenten Macht, die den Menschen immer mehr aus einer notwendigen Bedingung zum eigentlichen Sinn des Staates wurde. Das Zeitalter des Machiavellismus und seiner höchsten Kunst bricht an. Das „Ethos der Verfassungen", nicht nur im Staate der Besiegten, sondern noch mehr im Siegerstaate, verliert die alte Kraft, und Staatsform und Gesetz wird bloßes Werkzeug in der Hand des Virtuosen, nach dem die Zeit verlangt, des Tyrannen, der alle politische Initiative der Glieder des Staates tötet, um sie gesteigert in sich zu vereinigen. Lysander, Jason, Dionysios von Syrakus sind verschiedene Stufen dieser Entwicklung. Die Illegitimität der neuen Herrscher war einer Zeit, die nur die natürlichen Herrschereigenschaften, doch keine gesetzlich ererbten Herrscherrechte anerkannte, kein unerträglicher Gedanke. In einer Gestalt wie Dionysios, der im Abwehrkampf Siziliens gegen die Karthager als soldatischer Diktator die Heimat rettete und dann durch viel Blut der Mitbürger seine Herrschaft dauernd begründete, liegt tiefste geschichtliche Notwendigkeit. Der große Tyrann, der eine Macht in seiner Hand hielt, wie weder Sparta noch Athen sie jemals besessen, und dadurch das Werk der nationalen Einigung Siziliens vollbrachte, und der doch seinen Palast gegen sein mißtrauisches Volk durch fünffache Festungstore schützen mußte, vereinigte in sich den unbeugsamen antiken Willen zum Staat mit der tragischen Erkenntnis, daß dieser Staat nicht ohne Verbrechen zu behaupten sei. In einer seiner Tragödien nannte er selbst die Ungerechtigkeit die Tochter der Tyrannis. Er spielte damit auf die Machttragödie der „Phönissen" an, in denen sein Lieblingsdichter Euripides die Tyrannis ein vom Glück begünstigtes Verbrechertum genannt hatte. Dionys ist jenen großen politischen Verbrechern beizuzählen, in denen Plato den gefallenen Philosophen ehrte. Die Vorsehung hat Plato, den Erneuerer der griechischen Staatsethik, und Dionysioe den Gewaltmenschen nebeneinandergestellt. Sie haben ihre Wege gekreuzt und Plato hat einen Augenblick gehofft durch die Macht, die in der Hand dieses Einzigen vereinigt war, seinen Staat zu verwirklichen. Aber die beiden haben sich aufs tiefste abgestoßen. Sie sind die reinsten Verkörperungen der beiden Seiten des Staats, die durch die Entwicklung des Stadtstaates zum Großstaat in Konflikt geraten waren. Es ist nicht Brauch, Plato überhaupt in die Entwicklung des realen Staates einzuordnen, da er nicht positiv auf ihn gewirkt hat. Man stellt

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ihn zu den philosophischen Staatstheoretikern. Aber wenn wir es als Auflösungserscheinung und als Versudi der Neubildung der Staats s u b s t a n z betrachten, ist sein Werk für Griechen ein unmittelbares Staatsereignis von ungeheurer Tragweite. Im machiavellistischen Staat des syrakusanischen Tyrannen sehen wir das, was das ältere Griechentum unter Staat verstanden hatte, so gut wie verlassen. Aber auch in einem so historischen und geistig differenzierten Staat wie dem athenischen war es schwer, noch den alten Gesetzesstaat wiederzufinden, der das Leben der Bürger durch seine Norm sittlich gebunden hatte. Innerlich hatte sich das Individuum von dem Gesetz, dem Gewissen des alten Staatsbürgers, freigemacht und war nun im eigentlichen Sinne des Wortes gewissenlos. Äußerlich erhielt man den alten Staatsmythos aufrecht, und der Staat gab den geschichtlich begründeten Anspruch nicht auf, der Erzieher seiner Bürger zu sein, aber die Autorität seines Gesetzes hielt einer ernstlichen Kritik nicht stand. Das Schicksal des Sokrates ist für Plato das weithin sichtbare Symbol der Unwahrhaftigkeit jenes Anspruchs. Die Machthaber der oligarchischen Revolution, die nach dem Zusammenbruch Athens zur Herrschaft kamen, verboten Sokrates zu reden, und die heimkehrenden Demokraten töteten ihn. Ob aristokratisch oder demokratisch regiert, dieser Staat hatte für den gerechtesten seiner Bürger keinen Platz mehr, obgleich er nie am öffentlichen Leben teilgenommen hatte. In Plato aber bricht die unverbrauchte sittliche Kraft des alten Gesetzesstaates wieder durch und stellt das Bild eines neuen Staates hin, der fähig ist, dem alten hohen Sinne wahrhaft zu genügen. Nach modernen Empfinden müßte der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit des damaligen Staats und seiner ethischen Theorie bei dem hochgesteigerten Individualismus jener Zeit endgültig zur Losreißung der Ethik von der Absolutheit der Staatsnorm und zur Aufrichtung der sittlichen Autonomie des Ichs geführt haben. In einigen der sogenannten sokratischen Schulen wird wirklich das Gesetz des Staats durch die Norm des Naturgemäßen ersetzt und dieses in sokratischem Sinne als „das Gute" gefaßt. Diese Naturethik ist die spezifisch griechische Form des sittlichen Individualismus. Aber Sokrates hat anders gedacht und anders gehandelt, wie die erschütternde Szene im Kerker zeigt, die Plato im Kriton darstellt. Als sich ihm die Pforte des Gefängnisses zur Flucht und Freiheit öffnet, erscheinen ihm die Gesetze des Staates, die ihn geboren und erzogen und seinem Leben einen Inhalt gegeben haben, und stellen 98

ihm vor, daß es besser ist unschuldig zu sterben als an der Aufhebung der Gesetze mitzuwirken. Der ungeheure Seelenkonflikt, in dem Sokrates ohne Schwanken die Partei der Gesetze nimmt gegen jede etwaige bequeme Neigung, hätte bei der jetzt üblichen Scheidung von persönlichem Gewissen und Staatsraison wohl eine weniger heroische Lösung gefunden, denn daran hat Plato, als er diesen größten Augenblick der sterbenden griechischen Staatsethik verewigte, nicht gezweifelt, daß dieser Staat, so wie er war, des Mannes nicht wert war, der für ihn starb. Aber im Staatsgesetz bejahte Sokrates noch bis zum letzten Atemzuge die höchste Norm des Menschen, die er als Grieche kannte, und die ihm Norm blieb, auch wenn die Menschen sie mißbrauchten. Seine Tat schloß in sich die Aufgabe, das Gesetz wieder zu Ehren zu bringen, dem ein solches Opfer gefallen war. Sokrates ist für Plato der einzige „wahre Staatsmann" in Athen, weil er des Staates tiefste Not erkannt hat. Noch stand äußerlich das Gesetz aufrecht. Es galt ihm und dem Leben neuen Halt zu geben in einer höchsten, unumstößlichen Norm, der Norm, die Sokrates sein Leben lang gesucht hatte, und es durch sie mit neuem Geiste zu erfüllen. Plato, der adlige Sprößling der altartischen Führerschicht, von Jugend an erfüllt von geistiger Staatsüberlieferung, hat diese patriotische Aufgabe sich gestellt. Seit dem Schicksal des Sokrates stand sie vor ihm. Platos Philosophieren erwächst folgerichtig an und aus dem Staatsproblem, das für ihn ausschließlich in der Frage der Neuschöpfung der Staatsethik besteht. Technische Fragen konnten andere lösen. Sie waren nutzlos, wenn das eine nicht möglich war, den Staat zu erneuern als die höchste Norm und Form des Menschenlebens. In der übersinnlichen Idee des Guten findet er jenes absolute Maß, das die Kluft zwischen Staatsgesetz und „Natur" schließt, indem es menschliches Wollen und kosmisches Sein von dem gleichen Gesetz beherrscht zeigt. Es ist das Gut, nach dem sich die Willen aller Wesen strecken, ohne es doch zu kennen, und das des sichtbaren Kosmos erhabene Symmetrie verkündigt, ohne es doch zu enthüllen. Das Auge der ewig Blinden vermag nicht bis in jene Sphäre zu dringen, wo es selbst, daß Maß der Maße, in wandellosem Sein jenseits der äußeren Erscheinungswelt erstrahlt, wie eine Sonne dem geistigen Kosmos Wachstum, Nahrung und Gesetze spendend. Wer sich, der Sinnenwelt den Rücken wendend, zu ihm gekehrt hat, der weiß Scheingut hinfort vom wahren Gut zu scheiden. Sein Wille 99

wird erleuchtet und tritt mit dem höchsten Gesetze aller Wesen in die von Ewigkeit gesollte Harmonie. Doch nur wenige Auserwählte, die ihr Leben ganz dem Wahrheitsdienste hingegeben haben, erheben ihren Geist zu solcher Höhenschau. Es sind die Herrscher des neuen Staates, Wisser höchster Wahrheit und ewigen Maßes, die mit lykurgischer Strenge die Vielen regieren. Denn die große Mehrzahl der Menschen ist des Guten unkundig, und kein inneres Gesetz lehrt sie, es in eigner Freiheit handelnd deuten. Für sie bedarf es der Führung und staatlicher Gesetze, die die Menge durch Überredung oder Zwang zum besten Ziele lenken. Die Herrscher gehen hervor aus dem vergeistigten Spartanertum der Kriegerkaste, die den Staat bewacht. Was unter ihnen kommt, die Erwerbswelt, kümmert den Stifter des neuen Staates nicht. Die Auswirkung des sittlichen Ethos der Führerschicht erstreckt sich zwar bis an die untersten Grenzen des Staates. Aber Platos ganzes Interesse gehört dem Problem des Führertums, seiner Auslese und seiner Erziehung. Die Gemeinschaft, die den Menschen der Gegenwart verlorengegangen ist, und ohne die kein Kosmos und kein Staat möglich ist, erzeugt sich neu aus dem Ethos der Erkenntnis des höchsten Ziels, der Religion des neuen Staates. Der Führerschicht nimmt er Eigentum und Einzelehe, um die Gemeinschaft fester zu kitten und den Individualismus im Innersten zu brechen. Dem hochentwickelten Individuum seiner Zeit, das dem Zaum des Staates längst entwachsen war, durfte Plato das Opfer seiner Sonderrechte nur deshalb zumuten, weil er gewiß zu sein glaubte, daß jeder das zweifelhafte Glück der modernen Persönlichkeit freudig hingeben würde für das, was nur der echte alte Staat ihm wiederbringen konnte, den verlorenen Sinn des Daseins und die erlösende Strenge des Lebens im Gesetz. So ist es denn unnütz zu fragen, ob Platos Staat ins „Leben" paßte. Aus der Zerrüttung der alten gesetzesstaatlichen Lebensform seines Volkes steigt Plato hinauf in den wirklichen Staat der Idee, nicht aus müder Sehnsucht nach einem vergangenen Idyll, nicht weil er verkannte, daß es der Macht und irdischer Mittel bedarf, sondern weil mit dem Formzerfall des Staates die sittliche Lebensform der griechischen Seele zerbrach. Doch in den edelsten und reinsten Seelen der Nation läßt sich der Adel bodenständiger Geistesform nicht zerstören, wenn auch die Welt den Weg ihres Schicksals geht. Und wie Dante, der große Haderer mit der Ungerechtigkeit seiner Zeit, inmitten der Zersetzung seiner 100

Kirche im unerschütterlichen Dom der inneren Kirche seines Glaubens wohnt, so schafft Plato dem staatgeborenen Ethos der Griechenseele, das im Staate der Wirklichkeit heimatlos geworden ist, in seinem Staat ein Haus, das für die Ewigkeit gebaut ist. Der griechische Staat hat schon zehn Jahre nach Platos Tode seine Selbständigkeit verloren, und mit dem Beginn der Fremdherrschaft des makedonisch-hellenistischen Staates über die Polisstaatenwelt der Griechen reißt die organische Entwicklung der Staatsethik ab. Ein ethisches Verhältnis zu dem neuen Staate hat der städtische Grieche nicht gefunden. Der Individualismus, der durch die innere Entwicklung des Polisstaates in ihrer letzten Phase schon die Oberhand gewonnen hatte und gegen den Platos Staatsschöpfung sich vergeblich stemmte, war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Die aufgeklärte Despotie eines fremden Herrschers, der die Flucht des Einzelnen aus dem politischen Leben in das geistige Reich und ins Privatdasein begünstigte, erlöste die Griechen von einem für sie unlösbar gewordenen Problem. Die letzten Jahrzehnte ihrer Autonomie sind noch voll von Versuchen, eine Lockerung der inneren Spannung herbeizuführen, teils indem man den alten innerpolitischen Gleichgewichtsgedanken nun auch in dem zwischenstaatlichen Leben zur Geltung zu bringen suchte, teils durch die Idee einer allgemeinen nationalen Verständigung zwischen den Einzelstaaten, die ihren beredten Herold in dem Rhetor Isokrates fand. Die Früchte dieser hoffnungsvollen Saat von weltgeschichtlicher Bedeutung haben die Griechen nicht mehr geerntet. Der nationale Gedanke hat nur noch dazu dienen dürfen, die Eroberung Griechenlands durch den makedonischen „Einiger" zu legitimieren, und an dem Siegeszuge Alexanders gegen den Erbfeind hat in Wahrheit kein griechischer Patriot sich berauscht. Das Weltreich nimmt den staatlos Gewordenen auf. Das losgelöste Ich der neuen Zeit, die nun anbricht, sucht seinen letzten sittlichen Halt in dem Gesetz des Kosmos, der ewigen Polis, die ihm nach dem Verlust der irdischen jetzt ihr nicht begehrtes Bürgerrecht verleiht. Wir kehren vom Schauspiel der Geschichte zurück zur Gegenwart. Man nennt oft die Geschichte eine Lehrmeisterin der Wahrheit, aber einzelne Nützlichkeitslehren erteilt sie dem oberflächlichen Betrachter nicht. Wer aber aus eigenem Leiden tiefer sieht, den lehrt sie die Notwendigkeit alles Geschehens begreifen. Nichts ist schwerer für Menschen zu verstehen als dies. Möge es unserm Volke gegeben sein, in der 101

Erkenntnis der tieferen Notwendigkeit der Geschichte sein eigenes Schicksal freien Blickes zu gestalten. Wir haben nicht Staat, nicht Recht, nicht Macht im Sinn der Griechen. Uns sind andere Gaben verliehen, von der Geschichte andere Wege gewiesen. Und dennoch gibt es keine tiefere Belehrung über Wesen und Zusammenhang dieser Kräfte als die Betrachtung der Geschicke jenes hochbefähigten Volkes, das alle höchsten menschlichen Lebenswerte, aber auch alle menschlichen Schwächen in gesteigerter Form und schroffster Entschiedenheit besaß. Der Weltbau wird uns bis in seine Gründe aufgeschlossen durch den Anblick solchen Schicksalsgangs. Uns aber möge es vergönnt sein, mit Ernst um einen Staat zu ringen, der seines Namens würdig ist. Wir sind gleich ferne von dem dämonischen Machtsinn der Griechen und von der überschwenglichen Schau ihrer reinen Idee, aber auch für unser geschichtserfulltes und vom Gedanken der Nation getragenes staatliches Leben bleibt es höchstes Ziel, was der große deutsche Staatsdenker Hegel vor 100 Jahren zum erstenmal wieder von den Griechen lernte: Staatsmacht und Staatsethos in wahrhaften Einklang zu setzen. Jene Macht wünschen wir dem Staat, die fähig ist, ihn zu verteidigen gegen Willkür draußen und drinnen. Ein wehrloser Staat, mußte Hegel in einer der unsern ähnlichen Lage Deutschlands erkennen, ist kein Staat im vollen Sinn, weil er nicht die Kraft hat, seinen idealen Wesensgehalt zu verwirklichen. In diesem Sinne der Verteidigungsfähigkeit ist Macht eine notwendige Bedingung des Staates. Sie findet ihre Begrenzung in sich selbst, wenn wir die Lehren der Geschichte richtig verstehen. Denn wahre Macht ist nicht die bloße Anhäufung technischer Mittel, sondern wurzelt in der sittlichen Gesundheit und Symmetrie der Volksgemeinschaft. Wer sie neu baut, der baut zum zweitenmal das Deutsche Reich, ein Bau, der in dem Innern eines jeden Deutschen, in dem dunklen Schöße des Gewissens beginnen muß. Aber bauen wollen wir die neue Welt der Eintracht, und nicht allein in unserm Busen, sondern das wirkliche, das ganze Deutschland soll sie umfassen, würdig des Vergangenen und den Blick der Zukunft zugewandt.

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Antike und Humanismus (1925) Es bedarf wohl keiner näheren Begründung, wenn wir die Frage nach der Idee der humanistischen Bildung an den Anfang einer Tagung über das Gymnasium stellen. Und doch ist es fast gegen unser Gefühl, in dieser Zeit der schwindelerregenden Bildungsinflation das endlos erörterte Thema wieder und wieder anzuschlagen. Handelt es sich doch dabei für uns nicht um theoretische Wesensschau (wie man jetzt sagt), sondern um die praktische Frage: Können wir daran denken, Humanität und Bildung in die gegebene Welt hineinzupflanzen? Das ist freilich letzten Endes eine Willens- und Charakterfrage, aber wir dürfen unsern Blick doch nicht gegen die graue Wirklichkeit verschließen. Und welcher Mensch, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann auch nur einen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß wir nach einer kurzen Hochblüte und Renaissance am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts der „Amerikanisierung" mit Riesenschritten entgegengehen? Der Prozentsatz der Bevölkerung, der an dem angestammten geistigen Besitzstand unserer Nation wirklich inneren Anteil hat, nimmt im Zeichen der fabrikmäßigen Massenproduktion der Populärwissenschaft und der Einführung von Kino, Rundfunk und Taschenmikroskop auf der Schule von Jahr zu Jahr ab. Die mächtigsten Wirtschaftsschichten unseres Volkes, Arbeitermasse und Großkapital, sind mit den wohlbekannten Ausnahmen den Grundlagen unserer humanen Kultur im Wesen fremd, ja ihr teilweise feindselig. Der mittlere Bürgerstand aber, bei dem diese Interessen erblich und wenn auch nicht ohne Schwankungen bis vor kurzer Zeit am sichersten geborgen waren, wird zwischen den groben Mühlsteinen der modernen Wirtschaft zerrieben. Weit entfernt von der in den Zeiten des Liberalismus erträumten Rolle eines neuen Geistesadels der Nation, verzettelt er seine Kraft in kleinlichen Alltagsnöten. Wir sind dem Sinn und Ursprung der Kultur tief entfremdet, Beweis: die Massenflucht der Jugend, die Krisis des Arbeits-

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willens, die Überhandnähme des Materialismus und Spiritismus, dieser beiden unzertrennlichen Zwillingssprößlinge geistesmüder Perioden. Wir wühlen nervös in den Weisheitsschätzen Asiens nach Ersatz, nicht weil wir innerlich soviel reicher und freier geworden sind, um auch das Fremde nun recht zu würdigen, sondern weil wir den Glauben an die Autarkie unserer eigenen europäischen Kultur verloren haben. Während in Peking Rabindranath Tagore den dichtgedrängten Scharen gelber Studenten zu seinen Füßen das Wiedererwachen der Seele Asiens kündet, starren wir, ermattet von Weltkrieg und Kulturkrisis, nach der Modetheorie vom Untergang des Abendlandes. In einer solchen Zeit scheint kein Platz zu sein für das, was Goethe „ruhige Bildung" nennt. Stellen wir der Bildung in dieser Situation das Horoskop, so erscheinen am Horizont zwei mächtige Nachbargestirne, die das Trachten des heutigen Menschen ganz in ihren Bann zu ziehen suchen. Das eine ist die durch und durch zweckhafte, rationale Wirtschaft und Wissenschaft, die Grundlage der modernen Zivilisation, die Brothemn zahlloser einträglicher Berufe, mit ihren sich ständig steigernden Forderungen an das technische Können des Menschen und an die intellektuelle Vorbereitung des Berufsgehirns. Immer frühzeitiger erfaßt das Triebwerk der Berufsmaschine den jungen Geist und lenkt ihn von den ersten Lehrjahren an mit bewußter Folgerichtigkeit auf das Ziel hin, nützliches Glied dieses Zivilisationsmechanismus zu werden. Zum Übermaß gesteigert, vernichtet das Anwachsen dieses Zivilisationswissens die geistige Individualität und freie seelische Entfaltung. Es führt notwendig zu rationalistischer Entleerung und Abplattung des Lebens, zu brutalen Reaktionen der vergewaltigten Natur, zur ungesunden Hypertrophie des Erwerbs- und Vergnügungssinnes, zur Aufhebung der geistigen Selbständigkeit von Staat und Kultur. Auf der anderen Seite reißt, schon als Gegenwirkung unvermeidlich und unentbehrlich, die Anziehungskraft einer transzendenten Religiosität den Menschen zu sich hinüber. Verzweiflung an der intellektualistischen Einöde dieser Welt der Mittel ohne Zweck treibt die Menschen in Scharen einer religiösen Stimmung in die Arme, die mit der entgeistigten und entwerteten mechanischen Kultur auch jeden Glauben an einen eignen Sinn des geistigen Lebens wegwirft und nur noch nach mystischer Erleuchtung begehrt. Beide Mächte unserer Zeit, die Uberzivilisation und die Zivilisationsflucht, vernichten in ihrer letzten Übersteigerung die Kultur. Denn Kultur ist nicht 104

äußerer Apparat, ist auch nicht formlose Innerlichkeit. Sie ist hellstes Wissen des Geistes um sich selbst und sicheres Ruhen in seiner Form, zwedcfreies Sein und Können. Nur in dieser interessefreien Sphäre (mit Plato und Kant zu reden) ist wahre Bildung zu Hause. Alle echte Bildung ist daher humanistisch, Bildung des Menschen zum Menschen. Alles andere ist doch nur Ausbildung, Durchbildung, Vorbildung, Fortbildung, nicht Bildung, Formation, Herausgestaltung der als „Idee" über dem Menschen stehenden, als „Entelechie" in ihm wirksamen Form seiner selbst. Humanist sein heißt den Selbstwert geistigen Seins, innerer Form des Menschen empfinden und bejahen, wie wir den Wert eines Kunstwerks empfinden und bejahen.

Aber was hat nun ein moderner Humanismus, was hat das Ideal der Bildung des Menschen zum Menschen, wie ich es charakterisiert habe, mit der Antike zu tun? Es könnte überflüssig erscheinen, diese Frage aufzuwerfen unter Leuten, für die die Verbindung des humanistischen Gedankens mit den Altertumsstudien zu den Selbstverständlichkeiten des Daseins, zum täglichen Einmaleins gehört. Aber machen wir uns die Sache nicht zu leicht! Es bedarf gerade heute für jeden einzelnen Vertreter dieser Idee mehr denn je der klarsten Bewußtwerdung über die prinzipielle Seite der Frage, um im praktischen Tun das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren und sich die volle Größe und Schwere der Aufgabe stets gegenwärtig zu halten. Die Verbindung der humanistischen Bildung mit der Antike ist eines der vielseitigsten Probleme unserer Kultur. Die ganze Kompliziertheit unseres Verhältnisses zum Altertum, unvergleichbar mit dem zu irgendeiner anderen geschichtlichen Größe, hängt daran: die morphologische Selbsterkenntnis des modernen Kulturbewußtseins: klassizistisches Ethos, durch keine exakte Wissenschaft zu überwinden, weil in das Apriorische unseres Denkens unterbewußt verflochten; das Problem unserer Abhängigkeit und Selbständigkeit, von Tradition und Produktivität, von Historismus und Relativismus, von Dogma und Erlebnis. — Auf der anderen Seite ist die Frage verwurzelt in Psychologie, vor allem in Jugendpsychologie, in Pädagogik und Wertphilosophie; nicht zuletzt hängt sie zusammen mit den Problemen der allgemeinen ständischen Umschichtung. Wer beispielsweise gleich manchen modernen Erziehungs105

theoretikern glaubt, daß die Natur allein oder in erster Linie die rechte Bildnerin des Menschen sei, wird zwar an den Griechen viel bewundern können, z. B. Diogenes in seiner Tonne, aber niemals sich zum Humanismus bekennen. Wer glaubt, daß das jeweilige subjektive Bedürfnis des Menschen der letzte Maßstab sei für die Wege, die seine Erziehung zu gehen habe, wird humanistische Bildungsarbeit als unerträgliche Tyrannei empfinden. Wer Gemeinschaftserziehung ohne objektiven Inhalt, ohne Idee, als reine Gefühls- und Stimmungssache für möglich und wertvoll hält, muß eine von objektivem Bildungsinhalt und festen Bildungsideen ausgehende Erziehung als Belästigung mit Fremdstoffen empfinden. Mit anderen Worten: der Humanismus setzt eine ganz bestimmte Stellung zu allen Grundfragen der Pädagogik voraus. Es gibt über sie seltsamerweise noch kaum Literatur, ein Zeichen für die geringe Bewußtheit des eigenen erzieherischen Wollens bei unseren humanistischen Lehrern, aber auch für die Interesselosigkeit der modernen Erziehungswissenschaft gegenüber dem großen bildungsgeschichtlichen Phänomen des Humanismus und seinen pädagogischen Voraussetzungen. Es möge mir im folgenden erlaubt sein, von der psychologischen und pädagogischen Seite des Problems abzusehen und mich auf die fundamentale Forderung des Augenblicks zu beschränken, das geschichtliche Prinzip des Humanismus in seiner Reinheit zu entwickeln. Richtiger freilich müßten wir den Humanismus ein geschichtlich-übergeschichtliches Prinzip nennen, denn es ist sehr erwünscht, von vornherein ein doppeltes Mißverständnis auszuschließen, unter dem der Humanismus heute zu leiden hat. Die einen fassen ihn fälschlich als ein allgemeines Prinzip, eine bloße abstrakte Idee auf, die sich mit jedem beliebigen „Bildungsstoff" verbinden kann, oder auch darüber hinausgehend als eine allgemeine innere Disposition des Verstehens und Nacherlebens geistiger Werte. Aber Humanismus im strikten Sinne ist eine spezifische Bildungswirkung, die von einem bestimmten Objekt geschichtlich ausgegangen und nach aller geschichtlichen Erfahrung und Tradition an dieses Objekt gebunden ist: das griechische Bildungserlebnis. Es ist durchaus abwegig, in ihm eine Art von romantischer Schwärmerei oder Geschichtsmetaphysik zu sehen, es handelt sich dabei um ganz eindeutige geistige Tatsachen, die den Griechen in der Bildungsgeschichte und unter den Bildungswerten eine einzigartige Stellung verleihen. — Das zweite Mißverständnis beruht auf der naheliegenden Verwechslung von Hu106

manismus mit Altertumswissenschaft. Es versteht sich von selbst, daß die wissenschaftliche Altertumskunde ein Hauptorgan für die Lebendigerhaltung der von der Antike ausgehenden Wirkungen ist, aber die heutige Altertumswissenschaft betrachtet die Alten nicht mehr wie zur Zeit Wilhelm von Humboldts oder Friedrich August Wolfs vorwiegend unter dem Gesichtspunkt ihrer Bildungsbedeutung; sie ist eine rein historische Forschungsdisziplin geworden, und was den Philologen und Altertumsforscher wissenschaftlich interessiert, hat keineswegs alles humanistischen Wert, jedenfalls großenteils in keinem anderen Sinne wie jedes beliebige andere historische Wissen. Gelehrsamkeit ist nicht Humanismus. Was ist also Humanismus? Das Wort Humanismus charakterisiert als historische Periodenbezeichnung die Zeit der sogenannten Wiederbelebung des Altertums, speziell nach ihrer bildungsgeschichtlichen Stellung. Die Wiederentdecker der Antike hatten das Gefühl, daß sie die einmal vorhanden gewesene und verlorengegangene „Humanität" wiederentdeckten. Diesen Ausdruck und den damit bezeichneten Wert übernahmen sie von der Antike, sie lernten ihn durch sie erst kennen, und es ging ihnen damit eine neue Welt auf. Humanismus ist daher dem Wort und der Sache nach ein aus dem Altertum stammendes Prinzip unserer modernen Kultur, was vielfach nicht klar erkannt wird. Humanismus ist 1. der eigentümliche, auf dem Gedanken der reinen Menschenbildung beruhende Kulturbegriff, den die Griechen auf der Höhe ihrer Entwicklung ausgeprägt haben. Er ist für alle Völker des hellenozentrischen Kulturkreises (die Neubildung sei mir verziehen) klassisch geworden und bezeichnet in diesem Sinne 2. die Kultur- und Bildungs-Synthese dieser Völker mit dem Griechentum, nicht also eine bloße historische und kausale „Abhängigkeit", sondern die bewußte Idee einer geistigen Durchdringung mit griechischer Kultur, wie sie von den Römern typisch zuerst verwirklicht worden ist. Alles in allem fällt der Humanismus zusammen mit der spezifisch bildungsgeschichtlichen Wirkung des Griechentums, nicht mit seiner weltgeschichtlichen Folgewirkung im ganzen. Freilich war gerade diese bildungsgeschichtliche Rolle der Griechen mit ein Hauptgrund ihres weit· geschichtlichen Wirkens überhaupt. Wir betrachten nun in Kürze die 107

beiden oben bezeichneten Formen des antiken Bildungstypus, zunächst den der Griechen. II

Wir treten damit in eine sehr hohe Sphäre I Die Griechen sind das Bildungsvolk der Menschheit geworden, weil sie die eigentlichen Schöpf er der Bildung, d. h. der reinen Menschenbildung sind. Alle Völker haben Erziehung, die Griechen Bildung. Die Propheten Israels stehen unter den Erziehern des Menschengeschlechts gewiß in vorderster Linie, aber ihre Erziehung war keine im Sinne der Griechen. Wenn der Grieche Erziehung sagt, meint er etwas anderes als die übrigen Völker, nämlich eben das, was die deutsche Sprache mit dem sehr griechisch; empfundenen Wort Bildung bezeichnet, und es scheint, als könne er überhaupt nicht anders denken. Die anderen Völker sprachen zu ihren Söhnen: Du sollst! oder: Du sollst nicht! Sie übten sie in den Handwerken des Friedens und des Krieges. Die Griechen gingen als echte Künstler-Philosophen bei der Erziehung von einem „Bild", einer „Idea" des Menschen, von der inneren Anschauung seiner leiblich-seelischen Vollkommenheit ( ) aus, wie ihre Bildhauer, die den formlosen Stein zur vollkommensten Gestalt bildeten. Immerfort schweben dem griechischen Erzieher die Bilder des Bauens, des Formens und Gestaltens, der Harmonie, des Rhythmus vor der Seele. Er sieht den Menschen immer als ein Ganzes vor sich, jedes Lernen und Tun sieht er immer nur in seiner Beziehung und Wirkung auf dies Ganze. Er geht von der Norm des Menschen, und zwar von einer anschaulich gegenwärtigen Norm, also von der Wesensform aus. Diesen „Typus" prägt er dem Individuum ein. Das gebildete Individuum wird dadurch bewußt zu einer Verschmelzung seiner besonderen Natur mit der allgemeinen Form des Menschen geführt. Die moderne Welt hebt für uns mit den Griechen an, weil sie den individuellen Menschen schufen. Dieser Satz, der in unser geschichtliches Allgemeinbewußtsein übergegangen ist, bildet die notwendige Voraussetzung zum Verständnis der Bedeutung des Griechentums für die Geschichte der Bildung. Das Problem der Bildung entsteht, soziologisch betrachtet, erst in dem geschichtlichen Augenblick, wo der staatlich und religiös gebundene Mensch zur vollen Individualität erwacht, wo er sein Ich allem Nicht-Ich gegenüber bewußt erlebt. In diesem Moment, dem spezifisch griechischen Geschichtsmoment, wird 108

Bildung die st rkste neue Bindung. Das entfesselte Ich wird bewu t in ein Normbild „des Menschen" hineingestaltet. Dies ist das erste Wesensmerkmal griechischer Erziehung: sie ist Bildung des individualisierten Ichs zu berindividuellem Menschsein, geistige Objektivierung des von der naturhaften Gebundenheit der Stammesgemeinschaft innerlich unabh ngig gewordenen Subjekts. Verweilen wir noch bei diesem Objektiven! Die griechische Vorstellung vom erzogenen Menschen, dem πεπαιδευμένος und seiner αρετή, ist nicht etwa ein von P dagogen oder Philosophen erdachter k nstlicher Schemen, es ist berhaupt kein einmal in einem bestimmten Augenblick erkl geltes Prinzip; der καλός κάγαθός ist von Anfang an als Bildungsform, als Typus da, zuerst als aristokratisches Standesideal, dann bertragen auf alles, was B rger und Freier hei t, und zur Bildungsaristokratie verwandelt. Dieser Vorgang ist schon etwas Gewaltiges. Aber vollends ein Wunder ist es, wie alle schaffenden Geister dieses Volkes — wie auf Verabredung — von dem gro artigen Ethos eines Erziehertums an der ganzen Nation erf llt und getragen sind und wie dadurch die παιδεία ihrerseits einen geistigen Inhalt gewinnt, den sie so bei keinem Volke der Welt hat. Die Griechen als Erzieher! Wer macht es sich klar, da sie nicht nur deshalb so genannt zu werden verdienen, weil sie „gewirkt" haben? Nein im buchst blichen Sinne ist jeder der Gro en, Solon, Aischylos, Pindar, Heraklit, Sokrates, Thukydides, Plato, Aristoteles, Isokrates, selbst Aristophanes ein Erzieher, wenn er Aischylos aus dem Hades heraufruft und von ihm fordert: και παίδευσαν τους ανόητους! Alles geistige Schaffen der Griechen ist so zugleich ein Erziehen, wird vom Schaffenden lebendig als solches gef hlt, in seiner Beziehung auf das Ganze. So kommt es, da der Grieche als erster die Totalit t des geistigen Seins und Besitztums der Nation als eine Einheit empfunden und bezeichnet hat. Wir sagen: Kultur, der Grieche: παιδεία. „Nicht wer griechischen Gebl ts ist, sondern wer an unserer παιδεία teil hat, ist ein Grieche", sagt Isokrates. Hier haben wir das zweite Wesensmerkmal griechischer Bildung und Erziehung: ihr Inhalt ist die gesamte geschichtlich-geistige Substanz der Nation, die objektive Kultur. Jeder Einzelne soll am Ganzen teilnehmen. Damit ist aber ein dritter Zug gegeben. Die griechische Bildung ist nichts Starres, sondern in lebendiger Entwicklung, solange sich der griechische Geist berhaupt entwickelt. Jede Erweiterung des griechischen 109

Wissens, jeder große Fortsciiritt führt zu einer Erweiterung auch der Bildung. Komödie, Tragödie, Rhetorik, Publizistik und Philosophie hallen wider von dem leidenschaftlichen Kulturkampf um die Bildung. Sie wird der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Bei Plato und Aristoteles wird das Bild des neuen Staates, den sie suchen, echt griechisch aus einer Erziehungsidee heraus konstruiert. Die Entdeckung der formalen Geistesschulung, der Rhetorik, dann die Mathematik, die Astronomie, die platonische Dialektik, die Naturwissenschaft des Aristoteles und die Philologie der Alexandriner bedeuten ebenso viele Stufen in der Entwicklungsgeschichte der griechischen Bildung, die eben alle geistformenden Elemente der Kultur in ihren Dienst nimmt. Damit haben wir einen weiteren wichtigen Charakterzug griechischer Bildung berührt, der mit dem Wesen des griechischen Geistes selbst gegeben war, die hohe Wertschätzung des Formalen. Die Griechen sind die Entdecker der Formgesetze des Geistes: der Gesetze der menschlichen Sprache, des Stils, der Zahl, der Fläche, des Raumes, des logischen Denkens. Alle diese Entdeckungen sind der Ausfluß eines unablässigen Suchens nach der Norm, nach dem Gesetz in allen Dingen, das ja auch ihre künstlerische und ethische Entwicklung beherrscht. Der unermeßlichen Bedeutung gerade dieser Erkenntnis für die Befreiung des Menschen zu souveräner Herrschaft über seine körperlichen und geistigen Kräfte waren sie sich von Anfang an bewußt, und vor allem durch diese formale Überlegenheit sind sie die Lehrmeister aller übrigen Völker geworden. In dem mittelalterlichen Trivium und Quadrivium lebt die formale Bildung der Griechen fort, noch Jahrhunderte, nachdem die Kenntnis der griechischen Sprache und damit der großen Repräsentanten des griechischen Geistes in Dichtung und Philosophie verlorengegangen war. Ein geistiger Siegeslauf wie der der Griechen ist niemals wieder einem Volke beschieden gewesen. Als sie am Ende ihrer Bahn standen und ihr Erbe an die nachfolgenden Besitzer der Welt weitergaben, da nannte der Römer das, was er empfing, nicht griechische Bildung, sondern humanitas, allgemeine Menschenbildung. So sehr schien sich der griechische Geist dem Universal-Menschlichen, der Idee „Mensch" angenähert zu haben. Das letzte Geheimnis dieses Phänomens bleibt uns dunkel, weil es auf der unwiederholbaren Genialität dieses Volkes beruht, aber als das für die Wirkung Entscheidende erschien schon den 110

Zeitgenossen und erscheint auch uns die dem Griechen selbstverständliche und gleichsam angeborene Autonomie des Geistigen. Der Kampf des Nützlichen gegen freie Geistesbildung ist zwar schon von Griechen gegen Griechen mit erbitterter Leidenschaftlichkeit geführt worden, aber immer wieder setzt sich bei ihnen die dem praktischen Römer im Grunde unfaßliche Voraussetzung durch, daß der Endzweck jedes menschlichen Wesens und seines Tuns nur in ihm selber, in der Vollendung seiner Wesensform und damit in seiner „Schönheit" liege. Zwei urgriechische Weisheitssätze könnte man über die Bildungsgeschichte der Griechen als Motto setzen: Erkenne dich selbst, und: Werde, der du bist! III

Wir haben dem Humanismus der Hellenen vorhin einen Humanismus der Philhellenen gegenübergestellt, der auf der bewußten Synthese des griechischen Gedankens der Kulturerziehung und reinen Menschenbildung mit dem Geist der übrigen Völker unseres Kulturkreises beruht. Dieser Humanismus ist erst eigentlich der unsrige. Er ist ein Hauptbindeglied zwischen der Antike und der abendländischen Welt und, wie gesagt, eines der wesentlichen Prinzipien der modernen Kultur. Die abendländische Kultur steht der Antike nicht fremd und selbständig im Sinne Spenglers gegenüber, etwa wie die ägyptische und indische trotz aller Berührungen im einzelnen, die wir heute kennenlernen, ihr im Grunde gegenüberstehen. Mehrere Völker lösen sich im Abendlande ab in der Fortführung einer einheitlichen Entwicklung, deren Grundformen sie von den Griechen hernehmen. Der intelligible Ort dieser Formen ist die Idee der Bildung. Sie umfaßt die übrigen Geistesformen gleichsam in sich, durch sie wird daher der Inhalt der griechischen Geistes weit als ein i d e a l e s G a n z e s , nicht nur in dieser oder jener Einzelheit fortgepflanzt. Die griechische Bildungsidee gleicht einem beweglichen Fahrzeuge, welches die kostbare Last der griechischen Sprache und Kultur den Strom der Zeiten hinabträgt. Humanismus ist also in diesem zweiten Sinne die antike Tradition, aber nicht die historische Tradition an sich und in ihrer stofflichen Gesamtheit, sondern die Tradition, soweit sie sich vollzieht unter der Devise der zeitlosen griechischen Bildungsidee. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch nennt man Humanismus die Renaissance; von unserem Blickpunkt aus bedeutet er vielmehr die kontinuierliche bil111

dungsgeschichtliche Traditionsbewegung, die in gewissen Abständen besondere Gipfel aufweist. Dies sind die Renaissancen, von denen wir heute im Plural zu sprechen pflegen. Es gibt so viele Arten des Humanismus, wie es Renaissancen gibt, spätantiken, christlichen, karolingischen, byzantinischen, italienischen, deutschen usw. Humanismus ist mit ändern Worten keine vorübergehende Kulturerscheinung, sondern ein dauerndes Aufbauprinzip der abendländischen Kultur. Die Schöpfer und das Prototyp dieses an die Griechen anknüpfenden Kulturideals sind die Römer, und hierin liegt ein Hauptteil ihrer Bedeutung für eine moderne humanistische Bildung. Man versuche einmal sich vorzustellen, was Rom uns ohne die mühevolle Selbstformung des römischen Geistes durch die griechische Bildung bedeuten würde! Man mißverstehe mich nicht, aber der Rest wäre ein primitives Nichts. Erst durch ihre Individualisierung, ihre Bildung wurden sie der „Erudition" unterworfen, wurden sie fähig, ihren unermeßlichen inneren Eigenwert, ihre großartige nationale Persönlichkeit, ihre aus ganz originalem sittlichem und historischem Gefühl geborene Literatur zu schaffen und der griechischen Kultur geradezu eine römische gegenüberzustellen, wenn auch tieferblickende Römer den Wettstreit in richtigem Empfinden ablehnten. Jedenfalls läßt sich das geschichtliche Produkt auf keine Weise mehr restlos in griechische Einflüsse auflösen, der römische Geist triumphiert. Aber er triumphiert nur kraft der griechischen Form. In ihr liegt das Geheimnis der Erweckung des lateinischen Genius — wie ein Wunder steht sie vor den Augen der Nachwelt, die an sich selbst Ähnliches erlebt. Die griechische Form war etwas Spontanes, eine wie mühelos sich entfaltende Blüte der griechischen Volksnatur. Aber das ist erst das eigentlich Humane an ihr, daß sie in sich die Zauberkraft trägt, durch ihre Reinheit und gesetzhafte Objektivität auch andere, von Natur formschwächere und dumpfere, aber innerlich tief bewegte und nach Ausdruck ringende Völker zu geistiger Selbstbefreiung zu führen, ihre Zunge zu lösen, ihren verschleierten Blick hell und zielklar, ihre mächtigen Hände gewandt und sicher zu machen. Wie könnten wir das Erlebnis der geistigen Individualisierung, der Menschwerdung, das sich am Einzelnen und an der ganzen Nation vollzieht, den Römern überhaupt in seinem eigenartigen Pathos nachempfinden, wenn wir nicht selbst es immer von neuem erlebten! Durch das bewußte Gefühl seiner umgestaltenden Wirkung auf den ganzen Menschen unterscheidet sich 112

der Hellenismus der Römer in seiner Reifezeit grundsätzlich von der an sich nicht weniger starken Durchdringung Asiens mit griechischer Zivilisation. Wie überwiegend formal, wie intellektuell und unpersönlich ist der Hellenismus der Juden, Araber, Syrer usw., wo wir ihn kennen lernen! Er ist erlernt, aber nicht erlitten. Erst in der Seelenschicht, in der die größten Römer das Wesen des Hellenischen erfaßt haben, wird Hellenismus zum Humanismus. Das s i e es waren, die das Wort humanitas für die griechische Bildung schufen, sagt alles. Aus dieser Natur des römischen Bildungserlebnisses, das im einzelnen zu schildern nicht meine Aufgabe ist, ergeben sich für den Begriff des Humanismus in seiner lebendigen Fortentwicklung mehrere neue typische Merkmale, die seither und auch für uns mit ihm fest verbunden sind. l.Die elementare Jugendbildung scheidet sich von dem Griechenerlebnis der eigentlich schöpferischen Geister der Nation. Soweit sie aus praktischen Erwägungen nicht zu einem Studium der griechischen Originale und damit der griechischen Sprache führt, übernimmt sie von den Griechen nur die formalen Bildungselemente, unter ihnen vor allem Rhetorik und Dialektik. Die mehr musischen und theoretischen Zweige der griechischen Bildung, wie Mathematik, Astronomie und Musik, treten zurück, weil sie dem Naturell des Römers nicht entsprechen, wie denn auch die Einheit der geistigen und der Körperbildung hier zum erstenmal gelöst wird, ein Schritt, den unser moderner Humanismus mit Erfolg rückgängig zu machen bestrebt ist. Die Musenweihe der Lektüre der griechischen Literatur wird auf dieser elementaren Stufe geistiger Bildung durch das Studium der nationalen Dichter ersetzt, die das Griechentum indirekt vermitteln. 2. Aber für höhere Bildung gilt dies nicht. Wer sie erstrebt, muß ihre Anschauung aus den originalen Werken der griechischen Meister selbst schöpfen und zu diesem Zweck die griechische Sprache erlernen. Zum ersten Male wird hier eine Fremdsprache zum Element der Geistesbildung und, wie die römischen Schriftsteller uns bestätigen, zu einer wesentlichen Seite des Griechenstudiums. 3. Ein weiteres ist die Rückkehr zur klassischen Periode der griechischen Literatur. Es ist zu bedenken, daß die Römer ursprünglich diese Literatur in ihrer zeitgenössischen, also in der hellenistischen Form kennengelernt hatten. Je bewußter aber die Römer mit der Zeit das Problem ihres erzieherischen Eros zum Griechentum erfaßten, um so entschiedener fühlten sie sich zu der eigentlich schöpferischen Periode der Griechen hingezogen. 4. Schließ113 S Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

lidi ist seit den Römern Bildung keine volkstümliche Sache mehr, es ist kein kollektiver geistiger Besitz, sondern sie ist getragen vom Pathos des persönlichen Erlebnisses, etwas von jedem Einzelnen geistig selbst Erarbeitetes. Der Humanismus wird Bildungsaristokratie. Damit haben wir die typischen Merkmale und Stufen des antiken Bildungsbegriffs im wesentlichen angedeutet. Wir wenden uns nun zu unserem Ausgangspunkte in der Gegenwart zurück. IV

Wir hatten uns die Aufgabe gestellt, die Idee der humanistischen Bildung zu erfassen. Dabei sind wir nicht, wie üblich, von dem Bedürfnis der Gegenwart nach Berührung mit dem Altertum ausgegangen, sondern von etwas Objektivem, von einem klassischen Stück europäischer Bildungsgeschichte und dem Ursprung der Bildungsidee selbst. Nichts ist relativer als das augenblickliche Bedürfnis! Jeder Mensch braucht auf jeder Stufe seiner Entwicklung etwas anderes, jede Generation hat andere Sehnsüchte und Nöte, jede geschichtliche Situation erzeugt auch im Erziehungswesen ihre besonderen Kompromisse. Was bleibt und Richtung gibt, ist nur die Idee, sind gewisse einmal erreichte Höhen. Sie bleiben in ihrem Bereich Maßstäbe für alles weitere menschliche Streben. Moderne Erziehung neigt dahin, mehr auf die Schwankungen des Bedürfnisses und der Stimmungen zu lauschen und sich ihnen anzupassen. Demgegenüber behält eine Betrachtung ihr unantastbares Recht, die aus der Geschichte der Bildungsidee das objektive Wesen und die Urform der humanen Bildung erkennt und ihre organische Struktur untersucht. Wir erkennen das Wesen der Philosophie weder durch abstraktes Räsonnement über ihren Begriff noch durch bloße Befragung des Zeitbedürfnisses oder der Gegenwartserscheinungen, sondern aus ihrer Geschichte, in ihren klassischen Erscheinungsformen. Nicht anders lehrt uns erst die Anschauung des Originalphänomens der griechischen den Wert und das wahre Wesen einer reinen Menschenbildung und ihre Stellung innerhalb der Gesamtkultur eines Volkes verstehen. Philosophischer, gestaltungsmächtiger ist nirgends und zu keiner Zeit das Problem der Erziehung des Menschen gestellt und gelöst worden als bei den Griechen, und wo es irgend wieder in der Geschichte der späteren Völker in seiner ganzen Schwere und Tiefe empfunden und 114

aufgeworfen worden ist, da führte solche Besinnung stets mit innerer Notwendigkeit zur Wiedergeburt der griechischen Bildungsidee und des griechischen Geistes. Athen, „die Schule von Hellas", ist zur Schule der ganzen Welt geworden. Die deutsche Seele ist von keiner geschichtlichen Idee tiefer gepackt, ja hingerissen worden als von der der antiken Menschenerziehung, von der Forderung des griechischen Geistes nach freier Selbstentfaltung, von der Idee der Kultur nicht als eines bloßen Zweckmechanismus, sondern als erzieherischer Form alles Lebens. Kein großes europäisches Volk hat bekanntermaßen das Bildungsproblem und die geistige Selbständigwerdung so spät erlebt wie wir, die wir unsere Renaissance erst nach Jahrhunderten nachgeholt haben. Der gedankenschwere Ernst, mit dem wir Deutschen zuvor das religiöse Problem durchlebt hatten, wirkt in unserer Hinwendung zu selbständiger geistiger und künstlerischer Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts weiter in einem verstärkten Bedürfnis nach philosophischer Grundlegung der neu errungenen kulturellen Freiheit. Als diese Zeit daran ging, im Vollgefühl ihres neuen geistig freien Daseins der Nation nun auch eine ihrer würdige eigene Bildungsform zu schaffen, da waren es die Griechen, aus deren Bildungsgeschichte Humboldt und seine Gehilfen ihr philosophisches Ideal vom Wesen einer nationalen deutschen Humanitätsbildung nahmen. So entstand an Stelle der mittelalterlichen gelehrten Lateinschule die moderne Kulturschöpfung des humanistischen Gymnasiums. Das Gymnasium hatte die Bestimmung, der deutschen Jugend am Gegenbilde der antiken Kultur die Idee einer deutschen Nationalbildung lebendig einzuprägen und den jugendlichen Geist durch Bewußtmachung seiner inneren Formgesetze zur freien Beherrschung seiner Kräfte zu führen. Die Entdeckung Humboldts vom geistbildenden und -formenden Wert des Sprachstudiums, die aus der glücklichen Personalunion des Sprach- und Bildungsphilosophen in ihm entsprang, gab ihm die Kühnheit, die Erlernung der alten Sprachen, ohne die sein substantiell antiker Bildungsgedanke nicht zu verwirklichen war, in den Mittelpunkt einer modernen höheren Bildung zu stellen, die übrigen Kulturelemente aber, die er als Formkräfte der reinen Geistesbildung anerkannte, um diesen Mittelpunkt zu konzentrieren. Sie gehören zur Idee einer humanistischen Bildung als notwendige Bestandteile hinzu. Eine „Typisierung", die sie zu stark verkürzt oder streicht, würde den 115

wahren Typus der humanistischen Bildung aufheben. Andererseits hat sich gerade der kühnste Gedanke Humboldts, die Zentralstellung der alten Sprachen und die Bewertung des sprachlichen Studiums als geistesformender Kraft trotz aller Verdunkelungen der Idee glänzend bewährt und ist auch heute noch die tragfähigste Grundlage einer humanistischen Bildung der Jugend. Freilich fassen wir die Aufgabe des Sprachunterrichts vielseitiger als Humboldt. Im altsprachlichen Unterricht verbindet sich ein Höchstmaß formaler Geistesschulung mit dem von den Fundamenten her anhebenden organisch-historischen Aufbau des modernen Kulturbewußtseins aus seinen Grundformen, die strenge, alles selbst erarbeitende Methode des Verstandes mit der bis in die Tiefen des Irrationalen und die Höhen des Überrationalen führenden Anschauung von Schöpfungen maßstabgebender, zeitloser Größe. Die Idee einer solchen Jugendbildung ist hoch, wer wollte das leugnenl Menschliche Unzulänglichkeit tut das ihrige, um ihr von ihrem Glänze viel zu nehmen. Ich meine freilich, und schon Humboldt dachte so, keine Unzulänglichkeit kann eine Bildungswirkung ganz aufheben und zunichte machen, die so sehr im Objektiven gegründet ist, so ganz im Wesen der Sache selbst liegt. Wenn auch nur die eine oder die andere Seite der Idee eindrucksvoll verwirklicht wird, so ist es schon viel. Aber wenn ein Staat immer mit dem Gegebenen rechnen und daher stets das erreichbare Mittelmaß der Leistung zum Ausgangspunkt seiner Maßnahmen machen muß, so dürfen wir Humanisten doch niemals auf das Ganze der Idee verzichten. Daher erhebt sich heute wie von jeher der Ruf des Humanismus nach den Persönlichkeiten, die fähig sind, ihn zu verwirklichen. In seiner Idee liegt die Stärke des Humanismus. Möge sie an den Erziehern unserer Jugend auch heute wieder die Kraft aller echten Ideen bewähren, den Menschen zu sich hinanzuziehen und ihn im schweren Kampf des Alltags immer wieder über sich selbst zu erheben.

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Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung (1927) I. Kulturidee und Griechentum Von Kultur sprechen wir in einem doppelten Sinne. Wir meinen damit meistens schlechthin jede Art von kollektiver Daseinsform irgendeiner Volkseinheit oder geschichtlich gewordenen Völkergruppe, bis hinab zu den Primitiven. In diesem Sinne ist Kultur ein naturwissenschaftlichanthropologischer beschreibender Begriff, der eine Fülle morphologischer Artunterschiede unter sich befaßt, aber keine einheitliche historische Urform voraussetzt. Es ist dies der Sinn, welchen z. B. O. Spengler in seinem bekannten kultur- und geschichtsphilosophischen Werk „Der Untergang des Abendlandes" mit dem Wort verbindet, aber es muß gesagt werden, daß dieser Kulturbegriff überhaupt fast ausschließlich das geschichtliche Denken der letzten Generationen beherrscht hat. Eduard Spranger konnte deshalb in seinem bekannten Büchlein „Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule", wo er, zunächst nur vom Standpunkt der Erziehungsphilosophie, die Möglichkeiten eines neuen Humanismus erörtert, die eigentümliche Schwierigkeit unserer heutigen Philologie und Geschichtsforschung einer solchen Aufgabe gegenüber geradezu so charakterisieren, daß er (dem Sinne nach) etwa sagt: wir stehen heute nicht mehr vor einer einzigen Kultur, sondern vor einer Vielheit von Kulturen; ihnen allen treten wir mit gleicher historischer Objektivität des Verstehens gegenüber, daher kann keine von ihnen, wie z.B. die antike, für uns absoluten oder klassischen Wert besitzen, wie sie ihn für den Humanismus der Renaissance oder für den deutschen Neuhumanismus hatte. In der Tat muß man diese Schwierigkeit zugeben, solange man unter Kultur nichts als die unendlich variable individuelle Daseins- und Lebensform der Völker versteht und das Verhältnis zu einer fremden Kultur als eine wesentlich theoretische Angelegenheit ansieht. Die moderne Wissenschaft projiziert alle Erscheinungen des geschichtlich-kulturellen 117

Lebens gleichmäßig auf die homogene Fläche unseres historischen Tatsachen-Bewußtseins; sie findet scheinbar den charakteristischen Ausdruck ihres Verhältnisses zu den geschichtlichen Werten in der unterschiedslosen Gleichordnung der verschiedenen Philologien innerhalb unserer philosophischen Fakultäten. Die Antike erscheint dann lediglich als eine Kultur unter vielen, wenn auch als eine durch kausale Beziehungen mannigfach mit der unseren verbundene. Noch weiter geht der bekannte Satz Spenglers, daß Kulturen in ihrem natürlichen Lebenslauf sich nicht voneinander beeinflussen lassen und daß die notorische Übernahme der Formen einer Kultur durch die andere lediglich, wie die Biologen sagen, als Pseudomorphose zu erklären sei. Einen Humanismus kann es dann natürlich nicht geben, wenigstens nicht im alten Sinne des Wortes als überragenden erzieherischen Wert einer Kultur wie der Antike für das Abendland, sondern höchstens in dem uneigentlichen Sinne, den aus eben diesen Erwägungen Spranger vorschlägt, d.h. nicht im Gegenstande selbst, in der Beschaffenheit der antiken Kultur als solcher, Hegt ihr Wert für uns, sondern in dem psychologischen Akte des Verstehens, der aber dann seinen Wert unabhängig von dem jeweiligen Gegenstande besitzt. Für Spengler fällt naturgemäß auch ein Humanismus in diesem Sinne hin, denn er leugnet bei der Unübertragbarkeit seines Begriffs der Kultur von einer Nation auf die andere letzten Endes auch jedes tief ere Verständnis für eine Kultur, der der Verstehende nicht selbst angehört. Die Kulturen bewegen sich im Universum der sogenannten Geschichte danach wie einsam wandelnde Planeten, getrennt durch weite geistige Zwischenräume. Eine solche Anschauung kann man verstehen, wenn man bedenkt, daß sie aus dem Vergleich unseres abendländisch-antiken Systems der Kultur mit den seit einiger Zeit deutlicher in unser Gesichtsfeld getretenen, ehedem fast unbekannten Kulturen Indiens, Chinas, Ägyptens usw. gewonnen worden ist, die für unsere bisherige Kenntnis vielfach allerdings etwas von dieser strengen, starren Abgeschlossenheit an sich haben und deren Schöpfungen wir meist psychologisch um so interessanter finden, je weniger wir sie in ihrem eigentlichen Wesen verstehen. Ob diese neue weltweite Perspektive freilich auf unser europäisches Kulturbewußtsem so relativierend wirken muß, wie es im ersten überwältigenden Augenblick uns erschien, ob sie insbesondere unser angeborenes „humanistisches" Wertverhältnis zur antiken Kultur, in welcher wir so tief ver118

wurzelt sind, ernstlich berührt, das ist doch wohl eine andere Frage, über die noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Schon die neue Ausdehnung des historischen Horizonts und die Einbeziehung der Fremdkulturen selbst ist im Grunde der schlagendste Beweis für den Humanismus, denn daß wir die Erkenntnis und Erforschung fremder Völker und Kulturen überhaupt als eine innere Bereicherung und hohen Wert empfinden, das ist doch eben nur der in unserer rastlos um sich greifenden europäischen Wissenschaft glühende Lebensfunke des hellenischen wissenschaftlichen Forschertriebes, der schon in den Tagen Herodots und der weltdurchsegelnden Jonier , , die Kultur der Fremdrassen des Orients, ehrfürchtig bewundernd in sein Weltbild aufnahm und im Hellenismus mit dieser Welt draußen in weltgeschichtlich fruchtbare Wechselwirkung trat. Aber weiter: gerade die intensive Versenkung in die fremden außereuropäischen Kulturen und ihre Vergleichung mit den Völkern des hellenozentrischen Kulturkreises, in welchem wir selbst darinstehen, muß uns als einen grundwesentlichen Unterschied die Tatsache aufdrängen, daß jene von den Ausstrahlungen des Griechentums weniger oder nicht getroffenen Kulturen etwas nicht besitzen, was für unsere von der Antike übernommene Kultur und Bildung das eigentlich Entscheidende und für unser ganzes Lebensgefühl Bestimmende ist, nämlich das Kulturbewußtsein, die bewußte Idee der Kultur als höchster und zentraler Wert in der Sphäre alles irdischen Daseins. Hier stoßen wir also auf jenen zweiten Sinn des Wortes, von dem wir einleitend sprachen: Kultur nicht als morphologisch-beschreibender Begriff, sondern als Wertidee und letztes Ziel des irdischen geistigen Strebens der einzelnen Persönlichkeit wie ganzer Nationen. Dieser Begriff der Kultur, der mit Humanität und Bildung gleichbedeutend und ohne ausdrückliches Bewußtsein dieser Werte nicht denkbar ist, ist den abendländischen Völkern (und ihren kulturellen Dependenten) wie bemerkt gemeinsam durch unmittelbare Überlieferung der Antike, die seine historische Quelle ist. Wie ein großes Stromsystem ergießt sich aus dieser Quelle durch die Völker, deren geistiges Leben ihr befruchtendes Wasser getränkt hat, das Bewußtsein der Kultur und Bildung als höchster Erdengüter der menschlichen Existenz, und es ist ein Leichtes, seit der Renaissance zu verfolgen, wie diese Idee der Reihe nach die europäischen Nationen ergriff und ihrem geistigen Aufschwung voranleuchtete.

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Es ist ein seltsames Ding, daß alle morphologische Vergleichung der Kulturen nicht so tief gedrungen ist, diesen grundlegendsten morphologischen Unterschied der abendländisch-hellenozentrischen Kultur von den übrigen Kulturen festzustellen, denn es kann doch für Form und Wesen einer Kultur nicht belanglos sein, ob sie sich als Kultur fühlt, ob sie die Idee der Kultur kennt und in dieser Idee ihr oberstes Aufbauprinzip und geistiges Agens erkennt. Je mehr man die außereuropäischen Völker unter diesem Gesichtspunkt studiert, um so klarer sieht man, daß ihnen zwar nicht ein geistiges Aufbauprinzip überhaupt fehlt, aber daß ihr Form- und Aufbauprinzip ein völlig andersgeartetes ist als unser Prinzip der Kultur, d.h. der Bildung des Menschen zu seiner ihm von der Natur objektiv vorgezeichneten Wesensidee. Dementsprechend stellt sich das geistige System jener Rassen in ganz anderen Formen dar. Es ist nicht erforderlich, um sich das klarzumachen, die Lebensformen dieser Völker hier im einzelnen zu analysieren; es genügt vollkommen, sich ihre Gestaltungstendenz und geistige Zielrichtung im allgemeinen in Erinnerung zu bringen, indem man sich darauf besinnt, auf welche Weise sich für jene Völker das, was wir europäisch ausgedrückt ihre Kultureinheit nennen würden, in ihrem eignen Bewußtsein darstellt. Da treffen wir z. B. bei den Indern auf den Gedanken des dharma, das religiöse Lehrsystem, in dem ihre „Kultur" propagiert wurde und zu anderen Nationen gedrungen ist, bei den Juden finden wir statt dessen das, was sie „das Gesetz und die Propheten" nennen, und bei den Chinesen ihr konfuzianisches System, das im wesentlichen moralischer Natur ist. Alle diese Systeme sind von dem unsrigen, dem System der „Kultur" (d. h. Bildung des Menschen) gänzlich wesensverschieden. Sie sind ihm verwandt in der Aufstellung eines erzieherischen Aufbaus der Werte, ohne den überhaupt kein Volk existiert, aber in jedem jener Systeme herrscht ein höchster, nicht weiter abgeleiteter und begründeter, gefühlsentsprungener Begriff vom Sinn und Wesen der menschlichen Existenz, der sich von unsrer allgemeinen Idee menschlicher Vollkommenheit ( ) sofort und augenscheinlich durch seine starke Einseitigkeit unterscheidet, entweder durch einseitigen Moralismus, oder durch einseitigen Spiritualismus, durch Sinnen- und Weltverachtung, die den Zweck alles menschlichen Strebens in der Erlösung vom Dasein findet, oder durch einseitige Ausbildung der religiösen Idee auf Kosten der schöpferischen Produktivität im Bereiche des Diesseits. Gegen eine solche 120

auf unmittelbaren Wertgefühlen beruhende Lebensgestaltung läßt sich vielleicht nichts sagen, als daß ihr jede Möglichkeit rationaler und objektiver Begründung fehlt. Daß jene Systeme dies nicht als einen Mangel empfinden, offenbart nur wieder aufs neue die fundamentale Verschiedenheit unsrer geistigen Organisation und unsres Wertprinzips von dem ihren, wobei wir uns jedes Werturteils enthalten wollen. Klar ist jedenfalls, daß das Ideal einer objektiven, rational bewußten Kultur als Inbegriff der Form des Menschen in ihrer durch seine Natur selbst vorgezeichneten Vollkommenheit, ihrer Totalität und in der Harmonie ihrer Teile, sich darstellend in der Gesamtheit der historischen Schöpfungen einer Nation und sich als formende Kraft auswirkend in der Bildung ihrer Individuen — ich sage, es ist klar, daß dieses „Kulturideal" eine spezifisch abendländische Angelegenheit ist. Die unmittelbare Folge dieser Erkenntnis ist eine Vertiefung des Bewußtseins der Unterschiedlichkeit unserer Kultur von derjenigen der nicht zum Kulturkreise des Hellenismus gehörenden Völker, bis zu dem Grade, daß wir anscheinend unseren Sprachgebrauch zu revidieren Anlaß hätten, und streng genommen dem Lebenssystem der anderen Völker den Charakter einer Kultur im ursprünglichen Sinne des Wortes überhaupt absprechen müßten. Hinter dem Wort Kultur und seinen mannigfachen Bedeutungen verbergen sich, wie wir jetzt erkennen, die eigentlich entscheidenden Probleme. Ursprünglich die Bezeichnung einer bewußten Bildungsidee, der humanitas oder cultura animi, wie die Römer für die griechische Bildung, die , auch sagten, umfaßte der Begriff von Anfang an sowohl den subjektiven Bildungsprozeß des Individuums wie auch den objektiven Bildungsgehalt, zu dem und durch den der Einzelne geformt wurde. Dieser Bildungsgehalt ist für die Griechen und Römer identisch mit ihrer gesamten historischen Geistesüberlieferung, vor allem dem literarischen Schrifttum, und so vollzieht sich schon im Altertum eine Bedeutungsverschiebung der Begriffe, welche soviel wie Bildung und Erziehung bezeichnen, vom Innerlichen ins Äußere, vom Subjektiven in die Sphäre des Objektiven. Diese Verschiebung ist in der modernen Zeit noch viel weiter fortgeschritten, die Beziehung des Bildungsgehaltes auf das zu bildende Subjekt ist vielfach ganz aus dem Bewußtsem geschwunden, so daß man mit Kultur und Bildung nur noch einen Riesenstoff meint, dem gegenüber dann die bekannte schmerzliche Frage immer wieder auftaucht: was muß der Gebildete von der 121

Gesamtsumme der „Bildung" wissen? Audi die Wissenschaft hat sich dieser nivellierenden Bedeutungsentwicklung nicht entziehen können, und da von den ursprünglich gleichbedeutenden Worten Bildung und Kultur das letztere schon seit langem mehr und mehr nur noch die objektive Seite, den geistigen Inhalt des Bildungswelt eines Volkes bezeichnete, so übertrug man das Wort Kultur schließlich auf jede Art von Gesamtform einer Nation überhaupt und sprach von den „Kulturen" der verschiedensten Völker, einschließlich der Primitiven. Die unbewußte Voraussetzung dieser Begriffsausdehnung war, daß die Existenzform aller Völker an unserer eigenen meßbar sei und in den allgemeinen Grundtendenzen mit uns übereinstimme. Diese Voraussetzung ist nicht weniger naiv, als wenn etwa die alten Griechen die Religion der Perser oder das jüdische Prophetentum als die „Philosophie" der Perser und Juden betrachteten. Auch das Evangelium Jesu vermochten sie bekanntlich nur als eine Philosophie wie die des Sokrates oder Plato zu begreifen und mußten seinen religiösen Inhalt, um ihn ihrem Geiste kommensurabel zu machen, erst auf ein begriffliches System von Dogmen bringen, über die man dialektisch disputieren konnte. Es ist nichts anderes, ja es ist eine noch viel großzügigere Verfälschung der historischen Wahrheit, daß wir allen Völkern „Kultur" andichten, selbst wenn man dieses Wort noch so äußerlich versteht, ohne daß wir das Lebensgefüge etwa des Islam oder der Inder mit naiver Selbstverständlichkeit unter dem uns geläufigen Schema darstellen 1. Staat, 2. Religion, 3. Kultur. So viele Kategorien, so viele irrige Unterstellungen haben wir hier, und die irrigste von allen ist die, daß überhaupt eine Trennung und autonome Verselbständigung dieser drei Mächte in der Art, wie wir Europäer sie in uns tragen, dort existiere. Hier kann bloß ein wirklich „morphologisches" Sehen der Wesensart der anderen Völker uns helfen, aber nicht ein voreiliges Zusammenstellen scheinbarer äußerer Gleichförmigkeiten, sondern zunächst einmal nur die scharfe Erfassung der Form jedes Volkes in ihrer historischen Individualität und Besonderheit. Ich brauche mich wohl nicht gegen den Verdacht zu schützen, als wolle ich dem Europäerhochmut die Türe öffnen, wenn ich den außereuropäischen Rassen die Kultur „abspreche". Ein absolutes Werturteil liegt nicht darin, wenn ich sage, daß ein Mensch oder ein Volk anders sei als andere. Ich stelle lediglich fest, daß die Idee der Kultur mit ihrem subjektiv-objektiven Doppelantlitz und mit ihrer auf den beiden polaren 122

Kräften der „Natur" und der „Geschichte" ruhenden Seele ein spezifisch abendländisches Denk-und Wertgebilde ist. Im abendländischen Denken ist sie wesenhaft verwurzelt, sie ist ein Ausdruck seiner allerindividuellsten Form, und seine ganze geistige Geschichte liegt in ihr beschlossen. Alle Schwierigkeiten, die die Form der anderen „Kulturseelen" (Spengler) unserem Verständnis entgegengesetzt, haben ihren letzten Grund darin, daß diese Seele eben nicht die unserem Denken und Werten zur zweiten Natur gewordene „Kultur"-Idee als Form in sich trägt. Es ist nun freilich nicht daran zu denken, daß eine solche geschichtliche Einsicht jemals dazu führen könnte, den Sprachgebrauch wieder auf eine frühere Stufe zurückzuschrauben, dies wäre weder geschichtlich gedacht noch läge es im Interesse der möglichst erweiterten Geltung der Kulturidee selbst. Die Entwicklung der Sprache bedeutet die Entwicklung des Geistes selbst. Es handelt sich hier nicht nur um eine gleichgültige Frage der wissenschaftlichen Terminologie, sondern um den geistigen Machtkampf der Kontinente, und wir können nichts dagegen haben, wenn die Idee der Kultur auch unter den fremden Rassen in wenn auch noch so verallgemeinerter Gestalt Wurzel schlägt. Nur das eine sollte unsere Besinnung uns lehren, daß die auf uns neu einströmende Flut der Fremdkulturen uns niemals in unserem Kulturbewußtsein wankend machen und aus dem historischen Wertgefüge unsrer europäischen Welt herausreißen kann. Die neue Erfahrung, die das historische Bewußtsein dem modernen Menschen des 20. Jahrhunderts gebracht hat, daß unsere Wertbegriffe und Denkkategorien auch etwas Geschichtliches und Individuelles sind und also ihrer Anwendung auf Völker von anderer Struktur gewisse Grenzen gesetzt sind, hat der zweitausendjährigen optischen Täuschung ein Ende gemacht, als wäre die Geschichte unsres abendländischen Völkerkreises die Weltgeschichte. Diese Erfahrung hat uns aber zugleich den Begriff der Weltgeschichte überhaupt problematisch gemacht und uns gelehrt, daß von Geschichte nur dort mit einigem Sinn die Rede sein kann, wo eine Wirkungsgemeinschaft der Völker existiert und eine gewisse innere Einheit ihrer geistigen Lebensform vorhanden ist. Auch eine Darstellung der Schicksale sämtlicher auf der Oberfläche unsres Planeten koexistierenden Völker und Rassen wäre noch keine Weltgeschichte, es wäre eine Reihe zusammenhangloser Einzelszenen, aber noch kein Drama, weil dem Ganzen trotz der äußeren geographischen Einheit der Bühne die innere geschichtliche Sinneinheit 123

fehlen würde. Idi übernehme diesen Begriff der Sinneinheit von Ernst Troeltsdi und statuiere nebeneinander eine Mehrzahl solcher Sinneinheiten, welche übrigens nicht durchweg völlig berührungslos nebeneinander stehen, wie die Kulturkreise bei Spengler, sondern sich vielfältig überschneiden. Die Sinneinheit im historischen Sinne bedeutet zugleich Schicksalsgemeinschaft, sie beruht auf der gemeinsamen geistigen Grundstruktur der geschichtlichen Lebensform der zu ihr gehörigen Völker oder des einzelnen Volkes, welches ihr Träger ist. In der abendländischen Geschichte haben wir eine solche Sinneinheit vor uns, auch heute, nachdem der geographische Gesichtskreis sich für uns so sehr über die Grenzen unseres eigenen historischen Komplexes hinaus erweitert hat. Die charakteristische Einheit des Sinnes unserer Geschichte ist eben die Form, unter der wir uns entwickelt haben, die Idee der Kultur. Die Besinnung auf das Wesen der Kultur als des spezifischen Sinnund Strukturprinzips der okzidentalen Geschichte schließt notwendig einen neuen Humanismus ein, wie wir jetzt sehen, denn sie setzt uns in ein neues, enges innerliches Verhältnis zu unserer Geschichte und besonders zu dem Volke, welches deren Formensystem und Wertordnung geschaffen hat, den Griechen. Am Anfang hatte es uns so geschienen, als wäre durch die Vielheit der nebeneinanderstehenden Kulturen für unser modernes geschichtliches Denken ein für allemal der normative Geltungsanspruch einer Einzelkulrur wie der griechischen im Sinne des früheren Humanismus zerstört. Die Frage löst sich jetzt für uns, aber weder so, daß wir die Absolutheit einer einzigen fremden Kultur wieder aufrichten wollen, noch in der Weise, daß wir auf den völlig unhumanistischen Standpunkt treten, daß der Historiker die geschichtlichen Dinge aus jedem Wertzusammenhange gelöst sieht, also die Griechen ihre erzieherisch-normative Bedeutung für uns verloren haben, sobald wir sie erst in geschichtlichem Licht betrachten. Vielmehr vollzieht sich ein Wandel der Auffassung des Normbegriffes in dem Augenblick, wo wir uns des historisch-konkreten Charakters all unserer Werte bewußt werden. Es handelt sich für uns nicht mehr darum, die Kunstwerke der Alten als ästhetisch höherwertig oder ihre Philosophie als inhaltlich richtiger zu erweisen. Die Bedeutung der Alten liegt prinzipiell auf einer höheren Ebene für uns: sie sind die Schöpfer und das Prototyp unserer eignen Wertordnung und ihr Formenkosmos ist das lebendige Grundgerüst unsrer geistigen Lebensform. Diese Art der Betrachtung 124

ist wesentlich verschieden von der vielfach üblichen, rein kausalen Begründung des Wertes der Alten durch den Hinweis auf die Größe und Menge ihrer einzelnen Einflüsse und Wirkungen, aber sie kann die Einsicht in diese kausalen Beziehungen in sich aufnehmen. Die Frage nach dem Wert der Geschichte führt zurück auf die Tatsache der Geschichtlichkeit der Werte. Den besonderen Wert der Alten brauchen \vir dann nicht aus abstrakten Prinzipien zweifelhafter Herkunft philosophisch abzuleiten, sondern wir werden seiner unmittelbar inne dadurch, daß durch die geschichtliche Erkenntnis der Alten unsere eigenen Werte auf die ursprünglichste Art in uns lebendig werden und wir jene als konstituierenden Teil unsres eigenen Wesens begreifen. Ein so begründeter Humanismus beschränkt sich nicht auf die Wertschätzung der Alten, sondern er faßt allgemein die Geschichte organisch auf als die Trägerin und „Verkünderin" der Werte (Spranger). Ihm stellt sich die Geschichte der abendländischen Kultur als ein einheitlicher Formungsprozeß dar, dessen Subjekt eine Mehrheit von Nationen im zeitlichen Nacheinander und Nebeneinander ist. Grundlage dieses Prozesses ist das von den Griechen geschaffene Formensystem. Seine Wirkungsdauer fällt nicht zusammen mit dem individuellen Lebensprozeß der griechischen Nation im Altertum; frische Völker treten das Erbe an, indem sie den Lauf der Kulturentwicklung teils repetieren, soweit er durch die Lebensstufe des Trägers bedingt ist, teils fortsetzen und das Überkommene durch den Zustrom neuer individueller Formkräfte in den Ausdruck ihres nationalen Selbst verwandeln. Auch die Rezeption ganz fremdartiger geistiger Bewegungen wie der orientalischen Religionen im Spätaltertum erfolgt in steter Auseinandersetzung mit der einmal konsolidierten Form des kulturellen Bewußtseins und in Gestalt einer Synthese, durch die nicht nur die Kultur verchristlicht, sondern auch umgekehrt das Christentum aus einer bloßen religiösen Sekte ein Kultursystem auf der Grundlage der antiken Weltkultur wird. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, den Prozeß bis zur Gegenwart zu verfolgen. Alle seine dauernden Geistesschöpfungen sind in erneuter tiefer Berührung mit der Grundform der Antike entstanden, und das Ganze erscheint heute als eine ununterbrochene Reihe von Renaissancen, wobei nicht nur an bloß äußerliche Wiederherstellung des Alten zu denken ist, sondern die Renaissance geradezu die Form bedeutet, in der 'die großen schöpferischen Selbstgestaltungen der späteren Völker sich 125

historisch vollzogen haben und noch vollziehen. Die Ursache, die diesem merkwürdigen Strukturgesetz der abendländischen Kulturgeschichte zugrunde liegt, ist die Tatsache, daß das lebendige Bewußtsein des Ursprungs und die neue Berührung mit der geschichtlichen Urform unsrer Kultur immer wieder zu einer Quelle der Wiederbelebung und Steigerung unseres eigenen Kulturbewußtseins und Kulturwillens geworden ist. Humanistisch ist der Sinn und Wert dieses Prozesses für uns in allen seinen Perioden, aber natürlich haben für jede Nation die Schöpfungen primäre Bedeutung, in denen sie den Ausdruck ihrer individuellen Auffassung der geschichtlichen Werte gestaltet und dadurch sich selbst „gebildet" hat. Insofern die Sonderprägungen anderer Nationen entscheidend dabei mit eingewirkt haben, gehören diese in besonders engen Zusammenhang mit unserer eignen Kultur. Überragend in ihrem Wert aber wird stets für alle Völker unsres Kulturkreises neben diesen nationalen und fremden Formen die griechische Grundform bleiben, weil sie alles übrige organisch zusammenhält. Wie die Entwicklung des religiösen Lebens der christlichen Kirchen seit den Anfängen bis auf den heutigen Tag unablösbar gebunden blieb an die Urform der großen religiösen Schöpfungen des Alten und Neuen Testaments, die für sie die klassischen Repräsentanten der Religion schlechthin geworden sind, so ist die griechisch-römische Antike für das Abendland der klassische Repräsentant der Idee der Kultur. Wie sie uns einerseits unsere nationale Eigenbildung bewußt zu suchen und zu formen geholfen hat, so sehr, daß wir ohne sie nicht mehr den Weg zum Verständnis unserer eigenen Vergangenheit und ihrer Schöpfungen finden können, weist sie uns andrerseits auf den Zusammenhang der einzelnen nationalen Kulturen in der großen abendländischen Kulturgemeinschaft hin. Darüber hinaus öffnet sie uns die Bahn auch zum Verständnis ganz entfernter, jenseits dieser europäischen Grenzen liegender Fremdwelten kraft des ihr innewohnenden wissenschaftlichen Expansionsdranges, die Idee des Menschlichen in allen ihren Erscheinungsformen zu begreifen und zu dem Sinn, den wir unsrer eigenen Menschlichkeit geben, in innere Beziehung zu setzen. Die Lehre von der griechischen Kultur als dem Prototyp der abendländischen darf natürlich nicht so verstanden werden, daß die griechische Form für ein Letztes und Vollkommenstes erklärt wird, dessen Nachahmung für alle Völker verbindlich sein soll. Der Klassizismus mit seiner 126

Lehre von der Imitation hat das Problem nicht tief genug gefaßt, er nahm die Form nur von der stilistisch-ästhetischen Seite und verkannte ihren geheimnisvollen Wurzelzusammenhang mit dem Genius der Völker und ihrer besonderen Individualität. Die maß-gebende Bedeutung der Antike hat erfreulicherweise in Wahrheit für die größten ihrer späteren Nachfolger nicht nur in sklavischer formaler Nachahmung bestanden. Die Erkenntnis, daß der Geist der Form eines selbstschöpferischen Volkes etwas Unwiederholbares und Einzigartiges ist, führt uns aber auch im Falle der Griechen selbst erst zu der wahren Einsicht, daß ihre weltgeschichtliche Leistung, die Schöpfung des auf die Völker Europas übergegangenen Systems der Kultur, durch eine einmalige und nicht wiederkehrende Veranlagung bedingt ist, und daß diese Form von keinem anderen Volk geprägt werden konnte. Kultur, reine Herausgestaltung des „Menschlichen" in allen Lebenssphären, sei es Staat, Religion, Kunst oder Wissen, bedeutet — darüber muß man sich klar sein — die harmonische Entfaltung des Menschentums auf Kosten jener anderen Mächte, die hier in ihren Dienst gestellt werden. Sie alle werden wie die Gottheiten des hellenischen Olymps „anthropomorph" unter den Händen der Griechen: der Staat wird gleichsam ausgeliefert an die Postulate der reinen Sittlichkeit und Humanität, die Gottesfurcht wird diesseitige Lebensvergöttlichung, die Kunst wird vorwiegend Ausdruck harmonischer Bildung, und die Wahrheitsforschung konzentriert sich darauf, den Menschen in seinem Leben glücklich und frei zu machen. Es braucht hier nur daran erinnert zu werden, welche Mühe die Römer hatten, die philosophische Vergeistigung des Staates durch die Griechen mit ihrem unbedingten, nüchtern realistischen Staatssinn in Einklang zu bringen, und wie hart die Gegensätze griechischer Lebensbejahung und christlicher Jenseitigkeit und Innerlichkeit auf religiösem Gebiet zu allen Zeiten aufeinander geprallt sind. Es bedarf nur flüchtiger Andeutung, wie heftig moderne Kunst die strenge Idealität und Harmonie der griechischen Form abzustreifen und den Gestaltungsbereich der Kunst zu erweitern bemüht ist, und wie entschieden moderne Wissenschaft sich weigert, an dem ihr zu engen griechischen Maßstabe gemessen zu werden, ob sie den Menschen bildet und ob sie zu seiner Eudämonie beiträgt. Bedarf es noch umständlicher Analysen, um zu erkennen, daß die Natur des Griechen eben dazu prädestiniert war, den einen Gedanken zu realisieren? Der Grieche ist der Anthropoplast unter 127

den Völkern, und auch das tragische politische Schicksal des GriechenVolkes steht deutlich in tiefem ursächlichem Zusammenhang mit der leidenschaftlichen Hingabe an diese seine in ihm liegende absolute Bestimmung. Überall mit letzter Anspannung der Norm und ihrer Erkenntnis in allen Verhältnissen des Lebens zugewandt, an der er die gesamte Wirklichkeit kritisch mißt, trägt der philosophische Sinn der Griechen erst die eigentliche Problematik in das menschliche Leben hinein; ausgerüstet mit einer wunderbaren rationalen Klarheit, entdecken sie die Gesetzlichkeit aller Daseinsgebiete und menschlichen Kräfte und bauen auf ihr das „beste" Leben auf; ihre plastische Kraft aber erschafft in der Kunst und Literatur eine Welt der Formen, in der die erkannten Normen künstlerische Gestalt annehmen. So liegt in ihrem Werk ein Maximum von erzieherischer, menschenbildender Leidenschaft beschlossen, gegründet auf ein Formensystem, das in seiner geschichtlichen Entwicklung eine fortschreitende Offenbarung des in ihm wirksamen treibenden Momentes ist, des Strebens nach restloser Durchgeistung der Welt durch die Erkenntnis ihrer immanenten natürlichen Normen und nach Selbsterfüllung des Menschen durch die allseitige Verwirklichung der von der „Natur" in ihm angelegten Kräfte. Auf der Höhe ihrer geistigen Entwicklung haben dann schließlich die Griechen selbst das Ganze ihres geistigen Besitzes als ein großes System der Bildung, der angeschaut, und die klare geschichtliche Selbsterkenntnis ausgesprochen, daß in diesem Besitze eben das beschlossen sei, was ihre Nation von den Barbaren unterscheide. Der noch heute für uns geltende Gegensatz von Kultur und Barbarei, er ist in jenem historisch bedeutsamen Moment der griechischen Entwicklung entsprungen, wo die Übertragung der griechischen auf andere Völker anhebt, an der Schwelle des hellenistischen Zeitalters. Die Griechen sahen diesen Prozeß als einen geistigen Triumph ihrer Nation an, denn nach ihrer Auffassung war es hinfort geradezu ein Schimpfwort „Barbar" zu heißen: es war gleichbedeutend mit Unkultur, Unbildung. Uns stellt sich umgekehrt dieser Vorgang als der letzte Schritt dar auf dem Wege, das was die Nation der Griechen geschaffen hatte, das System ihrer Bildung und Kultur, kraft der ihm innewohnenden Tendenz zu erschöpfender Allgemeingültigkeit aus dem Rahmen ihrer nationalen Existenz herauszulösen und es zum höchsten geistigen Formprinzip auch der übrigen Völker zu machen. Man kann es verstehen, daß diese die Bezeichnung 128

als Barbaren in dem herabsetzenden Sinne um so lebhafter ablehnten, je tieferen Anteil sie schon an griechischer Bildung gewonnen hatten und je selbständiger sie sich in ihrem eigenen Kulturstreben schon fühlten, und daß sie sich des griechisch-nationalen Elements in ihr ungern erinnerten. Die Römer insbesondere fanden, daß, was diese neue Bildung zur römischen virttis hinzufüge, die allgemeine humanitas sei, und unter dieser Fahne hat die Kultur der Griechen im Bunde mit Rom das Abendland erobert. Zwei Hauptaufgaben erwachsen der Geschichte und Philologie aus der Erkenntnis der Struktureinheit der abendländischen Geschichte und der antiken Kulturidee als des Kerns dieser Einheit: die Geschichte des Abendlandes als Geschichte der aus der Antike sich aufbauenden Kultur Europas und — für die Altertumswissenschaft — die Bildungsgeschichte des Altertums selbst als Geschichte der Grundformen dieses Aufbaus. Der primäre Ausdruck ihrer Bildung, d. h. der geistigen Formwerdung der Idee Mensch in ihrem zeitlichen Stufengang, war für die Griechen jederzeit ihre Literatur, oder richtiger: sie waren es, die das literarische Schrifttum zuerst zu diesem freien und hohen Rang erhoben und ihm diesen idealen Sinn gegeben haben. Das ist von entscheidender Wichtigkeit für die Stellung der griechischen in der Weltliteratur, folgerichtig aber auch für die Art, wie eine organische Betrachtung griechischer Literaturgeschichte vorgehen muß, um dem Wesen der Form wie der literarischen Persönlichkeit näherzukommen. In diesen Zusammenhang beabsichtigen wir im folgenden als ein Beispiel Plato und die Platoforschung der neueren Zeit zu stellen.

II. Der Wandel des Platobildes im neunzehnten Jahrhundert Rund hundert Jahre sind vergangen, seit Schleiermacher sein großartiges deutsches Platowerk geschaffen hat, und heute kann man zurückblickend sagen: Dieses Werk bedeutete eine vollkommene Renaissance des größten griechischen Philosophen, an dessen geistigem Besitz es zum ersten Male dem ganzen deutschen Volke Anteil gab. Die Zeit des italienischen Humanismus hatte zuletzt dem Plato einen inbrünstigen Kult gewidmet, wie er in seiner zentralen Stellung in Raffaels Schule von Athen oder in Michelangelos Sonetten oder in der Gründung der 129 9 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

platonischen Akademie durch die Mediceer in Florenz seinen Ausdruck findet. Aber die Jahrhunderte der Aufklärung standen dem mystischen Pantheismus dieser mehr neuplatonischen als platonischen Bewegung fremd gegenüber, und höchstens ästhetische Idealisten wie Shaftesbury oder spekulative christliche Theologen wie Cudworth in England lassen eine Nebenlinie des geistigen Lebens erkennen, die den Renaissanceplatonismus fortsetzt und neuen Bedürfnissen anpaßt. Die gelehrte Philosophiegeschichte, die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Erwachen des historischen Interesses einsetzt, weist zwar die dickleibigen Wälzer von Brucker und Tennemann über Plato auf, allein schon die äußere Anlage dieser Werke läßt erkennen, daß die rationalistische Periode den Zugang zu Plato nicht finden konnte. Sie liefern beide ein System der platonischen Philosophie oder, da Plato kein solches geschrieben hat, suchen sie es nachträglich aus einzelnen Äußerungen seiner Dialoge zu rekonstruieren, weil für sie feststeht, daß die Systemform die einzige Form sei, die eines Philosophen würdig sei, und man auch bei Plato zu einer solchen gelange, sobald man die schriftstellerisch-dialogische Einkleidung seiner Gedanken abgestreift habe. Erst die deutsche Romantik und Friedrich Schlegels neuer Begriff der Form als der Seele des Kunstwerks eröffnete einen Weg auch zu Platos Verständnis. Und Schlegel selbst war es ja, der seinem Freunde Schleiermacher den entscheidenden Anstoß gab, den deutschen Plato zu schaffen, der in seiner Weise vielleicht einen noch viel tieferen Einfluß, wenn auch keine so in die Breite gehende Wirkung auf das deutsche Geistesleben geübt hat wie der deutsche Shakespeare Schlegels und Tiecks. Der Entschluß, Plato Werk für Werk zu übersetzen und ihn selbst — leider in einem heute für uns nicht mehr genießbaren antikischen Deutsch — zum Leser sprechen zu lassen, offenbart die völlig veränderte Stellung zum Problem der dialogischen Form der platonischen Schriften. Sie können nach Schleiermachers Ansicht nicht durch einen modernen Auszug ersetzt werden, indem man ihren Gedankeninhalt auf ein System bringt, sondern gerade in der schriftstellerischen Form, durch die sie zu uns spricht, liegt das Wesen der platonischen Philosophie offen zutage. Plato stellt den Leser nicht vor einen zusammenhängenden dogmatischen Lehrvortrag, er versetzt ihn mit künstlerischer Kraft der Darstellung in das dramatisch bewegte geistige Ringen, wie er selbst es als junger Mensch erlebt hatte, als er in den Kreis des 130

Sokrates eintrat. Was Philosophie hier war, vermochte niemand zu ahnen, der nicht die ununterbrochene Denkanspannung dieses großen Fragers an der eignen Seele einmal gespürt hatte, nicht nur als strenge Zucht des Intellekts, sondern in der seelenlenkenden Macht des Zaubers, womit er die Geister erregte und so manchem Hörer für sein ganzes Leben die innere Richtung gab. Diesen an Sokrates erlebten Begriff der Philosophie, Philosophie als Denken und Leben, , ja als ein Leben, das auch den Tod für die erkannte Wahrheit nicht scheut, will der philosophische Künstler in seiner erzieherischen Größe verewigen und damit auch die Wirkung selbst. So sehr fühlt er sein eignes Sein und Denken als bloße Wirkung des Sokrates, daß er die eignen Gedanken, die sich ja tatsächlich aus der inneren Dialektik einiger weniger sokratischer Grundüberzeugungen entwickelt haben, aus diesen Gesprächen des Sokrates hervorgehen und durch den Mund des Sokrates aussprechen läßt, als wären sie dessen Eigentum. Das sind sie gewiß nur in sehr bedingtem Sinne, insofern der Baum nicht zu denken ist ohne den Keim, aber das Hervorwachsen der platonischen Philosophie aus diesem sokratischen Keim ist für Plato das von seinem Sokrateserlebnis eben untrennbare Resultat, und die Darstellung dieses Prozesses in seinem inneren Zusammenhang und methodischen Fortschritt von Stufe zu Stufe ist für ihn der einzig denkbare Weg, um den Hörer, der sich von dem Ethos der platonischen Sokratesgestalt hat innerlich ergreifen lassen, nun auch dahin zu führen, wohin der von Sokrates in Plato erweckte Logos diesen selbst geführt hat. So faßt Schleiermacher die gesamte Schriftstellerei Platos als einen grandiosen Plan aus einem Guß, als eine prästabilierte Harmonie, wo ein Glied an das andere anschließt und dieses voraussetzt, um wieder ein anderes vorzubereiten. Dieser Plan ist durchaus erzieherisch und teleologisch in seiner ganzen Anlage, indem er von den Werken elementaren und formalen Charakters zu den konstruktiven und darstellenden aufsteigt. Die Wiederherstellung der beabsichtigten Ordnung, wie Schleiermacher sie mutmaßt und durch eine Einteilung der Werke in Gruppen veranschaulicht, setzt seinem Platowerk die Krone auf und gibt Plato für die Gegenwart die Bedeutung zurück, die seiner Idee für alle Zeiten gebührt: sie hebt ihn über allen beschränkten Widerspruch der Parteien empor und proklamiert ihn als den ewigen Führer zur Philosophie als einer unendlichen Aufgabe. 131

Die Schleiermachersche Platointerpretation hat für die moderne Geisteswissensdiaft eine ähnlich klassische Bedeutung wie die alexandrinische Homerforschung für die Philologie im älteren Sinne. Wie diese an der Riesenaufgabe des Homerstextes ihre Methoden ausgebildet hat, so ist an Plato als dem verwickeltsten, voraussetzungsreichsten Objekt, das die Altertumsforschung dem nachschaffenden Verstehen bietet, die Idee der philologischen Interpretation im neueren Sinne des Wortes erwachsen. Das Äußerste, was die Philologie in Hinsicht des kongenialen Verstehens zu leisten vermag, wird stets an Plato offenbar werden, und auch was sie nicht kann, wird man hier am deutlichsten erkennen können. Denn hier handelt es sich nicht nur um die Aufhellung der Struktur des einzelnen Werkes, sondern zugleich um das Verhältnis des einzelnen Werkes zum Lebenswerk, um die letzten Prinzipienfragen, wie man dem Ganzen der produktiven Wirksamkeit dieses Schriftstellers gegenübertreten müsse. Das zeigt das Schicksal der Schleiermacherschen Idee von Platos Schriftstellerei im neunzehnten Jahrhundert. Schleiermacher hatte sich Plato als philosophisch fertig vorgestellt, als er seinen Plan entwarf, den gesamten Umkreis der sokratischen Gespräche darzustellen, Plato hatte zweifellos eine Entwicklung hinter sich, als er begann zu schreiben, aber die Entwicklung, die seine Werke, im Sinne Schleiermachers richtig geordnet, den Leser durchmachen lassen, ist nicht mit diesem persönlichen Werdegang Platos identisch, sondern ein planmäßiges methodisches Fortschreiten zu einem im voraus feststehenden Ziel. Es ist ein pädagogischer Stufengang der Dialektik, nicht der jeweilige Niederschlag der zeitlichen Fortschritte Platos, den wir von Station zu Station verfolgen können. Diesen strengen Begriff des teleologisch organisierten Gesamtwerkes hat die Folgezeit nach und nach durchlöchert und zersetzt. Sie stellte sich das Schaffen eines Schriftstellers sprunghafter, momentaner, stimmungsmäßiger vor, vor allem suchte sie in seinem Werk nicht nur die sachliche Leistung, sondern die menschliche Person und ihre geistigen Schicksale. Sie sah das Werk als Ausdrucksform einer interessanten Subjektivität an, nicht als Objektivation eines Ichs, das sich selbst hinter seine Schöpfung zurückzieht. Dieser Gesichtspunkt ist spezifisch modern; dem Altertum fehlte dazu das vorwiegend psychologische Interesse. Doch wenn unsere psychologische und biographische Neugier bei den Alten auch gewöhnlich nicht auf ihre Kosten kommt, weil sie mit dem Ausdruck ihres Ichs äußerst sparsam sind, schien gerade 132

Plato eine Ausnahme zu machen und der Wechsel der Stimmungen in seinen Schriften, die erlebnishafte Gegenwärtigkeit seiner Szenen, die leidenschaftliche Schärfe seiner Charakteristik, ja der anscheinende Widerspruch seiner Äußerungen über dieselbe Sache in den verschiedenen Werken legte nahe anzunehmen, daß wir in den letzteren doch Dokumente der persönlichen Entwicklung Platos sehen müssen. Die Aufgabe, Platos schriftstellerische Absichten nachzuverstehen, kompliziert sich also jetzt durch die ständig zunehmende Rücksicht auf das unabsichtliche Moment der sukzessiven Veränderung seines Standpunkts. Seitdem K. Fr. Hermann 1839 in seinem Werk „Geschichte und System der platonischen Philosophie" zuerst den Gedanken der Entwicklung in die Forschung eingeführt und den Angriff gegen die Schleiermachersche Platoauffassung eröffnet hatte, hat der Streit jahrzehntelang hin und her geschwankt, wie weit dem neuen Prinzip der Erklärung zu vertrauen sei, doch war die Tendenz vorwiegend dafür. Der erste große Schlag gegen Schleiermachers Position war die Entdeckung Hermanns von der späten Entstehung des Phaidros. Schleiermacher hatte ihn für ein Jugendwerk Platos gehalten und ihn als Programm seiner schriftstellerischen Tätigkeit erklärt. Der zweite Schlag folgte mit der Datierung der sogenannten dialektischen Dialoge, des Theätet, Parmenides, Sophistes, Politikos einschließlich Timaios, Kritias, Pbilebos durch die Engländer. Dies ist wohl die größte Revolution, die die Platoforsdmng seit Schleiermacher gesehen hat. Diese Dialoge, die sich teilweise mit scheinbar elementaren logischen Problemen befassen und selbst betonen, daß man diese Klassifikationsversuche zur formalen Übung in der Dialektik treiben solle, hatte Schleiermacher als einleitende Gruppe an den Anfang seiner pädagogischen Reihenfolge und damit auch an den Anfang der Produktion Platos gesetzt. Nun wurde durch stilistische Untersuchungen bewiesen, daß sie mit dem Alterswerk, den Gesetzen, in dieselbe Periode gehören. Plato war also erst im Alter immer tiefer in diese Abstraktionsprobleme hineingeraten, sie hatten sich aus der Ideenlehre entwickelt, und Aristoteles setzte diese Forschungen fort. Manche deuteten jetzt die Zweifel an der Ideenlehre, die der Parmenides kennt, als Entwicklung Platos von der Ontologie seiner früheren Zeit zu einer moderneren, rein logischen, nominalistischen Auffassung des Begriffs, so Jackson und Lutoslawski; andere wie Natorp und die Marburger Schule leugneten zwar diesen Bruch in Platos Entwicklung, wurden aber 133

dadurch dazu gedrängt, auch die frühen Schriften in diesem scheinbar modernen Sinne zu interpretieren und die Ideen für bloße „Gesetze" zu erklären. Plato wurde dadurch Kant angenähert und aus der überparteilichen königlichen Stellung als symbolischer Führer der Philosophie herausgedrängt, die Schleiermacher ihm gegeben hatte; er wurde jetzt zum Parteiführer einer aktuellen philosophischen Gruppe, der neukantianischen Schule, deren Aufkommen zeitlich mit der Entdeckung der späten Abfassungszeit der dialektischen Dialoge Platos zusammentraf. Es ist nicht uninteressant zu sehen, wie das Platobild sich im Lauf der Jahrzehnte durch die Bewegung der wissenschaftlichen Forschung verschiebt und von welcher Seite die jeweiligen Anstöße zum Fortschritt gekommen sind. Nachdem die Fachphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts sich vergeblich mit ihren Denkmethoden und ihrer systematischen Denkform an der Aufgabe gemüht hatte, war die entscheidende Wendung von Schleiermacher ausgegangen, einem einzigartigen Genie, das weder Fachphilosoph noch Fachphilolog war, sondern zu beiden in einem gewissen Gegensatze stand. Anderseits band gerade er durch seine künstlerische Sehweise und durch seinen neuen Formbegriff philosophische und philologische Betrachtung zu einer höheren Einheit zusammen, wie es nach ihm keiner wieder vermocht hat. Die Philologie im Sinne Schlegels und Schleiermachers als geisteswissenschaftliche Interpretation und Wissenschaft der geistigen Form ist bis heute ein Ideal geblieben, das keine Nachfolge gefunden hat. Dann setzt die Einzelforschung der Philologie mit ihren Funden ein, und es muß betont werden, daß die entscheidenden Erkenntnisse, auf denen unser heutiges Bild von Plato ruht, ihrer exakten Arbeit zu danken sind. Die Fachphilosophie nahm ihr die Arbeit dann erst wieder aus der Hand an dem Wendepunkte, wo die Datierung der Alterswerke die philosophische Interpretation der Ideenlehre und damit die Auffassung der Gesamtrichtung der platonischen Entwicklung vor völlig neue Probleme stellte. Und obgleich es ausgesprochen werden muß, daß die von philosophischer Seite (besonders Natorp) gemachten Versuche, das Rätsel der logischen Entwicklung Platos zu lösen, zunächst gescheitert sind, weil philosophische und historische Begabung, wenigstens im höheren Sinne, sich selten in einem Kopf zusammenfinden, so haben diese scharfsinnigen Durchdenkungen des Gesamtkomplexes nach einer bestimmten Seite, der logischen, doch zur Vertiefung des Verständnisses und zur richtigen 134

Problemstellung weit mehr beigetragen als die gleichzeitige philologische Einzelforschung, etwa die doch recht problemlosen, von philologischer Seite so viel gepriesenen Inhaltsanalysen platonischer Dialoge von Bonitz oder die Stilbeobachtung, die nach den oben gerühmten großen Anfangserfolgen bald in Mikrologie und mechanische Statistik ausartete und die Bejahungspartikeln in der Sprache der platonischen Schriften in Prozenten ausrechnete. Es ist klar, daß die Mitwirkung der Philologie, soweit sie sich auf diese Methoden beschränkt, an einer so verwickelten geisteswissenschaftlichen Aufgabe, wie Plato sie stellt, doch nur eine subsidiäre sein kann. Kein Mensch liest heute mehr die zahllosen philologischen Dissertationen über die Frequenz der verschiedenen Partikeln in den einzelnen Dialogen, sie finden sich aufgezählt in dem kompilatorischen Buch von Lutoslawski, diesem Massengrab der „Stylometrie": dort hat jede ihr Kreuz als Zeichen ehrenvoller Vergessenheit erhalten. Inzwischen hatte die Philologie jedoch in ihrer Gesamtentwicklung einen gewaltigen Ruck vorwärts getan, sie hatte sich zur klassischen Altertumswissenschaft ausgeweitet und geschichtlich vertieft und ging mit neuen Mitteln an die Bewältigung der schwierigsten Aufgabe heran, die ihr gestellt ist: an das nachschaffende innere Verständnis der großen geistigen Erscheinungen der antiken Literatur. So sind zeitlich kurz nacheinander, sachlich völlig unabhängig nebeneinander zwei Leistungen erwachsen, die einen gewissen Abschluß der beiden Hauptforschungsrichtungen des letzten Halbjahrhunderts bedeuten und daher aus der umfangreichen Literatur besonders hervorgehoben und charakterisiert werden mögen: der zweibändige „Platon" von Wilamowitz und Stenzels tiefbohrendes Werk über die Entstehungsgeschichte der platonischen Dialektik. Das Buch von Stenzel, 1917 erschienen, bringt die Probleme, die die logische Erforschung der platonischen Philosophie seit der Umdatierung der Altersdialoge in den letzten Dezennien mehr aufgeworfen als befriedigend gelöst hatte, zu einer glücklichen und überraschenden Klärung, indem hier zum erstenmal die philosophischen Mißverständnisse aufgedeckt werden, in welche modernes Denken seiner Natur nach geraten mußte, solange es die eignen Begriffe und Denkmittel auch bei Plato allzu sorglos als vorhanden voraussetzte und die Tendenz seiner Entwicklung unmittelbar aus den eigenen modernen Fragestellungen verstehen zu können glaubte. Die Verbindung sachlich-philosophischer

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Interpretation der methodologischen Äußerungen Platos mit zartem Verstehen ihrer individuell griechischen Färbung und Bedeutung und die Bewährung dieser Methode oder richtiger gesagt: dieser neuen Sehweise in immer erneuter, echt philologischer Hingabe an die Schwierigkeiten der einzelnen Texte ließ Stenzel zum ersten Male zur eindeutigen Feststellung des „Richtungssinnes" der bisher wohl immer behaupteten, aber nicht wirklich scharf faßbaren Problementwicklung der Logik Platos gelangen und so für ein zentrales Teilgebiet den geistigen Hergang im wesentlichen rekonstruieren. Der Wert dieses Ergebnisses für die gesamte Platoforschung liegt besonders darin, daß Stenzel die Tatsache einer philosophischen Entwicklung Platos gerade in dem Augenblick in concreto greifbar machte, wo infolge eines etwas vagen und unbestimmten Gebrauchs namentlich von Seiten der Philologen der Begriff der Entwicklung in seinem Wert als Erklärungsprinzip ernstlich gefährdet schien und schon die Reaktion vor der Türe stand mit ihrer vom philosophischen Standpunkt durchaus berechtigten Gegenfrage nach der inneren Einheit im Denken Platos. Wie diese innere Einheit mit lebendiger, wahrhaft organischer Selbstentfaltung vereinbar sei, das hat ger rade Stenzel für die Ideenlehre bewiesen. Freilich ist damit zugleich ein für alle Male Schluß gemacht mit einem Begriff der Entwicklung, der nicht der Forderung der inneren Einheit des sie beherrschenden Richtungssinns gerecht wird oder diese Einheit statt im philosophischen Gedankenfortschritt in der bloß subjektiven Einheit der allseitigen persönlichen Selbstdarstellung des Schriftstellers sucht. Der größte Fehler der philologischen Platoforschung der letzten Jahrzehnte scheint mir zu sein, daß man Plato in einseitiger Weise als Künstler und Dichter auffaßt, wie man früher ähnlich einseitig die schriftstellerische Form des Dialogs als bloße Einkleidung eines sich dahinter verbergenden Systems aufgefaßt hatte. War es für die letztere Betrachtungsweise ein apriorischer Grundsatz gewesen, daß ein Philosoph in dem fertigen Gehäuse eines einheitlichen Systems wohne, so wurde es für die Philologie kraft ihres historischen Entwicklungsglaubens fast zum Dogma, daß Plato sich nicht nur im ganzen seines Schrifttums, sondern von Werk zu Werk entwickelt habe. Jeder Dialog ward als Station aufgefaßt, als Ausdruck einer eben erreichten Stufe der Erkenntnis, ja teilweise als Ausdruck bloßer wechselnder Lebensstimmungen und Gefühle des Autors. Hier wirkt die aus dem subjektiven Lyrismus modemer Kunstauffassung ge136

borene Diltheysche Gleichung: Erlebnis und Dichtung trübend und fälschend in die Interpretation der ganz anderen Geistesart antiker Dichter und Philosophen hinein. Konstitutive Elemente des platonischen Denkens werden so zu transitorischen Gefühlsanwandlungen verflüchtigt, man verschwendet unnötig viel Kraft auf das Aufspüren momentaner Anlässe, wo es sich um dauernde innere Struktur und um objektive Notwendigkeiten handelt, die aus der Sache selbst sich ergeben. Darüber vernachlässigt man die bei einem dramatischen Dichter allerdings nicht so wichtige Frage, die aber bei einem Philosophen zur Hauptfrage wird, nach dem sachlichen Verhältnis der einzelnen Werke zueinander und nach dem Sinn und der Form des Gesamtwerks, wie es sich in der festgestellten Folge der Schriften Platos darstellt. Hier liegen die Schwächen oder mindestens inneren Unklarheiten unserer ganzen neueren Forschung, die bei der Behandlung jeder Einzelfrage zu peinlicher Unsicherheit führen müssen. Wie mir scheint, bedeutet die Stenzelsche Erkenntnis der strengen Folgerichtigkeit in der Entwicklung einen energischen Vorstoß gegen diese Vorstellung der Halt- und Planlosigkeit in den sich angeblich widersprechenden Äußerungen Platos und gegen den grundsätzlichen Agnostizismus, der überhaupt daran verzweifelt, eine innere ratio mit unserem Wissen jemals in seiner Schriftstellerei nachweisen zu können. Sie hat ferner neben der Sprachanalyse und -Statistik, die in letzter Zeit das Recht, über die Chronologie der platonischen Schriften mitzureden, für sich allein in Anspruch zu nehmen suchte, die inhaltliche Untersuchung der Dialoge als das eigentlich entscheidende Moment von neuem zur Geltung gebracht. Das große Werk von Wilamowitz kann hier in seiner Stellung in der Geschichte der Platoforschung nicht erschöpfend gewürdigt werden, ohne auf seine Haltung zu allen den Fragen, die wir im vorigen prinzipiell erörterten, näher einzugehen. Es möge gestattet sein statt dessen kurz zu sagen, daß die grundsätzliche Ausschaltung des Philosophischen, wie Wilamowitz sie vornimmt, für eine Biographie Platos, wie er sie geben will, natürlich ihre Berechtigung behält, auch wenn man sich klar ist, daß die Form der platonischen Werke und deren gegenseitiges Verhältnis nicht ohne den Gehalt erfaßt werden kann. Dafür hat die Beschränkung auf das Leben den Vorteil, daß dieses Leben selbst sich in seiner philosophischen Bedeutung zeigt, wie für Plato ja erst in ihrer Einheit das Wesen der Philosophie ausmachen. Es wird 137

damit auf die Einseitigkeit einer Betrachtung hingewiesen, die gewisse allgemeine Denkergebnisse von der konkreten geschichtlichen Gesamterscheinung Platos abstrahieren zu können meint, anstatt zu begreifen, daß seine Größe für uns wächst, wenn wir ihn möglichst so sehen wie er war. Daß er dazu in seine athenische Vaterstadt und Gesellschaft, in den Kreis der Akademie und in die großen politischen und geistigen Beziehungen wiederhineingestellt werden muß, die sein Leben mit der zeitgenössischen Umwelt verknüpfen, hatte schon die Geschichtswissenschaft, besonders Ed. Meyer betont und war für Wilamowitz selbstverständlich, wenn er auch das Milieu als Erklärungsprinzip mit Recht ablehnt. Er war auch hier vor allem berufen, den antiken Dingen ihre volle, farbige Realität erst einmal wiederzugeben, ehe man an ihre geistige Analyse ging. Seine Darstellungen der einzelnen Werke sind denn auch weniger Versuche einer Analyse der Form und des Gehalts in sich bedeutsamer Gebilde, als gesehene Bilder, die sich irgendwie aus dem Lebensflusse emporheben und dessen Frische und Lebenswärme noch atmen. Und noch ein zweites ist für die künftige Platoauffassung in dem Bilde von Wilamowitz von größter, ja grundlegender Bedeutung. Die Konzentration der Forschung der letzten Jahrzehnte auf die späten Dialoge und auf das Problem der Ideenlehre war methodisch betrachtet berechtigt und fruchtbar, wie gerade das Stenzelsche Buch als Abschluß dieser Wegstrecke uns gezeigt hat. Denn wenn sich eine Entwicklung des Philosophen wirklich nachweisen ließ, so durfte man am ehesten hoffen, sie auf dem Gebiete zu finden, wo sie uns von dem unmittelbaren Schüler Platos, von Aristoteles, direkt als eine in der Akademie allgemein anerkannte Tatsache bezeugt wird. Auch gab die Beschränkung der Beobachtung der Entwicklungssymptome auf den schmalen Ausschnitt des Logischen, der durch sämtliche Werke Platos hindurchgeht, mehr Aussicht auf Festlegung eines einheitlichen Bildes und bestimmter Etappen, wie sich dies wiederum in Stenzels Entdeckung bewahrheitet hat. Aber es ist nicht zu leugnen, daß auch noch ein altes Vorurteil lange dazu beigetragen hat, die ideentheoretische Seite so stark in den Vordergrund zu rücken, nämlich die der modernen Fachpbilosophie so naheliegende, als selbstverständlich vorausgesetzte Gleichung des Logischen mit dem Wesen und eigentlichen Kern der Philosophie, wobei dann das Logische wieder in dem spezifisch modernen Sinne genommen wurde, daß man erst die ontologische Seite und die 138

Einheit mit dem Ethischen abzog, um das „Rein"-Logische zu erhalten. Gegen eine so einseitige modernisierende Verengung dessen, was Philosophie für Plato war, bedeutete Wilamowitz' Darstellung des Philosophenlebens als realen Wesensausdrucks des philosophischen Logos einen heilsamen Rückschlag, ja die Wiedergewinnung Platos für den „Humanismus", wie sie in der Richtung der ganzen neueren wissenschaftlichen Entwicklung lag. Denn so hoch uns der Wert steht, den Plato für die Fachphilosophie unserer Zeit oder für eine einzelne Schule hat, indem er als ihr Ahnherr erscheint und ihre Begriffe sich mit den seinen berühren, höher stellen wir, was er uns als Korrektiv der modernen Philosophie und Kultur bedeutet, und dies ist es doch wohl vornehmlich, die Erhöhung und Vervollständigung des Bildes der Philosophie, das die jetzige Philosophie uns bietet, weshalb immer von neuem ungezählte Scharen zu ihm hindrängen. Die neuere Platoforsdiung hat mit ihrer wachsenden Komplizierung und Arbeitsteilung nun aber eine Frage brennend werden lassen, deren Lösung in den zuletzt besprochenen Werken zwar mittelbar angebahnt, aber noch nicht erreicht ist. Wilamowitz hat sie bewußt beiseite gesetzt, indem er es ausdrücklich ablehnt, eine philosophische Beurteilung Platos zu geben und diese der Fachphilosophie zuschiebt. Es ist die Frage nach den Kompetenzen der philologischen und der philosophischen Betrachtungsart und nach deren gegenseitigem Verhältnis. Wilamowitz scheint eindeutig die philosophische Erklärung als das höhere anzusehen und ihr die Aufgabe vorzubehalten, Platos Gedanken und ganze geistige Erscheinung in den Zusammenhang der systematischen Philosophie der Gegenwart zu stellen beziehungsweise sie an dieser zu messen, schon darum, weil Plato selbst keinen anderen Maßstab anerkennen würde. Merkwürdigerweise ist diese Haltung des Philologen gelegentlich von philosophischer Seite als bewußte Ironie aufgefaßt worden, wohl hauptsächlich aus dem Grunde, weil Wilamowitz' Buch eine fortgesetzte Anklage der Einseitigkeit und Inadäquatheit der Maßstäbe zu sein scheint, welche unsere Fachphilosophie an Plato anlegt. In der Tat kann wohl der moderne Philosoph niemals darauf verzichten, seine eigene begriffliche Wahrheitsnorm als die letzte Instanz in dem weltgeschichtlichen Prozesse Platos anzusehen, weil auch die größten geschichtlichen Individuen und ihre Sondermeinungen für ihn nichts als Vorstufen oder Entwicklungsmomente der einen absoluten Wahrheit bedeuten. Eine 139

solche Haltung wird man konsequent finden müssen, man wird sogar zugeben, daß ohne tiefere lebendige Verwurzelung in moderner Philosophie die Erklärung Platos der wichtigsten Voraussetzung entbehren würde, des Verständnisses der Probleme als solcher. Wenn sich dennoch das historische Gefühl gegen eine eindeutige Unterordnung der Schöpfung Platos unter die systematisch-philosophische Betrachtung entschieden wehrt, so liegt darin doch mehr als das sträfliche Autonomiegelüst einer untergeordneten Disziplin gegenüber dem höheren Ganzen. Für den Blick des geschichtlichen Auges fügt sich die Erscheinung Platos, je mehr wir sie in ihrer spezifisch griechischen Form und geschichtlichen Struktur erfassen und nicht nur in gewissen von seiner historischen Gestalt ablösbaren begrifflichen Resultaten, in einen über die Problemgeschichte der Philosophie hinausgreifenden größeren Zusammenhang ein: in die Geschichte und den Aufbau des griechischen Geistes. Innerhalb ihrer ist Plato und die Philosophie nur ein Teil eines umfassenderen Ganzen, der nicht für sich besteht, sondern mit allen übrigen Teilen dieses Ganzen in enger Wechselwirkung und in unlöslichem Strukturzusammenhange steht. Die Erkenntnis dieses organisch-nationalen Zusammenhanges lag ursprünglich dem modernen Verständnis antiker Philosophie vollkommen fern, solange noch unbestritten das rationale System der Philosophie (wie etwa bei Kant) als endgültige Form des Lebens und als Abschluß der gesamten Kultur galt. Aber seitdem in Fichte und der Romantik das Bewußtsein erwacht war, daß die Philosophie in das lebendige Ganze der menschlichen Gesellschaft organisch verflochten und ein Bauglied in der Gesamtarchitektonik der Menschenbildung sei, seitdem ferner die Geschichte des Geistes aus der Zerspaltenheit nach „Fächern", in deren systematische Gliederung sie zerstückt und eingeschlossen schien, zur selbständigen Anschauung der Einheit eines Volkstums in der Totalität seiner Lebensäußerungen sich gewandelt hat, entstand jene dem modernen Forscher so geläufige Antinomie in der Betrachtung großer geistiger Schöpfungen der Geschichte, daß man bald ihre konkrete geschichtliche Erscheinungsform und Bedeutung gegen ihre späteren geschichtlichen Wirkungen und Ausdeutungen ausspielt, bald umgekehrt das „bleibende Wesen" von dem einmaligen historischen Träger einer solchen Schöpfung abzulösen und sub specie der Dauer zu schauen strebt. Die hauptsächliche Domäne der organisch-geschichtlichen Be140

trachtung mußte naturgemäß von Anfang an die politische Geschichte sein, denn hier sind die Formen des staatlichen Lebens von ihrem geschichtlichen Träger, der Nation, vielleicht am wenigsten abtrennbar. Aber auch auf die übrigen Bereiche der Kultur griff diese Betrachtung allmählich mit Erfolg über, vor allem auf die zentralen Gebiete der Kunst und Literatur, in deren Schöpfungen sich ein charakteristischer Gesamtgeist am deutlichsten auszusprechen pflegt, weil sie naturgemäß am tiefsten in der eigentümlichen inneren Struktur der nationalen Gemeinschaft verwurzelt sind. Dagegen blieb z. B. bis heute in der Geschichte der Spezialwissenschaften die Betrachtung der Geschichte eines Faches meist eng mit dem systematischen Betrieb desselben verbunden, etwa die Geschichte der Medizin oder Astronomie oder der Mathematik, schon aus Gründen der Sachkenntnis, die dem bloß historischen Betrachter gewöhnlich fehlt, und nur wo umständliche philologische Vorarbeiten zu leisten sind oder besonders wichtige Beziehungen des Spezialgebiets zur Gesamtkultur bestehen, hat sich wie etwa in der neueren klassischen Altertumswissenschaft eine gesonderte philologische und kulturgeschichtliche Behandlungsart mancher speziellen Wissenschaften und der technischen Seite der Kultur herausgebildet. Die geschichtliche Betrachtung der Philosophie steht in dieser Hinsicht in der Mitte zwischen der organischen und nationalen Behandlungsweise der politischen und literarisch-künstlerischen Geschichte und der spezialistischen Isolierung der Geschichte der Einzelwissenschaften. Soweit die Philosophie sich als eine auf sich selbst stehende Wissenschaft, ja als ein Fach mit eigener Methode und eigenen Problemen fühlt, ist sie seit jeher bestrebt, ihre Geschichte als die in sich geschlossene Abfolge der philosophischen Standpunkte und als die Entdeckungsgeschichte der philosophischen Begriffe zu betrachten und sucht die innere Logik dieser Abfolge aus dem sachlichen Zusammenhang der Begriffe als solcher zu interpretieren. Da aber bei gewissen Philosophen wie gerade bei Plato und bei gewissen Völkern wie den Griechen der Zusammenhang des philosophischen Gedankenfortschritts mit dem Rhythmus der Gesamtentwicklung des geistigen Lebens und mit den Wandlungen seines Aufbaus ein augenfällig enger ist, so erwächst uns hier die Aufgabe, die großen Erscheinungen der Philosophiegeschichte nicht nur aus der philosophischen Konstellation der Gegenwart zu sehen, sondern sie in jenen umfassenderen Bildungszusammenhang hineinzustellen, 141

aus dem und für den sie erwachsen sind, und ihnen ihren Platz in dent geistigen Gefüge ihrer Nation anzuweisen. Ist damit aber nicht eine Verschiebung des Interesses vom Ewig-Wertvollen zum bloß HistorischEinmaligen verbunden? Keineswegs, wie mir scheint. Denn auch der „philosophische Wert" liegt nicht nur in der abstrakten Beschaffenheit eines Begriffs als solchen, sondern wurzelt in der Substanz der Kultur, die ihn hervorgetrieben hat. Was Plato innerhalb des geschichtlichen Aufbaus der griechischen Kultur bedeutet, ist mitnichten gleichgültig für unsere Stellung zu ihm, sondern sogar die Grundvoraussetzung des Wertes der platonischen Philosophie überhaupt. Aus ihrer Sendung in der griechischen Geschichte bestimmt sich ihr Gehalt, ihre Zielsetzung und ihre Form, und man muß soweit gehen zu behaupten, daß ihre geistige Würde wesentlich bedingt ist durch ihre Stellung in einer Kultur, die immer nur als ein lebendiges und harmonisches Ganzes in allen ihren Teilen begriffen werden kann und in diesen eine beherrschende Gesamttendenz von überzeitlicher Bedeutung entfaltet. Wie sich in der griechischen Philosophie und besonders in Platos philosophischem Lebenswerk diese Gesamttendenz des griechischen Geistes, die wir in der Schöpfung der menschlichen Bildung fanden, durchsetzt und in ihm ihre höchste Stufe erreicht, auf der sich ihre Idee zur vollen Bewußtheit vollendet, das ist der zielsetzende Gesichtspunkt, unter dem der Philologe dieses Phänomen betrachten muß. Die Form, die die Philosophie durch Plato erlangt, und die Stelle, die er ihr innerhalb der menschlichen Bildung angewiesen hat, ist von fundamentaler Wichtigkeit gewesen für die welthistorische Folgewirkung der griechischen Kultur wie für die Sendung der Philosophie als Träger der abendländischen Humanität.

III. Die platonische Philosophie als Paideia Wenn wir unter den griechischen Denkern einen herausgreifen sollen, der auf den Namen des Erziehers in besonderer Weise Anspruch hat, so denken wir zunächst an Sokrates und an den Zauber seiner persönlichen Wirkung. Ihn schildern alle, die von ihm innerlich erfaßt worden waren, als den großen Menschenfischer, als den Erwecker der Seelen und Führer der Jugend, in dem die Gegner daher notwendig den Verführer sahen. Es ist klar, daß wir ein anderes Erziehertum im Sinne haben als dieses 142

pers nliche Charisma des Umgangs mit den jungen Menschen, wenn wir von Plato als Erzieher reden. Und noch ein zweites Mi verst ndnis m ge sogleich im Anfang ausgeschlossen werden, als handle es sich uns um die theoretische P dagogik als Teil des philosophischen Systems, etwa wie Aristoteles im 8. Buche der Politik ber die Jugenderziehung im „besten Staate" handelt. Zwar auch Plato hat Erziehungslehren aufgestellt und hat in der Geschichte der P dagogik einen Ehrenplatz inne. Allein das Interesse an dieser Frage ist bei ihm nur die Folge einer aufbauenden und erzieherischen Gesamthaltung, die sich im Gegensatz zu den fr heren griechischen Denkern und Erforschern der Natur am deutlichsten vielleicht in dem Worte φιλοσοφία auspr gt. Denn dieses Wort hat Plato f r seine Art der Wissenschaft zuerst in terminologischer Weise verwendet, die Anwendung auf die ltere Physik ist dagegen eine nachtr gliche R ck bertragung, die nur mit Bezug auf Platos neue Sinngebung aller, auch der lteren Wissenschaft eine innere Berechtigung hat. φιλοσοφία bedeutet Bildung und Bildungsstreben; soweit sie ein gegenst ndliches Wissen und Erkennen in sich schlie t, wird dies durch das Wort und seine im Anfang des 4. Jahrhunderts allgemein feststehende Bedeutung ausdr cklich als Lebens- und Bildungsfaktor gestempelt und bewertet. In dieser Grundbedeutung von φιλοσοφείν und φιλοσοφία sind sich alle Schriftsteller der Zeit einig. Es ist nicht so, wie man oft h ren kann, da Platos Begriff der φιλοσοφία, in dem das Moment des exakten Wissens vorherrscht, das Nat rliche und Normale sei, w hrend das Wort etwa bei Isokrates oder Thukydides zur blo en Bildung „abgeschw cht" sei, sondern dies war die eigentliche und allgemeine Bedeutung. Erst durch Plato hat das Wort immer mehr die Bedeutung „Wissenschaft" erlangt, aber auch bei ihm ist der Sinn der Bedeutungsgleichung der, da dieses Wissen eben das eigentlich Bildende sei. Daher erkl ren sich Verbindungen wie φιλοσοφία και, παιδεία, λόγος και βίος als oft wiederkehrende Selbstbezeichnungen f r Platos geistige Bestrebungen. Lehre und Leben, Wissen und Bildung sind f r ihn eine unaufl sbare Einheit, oder richtiger: Plato bindet sie zur Einheit zusammen und schafft dadurch allem Wissen seiner Zeit, soweit es mit seiner Bildungsidee einen Bund einzugehen f hig ist, den historischen Kristallisationspunkt in seiner Schule und Lehre. Er stellt es mitten hinein in den Aufbau der staatlich-sozialen Gemeinschaft und hebt es dadurch aus seiner urspr nglichen Isolierung heraus. Ist somit f r Plato all sein Denken und Ge143

stalten ohne Rest φιλοσοφία και παιδεία, Bildung und Erziehung, so m ssen wir die Frage stellen, wie diese ver nderte Sinngebung des Wissens, welche den ltesten, ganz in ihre θεωρία versenkten Forschern so ferngelegen hatte, f r Plato und seine Zeit geschichtlich bedingt war. F r die Stellung der platonischen φιλοσοφία, des platonischen Bildungssystems, im ganzen der Entwicklung des griechischen Geistes verbaut sich derjenige v llig den richtigen Ausblick, der Plato in die Geschichte der nachtr glich sog. philosophischen Systeme einkapselt und nun den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch macht, ihn blo aus der inneren Logik der Abfolge dieser Systeme zu verstehen. Es sei ferne, das Suchen nach einer solchen inneren Logik in der Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe, wie in neuerer Zeit Hegel und vor ihm Aristoteles sie mit gro artiger Folgerichtigkeit konstruiert haben, die heute so beliebte Problemgeschichte, im Bausch und Bogen zu verwerfen, aber sie hat ihre Berechtigung haupts chlich innerhalb geschlossener Schulen mit gesicherter Kontinuit t der Lehr berlieferung, dagegen entspringen die gro en Antithesen in der Geschichte des menschlichen Geistes meist gerade nicht dem ruhigen Gang des systematischen Denkfortschritts oder der blo en Materialvermehrung, sondern sie bezeichnen Einbr che ganz neuer Lebensm chte in die wohlumfriedigten Bezirke traditioneller Wissenschaft. Es mag ja irgend etwas daran sein, wenn Herbart, der unter anderm die „mathematische" Psychologie als methodisches Ideal aufstellte, die arithmetische Entwicklungsformel schuf: man dividiere das Werden des Heraklit durch das Sein des Parmenides und man erh lt die Idee des Plato. Aber ber Sinn und Grund des Ursprungs der platonischen Philosophie im Gesamtbilde des griechischen Lebens ist damit doch gar nichts gesagt. Wenn wir Platos Philosophie also aus der Systemgeschichte erst einmal herausnehmen, um sie als realen geschichtlichen Lebensvorgang zu begreifen, so ist durch das im Eingang Gesagte bereits hinl nglich klar, da wir sie als Moment der allgemeinen Krisis am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. verstehen m ssen, in deren Mittelpunkt eben die Frage der Bildung steht, die Plato durch seine φιλοσοφία l sen will. Diese Krisis des griechischen Lebens ist nur z.T. mitbedingt durch die aufgekl rte ltere Naturphilosophie der Jonier, ihre Gr nde liegen mehr in der allgemeinen Rationalisierung des Denkens als in dem Wandel des kosmischen Weltbildes, der ja selbst wieder nur eine Teil144

erscheinung dieses das ganze Leben, auch die Praxis timfassenden Prozesses darstellt. Unser Hauptaugenmerk müssen wir dabei auf den Staat und den Zustand der griechischen Gesellschaft richten, in deren Entwicklung alle geistigen Kräfte münden und um die Herrschaft ringen. Der Staat, richtiger die Polis, bedeutete dem Griechen der älteren Zeit etwas anderes als dem heutigen Menschen, für den die politische Sphäre von der Religion und Sittlichkeit sich vielfach grundsätzlich scheidet. In der Idee der Polis sind für den Griechen alle höheren Lebensgüter beschlossen, sie ist durchgehende die Gesetzgeberin seines Tuns, sie erzieht ihn von Kindesbeinen an durch ihre Einrichtungen zu der wahren „Tugend". Die Namen der vier sog. platonischen Kardinaltugenden, die nichts anderes sind als der schon dem Aischylos 100 Jahre früher in dieser Vierzahl geläufige Kanon der bürgerlichen Tugenden des älteren Polisgriechentums, Frömmigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit, verkündigen deutlich die Norm, an der ihr Wert zu messen ist: das allgemeine Wohl der Polis. Der höchste Ausdruck des normativen Gemeinschaftswillens und seines Inhalts ist das Gesetz, das für diese Zeit noch an Stelle unserer Sittlichkeit steht und diese mitumschließt. Die Schriftsteller des 5. Jahrhunderts bieten uns nun bei allem geistigen Glänze, der über die Errungenschaften dieser Blütezeit ausgebreitet Hegt, ein erschreckendes Bild der allgemeinen Auflösung dieser älteren religiös-staatlichen Form. Besonders zwei Faktoren haben zur inneren Aushöhlung der bestehenden Autorität mitgewirkt: 1. Der allzulange Krieg mit seiner wachsenden Brutalität brachte die Erfahrung mit sich, daß alle Normen, die die Staaten sich selbst gegeben hatten, nur so lange beachtet wurden, wie es mit dem Vorteil der eignen Sache sich vertrug. Vor allem schildert Thukydides, wie der Kampf aller gegen alle, genährt durch den zerstörenden Hader der politischen Parteien und durch den Wirtschaftskampf um die eigene Existenz, schließlich alle moralischen Begriffe umkehrte und anständige Gesinnung zur Dummheit, Brutalität zur Tüchtigkeit und Tatkraft stempelte. Thukydides spricht geradezu von einer allgemeinen Bedeutungsveränderung der sprachlichen Ausdrücke, welche sittliche Werte bezeichneten, und sieht darin das Symptom der mit diesen Werten selbst vor sich gehenden vollkommenen Umwertung. Hier lernen wir am besten die Dialektik des Sokrates in ihrem einfachen Grundsinne verstehen, nämlich sich zuerst einmal mit anderen Menschen durch den Logos, durch Unterhaltung in Frage und 145 10 Jaeger, Human. Reden, 2. Aufl.

Antwort über den Sinn der Wörter zu verständigen, die man gebraucht. Dabei kommt die latente innere Problematik in den Grundbegriffen der Zeit zum Vorschein. 2. Man machte in allen Staaten, am offensten in der Demokratie, welche die verbreitetste Staatsform war, die Erfahrung, daß der Inhalt der Gesetze von wechselnden Majoritäten abhing und also relativ war. Es bildete sich das gefährliche Schlagwort, daß das Recht nur der Vorteil des Stärkeren sei; man stellte das Recht des Stärkeren geradezu als das „Gesetz der Natur" dem Staatsgesetz als bloßem Menschenwerk gegenüber und verherrlichte die starke Natur, wofür man sich auf das Beispiel der Staaten in ihrem Verhältnis zueinander berief, das nicht durch Rechtsnormen, sondern nur durch Macht geregelt werde. So arbeiteten sich der Individualismus der Lebensanschauung, den die Massenherrschaft als Reaktion erzeugte, und der Naturalismus der Weltanschauung gegenseitig in die Hände. Wir kennen das eigentümlich radikale Pathos dieser neuen Ideen durch Platos packende Charakteristik ihrer Vertreter, des Kallikles im Gorgias und des Thrasymachos im Staat, wie aus den Resten der sophistischen Literatur. Die Sophisten sind ein seit Platos blutigen Satiren vielumstrittenes Phänomen, man faßt sie bald als Revolutionäre und Kulturkämpfer bald als harmlose Schulmeister und Vertreter einer rein formalen Bildung auf. Die Wahrheit ist nicht so eindeutig wie diese Formeln, übereinstimmend werden sie uns nur als ein neuer Stand von Lehrern der gebildeten Schicht und als die Träger einer neuen Bildung und Erziehung geschildert. Das Bedürfnis nach einer solchen neuen nicht für Kinder, sondern für die Erwachsenen erzeugte der Staat und das öffentliche Leben selbst, das in rapidem Tempo immer größere Verhältnisse annahm und an die intellektuelle Durchbildung und das rednerische Können der führenden Männer neue Forderungen stellte. Wenn sich die Sophisten als Lehrer der politischen ausgaben, so ist darunter vorwiegend diese neue Verstandesbildung zu verstehen, ohne daß eine Geringschätzung der alten Erziehung, der Kenntnis des Gesetzes und der großen Dichter der Nation, damit verbunden zu sein brauchte. Die bedeutenderen Sophisten wie Protagoras gründeten ihre Erziehung ausdrücklich auf eine Theorie des Staats und der Gesellschaft, die sich an die Ideologie der herrschenden Demokratie anlehnte und die traditionellen Ideale als Fassade einer weitgehenden skeptisch-individualistischen Aufklärung mit glänzender Formalbildung aufrichtete. Andere Sophisten 146

gaben ihr fehlendes Interesse für eine tiefere Begründung ihres Bildungszieles offen zu und waren reine Formalisten. Sie zogen durch Grammatik, Rhetorik und Disputierkunst, also Technisierung der Bildung, ein skeptisches, skrupelloses Geschlecht heran, als dessen Hauptkunst das Volk die Fähigkeit der Wortverdrehung im Dienste jeder noch so schlechten Sache bewunderte und zugleich haßte. In den Schilderungen Platos sind die berühmteren Sophisten eine seltsame Mischung von Brillanz der Form und innerer Grundsatzlosigkeit, bürgerlicher Anständigkeit nach außen und sklavischer Anbetung des Erfolgs im Inneren ihres Herzens. Sie ersetzen durch geistigen Dünkel, was ihnen trotz der Bewunderung der höheren Gesellschaftskreise, die sie umwerben und bei denen sie schmarotzen, zur vollen gesellschaftlichen Ebenbürtigkeit schließlich doch fehlt. So tragen sie trotz der Steigerung der geistigen Bedürfnisse, die sie in weiten Kreisen wecken, letzten Endes zur allgemeinen inneren Unsicherheit und Unruhe der Zeit wesentlich bei, ja sie erscheinen Plato unentbehrlich in dem Zeitgemälde, das er entwirft, als die charakteristischen Repräsentanten dieser Epoche in ihrem Glanz wie in ihrer zunehmenden Haltlosigkeit. An dem Kampf um die neue Bildung, an dem auch die Poesie und die öffentliche Meinung leidenschaftlich interessiert sind; vor allem die regierungsgewohnten Kreise der attischen Aristokratie, aus denen der Staat auch der demokratischen Zeit seine besten Leute bezog, hat auch Platos Familie lebhaften Anteil genommen. Daß man ihn vorwiegend unter politischem Gesichtspunkt betrachtete, dafür bürgt der Name des Kritias. Dieser Oheim Platos, genialer politischer Abenteurer und raffinierter Bildungs- und Genußmensch, scheint seine Neffen Plato, Glaukon und Adeimantos auf Sokrates hingewiesen zu haben, der auf die jeunesse doree einen faszinierenden Einfluß übte und trotz seiner Beteuerungen, für die Politik nichts übrig zu haben, in den Oppositionskreisen des athenischen Adels wie es scheint von Anfang an politisch aufgefaßt wurde. Es ist hier nicht möglich, in den Streit der Sokratesauffassungen einzugreifen, uns interessiert, wie er auf Plato gewirkt hat, und da ist es ein großer Fortschritt, wenn die neuere Forschung uns ein Dokument von der Wichtigkeit des 7. platonischen Briefes wieder erschlossen hat, nachdem es ein Jahrhundert lang als unecht beiseite geschoben worden war. Die Verwerfung dieses einzigartigen Selbstzeugnisses, worin Plato den Gang und die inneren Motive seiner geistigen Entwicklung am Ende 147 10·

seines Lebens darlegt, ist ein sprechender Beweis dafür, wie fremd, gemessen an dem modernen Begriff vom Wesen eines Philosophen, dieses Bild eines großen antiken Denkers erschien. Flato berichtet hier, daß die Leidenschaft für den Staat, die in seinem Vaterhause traditionell war, der treibende Faktor seiner inneren Entwicklung gewesen sei. Zweimal versuchte er, so wird im 7. Briefe erzählt, zuerst nach dem Sturz der Demokratie unter der Herrschaft der 30 Oligarchen, dann nach deren Sturz von neuem unter der demokratischen Restauration, in die praktische Politik einzugreifen, aber beidemal schreckte ihn das Schicksal seines Freundes Sokrates zurück, der sowohl mit der aristokratischen wie mit der demokratischen Regierung in schweren Konflikt geriet und von der letzteren zum Tode verurteilt wurde. Die Erkenntnis, die Plato daraus erwuchs, daß der Staat seiner Zeit gleichviel welcher Partei durch und durch korrupt sei, weil er in jeder Form mit dem gerechtesten seiner Bürger in Konflikt geraten war, diese Erkenntnis wurde nun der Ausgangspunkt für Platos Lebensarbeit, die ganz und gar dem Staate gewidmet war. Betrachten wir seine Werke von diesem Punkte aus, so springt zunächst in die Augen, daß der Staat, schon dem äußeren Umfang nach das Hauptwerk der ersten Periode seines Schaffens, auch ideell die Zielleistung ist, auf die von Anfang an Platos Denken hingravitierte. Zum Staat hin konvergieren alle Linien, die wir in den übrigen Werken der vorhergehenden Zeit verfolgen können; alle einzelnen Motive der Philosophie Platos klingen in ihm wie in einer großen Symphonie zusammen, nachdem sie zuvor in besonderen Werken jedes für sich selbständig angeschlagen waren. Die Probleme der frühen Dialoge, die das Wesen der Haupttugenden dialektisch erörtern, erscheinen dem heutigen Betrachter leicht als die Geburt der „wissenschaftlichen Ethik", aber daß sie alle in Wahrheit Teile der politischen Philosophie sind, lehrt sowohl unsere vorausgehende geschichtliche Überlegung über die Herkunft dieser vier Tugenden aus der älteren Polisethik wie vor allem ihre Wiederkehr im Aufbau des Staates, wo sie jede ihre bestimmte Stelle einnehmen und der gesamte politische Kosmos von ihnen wie von vier Pfeilern getragen wird. Auch das Methodische der früheren Werke wird erst vom Staat aus verständlich, wie im Grunde schon aus Stenzels Untersuchungen über die Entwicklung der platonischen Dialektik gefolgert werden konnte. Die „Einheit der Tugenden", die in jenen frühen Dialogen überall als 148

Lösung durdischimmert und auf die sie den Leser hinführen, begründet erst der Sfoei, nämlich in der Idee des Guten, die Plato in den Mittelpunkt seines Staatsaufbaus stellt. Hier wird es klar, daß jene zunächst immer wieder resultatlos scheinenden frühen Dialoge, die die Frage aufwarfen: was ist die Besonnenheit oder Tapferkeit? was ist die Frömmigkeit? mit dieser, wie wir denken, „definitorischen Frage" in Wahrheit gar nicht auf eine Definition zielten, sondern auf die geistige Zusammenfassung der Vielheit der Tugenden in der Einheit der Idee des . In dieser „Schau" der Idee kommt das sokratische Forschen nach der letzten Norm des menschlichen Tuns und damit die auf Sokrates zulaufende historische Bewegung zu ihrem Ziel. Auch die Erkenntnisprobleme, die in früheren Werken angegriffen worden waren, stehen im Dienste dieser praktischen Zielsetzung. Schließlich fügen sich die Erörterungen des Lysis und des Gastmahls über den Eros und die Freundschaft dem Staate ein, insofern sie auf die Idee des Guten bzw. Schönen als die Grundlage aller Gemeinschaft unter Menschen hinführen. Die programmatische Verkündigung der politischen Bedeutung des Sokrates als Erzieher seines Volkes zu neuer Staatsgemeinschaft finden wir schon im Gorgias. Ist der Staatsaufbau einmal als das durchgehende Grundmotiv erkannt, so enthüllen auch so frühe Werke wie Apologie und Kriton mit einem Male ihr wahres Gesicht: schon hier zeigt sich Platos Grundansicht als feststehend, daß Sokrates die Polis und ihre Gesetzesautorität durch die Erkenntnis der wahren Norm alles Strebens zu erneuern berufen sei. Dieser bewußt zentripetale Charakter der platonischen Philosophie und Sdbriftstellerei der ganzen ersten Periode bis zum Staate wird durch den 7. Brief bestätigt, sagt uns doch Plato selbst dort, daß der Grundgedanke des Staates, die Herrschaft der , d. h. derjenigen, die die Erkenntnis der wahren Norm besitzen, für ihn bereits zu der Zeit festgestanden habe, als er zum ersten Male nach Sizilien kam, also als er soeben seine frühsten Dialoge geschrieben hatte. Es ist ja auch das Natürliche, daß die Philosophie Platos sich zwar „entwickelt" hat im Sinne fortschreitender innerer Differenzierung der Probleme, daß aber doch ein irgendwie Ganzes fertig vor seinem Geiste stand, als er den ersten Dialog schrieb, und ebenso ist es an sich einleuchtend, daß dies in erster Linie das schöpferisch-praktische Ziel und der formgebende Umriß seine Philosophie gewesen ist. Dies war jedoch noch nicht der abstrakte allumspannende Systemgedanke, wie er in der zweiten, ab149

schließenden Entwiddungsperiode sich herausschält. Die ursprüngliche geistige Form der Philosophie Platos war vielmehr der gleichsam noch in seiner plastischen Gestalt und in seinem architektonischen Gedankengefüge geschaute Staatsaufbau, wie er ihn am Ende seiner ersten Periode tatsächlich auch als schriftstellerisches Ganzes in der verwirklicht hat. Erst später brach aus dieser Urzelle ein einzelnes, sein Denken immer mehr beherrschendes dialektisches Problem, das Problem des Seienden hervor zu selbständiger Entfaltung, und wurde demgemäß die Aufgabe brennend, den gesamten Gehalt dieses allgemeinsten Begriffs durch Einteilung in Arten und Unterarten in immer weitergreifender abstrakter Gedankenarbeit systematisch zu erschöpfen. Ein Bild der immer stärkeren Loslösung dieser Dialektik des Seins bieten die späteren Werke Platos, doch auch dann bleibt das Politische ein bevorzugtes Objekt und Anwendungsgebiet der neuen Methode, wie der Politikos zeigt, welcher zum ersten Male versucht, ein vollständiges „System" der Staatsformen durch Einteilung des Begriffs der Herrschaft in seine Arten und Abarten zu deduzieren. Vor allem aber stehen die zwölf Bücher der Gesetze das riesige Nachlaßwerk, am Ende der Produktion des Philosophen als grandioses Zeugnis dafür, wie er bis zuletzt festhielt an seinem ursprünglichen Ziel. Als der letzte Gesetzgeber der Hellenen, als der ehrwürdige Nachfahr des Lykurg und Solon, ist Plato von seinem Lebenswerk und von seinem Volk geschieden. Von hier aus ist Platos Erziehertum zu verstehen. Erziehung ist nicht ein Einzelproblem seines Denkens, Erziehung ist sein ganzes Werk, denn Erziehung ist für ihn der einzige und eigentliche Sinn des Staates. Der Staat, das ist oberste nicht nur äußere, sondern vor allem innere Voraussetzung jeder Erziehung, die Voraussetzung, die die Sophisten, diese Virtuosen der modernen Menschenbildung, noch nicht in ihrer fundamentalen Wichtigkeit erkannt hatten, oder wo sie sie erkannten wie Protagoras, nicht in ihrer vollen realen Problematik begriffen hatten. Plato knüpft mit seiner Auffassung des Verhältnisses von Erziehung und Staat an die ursprüngliche, vorindividualistische griechische Lebensform an. Erziehung ist für ihn daher nicht ein bloßer Inbegriff von Eigenschaften und Fähigkeiten des Subjekts wie für die Sophisten, sondern sie ruht in der gesamten Architektonik des Lebens und des Seins, ohne die ihr die richtunggebende Norm und das Ziel fehlt. Der einzelne Mensch empfängt sein Gepräge und das Ethos seiner Existenz

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durch den Geist des Staates, in den er durch seine Erziehung hineingeformt wird. Alles Bilden ist gebunden an das Vorhandensein einer solchen allgemeinen überindividuellen Form, eines Ethos der Gesetze, wie es öfters bei Plato heißt. Sie hat auszugehen von dem Objektiven, von der Norm, in der die Erziehung die etwa vorhandenen schöpferischen Kräfte auffängt und durch die ihre Richtung und ihr Spielraum bestimmt wird. Aber wir sahen, daß der wirkliche Staat der Zeit Pktos gerade seinen im Mythischen und Religiösen wurzelnden geschichtlichen Normgehalt für die geistig höherstehende Schicht der Bürgerschaft so gut wie ganz eingebüßt hatte; seine äußere Unentbehrlichkeit konnte nicht wegtäuschen über seinen Mangel an innerer Autorität. Der altgriechische Staat, an dessen Aufbau Plato seine Erziehungspläne anknüpft, hatte noch nicht die Spaltung zwischen dem sittlichen Denken des Einzelnen und dem Willen des Staates gekannt, von der Platos Gesellschaftskritik, wie wir sahen, ihren Ausgang genommen hatte. Darum ist für Plato das philosophische Problem des Staates gleichbedeutend nicht mit dem Studium von Institutionen und Verwaltungsfragen, mit staatsrechtlicher Konstruktion oder realer Machtpolitik, sondern mit dem Finden der höchsten, unverrückbaren Norm alles menschlichen Handelns, nach der Sokrates gesucht hatte, er, den Plato deshalb in Gorgias in Gegensatz zu den berühmten Realpolitikern seines Volkes von Miltiades bis Perikles stellt und den paradoxen Satz aussprechen läßt: „Ich bin, so glaube ich, der einzig wahre Politiker meiner Zeit." Schwerlich hat der Ironiker Sokrates je in seinem Leben so herausfordernde Thesen voll von echt platonischem Pathos ausgesprochen. Um so klarer weist dieser platonische Sokrates uns auf den Kernpunkt der platonischen Staatsphilosophie hin. Das aber ist die grundlegende Bedeutung, die der philosophischen Erkenntnis, der Ideenschau (wie die Dialektik Platos sie von Sokrates ausgehend entwickelt) hier für die Gewinnung der objektiven Norm zugeschrieben wird, aus der Staat und Gesetzgebung von neuem hergeleitet werden und neue Lebenskraft schöpfen sollen. Es ist uns in der Kürze hier nicht gestattet, auf das Wesen und die logischen Grundlagen dieser platonischen Dialektik, der sog. Ideenlehre, näher einzugehen, die die Aufmerksamkeit der modernen Fachphilosophen von jeher in besonderem Maße erregt hat und über die wir in den letzten Jahren so viel Ausgezeichnetes und Aufhellendes haben lesen können. Wir würdigen nur dde Bedeutung der Tatsache, daß Plato das 151

ridbtige Handeln an die Befolgung einer in der Vernunfterkenntnis des Philosophen entspringenden Norm bindet, für die Struktur der gesamten Kultur der Folgezeit. Zunächst folgt aus der Seltenheit und Schwierigkeit solches schöpferischen Erkennens, das nur einigen wenigen Menschen vorbehalten ist, wie Plato zur „sittlichen Autonomie" des Individuums steht: er kennt eine solche Autonomie nicht, er kann den einzelnen Menschen nicht an sein Gewissen verweisen, wie Luther und der Protestantismus es getan haben; der Weg von seinem Intellektualismus, wie man diese Haltung abschätzig und nicht gerecht zu nennen pflegt, zur richtigen Erziehung und Lebensführung des Einzelmenschen führt deshalb notwendig über den Staat, in dessen Hände die Erziehung gelegt wird. Ohne die staatliche Autorität, die dem Philosophen auf den in den Staatsgesetzen investierten ewigen Normen beruht, ist für Plato das Individuum sittlich schlechthin entwurzelt, es gibt für ihn keine Individualethik neben und über der Staatsethik. Es gibt, wie er im 7. Brief im Hinblick auf sein ganzes Lebenswerk und auf den von ihm eingeschlagenen Weg der Abhilfe ausspricht, keine Möglichkeit, die Menge durch eine sich „an alle" wendende Heilsbotschaft zu beglücken, sondern nur geistige Auslese und Bindung der Erziehung an die tiefere Erkenntnis dieser Wenigen. Sein Staat ist die Aristokratie der zum Träger der höchsten s