Weltliteratur und Welttheater: Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung [1. Aufl.] 9783839422076

The 20th century saw an »Aestheticization of Politics« (Benjamin). Humanism became a politically arbitrary slogan, while

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Weltliteratur und Welttheater: Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung [1. Aufl.]
 9783839422076

Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Humanismus in der Epoche der Globalisierung: Texte – Bilder – Ästhetik – Politik
TEIL I. WELTLITERATUR
1. Lu Xun und das Tragische
2. Der Schriftsteller Lao She und das Weltbürgertum
3. Humor in den Werken Mo Yans
4. Lin Shu, die Shakespeare Novellen und sein konfuzianisches Menschenbild
5. Ein humanistischer Übersetzer: Liang Shiqiu und Shakespeares Sonette
TEIL II. WELTTHEATER
6. Gao Xingjian: Exil und Humanismus
7. Das neue Leben der Werke Shakespeares: Interkulturelle Perspektiven des Humanismus
8. Shakespeare asiatisch auf Europas Bühnen
9. »Wer bin ich?«: König Lear und die Vaterfigur
10. »Was ist ein Name?«: Romeo und Julia als humanistischer Text
Epilog. Neue Herausforderungen der geisteswissenschaftlichen Ausbildung
Danksagung
Literatur
Namens- und Sachregister

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Alexander C.Y. Huang Weltliteratur und Welttheater

Band 17

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Alexander C.Y. Huang (Prof. Dr. habil.) forscht und lehrt an der Fakultät für Anglistik und leitet das »Dean’s Scholars in Shakespeare«-Programm an der George Washington University, Washington D.C., USA. Er ist Herausgeber des »The Shakespearean International Yearbook«, Research Affiliate des Massachusetts Institute of Technology (Literatur) und Präsident der Mid-Atlantic Region Association for Asian Studies.

Alexander C.Y. Huang

Weltliteratur und Welttheater Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung

In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute for Advanced Studies in Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat, Lektorat & Satz: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2207-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung. Humanismus in der Epoche der Globalisierung: Texte – Bilder – Ästhetik – Politik | 9

TEIL I. WELTLITERATUR 1.

Lu Xun und das Tragische | 19

2.

Der Schriftsteller Lao She und das Weltbürgertum | 41

3.

Humor in den Werken Mo Yans | 63

4.

Lin Shu, die Shakespeare Novellen und sein konfuzianisches Menschenbild | 71

5.

Ein humanistischer Übersetzer: Liang Shiqiu und Shakespeares Sonette | 91

TEIL II. WELTTHEATER 6.

Gao Xingjian: Exil und Humanismus | 103

7.

Das neue Leben der Werke Shakespeares: Interkulturelle Perspektiven des Humanismus | 111

8.

Shakespeare asiatisch auf Europas Bühnen | 127

9.

»Wer bin ich?«: König Lear und die Vaterfigur | 151

10. »Was ist ein Name?«: Romeo und Julia als humanistischer Text | 169 Epilog. Neue Herausforderungen der geisteswissenschaftlichen Ausbildung | 189

Danksagung | 199

Literatur | 201

Namens- und Sachregister | 209

Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

Einleitung Humanismus in der Epoche der Globalisierung: Texte – Bilder – Ästhetik – Politik

Künstlerische Werte mögen sich im Laufe der Zeit verändern, nicht aber humanistische. Das ist der Grund, warum der Humanismus bis heute die treibende Kraft im Prozess der Globalisierung von Literatur und Theater ist. Dieses Buch nähert sich dem Thema »Humanismus in der Weltliteratur und im Theater« über die interkulturelle Perspektive. Der Humanismus spielte im interkulturellen Austausch besonders dann eine Rolle, wenn die Kommunikation augenblicksbezogen und der künstlerische Ausdruck spontan war, weil er den Kernpunkt internationaler Diskussionen um Kunst und Politik bildet. Folglich wurde er als Waffe gegen jede Art von Unterdrückung eingesetzt, die in jüngerer Zeit die Globalisierung bestimmten. Das war möglich, weil der Humanismus half, wichtige Themen innerhalb des Modernisierungsprozesses zu formulieren und Debatten über Politik, Ästhetik und Kunst anzustoßen.1 Humanismus fördert unabhängiges Denken und den Mut, sich gegen selbst ernannte Autoritäten – ganz gleich ob in Politik oder Kultur – zu stellen. Kulturelle und moralische Werte sind auf das gemeinsame Verständnis von Humanität gegründet. Seit dem frühen 20. Jahrhundert verfolgen deshalb Künstler das gemeinsame Ziel der Errichtung eines intellektuellen Netzwerkes, einer weltweiten literarischen Republik. Künstler brachten neue, hybride Genres hervor und schufen Werke, die immer wieder bohrende Fragen nach dem Funktionieren

1

Tony Davies: Humanism, London 2002, S. 5.

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der Weltordnung und nach kulturellen Hierarchien stellen. Einige von ihnen wurden Mittler zwischen den Kulturen, andere wiederum unterstützen lokale Kulturen angesichts von Verwestlichung und Globalisierung. Texte und Bilder, Ideen und lokale künstlerische Ausdrucksformen sind heutzutage immer schneller und an jedem Ort verfügbar. Wie nehmen wir lokale Kulturen und Ausdrucksformen angesichts neuer, fremder Genres und Texte wahr? In wessen Namen und wozu werden Kunstproduktionen übersetzt und verbreitet? Die Grenzen zwischen Kulturen sowie alten und neuen Kunstgenres verschwimmt zunehmend, was neue Möglichkeiten des Ausdrucks für Schriftsteller, Regisseure und Schauspieler schafft. Die Künstler entleihen Dinge aus den verschiedensten kulturellen Traditionen, um der humanistischen Grundidee Ausdruck zu verleihen. Das 20. Jahrhundert erlebte eine »Ästhetisierung der Politik« – wie Benjamin es nannte. Humanismus wurde als Slogan, den man sich auf die Fahnen jedweder Politik schrieb, verwendet, er bildete aber gleichzeitig eine gemeinsame Kommunikationsbasis für Künstler und Publikum. Humanismus in der heutigen Kunst ist längst kein rigider Rationalismus oder wissenschaftlicher Positivismus mehr, mit denen er oft verbunden wurde. Vielmehr beeinflusste er autobiografische Erzählungen und Stücke (wie wir am Beispiel von Gao Xingjian sehen), favorisierte ganz persönliche Erfahrungen gegenüber einer institutionalisierten und anonymen Geschichte (Mo Yan) und förderte Neuinterpretationen eines westlichen Erzählkanons (Wu Hsing-kuo und sein Stück »Lear ist da!«). Der Humanismus ist ein Teil der interkulturellen Kunst und Literatur. Vorliegender Band stellt die Untersuchung von Literatur und Theater hinsichtlich ihres humanistischen Gehaltes im Zeitalter der Globalisierung in den Mittelpunkt. Die Transformation und Verbreitung von Literatur und Theater stellt einen wichtigen Teil der kulturellen Globalisierung heute dar und deshalb möchte ich einen genauen Blick auf die Wirkungsweisen von Humanismus in den Künsten werfen. Das Buch enthält zwei Teile zur Literatur bzw. zum Theater mit je fünf Kapiteln. Die einzelnen Kapitel sind thematisch und chronologisch angeordnet. Der erste Teil des Buches zur Weltliteratur geht drei Schwerpunkten nach: 1. dem kulturellen Umfeld der in China neuen, tragikomischen Erzählungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts; 2. den satirischen

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Reaktionen auf den sozialistischen Realismus am Ende des 20. Jahrhunderts und 3. den Übersetzungen und Nacherzählungen von Shakespeare-Werken mit dem Ziel, humanistische und in einem Fall auch konfuzianische Werte aufzuzeigen. Kapitel 1 untersucht das humanistische Menschenbild Lu Xuns in Zeiten großer Werteumbrüche und Unruhen. Lu Xun (1881–1936) ist bis heute einer der einflussreichsten chinesischen Schriftsteller und war Mitbegründer der modernen chinesischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten zeichnen die Fratze einer Gesellschaft, in der Utopien zerstört werden und in der die Wirklichkeit Futter für künftige Auseinandersetzungen ist. Die Propaganda-Maschinerie der Kommunistischen Partei unter Mao Zedong propagierte Lu Xuns Feudalismus-Kritik als das Herzstück seiner Arbeiten und vermarktete ihn entsprechend. Die westliche Lu Xun-Forschung übersah ebenfalls einige Aspekte seines Schreibens, vor allem die experimentelleren und hybriden Formen. Das Kapitel widmet sich dem Erbe Lu Xuns und insbesondere dem Verhältnis von Kunst und Politik in seinen nicht vordergründig politischen Arbeiten. Lu Xun verband Satire mit Tragik, wobei ein spöttischer Tonfall seine Erzählungen bestimmte. In bislang nie dagewesenen ironischen Schilderungen gesellschaftlicher Finsternis verfolgte er die Idee einer bedeutungslosen, einer leeren Welt (xuwu). In seinen Erzählungen karikiert er sowohl Zeitgenossen als auch Weise und mythische Helden und bringt damit gleichzeitig soziales Engagement und ironische Distanz zum Ausdruck. Auch wenn Lu Xun sich den großen gesellschaftlichen Fragen widmete, was für die Literatur der 4. Mai-Generation typisch war2, ging er dabei über die bloß »patriotischen Erzählungen« hinaus und experimentierte mit Formen der Satire, Tragödie und der politischen Karikatur. Damit bildete er eine Welt ab, die von einem nie dagewesenen Optimismus, aber auch unendlichem Leid getragen wurde. Lu Xuns respektlose und sarkastische Kritik an der chinesischen Gesellschaft ist anerkannt wie umstritten. Aber ebenso bedeutend wie seine Gesellschaftskritik ist in meinen Augen sein Gebrauch tragikomischer Elemente als Mittel des sozialen Kommentars, um das Nebeneinander von Utopien und Perspektivlosigkeit darzustellen.

2

Die 4. Mai-Bewegung begann am 4. Mai 1919 in Beijing als Studentenprotest gegen die Versailler Verträge. Sie markiert den Beginn der Modernisierung Chinas und eines aufstrebenden Nationalismus.

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Kapitel 2 widmet sich einem Zeitgenossen Lu Xuns, Lao She (1899–1966), und seinen humanistischen Interventionen in Zeiten großer Identitätskrisen. Was heißt es, Chinese in der modernen Welt zu sein? Wie wird man Weltbürger, ohne dabei seine eigene kulturelle Identität zu verlieren? Verglichen mit anderen Schriftstellern der 4. Mai-Generation schuf Lao She eine erstaunliche Zahl an Figuren, die den Status des Fremden sowie das Kulturverständnis von Traditionalisten und Reformern hinterfragen. Im Mittelpunkt steht eine Erzählung Lao Shes, in der ein Chinese nach seiner Rückkehr aus den USA einen Kulturschock erlebt. Selbst vor dem Hintergrund wachsender Globalisierung stellte Lao She seine chinesischen Auslandsstudenten als entwurzelte, verlorenen Seelen dar. Sein Bild dieses kulturellen Dilemmas ist so wenig eindeutig wie in der afro-amerikanischen Literatur, die von anglo-europäischen und afrikanischen Traditionen beeinflusst wurde.3 Seine Figuren positioniert Lao She an der Kreuzung verschiedener Traditionen, und sein eigenes Schreiben ist von der britischen Literatur, besonders Charles Dickens, und der vormodernen chinesischen Enthüllungsliteratur beeinflusst. Kosmopolitismus befördert ein Nachdenken über Gegebenes und das, was wir als selbstverständlich nehmen. Wie wir in Kapitel 3 anhand der Werke Mo Yans (*1955) sehen, ist der Geist von Lu Xun und Lao She bis heute lebendig. Kapitel 3 untersucht wie schon die vorigen das Zusammenspiel des Humanismus und komischer, parodistischer Elemente. Als einer der aktivsten Gegenwartsschriftsteller Chinas verbindet Mo Yan Themen und Stile, die vom Magischen Realismus bis zum schwarzen Humor, von historischen Erzählungen bis hin zu derben Geschichten und Gleichnissen reichen. Wie andere Gegenwartsschriftsteller, die den sozialistischen Realismus parodieren, setzt Mo Yan Mittel wie Derbheit und Humor ein, um eine Gegenerzählung zu schaffen, die die offizielle Geschichtsschreibung unterläuft. Mo Yans Roman Die Schnapsstadt ist eine Parodie chinesischer Esskultur, geschrieben in den Formen des Detektiv- und des Briefromans. Die Schnapsstadt wie auch sein Roman Der Überdruss benutzen ganz ähnliche Strategien, um eine Atmosphäre komischer Absurdität zu schaffen. Mit dem Einsatz ver-

3

Henry Louis Gates Jr.: The Signifying Monkey: A Theory of Afro-American Literary Criticism, New York 1988, S. xxv.

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schiedener komödiantischer Mittel schafft Mo Yan eine Alternativerzählung über China, die die sonst üblichen Erzählweisen konterkariert. Der Frage nach der Bedeutung des Menschseins in Zeiten des Übergangs und zwischen verschiedenen Kulturen gehen auch die folgenden beiden Kapitel nach, die sich mit dem literarischen und kulturellen Übersetzen beschäftigen. Übersetzungen waren und sind eine wichtige Komponente im Modernisierungsprozess. Kapitel 4 untersucht die in die Übertragung der Shakespeare-Novellen von Charles und Mary Lamb (1775–1834; 1764–1847) eingeschriebene Moralkritik näher. Zu Zeiten von Lin Shu (1852–1924) beinhalteten Übersetzungen immer auch ethische Aspekte. Shakespeare und seine Stücke spielten eine große Rolle bei der Entwicklung eines neuen chinesischen Humanismus während der kulturellen Reformen. Das Übersetzungsprojekt von Lin Shu und seinem Mitarbeiter gestattet einen Blick auf die zahlreichen ästhetischen, ethischen und politischen Überschneidungen von Shakespeare und der modernen chinesischen Literatur. Exemplarisch demonstriert Lin Shus ›Übersetzung‹, dass die Nachschöpfung der Werke Shakespeares ein wichtiger Weg für chinesische Autoren war, ihre humanistischen Ansichten zu umreißen. Kapitel 5 wendet sich einem Übersetzer und Essayisten zu, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts wirkte. Liang Shiqiu (1903–1987) verband den Humanismus mit seiner Idee einer elitären Hochkultur. In seiner Übersetzung der Sonette Shakespeares nahm er den Gedanken der Fortpflanzung um der Schönheit willen auf. Für ihn stellten die Sonette die beste Lyrik überhaupt dar, der die Zeit nichts anhaben konnte. Seine Vorstellung des literarischen Kanons umfasste nur »das Beste, was in der Welt gesagt und gedacht wurde«.4 Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Rolle des Humanismus in der chinesischen und interkulturellen Theaterpraxis. Der chinesisch-französische Nobelpreisträger Gao Xingjian (*1940) und sein Stück »Schnee im August« ist Gegenstand von Kapitel 6. Seine kulturübergreifenden Stücke wurden als Stimme der chinesischen Diaspora und Teil des antichinesischen Diskurses gelesen. Dabei ist er vor allem daran interessiert, mit Hilfe des Theaters alternative ästhetische Ausdrucksformen zu finden, die im Prozess der Modernisierung

4

Matthew Arnold: Culture and Anarchy: An Essay in Political and Social Criticism, London 1869, S. viii.

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verfremdet wurden. Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sucht er nach neuen humanistischen Werten als Ausdruck individueller und künstlerischer Stimmen. Das Kapitel untersucht die Umsetzung der Exil-Idee in »Schnee im August« und das Zusammenbringen disparater Elemente, die von der Ästhetik bis zur Politik reichen. Die Kapitel 7 bis 10 widmen sich Shakespeare-Adaptionen in asiatischen bzw. asiatisch inspirierten Theaterproduktionen. Die Humanismus-Debatte ist nirgends so heftig wie im interkulturellen Theater, wo Aneignungen fremder theatraler Elemente freundliche wie feindselige Reaktionen auslösen. Kapitel 7 gibt einen Überblick über Adaptionen der Shakespeare-Tragödien im traditionellen chinesischen Musiktheater und Kapitel 8 beleuchtet Produktion und Rezeption ostasiatisch geprägter Shakespeare-Produktionen auf den Bühnen Europas. Sie entfachten Diskussionen um Kulturtourismus, um asiatische oder europäische Identitäten und die Identität von Shakespeares Text aufs Neue. Der Asientouch der Aufführungen ließ sowohl Shakespeare als auch die audiovisuelle Sprache Asiens zugleich vertraut und fremd erscheinen, was unsere Vorstellungen von Original und Derivat ins Wanken bringt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach kulturellem Besitz und Authentizität. Weder Shakespeare noch die hybriden asiatischen Aufführungspraktiken können für sich den Status des Borgers oder Verleihers beanspruchen. Ob man diese Produktionen am Ort ihrer Entstehung oder in Europa sieht, mit oder ohne die kulturelle und sprachliche Kompetenz, diese voll zu verstehen, das Publikum ist sich der bestehenden Differenz bewusst. Kapitel 9 und 10 widmen sich Interpretationen von »König Lear« bzw. »Romeo und Julia«. »König Lear« nimmt einen besonderen Platz im postmodernen Theater Chinas wie auch des Westens ein, und das Stück ist eines der am häufigsten gespielten Shakespeare-Stücke im asiatischen Gegenwartstheater. Es ist für die Postmoderne, was »Hamlet« für die Romantik war: »das Symbol eines Zeitalters«. Wu Hsingkuos »Lear« ist der Versuch, die bekannte Geschichte von König Lear und die Strukturen der Pekingoper zu individualisieren. Die autobiografische Aufführung verfremdet damit bekannte Vorstellungen von Shakespeare bzw. von der Peking-Oper. Sein Kampf mit verschiedenen kulturellen Identitäten ist Ausdruck der Frage, die der Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois 1903 stellte: »How does it feel to be a prob-

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lem [...] of two souls, two thoughts, two irreconciled strivings?«5 Die Soloperformance von Wu Hsing-kuo erlebte Gastspiele in Asien, Europa und den USA. Im Gegensatz dazu ist Ma Lianghuas »Zhuo Mei« und »Ah Luo« nach »Romeo und Julia« von Shakespeare im Stil der Huadeng-Oper kaum außerhalb Yunnans bekannt. Die Verbindung ethnografischer Erzählungen und wiederbelebter lokaler Aufführungspraktiken schafft durch die Nähe zu den Alltagserfahrungen der Zuschauer neue symbolische Gemeinschaften mit einer gemeinsamen kulturellen Erinnerung. Shakespeareaufführungen auf Provinzmärkten bringen vielfältige Formen des Zusammenspiels von Shakespeare und traditionellem asiatischen Theater hervor. Dort, wo die Produktionen nicht auf Tournee gehen und wo die Zuschauer aus der Gegend kommen, bekommt der Begriff ›lokale‹ Kultur eine ethnografische Dimension. Wenn kulturelle Übersetzungen auch noch immer allegorisch sind, so fragen doch immer mehr Künstler, ob die Beschäftigung mit einem bekannten Werkkanon auch persönlich sein dürfe. All diese Beispiele zeigen, dass sich der Humanismus auch als entscheidender Faktor in der Globalisierung von seinem traditionellen Verständnis als universelle, von Raum und Zeit unabhängige menschliche Natur ableitet. Am Schluss des Buches widme ich mich dem Humanismus in der Bildung und analysiere die Spannungen zwischen den die Kulturunterschiede und die kulturelle Gleichheit betonenden Ansätzen beim Unterrichten geisteswissenschaftlicher Kurse im 21. Jahrhundert. Werden Klassiker studiert, weil sie auch den heutigen Lesern noch etwas zu sagen haben? Oder sind sie wichtig, weil sie universelle humanistische Werte ansprechen? Oder weil sie eine Gelegenheit bieten, über den Unterschied zwischen ›damals‹ und ›jetzt‹ nachzudenken? Wenn Klassiker heute Diskussionen auslösen, dann haben sie ihr wichtigstes pädagogisches Ziel erreicht. Heutzutage scheinen Entfernungen zu schrumpfen, wir dürfen aber die zeitlichen und geokulturellen Unterschiede nicht vergessen.

5

W.E.B. Du Bois: The Souls of Black Folk, Boston 1997, S. 12.

Teil I. Weltliteratur

1. Lu Xun und das Tragische [...] wirklich tragisch ist, wenn einer unter seinen Mitmenschen laut die Stimme erhebt, aber keinen Widerhall findet, weder Beifall noch Ablehnung [...] Da ich jedoch für die Alten nicht so viel Respekt habe, wie für die Heutigen, konnte ich ein paar Possen nicht unterdrücken. LU XUN 1923, 19361

»Das Verhältnis der verschiedenen Weltkulturen stellt sich auf der geistig-kulturellen Ebene als eine Konkurrenz unterschiedlicher universalistischer Menschheitskonzeptionen dar«, bemerkte der Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen. »Nötig ist ein übergreifendes Konzept der Verständigung, auf das sich die verschiedenen kulturellen Traditionen und die Geltungsansprüche in Anerkennung der jeweils eigenen, und das heißt von dem anderen eben unterschiedlichen kulturellen Identität beziehen«.2

Die Entwicklung des Begriffes der Tragödie ist ein Beispiel dafür, wie die neue und universalistische Idee der Humanität und des menschlich-

1

Lu Xun: Werke in 6 Bänden, hg. v. Wolfkang Kubin, Zürich 1994, »Vorrede zu Applaus«, Bd. 1, S. 11; »Vorrede zu Altes frisch verpackt«, Bd. IV, S. 10.

2

Jörn Rüsen: »Projektkonzept«, www.kwi-humanismus.de. [Letzter Zugriff 1. November 2011].

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Handelns einherging mit der Suche nach sich selbst und dem Chinesisch-Sein an sich. Natürlich beinhalten kulturelle Traditionen, seien es vergangene oder gegenwärtige, immer humanistische Elemente, doch welche Bedeutung maßen die Chinesen des frühen 20. Jahrhunderts dabei ihrem Leiden und dem ihres Landes zu? Wie sahen sie sich im Verhältnis zu den anderen? In dieser Periode des Suchens nach neuen Wertmaßstäben brachten viele chinesische Schriftsteller einen tiefen Humanismus zum Ausdruck, weil er Mut machte, sich gegen politische Unterdrückung und Anmaßungen moralischer Autoritäten zu wehren. Es war Lu Xun, der oben zitierte profunde Erkenntnis in Zeiten des Krieges und des Chaos formulierte. Es ist tatsächlich eine Tragödie, die Stimme zu erheben und keinerlei Antwort zu bekommen. Gleichgültigkeit ist eine Haltung, und für viele Chinesen gar eine Lebensphilosophie, worin laut Lu Xun die ultimative Tragödie besteht. Lu Xun (eigentlich Zhou Shuren, 1881–1936) war und ist bis heute einer der einflussreichsten Schriftsteller, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne chinesische Literatur aus der Taufe hoben. Er wird von dem bekannten Sinologen Wolfgang Kubin in der Geschichte der chinesischen Literatur hoch gelobt.3 Seine Arbeiten zeichnen die Fratze einer Gesellschaft, in der Utopien zerstört werden und die Wirklichkeit Futter für kommende Auseinandersetzungen ist. In den USA, wo seine Erzählungen Teil des Lehrplans zur Weltliteratur und zum modernen Roman sind, werden die Werke Lu Xuns oft als Beispiele dissidentischer oder linker Literatur gelesen. China hingegen schuf unter Mao Zedong gleich eine ganze Lu Xun-Industrie, die seine Feudalismuskritik als Herzstück seines Schreibens propagierte, und die Werke dementsprechend kanonisierte und vermarktete.4 Dabei übersah man geflissentlich sein Testament, in dem es heißt: »Bitte keine Grabreden. Vergesst mich und kümmert euch um euer eigenes Leben – wenn nicht, seid ihr selbst schuld«.5 Diese sehr einseitigen Lesarten gingen zu Lasten ästhetischer Fragen. Der Literaturwissenschaftler Liu Zaifu und der Philosoph und Kulturhistoriker Li Zehou arbeiteten her-

3

Wolfgang Kubin (Hg.): Geschichte der chinesischen Literatur: Chinesische Literatur im 20. Jahrhundert, Bd. 7, München 2005.

4

Siehe dazu: Lu Xun: Select Works, 4 Bd. Engl. v. Yang Xianyi und Gladys

5

Ebenda.

Yang, Beijing 1985, Bd. 4, S. 314.

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aus, dass Lu Xun und die damalige Schriftstellergeneration Literatur als ein Mittel sozialer Kritik benutzten, um die Ideen einer neuen und modernen Gesellschaft zu propagieren. Philosophische Fragen nach dem Dasein an sich spielten dabei kaum eine Rolle. Nur ausgewählte Erzählungen von Lu Xun, die zeigten, dass Schriftsteller in einem kommunistischen Staat dem Volke dienen, waren Teil der chinesischen Lehrpläne. So ist es auch nicht verwunderlich, dass im Westen bestimmte Aspekte seines Schreibens, vor allem die experimentelleren Formen, übersehen wurden.6 In China sträubte man sich auch gegen die Bedeutung, die Lu Xun als Schriftsteller zugemessen wurde. Diese sogenannte Lu Xun-Müdigkeit finden wir zum Beispiel bei Wang Shuo (*1958), einem der populärsten modernen Schriftsteller Chinas. Er wies jegliche Beeinflussung durch Lu Xun von sich.7 Ich denke, man sollte das Erbe Lu Xuns hinsichtlich der Beziehung von Kunst und Politik anhand seiner nicht explizit politischen Schriften erneut untersuchen. Lu Xun verstand es, Satire mit einer klaren Vorstellung von tragischer Literatur zu verbinden, wobei er einen spöttischen Ton in seine Erzählungen brachte. In bislang nie dagewesenen ironischen Schilderungen gesellschaftlicher Finsternis verfolgte er die Idee einer bedeutungslosen Welt (xuwu). Seine Karikaturen von Zeitgenossen und chinesischen Weisen sind Ausdruck sozialen Engagements wie auch ironischer Distanz. Auch wenn Lu Xun größere gesellschaftliche Fragen ansprach, wie es für die Literatur der 4. MaiGeneration8 typisch war, ging er über die bloß »patriotischen Erzählungen« hinaus und experimentierte mit Formen der Satire, Tragödie und der politischen Karikatur. Seine respektlose und sarkastische Kritik der chinesischen Gesellschaft ist anerkannt wie umstritten. Nicht weniger bedeutsam ist, in meinen Augen, sein Gebrauch tragikomi-

6

Der Essay »Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism« von Fredric Jameson machte Lu Xun bei den westlichen Lesern bekannt. Lu Xuns Erzählung »Tagebuch eines Wahnsinnigen« diente als Beispiel für Jamesons Argumentation: »[...] all third-world texts are […] to be read as what I will call national allegories […] particularly when their forms develop out of predominantly western machineries of representation, such as novel«, Fredric Jameson in: Social Text 15 (1986), S. 69.

7

Wang Shuo: »Wo kan Lu Xun« (Wie ich Lu Xun sehe), in: Shouhuo 2

8

Siehe auch Kapitel 2, Fußnote 6.

(2000), S. 127ff.

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scher Mittel als Form des sozialen Kommentars, um das Nebeneinander von gesellschaftlichen Utopien und Perspektivlosigkeit darzustellen.

T RAGÖDIEN DER E INSAMKEIT UND P OLITKOMÖDIEN Es heißt, die moderne chinesische Literatur sei unter Tränen und Seufzern entstanden, weil sie von der wechselhaften Geschichte Chinas besessen war. Lu Xuns spätere Werke zeigen jedoch, dass Lachen die Perspektive ändern konnte. Um zu sehen, wie er das Lachen benutzte, wende ich mich dem Band Altes frisch verpackt9 zu. Die Sammlung vereint acht Erzählungen, die zwischen 1922 und 1935 entstanden. Lu Xun erzählt darin bekannte klassische Geschichten neu, die zum moralischen Erziehungskanon gehörten. Es sei schwierig, so Lu Xun, historische Erzählungen zu schreiben, da sie auf exakter Forschung beruhten und für jedes Wort einen Beweis liefern müssen. Bei den Nacherzählungen aber, brauche er nur hier einen Punkt, und dort einen Pinselstrich hinzuzufügen, um sie auszuschmücken, was wenig Können verlange. Seine Nacherzählungen waren komische Begegnungen von Geschichte und Fiktion mit tragischen Folgen. Bei Lu Xun geraten Philosophen wie Laozi und Mozi, der Bezwinger der Fluten – der Große Yu oder Hou Yi, der neun Sonnen abschoss, in absurde Situationen. Lu Xun wollte den Respekt des Lesers gegenüber diesen Figuren erschüttern. Er mischte dabei klassisches Chinesisch, englische und umgangssprachliche Ausdrücke, was aus dem Mund dieser verehrten Ahnen- und Weisen komisch klingt und ein anderes Licht auf sie wirft. Die Protagonisten der Erzählungen ihrerseits beklagen Einsamkeit und Isolation, die aus der Unfähigkeit mit der Gesellschaft zu kommunizieren resultierten. In die Erzählungen sind immer wieder dramatische Szenen – ich würde sie kleine Seitenhiebe nennen – eingestreut. Zhuangzi, der mutmaßliche Verfasser des gleichnamigen daoistischen Klassikers, wird bei Lu Xun10 zu einem Clown, der unfähig ist, zu philosophieren. Im

9

Lu Xun: Werke in 6 Bänden, hg. von Wolfgang Kubin, Zürich 1994, Band 4, übersetzt von Michaela Link.

10 Lu Xun: »Auferstehung« (Qi si), a.a.O. Bd. 4, S. 161.

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Gegensatz zur konfuzianischen Ethik des sozialen Engagements, stand bei Zhuangzi die Selbstkultivierung und der individuelle Weg zur Freiheit im Vordergrund. »Darum, wenn ein großer Mann gezwungen ist, sich mit der Regierung der Welt abzugeben, so ist am besten das Nicht-Handeln. Durch Nicht-Handeln kommt man zum ruhigen Abfinden mit den Verhältnissen der Naturordnung«.11

Skeptizismus ist der Wesenszug von Zhuangzis Weltsicht. Die wohl bekannteste Fabel dazu ist der Schmetterlingstraum. Der Philosoph träumt darin, dass er ein Schmetterling sei, ist aber nicht sicher, ob er geträumt hat, er sei ein Schmetterling oder ob der Schmetterling geträumt hat, er sei Zhuangzi. Solche idealistischen Überlegungen geringschätzend, kleidete Lu Xun seinen Zhuangzi in einen Baumwollumhang und gab ihm eine Peitsche in die Hand, so als wäre er auf einer chinesischen Opernbühne. Und diesen Zhuangzi lässt er sich beklagen: »Nun habe ich seit meinem Aufbruch nichts mehr getrunken, langsam bekomme ich richtig Durst – und mit Durst ist nun einmal nicht zu spaßen. Man sollte sich einfach in einen Schmetterling verwandeln, aber hier gibt‫ތ‬s ja noch nicht einmal Blumen«.12

Bei Lu Xun wird aus Zhuangzis Lamento plötzlich eine Allegorie des Schmetterlingstraumes, in dem Moment als die Natur ihren Tribut fordert. Dem Philosophen Laozi erging es nicht besser, als Lu Xun die bekannte, doch nicht verbürgte Geschichte nacherzählte, wie das Daodejing entstand. Der Legende nach schrieb Laozi, ein Zeitgenosse von Konfuzius, das Buch auf Forderung des Wächters vom Hangu-Pass nieder, bevor er auf seinem Büffel gen Westen ritt und nie wieder gesehen wurde. In der Erzählung Lu Xuns13 hält Laozi den Wachen und Zollbeamten am Pass einen Vortrag. Diese, in Erwartung großer

11 Zhuangzi, Buch XI, 1, übersetzt von Richard Wilhelm, in: Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, München 2000, S. 118. 12 Lu Xun: »Auferstehung«, a.a.O., Bd. 4, S. 161. 13 Lu Xun: »Die Reise über den Pass« (Chu guan), a.a.O., Bd. 4, S.129.

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Weisheiten, haben sich mit Pinsel und Holztafeln bewaffnet, um alles mitzuschreiben: »Wie ein fühlloser Holzklotz saß Laozi in der Mitte. Nach einem Augenblick der Stille räusperte er sich ein paarmal, dann begann er die Lippen in seinem weißen Bart zu bewegen, was seine Zuhörer auch prompt den Atem anhalten ließ. Wie gebannt lauschten sie nun Laozis langsam vorgetragenen Worten: ›Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name.‹ [...] Die Zuhörer sahen einander ratlos an, und niemand schrieb mit. [...] Mittlerweile schauten seine Zuhörer allesamt ziemlich gequält drein [...] Einer der Zollbeamten ließ ein lautes Gähnen hören, und der Sekretär schlief sogar ein [...] Laozi schien von alldem nichts wahrzunehmen – vielleicht aber hatte er doch etwas bemerkt [...] Da er jedoch keine Zähne mehr hatte, war seine Aussprache etwas unklar. In seinem Gemisch aus Shanxi- und Hunan-Dialekt [...] wurde die Qual seiner Zuhörer [um so größer]«.14

Frustriert bitten die Zuhörer Laozi, seine Gedanken selbst aufzuschreiben. Nach anderthalb Tagen gelang es ihm, ein Manuskript von 5000 Schriftzeichen niederzuschreiben, welches der Kommandant des Passes dann »in das Regal, auf dem sich schon Salz, Sesam, Stoffe, Sojabohnen, Dampfbrote und ähnliches befanden«,15 legte. Wenn man in Betracht zieht, welche Bedeutung Laozi hatte, weiß man, dass die Erzählung nicht bloß ein Scherz sein konnte. Lu Xun wollte zeigen, dass ein Verhalten, wie diese Achtlosigkeit, mitverantwortlich für die Fehler Chinas ist. In seinem Essay »Über die Macht der dämonischen Poesie« (Moluo shi li shuo)16 hatte Lu Xun bereits Einwände gegen die »harmonische« Philosophie eines Laozi formuliert. Der zentrale Gedanke von Laozis Buch sei, dass die Menschen nicht in einen Zustand der Unruhe

14 Ebenda, S. 137f. 15 Ebenda, S. 143. 16 Lu Xun: »Moluo shi li shuo«, in: Henan Mai (Juni 1908); Lu Xun: Werke in sechs Bänden, Bd. V, S. 87; Engl. v. Shuying Tsau, Donald Holoch: »On the Power of Mara-Poetry«, in: Kirk Denton (Hg.): Modern Chinese Literary Thought: Writing on Literature, 1893–1945, Stanford 1996, S. 101.

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versetzt werden dürfen.17 Dazu müsse man eben einen fühllosen Holzklotz aus sich machen und das Handeln unterlassen. An anderer Stelle karikiert er die chinesische Politik ebenso wie die daoistische Philosophie und greift das Ideal von Harmonie und Frieden an: »Harmonie und Frieden sind Dinge, die es unter den Menschen nicht gibt. Wenn man schon gezwungenermaßen von ›Frieden‹ spricht, dann ist damit in Wirklichkeit nur die Zeit zwischen der Beendigung des einen und dem Ausbruch des nächsten Krieges gemeint. An der Oberfläche scheint alles ruhig, doch unterschwellig besteht eine Spannung – ein Funke, und der Prozess setzt von neuem ein«.18

Und er fügt hinzu: »Dichter sind immer Unruhestifter«.19 In »Die Bezwingung der Wasser (Li shui)« erzählt Lu Xun die Lebensgeschichte von Yu nach, dem Begründer der ersten chinesischen Dynastie. Er war für seinen Kampf gegen die Fluten bekannt. Mit unerbittlicher Satire ergreift Lu Xun hier Partei für eine politische Literatur. Während in der Legende Yu als Held gefeiert wird, beginnt Lu Xun seine Erzählung mit einem ironischen Bild für die sozialen Unterschiede: »Man schrieb die Zeit der ›gewaltigen Überschwemmungen, die das Land verwüsteten, Berge einschlossen und Hügel überfluteten‹, und während einige der Untertanen von Kaiser Shun, sich auf den Berggipfeln, die das Wasser noch freigab, zusammendrängten, banden andere sich in Baumwipfeln fest; wieder andere ließen sich auf Flößen nieder, die teilweise sogar mit winzigen Holzhütten versehen waren. Ein malerischer Anblick – vom Ufer aus betrachtet«.20

Hintergrund war, dass die Regierung Naturkatastrophen ausnutzte, um soziale Ungerechtigkeiten zu verdecken. So schien es, als wolle Yu dem Volke dienen, anstatt nur den Kaiser zu beeindrucken. Am Ende endlich gewährt Kaiser Shun Yu eine Audienz:

17 Lu Xun: »Über die Macht der dämonischen Poesie«, in: Lu Xun, a.a.O. Bd. V, S. 96. 18 Ebenda, S. 93f. 19 Ebenda, S. 98. 20 Lu Xun: »Die Bezwingung der Wasser«, in: Lu Xun, a.a.O ., Bd. IV, S. 44.

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»Kaiser Shun saß auf dem Drachenthron; er war schon ziemlich alt und verständlicherweise müde. In diesem Augenblick schien er allerdings auch verängstigt zu sein. Bei Yus Eintritt stand er eilends auf, verneigte sich ehrerbietig und ließ zunächst einmal seinen Minister Gao Yao mit ein paar höflichen Bemerkungen zu Wort kommen. Schließlich erhob der Kaiser selbst seine Stimme: ›Nun sagt auch Ihr mir ein paar gute Worte‹. ›Tja, was soll ich da sagen?‹ Yus Antwort fiel kurz und bündig aus. ›Ich habe tagein tagaus nur einen einzigen Gedanken: zizi‹. ›Was meinen Sie mit zizi?‹ fragte der Minister«.21

»Zi zi« ist soweit ich weiß, in jeder Sprache bedeutungslos. Lu Xun benutzt den Ausdruck, um die Bedeutung dieses legendären Treffens zwischen dem bescheidenen mythischen Kaiser und dem Meisteringenieur, der sich der Wohlfahrt des Landes widmet, zu hinterfragen. Dieser Nonsens ist ein komisches Mittel, das auf Lu Xuns Geringschätzung traditioneller Historiografie verweist. Mit Anspielungen auf die Gegenwart hinterfragt Lu Xun in diesen Geschichten die üblichen Erklärungsmuster für Chinas Schwäche zur damaligen Zeit. Auch dafür bietet Lu Xuns Erzählung »Die Bezwingung der Wasser« ein gutes Beispiel. 1933, als Beiping (heute Beijing) von der Besetzung durch die Japaner bedroht war, forderte eine Gruppe Intellektueller, alle Waffen und militärischen Einrichtungen aus der Stadt zu entfernen, um so die alte Stadt vor der Zerstörung zu bewahren. In seinem Essay »Über die Ehrlichkeit« (Lun chengken) kritisierte Lu Xun diesen Vorschlag, denn eine neutrale Kultur-Zone in Kriegszeiten stelle eher eine Einladung für die Invasoren dar.22 In »Die Bezwingung der Wasser« nimmt er diesen Gedanken auf. Während das ganze Land leidet, treffen sich die sozialen Eliten auf dem Kulturgipfel, dem einzigen Flecken trockenen Landes, wo sie leben und diskutieren als sei nichts gewesen: »... auf dem Kulturgipfel brauchte niemand Entbehrungen zu befürchten. Die Gelehrten, die sich dort zusammengefunden hatten, bekamen all ihre Nahrung

21 Ebenda, S. 67; Lu Xun quanji (Sämtliche Werke), Beijing 1981, 16 Bde., Bd. 2, S. 385. Im Original bei Lu Xun heißt es: »Wo jiu shi xiang, mei tian zizi«. Dieses »zizi« wurde in der deutschen Übersetzung mit »Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit« wiedergegeben. (Anm. d. Üb.) 22 Lu Xun quanji (Sämtliche Werke), Beijing 1981, 16 Bde., Bd. 5, S. 12f.

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durch einen fliegenden Wagen aus dem Reich Jigong gebracht und konnten sich so ganz und gar ihren Studien widmen«.23

Die Isolation auf dem Gipfel schützte sie davor, mit der übrigen Welt zu kommunizieren, was zu komischen Missverständnissen führte, die ihnen ihren angestammten Platz in der Geschichte streitig machten. In seiner Version des chinesischen Schöpfungsmythos »Die Reparatur des Himmels« (Bu tian)24 lässt Lu Xun die Göttin Nüwa aus ihrer Rolle der Schöpferin wie aus einem Traum erwachen und erklären, dass sie noch nie so gelangweilt war. Der spöttische Erzählton steht im Gegensatz zum erwarteten Ernst, der einer so wichtigen Sache wie der Schaffung der Erde entgegengebracht werden sollte. Auch die Kommunikation der Göttin mit ihren Kreaturen, kleinen Männchen, aus Schlamm geformt, manche mit konfuzianischen Hüten, andere in Rüstung, misslang, denn die antworteten ihr in einer unverständlichen bürokratischen Sprache. Angewidert wendete sie sich von der Menschheit ab, um das Loch im Himmel zu reparieren, bis sie sämtliche Körperkräfte verbraucht hatte. »Der entseelte Körper der Göttin [sank] zwischen den Gestirnen nieder und sollte niemals mehr zu atmen beginnen. Und überall auf der Erde herrschte eine Stille, die tiefer war als selbst der Tod«.25

Wie Lu Xun an anderer Stelle bemerkte, wollen diese kleinen gemeinen Menschen immer nur gewinnen und sterben nie aus, aber so lange sie existierten, werde China sein bedauernswertes Schicksal nicht ändern können. Ein weiteres typisches Beispiel ist »Die Flucht zum Mond« (Ben yue), Lu Xuns Nacherzählung der Legende von Yi, dem Helden der neun Sonnen abschoss, damit die Erde nicht verbrenne, und seiner Frau Chang E, die nach Einnahme des Unsterblichkeitselixiers zum Mond flog und seither dort wohnt. Yis Ruhm ist bei Lu Xun schon etwas verblasst und auch zu Hause hat er längst nicht mehr das Sagen. Der Text beginnt mit der Schilderung, wie Yi nach Hause zurückkehrt, mit einem mit nagelneuen Pfeilen gefüllten Köcher, drei Krähen und

23 Lu Xun: Werke in 6 Bänden, a.a.O., Bd. IV, S. 44. 24 Lu Xun: »Die Nachfahren der Göttin« (Bu tian), a.a.O., Bd. IV, S. 11. 25 Ebenda, S. 23.

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einem zerschossenen Spatzen.26 Er zögerte an der Tür, trat dann jedoch ein. »Im Innenhof angekommen, sah er Chang E, die verstohlen aus einem der runden Fenster schaute. Er kannte ihre flinken Augen, die bestimmt schon längst die paar Krähen erspäht hatten, und hielt erschrocken inne – aber ihm blieb nichts anderes übrig, als hineinzugehen. [...] ›Teuerste ...‹ [...] Chang E [...] wandte sich langsam um und warf ihm stumm einen kühlen Blick zu. Diese Behandlung war schon lange nichts Neues mehr für Yi, denn das ging nun schon seit mindestens einem Jahr so. [...] ›Das Schicksal war mir heute wieder nicht gewogen. Es gab nur Krähen ...‹ ›Pah!‹ Chang E hob ihre geschwungenen Augenbrauen. Plötzlich stand sie auf und rannte murrend aus dem Zimmer: ›Nudeln mit Krähensoße, schon wieder Nudeln mit Krähensoße. Frag doch mal, bei wem es sonst noch das ganze Jahr über Nudeln mit Krähenfleisch gibt! Ich möchte mal wissen, warum ich dich eigentlich geheiratet habe! Das ganze Jahr Nudeln mit Krähensoße!‹«27

In der Erzählung ist Yi nur noch ein schlechter Jäger und der Ernährer der Familie, ein mythischer Held am falschen Ort. Er sinnt nach, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte er das Wildschwein und die Riesenschlange im letzten Jahr nicht erlegt: »Dieses Wildschwein, entsann er sich, war doch im letzten Jahr so groß gewesen, dass man es von weitem für einen kleinen Hügel hätte halten können. Wenn er es damals nicht erlegt, sondern bis heute aufgespart hätte – mindestens ein halbes Jahr hätten sie davon essen können; und er müsste sich nun nicht tagein, tagaus um ihre Mahlzeiten sorgen«.28

Das sind kindische Gedanken, Übertreibung – ein typisches Element der Farce, die Rollen des Heldenhaften und des Alltäglichen werden vertauscht: Aus der liebevollen Ehefrau Chang E wird eine Frau, die zu Hause das Sagen hat, und aus dem edlen Bogenschützen ein ungeschickter Jäger und furchtsamer Ehemann. Die Mischung von tragischen und komischen Elementen gibt dem Ganzen eine surreale, absurde Färbung. Als Yi gegen Ende der Erzählung erfährt, dass Chang

26 Lu Xun: »Die Flucht zum Mond«, in: a.a.O., Bd. IV, S. 26. 27 Ebenda, S. 27. 28 Ebenda, S. 28.

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E zum Mond geflogen ist, will er zunächst heldenhaft den Mond abschießen. Aber Lu Xun rückt die Legende in die Realität und so setzt sich Yi »mit einem Seufzer [...] nieder. ›Also eure Herrin wird nun für immer glücklich sein. Allein. Sie hat es tatsächlich übers Herz gebracht, mich hier zurückzulassen und davonzufliegen. Ob ich ihr wohl zu alt war?‹ [...] ›Das war es bestimmt nicht‹, sagte Nüyi. ›Es gibt Leute, die in euch nach wie vor den Krieger sehen.‹ ›So ein Unsinn! – Und Nudeln mit Krähensoße schmecken nun einmal wirklich nicht. Kein Wunder, dass sie es nicht länger ausgehalten hat ...‹«29

Der Literaturwissenschaftler Xiaobing Tang beschreibt die dialektiktische Beziehung zwischen heldenhaften und alltäglichen Momenten im Kampf um die Moderne.30 In Altes frisch verpackt schaffen diese Elemente einen tragikomischen Raum zwischen dem Bewusstsein des Kollektivs und des Einzelnen sowie der nationalen und persönlichen Geschichte. Diese Spannung ist ein wesentliches stilistisches Merkmal in Lu Xuns Experiment mit diesem neuen Genre. Der Leser sieht sich einsamen Individuen gegenüber, deren Anstrengungen, einen Sinn in die Welt zu bringen, jedesmal in eine Farce gekehrt werden. Das gleiche Muster finden wir auch in der Erzählung »Der Sohn des Schwertschmieds«31 (Zhu jian). Ein bekannter Schwertschmied starb durch die Hand des korrupten Königs und sein nicht besonders tapferer Sohn soll ihn rächen. Bei Lu Xun finden sich die typischen Merkmale klassischer Rache-Erzählungen wieder: Einer Familie wurde Unrecht getan, eine Hinterlassenschaft des ermordeten Vaters für seinen Sohn, die Rache als das einzige Lebensziel des Sohnes. Obwohl Mei Jianchi seinen Vater nie gesehen hat, muss er ihn rächen. Er ist ein schüchterner Junge, der so gar nicht nach seinem Vater kommt, der nachts mit Ratten spielt und nicht die Größe der ihm übertragenen Aufgabe versteht. Die Erzählung endet mit einer grotesken Szene, in der drei Köpfe in einem goldenen Kessel schwimmen: der des vermeintlichen Täters, des Rächers und der Kopf des Helden, der anbot,

29 Ebenda, S. 42. 30 Tang Xiaobing: Chinese Modern: The Heroic and the Quotidien, Durham 2000. 31 Lu Xu: »Alte Geschichten neu erzählt«, in: Wolfgang Kubin (Übers. u. Hg.), Lu Xun. Werkausgabe in 6 Bänden, Bd. IV, Zürich, 1994.

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den Tod des Vaters anstelle von Mei zu rächen. Yan Zhi Ao Zhe, der geheimnisvolle Schwertkämpfer, der die Rache übernahm, sang des Öfteren ein Lied mit dem Titel »ha ha ai xi«. Das Lied wollte nicht so richtig zum Ernst der Sache passen. In seiner Aneinanderreihung bedeutungsloser Silben erinnert es an zi zi aus »Die Bezwingung der Wasser«. Was Ah Q, Laozi und Hou Yi verbindet, ist ihre Unfähigkeit mit der gewöhnlichen Welt zu kommunizieren. Lu Xuns tragikomische Sicht auf diese Figuren hat das Ziel, sie von ihrem Sockel zu stürzen und auf die verheerenden Folgen ihrer Idealisierung anzuspielen. Es ist für einen prominenten Vertreter der nationalen Kultur vermutlich ungewöhnlich, sich in seinen Werken der Komödie zuzuwenden, um die gesellschaftliche Katastrophe aufzuzeigen. Die Tragikomik bei Lu Xun spielte deshalb auch bei Untersuchungen über seine versteckten Angriffe auf Zeitgenossen, Moden und Organisationen kaum eine Rolle. Da ist z.B. der Historiker Gu Jiegang (1893–1980): Eine Begegnung Lu Xuns mit ihm in Xiamen 1927 verlief eher unerfreulich. Lu Xun machte sich über sein Stottern lustig und stritt mit ihm über sein ambitioniertes Projekt die chinesische Geschichtsforschung zu erneuern. In »Die Bezwingung der Wasser« tritt dieser Gu als Herr Vogelkopf auf, der lieber Volkslieder sammelt, statt etwas gegen die Flut zu tun. Diese Anspielungen auf Zeitgenossen und die Angriffe gegen mythische Figuren zusammengenommen, sorgten dafür, dass Altes frisch verpackt kein Erfolg war. Gu war natürlich wütend über seine Darstellung als Herr Vogelkopf und in einem Brief vom Juli 1927 drohte er an, Lu Xun wegen Verleumdung zu verklagen. Der einflussreiche Literaturkritiker C.T. Hsia sah den Band als Beweis für den Niedergang Lu Xuns literarischer Talente.32 Marston Anderson hingegen sieht in Figuren wie Herrn Vogelkopf oder Laozi Typisierungen aus Literatur oder Politik, wie den jungen Opportunisten oder den Spießer.33 Wie die in einen neuen Kontext verschobenen Figuren aus Altes frisch verpackt sind auch die Menschen in die Welt geworfen, ohne jegliche Wahl ihrer sozialen Stellung. Eine der frühen Erzählungen Lu

32 C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, Bloomington 1999, S. 46. 33 Marston Anderson: »Lu Xun‫ތ‬s Facetious Muse. The Creative Imperative in Modern Chinese Fiction«, in: Ellen Widmer, Der-wei Wang (Hgg.): From May Fourth to June Forth: Fiction and Film in Twentieth-Century China, Cambridge (MA) 1993, S. 249ff.

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Xuns, »Der Einsame« (Guduzhe)34 zeichnet ein etwas anderes Bild der landläufig üblichen Einsamkeit. Zu Beginn der Geschichte trauert Wei Lianshu um seine Großmutter. Dabei ist er umringt von den anderen aus dem Dorf, die ihn noch nie verstanden haben. Wei mit seinen neuen Ideen und Verbindungen zur neuen Kultur war ein Fremder für die Menschen im Dorf. Und Wei widersprach ihnen nicht. Er erblickte plötzlich in seiner toten Großmutter sein eigenes Schicksal. Am Ende, als er selbst im Sarg liegt, mit hässlichen Kleidern, die die Bauern ihm angezogen haben, umspielt ein ironisches Lächeln seine Lippen, als mache er sich über diese Leiche lustig. Mit diesem Lächeln verspottet Lu Xun die Unzulänglichkeit der Menschen und die ganze Welt. Um die trotz aller Komik tragische Dimension in Lu Xuns Werken besser zu verstehen, sollten wir uns seinen Essays zuwenden.

D IE T HEORIE

VON

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Lu Xun war wohl der erste chinesische Schriftsteller, der seine Ansichten zu Tragik und Komik theoretisch wie auch praktisch darlegte. Seine tragikomischen Erzählungen weisen drei Merkmale auf: 1. Einsamkeit, die aus Missverständnissen oder Nihilismus resultiert, 2. die Nichtigkeit von Konflikten und 3. eine Absurdität, die jegliches Heldentum unterminiert. Das Tragische sah er in der Einsamkeit, die jeden treffen konnte, verkörpert. Der chinesische Dichter Chen Zi’ang aus dem 7. Jahrhundert hatte dieses Gefühl treffend festgehalten: Ich sah sie nicht mehr, die Weisen vor mir, noch seh’ ich die Weisen künftiger Zeit. Unendlich das All! – Allein wein’ ich hier Tränen unendlicher Traurigkeit. Als ich den Turm von Yodschou bestieg.35

Der Dichter erblickte Raum und Zeit der Welt als unabhängig vom menschlichen Dasein. Diese Einsamkeit, die Bedeutungslosigkeit menschlichen Lebens, treibt Lu Xun weiter, indem er Personen zeigt,

34 Lu Xun: Werke in 6 Bänden, a.a.O., Bd. II, S. 115ff. 35 Deutsch v. Ernst Schwarz, in: Chrysanthemen im Spiegel, Berlin 1969, S. 201.

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die von den Massen verstoßen wurden und nicht nur angesichts der ewigen Natur einsam sind. Wie heldenhaft eine Handlung oder ein Opfer auch sei, die Gesellschaft wird es vergessen und selbst den Helden betrügen. Lu Xun spielt auf Qu Yuan an, wenn er meint, der einzig Nüchterne unter lauter Trunkenbolden zu sein. Das ist ein Hauptmotiv in Qu Yuans Lyrik, den Lu Xun sehr schätzte. Er folgte ihm allerdings nicht in der Schilderung überlebensgroßer tragischer Helden. Komödie und Tragödie unterscheidet Lu Xun nach ihrer jeweiligen Funktion. In seinen Kommentaren zur Tragödie »Die Weiße Schlange« (Baishe zhuan) und dem damit assoziierten Einsturz der LeifengPagode schrieb er 1925: »Die Tragödie führt den Menschen die Zerstörung dessen vor Augen, was im Leben von Wert ist. Die Komödie zeigt ihnen, dass auch Wertloses in Stücke gerissen wird. Und die Satire schließlich ist nichts anderes als eine simplere Form der Komödie«.36

Im Kontext von Lu Xuns Literaturkritik ist der Begriff »wertlos« hier als die Scheinheiligkeit der damaligen chinesischen Gesellschaft zu verstehen. Nachdem ein Feuer bereits die Holzstruktur der Leifeng-Pagode vernichtet hatte und nur ein siebenstöckiges Betongerippe am Westsee zurückließ, brach auch dieses am Nachmittag des 25. September 1924 zusammen.37 Die Absicht Lu Xuns war es, die Verehrung der Pagode als Teil der Legende von der Weißen Schlange und Symbol der Unterdrückung anzuprangern. Seine Bemerkungen zur Tragödie sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Vom deutschen Existentialismus beeinflusst, verstand er Tragik nicht als Ausdruck eines Konflikts, sondern als das schmerzvolle Bewusstsein von der Hoffnungslosigkeit der Existenz. Das verschiebt den Blick vom Individuum als Teil einer Gemeinschaft hin zu einer einsamen Gestalt inmitten der feindsinnigen Welt. Für Lu Xun lag das Tragische in ganz alltäglichen Dingen, und

36 Lu Xun: »Weitere Gedanken zum Einsturz der Leifeng-Pagode«, a.a.O., Bd. V, S. 268f. 37 Tong Danian: »Leifengta Huayanjing canshi zhenxing tiba« (Kommentar zu Steinfragmenten mit dem Avatamsaka-Sutra von der Leifeng-Pagode), in: Mei Zhong: Xihu tianxia jing (Der Westsee), Hangzhou 1997, S. 86.

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Aufgabe des Schriftstellers war es, das aufzuzeigen. In einem Essay,38 inspiriert von Nikolai Gogols »Tote Seelen«, schrieb er, dass Tragödien frei von Zwischenfällen oder Konflikten seien. Viele Tragödien seien einfach trivial. Die Tragödie ist, laut Lu Xun, kein dem Helden zugefügtes Leid, sondern eine Abnutzungserscheinung des normalen Lebens. Es gibt keine Helden. In seinen Werken schilderte Lu Xun keine moralischen Konflikte oder Entscheidungen, stattdessen wurden seine literarischen Landschaften von einer riesigen Dunkelheit beherrscht. Komische Untertöne verstärkten das Gefühl der Einsamkeit noch, wobei sie gleichzeitig für ein sympathischeres Bild sorgten. Seine tragikomischen Entwürfe sollen kollektiven Traumata vorbeugen bzw. diese lindern. Den Zusammensturz der Leifeng-Pagode bettete er darum in absurde Ereignisse. Die Pagode in Hangzhou galt als Symbol feudalistischer Unterdrückung, weil sie der Schauplatz der Legende von der Weißen Schlange sein sollte. Der Legende nach verliebt sich ein junger Gelehrter in eine Frau, die jedoch ein weißer SchlangenDämon ist. Einem Mönch gelingt es, die Vereinigung der menschlichen mit der Dämonen-Welt abzuwenden, indem er die weiße Schlange zu ewiger Gefangenschaft unter der Pagode verdammt. Selbstlos opfert sich die weiße Schlange, weil sie den jungen Gelehrten liebt. Meist wird sie als Opfer patriarchaler Unterdrückung gesehen. In den vielen Nach- und Neuerzählungen der Geschichte wird sie manchmal von ihrem menschlichen Sohn als Zeichen seiner Kindespietät befreit, in anderen Versionen belegt der Mönch sie mit einem Zauber, worauf sie in Gefangenschaft bleiben muss, bis die Pagode einstürzt. Was die Pagode dann tatsächlich zum Einsturz brachte, war weit von einem heroischen Versuch, das Symbol der Unterdrückung zu zerstören, entfernt. Lu Xun berichtet, es seien die Bauern gewesen, die die Ziegelsteine der Pagode für ihre eigenen Häuser verwendeten. Sie klaubten Tag für Tag ein paar Steine heraus, bis die Pagode schließlich zusammenbrach.39 Und so brach auch die tragische Größe des Einsturzes der Pagode unter der Schilderung des trivialen Alltags zusammen.

38 Lu Xun: »Jihu wushi de beiju« (Eine Tragödie frei von Ereignissen), in: Lu Xun quanji, Bd. VI, S. 370. 39 Lu Xun: »Weitere Gedanken zum Einsturz der Leifeng-Pagode«, in: a.a.O., Bd. V, S. 265.

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Die Erzählung »Unwiederbringlich – Die Aufzeichnungen des Juansheng« (Shangshi) aus dem Jahr 1925 stellt einen frühen Versuch Lu Xuns dar, seine literarischen Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Der Erzähler Juansheng hält die Reue über den Tod seiner einstigen Geliebten in einem Tagebuch fest: »Um mich herum herrschten endlose Leere und tödliche Stille. Mir war, als sähe ich die Finsternis, die ungeliebte Menschen im Angesicht des Todes vor Augen haben, und als hörte ich die Schreie ihres verzweifelten, hoffnungslosen Kampfes. Ich wartete immer noch darauf, dass etwas Neues geschehen würde, etwas Unbekanntes, Unerwartetes. Aber Tag für Tag gab es nichts als tödliche Stille«.40

Die unausweichliche »tödliche Stille« deckt alle Kämpfe zu und wird zum einzigen Sinn von Leben und Tod. Eine ähnliche Haltung zum Tod finden wir bei Friedrich Nietzsche, dessen Werke Lu Xun bekannt waren. In »Die fröhliche Wissenschaft« betrachtet er den Tod als die einzige Gewissheit der Zukunft und als gemeinsames Schicksal der Menschheit. Nietzsche sah darin den Beginn wahren Glücks. Lu Xun sah in der Absurdität und Finsternis die ultimative Wahrheit. Er wollte seinen Lesern nicht Mitleid, Furcht oder Erlösung predigen. Bei ihm ist die Finsternis eine wichtige Metapher. Und nie zuvor erklang ihr Ruf so hoffnungslos. In seinen Frühwerken ging es noch um die Möglichkeit der Literatur soziale Veränderungen herbeizuführen. Lu Xun wollte die Last der Tradition, das Dunkle, auf sich nehmen, damit die jüngere Generation einen helleren Ort vorfinde.41 Doch ein Held von der Statur des Herkules, der sich opfert, um sein Land zu retten, ist verdammt dazu, isoliert und vergessen, wenn nicht gar von der dumpfen Masse zertreten zu werden. Einst rief Lu Xun zur Überwindung einer Demokratie, die auf Mittelmäßigkeit gegründet ist (yongzhong minzhu), auf. Mit seinen Erzählungen aus dem Band Zwischenzeiten,

40 Lu Xun: »Unwiderbringlich – Die Aufzeichnungen des Juansheng«, a.a.O., Bd. II, S. 172. 41 »Neue Väter braucht das Land« (Women xianzai zenyang zuo fuqin), in: Lu Xun Werke in 6 Bänden, a.a.O., Bd. 5, S. 187ff. Hier spielt er auf die tangzeitliche Erzählung »Kuohai stirbt unter der Last von 1000 Pfund« (Kuohai yasi qianjin ge) aus den Erzählungen über die Tang (Shuo Tang, 1736) an.

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Zwischenwelten42 wollte er die Sinnlosigkeit von Heldentum zeigen. Aufgrund der komischen Elemente in seinen Werken fühlte er sich später teilweise missverstanden. Immer unzufriedener mit der Freude der Menschen über schreckliche Ereignisse wie Hinrichtungen, bekannte er, dass es den Massen völlig gleich sei, was es zu sehen gibt: Wenn ein Todeskandidat nervös sei, dann ist das ein Melodram, hat er Angst, dann ist es eine Farce. Das einzige, was da helfe, seien Dramen frei von Ereignissen oder Konflikten.43 Lu Xun erkannte, dass Verzweiflung ebenso hoffnungslos und trügerisch sei, wie die Hoffnung. Er merkte, dass die »Einsamkeit von Tag zu Tag [wuchs], und begann, sich wie eine riesige Giftschlange um [seine] Seele zu winden. [...] wenn jemand für seine Meinung Zustimmung erntet, bringt es ihn voran, stößt er jedoch auf Widerspruch macht es ihn kämpferisch. Aber wirklich tragisch ist, wenn einer unter seinen Mitmenschen laut die Stimme erhebt, aber keinen Widerhall findet, weder Beifall noch Ablehnung, wie in einer grenzenlosen Ödnis«.44

Die dunkle Seite der Revolution kompensierte Lu Xun durch eine von Einsamkeit hervorgebrachte Komik. In seinem kurzen Essay Kämpfer und Fliegen demonstriert er den Abschied von der Idee des Heldentums durch literarische Techniken wie Personifizierung, Wort- und Klangmalerei sowie Komik: »Wenn ein Kämpfer in der Schlacht fällt, bemerken die Fliegen zuerst an ihm seine Verletzungen und Wunden. Unter lautem Surren saugen sie sie aus und gefallen sich in dem Gedanken, noch größere Helden als der Gefallene zu sein. Da der Kämpfer jedoch schon in der Schlacht gefallen ist, kann er sie nicht verscheuchen. Und die Fliegen surren dann noch aufdringlicher, ja, sie meinen, eine unsterbliche Musik aufzuführen, weil sie sich in ihrer Vollkommenheit dem Kämpfer für weit überlegen halten«.45

42 Lu Xun, a.a.O., Bd. II. 43 »Jihu wu shi de beiju« (Eine Tragödie frei von Ereignissen), in: Lu Xun quanji, Bd. VI, S. 370. 44 Vorrede zu »Applaus«, Bd. 1, S. 11. 45 Lu Xun: »Kämpfer und Fliegen«, dt. v. Yang Enlin, Konrad Herrmann, in: In tiefer Nacht geschrieben, Leipzig 1981, S. 186.

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Der tragische Tod des Kämpfers wird durch die Anwesenheit der Fliegen zugleich betont und unterminiert. Solche Epiphanie ist typisch für Lu Xuns Schreiben: Momente, in denen der gewöhnliche Mensch sich der Absurdität der Existenz bewusst wird. Allen Anstrengungen, dem Leben einen Sinn zu geben, zum Trotz wird uns die Finsternis schlucken. Lu Xun wollte die nationale Psyche wachrütteln, die Trost und Frieden im Schlummer suchte.46

C HINESISCHE K ULTURDEBATTEN Die Beziehung von Komik und Tragik spielte auch in Debatten über literarische Form und Nationalcharakter immer wieder eine Rolle. Ich will deshalb den Kontext etwas näher beleuchten, in den die Begriffe zu Lu Xuns Zeiten gestellt wurden. Unter den kritischen Stimmen, die sich zur Komödie und Tragödie äußerten finden wir den Autor und Theaterkritiker Jiang Guanyun (1866–1929) oder auch den Philosophen Hu Shi (1861–1962). Die Tragödie erlebte im chinesischen Theater einen Aufschwung, als Anfang des 20. Jahrhunderts mit neuen Theaterformen experimentiert wurde. Der Dramatiker Ouyang Yuqian (1889–1962) bemerkte, dass die meisten Stücke, die die Shanghaier Frühlingsweidengesellschaft47 aufführte, allegorische Tragödien waren, die die Geister wecken sollten.48 Zur Komödie hieß es bei ihm, sie bringe schlechte Menschen zum Lachen und zeige die hässlichen Seiten des Lebens. Die verbreitete Meinung über die Tragödie als politisch fortschrittlich und die Komödie als Ausdruck von Realitätsferne, die man mit der traditionellen, feudalistischen Gesellschaft verband, sollte auch die kommenden Jahrzehnte bestehen bleiben. Hu Shi kritisierte 191849 die Vereinigung der Figuren zum Happy End bei traditio-

46 Kirk Denton: Modern Chinese Literary Thought: Writings on Literature, 1893–1945, Stanford 1996, S. 27. 47 Chunliushe – 1907 gegründete erste Gesellschaft des chinesischen Sprechtheaters. 48 Ouyang Yuqian: »Tan wenmingxi« (Über das zivilisierte Drama), in: Tian Han (Hg.): Zhongguo huaju yundong wushi nian shiliao ji (50 Jahre chinesisches Sprechtheater), Beijing 1958, S. 64. 49 Hu Shi: »Wenxue jinhua guannian yu xiju gailiang (Drama Reform und das Konzept der literarischen Evolution)«, in: Xin qingnian (La Jeunesse)

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nellen Stücken. Er sah darin einen Aberglauben und band seine Argumentation an das europäische Konzept der Tragödie, wobei er übersah, dass die Idee, sich am Ende zu versammeln, um die Ordnung wiederherzustellen und Konflikte zu lösen sowohl im chinesischen als auch im Renaissance-Theater und der modernen englischen Komödie vorkam. Er fällte ein moralisches Urteil, wenn er die Komödie eine Literatur der Lüge nannte. Lu Xun lag diese zweigeteilte Sicht auf Tragödie und Komödie fern. Für ihn zählte, dass traditionelle chinesische Komödien beim Publikum ankamen, indem sie gerade nicht direkt die Realität zeigten. Im Zuge der Kritik an der traditionellen chinesischen Literatur stellten viele Autoren der damaligen Zeit die soziale Funktion von Literatur über ihren künstlerischen Inhalt. Jiang Guanyun und Hu Shi störten sich an der Vermischung von Tragischem und Komischem in den yuan- und mingzeitlichen Dramen wie den Erzählungen der Qing-Zeit mehr als am Fehlen der Tragödie als dramatisches Genre in China. Damit übten sie implizit auch Kritik an den tragikomischen Erzählungen von Lu Xun. Tragik und Komik waren in diesen Debatten immer politisch beeinflusste Kategorien.

Z UM S CHLUSS Das Zusammenspiel von komischen und tragischen Elementen in den Werken Lu Xuns trägt dazu bei, seine Ansichten zur Geschichte und Absurdität der Existenz zu verdeutlichen. Und trotzdem äußerte Lu Xun Zweifel an seiner eigenen spöttischen Erzählweise, die er in der Vorrede zu Altes frisch verpackt als argen Feind des Schreibens bezeichnete. »Da ich jedoch für die Alten nicht so viel Respekt habe wie für die Heutigen, konnte ich ein paar Possen nicht unterdrücken. [...] Aber immerhin habe ich die Alten nicht noch lebloser gemacht, als sie es ohnehin schon sind«. 50

5.4 (1918); Wiederabdruck in: Zhongguo xin wenxue daxi (Kompendium der modernen chinesischen Literatur), hg. von Zhao Jiabi, Bd. 1, Shanghai 1935, S. 376–386. 50 Lu Xun: »Vorrede«, in: Altes frisch verpackt, a.a.O., S. 10f.

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Wir werden nie wissen, ob er wirklich glaubte, was er schrieb. Aber seine tragikomischen Schilderungen sind nicht so weit entfernt von der Einsamkeit angesichts der übermächtigen Natur oder dem Ausgeschlossensein aus einer Gesellschaft für die man sich doch engagiert. Diese Erzählstruktur entstand dort, wo alptraumhafte Dunkelheit auf Komik und Absurdität traf, im Zwischenraum zwischen Worten und Realität, im düsteren Schatten von Geschichte und Moral. Viele moderne Nationalgeschichten thematisieren Traumata, Krisen und Reformation.51 Die chinesische Literaturgeschichtsschreibung wurde ein von den Autoren im frühen 20. Jahrhundert angestoßenes politisches und ästhetisches Projekt.52 Die Geschichtsschreibung steht zwar nicht im Mittelpunkt dieses Kapitels, aber anhand der Tragikomik bei Lu Xun lässt sich die verbreitete Lesart von Literatur als sozialer Index zeigen. Ausgangspunkt der chinesischen Wissenschaft wie auch der westlichen Sinologie ist das Paradigma der Modernisierung bzw. Aufklärung, das traumatische historische Ereignisse erst erfahrbar macht. Bis heute wird über nur ausgewählte Aspekte der modernen chinesischen Literatur gesprochen, und das in einer Art, wie es seit jeher getan wurde.53 Indem jahrzehntelang eine Literatur der sozialen Errettung und die ›progressive‹ Moderne in den Vordergrund der Betrachtungen gerückt wurden, geriet die einzigartige Verbindung komischer und tragischer Momente bei Lu Xun in den Hintergrund. Seine tragikomischen Schilderungen wurden einfach unter die Vorstellungen des Übergangs von der »literarischen Revolution« zur »Literatur im

51 Dove, Patrick: The Catastrophe of Modernity: Tragedy and the Nation in Latin American Literature, Lewisburg 2004, S. 11ff., 30ff; Wang Ban: Illuminations from the Past: Trauma, Memory and History in Modern China, Stanford 2004; Gregor Benton, Li Chun (Hg.): Was Mao really a Monster? The Academic Response to Chang’s and Halliday’s Mao: The Unknown Story, London 2010. 52 Milena Dolezelovà-Veligerová: Literary Historiography in Early Twentieth-Century China (1904–1928), in: M. Dolezelová-Velingerová, Oldrich Král (Hg.): The Appropriation of Cultural Capital: China’s May Fourth Project, Cambridge (MA) 2001, S. 123ff. 53 Alexander Des Forges: »The Rhetorics of Modernity and the Logics of Fetish«, in: Charles A. Laughlin: Contested Modernities in Chinese Literature, New York 2005, S. 17ff.

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Dienste der Revolution« subsumiert.54 Aufgrund dieser Wechselbeziehung von Literaturwissenschaft und Geschichte galt es als Tabu die moderne chinesische Erzählung als eigenständig auch in ihrer zynischen Form wahrzunehmen. Die Tragikomik ist Teil von Lu Xuns Vermächtnis. Ein Erbe, das sich bis heute in der chinesischen Literatur niederschlägt, wenn wir an Mo Yan, Zhu Wen oder auch Wang Shuo denken. Generationen von Studenten wurden dazu angehalten, das moderne China anhand seiner Fehler und seiner gewalttätigen Geschichte zu denken. Trotz ideologischer und kultureller Unterschiede glauben viele Schriftsteller an die Fähigkeit der tragischen Literatur die Wahrheit abzubilden. In der Literaturwissenschaft gibt es die Tendenz, Lu Xuns düstere Töne eher seiner persönlichen Befindlichkeit und seine komischen Elemente der Sozialkritik zuzuordnen.55 Obwohl einige Elemente in Lu Xuns tragischen Erzählungen herausgearbeitet wurden, wie Einsamkeit, Absurdität der menschlichen Existent, Hoffnungslosigkeit oder Finsternis, hat die Beeinflussung von Geschichte und Literatur das Augenmerk immer auf die Dokumentation gesellschaftlicher Gebrechen gelegt. Lu Xuns komische Erzählungen und generell die Komödien der damaligen Zeit wurden lediglich als eine andere Form der Tragödie gesehen.56 Altes frisch verpackt zeigt aber, dass komische und tragische Erzählformen eine Symbiose eingehen die sich gegenseitig befruchtet und das Lesevergnügen steigert.

54 David Der-wei Wang: Fictional Realism in Twentieth Century China: Mao Dun, Lao She, Shen Congwen, New York 1992, S. 2; Hou Jian: Cong wenxue geming dao geming wenxue (Von der literarischen Revolution zur revolutionären Literatur), Taipei 1971; Marston Anderson: The Limits of Realism: Chinese Fiction in the Revolutionary Period, Berkeley 1990, S. 10ff. 55 Laut Northrup Frye hat die Komödie eindeutig eine soziale Bedeutung, denn sie behandelt nicht die kosmischen Fragen, sondern soziale Existenzen. Frye, Northrup: Anatomy of Criticism: Four Essays, Princeton 1957, S. 169f. 56 Christopher Rea, Nicolai Volland (Hgg.): »Comic Visions«, in: Modern Chinese Literature and Culture, Special Issue 20.2 (Herbst 2008).

2. Der Schriftsteller Lao She und das Weltbürgertum1

Lao She (eigtl. Shu Qingchun, 1899–1966) war einer der großen Humanisten, Humoristen, und Satiriker Chinas. In seinen Werken fragte er immer wieder, was das Menschsein ausmache. Dieses Kapitel untersucht zunächst die theoretischen Grundlagen des Kosmopolitismus. In den zwanziger Jahren breiteten sich der Humanismus und der Realismus in der modernen chinesischen Literatur aus. So nahm die gesprochene Sprache, das heißt eine Mischung aus Umgangs- und Literatursprache, die die Sprache des Volkes repräsentieren sollte, einen immer größeren Stellenwert im Schreiben jener Zeit ein. Lao She, gebürtig aus Beijing, war bekannt für den Gebrauch des Beijing-Dialektes, um den Alltag in seiner Stadt zu portraitieren. Sein Roman Rikschakuli (Luotuo xiangzi, 1936)2 zeigt sein Bestreben, die Lage sozialer Randschichten darzustellen. Ranbir Vohra sieht Lao She als liberalen Humanisten, als einen Intellektuellen, »der seine Rolle sehr wichtig nahm, deshalb mit den Unterdrückten sympathisierte und der niemals eine vereinfachte Formel für eine gute Gesellschaft akzeptiert hätte«.3 Dass Lao She den menschlichen Geist in den Mittelpunkt rückte, ist eng verbunden mit seiner Liebe zu den melodramatischen

1

Dieses Kapitle basiert auf einem früheren Artikel von mir auf Englisch in: MLQ: Modern Language Quarterly 69. 1 (March 2008), S. 97–118

2

Lao She, Rikscha-Kuli: Roman, übertr. von Florian Reissinger. Frankfurt a.M. 1989.

3

Ranbir Vohra, Lao She and the Chinese Revolution, Cambridge, MA, 1984, S. 35, 145, 149.

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und humanistischen Erzählungen Charles Dickens’, die er während seines London-Aufenthaltes 1924 bis 1929 entdeckte. Die Folgen kultureller Vermischungen wurden in China bereits Anfang des 20. Jahrhunderts heftig diskutiert und diese Diskussionen dauern bis heute an. Der Begriff des Kosmopoliten wurde benutzt, um Identitäten zwischen den Kulturen zu beschreiben, wie beispielsweise die des Migranten (Salman Rushdie), des Flüchtlings (Jean-Jacques Rousseau) oder des Flaneurs. Letzterer, ein Globetrotter der spätkapitalistischen Gesellschaft4 und Angehöriger der Elite, kann die globalen kulturellen Errungenschaften gleichzeitig konsumieren und gestalten, und auf diese Art und Weise seine Überlegenheit über das angeblich Provinzielle5 ausspielen. Einige Theorien über Kosmopolitismus und Multikulturalismus bestätigen Ansichten, die bereits Lao She in seinen fiktionalen Werken geäußert hat. Er schrieb zur Zeit einer in den urbanen Zentren Chinas entstehenden globalen Ökonomie und lieferte damit Material, das uns gestattet, das Wesen der 4. Mai-Bewegung6 einer

4

Siehe Jeremy Waldron: »Minority Cultures and the Cosmopolitan Alternative«, in: Will Kymlicka (Hg.): The Rights of Minority Cultures, Oxford 1995, S. 95.

5

Siehe Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers, New York 2006; dt. v. Michael Bischoff, Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums, München 2007, S. 11.

6

Die 4. Mai-Bewegung, die als Studentenprotest gegen die Versailler Verträge am 4. Mai 1919 in Beijing begann, bedeutete den Beginn jahrzehntelanger Modernisierungen in China. Ihre Erforschung galt bis vor nicht allzu langer Zeit als weitgehend abgeschlossen. Seit den 90er Jahren stellen Untersuchungen den Diskurs über Chinas Modernisierung in den breiteren Kontext der Beziehungen zwischen dem Anderen und dem Selbst. Diese Untersuchungen stellen historisch und kritisch die absoluten Kategorien Tradition und Moderne, China und der Westen, wie sie von den Denkern der späten Qing-Zeit und der 4. Mai-Bewegung selbst aufgestellt wurden, in Frage. Als Beispiel einer Untersuchung, die die Forderungen der 4.MaiBewegung unhinterfragt übernimmt, siehe Chow Tse-tsung: May Fourth Movement: Intellectual Revolution in Modern China, Cambridge (MA) 1960. Für Arbeiten, die sich der Geschichtlichkeit dieser Forderungen bewusst sind und sich dem Gegenstand kritisch nähern, siehe auch: Milena Dolezelová-Velingerová und Oldrich Král (Hg.): The Appropriation of Cultural Capital: China’s May Fourth Project, Cambridge (MA) 2001

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erneuten Betrachtung zu unterziehen. Lao Shes Enthüllungsromane und seine Ablehnung in Schubladen zu denken, laden zum Überdenken unserer Vorstellungen von Weltbürgertum ein. Sowohl die kosmopolitischen Theorien als auch Lao Shes Romane und Erzählungen sind Antworten auf die Tendenz zur Beherrschung kultureller Wandlung. Davon ausgehend, analysiere ich die kosmopolitischen Diskurse in Lao Shes 1934 erschienener Erzählung »Das Opfer« (Xisheng)7 und vergleiche ihren Protagonisten mit anderen Auslandsstudenten in der chinesischen Literatur, die meist als entwurzelte Kosmopoliten dargestellt wurden. In diesen Werken drückt sich eine zwiespältige Haltung aus: Auf der einen Seite gehört jeder zivilisierte Mensch einer der vielen Gemeinschaften an, wie es Appiah8 sagt, und auf der anderen Seite werden jegliche lokale Bindungen geleugnet. Verglichen mit anderen Schriftstellern der 4. Mai-Generation schuf Lao She eine erstaunliche Anzahl an Figuren, die den Status des Fremden, sowie das unterschiedliche kulturelle Verständnis von Traditionalisten und Reformern hinterfragten. Der Wille zur Modernisierung betraf nahezu alle Bereiche des sozialen Lebens, so auch die Literatur im China des frühen 20. Jahrhunderts. Die traumatischen Erfahrungen kultureller Zusammenstöße prägten den chinesischen Modernisierungsdiskurs und die »Besessenheit von China«, wie C.T. Hsia sie bei den modernen chinesischen Schriftstellern ausmachte.9 Diese Besessenheit zeigte sich in der Literatur in vermehrten Darstellungen des Westens als Alternative zu China und möglichen interkulturellen Überschneidungen zwischen beiden. Lao She, skeptisch gegenüber Begriffen wie Nationalismus und Kosmopolitismus, war sich seiner Stellung zwischen den Kulturen und seiner Mittlerrolle als Chinese,

oder Ellen Widmer und David Der-wei Wang (Hgg.): From May Fourth to June Fourth: Fiction and Film in Twentieth-Century China, Cambridge (MA) 1993. 7

Lao She: »Xisheng«, in: Wenxue (Literatur) (1.4.1934), in: Lao She: Duanpian xiaoshuo xuan, Beijing 1957, S. 24ff. Ins Englische übersetzt von George Kao als »Dr. Mao« in: George Kao (Hg.): Chinese Wit and Humor, New York 1946.

8

Appiah, Kwame Anthony: a.a.O., S. 12.

9

»Every important modern Chinese writer is obsessed with China and spares no pains to depict its squalor and corruption«, in: C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven 1971, S. 536.

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der in London, Singapur, Jinan und Qingdao gelehrt hat, der Europa und New York bereist hat und schließlich in seine Heimatstadt Beijing zurückgekehrt ist, stets bewusst. Von seinen Zeitgenossen unterscheidet ihn nicht nur sein komisches Talent, wie David Der-wei Wang treffend herausstellte, sondern auch seine Ablehnung zwischen Ost und West und seinen jeweils kulturellen und moralischen Werten zu polarisieren.10

W AS

IST , WAS KANN

K OSMOPOLITISMUS ? Though [a cosmopolitan] may live in San Francisco and be of Irish ancestry, he does not take his identity to be compromised when he […] eats Chinese, wears clothes made in Korea, listens to arias by Verdi sung by a Maori princess on Japanese equipment, […] and practices Buddhist meditation techniques. JEREMY WALDRON11

Die Möglichkeit, zwischen den Kulturen zu leben, wie sie Waldron hier beschreibt, untersucht auch Lao She in seiner Erzählung Das Opfer. Jeremy Waldron, ein in Neuseeland geborener, in Oxford ausgebildeter und in den USA lebender Wissenschaftler, widmet sich der politischen Philosophie. In seiner Kritik des Kommunitarismus hinterfragt er die bedürfnisorientierte Herdersche Moraltheorie wie auch die rechtebasierte Identitätspolitik.12 Er schreibt, dass ein Kosmopolit, selbst wenn er sein ganzes Leben in einer Stadt verbracht hätte, den Gedanken, er definiere sich durch die Ortszugehörigkeit, durch Verer-

10 David Der-wei Wang: »Melancholy Laughter: Farce and Melodrama in Lao She’s Fiction«, in: ders.: Fictional Realism in Twentieth-Century China: Mao Dun, Lao She, Shen Congwen, New York 1992, S. 111–156. 11 Jeremy Waldron: »Minority Cultures and the Cosmopolitan Alternative«, in: The Rights of Minority Cultures, hg. von Will Kymlicka, Oxford 1995, S. 95. 12 Jeremy Waldron, a.a.O., S. 102.

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bung oder seine Sprache von sich weisen würde.13 In dieser Ablehnung sieht Waldron den Weg, die Idee der kulturellen Reinheit zu transzendieren. Ein ähnliches Bild des Kosmopoliten liefert Kwame Anthony Appiah, wenn er den tief eingewurzelten Kosmopolitismus als eine ethische Verpflichtung verteidigt. Appiah, ebenfalls ein weitgereister Theoretiker, in Ghana geboren, in Cambridge ausgebildet und in den USA lebend, betont aber die Vielfalt von Identitäten und ihre globalen Wurzeln: »In der letzten Botschaft, die mein Vater mir und meinen Schwestern hinterließ, schrieb er: ›Denkt daran, dass ihr Bürger der Welt seid.‹ Doch [...] sah er durchaus keinen Widerspruch zwischen lokaler Parteilichkeit und universeller Moral – zwischen der Teilhabe an dem Ort, an dem man lebt, und der Teilhabe an der umfassenden menschlichen Gemeinschaft. Als Sohn dieses Vaters und einer englischen Mutter, die engsten Kontakt zu ihrer Familie in England unterhielt und zugleich tief in Ghana verwurzelt war [...] hatte ich immer das Gefühl einer mehrfachen und einander überlappenden Familien- und Stammeszugehörigkeit«.14

Waldron stellt die kommunitaristische Annahme, dass die Welt sauber in voneinander verschiedene Kulturen geteilt werden kann und dass ein jeder nur eine kulturelle Zugehörigkeit braucht, um ein ganzheitlich erfülltes Leben zu führen, in Frage. Er argumentiert, dass es in der postmodernen Welt keine einzige oder passende Kultur gebe, für die sich ein Individuum entscheiden könne.15 Appiah hingegen sieht das Gespräch zwischen verschiedenen Gemeinschaften als Weg zu einem philosophischen Kosmopolitismus, bei dem unsere Pflichten gegenüber anderen Menschen (oder die anderer uns gegenüber) über Blutsverwandtschaft und formale Bande einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft hinausgehend erfüllt werden. Pflichten, die wir Fremden gegenüber schuldig sind, aufgrund unseres gemeinsamen Menschseins.16 Appiah glaubt, dass ein solcher Kosmopolitismus die Anerkennung von und Achtung vor legitimen Unterschieden fördere.17 In ähnlicher

13 Jeremy Waldron, a.a.O., S. 95. 14 Kwame Anthony Appiah, a.a.O., S. 17. 15 Jeremy Waldron, a.a.O., S. 105. 16 Siehe Kwame Anthony Appiah, a.a.O., S. 13. 17 Siehe Kwame Anthony Appiah, a.a.O., S. 14.

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Weise spricht Waldron von unseren Schulden gegenüber der globalen Gemeinschaft18 und sieht die kulturelle Vermischung als eine kosmopolitische Alternative zum Kommunitarismus.19 Beide Modelle werfen ebenso viele Fragen auf, wie sie beantworten. Kritiker haben auf die Verbindung von kulturellem Relativismus und Appiahs kosmopolitischem Begriff ›legitimer‹ und im weiteren Sinn tolerierbarer kultureller Unterschiede hingewiesen. Waldrons kosmopolitisches Modell scheint wiederum auf dem Konsumdenken zu beruhen. Um ethnischer Abgrenzung entgegenzutreten, schafft er ein kosmopolitisches Ich, welches kulturelle Güter aus verschiedenen Orten besitzt. Während diese kulturellen Güter leicht in das Leben einer Person integriert werden können, steht der materielle Konsum nicht für die Übernahme der Denk-und Lebensweisen, die diese Güter repräsentieren. Das alles klingt sehr vertraut, wenn man die Debatten der 4. MaiBewegung über die beste Dosis an importierten westlichen Werten und den hoffnungsvollsten Weg, die lokale und globale Kultur zu verbinden, betrachtet. Diese Debatten dienten alle dem Ziel, China zu modernisieren und gleichzeitig den chinesischen Staat zu erhalten. Die eine Position hob den lokalen Kontext und die Bedeutung der Nation hervor, während eine andere das länderübergreifende Agieren in einem post-nationalen kulturellen Raum betonte. Beide Vorschläge sind an und für sich unvereinbar. Der Modernitätsdiskurs war so kompliziert, weil die Tendenz, den länderübergreifenden Raum als Quelle kultureller Erneuerung zu betonen einherging mit der Rückbesinnung auf die Nation und die chinesische Tradition als ultimative Verteidigung gegen die westliche Moderne. Versuche, in diesem interkulturellen Raum zu vermitteln, reichen von der völligen Ablehnung westlicher Kultur bis zu ihrer bedingungslosen Übernahme. In diesem Spannungsfeld entstand der urbane Exotismus, der die zweigeteilte Sicht auf die kulturellen Unterschiede noch verstärkte. In Hafenstädten wie Tianjin oder Shanghai zirkulierten westliche Uhren, Anzüge und andere Waren. Sie trugen zum besonderen Flair dieser Städte bei und definierten das Bild von Kosmopolitismus. Modernisierung im weitesten Sinne wurde so oft missverstanden als der bloße Besitz exotischer Güter oder

18 Our »debt to global community«, Jeremy Waldron, a.a.O., S. 102. 19 Siehe Will Kymlicka: Liberalism, Community, and Culture, Oxford 1989, S. 165.

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die oberflächliche Aneignung westlicher Verhaltensweisen. Diese Aneignung westlicher Verhaltensweisen oder »Imitation der ausländischen Teufel« ist ein wiederkehrendes Motiv bei Lu Xun, Lao She u.a. Schriftstellern des 4. Mai.20 In den zwanziger Jahren, eine Dekade bevor Lao She seine Erzählung »Das Opfer« schrieb, gab es eine polemische Debatte über den jeweiligen Wert westlicher und chinesischer Kultur.21 Die Opiumkriege des 19. Jahrhunderts und die darauffolgenden diplomatischen Rückschläge, sowie die Inbesitznahme chinesischen Territoriums durch Länder des Westens führten zu Selbstzweifeln und Skepsis gegenüber dem chinesischen Kaiserhaus. Widersprüchliche Vorstellungen des Globalen und Lokalen flossen in die Debatten um Rasse und kulturelle Identität ein. Hu Shi (1891–1962), ein einflussreicher, in den USA ausgebildeter Reformer und Philosoph, trat für Chinas ›Verwestlichung‹ ein, indem man die materielle Kultur des Westens als Zeichen kultureller Erneuerung übernehme.22 In einem 1926 erschienenen Essay23 griff er die vorherrschende Meinung der Überlegenheit der östli-

20 Siehe: Heinrich Fruehauf: Urban Exoticism in Modern and Contemporary Chinese Literature, in: Widmer und Wang, S. 133–164. Europäische Missionare seit Matteo Ricci haben diese Bewunderung für westliche Apparaturen und Kuriositäten befördert. Siehe dazu: Gu Changsheng: Chuanjiaoshi yu jindai zhongguo (Die Missionare und das moderne China), Shanghai 1995, S. 2f. 21 Ein einflussreicher polemischer Essay war Chen Duxius »Dong xi minzu genben sixiang zhi chayi« (Grundlegende Unterschiede zwischen östlicher und westlicher Denkweise), in: Qingnian zazhi 12 (1915); wieder abgedruckt in: Chen Song (Hg.): Wusi qianhou dongxi wenhua lunzhan wenxuan (Debatten der 4. Mai-Bewegung über östliche und westliche Kultur), Beijing 1985, S. 12–15. 22 1935 beschäftigt sich Hu Shi in dem Artikel »Chongfen shijiehua yu quanpan xihua« (Totale Globalisierung und absolute Verwestlichung) mit der Kontroverse, die sein radikaler Vorschlag auslöste, in: Hu Shi wencun (Hu Shi: Gesammelte Schriften), Bd. 4, Nr. 2, Taipei 1971, S. 541–544. 23 Hu Shi dachte, wie seine Widersacher auch, selbst in den kategorischen Begriffen ›Ost‹ und ›West‹, wobei er leidenschaftlich Partei für die westliche Kultur, die materielle, ergriff. Trotzdem kritisierte er die Folgen einer deutlichen Trennung in »spirituelle Zivilisation« und »materielle Kultur« in seinem Artikel »Women duiyu xiyang jindai wenming de taidu« (Unse-

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chen (spirituellen) Kultur über die westliche (materielle) Zivilisation an. Er kehrte die Hierarchie um, indem er die Progressivität und den »wissenschaftlichen Geist« materialistischer Kulturen unterstrich. Anders nämlich als Chinas kränkelnde Ideologie der Selbstzufriedenheit und der Glorifizierung des Spirituellen treibe die »gottgegebene Unzufriedenheit« des Westens die Entwicklung einer modernen Welt mit Autos, Elektrizität, Demokratie und Gleichheit zwischen den Geschlechtern voran. Wie viele seiner Zeitgenossen, die Amerika und Europa bereist haben, war Hu Shi fixiert auf die materiellen Unterschiede zwischen China und den urbanen Zentren des Westens. Diese materielle Fixierung wie auch die Kritik an der materiellen Kultur kann bis zu den Reiseerzählungen des späten 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden.24 Die Faszination für alles Exotische im frühen 20. Jahrhundert war eng verbunden mit den westlichen Niederlassungen in den chinesischen Küstenstädten und den Ideen, welche chinesische Intellektuelle aus dem Ausland mitbrachten.25 Die Weltenbummler in Lao Shes Erzählungen bilden einen starken Kontrast zu den Bestrebungen, ein idealisiertes kosmopolitisches Ich zu erschaffen. Die Essays von Hu Shi und Chen Duxiu (1879–1972) versuchten auf der einen Seite die abstrakten Begriffe wie »China«, »der Westen« klarer zu umreißen, auf der anderen Seite wurde dabei aber die Vorstellung des Westens auf ihre materielle Dimension begrenzt. Lao Shes Erzählungen kritisierten den Sinozentrismus seiner Zeitgenossen, gleichzeitig versuchte er, die Konsequenzen einer materialistischen, westlichen Weltsicht auszuma-

re Haltung gegenüber den modernen Zivilisationen des Westens), in: Jindai Pinglun (Untersuchungen zur Moderne) (10. Juli 1926), siehe: Chen Song, a.a.O., S. 646–659. 24 Einer von Chinas führenden Denkern, Liang Qichao (1873–1929), reiste viel und schrieb sowohl politische Abhandlungen als auch erzählende Prosa, die um den Import westlichen materiellen Kulturgutes kreiste. Liang Qichao: »Ou you xin ying lu« (Eindrücke von Reisen durch Europa), in: Chenbao fukan (Beilage der Morgenpost) (6. März–7. August 1920). 25 Man kann das Exotische in der Literatur bis zu den Chroniken über das Fremde (Zhiguai) der Östlichen Jin (317–420) zurückverfolgen. Siehe dazu Fruehauf, a.a.O., S. 133. Die Tributzahlungen während der Tang- und Qing-Dynastie trugen ebenfalls zur ›Kultur der Kuriositäten‹ bei.

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len, die ganz dem Nutzen unterworfen ist.26 Diese Spannungen brechen sich Bahn in Lao Shes komischen Plots und seinen übertriebenen, komischen Figuren.

C HINAS ›U NTERLEGENHEIT ‹ UND DER URBANE E XOTISMUS »Worin besteht denn der amerikanische Geist? [...] In jedem Heim gibt es eine Badewanne und im Wohnzimmer einen Teppich. [...] Auf dem Fensterbrett stapeln sich westliche Bücher. An der Wand hängen eine Harvard-Flagge und ein paar Fotos aus Amerika. Am chinesischsten von allen Dingen im Zimmer war Dr. Mao selbst, aber das würde er nie zugeben«.27 »Dr. Wen holte die Harvard-Flagge hervor und hängte sie an die Wand. Darunter hingen zwei Fotos, die ihn in Amerika zeigten. Sein ideales Wohnzimmer wäre hell und praktisch mit einem großen weichen Sofa zum Sitzen, einem dicken Teppich zum darauf-Gehen, für die Ohren gäbe es ein Grammophon und für die Augen Poster von Filmstars«.28

Die Ähnlichkeit dieser beiden Passagen ist auffällig. Jede von ihnen beschreibt einen Akademiker mit amerikanischem Abschluss, der fixiert ist auf Symbole amerikanischer Bildung (Harvard) und amerikanischen bürgerlichen Wohlstands (Badewanne, Teppich, Sofa). Amerika nahm schon immer einen besonderen Platz in der chinesischen Vorstellung von Modernität und vom Westen ein.29

26 Wenn ich mich hier auf die spannungsgeladenen Ost – West Begriffe beziehe, beabsichtige ich keinesfalls damit die komplizierten Fragen nach politischen Folgen der Ost-West-Kontakte oder die Debatte um einen chinesischen Okzidentalismus aufzugreifen. Ich verwende die Begriffe aus Mangel an besseren. 27 Lao She: »Das Opfer«. Engl.: /ao She: »Dr. Mao«, trans. George Kao, in: Chinese Wit and Humor, hg. von George Kao, New York 1946, S. 318. 28 Lao She, »Dr. We«, in: Complete Collection of Lao SheҲs Novels (Wen boshi, in: Lao She xiaoshuo quanji 5, S. 33–35). 29 Weili Ye: Seeking Modernity in China’s Name: Chinese Students in the United States, 1900–1927, Stanford 2001, S. 7. Siehe dazu auch: Peng Luo: »Young Westerners in the Writings of Chinese Scholars«, Üb: Chris-

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Ein wiederkehrendes Thema bei Lao She ist der Zweifel an einer flexiblen kulturellen Zugehörigkeit. In »Das Opfer« und »Dr. Wen«, beide in den dreißiger Jahren geschrieben, wird die materialistische Weltsicht karikiert. Dr. Mao und Dr. Wen sind Shanghaier, die ein anscheinend kosmopolitisches Leben auf Konsum gebaut führen: Sie tragen Kleidung Made in America, hören europäische Opern auf japanischen Geräten und beobachten zusammen mit ihren chinesischen Familien und Freunden die Umgangsformen der Bediensteten. Lao She hinterfragt die Möglichkeit eines Lebens zwischen den Kulturen und untersucht die Folgen dieser Vermischung. Er ist, was den Kosmopolitismus anbelangt, weniger optimistisch als Rushdie30 und kritisiert die Versuche, China lediglich durch den Import westlicher Technologien zu modernisieren. Obwohl Lao She selbst ein praktizierender Christ mit einiger internationaler Erfahrung war, war er doch skeptisch gegenüber Intellektuellen, die im Ausland als Bewahrer des Chinesischen auftraten und sich zu Hause als Kosmopoliten gaben. Zu diesem Zwecke schuf er eine Reihe von Auslandsstudenten, die nach China zurückgekehrt waren und nun ihren Platz suchten. Dabei machte er sich über diese aus Amerika oder Europa heimgekehrten, aufgeblasenen Akademiker lustig. »Das Opfer« beschreibt den Niedergang eines solchen Akademikers, der darauf besteht, mit seinem neuen Titel, Dr. Mao, angesprochen zu werden. Die Geschichte dreht sich um seine Verabsolutierungen und seine Mini-Lektionen in »amerikanischem Geist«, die er seinen Kollegen Lao Mei und dem Erzähler hält. Er betont ein wenig zu oft seine amerikanische Erfahrung, die ihm sein angebliches HarvardStudium erst möglich gemacht hatte und erzählt von den vielen kleinen Annehmlichkeiten des Lebens, die das Wesen des Amerikaners bestimmen. Folgerichtig und komisch ist daher die Stelle, als er seine Landsleute bedrängt, sich eine Badewanne als Zeichen kulturellen Fortschritts zuzulegen. Dr. Maos Rückkehr nach China ist für ihn Op-

topher Buckley, in: Hua Meng, Sukehiro Hirakawa (Hg.): Images of Westerners in Chinese and Japanese Literature, S. 85–93, Proceedings of XVth Congress of the International Comparative Literature Association, Bd. 10, Amsterdam 2000. 30 Siehe Rushdies Verteidigung der Satanischen Verse »In Good Faith», in: Imaginary Homelands: Essays and Criticism, 1981–1991, New York 1991, S. 292–294, 404.

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fer und Siegeszug zugleich. Als ehemaliger Auslandsstudent betrachtet er sich selbstverständlich als Teil der Elite und verachtet seine Landsleute. »Wenn wir in Amerika wären ...« oder »es ist wirklich ein großes Opfer« sind Phrasen, die wieder und wieder in seiner Rede auftauchen. Die Kluft zwischen Dr. Maos Identität und seiner Vorstellung vom Westen, zwischen seinem »kosmopolitischen« Outfit und der ihn umgebenden chinesischen Realität lassen ihn schließlich verstummen, da er für die anderen einfach unverständlich wird. Seine Selbstgefälligkeit und sein Narzissmus stehen dem Beharren auf typisch chinesischen Werten durch Lao Mei und den Erzähler gegenüber. Der Erzähler schildert Dr. Mao als halbgar. Er sei weder Shanghai Playboy, noch Kind von Übersee-Chinesen, weder Chinese, noch Ausländer. Lu Xun, einer der radikalsten Denker zu jener Zeit, bemerkte treffend, dass die Chinesen zwar westliche Anzüge trügen, aber darunter durch und durch die Alten seien. Das Gegenstück zu Dr. Mao bildeten jene Einheimischen, die eine Rückbesinnung auf die chinesische Kultur forderten und alles Ausländische ablehnten. Die Spannungen zwischen der neuen kulturellen Identität und der durch Geburt erworbenen werden im Umgang Dr. Maos mit den anderen Figuren sichtbar. Die Zivilisationsstufe einer Stadt oder aber ihre Primitivität misst Dr. Mao an ihrem Import von Symbolen amerikanischen Großstadtlebens. Er stellt sein Amerikanisch-Sein nicht nur durch das Tragen eines Anzugs zu jeder Tages- und Jahreszeit, sowie die Einrichtung seiner Wohnung mit amerikanischen Symbolen heraus, sondern er zitiert auch alle Nase lang seine »ausländischen Freunde«: chinesisches Theater sei »barbarisch«, chinesisches Essen »unhygienisch« und die Badehäuser seien »gefährlich«. Im Laufe der Erzählung erfährt der Leser auch viel über die andere Seite dieser Diskussion. Lao Mei und der Erzähler verteidigen beispielsweise durch die Wahl ihres Essens ganz vehement die chinesische Kultur. Kulturelle Identitäten werden so von beiden Seiten konkret und greifbar gemacht. Dr. Mao reproduziert Chinas Krankheiten rhetorisch, indem er ihnen die Wunder des Westens gegenüberstellt. Sein Nachahmen alles Westlichen verdeutlicht die Kluft zwischen den beiden Kulturen und zeigt das Dilemma, zwischen einem kosmopolitischen Materialismus (Dr. Mao) und der Verteidigung rein chinesischer Werte (Erzähler) zu vermitteln. Bereits beim ersten Auftritt Dr. Maos macht der Erzähler dessen westliches Outfit zum Mittelpunkt der Betrachtung:

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»Dieser Mann war irgendwie sonderbar. Er erschien in ›voller Rüstung‹, er trug einen westlichen Anzug mit allem Drum und Dran. In der Brusttasche steckte ein Einstecktuch, die Krawatte wurde von einer Nadel gehalten, eine Uhrkette hing über den unteren Teil seiner Weste, und die Spitzen seiner Lederschuhe glänzten. [...] Doch er ›trug‹ diese Kleidung nicht, er löste eher ein Gelübde ein. Das Einstecktuch gehört hierhin, die Krawattennadel dorthin, alles war Verpflichtung, eine religiöse Handlung. Die Menschen glaubten nicht an eine Frage des Geschmacks, sie dachten bei seinem Anblick eher an den pietätvollen Sohn, der in seiner Trauer den Leinenumhang trug, wie es die Pflicht verlangte«.31

Und selbst als der Anzug ihn einengt, trägt Dr. Mao ihn tapfer weiter, denn schließlich ist er Zeichen seiner neuen kulturellen Zugehörigkeit. Der Erzähler übernimmt oft die Rolle eines Kritikers, wenn er von der Vernarrtheit Dr. Maos in alles Amerikanische berichtet. Dr. Maos Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Kultur war keine Nostalgie und er war auch nicht fähig oder interessiert daran, ein kosmopolitisches Leben zu führen. Sein Verhalten trug vielmehr dazu bei, alles Chinesische zu denunzieren. Lao Mei und der Erzähler, beide Verteidiger der chinesischen Werte, hatten Vorlieben und Verhaltensweisen, die konträr zu jenen von Dr. Mao lagen. Und wenn der Erzähler sich fragt, ob Dr. Mao denn nicht in China geboren sei, und wenn ja, warum er so ignorant und gefühllos China gegenüber sei, vergrößert das den Abstand zwischen den Positionen nur noch. Dr. Maos Vorstellung eines idealen amerikanischen Lebens fußte in der Mittelschicht. Die allerdings war so klein in China, dass sie das soziale Leben und die Mode kaum beeinflussen konnte. Er sah nicht die unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und war blind gegenüber Klassenunterschieden. Amerikaner seien reich, verkündete er. Wenn ein Junge ein Mädchen ausführt, geben sie mehr Geld für Eis aus, als sich ein Chinese leisten könne. Lao Mei, Dr. Mao und der Erzähler gehören alle eindeutig nicht zur Elite. Deshalb gerät auch die Badewanne, etwas, was die meisten chinesischen Wohnungen nicht haben, ins Zentrum der Betrachtungen. »›In Amerika besitzt jedes Heim eine Badewanne und auch in jedem Hotelzimmer gibt es eine. Willst du baden, dann – huah – musst du nur das Wasser

31 Lao She: Xisheng, a.a.O., S. 25.

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aufdrehen, kaltes, heißes – ganz wie du willst. Und wenn du das Wasser wechseln willst, lässt du das alte ab und neues ein – huah ...‹ Er sprach, ohne Luft zu holen und jedes huah versprühte feine Speicheltröpfchen, als sei sein Mund selbst ein amerikanischer Wasserhahn«.32

Dr. Maos Vorstellungen von einem Mittelklasse-Leben schaffen das Bild eines Haushalts mit westlichen Annehmlichkeiten (Badewanne und Sofa), sowie einer westlichen Familienstruktur (Kleinfamilie), aber traditionell chinesischen Geschlechterrollen. Aus diesen Schilderungen erwächst die Komik der Erzählung. Nach seiner Heirat konnte sich Dr. Mao weder ein amerikanisches Bett, eine Badewanne, ein Sofa, noch sonst einen der Gegenstände auf seiner AnnehmlichkeitenListe leisten, denn die ökonomischen Möglichkeiten und nicht die kulturelle Zugehörigkeit bestimmen über die Lebensweise eines Menschen. Seine Frau läuft ihm schließlich davon, was ihn zuerst beschämt und ihn dann in die Psychiatrie bringt. In dem melancholischen Ende der Erzählung ist durchaus das »melancholische Lachen« zu sehen, das David Der-wei Wang in Lao Shes komischen Werken findet.33 Dr. Maos chaplineske Naivität bewahrt ihn trotz des traurigen Endes davor, in einen tragischen Helden zwischen den Kulturen verwandelt zu werden. Lao She sagt, er habe sich mit der Erzählung »Das Opfer« eines dringenden gesellschaftlichen Problems angenommen. Er verteidigt die Erzählung gegen Angriffe, dass sie unrealistisch sei, indem er erklärt, sie sei nur insofern schlecht, als dass sie nicht das Ganze zeige. Sie sei vielleicht nicht ganz ausbalanciert, eben weil sie auf wahren Ereignissen und Vorbildern beruhe. Es sind v.a. seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen aus Übersee und Europa, die in die Erzählung eingeflossen sind. Für die damalige Zeit verbrachte Lao She ungewöhnlich lange Zeit, nämlich mehr als zehn Jahre, im Ausland.34 Und doch war er kein Kosmopolit im Sinne von Rushdie. Lao She ist bekannt dafür, den Beijing-Dialekt zu einer Literatursprache gemacht zu haben. Zuallererst war er ein Beijinger Schriftsteller, auch wenn er einige seiner Werke in London, Singapur und New York geschrieben

32 Lao She: Xisheng, a.a.O., S. 26. 33 David Der-wei Wang, a.a.O., S. 111–156. 34 England (1924–29), Westeuropa (Juni–August 1929), Singapur (1929–30), USA (1946–49) und Japan (1965).

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hat. Entgegen seiner Behauptung ist er mehr als nur ein Vertreter des Sozialen Realismus. Lao She benennt nicht nur soziale Missstände, sondern karikiert mit seinen überladenen und komischen Handlungen den Diskurs um Chinas Unterlegenheit. Die Erzählung »Das Opfer« ist Reportage und Parodie in einem. Lao She ist ein »mitfühlender Humanist« und ein »zynischer Spaßmacher«, dessen heitere Geschichten scharfsinnige Erkundungen der Absurditäten modernen Lebens in China sind.35 So gesehen kann »Das Opfer« als Abhandlung über die Möglichkeiten des Kosmopolitismus gelesen werden. Dr. Mao und der Erzähler repräsentieren Reformer bzw. Konservative und deren gegensätzliche Argumente. Dr. Mao denkt, dass seine westlichen Erfahrungen ihn über seine Landsleute erheben. Mechanisch betet er die amerikanischen Standards eines kosmopolitischen Lebens herbei, ohne zu bemerken, dass Klassenunterschiede ebenso wichtig wie kulturelle Unterschiede sind. Die ethnische Abgrenzung und die Zurückweisung von Individualismus durch den Erzähler liefern das Gegenstück zu Dr. Maos Radikalismus.36 Es geht aber in der Geschichte nicht um die Dekonstruktion von Patriotismus, Chauvinismus oder westlichem Utilitarismus Dr. Mao wie auch Lao Mei und der Erzähler definieren ihre eigene kulturelle Identität jeweils über ihr Gegenüber. Zwar haben Dr. Mao und der Erzähler ganz unterschiedliche Vorstellungen eines ›modernen‹ Lebens, aber beide bewegen sich innerhalb des herrschenden Diskurses über Chinas Unterlegenheit. Durch ihre materiellen Verkörperungen werden Begriffe wie ›der Westen‹ und ›China‹ greifbar und konkret. Amerika und China stellen somit zwei miteinander verbundene kulturelle Identitäten dar. Die Erzählung zeigt beispielhaft Lao Shes humanistisches Anliegen bei der Schilderung der Kämpfe um die Modernisierung. Was heißt modern zu sein in China? Was bedeutet menschlich zu

35 David Der-wei Wang: a.a.O., S. 113. 36 Der Erzähler bezeichnet Dr. Mao als einen Mann ohne Wurzeln (siehe »Dr. Mao«, S. 31f.) und er glaubt: »[Dr. Mao] couldn’t quite bring himself to go to a ›Chinese‹ bathhouse with us, no matter how clean it was«. »Dr. Mao«, S. 313. Als sie Dr. Mao zum Abendessen einladen, äußert der Erzähler den Gedanken: »I wanted to see, after all, whether he could stand any ›Chinese-style‹ entertainment [and social gathering], or whether he was just stuffy«. »Dr. Mao«, S. 317.

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handeln? Diese Fragen lassen sich vielleicht mit einem Blick auf Lao Shes Erzählung »Das Opfer« im Kontext der Literatur der chinesischen Auslandsstudenten beantworten.

D IE L ITERATUR DER CHINESISCHEN

AUSLANDSSTUDENTEN

Trotz seiner Marotten stellt Dr. Mao keinen literarischen Einzelfall dar. Er ist ein selbstgefälliger Einzelgänger, aber hat doch gewisse Gemeinsamkeiten mit Lu Xuns Kong Yiji oder Ah Q. Das Opfer zeichnet ein Bild verfehltem Kosmopolitismus und beschreibt die Ironie, dass der Konsum als Grundlage der kulturellen Globalisierung dient. Die Erzählung weist typische Merkmale der sogenannten Auslandsstudenten-Literatur (Liuxuesheng wenxue) auf. Dieses Subgenre der Reiseliteratur entstand im China des späten 19. Jahrhunderts und erreichte in den dreißiger Jahren seine Blüte. Seine Autoren haben meist selbst im Ausland studiert. Nutzten die amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ihre Europa-Reisen und Aufzeichnungen darüber, um Identitäten aus ganz verschiedenen Blickwinkeln, wie Geschlecht, Klasse, Rasse oder Nationalität zu entwickeln, schrieben chinesische Autoren ihre Reiseerfahrungen in dokumentarischer (Liang Qichao) oder fiktionaler Form (Lao She) nieder, um den interkulturellen Raum in Zeiten des Übergangs auszuloten.37

37 William W. Stowe: Going Abroad: European Travel in Nineteenth-Century American Culture, Princeton 1994, S. xxi. Diese Werke wurden nie systematisch im Kontext des chinesischen Kosmopolitismus untersucht und sind dem Leser deshalb möglicherweise nicht vertraut. Eine Reihe von chinesischen Wissenschaftlern hat darauf hingewiesen, dass die Figuren Lao Shes in moderner westlicher Kleidung auftreten, aber an ihrer feudalen Mentalität festhalten. Siehe Feng Jianfei: »Wenhua de genji, minzu de jiliang: Lao She zuopin rujia jingshen fenxi« (Die Grundlagen der Kultur, Rückgrat der Nation: Eine Analyse des Konfuzianismus in den Werken Lao Shes), in: Nandu xuebao 23.3. (Mai 2003), S. 66ff.; Jin Fengjie, Zhang Bo: »Chengshi wenming xia de bingtai renxing – shixi Lao She bi xia de shimin xingxiang« (Die Krankheiten urbaner Zivilisationen: Die Darstellung der Stadtbewohner in Lao Shes Werken), in: Tonghua shifan xueyuan xuebao 26.3 (Mai 2005), S. 108ff.; Xie Zhaoxin: Lao She xiaoshuo yishu

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Dr. Mao mag eine Randfigur in Lao Shes Oeuvre sein, er ist aber kein Einzelfall. Andere Angehörige der neuen urbanen Mittelschicht wie Lan Xiaoshan aus »Die Philosophie des alten Zhang« (Lao Zhang de zhixue)38, Ouyang Tianfang aus Zhao Zi yue (»Maister Zhao sagt«)39 oder Zhang Tianzhen aus »Die Blütenträume des Lao Li« (Lihun)40 gehören ebenfalls in diese Reihe. Nicht wenige von ihnen tragen selbstverständlich westliche Anzüge und ahmen westliche Verhaltensweisen nach. Nicht vergessen werden soll an dieser Stelle Lao Shes Dr. Wen, der Dr. Mao in vielem ähnelt. Zwei Jahre nach »Das Opfer« schrieb Lao She eine längere und ausgefeiltere Geschichte, deren Handlungsfaden im Prinzip der gleiche ist. 1936–37 in Fortsetzungen veröffentlicht, trug die Erzählung anfangs den Titel »Der Auserwählte« (Xuanmin),41 was den Narzismus der Hauptfigur betonte. 1940 wurde die Erzählung unter dem Titel »Dr. Wen« (Wen boshi)42 veröffentlicht. Da spielte möglicherweise die chinesische Wertschätzung von Doktortiteln eine Rolle. Diese beiden Erzählungen sind die ersten systematischen Darstellungen der aufkommenden sozialen Schicht der Auslandsstudenten. Die Komik in der Figurenzeichnung von Dr. Wen und Dr. Mao haben Kritiker jedoch stets übersehen. Auch in »Dr. Wen« finden wir ein klassisches Gegensatzpaar: Wen Zhiqiang, von den meisten einfach Dr. Wen genannt, und Tang Xiaocheng, für die niederen sozialen Schichten der alte Meister Tang (Tang laoye) und für seine Mitarbeiter Herr Tang. Wie Dr. Mao macht sich auch Dr. Wen nach seiner Rückkehr aus Amerika daran, eine Frau aus gutem Haus (auf dass sie ihm als Sprosse auf der Karriereleiter diene) und eine Stelle als Regierungsbeamter zu finden. Dr. Mao wird Dozent an einer Universität und bekommt für einen Harvard-Absolventen mit Dr.-Titel ein, wie er findet, mageres

xinli yanjiu (Eine psychologische Untersuchung von Lao Shes Romanen), Beijing 1994. 38 Lao She: »Lao Zhang de zhexue«, in: Xiaoshuo yuebao (Monatliche Kurzgeschichten) 17 (1926), S. 7–12. Wiederabdruck als Einzelmonographie von der Commercial Press 1928. 39 Lao She: Lao She xiaoshuo quanji (Sammlung von Romanen und Erzählungen von Lao She), hg. von Shu Ji und Shu Yi, Wuhan 2004. 40 Ebenda. 41 Ebenda. 42 Ebenda.

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Gehalt. Dr. Wen hingegen, gibt sich mit nichts weniger als seinem Traum zufrieden und bleibt deshalb für eine geraume Zeit arbeitslos.43 Schließlich aber erwischt er es doch besser als Dr. Mao, indem er durch Tangs Vermittlung eine reiche Frau und eine Arbeit als Ermittler im Staatsdienst findet. Als solcher fahndet er nach Dissidenten und Radikalen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Erzählungen ist, dass viele Personen Dr. Wens »vergoldete« amerikanische Promotionsurkunde voller Ehrfurcht betrachten. Auch wenn sie gar nicht wissen, was da steht, ist für sie die Promotion, erst recht die an einer ausländischen Universität, eine wichtige Qualifikation in der modernen Gesellschaft. Yang Lilin, Dr. Wens spätere Frau, verliebt sich nicht etwa in ihn, nein, sie will einen Ehemann mit ausländischem Doktor-Titel.44 Auch Herr Tang bringt ihm keine besondere Achtung entgegen, als er und Dr. Wen sich zum ersten Mal begegnen. Er verachtet ihn sogar etwas, weil er keinen offiziellen chinesischen Titel auf seiner Visitenkarte stehen hat. Tang denkt sich aber, dass ein DoktorTitel in der modernen Gesellschaft wohl ebenso viel wert sei, wie ein zhuangyuan, der Examensbeste in den kaiserlichen Prüfungen, und damit auch genauso viel Respekt verdiene.45 Trotz unterschiedlicher Schicksale sind sowohl Dr. Wen als auch Dr. Mao als komische Figuren angelegt, die beide ein sehr materialistisches Verständnis von Kosmopolitismus an den Tag legen. Als Dr. Wen nach langer Arbeitssuche schließlich in Jinan landet, sucht er Trost in greifbaren Symbolen amerikanischen Geistes: Er dekoriert sein Zimmer mit Erinnerungsstücken aus Amerika, er geht in ein westliches Restaurant, nimmt ein Bad und schläft anschließend hervorragend. Am Morgen zieht er seinen Anzug, den er in Amerika gekauft hat, an. Bei seiner fast schon religiösen Beziehung zu solchen Attributen, wundert es kaum, dass Dr. Wen trotz seiner schmalen Einkünfte später ein Vermögen für einen Maßanzug ausgibt. Er nutzt jede Gelegenheit, um seine andere Lebensweise auch zu zeigen. Zum Beispiel lädt er Herrn Tang in ein westliches Restaurant ein, nur um dort seine westlichen Tischmanieren zu beweisen.

43 Lao She: »Wen boshi« (Dr. Wen), in: Lao She xiaoshuo quanji (Die Romane von Lao She), Bd. 5, Wuhan 2004, S. 4f., 11. 44 Ebenda, S. 102. 45 Ebenda, S. 41.

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Es gibt viele solcher Figuren in der modernen chinesischen und japanischen Literatur: Da wären »der falsche ausländische Teufel« – Jia Yangguizi aus Lu Xuns »Die wahre Geschichte des Ah Q«,46 Zhang Jimin (Jimmy) und Han Xueyu aus Die umzingelte Festung von Qian Zhongshu47 Okada aus Tanizaki Junichiros Aguri48 oder Ota Toyotaro aus Mori Ogais Die Tänzerin.49 Der »falsche ausländische Teufel« schneidet seinen Zopf ab, benutzt einen Spazierstock und pflegt Ah Q und die anderen in Pidgin-Englisch zu grüßen, alles nur, um sich von den Einheimischen zu unterscheiden. Zhang Jimin, der in Amerika studiert hat und jetzt für eine Bank in Shanghai arbeitet, legt Wert darauf, mit seinem amerikanischen Namen ›Jimmy‹ angesprochen zu werden. Seine westlich eingerichtete Wohnung bildet einen starken Kontrast zu seiner abergläubischen Familie.50 Er spricht mit Fang Hongjian, dem Protagonisten der Umzingelte Festung, der in Europa studiert hat, Pidgin-Englisch.51 Han Xueyu, der während der japanischen Besat-

46 Lu Xun: A Q zhengzhuan (1921); »Die wahre Geschichte des A Q«, Üb.: Yang Enlin und Konrad Herrmann, in: In tiefer Nacht geschrieben, Leipzig 1981. 47 Qian Zhongshu: Weicheng, Shanghai 1947; Die umzingelte Festung, Üb. Monika Motsch, Frankfurt a.M. 1988. 48 Tanizaki Junichiro: Aguri, Tokyo 1922; Engl. v. Howard Hibbett in: Tanizaki Junichiro: Seven Japanese Tales, New York 1996. 49 Mori Ogai: Maihime, Tokyo 1917; Das Ballettmädchen, Üb.: Jürgen Berndt, Berlin 2010; Die Tänzerin, Üb.: Wolfgang Schamoni, Frankfurt a.M. 1994. 50 »Da genießt [Frau Zhang] nun die neuesten Errungenschaften westlicher Technik, dachte Hongjian, und ist so abergläubisch! Sie sitzt in ihrem zentralgeheizten Wohnzimmer und rezitiert Sutren – die Devise ›Chinesische Ethik als Grundlage, westliche Technik zum praktischen Gebrauch‹ [Xixue wei ti, zhongxue wei yong] war offenbar kein Problem«. Qian Zhongshu, Die umzingelte Festung, Üb. Monika Motsch, Frankfurt a.M. 1988, S. 62. 51 »Herr Zhang verkehrte viel mit Ausländern und hatte daher beim Sprechen die Angewohnheit […] sein Chinesisch mit nichtssagenden englischen Ausdrücken zu garnieren. Dabei hatte er durchaus keine neuen Ideen, die den Gebrauch des Englischen erforderten, weil sie im Chinesischen schwer auszudrücken waren. Seine englischen Brocken hielten den Vergleich mit Goldzähnen nicht aus, da Goldzähne nicht nur schön, sondern auch nütz-

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zung an einer kleinen Universität im chinesischen Hinterland arbeitet, hat seinen Doktor-Titel gekauft. In den Augen der anderen wird jedoch jeder Zweifel über die Echtheit seines amerikanischen Abschlusses durch die ethnische Zugehörigkeit und den hellen Teint seiner »amerikanischen« Frau zerstreut. Auch wenn all diese Figuren verschiedene Wege in ihrem Streben nach westlicher Authentizität verfolgen, teilen sie doch die materialistische Weltsicht von Dr. Mao und Dr. Wen. Die Figuren aus Qian Zhongshus Die umzingelte Festung sind hinund hergerissen zwischen der neuen Kultur und der Notwendigkeit eines starken Nationalismus im China der Kriegszeit. Viele der Erzählungen tragen autobiographische Züge. Toyotaros Berlin-Erfahrungen in Mori Ogais Die Tänzerin spiegeln die Erlebnisse des Autors, der selbst hier Medizin studiert hat.52 Eine Erbschaft in London53 und »Xiao Pos Geburtstag«54 sind Echo der Aufenthalte Lao Shes in London und Singapur. Die Personen in diesen Werken stellen gern ihre Modernität durch westliche Konsumartikel aus, aber ihre tief

lich sind. Vielmehr glichen sie bloß den Fleischresten zwischen den Zähnen, die beweisen, dass man gut gespeist hat, aber sonst völlig nutzlos sind. Sein amerikanischer Akzent wirkte täuschend echt, nur bei den Nasalen tat er vielleicht des Guten zuviel. Er hörte sich nicht wie ein Amerikaner an, eher wie ein schwer erkälteter Chinese« Qian, a.a.O., S. 60f.; »Da Vater und Schwiegervater [Fang Hongjian] als Doktor zu sehen wünschten, konnte er sie als guter Sohn und Schwiegersohn doch nicht enttäuschen! Wenn er sie mit einem gekauften Diplom beschwindelte, war das doch nur wie der Kauf eines Beamtenpostens unter der Qing-Dynastie oder als spendete ein englischer Geschäftsmann aus den Kolonien der königlichen Kasse ein paar Zehntausender für einen Adelstitel. ›Ruhm in die Familie bringen‹ war die Pflicht jedes gehorsamen Sohnes und pflichtbewussten Schwiegersohnes, der der älteren Generation Freude machen wollte«. Qian, a.a.O., S. 24. 52 Siehe Tomiko Yoda: »First-Person Narration and Citizen-Subject: The Modernity of Ogai’s ›The Dancing Girl‹«, in: Journal of East Asian Studies 65.2 (Mai 2006), S. 277–306. 53 Lao She: Eine Erbschaft in London: Roman, übersetzt von Irmtraud Fessen-Henjes, Berlin 1988. 54 Lao She: »Xiao Pos Geburtstag«, in: Lao She xiaoshuo quanji (Sammlung von Romanen und Erzählungen von Lao She), hg. von Shu Ji und Shu Yi, Wuhan 2004.

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sitzende chinesische Mentalität bewahrt sie davor, moderne Kosmopoliten zu werden. Das Problem dieser Pendler zwischen den Kulturen ist nicht, dass sie ihre eigene Nation verraten, sondern die Unfähigkeit, westliche Symbole in einen angemessenen Kontext zu stellen oder die Denkweisen der anderen Kultur ganz zu übernehmen. Vor dem Hintergrund von Chinas Einführung in die globale Weltgemeinschaft, zeichnete Lao She Figuren wie Dr. Mao und seine chinesischen Gegenspieler als verlorene Seelen.

S CHLUSSBETRACHTUNG Indem er die Dialektik zwischen dem Lokalen und dem Globalen thematisiert, scheint Lao She zu fragen, ob wir es von uns weisen können, dass der Mensch von seiner Umgebung geprägt wird, sei es durch Geburt oder kulturelle Anpassung. Lao She stellt seine Figuren an den Schnittpunkt verschiedener Traditionen, geprägt von den Diskussionen um die Unterlegenheit Chinas und dem daraus erwachsenden Chauvinismus. Dr. Mao entfremdet die Kennzeichen einer bestimmten Kultur. Wenn man dieses Verhalten in Beziehung zum Denken der anderen Figuren setzt, wird Kosmopolitismus zu einem Ort des Nachdenkens über Geben und Nehmen. Lao She ist ganz deutlich an Fragen nach der kulturellen Vermischung interessiert: Wie erleben Auslandsstudenten den Übergang von einer in die andere Kultur? Was passiert mit einem Auslandsstudenten bei seiner Rückkehr nach China? Seit den siebziger Jahren ist die Reiseliteratur und Literatur der Auslandsstudenten in China und Taiwan wieder im Kommen und liefert sehr unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Ironischerweise ist der Blick des chinesischen Lesers um die Jahrtausendwende wie schon zu Lao Shes Zeiten auf den amerikanischen Traum gerichtet. Als Beispiele dieser neuen Literatur der Auslandsstudenten seien hier Cao Guilins Pekinger in New York, Zhou Lis kontrovers diskutiertes, aber sehr populäres Buch Eine Chinesin in Manhattan, Liu Weihua und Zhang Xingwus Harvard Girl Liu Yiting oder auch Lin Dayous MIT-Boy Lin Dayou55 genannt. Die Erzählun-

55 Cao Guilin: Beijing ren zai Niuyue (Ein Pekinger in New York), Beijing 1991; Zhou Li: Manhadun de Zhongguo nüren (Eine Chinesin in Man-

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gen drehen sich meist um die Möglichkeiten einer flexiblen kulturellen Zugehörigkeit, lassen dabei aber den Sinozentrismus des jeweiligen Autors und seine materialistische Sicht auf die ausländische Kultur außer Acht.56 Die Bücher haben eine große Leserschaft und viele von ihnen, obwohl eigentlich Belletristik, wurden als Sachbücher konsumiert, als Erfolgsstorys chinesischer Studenten in Amerika. Lao She ist ganz bewusst von der Form der Reportage, die meist für die Literatur der Auslandsstudenten verwendet wurde, abgewichen. Die neuen Geschichten aber behaupten einfach die Wirklichkeit widerzugeben, selbst wenn sie weit davon entfernt sind. In diesem Sinne haben sie dem Realismus in der Literatur eine neue Bedeutung gegeben. Man kann noch die Schritte von Dr. Mao in diesen neuen Werken der Auslandsstudenten-Literatur vernehmen. Lao Shes Fragen waren für die Leser des frühen 20. Jahrhunderts aktuell, aber für die Leser des 21. Jahrhunderts, die gerade das Aufkommen einer neuen Form der Globalisierung erleben, sind sie noch dringender. In diesem Kapitel wurde deutlich, dass dank Lao Shes chinesischem Humanismus die Sicht von einer höheren Warte aus, von einer dominanten oder elitären sozialen Gruppe aus vermieden wurde. In seinen humanistischen Erzählungen schuf er authentische Stimmen sehr diesseitiger Individuen. Die kenntnisreichen Beobachtungen des britischen Dichters und Kritikers Matthew Arnold zu Humanismus und aufkommender Moderne lassen sich auch auf die Anfänge einer wahrhaft modernen und humanistischen chinesischen Literatur bei Lao She anwenden. Wie Geoffrey Chaucer, der vom Glauben seiner Vorfahren an eine höhere, in den Traditionen festgeschriebene Perspektive dahin gelangte, aus humanistischem Blickwinkel die Welt zu betrachten, nahm auch Lao She eine universelle humanistische Haltung gegenüber dem Leid des Einzelnen an. Seine Portraits der Lebenserfahrungen

hattan), Beijing 1992; Liu Weihua und Zhang Xinwu: Hafo nü hai Liu Yiting (Harvard Girl Liu Yiting), Beijing 2000; Lin Dayou: MIT Nanhai Lin Dayou – GRE 2400 manfen bangshou liuxue baodian (MIT Boy Lin Dayou – A Step-by-Step Study-Abroad Bible by the GRE Champion), Taipei 2001. Zur Rezeption von Eine Chinesin in Manhattan siehe auch Xiaomei Chen: Occidentalism: A Theory of Counter-Discourse in PostMao China, Nachwort, New York 1995, S. 157ff. 56 Aihwa Ong: Flexible Citizenship: The Cultural Logics of Transnationality, Durham 1999.

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ganz normaler Menschen geben jeder Figur eine bewegende Geschichte und ihre Wiedererkennbarkeit. Das nächste Kapitel geht dem Erbe Lao Shes im gegenwärtigen China nach, wie wir es in den Arbeiten von Mo Yan finden.

3. Humor in den Werken Mo Yans Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. KARL MARX1

Mo Yan (*1955), Erbe und Erneuerer der humanistischen Tradition Lu Xuns und Lao Shes, ist einer der aktivsten Gegenwartsschriftsteller Chinas. Er ist bekannt für seine fantasievolle und humanistische Erzählkunst und wurde oft mit dem amerikanischen Schriftsteller William Faulkner oder dem japanischen Erzähler Kenzaburo Oe verglichen. Er fasst die Dinge an der Wurzel und das sehr kunstvoll durch soziale Satire und Humor. Wie Lu Xun und Lao She nimmt sich Mo Yan der Lage der Massen, der Armen und Machtlosen an. Er geht darin sogar noch einen Schritt weiter, indem er aus einer Perspektive des Lachens über seine Figuren erzählt. Der Humanismus seiner Erzählungen entspringt der einmalig menschlichen Fähigkeit mit anderen und auch über sich selbst zu schmunzeln oder zu lachen. Mo Yans Schreiben verbindet Themen und Stile, die vom Magischen Realismus bis zum schwarzen Humor, von historischen Erzählungen bis hin zu derben Geschichten und Gleichnissen reichen. Die komischen Aspekte seines Werks wurden zugunsten seiner in der englischsprachigen Welt bekannteren historischen Romane, wie beispielsweise Das Rote Kornfeld2 oftmals übersehen. Schon der Name Mo

1

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Einleitung«, in:

2

Mo Yan: Hong gaoliang jiazu, 1988, engl. v. Howard Goldblatt, Red

Deutsch-Französische Jahrbücher (7. & 10. Februar 1844). Sorghum, 1993; dt. v. Peter Weber-Schäfer, Das Rote Kornfeld, Reinbek

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Yan, das Pseudonym von Guan Moye, was auf ein Schweige-Gelübde verweist und so viel wie der Sprachlose bedeutet, enthält eine ordentliche Prise Humor. Dieser Anspruch auf Schweigen, das Sich-Fernhalten vom Sprechen könnte zwar als Selbstironie oder Arroganz ausgelegt werden, ist aber auch ein kritisches Instrument in den Werken Mo Yans, die die politische Geschichte und die Geschichte der Sexualität kühn nachzeichnen. Es ist ein Mittel, das Unaussprechliche auszusprechen, wobei Humor das Unsichtbare sichtbar macht. Das Schweigen des Schriftstellers Mo Yan schafft einen einzigartigen Raum für die klar umrissene Romanfigur Mo Yan, die wie in Die Schnapsstadt3 in seinen Werken immer wieder auftaucht. Vor allem haben seine Werke die lang vergessene Tradition literarischen Humors im modernen China neu belebt, indem er komische, aber durchaus sympathische Portraits von Menschen in einer fragmentierten Welt postsozialistischer Marktwirtschaft4 schuf. Ob ganz einfache Leute oder hohe Kader, sie alle finden sich in komischen und oftmals absurden Situationen wieder. Wie andere Gegenwartsschriftsteller, die den sozialistischen Realismus parodieren, setzt Mo Yan Mittel wie Derbheit und Humor ein, um eine Gegenerzählung zu schaffen, die die offizielle Geschichtsschreibung unterläuft. In dem 1995 erschienenen Roman Helden wie wir des ostdeutschen Schriftstellers Thomas Brussig fragt der IchErzähler in spielerischem und zugleich selbstreflexivem Ton: »Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels, aber wie lässt sich dieser Ansatz in einem Buch unterbringen, das als eine nobelpreis-

bei Hamburg 1993; Der Roman wurde von Zhang Yimou verfilmt und gewann bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1988 den Goldenen Bären. 3

Mo Yan: Jiu Guo, Beijing 1998; engl. v. Howard Goldblatt, The Republic of Wine, New York 2000; dt. v. Peter Weber-Schäfer, Die Schnapsstadt, Reinbek bei Hamburg 2002.

4

Siehe: Chen Sihe (Hg.): Zhongguo dangdai wenxueshi jiaocheng (Lehrmaterialien für Chinesische Literaturgeschichte der Gegenwart), Shanghai 1999, S. 338; Jason Mc Grath: Postsocialist Modernity: Chinese Cinema, Literature, and Criticism in the Market Age, Stanford 2008, S. 20–21.

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würdige Kreuzung von ›David Copperfield‹ und ›Ein Zeitalter wird besichtigt‹ konzipiert ist?«5

Mo Yans Die Schnapsstadt ist eine Parodie chinesischer Esskultur in den Formen des Detektiv- und des Briefromans geschrieben. Die Schnapsstadt wie auch sein Roman Der Überdruss6 benutzen ganz ähnliche Strategien, um eine Atmosphäre komischer Absurdität zu schaffen. Gegen Ende des Romans Die Schnapsstadt fährt die Romanfigur Mo Yan in ebendiese. Er folgt damit einer Einladung von Li Yidou, einem Doktoranden in Schnapskunde und erinnert sich aus diesem Anlass: »Als ich Peking verließ, fuhr mein Bus über den Platz des Himmlischen Friedens. Strahlender Sonnenschein ließ die goldenen Chrysanthemen und die roten Fahnen leuchten. Sun Yatsen, der auf dem Platz steht, und Mao Zedong, der am Eingang zur Verbotenen Stadt hängt, tauschten über die Flagge mit den fünf Sternen an ihrem nagelneuen Mast hinweg geheime Botschaften aus«.7

Das ist nur eine der bei Mo Yan zahlreichen subtilen und humorvollen Anspielungen auf die chinesische Geschichte und ihre politischen Figuren. Obwohl seine Figuren dem Lachen des Lesers ausgesetzt sind, verhindern die Sympathie und Wärme, die Mo Yan ihnen entgegenbringt, dass hier von einer höheren Warte der späten Einsicht in die Geschichte aus erzählt wird. Der Überdruss parodiert die offizielle Geschichtsschreibung der VR China zwischen 1950 und 2000. Die Rahmenhandlung des Romans bildet der buddhistische Gedanke der sechs Wege der Reinkarnation. Ximen Nao, ein Großgrundbesitzer, der für seinen »bourgeoisen Lebenswandel« hingerichtet wurde, durchläuft eine Reihe von Reinkarnationen zunächst als Esel, dann als Stier, Schwein, Hund und Affe bis er schließlich als Junge mit einem großen Kopf wiedergeboren wird. Auf seinem Weg hat er sowohl mit Menschen zu tun, als auch

5

Thomas Brussig: Helden wie wir, Frankfurt a.M. 1998, S. 7.

6

Mo Yan: Sheng si pi lao, Beijing 2006; Engl. v. Howard Goldblatt: Life and Death are Wearing Me Out, New York 2008; dt. v. Martina Hasse: Der Überdruss, Bad Honnef 2009.

7

Mo Yan: Die Schnapsstadt, Üb. Peter Weber-Schäfer, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 478.

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mit anderen Tieren, mit denen er ums Überleben streitet. Er beobachtet und kommentiert die menschliche Gesellschaft (Chinas), die gerade Umwälzungen von historischem Ausmaß durchläuft. Als Esel wiedergeboren, führt Ximen kommunistische Slogans im Munde, um zwei Mulis ihr Futter abzuschwatzen: »Hört auf, verrückt zu spielen, ihr zwei Bastarde! Wenn’s was zu Futtern gibt, soll man’s teilen, dafür braucht man dann auch nicht allein zu fressen. Wir leben in der Epoche des Kommunismus. Was meins ist, ist auch deins, und umgekehrt. Was soll denn dieses untereinander Aufteilen und nicht Abgeben noch?«8

An anderer Stelle sitzt der gerade verstorbene Mao Zedong auf dem »tragischen und öden Mond«,9 eine Umkehrung der kommunistischen Ikonographie, in der Mao als die aufgehende Sonne beschrieben wird. Schwein 16 (Ximen) mit seiner Freundin Fleckchen auf dem Rücken schwamm dem Mond entgegen: »Wir wollten dem Mond näher sein, damit wir das Gesicht Mao Zedongs etwas deutlicher sehen konnten. Doch so wie wir uns bewegten, bewegte sich auch der Mond. So kraftvoll wir auch ruderten […] Da entdeckte ich, dass es nicht nur wir beide waren, die dem Mond hinterher jagten. Unzählige Wasserbewohner, Schwärme von Karpfen mit goldenen Flossen, Unagi-Aale mit dunkelgrünem Rücken und weißem Bauch, riesige Weichschildkröten schwammen in diesem großen Strom dahin. […] Einige Male kam es mir vor, als wären ein paar rotgolden schillernde Karpfen bis zum Mond hinauf gesprungen und neben dem sitzenden Mao Zedong aufgekommen. Aber als ich den Mond genau betrachtete, wusste ich, dass es nur Einbildung gewesen war. Auch den Wasserbewohnern, die mit uns auf dem Weg waren, gelang es nicht, den Mond einzuholen, egal, wie eifrig sie es auch versuchten«.10

Die Verspieltheit und der Witz von Schwein 16 sollten nicht mit Schilderungen anderer chinesischer Schriftsteller, etwa Zhu Wens oder Wang Shuos verwechselt werden. Die Erzählungen letzterer nehmen die augenfälligen Erscheinungen der Gegenwart aufs Korn, um sich

8

Mo Yan: Der Überdruss, Üb. Martina Hasse, Bad Honnef 2009, S. 120.

9

Ebenda, S. 492.

10 Ebenda, S. 493.

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damit gegen jegliche Art von Belehrung zu wenden. Mo Yans Figuren hingegen sind mit persönlichen Erfahrungen und der Geschichte des Landes eng verbunden. Während Wang Shuos »leichtsinnige Herumtreiber« die Abkehr von Idealismus und Unschuld einer sozialistischen Vergangenheit verkörpern und sich in der postsozialistischen Welt der Cleverness vorbehaltlos zurechtfinden,11 bleiben die Figuren Mo Yans gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Figuren wie Ding Gu’er aus Die Schnapsstadt oder Ding Shikou aus der Erzählung »Meister, du bist komisch« scheinen über Nacht in eine neue Welt mit einer ihnen fremden kulturellen Logik geworfen worden zu sein. Mo Yans Sinn für Humor zeigt sich ganz besonders im Gebrauch des Wortes youmo (Humor) selbst, einem Schlüsselwort in der Geschichte »Meister, du bist komisch«.12 Anders, als der Titel vermuten lässt, ist die Erzählung nicht zum Schenkelklopfen witzig. Ding Shikou, ein arbeitsloser Mittfünfziger findet sich plötzlich in einer Reihe von komischen Situationen wieder. Einen Monat vor seiner Pensionierung wird Ding, ein fleißiger und politisch tadelloser Arbeiter, entlassen. Und das, obwohl der Direktor ihm versichert hatte: »Selbst wenn unsere Fabrik alle, bis auf einen entlassen müsste, dieser eine wärst du, unser Arbeiter-Veteran, Modellarbeiter und Meister«.13 Ding ist später von ähnlich leeren Versprechungen und Schmeicheleien, die der stellvertretende Bürgermeister macht, sogar zu Tränen gerührt. Er kann oder will einfach nicht zwischen unaufrichtigen Versprechen und ernsthaft gemeinten Hilfsangeboten unterscheiden. Auf den ersten Blick wird klar, dass Mo Yan nicht seinen literarischen Vorläufern, wie beispielsweise Lu Xun folgt, die ihre Figuren auf das harte Schicksal ihres Daseins reduzierten. Ding Shikou bewahrt auch in der schönen neuen Welt seine Unschuld, so als sei er gerade aus einem Traum erwacht. Die Unschuld von Meister Ding wird durch die Bemerkung seines Lehrlings Lü Xiaohu noch betont. Dessen Kommentar, »Meister, du

11 Siehe Jing Wang: High Culture Fever: Politics, Aesthetics, and Ideology in Deng’s China, Berkeley 1996, S. 261f.; Yibing Huang: Contemporary Chinese Literature: From the Cultural Revolution to the Future, New York 2007, S. 78f. 12 Mo Yan: Shifu yue lai yue youmo, Beijing 1998; You’ll do Anything for a Laugh, Üb: Howard Goldblatt, New York 2001. 13 Mo Yan: Shifu, You'll do Anything for a Laugh, S. 2.

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bist komisch«, zieht sich nämlich wie ein Running Gag durch die gesamte Erzählung: Dabei verwendet Xiaohu Worte wie ›komisch‹ oder ›humorvoll‹ (chin. youmo), um auf Dings antiquierte moralische Denkweise aufmerksam zu machen, die in der neuen Gesellschaft zunehmend deplatziert wirkt. Diese regelmäßig wiederkehrende Bemerkung Xiaohus lenkt den Leser auf Ding Shikous unpassenden Sprachgebrauch und macht aus der tragischen persönlichen Geschichte Dings ein Gesellschaftsstück.14 Dings Ernsthaftigkeit den Dingen gegenüber und sein moralisches Bewusstsein vertragen sich so gar nicht mit Xiaohus Haltung des Laisser-faire. Das Wort ›Humor‹ (youmo) tritt im Verlauf der Erzählung in verschiedenen Nuancierungen auf, die vom absurd Unpassenden bis hin zum Komischen reichen. Dabei ist das Wort youmo aus Xiaohus Mund immer gut gemeint, um Ding vor Lächerlichkeit zu bewahren. Angetan von Dings Idee aus einem verlassenen Buswrack ein Liebesnest mit Seeblick zu machen, was dann stundenweise an Paare vermietet werden kann (ähnlich der Funktionsweise von Pachttoiletten), drängt Xiaohu Ding, sich weniger um die Moral seines Verhaltens zu sorgen. Denn es sei wirklich nicht an einem gefeuerten Arbeiter, sich darüber Gedanken zu machen.15 Am Ende der Erzählung verwendet Xiaohu das Wort youmo gleich zweifach, um auf den Riss zwischen Ding und der ihn umgebenden Welt aufmerksam zu machen. Als Ding ganz aufgeregt Xiaohu und einen Polizisten zum Buswrack bringt, damit sie dort die Leichen eines Paares bergen, das, wie er glaubt, Selbstmord begangen hat, ist der Bus leer. Ding, ganz kleinlaut geworden, kann einfach nicht glauben, dass das Paar, ohne ihm Bescheid zu sagen, abgehauen ist. Das seien bestimmt Geister gewesen, sucht er nach einer möglichen Erklärung. »Shifu, du bist wirklich komisch«, entgegnet Xiaohu. Einerseits findet er die Situation komisch, andererseits blickt er auch voller Mitleid auf den Meister in seiner Verwirrung und moralischen Aufrichtigkeit. Genau hier liegt die Bedeutung des Wortes youmo. Wie Untersuchungen zum chinesischen Humor belegen, ist die Bedeutung des Wortes youmo schwer festzulegen, selbst wenn es vom englischen Wort ›humor‹ abgeleitet ist. Howard Goldblatt, der ameri-

14 Siehe Susan Purdie: Comedy: The Mastery of Discourse, Toronto 1993, S. 151. 15 Mo Yan: Shifu, You’ll Do Anything for a Laugh, S. 29.

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kanische Übersetzer der Erzählung, übersetzt Xiaohus Bemerkung dementsprechend mit: »Shifu, you’ll do anything for a laugh«. Und damit umschifft er das knifflige Problem, das Wort youmo ins Englische zu übersetzen. Xiaohus Verwendung des Wortes ist nicht gleichzusetzen mit dem englischen Wort ›humor‹, zumindest nicht im Sinne lauten Lachens. Anscheinend ist Komisch-Sein und andere zum Lachen zu bringen, der einzige Weg für Ding, sich gegenüber dieser neuen Gesellschaft zu verhalten, die sich von ihm abgewendet hat. Für Ding verkörpert das Liebesnest in dem verlassenen Bus eine zweifache Scham: seine eigene und die der vergnügungssüchtigen Pärchen. Er kommt sich einerseits wie ein Voyeur vor und auf der anderen Seite fürchtet er, sein verbotenes Geschäft könnte die Ursache seiner eigenen Scham aufdecken, nämlich in fortgeschrittenem Alter entlassen worden zu sein. Aus Perspektive des Erzählers und Xiaohus erwächst die Komik in Dings Situation aus der Verschmelzung von persönlichen und öffentlichen Bereichen. Das Buswrack bietet alles, »was Paare für ihr Stelldichein benötigen«,16 aber Ding muss erst lernen, sein Geschäft auch in aller Öffentlichkeit zu betreiben. Denn er glaubt, dass gerade dieser zwielichtige Ort sein eigenes unglückliches Privatleben nach außen kehrt. Der wache Sinn für Komik in den Werken Mo Yans bewirkt, dass sich viele Szenen wie eigenständige Theatersketche lesen. Der Schriftsteller setzt verschiedene komödiantische Mittel ein, um eine Alternativerzählung über China zu schaffen und damit die sonst üblichen literarischen Erzählweisen zu konterkarieren. Ich möchte gern mit Luigi Pirandellos Bild für Humor als Empfindung des Gegenteils schließen: »Der Künstler achtet in der Regel bloß auf den Körper. Der Humorist aber achtet auf den Körper und seinen Schatten, manchmal auch mehr auf den Schatten als auf den Körper. Er schreibt alle scherzhaften Spielereien dieses Schattens auf, wie er sich bald verlängert, bald klein und dick macht, als wolle er dem Körper, der ihn indes gar nicht kontrolliert und sich nicht um ihn kümmert, Grimassen schneiden«.17

16 »[...] everything couples might need for their trysts«, Mo Yan: Shifu, You’ll do Anything for a Laugh, S. 34. 17 Luigi Pirandello: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, hg. v. Michael Rössner, Berlin 1997, Bd. 3: Der Humor, Üb. Johannes Thomas, S. 213.

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Wenn Figuren wie Meister Ding die Schatten sind, dann führen uns ihre scherzhaften Spielereien zur Quelle des Lichts. In den folgenden beiden Kapiteln werden diese Untersuchungen weitergeführt, wobei wir den Bereich der Erzählungen verlassen und in jenen der kulturellen Übersetzungen eintreten.

4. Lin Shu, die Shakespeare Novellen und sein konfuzianisches Menschenbild1

Die vorangegangenen Kapitel widmeten sich dem Humanismus in der modernen chinesischen Literatur. Auf dem Weg zu einem umfassenderen Verständnis, den Humanismus im globalen Kontext betreffend, wenden wir uns im Folgenden den literarischen Übersetzungen zu. Wie wurde der konfuzianische Humanismus von Übersetzern westlicher Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von universellen Moralvorstellungen durchdrungen? Warum wird dieselbe Geschichte von Übersetzern unterschiedlich gelesen? Welche Elemente des konfuzianischen Humanismus flossen in die Übersetzungen ein? Laut Chun-chieh Huang bleibt trotz der zeitlichen und regionalen Verschiedenheit des Konfuzianismus in Ostasien »die Vollkommenheit des Menschen«, die durch eine Harmonie zwischen dem Selbst und den anderen sowie »tiefer historischer Bewusstheit«2 erreicht wird, sein eigentliches Ziel. Chinesische Shakespeare-Übersetzungen, die verschiedene Ebenen kultureller und sprachlicher Unterschiede durchliefen, sollen im Folgenden helfen, diese Fragen zu beantworten. Die zunehmende Präsenz Shakespeares in China und eine neu erwachte Kreativität dank zahlreicher Außenkontakte förderten die Entwicklung von der chinesischen Fixierung auf die Berühmtheit des Au-

1

Dieses Kapitel basiert auf einem Teil von Kapitel 3 meines englischen Buches Chinese Shakespeares, New York 2009.

2

Chun-chieh Huang: Humanism in East Asian Confucian Contexts, Bielefeld 2010, S. 12f.

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tors Shakespeare hin zu einem komplexeren idealistischen Verständnis. Shakespeare und China waren zunächst als Alibi und Vorwand für ästhetische Experimente verwendet worden. Im frühen 20. Jahrhundert spielte Shakespeare mit seinen Stücken dann eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der literarischen Kultur in China. Verschiedene Versuche von Neuschöpfungen Shakespeare’scher Werke, eher als Essays oder Bücher über sie, wurden zum Vermittler zwischen chinesischen und englischen Texten. Die Produktion und Rezeption der Darstellungen von Shakespeare und China war außerdem von ethischen Gesichtspunkten geprägt. Es galt, eine Literatur, die auf ethischen Werten beruht, zu schaffen und man glaubte, diese könne ein ethisches Bewusstsein im Leser entwickeln. Der ethische Diskurs bei der Aneignung ausländischen Kulturgutes ist in verschiedenen Ausformungen bis heute im Gange. Um zu demonstrieren, wie in Zeiten nationaler Krisen Shakespeare an China angepasst wurde, werfe ich einen Blick auf die Moralkritik während des Übertragens der Shakespeare Novellen (Tales from Shakespeare) von Charles und Mary Lamb in klassische chinesische Prosa.3 Sie wurden von Lin Shu, der selbst kein Englisch konnte, und seinem Mitarbeiter Wei Yi übersetzt. Das Kapitel untersucht die zahlreichen ästhetischen, ethischen und politischen Überschneidungen von Shakespeare mit der modernen chinesischen Literatur.

D IE G ESCHICHTE

DER

S HAKESPEARE N OVELLEN

In einer anonymen Übersetzung von Lambs Shakespeare Novellen, die 1903 unter dem Titel Xiewai qitan (Merkwürdige Geschichten aus Übersee) erschien, äußerte sich der Übersetzer zu der eigenartigen, wenngleich ereignisreichen Rezeptionsgeschichte Shakespeares in China »ohne Shakespeare«. Er rechtfertigte das Erscheinen seiner chinesischen Version mit dem Verweis auf Shakespeare-Stücke in anderen Sprachen:

3

Charles Lamb (1792–1825) war ein respektierter viktorianischer Essayist und Shakespeare-Kritiker. Zusammen mit seiner Schwester Mary (1764– 1847) adaptierte er Shakespeares Theaterstücke in Prosaerzählungen, in der Absicht, Kinder und Frauen, die sonst keine Gelegenheit dazu hatten, mit Shakespeares Geist und Sprache vertraut zu machen.

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»Shakespeares Werke liegen auf Französisch, Deutsch, Russisch und Italienisch vor. Chinesische Intellektuelle preisen Shakespeare ohne ihn überhaupt gelesen zu haben. Meine Hoffnung liegt darin, dass meine Übersetzung diese unglückselige Situation beseitigt und zugleich die Welt der Literatur bereichert«.4

Etwas anderes war die Übersetzung des Lamb-Textes ins klassische Chinesisch von Lin Shu und Wei Yi, die 1904 unter dem Titel Yingguo shiren yinbian yanyu (Ein englischer Dichter erzählt von der Ferne)5 erschien. Ähnlich Bertolt Brecht, der zu Zeiten ideologischer Auseinandersetzungen Shakespeare politisierte, adaptierte Lin Shu die Texte der Lambs im Prozess des ›Übersetzens‹. In den meisten Fällen fanden die Stücke Shakespeares durch Aufführungen und Übersetzungen ihren Weg in andere Kulturen. Viele Leser in Ostasien jedoch begegneten Shakespeare zuerst durch die Lamb-Texte. Verschiedene Übersetzungen der Shakespeare Novellen haben Aufführungen und Verständnis Shakespeares in China und Japan geprägt. Die ersten Aufführungen auf Japanisch (1885) und Chinesisch (1903) zeigten den »Kaufmann von Venedig« auf diesen Übersetzungen basierend. Zwischen 1877 und 1928 wurden die Shakespeare Novellen allein in Japan siebenundneunzig Mal übersetzt und herausgegeben. China brachte es zwischen 1903 und 1915 auf über ein Dutzend Ausgaben.6 Die Übersetzung der Lamb-Texte war nicht das erste Projekt von Lin Shu und Wei Yi. Ein paar Jahre zuvor, 1899, war ihre Übersetzung von Alexandre Dumas’ »Die Kameliendame« (Chahua nü) erschienen. Das Buch stellte einen Meilenstein in der chinesischen Übersetzungsliteratur dar. Neben anderen, heutzutage obskuren Werken aus der anglo-europäischen Literaturtradition, bestimmte es die Vorstellungen chinesischer Leser von Europa in den Zeiten um die Republikgründung 1911. Aber die Übersetzung der Shakespeare Novellen war be-

4

Meng Xianqiang: Zhongguo Shaxue jianshi (Kurze Geschichte der chinesischen Shakespeare-Forschung), Changchun 1994, S. 4.

5

Lin Shu und Wei Yi, Yingguo shiren yinbian yanyu [An English Poet Reciting from Afar], Shanghai 1904.

6

Eine der frühesten japanischen Aufführungen trug den Titel The Strange Affair of the Flesh of the Bosom (The Merchant of Venice), Toyoda Minoru: Shakespeare in Japan. An Historical Survey, Tokyo 1940, S. 61.

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sonders beliebt bei den Lesern. Das Interesse war so groß, dass zwischen 1905 und 1935 elf Auflagen in drei verschiedenen Ausgaben erschienen. Seit etwa 1890 widmete Lin Shu den größten Teil seiner literarischen Karriere solchen Übersetzungsprojekten. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihm oft bis in die frühen Morgenstunden lauschte, wenn er die von ihm übertragenen Geschichten vorlas.7 Nach Auffassung der meisten Shakespeare-Forscher war Lin Shus Übersetzung die einzige Shakespeare-Quelle für chinesische Leser, bevor 1921 Tian Hans wörtliche Übersetzung des »Hamlet« erschien.8 Genauere Nachforschungen ergeben das Gegenteil. Neben Ein englischer Dichter erzählt von der Ferne hatte Lin Shu selbst bereits Übertragungen von Shakespeare-Stücken als Fortsetzungsroman oder auch in Einzelausgaben veröffentlicht. Außerdem waren verschiedene andere Fassungen der Stücke Shakespeares zur damaligen Zeit in Umlauf. Die Novellen von Charles und Mary Lamb gab es z.B. in einer englischen Ausgabe mit Vorwort und Anmerkungen auf Chinesisch. Das beliebte Shanghaier Literaturmagazin Erzählungen (Xiaoshuo yuebao) druckte neben den Anzeigen für Lins Arbeiten auch Ankündigungen für die 1910 und 1911 erscheinenden, mit chinesischen Anmerkungen versehenen Ausgaben von Shakespeares »Macbeth« und »Der Kaufmann von Venedig« ab.9 Solch zweisprachige Ausgaben dienten einerseits dem Sprachstudium, spielten darüber hinaus aber eine wichtige Rolle bei der Aneignung englischsprachiger Literatur im frühen 20. Jahrhundert. Eine Anzeige für »Macbeth« mit Anmerkungen von Shen Baoshan, trennt ganz deutlich zwischen den Prosawiedergaben Shake-

7

Seine Mutter starb 1895. Fußnote Lin Shus zu seinem Gedicht, an meinem 17. Geburtstag verfasst; Manuskript in der Bibliothek der Provinz Fujian; Zhang Juncai: Lin Shu pingzhuan (Lin Shu: Eine kritische Biographie), Beijing 2007, S. 61.

8

Tian Han: »Hamungleite (Hamlet)«, in: Shaonian Zhongguo (China Youth) 2.12 (1921).

9

Charles & Mary Lamb: Plot Outlines of Shakespeare's Dramatic Works (Sha shi yuefu benshi) mit Anmerkungen von Kan Tsao-ling, Shanghai 1922. Obwohl die einzige noch existente Ausgabe aus dem Jahr 1922 ist, verweisen Anzeigen in der Xiaoshuo yuebao 1, Nr. 5, November 1910 und 2.1, Januar 1911 darauf, dass das Buch bereits vor Oktober 1910 im Handel war.

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spearescher Stücke und den Texten in Originalsprache.10 Zwar war Lins Englischer Dichter11 trotz allem populär und einflussreich, aber historische Nachforschungen zeigen, dass zu jener Zeit verschiedene, miteinander konkurrierende Ausgaben von Shakespeare verfügbar waren. Das Literaturmagazin Erzählungen war angetreten mit dem Ziel, berühmte Werke zu übersetzen und neue literarische Konzepte vorzustellen. Es erschien im Verlagshaus Commercial Press (Shangwu yinshuguan), was selbst eine treibende Kraft bei der Veröffentlichung von übersetzter, überarbeiteter und originalsprachlicher Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts war.12 Obwohl Lin Shu v.a. als Co-Autor des Englischen Dichters bekannt ist, geht sein Beitrag doch weit darüber hinaus. 1916 fuhr er damit fort, weitere Shakespeare-Stücke, die nicht in der Ausgabe von 1904 enthalten waren ›zu übersetzen‹. Sein Mitarbeiter Chen Jialin übertrug – wie Wei Yi vor ihm – die Stücke mündlich ins Chinesische. Unter transliterarisierten Titeln, wie »Leichade ji« (Richard II.) erschienen dieser sowie »Henry IV.« und »Julius Cäsar« im Literaturmagazin Erzählungen. »Henry VI.« kam als Einzelband bei Commercial Press heraus. Diese späteren Werke benennen ganz deutlich William Shakespeare als Autor. Es ist aber nicht klar, ob ihnen eine bestimmte Shakespeare-Ausgabe zugrunde liegt. Lins Wechsel von den Tragödien und Komödien Shakespeares hin zu den Historien ist nicht uninteressant. Seit der neuen Politik von Erzählungen, wonach Geschichten über Geister und Dämonen (shenguai) abgewiesen wurden, stattdessen aber Erzählungen zur Nationalgeschichte unterstützt wurden, wendete sich Lin Shu den Historiendramen Shakespeares zu.13

10 Xiaoshuo yuebao 1.5, November 1910. 11 Lin Shu und Wei Yi: Yingguo shiren yinbian yanyu [An English Poet Reciting from Afar], Shanghai 1904. 12 Editorial zur ersten Ausgabe, Xiaoshuo yuebao 1.1 (1910). Der Fokus der Zeitschrift veränderte sich im Lauf der Zeit. Von August 1910 bis Oktober 1919 war Wang Yunzhang Chefredakteur, er wurde von Shen Yanbing (Mao Dun) abgelöst. 13 Xiaoshuo yuebao 7.3 (1916) und 8.2 (1917). Die Richtlinien zur Veröffentlichung literarischer Werke variierten in verschiedenen Phasen der Zeitschrift. Lin Shu wollte die Veröffentlichung in einem angesehenen Magazin und mit angemessener Bezahlung nicht missen. Für genauere Angaben zu seiner Bezahlung, siehe: Michael Hill: Lin Shu, Inc.: Translation, Print

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Seine Shakespeare-Übertragungen waren eine tragende Säule in der wachsenden Publikationsliste der Commercial Press, wie ganzseitige Anzeigen bewiesen. Das Literaturmagazin Erzählungen vom Juni 1916, in welchem die 2. Folge von Lins »Julius Cäsar «erschien, veröffentlichte auch eine Photostrecke anlässlich des 300. Todestages von Shakespeare. Darin findet sich u.a. das heute als Flower-Portrait bekannte Bildnis Shakespeares. Mit einem anonymen Übersetzer arbeitete Lin Shu an »Henry V.« Das Stück erschien 1925 in der Zeitschrift Welt der Geschichten (Xiaoshuo shijie). Die Veröffentlichungen im Literaturmagazin Erzählungen waren insofern von Bedeutung, als es zwar das am längsten erscheinende (1910–1931) und zu damaliger Zeit einflussreichste Literaturmagazin der Commercial Press war. Sein Ruf als Zeitschrift für Trivialliteratur war allerdings weit verbreitet, so dass die Arbeiten Lin Shus und seiner Mitstreiter wenig Beachtung fanden.14 In diesem Zusammenhang sollten zwei Dinge, literarische Übersetzungen betreffend, erwähnt werden: Lin Shu war alleinverantwortlich für die Übersetzung der Novellen in klassisches Chinesisch, auch wenn er mit Wei Yi zusammenarbeitete, der den englischen Text in die chinesische Umgangssprache übersetzte. Diese Übersetzungsmethode wurde auch bei Übersetzungen technischer und religiöser Texte angewandt. Und wie diese fielen literarische Übersetzungen oft nicht in den Bereich der Belletristik.15 Als Prosa-Stilist war Lin Shu besonders geeignet, die Ergebnisse der übersetzerischen Zusammenarbeit in klassisches Chinesisch zu überführen. In ihrer Bemühung, die verschiedenen kulturellen Perspektiven einerseits deutlich zu machen und andererseits das Werk zu assimilieren, verglichen sie die Novellen immer wieder mit traditionellen chinesischen Erzählungen, wobei sie Ähnlichkeiten betonten und andere Stellen umschrieben.

Culture, and the Making of an Icon in Modern China, PhD dissertation, Columbia University 2008, S. 188. 14 Die Zeitschrift war eng verbunden mit der ›Mandarinenten- und Schmetterlingsliteratur‹ (Yuanyang hujie pai) der damaligen Zeit. Denise Gimpel arbeitete die Kontroverse über den Platz des Magazins in der chinesischen Literaturgeschichte in ihrem Buch Lost Voices of Modernity: A Chinese Popular Fiction Magazine in Context, Honolulu 2004, S. 3f., heraus. 15 Vergl. Jing M. Wang: When »I« Was Born: Woman’s Autobiography in Modern China, Madison 2008, S. 45.

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Die Sammlung von zwanzig Shakespeare-Stücken nach Charles und Mary Lamb war auch eine Erfolgsgeschichte für das Theater, obwohl ihre Aufführung gar nicht eigentliches Ziel des Buches war. 1904 führte die Nationale Erneuerungsgesellschaft (Xinmin she) »Das Fleischpfand« (Rou quan) auf, eine Adaption des »Kaufmann von Venedig«. Laut Zheng Zhengqiu, dem Regisseur der Aufführung, war das die erste professionelle Vorführung eines Shakespeare-Stückes in China.16 Der Kassenerfolg war Ansporn für eine ganze Reihe von Shakespeare-Inszenierungen der Jahre 1914 und 1915. Darunter fanden sich Stücke wie »Othello«, »Hamlet« oder »Der Widerspenstigen Zähmung«. Lin Shus Interpretationen der Stücke waren offensichtlich auch bei Theatermachern sehr beliebt, denn alle Aufführungen beruhten auf seinen Vorlagen. Für die Popularität gab es zwei Gründe: Zum einen liefen die Shakespeare-Geschichten von Lin Shu und Wei Yi unter Geister- und Dämonen-Erzählungen (shengguai xiaoshuo). Das war ein zu damaliger Zeit sehr beliebtes Genre der traditionellen chinesischen Erzählung. Zum zweiten garantierte der gute Ruf Lin Shus die erfolgreiche Vermarktung der Texte. Eine ganzseitige Anzeige im Literaturmagazin Erzählungen listet fünfzig von Lin ›übersetzte‹ Titel auf.17 Er war der wichtigste Übersetzer ausländischer Literatur. Neben Shakespeare übertrug er weitere 180 japanische, deutsche, französische, spanische und englische Dramen und Romane ins klassische Chinesisch. Betrachtet man den streng ethischen Aspekt unter dem Shakespeare in China anfänglich vermarktet wurde, fragt man sich, warum die Übersetzungen Bedeutungen enthalten oder zulassen, die fern von den Originalvorlagen liegen. Warum sind Übersetzungen häufig sinngemäße Erweiterungen der Originalvorlagen? Walter Benjamin und Jacques Derrida widmeten sich in ihren Überlegungen zur Übersetzung diesen Fragen. Sie sprechen von der Übersetzung als einem »Fortleben« oder einem integralen Bestandteil des Originals. Durch ihre Theorie wurde jegliches Schreiben vielsprachig.18 Dass ein Übersetzer das Original vermittelt, ist wenig verwunderlich, wenn doch, wie

16 Zheng Zhengqiu: Xinju kaozheng bai chu (Textkritik an 100 neuen Dramen), Shanghai 1919, S. 1–29. 17 Xiaoshuo yuebao 7.5 (1916). 18 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers« (1923), in: Gesammelte Schriften, Band IV-1, Frankfurt a.M. 1972, S. 9–21.

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Derrida nahelegt, alle Texte Übersetzungen oder Übersetzungen von Übersetzungen sind.19 Wenn ein Übersetzer keine Fremdsprache spricht und trotzdem vorgibt ausländische Texte zu ›übersetzen‹, hat die sinngemäße oder symbolisierende Interpretation eine andere Grundlage. Diese ›Übersetzer‹ übersetzen einen unsichtbaren Text mithilfe ihrer Mitarbeiter und ihrer Vorstellungskraft. Es ist ein Paradox, dass ein angesehener ›Übersetzer‹ wie Lin Shu keiner einzigen Fremdsprache mächtig war. Lin Shus Arbeiten waren nicht nur von den historischen Umständen geprägt, sondern auch von den Bedingungen einer in Teamwork vermittelten Übersetzung. Der Fall Lin Shu ist jedoch nicht einzigartig in der Literaturgeschichte. Es gab auch im Westen einige Schriftsteller, die Texte von Originalen, die keine waren, ›übersetzten‹, etwa Ezra Pound, Bertolt Brecht, Judith Gautier, Victor Segalen sowie William Carlos Williams und David Rafael Wang. Der Übersetzungsprozess dabei lief ähnlich ab wie der von Lin Shu. Normalerweise arbeiteten sie mit jemandem zusammen, der die gefragte Sprache beherrschte oder sie konsultierten Materialien, in einer Drittsprache, die sie selbst konnten. Es galt, die Werke sich vorzustellen und neu zu erfinden. Aber was im Falle Lin Shu noch besonders ist: Er hat China nie verlassen. Er wurde in China als ein Vertreter des Kultur-Konservatismus gesehen, im Gegensatz zu einigen Avant-Garde-Dichtern des Westens, die sich ostasiatischer Befindlichkeiten annahmen. Zeitgenossen sahen in ihnen die Schöpfer neuer Traditionen. Ironischerweise passte dieses Engagement für Übersetzungen gar nicht zu Lin Shu. Übersetzungen ausländischer Literatur galten Anfang des 20. Jahrhunderts als eines der wichtigsten Mittel, um die Modernisierung nach westlichem Vorbild voranzutreiben. Genaugenommen war Lin Shu gegen diese. Er war ein traditioneller Gelehrter mit juren-Abschluss20 in chinesischer Philologie und konfuzianischen Tex-

19 Jacques Derrida: Des tours de babel, Paris 1987; engl. v. Joseph F. Graham, in: Difference in Translation, Ithaca 1985, S. 165–238; dt in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997; ders.: »Roundtable on Translation«, engl. v. Peggy Kamuf in: Christie V. McDonald (Hg.): The Ear of the Other: Otobiography, Transference, Translation, New York 1985, S. 91–161. 20 Abschluss in den chinesischen Beamtenprüfungen. Das Prüfungssystem wurde 606 eingeführt und bestand bis 1905.

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ten. Er glaubte fest an die moralische Verantwortung intellektueller Beschäftigung. Er kannte sich in konfuzianischen Klassikern, wie dem Buch der Lieder (shijing) und den Aufzeichnungen über die Riten (liji) gut aus, und besonders interessierte ihn die Cheng-Zhu-Schule des Neokonfuzianismus.21 Die moralisierende Wortwahl Lin Shus in vielen seiner Arbeiten spiegelt seinen eigenwilligen, wenn auch vergeblichen Versuch wieder, konfuzianische Werte zu verbreiten. Lin Shu beherrschte keine Fremdsprache, er besaß auch kein Wissen über fremde Kulturen, doch er empfand das nicht als Mangel. Lin Shu und Wei Yi arbeiteten zusammen, indem Wei Yi die Geschichten mündlich ins Chinesische übersetzte, welche Lin dann ins klassische Chinesisch übertrug. Im Fall von Shakespeares Dramen verwendete er die Form der chuanqi.22 Lin erzählte, dass nachts, wenn die beiden noch gemütlich beisammen saßen, Wei manchmal ein paar Zeilen aus Shakespeares Notizen erwähnte, woraufhin er zum Licht eilte und eine Übersetzung niederschrieb. An dem ganzen Buch arbeiteten sie nur 20 Tage. Im Vorwort bezeichnete Lin Shu das Werk als Sammlung der Erzählungen Shakespeares.23 Und es ist bemerkenswert, dass Lin Shu damit Shakespeare und nicht Lamb als Autor benennt.24 Die Entscheidung von Lin und Wei Shakespeare zu übersetzen, war vielleicht auch nicht ganz zufällig. Sie hatten bereits viele westliche Schriftsteller, bekannte wie unbekannte, übersetzt. Doch ihre Entscheidung, Shakespeare nicht direkt, sondern über den Umweg der Shakespeare Novellen der Lambs zu übersetzen, gibt Anlass zu Speku-

21 Zhang Juncai, a.a.O., S. 40–42. 22 Der Terminus bedeutet Überlieferung von Außergewöhnlichem. »Meist handelt es sich um eine dramatische Liebesgeschichte, die persönliche Schicksale vor dem Hintergrund politischer Machtkämpfe darstellt. Typisch ist dabei eine Art Episoden-Montage-Struktur. Dem Hauptthema werden ein zweites oder weitere Nebenthemen zugeordnet, die Handlungsstränge entwickeln sich parallel und verbinden die lose aneinandergereihten Ereignisse in der Haupthandlung um die zentralen Figuren«. Siehe: Volker Klöpsch, Eva Müller: Lexikon der chinesischen Literatur, München 2004, S. 70. (Anm. d. Üb.) 23 Lin Shu, Wei Yi: »Vorwort zu ›Ein englischer Dichter‹«, in: A Ying (Hg.): Wan Qing wenxue congchao xiaoshuo xiqu yanjiu juan (Kompendium der Literatur der späten Qing-Zeit), Taipei 1989, Bd. 2, S. 208. 24 Ebenda.

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lationen. Möglicherweise spielte die Popularität des Lamb-Textes in England eine Rolle dabei. Auch wenn die Novellen nach einem Shakespeare für Kinder-Projekt aussehen, darf man nicht vergessen, dass Charles Lamb ein respektierter viktorianischer Essayist und Shakespeare-Kritiker war. Coleridge lobt seine »exquisiten ShakespeareBesprechungen« und Hazlitt sieht in Lamb »eine größere Autorität als Johnson oder Schlegel in allen Fragen, die Poesie und Gefühle betreffen«.25 Während der Lamb-Text heute nicht mehr im Mittelpunkt der kritischen Aufmerksamkeit steht, erlangte er einen unbestreitbaren Erfolg als »Klassiker für Kinder«, der sich als Audiokassette, CD oder als illustriertes Buch bis heute großer Beliebtheit erfreut.26 Der Beitrag, den die Lambs mit den Shakespeare Novellen leisteten, fand auch Ende des 20. Jahrhunderts akademische Anerkennung. Charles Marowitz schreibt beispielsweise über ihr Übertragen von Shakespeares Stücken in einfache, unmissverständliche Erzählungen: »Es ist eine Meisterleistung, wenn du nicht weiter darüber nachdenkst: eine endgültige Version all dessen, wovon das Stück handelt. Ich kenne nur wenige Kritiker, die zu solcher Knappheit fähig sind. Aber mal abgesehen davon, ist es auch höchst suspekt, denn die Geschichten der Stücke müssen ja nicht die Märchen sein, die die Lambs in ihnen sahen«.27

Charles und Mary Lamb arbeiteten die Shakespeare-Stücke in Prosaerzählungen für Kinder und Frauen, die sonst nicht die Gelegenheit hätten, den Esprit und die Sprache Shakespeares kennen zu lernen, um. »Es war uns ein großes Anliegen, auch für junge Frauen zu schreiben. Denn Jungs ist es im Allgemeinen viel früher als Mädchen gestattet, die Bibliotheken ihrer Väter zu benutzen. Oft kennen sie die besten Szenen Shakespeares bereits auswendig, bevor ihre Schwestern überhaupt einen Blick in jene Bücher werfen dürfen«.28

25 Joan Coldwell (Hg.): Charles Lamb on Shakespeare, Gerrards Cross 1978, S. 11. 26 Einige der neueren Ausgaben erschienen bei Puffin (1994), Wordsworth Editions (1999), Echo Library (2006) und Penguin (2007). 27 Charles Marowitz: »Shakespeare Recycled«, in: Shakespeare Quarterly 28.4 (Winter 1987), S. 475. 28 Charles & Mary Lamb: Tales from Shakespeare, London 1963, S. vi.

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Es überrascht nicht, dass die Shakespeare Novellen stark von den viktorianischen Moralvorstellungen geprägt sind. Anlässlich seines Besuchs einer Theateraufführung des »Hamlet« schreibt Charles Lamb, dass dieses Stück voll von Maximen und Lebensbetrachtungen stecke, und er es deshalb als ein nützliches Mittel moralischer Erziehung betrachte.29 Die verbreitete viktorianische Haltung gegenüber Shakespeare dürfte auch die Zeitgenossen von Lin Shu beeinflusst haben, etwa westliche Missionare oder chinesische Intellektuelle, die Kontakt zu ihnen hatten und deren Berichte wiederum in Lin Shus Übertragungen einflossen. 1897 trat Calvin Brown für die Aufnahme Shakespeares in den schulischen Lehrplan ein. Er meinte, dass Shakespeare eine große Herausforderung für so manchen Schüler sein könne und betonte daher die Nützlichkeit der Shakespeare Novellen. In den Modern Language Notes schrieb er: »Shakespeare sollte lediglich gelesen werden und dann auch nur Stücke wie Der Kaufmann von Venedig oder Wie es euch gefällt, aber nicht die heftigen Tragödien. In diesem Zusammenhang könnten die Shakespeare Novellen von Charles und Mary Lamb durchaus von Nutzen sein«.30

Die Lambs gaben zu, dass ihr Text nach moralischen Prinzipien überarbeitet war, aber sie betonten, dass Shakespeares Worte, wenn immer es möglich war, benutzt worden seien.31 Tatsächlich wurden viele der bekannteren Sätze und Passagen Shakespeares in der Prosabearbeitung beibehalten. Folgende Passage zeigt, wie die Lambs »Hamlet« in ihrer moralistischen Art vorstellen: »[Der junge Prinz hielt] das Andenken seines verstorbenen Vaters nahezu abgöttisch in Ehren [...]. Da er selber ungeheuer zartfühlend war und besonderes Gewicht auf Wohlanständigkeit legte, so nahm er sich das unwürdige Betragen seiner Mutter Gertrud tief zu Herzen, so sehr, dass der junge Prinz aus Kummer über seines Vaters Tod und aus Scham über seiner Mutter Heirat von tiefer

29 Coldwell: Charles Lamb on Shakespeare, S. v. 30 Calvin S. Brown: »Requirements for Admission in English«, in: Modern Language Notes 12.1 (Januar 1897), S. 32. Brown war Dozent an der Vanderbilt-Universität. 31 Charles & Mary Lamb: Tales from Shakespeare, S. v.

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Schwermut befallen wurde und alle seine Heiterkeit und sein blühendes Aussehen verlor«.32

Die Unterschiede zwischen den Texten der Lambs und Lin Shus führen zu der Frage: Was hat Lin Shu von den Lambs übernommen? Was hat er geändert und warum? Lin Shu profitierte ganz klar von der viktorianischen Ethik und betonte noch das Shakespearsche Potenzial zur moralischen Erziehung. Er unternahm aber auch deutliche Änderungen am Lamb-Text für seine eigenen Zwecke. Er gab jedem Stück einen Titel, der aus zwei Schriftzeichen bestand, wobei er auf Klang und Bedeutung der Worte achtete. Das entsprach dem chuanqi-Stil. Es gab vier Formen der Titelvergabe: 1. Name des Protagonisten, 2. Protagonist oder Hauptgegenstand der Handlung oder Beruf des Protagonisten plus Handlungselement, 3. Name des Protagonisten plus Handlungselement plus ji (Geschichte), 4. Handlungselement plus ji.33 Lin übernahm die zweite Form bei seiner Suche nach neuen Titeln für die Shakespeare-Stücke. Die Titel sowie die Reihenfolge der Stücke sind anders als in der Lamb-Version. Die Lambs beginnen mit dem »Sturm«, während Lins erstes Stück »Der Kaufmann von Venedig« ist. Seine neuen Titel betonen die Hauptthemen eines jeden Stückes.34 »Der Kaufmann von Venedig« »Das Fleischpfand (Rou quan)« »Der Widerspenstigen Zähmung« »Der Widerspenstigen Zähmung« (Xun han)

32 Shakespeare für jedermann: Seine großen Dramen. Erzählt von Charles und Mary Lamb, Frankfurt am Main 2004, S. 265. 33 Sun Chongtao: Nanxi longcong (Über Dramen südlichen Stils), Beijing 2001, S. 127. 34 Chen Duo, Ye Changhai (Hg.): Zhongguo lidai julun xuanzhu (Ausgewählte Positionen zum chinesischen Theater), Changsha 1987, S. 457f.; englische Ausgabe hg. u. üb. von Faye Chunfang Fei: Chinese Theories of Theatre and Performance from Confucius to the Present, Ann Arbor 1999, S. 116.

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»Die Komödie der Irrungen« »Romeo und Julia« »Timon von Athen«

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»Zwillingsfehler« (Luan wu) »Die Macht der Gefühle« (Zhu qing) »Feinde und Gold« (Chou jin)

Die Hauptthemen, die Lin im Vorwort erwähnte, entstammten seiner moralistischen Interpretation der Texte. Ähnlich einer frühen Begegnung Japans mit Shakespeare, als Samuel Smiles Self Help; with Illustrations of Characters and Conduct (1859) unter dem Titel Erfolgreiche Lebensgeschichten des Westens (1871) erschien, übernahmen Lin und Wei es selbst, ihre Leserschaft zu informieren und zu erziehen.35 Lins Wahl der Titel legt seine Orientierung an der Novelle mit ihrem Augenmerk auf das Fremde und Unerwartete nahe. Er nahm noch weitere Änderungen des Lamb-Textes vor, mit der Absicht, Shakespeare gegen jene seiner Zeitgenossen zu benutzen, die für eine vollständige Verwestlichung eintraten. Inhaltlich und stilistisch setzte Lin Shu auf Sensation und moralische Prinzipien. Charles und Mary Lamb hatten Shakespeare aus bekannten Gründen Elemente des Märchens hinzugefügt. Lins Text aber richtete sich nicht an Kinder. Er ließ Verweise auf das Christentum weg und betonte stattdessen Beschreibungen des Aussehens und Auftretens der Figuren. Er strich aber nicht die Lambschen Darstellungen von Ausländern und übernahm ihre Voreingenommenheit gegenüber anderen Ethnien. Das verdeutlicht folgende Gegenüberstellung einer Textstelle aus dem »Kaufmann von Venedig«. Bei Lin Shu heißt es: »Xieluoke ist ein dickbäuchiger jüdischer Händler. Er verlieh Geld und verdiente an den Zinsen. Er hatte Säcke voller Gold, und doch trieb er das Verlie-

35 Smiles präsentierte Shakespeare hier als einen lobenswerten SelfmadeMan, der, bescheidenen Verhältnissen entstammend, zum erfolgreichen Star der Theaterwelt wurde. Die japanische Übersetzung wurde als Buch über westliche Moral genommen. Samuel Smiles: Self-Help: With Illustrations of Character and Conduct, London 1859; jap. v. Nakamura Masanao: Saikoku Risshihen (Erfolgreiche Lebensgeschichten aus dem Westen), Tokyo 1871; Yasunari Takahashi: »Hamlet and the Anxiety of Modern Japan«, in: Shakespeare Survey 48 (1995), S. 99.

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hene mit großer Härte wieder ein. Er war nie nachsichtig. Und deshalb hasste ihn jedermann. Einer seiner Feinde hieß Antonio, er kam aus Rom«.36

Charles und Mary Lamb schreiben: »Einst lebte zu Venedig Shylock, der Jude. Er war ein Wucherer, der ein ungeheures Vermögen dadurch aufgehäuft hatte, dass er christlichen Kaufleuten zu hohen Zinsen Geld lieh. Shylock war ein hartherziger Mann und trieb die Rückzahlung des Geldes, das er auslieh, mit solcher Unerbittlichkeit ein, dass alle anständigen Menschen und besonders Antonio ihn höchst verabscheuten«.37

Die Lambs zeigten, als sie Shakespeare für viktorianische Wohnzimmer bereinigten, nur wenig Sympathie für Shylock.38 Shylocks Darstellung der Ereignisse, wie Shakespeare sie zeigt, wird weggelassen. Als Portia den Gerichtssaal betritt, erkennt sie sofort den »gnadenlosen Juden«. Ihre Frage: »Wer ist der Kaufmann hier, und wer der Jude?« (4.1) wird ganz beiseitegelassen, obwohl sie weder von der Grammatik noch von der Bedeutung her eine Schwierigkeit für das Zielpublikum der Lambs dargestellt hätte. Lins Text fügt den Bildern visuelle Details der Ereignisse und Figuren gemäß den chuanqi-Konventionen hinzu. Weitere Änderungen Lins werden besonders in seiner »Hamlet«Adaption »Die Beschwörung des Geistes« (Gui zhao) deutlich, die er in einen konfuzianischen Kontext bettete. Sein »Hamlet« beginnt mit einer Beschreibung der Mitglieder der Königsfamilie und macht aus dem Stück eine Familien-Tragödie, bei der eheliche Treue und Kindespietät stärker als die nationale Politik betont werden. Aus Claudius wird Kelaudiu, was die phonetische, aber etwas abwertende Übertragung des Namens ist, denn lao bedeutet alt und diu – verloren. Unter den vielen gleichklingenden Schriftzeichen, die er zur Übertragung hätte benutzen können, entschied sich Lin bewusst für diese. Ähnlich

36 Lin Shu, Wei Yi: Yingguo shiren yinbian yanyu (Ein englischer Dichter erzählt von der Ferne), Shanghai 1904, S. 1. 37 Shakespeare für jedermann, a.a.O., S. 107. 38 James Andreas: »Canning the Classic: Race and Ethnicity in the Lamb's ›Tales from Shakespeare‹«, in: Naomi J. Miller (Hg.): Reimaging Shakespeare for Children and Young Adults, New York 2003, S. 98–106.

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ist es bei Gertrude. Ihr Name wird zu Jiedelu, mit dem Schriftzeichen de für Tugend. Bei Lin ist Hamlet »im ganzen Reich bekannt für seine Kindespietät«. Der Prinz ist weder ehrgeizig, noch hängt er an der Krone.39 Und Lin fügt hinzu, dass die Sohnespflichten im Charakter des Prinzen so ausgeprägt seien, dass er das ganze Jahr hindurch schwarz trage, aus Trauer um seinen Vater.40 Im Gegensatz dazu ist Lambs Hamlet von tiefer Schwermut befallen, wegen der eiligen Heirat seiner Mutter, die er als schlimmer als den Verlust von zehn Königreichen empfindet. Bei den Lambs heißt es: »Nicht, dass die Aussicht, von dem Thron, seinem rechtmäßigen Erbe, ausgeschlossen zu sein, so sehr auf seinem Gemüt lastete, obgleich dies für einen jungen stolzen Prinzen eine schmerzliche Wunde und eine empfindliche Ungerechtigkeit war. Was ihn vielmehr so grämte und ihm allen Frohsinn raubte, war der Umstand, dass seine Mutter selbst das Andenken seines Vaters so offensichtlich missachtete«.41

Bei Lin Shu wird Ophelia Hamlets Frau, ohne jedoch zu erwähnen, wann und warum sie heiraten.42 Nachdem Hamlet Polonius getötet hat, beweint er dessen Tod, denn er muss Ophelia um Verzeihung bitten, dass er ihren Vater getötet hat.43 Und Ophelia selbst wird als junge Frau aus der Oberschicht gezeigt, die nach konfuzianischen Moralvorstellungen erzogen wurde. Während Ophelia in Lambs Text bei einem Unfall am Bach stirbt, begeht sie bei Lin Shu Selbstmord aus Schmerz über den Tod ihres Vaters. Sie ist hin- und hergerissen zwischen den Pflichten ihrem Vater gegenüber, der von Hamlet getötet wurde, und ihrer Liebe zu ebenjenem. Ophelias Wahnsinn wird bei Lin weniger betont als bei den Lambs oder anderen Hamlet-Interpretationen des 20. Jahrhunderts. Noch einmal möchte ich zwei Textstellen zitieren, um daran Lin Shus moralistische Lesart zu zeigen. Bei Lin Shu heißt es:

39 Lin Shu, Wei Yi: a.a.O., S. 63f. 40 Ebenda, S. 63. 41 Shakespeare für jedermann, a.a.O., S. 265f. 42 Lin Shu, Wei Yi: a.a.O., S. 67. 43 Ebenda, S. 67.

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»Als Hamlet [aus England] zurückkehrte, traf er auf den Leichenzug seiner Frau Ophelia. Sie hatte sich das Leben aus Kummer über den Tod ihres Vaters genommen. Als sie vernahm, dass der Vater von ihrem Ehemann getötet war, der seinen Verstand verloren hatte, wurde sie ohnmächtig. Seither singt sie den ganzen Tag und kämmt sich nicht mehr. Eines Tages, als sie zu einer Weide an einem Bach kam, pflückte sie Blumen und stieg hinauf, sie an einen Ast zu hängen. Sie sagte, sie wolle die Weide schmücken. Plötzlich brach der Ast und sie starb [im Wasser]«.44

Charles und Mary Lamb schreiben: »Es war das Begräbnis der schönen jungen Ophelia, [Hamlets] früheren teuren Geliebten. [...] Ein Weidenbaum neigte sich über einen Bach und zeigte im klaren Strom sein graues Laub. Dorthin ging sie eines Tages, da sie unbewacht war, mit Kränzen, die sie sich aus Gänseblumen und Nesseln gewunden hatte [...] und als sie auf die Weide kletterte, um ihren Kranz an den Zweigen aufzuhängen, brach ein Zweig und das schöne junge Mädchen und der Kranz und alles, was sie gesammelt hatte, fiel ins Wasser. Ihre Kleider hielten sie eine Zeitlang über Wasser, und sie sang alte Weisen, als ob sie nicht die eigne Not begriffe oder ein für das Element geborenes Geschöpf sei. Aber es dauerte nicht lange, bis ihre Kleider, von dem Wasser schwer, sie von ihrem lieblichen Gesang fort in einen schlammigen, jämmerlichen Tod zogen«. 45

Lins moralistische Interpretation war geprägt von den familiären Beziehungen, die er erfunden hatte, die ethische Fragen aufwerfen, die Lambs Text nicht stellt. Ophelias Tod wird nur in einer kurzen Passage gegen Ende von Lin Shus Text erwähnt. Charles und Mary Lamb hingegen liefern eine detaillierte Beschreibung der letzten Momente des Lebens von Ophelia. Lin Shu interessiert sich mehr dafür, was sie in den Selbstmord trieb und für ihre Zerrissenheit zwischen ihrem Ehemann und ihrem Vater. Lin Shu kann als konfuzianischer Universalist angesehen werden, dessen moralischer Diskurs hier weitreichende soziale und politische Folgen hat, die über eine bloße Übersetzung hinausgehen.46

44 Lin Shu, Wei Yi: »Gui zhao (Die Beschwörung des Geistes)«, in: A Ying, a.a.O., Bd. 2, S. 77. 45 Shakespeare für jedermann, a.a.O., S. 280f. 46 Mein Dank für diese Anregung gilt Haiyan Lee.

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Als anerkannter Übersetzer blieb Lin Shu Traditionalist, der an die Werte der chinesischen Literatur und Kultur glaubte. Die oben angeführten Analysen zeigen ganz deutlich, dass kulturelle Zugehörigkeit Priorität in Lins Shakespeare-Übertragung hatte. Seine Erzählungen im chuanqi-Stil bringen Shakespeare in die Nähe von ming- und qingzeitlichen Erzählungen über Liebe und Kindespietät und von exotischen Geistergeschichten. Im Rahmen des traditionellen Konfuzianismus wurden aus den Geschichten für Frauen und Kinder von Charles und Mary Lamb Erzählungen für die vorwiegend männliche chinesische Elite der späten Qing-Zeit und der frühen Republik-Jahre. Im Zusammenhang mit der chinesischen Bewegung zur Selbststärkung entstand der Eindruck, dass Shakespeares Texte sich auf Feen und Geister konzentrierten. Seine Übertragungen nutzte Lin Shu als Strategie gegen jene seiner Zeitgenossen, die für eine totale Verwestlichung plädierten und beeinflusst von Aufklärung und Rationalismus waren. In seinem Vorwort heißt es dazu: »Es wird behauptet, dass die Europäer uns überlegen sind, weil wir altmodisch aussehen, das Alte dem Neuen vorziehen und gern über Geister und Dämonen reden. [...] Einige junge Leute in unserem Land, die Reformer, geben ihr Bestes auf der Suche nach Erneuerung. [...] Wenn die Leute im Westen wirklich zivilisiert wären, müssten sie Shakespeares Werke verbrannt und verbannt haben. Fakt aber ist, dass die intellektuelle Elite so stolz auf Shakespeares Dichtung ist, dass jedermann im Land Shakespeare zu lesen und zu zitieren scheint. [...] Niemand sagt etwas gegen seine antiquierten Gedanken oder ist böse, dass er über Geister und Dämonen spricht«.47

Dazu passt, dass er seine Übertragung der Shakespeare Novellen als Geschichten über Geister und Dämonen klassifiziert. Lin Shu hat Shakespeare nicht etwa übersetzt, um neue Ausdrucksmittel für das moderne chinesische Theater vorzustellen. Er benutzte seine Übertragung in die Formen chinesischer Erzähltraditionen, um die Nähe von Shakespeare und traditionellen Erzählstrukturen Chinas herauszustellen.

47 Lin Shu, Wei Yi: »Vorwort zu ›Ein englischer Dichter‹«, in: A Ying (Hg.): Wan Qing wenxue congchao xiaoshuo xiqu yanjiu juan (Kompendium der Literatur der späten Qing-Zeit), Taipei 1989, Bd. 2, S. 1f.

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Die radikalen Reformer griffen alle Formen der traditionellen Kultur Chinas an, aber Lin Shu wollte ihren Argumenten entgegentreten, indem er einen auf traditionellen chinesischen Idealen basierenden Shakespeare präsentierte. Für die Reformer war Shakespeare das Symbol fortschrittlicher westlicher Kultur. Lin Shu aber zeigte ihnen, dass er die gleichen moralischen Werte vertrat, wie sie im traditionellen China üblich waren. Es gibt kaum Anlass anzunehmen, dass Lin Shu die radikalen Reformer überzeugen konnte. Dafür aber waren seine Übersetzungen bei anderen Künstlern sehr beliebt. Wang Xiaonong (1858–1918) ein berühmter Darsteller der Peking-Oper hatte Lins Shakespeare-Übertragungen gelesen und schrieb zwanzig Gedichte dazu. Dabei verwendete er die Titel Lins für seine Gedichte.48 Cao Yu (1910–1996), einer der Mitbegründer des modernen chinesischen Dramas, war von der Übersetzung Lin Shus und Wei Yis begeistert.49 Und auch Guo Moruo (1892–1978), ein wichtiger Historiker und Dramatiker, war von Lins Übersetzung von Lins Übersetzung angetan und unbewusst geprägt.50 Seine Ode an den Donner (Leidian song) ist von Lins Version des

48 Wang Xiaonong: »Ti ›Yingguo shiren yinbian yanyu‹ ershi shou« (Zwanzig Gedichte zu ›Ein englischer Dichter erzählt von der Ferne‹), in: A Ying, a.a.O., Bd. 2, S. 588–590. 49 Seine Äußerung beweist die Wirkung, die Lin Shus Übersetzung hatte: »Einer meiner Lieblingsdramatiker ist Shakespeare. Meine Verehrung für seine Stücke begann mit der Lektüre von Lin Shus Tales als ich noch Kind war. Sobald ich selbst Englisch lesen konnte, wollte ich unbedingt eines der Stücke im Original lesen, denn die die Phantasiewelten Shakespeares waren durch die Übersetzung Lins Shus noch frisch in meinem Gedächtnis«. Li Ruru: Shashibiya: Staging Shakespeare in China, Hongkong 2003, S. 16. 50 »Die Erzählungen, die Lin Shu übersetzt hatte, waren sehr beliebt. Besonders angetan und wohl auch unbewusst beeinflusst war ich von Yinbian yanyu. Ich habe den Sturm, Hamlet, Romeo und Julia u.a. Stücke im Original gelesen. Aber sie kamen nicht an die märchenhaften Erzählungen von Lin heran«. Guo Moruo: »Wo de tongnian« (Meine Kindheit), in: Moruo wenji (Gesammelte Schriften von Moruo), Bd. 6, Beijing 1958, S. 114.

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»König Lear« beeinflusst.51 Lins Texte wurden nicht nur gelesen, sondern auch aufgeführt, wobei sie großen Anklang beim Publikum fanden. Fu Sinians (1896–1950) Reaktion auf die Aufführung des »Kaufmanns von Venedig« 1918 möge als Beispiel für die Shakespeare-Rezeption jener Zeit gelten. Wie bereits Lin betont auch Fu den moralischen Wert des Dramas, den es in traditionellen chinesischen Dramen nicht gäbe: »Aus den Zeilen vom ›Fische ködern‹ spricht so sehr die Sicht, dass alle Menschen von Geburt an gleich sind, dass das bereits einem Gesellschaftsvertrag vor Rousseau gleichkommt. In unseren klassischen Dramen und in der PekingOper finden wir nichts Vergleichbares«.52

Seine Interpretation jener Textstelle ist deutlich von den Lambs und Lin Shu beeinflusst. An bestimmten Stellen, wie auch dieser, wurden Worte Shakespeares beibehalten, um bestimmte Aspekte besonders hervorzuheben. Lin rechtfertigte seine Arbeit mit dem Blick auf seine Leser. Nicht die ausländischen Texte, die sonst einem chinesischen Publikum unzugänglich wären, bräuchten die Übersetzung, sondern die chinesischen Leser. In der Tat müssen Übertragungen von einer Kultur in eine andere mit anderen Augen angesehen werden, um die Besonderheit der Shakespeare-Rezeption in China zu verstehen. Abgesehen von einigen historischen Bezügen ist die Übertragung der Novellen von Lin Shu bis heute aktuell. 2001 startete ein neues Projekt, um die Stücke Shakespeares auf den Spuren von Charles und Mary Lamb sowie Lin Shu in Prosaerzählungen zu übertragen. Im Vorwort dazu wurde der Arbeit Lin Shus gebührende Anerkennung gezollt. Aber – so hieß es – die Leser im 21. Jahrhundert brauchen eine Neuübersetzung, diesmal in modernem Chinesisch (baihua) geschrieben. Andere folgten diesem Beispiel.53 Auch in Taiwan hält man Lin Shus Erbe wach. Zahlreiche Ausgaben von unterschiedlichen Überset-

51 Tu Sheng, Xi Ning, Wu Zhuan: Shashibiya xiju gushi quanji (Shakespeare: Geschichten fürs Theater), Bd. 1, Beijing 2001, S. 22. 52 Fu Sinian: Fu Mengzhen xiansheng ji (Gesammelte Schriften des Herrn Fu Mengzhen), Taipei 1952, Bd. 6, S. 30. 53 »Tales from Shakespeare, Charles and Mary Lamb« ist auch auf den Umschlag von Xiao Qian: Yuedu Shashibiya: yong bu xiemu de bei xi ju (Shakespeare lesen: Ewige Tragödien und Komödien, Tianjin 2004.

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zern in den Folgejahren bewiesen die große Nachfrage nach Lambs Text. In einigen hält sogar die moralistische Sprache Lin Shus und der Lambs wieder Einzug. Die Übersetzung von Liu Hongyan aus dem Jahr 2005 übernahm auch das Vorwort der Lambs und betonte, dass Shakespeares Stücke eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Tugenden spielten. Sie seien hilfreich für den Leser, sich von Eigennutz und Geldgier abzuwenden und ein ehrbares Handeln an den Tag zu legen; Anstand, gute Gesinnung, Großmut und Menschlichkeit zu kultivieren.54 So gesehen ist Lin Shus kreative Übersetzung der Erzählungen der Lambs und Shakespeares ein Beispiel für die kulturübergreifende Durchdringung konfuzianischer und viktorianischer humanistischer Ideale.

54 Liu Hongyan (Üb.): Shashibiya gushi ji (Geschichten Shakespeares), Taichung 2005, S. 5; Charles und Mary Lamb, a.a.O., S. vii; Shakespeare für jedermann, a.a.O., S. 362.

5. Ein humanistischer Übersetzer: Liang Shiqiu und Shakespeares Sonette1

Während Lin Shu in die Shakespeare Novellen von Charles und Mary Lamb seinen konfuzianischen Humanismus einbrachte, hauchte Liang Shiqiu (1903–1987) den Sonetten neues Leben in der chinesischsprachigen Welt ein. Im Zuge seiner Arbeit beschäftigte er sich mit Fragen nach dem menschlichen Wesen und der Humanität, wie sie in der chinesischen und englischen Literatur Ausdruck finden. Liang Shiqiu glaubte an die Fähigkeit der Literatur, humanistische Wertvorstellungen weiterzugeben. Auf den folgenden Seiten will ich einen Blick auf seine Übersetzungstheorie und seine Methoden der Übertragung einiger der faszinierendsten Sonette von Shakespeare werfen. Das erste Sonett aus Shakespeares Zyklus, der gemeinhin als »ethnisch komplex und narrativ unscharf« betrachtet wird, beginnt kühn mit den Worten: »Von schönsten Wesen wünschen wir Vermehrung, damit der Schönheit Ros’ unsterblich sei«.2 Die Konvention, wie sie ein Jahrzehnt zuvor von Sir Philip Sidney und Edmund Spenser aufgestellt wurde, machte idealisierte tugendhafte Frauen zum lyrischen Ge-

1

Dieses Kapitel beruht auf meinem kürzeren Aufsatz auf Englisch in: William Shakespeare's Sonnets, for the First Time Globally Represented, a Quatercentenary 1609-2009, hg. von Manfred Pfister und Jürgen Gutsch, Dozwil 2009. Da dieses Buch eine geringe Verbreitung fand, biete ich zugunsten des deutschen Lesers diese neue Version an.

2

»Sonette«, übersetzt von Gottlob Regis, Berlin 1836, in: Shakespeare: Sämtliche Werke IV, Darmstadt 2005, S. 11.

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genstand. Hier ist sie auf einen jungen Aristokraten übertragen: Er sollte »Mitleid mit der Welt« haben, sich fortpflanzen, auf dass »sein Bild in zarten Erben sich erneu’« und seine Schönheit die Grausamkeit der Zeit überdauere. Liang Shiqiu (1903–1987), ein anerkannter Essayist, Übersetzer, sowie Verfasser eines Lexikons nahm in seiner Übertragung der Sonette ins Chinesische den Gedanken der Fortpflanzung um der Schönheit willen auf. Für ihn stellten die Sonette die beste Lyrik überhaupt dar, der die Zeit nichts anhaben konnte. Er bediente sich gern der Metapher, wenn jemand etwas zu trinken wünsche, dann sollte er nur vom besten Tee oder Wein trinken. Und wenn jemand irgendetwas lesen wolle, dann sollte er nur die Klassiker lesen.3 Seine Vorstellung von einem literarischen Kanon umfasste »das Beste, was in der Welt jemals gesagt und gedacht wurde«, wie es bei Matthew Arnold heißt.4 Liang Shiqiu hatte die Absicht, die geschriebene Umgangssprache durch seine Übersetzung zu bereichern. In der chinesischen Umgangssprache zu schreiben war zur damaligen Zeit etwas ganz Neues. Liang unterstützte das Vorhaben und verfasste einen Essay über die Beziehungen zwischen Shakespeares Sonetten und einer Literatur in Umgangssprache. Dabei zitierte er ein Sonett zum Lob desselben von William Wordsworth, einem Verteidiger der umgangssprachlichen Literatur: Scorn not the Sonnet; Critic, you have frown’d, Mindless of its just honnours; with this key Shakespeare unlock’d his heart; the melody Of this small lute gave ease to Petrarch’s wound.5 Wer Spott nur hat für das Sonett, Kritik, Missbilligung, erinn’re sich, wem unsrer Vorfahrn es so sehr gefiel: Ein Schlüssel war’s, der Shakespeare aufschloss das Gefühl, und diese Laute einst Petrarcas Schmerz gab Linderung.6

3

Liang Shiqiu: Yashe sanwen, 2 Bde., Taipei 1987, Bd. 2, S. 207; From a Cottager’s Sketchbook, Hongkong 2005, 2006.

4

Matthew Arnold: Culture and Anarchy: An Essay in Political and Social

5

Liang Shiqiu: »Tan shisi hang shi« (Über Sonette), in: Pianjian ji

Criticism, London 1869, S. viii. (Vorurteile), Taipei 1964, S. 197.

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Für Liang war das Übersetzen nicht nur ein intellektuelles Abenteuer, sondern eine Form kulturübergreifender Arbeit, die das Leben der Shakespeare-Sonette verlängern würde. Für ihn bestand die Rolle des Übersetzers darin, die beste Lyrik auszuwählen (Shakespeares Sonette) und ihre Schönheit zu reproduzieren. Denn Literatur sei das Produkt weniger Genies und nicht der Massen.7 Als Student wurde Liang Shiqiu insbesondere von den neuhumanistischen Ansichten von Irving Babbitt an der Harvard-Universität beeinflusst. In einem Artikel, der im Juni 1928 in der Literaturzeitschrift Neumond (xinyue) erschien, wandte er sich gegen die damals verbreitete Meinung, dass Literatur klassenabhängig sei: Die menschliche Natur solle das einzige Kriterium zur Bewertung von Literatur sein.8 Als Humanist interessierte Liang die Universalität und künstlerische Funktion von Literatur mehr als ihre politische Aussage. Umberto Ecos Vermutung, eine literarische Übersetzung könne in gewisser Weise ihre Quelle modernisieren, hat mehr mit der Interpretation eines Textes als mit der Kompatibilität zwischen Sprachen zu tun.9 Liang übersetzte die Sonette aus dem 1943 erschienenen Oxford Shakespeare und versah sie mit zahlreichen Anmerkungen. Illustriert war der Band mit Reproduktionen aus der Ausgabe von Charles und Mary Cowden Clarke aus dem 19. Jahrhundert. Einige seiner Anmerkungen waren kritischer oder interpretatorischer Natur. Andere erklärten Worte oder Ausdrücke, deren Bedeutung die Übersetzung nicht genau erfassen konnte. In seiner Anmerkung zum ersten Sonett nimmt Liang die Rolle eines Kommentators ein: »Die Sonette 1 – 17 bilden eine in sich geschlossene Einheit, die sich an einen jungen Mann richtet. Die Sonette drehen sich um die Bitte des Erzählers an den jungen Mann zu heiraten, Nachwuchs zu zeugen und so seine Schönheit zu erhalten. Der Gedanke ist für einen Menschen in mittleren Jahren, der das Leben

6

William Wordsworth übertragen von Dietrich H. Fischer, www. williamwordsworth.de. [09.05.2012]

7

Liang Shiqiu: Yashe sanwen, a.a.O., Bd. 2, S. 204–205.

8

Liang Shiqiu: »Wenxue yu geming (Literatur und Revolution)«, in: Xinyue (Neumond), Juni 1928; Kirk Denton (Hg.): Modern Chinese Literary Thought: Writings on Literature, 1893–1945, Stanford 1996, S. 310.

9

Umberto Eco: Experiences in Translation, Toronto 2001, S. 22.

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ausgekostet hat, nicht unüblich, dass nämlich nur Fortpflanzung die eigene Linie verlängern kann«.10

Liang Shiqiu übergeht hierbei den Fakt, dass sich ein männlicher Erzähler mit der Bitte an einen jungen Mann richtet. Anstatt die Unsterblichkeit der Poesie für sich selbst sprechen zu lassen, sucht er die Bedeutung des Verses rationell zu begründen. In seinen Anmerkungen ergänzt er auch alle Stellen, die vielleicht aus Rücksicht auf den Rhythmus oder in Ermangelung eines besseren Wortes in der Zielsprache, nicht adäquat übersetzt werden konnten. In der Anmerkung zu »conquest«11 in der letzten Zeile des sechsten Sonetts12 erklärt Liang, dass »conquest« nicht unbedingt die gewaltsame Eroberung meine. Dennoch übersetzt er das Wort mit qiangzhan, was im Chinesischen eine gewaltsame Inbesitznahme bezeichnet. Die Anmerkungen sind, im Gegensatz zu anderen Übertragungen ins Chinesische, charakteristisch für die Arbeit Liangs. Liang Shiqiu schuf zarte Erben von Shakespeares Sonetten und brachte sie den taiwanischen Lesern nahe. In der chinesischsprachigen Welt ist er der erste und einzige Dichter, der ganz allein sämtliche Werke Shakespeares ins Chinesische übersetzt hat. Mit seiner Übersetzungsarbeit von 1930 bis 1967 leistete er einen wichtigen Beitrag zur Weltliteratur. Seine wichtige Rolle als Übersetzer wird erst aus der chinesischen Geschichte heraus klarer verständlich. Die ShakespeareRezeption in Taiwan ist auch die Geschichte von Immigration und Kulturförderung auf der Insel. Vor der Südostküste Chinas gelegen, hat die Insel sehr komplexe Beziehungen zum dominanten ›Mutterland‹ jenseits der Meerenge, sowie zu Japan im Norden. Taiwan, von 1624 bis 1661 eine holländische Kolonie, wurde anschließend bis 1683 von Zheng Chenggong, einem Anhänger der Ming-Dynastie, dann 1683 bis 1895 von der kaiserlichen Qing-Dynastie und schließlich 1895 bis 1945 von der japanischen Kolonialverwaltung regiert. Nach der Niederlage im chinesisch-japanischen Krieg überließ China 1895 den Japanern die Insel für 50 Jahre. Als Chiang Kai-shek 1949 den

10 Shashibiya quanji (Shakespeare: Sämtliche Werke in 12 Bänden), übersetzt von Liang Shiqiu, Taipei 1985, S. 182. 11 Ebenda, S. 182. 12 »Be not self-willed, for thou art much too fair / To be death’s conquest, and make worms thine heir«.

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Bürgerkrieg gegen die Armee Mao Zedongs verlor, verlegte er seinen Regierungssitz nach Taipei und proklamierte dort die Regierung der Republik China. Die Hauptsprachen der Insel sind Hochchinesisch, Taiwanisch und Hakka. Liang Shiqiu, 1903 in Beijing geboren, kam 1949 nach Taiwan, nachdem er heftig von linken Schriftstellern wie Lu Xun angegriffen wurde.13 1967 konnte Liang Shiqiu seine Übersetzung sämtlicher Shakespeare-Werke unter den relativ stabilen Gesellschaftsverhältnissen Taiwans abschließen. Auf dem Festland hatte bereits die Kulturrevolution begonnen, die von 1966 bis 1976 dauern sollte. Die erste chinesischsprachige Aufführung von Shakespeare in Taiwan fand im Februar 1949 statt, als das Experimentaltheater Taipei »Clouds of Doubt« (»Othello«) aufführte. Bekannt war er den Einwohnern Taiwans jedoch seit langem durch die Takarazuka Revue, eine japanische Musiktheatergruppe, die ausschließlich aus Frauen bestand. Liang Shiqius Übersetzung von Shakespeare legte nicht nur den Grundstein für weitere Aufführungen, sondern auch für den Beginn der Shakespeare-Forschung. Eine ebenso wichtige Rolle spielte Wang Sheng-shan (1921–2003), der in den siebziger Jahren eine Reihe von Shakespeare-Stücken auf die Bühne brachte. Seit den achtziger Jahren gab es Aufführungen auf Chinesisch, Taiwanisch, Hakka oder einer Kombination dieser Sprachen, sowie in unterschiedlichen Stilen, die von der Taiwan-Oper bis zur Parodie reichten. Einige dieser Inszenierungen errangen auch international Aufmerksamkeit.14 Shakespeares Sonette waren in Taiwan nicht so populär wie seine Tragödien oder Komödien. Trotz Taiwans multikultureller Geschichte und der taiwanischen Übersetzungen und Aufführungen seiner Stücke, sind die Sonette bisher nur auf Chinesisch erschienen. Der Übersetzer räumte ein, dass nur wenige gute Übersetzungen der Sonette existie-

13 Für mehr Informationen zur Kritik an den elitären und bourgeoisen Tendenzen Liang Shiqius wie auch der Neumond-Gesellschaft siehe den Abschnitt: »Crescent Moon Group as Target of Attack« in Lawrence Wangchi Wong: »Lions and Tigers in Groups: The Crescent Moon School in Modern Chinese Literary History«, in: Literary Societies of Republican China, hg. von Kirk A. Denton und Michel Hockx (Lanham, MD: Lexington, 2008), S. 299–305. 14 Alexander C.Y. Huang: Chinese Shakespeares: Two Centuries of Cultural Exchange, New York 2009, S. 195–228.

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ren. Von allen literarischen Genres sei Dichtung wohl am schwersten zu übersetzen, vor allem vom Englischen in eine so ferne Sprache, wie das Chinesische. Gerade weil die Sprache der Dichtung so präzise, voller Anspielungen, subtil und schwer zu fassen sei, sei es fast unmöglich, alle Aspekte der originalen Bedeutung zu übertragen. Man könne sprachliche Andeutungen nicht in explizite Absichtserklärungen übersetzen und man müsse auch den Reim, Rhythmus und die Form des Originals achten.15 Grundlagen der chinesischen Verslehre sind der Wechsel der Töne sowie die Aussprache eines Zeichens. Es ist also eine Herausforderung, beide Systeme in Übereinstimmung zu bringen. Eine wesentliche Entscheidung galt der poetischen Form der Übersetzung. Im Chinesischen sind Sonette unter dem Namen VierzehnZeilen-Gedicht (shisi hang shi) bekannt. Damit gibt der Name bereits einen Hinweis auf die formale Gestaltung und stellt die Form über den Inhalt. Liang entschied sich für die Übersetzung in gereimter Prosa, um das Metrum Shakespeares beizubehalten (abab, cdcd, efef, gg). Andere Übersetzer wie beispielsweise Yu Erchang16 benutzten die Form des Sieben-Wort-Verses (qiyan shi). Während Liang glaubte, es sei genauer die Gedichte in gereimter Prosa mit unterschiedlicher Zeilenlänge wiederzugeben, bestand Yu auf größtmöglicher Originaltreue. Der von Yu verwendete Sieben-Wort-Vers besaß in der chinesischen Literaturtradition ein ähnliches Prestige wie das Sonett in der Renaissance. Seine Übersetzung funktioniert mit vierzehn Zeilen und je sieben Schriftzeichen wie das Shakespearesche Reimschema. Anders als Liang Shiqiu, dem Verständlichkeit und Entwicklung der schriftlichen Umgangssprache am Herzen lagen, bevorzugte Yu Sprache und Anspielungsreichtum des klassischen Chinesisch. Seiner Meinung nach sollte sich die Übersetzung auch wie ein Gedicht lesen und nicht wie die meisten chinesischen Übersetzungen der Sonette lediglich eine Prosa-Interpretation sein, womit man Shakespeare großes Unrecht tue.17 1961 schloss er seine Übersetzung nach der Arden-Ausgabe mit einer zweisprachigen Veröffentlichung ab.

15 Liang: Yashe sanwen 2, S. 200f. 16 Yu Erchang (1903–1984), Spezialist für englische Literatur, übersetzte Shakespeares Sonette. Er lebte ebenfalls ab 1949 in Taiwan und hatte hier großen Einfluss auf die Shakespeare-Forschung. 17 Yu Erchang: Shisi hang shi (Sonette), Taipei 1996, S. 1–5.

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Liang Shiqius Entscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen, hatte mit seinem Engagement für eine Literatur in der Umgangssprache (baihua) und mit seiner Freundschaft zu dem Philosophen Hu Shi zu tun. Er betonte selbst, dass die Übersetzung ohne Unterstützung und Anleitung von Hu Shi nicht möglich gewesen wäre.18 Selbst wenn Hu Shi kein Shakespeare-Experte war, so sei ihm doch die Wichtigkeit seiner Übersetzung bewusst gewesen. Ohne seinen Beistand und seine Förderung hätte Liang Shiqiu den steinigen Weg, Shakespeare zu übersetzen, nicht eingeschlagen.19 Um Liangs Arbeit besser zu verstehen, ist es hilfreich einen Blick auf die Bedingungen literarischer Produktion zu werfen, statt nur eine Textanalyse seiner Übersetzung vorzunehmen. Die Übersetzung wurde von Förderern und Gelehrten aus Taiwan und der VR China unterstützt. Dazu gehörten der Dramatiker Yu Shangyuan, der Philosoph Hu Shi, die Chinesische Stiftung zur Förderung von Kultur und Bildung, sowie das Nationale Büro für Übersetzungen Taiwans. Marjorie Garber, Professorin am Center for Literary and Cultural Studies der Harvard-Universität, hat erst kürzlich herausgearbeitet, dass Künstler und Dichter immer in einem engen Netzwerk von Freunden, Förderern und Geldgebern gearbeitet haben. Einerseits kann dies der Arbeit im Kulturbereich dienlich sein, andererseits aber auch dem Ansehen eines Künstlers schaden.20 Liang Shiqiu und Hu Shi entwickelten eine sehr produktive Beziehung. Liang Shiqiu wurde aufgrund seiner Vorliebe für nichtrevolutionäre Literatur, und seiner klaren Zurückweisung jeglicher Gebrauchsliteratur von den literarischen Zirkeln der Volksrepublik abgelehnt. Die Anfeindungen brachten Liang und Hu einander näher. Gemeinsam mit Hu Shi, Xu Zhimo und Shen Congwen hatte Liang Shiqiu 1923 in Beijing die Neumondgesellschaft (xinyueshe), eine der zahlreichen literarischen Vereinigungen, gegründet. Ihr Name geht auf eine Gedichtsammlung von Rabindranath Tagore zurück. In der Neumondgesellschaft trafen sich deren Mitglieder zu gemeinsamen

18 Qiu Yanming: »Interview mit Liang Shiqiu«, in: Yu Guangzhong (Hg.): Qiu zhi song (Ode an den Herbst), Taipei 1988, S. 396. 19 Liang Shiqiu: »Guanyu Shashibiya de fanyi« (Shakespeare übersetzen), in: Liang Shiqiu, Yu Guangzhong u.a.: Fanyi de yishu (Die Kunst des Übersetzens), Taipei 1970, S. 98. 20 Marjorie Garber: Patronizing the Arts, Princeton 2008, S. 1–41.

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Abendessen, um ihre literarischen, sozialen und politischen Bindungen zu festigen. 1930 lud Hu Shi, der Vorsitzende des Übersetzerkomittees der Stiftung zur Förderung von Kultur und Bildung fünf Dichter und Akademiker ein, um das ambitionierte Projekt einer ShakespeareÜbersetzung anzustoßen. Neben Liang Shiqiu gehörten Wen Yiduo, Xu Zhimo, Ye Gongchao und Chen Tongbao zu den Eingeladenen. Hu Shi hatte bereits Vorstellungen, was den Stil der Übersetzung, aber auch was die Bezahlung der Übersetzer betraf: So sollte zunächst mit Vers und Prosa experimentiert werden, bevor man sich für eine der Übersetzungsformen endgültig entschied. Außerdem sollte für die Übersetzung ausreichend Geld zur Verfügung gestellt werden, da sich eine Ausgabe von sämtlichen Werken Shakespeares garantiert gut verkaufen ließe.21 1931 wurde entschieden, dass für die Übersetzung ausschließlich die geschriebene Umgangssprache verwendet werden sollte, dass Anmerkungen, wo nötig, hinzugefügt und dass alle Eigennamen gemäß der Standardaussprache transliteriert werden. So wird aus Shakespeare im Chinesischen Shashibiya, im Gegensatz zu einer semantischen Übertragung, wo aus Mistress Overdone Gan Guotou würde. Man hatte nicht bedacht, dass anglo-europäische Namen im Chinesischen lang und sperrig werden. Chinesische Namen bestehen normalerweise aus zwei oder drei Silbenzeichen. Da Chinesisch eine monosyllabische Sprache ist, erfordert ein sechssilbiger Name, aus Vor und Nachnamen bestehend, eben auch sechs Schriftzeichen. Hu Shi war in jeder Hinsicht Liangs Förderer und Mäzen. Er beeinflusste Liangs ideologische Positionen, unterstützte ihn finanziell und hob sein soziales Ansehen, indem er ihn in einflussreiche Kreise einführte. Aufgrund andauernder Kämpfe und des ausbrechenden Krieges sollte Liang Shiqiu der einzige von der Fünfergruppe bleiben, der weiterhin an dem Projekt arbeitete. Liang Shiqiu teilte und verinnerlichte die Ansichten Hu Shis über Literaturübersetzungen. Seine Entscheidung, die Übersetzung mit zahlreichen Anmerkungen zu versehen, war ebenfalls direkt von Hu Shi beeinflusst.22 Liang gab einige von Hu Shis Prinzipien in seinem späteren Essay Grundsätze des Übersetzens wieder:

21 Liang: Shakespeare übersetzen, S. 94. 22 Ebenda, S. 110.

E IN

HUMANISTISCHER

Ü BERSETZER: L IANG S HIQIU | 99

»Ein guter Übersetzer sollte verfängliche Ausdrücke und Begriffe in der Zielsprache vermeiden sowie auch eine wortgetreue Übersetzung (yiyi). Bei Anspielungen oder schwierigen Passagen füge er Anmerkungen hinzu. Er sollte immer die Quelle eines Zitates angeben«.23

In seiner Einleitung zu Sämtlichen Werken Shakespeares legte Liang Shiqiu noch einmal seine Prinzipien des Übersetzens dar und betonte, dass Originaltreue für ihn sich durch zahlreiche Anmerkungen herstelle.24 Ein Beispiel dafür, wie Liang Shiqiu seine Prinzipien anwendete, stellt die Übertragung des Ausdrucks »eye of heaven« aus dem 18. Sonett dar. In seinem Bestreben semantisch genau zu sein, hat Liang »eye of heaven mit taiyang« (Sonne) übersetzt, statt »tiankong zhi juyan« (riesiges Auge am Himmel), wie es Cao Minglun tat, oder tianyan (Himmelsauge) wie es bei Ruan Kun heißt. Diese Unterschiede zeigen, dass das Vergnügen, die Sonette in Übersetzungen zu lesen oder selbst zu übersetzen im Aufdecken bzw. Verbergen der vielschichtigen Bedeutungen von Poesie und ihrem Humanismus liegen.

23 Wu Xizhen: Daonian Liang Shiqiu xiansheng (Trauer um Liang Shiqiu), in: Liu Yansheng (Hg.): Yashe xian weng: mingren bixia de Liang Shiqiu / Liang Shiqiu bixia de mingren (Bekannte Kulturschaffende schreiben über Liang Shiqiu/Liang Shiqiu schreibt über bekannte Kulturschaffende), Shanghai 1981, S. 51. 24 Sämtliche Werke Shakespeares in 12 Bde, übersetzt von Liang Shiqiu, Bd. 1, S. 1.

Teil II. Welttheater

6. Gao Xingjian: Exil und Humanismus

Wie der erste Teil des Buches zeigte, besitzt der Humanismus in der modernen chinesischen Literatur eine Form, in der sich konfuzianischer Humanismus, die Werte der modernen Industriegesellschaft und die in Shakespeare-Stücke eingeschriebene Renaissance-Ethik vermischen. Der zweite Teil des Buches ist dem Welttheater gewidmet und hier insbesondere der Rolle des Humanismus im chinesischen und interkulturellen Theater. Humanismus bezieht sich nicht allein auf einen weltlichen Rationalismus, sondern auch, wie in diesem Buch deutlich wird, auf das Verstehen und Bewahren des menschlichen Subjektes als solchem. Wenden wir uns zunächst einem der international anerkanntesten Gegenwartsdramatiker zu – Gao Xingjian (*1940). In seinen Werken setzt er sich mit China und dem Westen auseinander, seine Stücke erinnern uns daran, was es bedeutet, unter außergewöhnlichen Umständen wie dem Exil menschlich zu handeln. Das Exil als politische und soziale Bedingung kann nämlich den Schriftsteller zu größerer Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit befähigen.1 Einige der spannendsten Theaterarbeiten wurden von Exilkünstlern oder Künstlern, die in verschiedenen Welten heimisch sind, hervorgebracht. Das Stück »Schnee im August« (Bayue xue) des chinesischfranzösischen Nobelpreisträgers Gao Xingjian über die Erfahrungen von Flucht und Exil ist darunter eines der innovativsten. Es bedient

1

Hier veröffentliche ich meine Untersuchung der chinesisch-französischen Theaterstück-Schriftsteller im Exil für den deutschen Leser. Dieses Kapitel basiert auf meinem Aufsatz in Englisch in: Theatre Journal 63.3 (2011), S. 365–379.

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sich der Lebensgeschichte eines Zen-Meisters und autobiografischer Erzählelemente, um nach dem Wesen des Exils und der Beziehung von Kunst und Politik zu fragen. Die Antworten Gao Xingjians auf die europäische Avantgarde und insbesondere auf das absurde Theater wie auch die chinesische Reaktion auf die Verleihung des Literatur-NobelPreises an ihn, sind uns wohlbekannt. Nicht aber sein erstes Stück, das er nach dem Erhalt des Nobel-Preises inszenierte und produzierte. Er hatte es bereits 1997, nur wenige Jahre nach seinem erfolgreichen Stück »Die Wilden« (Yeren) geschrieben. Seine Uraufführung erlebte es aber erst im Jahr 2002 in Taipei und kündigte damit eine neue Phase seiner unermüdlichen Suche nach einem modernen interkulturellen Theater an. Der darstellerische Schwerpunkt liegt auf dem traditionellen chinesischen Theater und nonverbalen Ausdrucksformen, womit Gao Xingjian die sonst üblichen Wege des kulturellen Austausches zwischen Westeuropa und Ostasien umgekehrt hat. Schon in früheren Jahrzehnten hatte Gao Xingjian den Gebrauch religiöser Themen und ihrer sprachlichen Umsetzung erprobt. Seine Dramatisierung der Lebensgeschichte des sechsten Patriarchen ist der Versuch einer Re-Politisierung des religiösen Diskurses. Individualismus und die Darstellung persönlicher Stimmen sind Kennzeichen von Gao Xingjians Schreiben, mit dem er nationale Paradigmen in Frage stellen will. So hat er den Begriff ›kalte Literatur‹ (leng de wenxue) geprägt, worunter er eine Literatur jenseits der moralischen Erziehung, der Kritik an der Politik und jenseits des sozialen Engagements versteht.2 Für ihn ist Literatur Sache des Einzelnen.3 Diese Überlegungen führte er in seiner Nobelpreisrede vom 7. Dezember 2000 weiter aus, indem er die Gelegenheit als Schriftsteller mit eigener Stimme zu sprechen ergriff: Wenn ein Schriftsteller intellektuelle Freiheit suche, habe er die Wahl zwischen Schweigen und Exil. Weil aber die Sprache das einzige Medium des Schriftstellers sei, käme ins Schweigen zu

2

Gao Xingjian: Meiyou zhuyi (Bloß keine Theorien!), Hongkong 1995, S. 18–20; siehe auch: »Bloß keine Theorien«, in: Gao Xingjian: Nächtliche Wanderung, Neckargemünd 2000, S. 5ff; Was hat uns das Exil gebracht? Ein Gespräch zwischen Gao Xingjian und Yang Lian über chinesische Literatur, Berlin 2001.

3

Ebenda, S. 18f.

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verfallen, einem Selbstmord gleich.4 Flucht ist deshalb auch eines der beherrschenden Themen in Gaos Schreiben, wenn auch kein einfaches. Ein typisches Beispiel ist Gaos Stück »Schnee im August«. Es erzählt die Lebensgeschichte von Huineng (638–713), dem des Lesens und Schreibens unkundigen sechsten Patriarchen des chinesischen Zen (Chan)-Buddhismus. Nicht zum religiösen Establishment gehörend, lebte Huineng im Exil und wurde für seine anti-autoritären Ansichten berühmt. Er war in seiner Zurückweisung, der Politik zu dienen, innerhalb wie außerhalb religiöser Hierarchien, kompromisslos. Gao Xingjians Portrait von Huineng besteht aus einer Reihe von Fluchten. Die Aufführung in Taipei unter Regie von Gao Xingjian selbst, war eine der weltweit teuersten Produktionen, einmal abgesehen von Operninszenierungen in Paris oder New York. Ihr Budget betrug über 27 Millionen Taiwan-Dollar (850.000 US$), davon spielte die Inszenierung 7 Millionen (214 000 US$) wieder ein. Auf der Suche nach dem sogenannten ›omnipotenten‹ oder ›totalen Theater‹ (quanneng xiju) fiel Gao Xingjian in eine Zweiteilung der Kulturen zurück, die er doch eigentlich überwinden wollte. Die Auswahl künstlerischer Elemente in der Inszenierung schien dem Zufallsprinzip unterworfen zu sein. Huineng trägt z.B. die für die PekingOper typischen Plateauschuhe und symbolisiert damit China im Gegensatz zum großen Sinfonieorchester. Die Bewegungen der PekingOpern-Darsteller, die Elemente der Peking-Oper und anderer Theaterformen miteinander verbanden, erwiesen sich als fremd und zu starr. In Interviews betonte Gao Xingjian immer wieder den hybriden Charakter der Inszenierung. Sein Ziel sei es, die ›vier Ungleichen‹ (si bu xiang) zu erreichen: Das Stück solle ungleich der europäischen Oper (trotz des 90-köpfigen Sinfonieorchesters), ungleich der PekingOper (obwohl die Besetzung hauptsächlich aus jingju-Darstellern bestand), ungleich dem Tanz (obwohl es viele Tanzpassagen der Choreografin Lin Hsiu-wei enthielt) und ungleich dem chinesischen Sprechtheater (obwohl es sich stark auf die gesprochenen Sprache stützt) sein. Die Aufführung jedoch ließ Publikum und Kritiker ratlos zurück. Die Rezeption war von Missverständnissen geprägt, da die Inszenie-

4

Gao Xingjian: »Wenxue de liyou« (The Case for Literature), Engl. und Chin., in: PMLA: Publications of the Modern Language Association of America 116.3 (Mai 2001), S. 594ff.

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rung weder als xiqu (traditionelles chinesisches Musiktheater) noch als huaju (Sprechtheater) oder ein anderes Theatergenre, weder als asiatisch noch als europäisch einzuordnen war. Dazu trug Gao Xingjians Sicht auf China ebenso bei wie seine Entscheidung, Musik und Darstellungstechniken aus der Peking-Oper zentral zu verwenden. Gao Xingjian testete hier seine Theorie eines omnipotenten5 oder totalen6 Theaters, einem Zusammenspiel aus Musik, Dialogen und Bewegungen aus verschiedenen theatralen Genres und unterschiedlichen Kulturen. Im Programmheft wird die Inszenierung jedoch als geju (SongDrama – das ist die übliche chinesische Übersetzung für europäische Opern) bezeichnet, was missverständlich war. Der Kritiker Sy Ren Quah sah darin eine Entscheidung Gaos, das Stück näher am westlichen Theater zu positionieren. Gao Xingjian selbst gab in seinen Interviews recht widersprüchliche Kommentare dazu. Was die Musik betrifft, wollten er und der französisch-chinesische Komponist Xu Shuya ein Pastiche aus Elementen der Peking-Oper und westlichen Musiktraditionen vermeiden, denn eine solche Strategie hielt Gao Xingjian für opportunistisch. Das sei, »als verhökere man die Antiquitäten, die man von den Vorfahren geerbt hat«.7 Xu hingegen, so Gao Xingjian, sei es gelungen, die Trennung in Ost und West aufzuheben und etwas ganz Eigenes zu komponieren, ohne sich von Begrifflichkeiten wie Orientalismus oder Okzidentalismus einengen zu lassen.8 Auf der anderen Seite aber beruft sich Gao Xinjian auf wesentliche kulturelle Unterschiede, wenn er erklärt, warum er Elemente der Peking-Oper in den Mittelpunkt stellt: »Die Geschichte Huinengs ist von epischen Ausmaßen, wie wir sie bei den Dramen aus der Feder Shakespeares antreffen. In dem Stück Schnee im August verschmelzen die östliche und die westliche Kultur miteinander. Der Form nach ist es eine griechische oder Shakespearesche Tragödie. Aber was den

5

Gilbert C.F. Fong: Introduction: Marginality, Zen and Omnipotent Thea-

6

Sy Ren Quah: Gao Xingjian and Transcultural Chinese Theatre, Honolulu

7

Chou Mei-huei: Xuedi chan si - Gao Xingjian zhidao ›Bayue xue‹ xian-

tre, in: Snow in August, Hong Kong 2003, S. viiff. 2004. chang biji (Zen-Gedanken im Schnee – Notizen zu Inszenierung ›Schnee im August‹ von Gao Xingjian), Taipei 2002, S. 109. 8

Ebenda, S. 110f.

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geistigen Inhalt betrifft, so kann er nur der östlichen Weisheit entsprungen sein«.9

Gao Xingjian ist sich seiner widersprüchlichen Statements durchaus bewusst. Er befand und befindet sich selbst in unterschiedlichen Stadien der Transkulturation, einer gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Kulturen. In einem 1998 geführten Interview weist er jegliche Verbindung zu China mit den Worten zurück: »China erscheint nicht einmal mehr in meinen Träumen«.10 Im Jahr 2000 hingegen heißt es: »Ich dachte, ich hätte den China-Komplex hinter mir gelassen, aber er kommt wieder. [...] Die verloschene Glut, flackert erneut auf«.11 Es gibt offensichtliche Spannungen zwischen Gao Xingjians Vorstellung der Verschmelzung von Ost und West und seiner Verwendung von Elementen aus unterschiedlichen Theatertraditionen, so dass man sich fragt, ob die Inszenierung nicht das Gegenteil einer solchen Verschmelzung darstellt. Die Produktion, die die Umsetzung seiner Vorstellung eines omnipotenten Theaters sein sollte, wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Das Bühnenbild der Inszenierung ist minimalistisch. In den meisten Szenen bilden Vergrößerungen von Gao Xingjians Tuschezeichnungen den Bühnenhintergrund. Die jingju-Darsteller wurden von Gao darauf trainiert, das Erlernte zu vergessen. Sie benutzten also nicht den für die Peking-Oper üblichen Sprechgesang, sondern die Umgangssprache, wie sie von Schauspielern des Sprechtheaters verwendet wird. Sie vollführten moderne Tanzbewegungen und sangen zu Xus atonaler, orchestral begleiteter Musik. Damit schien die Form von Freiheit erreicht, die Gao mit seinem Theater anstrebte: die Loslösung von räumlichen und zeitlichen Begrenzungen. Gao bezeichnet das als eine visuelle Sprache auf verschiedenen Ebenen. Er benutzt auch den Begriff der Polyglossie, der Vielsprachigkeit, um seinen Theaterbegriff

9

Chang Meng-jui: »Shashibiya ye fengkuang. Gao Xingjian tan ›Bayue xue‹ hua shiji yanchu (Shakespeare war auch verrückt. Gao Xingjian zur Premiere von ›Schnee im August‹)«, in: Ronghe dongxi, chaoyue chuantong: ›Bayue xue‹ pojian er chu (Die Verschmelzung von Ost und West, das Transzendieren der Traditionen: ›Schnee im August‹ sprengt den Kokon), Taipei 2002, S. 13; Fong, a.a.O., S. xiii.

10 Sy Ren Quah, a.a.O., S. 190. 11 Ebenda.

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zu beschreiben. Die mehrsprachige, multivokale Dimension ist vielleicht der gelungenste Teil der Inszenierung, in dem die Möglichkeiten eines transkulturellen Theaters sichtbar werden. Huineng wurde von dem jingju-Darsteller Wu Hsing-kuo verkörpert, den der Tenor Fang Weichen und der Bariton Gao Xinjia als die unsichtbaren Seiten seines Ich begleiteten. Die drei unterschiedlichen Stimmen und Gesangstechniken aus verschiedenen Theatertraditionen drückten gemeinsam Huinengs Gedanken aus. Auch die anderen, von jingju-Darstellern gespielten Figuren wurden von Stimmen aus der europäischen Operntradition begleitet. Darüber hinaus gab es einen 50-köpfigen Chor, der an den Chor in griechischen Tragödien erinnerte und einen weiteren Kontrast zu den fragmentierten Gesängen der Hauptfiguren lieferte. Dennoch bleiben viele Fragen unbeantwortet. Wie jene, ob denn Darsteller, die nicht in der ihnen antrainierten Kunstform spielen, eine eigene Stimme in diesem vielsprachigen Theater finden können; ob eine stilisierte Gestik und Körpersprache notwendigerweise unsere Vorstellungskraft begrenzt; oder auch: ob diese Vision eines totalen, omnipotenten Theaters nicht die kulturellen Unterschiede noch betont? So gesehen ist der Versuch, mit dem Stück seine eigenen Theorien umzusetzen, nämlich persönlichen Stimmen den Vorrang vor Nationalismen und Politik zu geben, problematisch. Gao Xingjians Werke formulieren die Möglichkeit einer anderen Ästhetik, in der Literatur und Soziopolitik voneinander getrennt sind. Er will mit seinen Arbeiten den Kollektivgedanken widerlegen, von dem er glaubt, dass er das kreative Ich vernichtet. Wenn Gao Xingjian auch nicht alles, was er in seinen theoretischen Schriften verkündet, umsetzen kann, so stellt sein Werdegang als transkultureller Literat dennoch eine Abkehr von der chinesischen Tradition dar, in der das Individuum in der Kunst keine Rolle spielte. Die synthetische Bühnensprache von »Schnee im August« macht die Schwierigkeiten bewusst, eine grenzüberschreitende subjektive Kunst zu schaffen. Die Zweiteilung in Ost und West, in das Ich und das Andere scheint in der Inszenierung immer wieder auf. Trotz der verhaltenen Aufnahme der Inszenierung, lädt sie zur Weiterführung des Dialogs über ein transkulturelles Theater ein, ein Theater, das nach Wegen sucht, das Lokale global auszudrücken. Was machen wir mit Gao Xingjians Theatralisierung der Religion, mit seinen religiösen Dramen? John Yaw-Herng Hu, einer der frühesten Kritiker Gaos meint, dass sein wichtigster Beitrag in der Dramati-

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sierung der Philosophie (zhexue xijuhua) bestehe.12 Gao meidet das Kollektiv, er plädiert für die individuelle Erlösung, eine Errettung der Seele des Einzelnen. Die religiöse Rhetorik in »Schnee im August« baut genau auf dieser Vermeidung des Kollektivgedankens, des Nationalen und Transnationalen auf. Nach Martin Esslin ist jedes Drama Politik, egal, ob es den Verhaltenskodex einer Gesellschaft bestätigt oder unterläuft.13 Gao Xingjians Fluchtstrategien könnten demnach die politische Ordnung in Frage stellen oder sie bestätigen. Gaos autobiografische Adaption der Lebensgeschichte Huinengs konzentriert sich auf die Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, dem Einzelnen und der herrschenden Klasse. Der Literaturwissenschaftler Liu Zaifu behauptet sogar, dass »Schnee im August« kein religiöses Drama, sondern ein autobiografisches Stück sei und Huineng für Gao Xingian stehe.14 Warum also ist die Dramatisierung religiöser Themen überhaupt attraktiv? Religion bedeutet Seelenzuflucht für Gao Xingjian. Der religiöse Diskurs wird bei Gao Xingjian zum Ort, an dem verschiedenste Werte verhandelt werden. Religion in Gao Xingjians interkulturellem Theater lässt an ein hin- und herschwingendes Pendel15 zwischen disparaten theatralen Elementen denken. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist Gao Xingjian in seinem Versuch unterschiedliche Kulturen zu verbinden und ihre gemeinsamen humanistischen Wertvorstellungen herauszufinden, nicht allein.

12 Liu Zaifu: Gao Xingjian de heise naoju he pushixing xiezuo (Gao Xingjian – Schwarze Komödien und universelles Schreiben), in: Gao Xingjian: Kouwen siwang (Le Queteur de la Mort), Taipei 2004, S. 66. 13 Martin Esslin: The Theatre of the Absurd, 3. Auflage, New York 1980. 14 Liu Zaifu: Gao Xingjian lun (Über Gao Xingjian), Taipei 2004, S. 16. 15 Ein Ausdruck, den ich von Rustom Bharucha entliehen habe. Ders.: Theatre and the World, London 1993, S. 241.

7. Das neue Leben der Werke Shakespeares: Interkulturelle Perspektiven des Humanismus1

Die vorangehenden sechs Kapitel haben verschiedene Ansätze des chinesischen Humanismus in Literatur und Theaterstücken untersucht. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie sich diese Ansätze im ost-westlichen Kulturaustausch niedergeschlagen haben. Dafür wende ich mich dem Weiterleben der Stücke William Shakespeares, einem der wichtigsten humanistischen Autoren der Renaissance zu. Ihre Zirkulation im 20. und 21. Jahrhundert soll uns helfen, den Humanismus im Zeitalter globaler kultureller Mobilität dieses westlichen Kanons besser zu verstehen. Shakespeare und die Renaissance-Kultur nehmen einen speziellen Platz in der Geschichte des globalen Humanismus ein. Werke wie Shakespeares »Hamlet« oder Christopher Marlowes »Doctor Faustus« wurden lange Zeit als beispielhaft für ihre humanistische Geisteshaltung angesehen. Der Begriff ›humanistisch‹ wurde in der Renaissance auf Intellektuelle, die sich dem Studium der griechischen und römischen Literatur widmeten, angewendet. Das 19. Jahrhundert definierte dann die säkulare Entde-

1

Dieses Kapitel ist eine erweiterte Studie, die auf einem Aufsatz in einer Publikation beruht, die geringe Verbreitung fand. Die Publikation entstand im Zusammenhang mit einem Theater-Festival. Sie trägt den Titel Lebendige Erinnerung–Xiqu: Zeitgenössische Entwicklungen im chinesischen Musiktheater, hg. von Tian Mansha und Johannes Odenthal, Berlin 2006.

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ckung menschlicher Werte als Humanismus.2 Im heutigen globalen Kontext wurde Shakespeare zum Träger universeller menschlicher Werte gemacht.

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Wenn wir im 21. Jahrhundert über das traditionelle chinesische Musiktheater (xiqu) sprechen, dann dürfen wir seine lange Schauspieltradition und seinen Austausch mit dem Theater anderer Länder nicht übersehen. Dabei ist vor allem der Dialog des traditionellen chinesischen Musiktheaters mit dem elisabethanischen Theater zu nennen. Diese Beziehung ist komplex und sowohl von kulturellem Import als auch Export geprägt. Innerhalb dieses vielstimmigen Transformationsprozesses hat das unverwechselbare chinesische Theater vor allem mit seinen Shakespeare-Adaptionen einen Beitrag zum lebendigen und kollektiven Gedächtnis der Menschheit geleistet und zugleich sich selbst revolutioniert. Die Werke Shakespeares gelangten bereits vor über einhundert Jahren nach China und traten mit den beiden großen Formen des chinesischen Theaters, dem traditionellen Musiktheater und dem Sprechtheater, in einen fruchtbaren Dialog. Die erste Aufführung eines Shakespeare-Stückes auf chinesischer Bühne reicht in das Jahr 1867 zurück, als auf Anregung der britischen Kolonialregierung der Hongkonger Amateurtheaterclub das Stück »Shylock, or the Merchant of Venice, Preserved« aufführte. In Shanghai, dem ersten Vertragshafen des chinesischen Reiches, spielten 1902 Studenten der St. John’s Universität ebenfalls den »Kaufmann von Venedig« (Weinisi shangren). Und das Kleine Experimentiertheater (shixian xiaojuchang) von Taipei führte im Februar 1949 eine Adaption von »Othello« unter dem Titel »Der Verdacht« (Yiyun) auf. Damit war dieses Ensemble das erste, das in Taiwan ein Shakespeare-Stück spielte, mehr als zehn Jahre vor Erscheinen der von dem Literaturkritiker Liang Shiqiu (1902–1987) übersetzten Gesamtausgabe der Werke Shakespeares. Shakespeare-Aufführungen hatten weitreichenden Einfluss auf das traditionelle Theater Chinas. Noch vor der Kulturrevolution wurde

2

Mike Pincombe: Elizabethan Humanism: Literature and Learning in the Later Sixteenth Century, New York 2001.

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Shakespeare komplett uminterpretiert und zu einem Schriftsteller des Proletariats und der Volksmassen gemacht. Schließlich hatte sogar Marx seine Stücke gelobt und zitiert. Während der Kulturrevolution aber wurden seine Werke trotzdem verboten. Die Künstlergenerationen der achtziger und neunziger Jahre setzten dann wieder verstärkt Hoffnung in das Theater Shakespeares: Sie wollten mit der Kraft und Dynamik seiner Stücke das chinesische Musiktheater verändern und den noch immer vorhandenen Einfluss der Modellopern auf das traditionelle Theater beseitigen. Das Shakespeare-Theater stand außerdem für Internationalisierung und Öffnung – den Wiederanschluss der chinesischen Kultur an die Welt. Sichtbares Zeichen dafür sind das Shakespeare-Festival in China (1986 in Shanghai und Peking, 1994 in Shanghai), einige bemerkenswerte Shakespeare-Aufführungen aus Hongkong und Taiwan sowie erfolgreiche Gastspiele, die chinesische Ensembles bis nach Europa führten.

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EROBERT DAS TRADITIONELLE M USIKTHEATER Bereits in der frühen Republikzeit gab es Shakespeare-Aufführungen im traditionellen chinesischen Theater. In einer offenen Stadt wie Shanghai fanden sie seit den zwanziger Jahren immer wieder statt. 1925 spielte die Yisu-Gesellschaft Shaanxi »Ein Pfund Fleisch« (Yi bang rou), die Adaption des »Kaufmann von Venedig« von Wang Fucheng, im Stil der Qin-Oper. Das ist eine der frühesten ShakespeareAdaptionen, die verbürgt ist. In diesen Jahren wurde außerdem das Stück »Brudermord mit anschließender Heirat« (Sha xiong duo sao) von der Ya’an-Truppe im Stile der Sichuan-Oper gespielt. Das Stück war eine Adaption von Shakespeares »Hamlet« durch Wang Guoren und beruhte auf der Übersetzung in klassischem Chinesisch von Lin Shu, einem der umtriebigsten Übersetzer seiner Zeit, die dieser im Jahre 1903 angefertigt hatte. 1933 führte die Taiping-Truppe des Schauspielers Ma Shizeng die Kanton-Oper »Die widerspenstige Prinzessin« (Diaoman gongzhu) auf, deren Handlung dem Stück Der Widerspenstigen Zähmung sehr nahe kam. 1941 wurde im Shanghaier Empress Theatre Jie Hongyuans Shanghai-Oper »Der Raub des Reiches und der Schwägerin« (Qie guo dao sao) – bekannt auch als »Die Geschichte des Silberpalastes« (Yingong can shi) – nach »Hamlet« gegeben. 1942

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lief im Grand Theatre »Tage der Liebe und des Hasses« (Qing tian hen) nach »Romeo und Julia«, eine Shanghai-Oper des Neuen Shanghaier Yue-Opernensembles unter Leitung von Yuan Xuefen, die in den vierziger Jahren die Shanghaier Oper reformierte und das Regietheater eingeführt hatte. Und zwei Jahre später spielte die Wenbin ShanghaiOperntruppe im Empire-Theatre »Der eiserne Ritter und seine Geliebte« (Tiehan jiao wa), ebenfalls nach »Romeo und Julia« von Zhao Yanshi. 1946 gab es im Drachentor-Theater die Shanghai-Oper »Die Trauernde« (Xiaoxin nü) nach »König Lear«, eine Aufführung der FuQuanxiang-Truppe, und besonders erwähnenswert ist noch »Macht der Gefühle« (Zhu qing ji) nach »Romeo und Julia«, das der Schriftsteller und spätere Vizedirektor des Pekinger Volkstheaters Jiao Juyin adaptiert hatte. Dieses Stück erlebte seine Premiere am 12. April 1948 in Peking, und ist zugleich der erste Versuch, ein Stück Shakespeares für die Peking-Oper zu adaptieren. Dann wurde es erst einmal ruhiger um Shakespeare-Adaptionen. Das lag an verschiedenen politischen und auch anderen Umständen, wie den Aufführungskosten oder der Reserviertheit der Operntruppen gegenüber dem westlichen Theater. Es brauchte schließlich bis 1980, dass der Funke neu entfacht wurde und das Theater Shakespeares ein fester Topos auf den Bühnen des traditionellen Theaters wurde. Ma Yong’ans Aufführung von »Othello« mit der Experimentellen Operntruppe Pekings (Beijing shixian jingjutuan) im Jahr 1983 war die erste große Shakespeare-Aufführung seit den vierziger Jahren. Sie fand weithin Beachtung und inspirierte die Schauspielerin Hong Xiannü zur Kanton-Oper »Der Kaufmann von Venedig«. Danach gab es die verschiedensten Adaptionen. Auf den beiden Shakespeare-Festivals 1986 und 1994 traten zahlreiche Opernensembles an, die Shakespeare-Stücke in den unterschiedlichsten regionalen Opernstilen zeigten: wie die Shanghaier Adaption im Kun-Opernstil »Die Geschichte der blutigen Hände« (Xueshouji) oder »The Kingdom of Desire« (Yuwang chengguo) vom Contemporary Legend Theatre in Taiwan, beide aus dem Jahr 1986. Sie kamen auch als Gastspiele nach Europa und wurden somit Beispiele des kulturellen Re-Imports von Ost nach West. Von den Übersetzungen und der Aufführungspraxis ausgehend sehen wir, wie Shakespeare-Aufführungen im traditionellen Theater vor allem der Hinterfragung und Neupositionierung der eigenen Kunst dienen. Die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Regisseure richtet sich

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auf die Vitalität des eigenen Theaters, seine Bühnenkunst und dessen Weiterentwicklung, und das ist momentan die brennendste Frage. Das ist in Ländern mit kolonialer Vergangenheit, wie in Indien oder auf den Philippinen, ganz anders. Neben dem Problem der Auswahl des passenden Stückes, das zeitbezogen sein und die ursprüngliche Intention des Autors zeigen soll, sehen die Regisseure des traditionellen chinesischen Musiktheaters sich mit zwei Fragen konfrontiert: Es muss eine überzeugende Übersetzung oder Adaption gefunden und ein passender Theaterstil dafür ausgesucht werden. Gegenwärtig ist es so, dass die Peking-Oper der Stil ist, in dem die meisten ShakespeareAdaptionen aufgeführt wurden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Geschichten und Figuren Shakespeares häufig sinisiert sind, damit sie besser verstanden werden. Um beispielsweise Handlung, Figuren und Metaphern aus »Hamlet« verständlicher zu machen, verlegen wir den Schauplatz ins alte China. So geschehen auch 1992 am Contemporary Legend Theatre Taiwan mit dem Stück »Die Rache des Prinzen« (Wangzi fuchou ji). Es lassen sich zwei Tendenzen bei der Adaption für das traditionelle chinesische Musiktheater beobachten: Die eine ist, Shakespeare ›traditionell‹ chinesisch zu inszenieren, um damit auf Theaterfestivals dieser Welt präsent zu sein und einem internationalen Publikum die chinesischen Besonderheiten verständlich zu machen. Die andere ist, Shakespeare nach China zu holen, das Stück mittels postmoderner Strukturen neu zu denken, um das traditionelle Theater zu reformieren.

G EMEINSAMKEITEN

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U NTERSCHIEDE

Die Werke Shakespeares sind Produkte des elisabethanischen Zeitalters mit ihrem spezifischen historischen und kulturellen Hintergrund. Zur langen Geschichte der chinesischen Darstellungskunst besteht ein Unterschied wie Tag und Nacht. Dennoch gibt es, möglicherweise aufgrund historischer Zufälle, einige Gemeinsamkeiten. Und gerade deshalb haben wohl Schauspieler und Regisseure des chinesischen Theaters auf der Suche nach ausländischen Stoffen so oft zu Shakespeare gegriffen. Die Renaissance war das goldene Zeitalter des englischen Theaters, das nicht nur zahlreiche Talente hervorbrachte, sondern die Bühne zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens machte. Mit der Entwicklung des Druckerhandwerks fanden die Theaterstü-

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cke auch als preiswerte Heftchen schnell Verbreitung. Zur gleichen Zeit – es herrschte die späte Ming-Dynastie – blühte auch in China die Theaterkultur. Nach dem Aufstieg der Kun-Oper begannen Gelehrte und Literaten für das Theater zu schreiben. Die Praxis der Aufführung von ausgewählten Szenen florierte, und die unterschiedlichsten Theaterstile existierten parallel. Auch in China wurden Theaterstücke in (feinen) Drucken verbreitet. Und so wie Shakespeares Stücke immer wieder verändert wurden, geschah es auch mit den Stücken Tang Xianzus (1550–1617), des bekanntesten und einflussreichsten Theaterautors der Ming-Zeit. Was Ort und Form der Aufführungen betraf, gab es ebenfalls viele Ähnlichkeiten. Eines der berühmtesten Theater der Shakespeare-Zeit ist das Globe-Theater in London, an den Ufern der Themse gelegen. Zuschauergalerien waren um eine offene quadratische Bühne (die sogenannte Plattformbühne, Anm. d. Üb.), die in den Hof ragte, angebracht. Im Hof gab es Stehplätze für die Zuschauer, die billigsten Plätze. Es gab kein Bühnenbild, nur an der Bühnenrückwand zwei Eingänge links und rechts für den Auf- bzw. Abgang der Schauspieler, genauso wie auf den traditionellen Bühnen Chinas. Im elisabethanischen Theater war eine weitere, auch in China übliche Praxis weit verbreitet: die Verwendung eines Tisches und zweier Stühle als Requisiten. Wenig, um viel auszudrücken; hier wurde der Kunstcharakter, der das Essenzielle betont, mit der Lebensechtheit der Darstellung verbunden. Die Schauspielkunst besaß europäisch realistischen Charakter. Kostüme, Requisiten und Gesten waren nicht stilisiert, wie wir es aus dem chinesischen Theater kennen, wo eine einzige Pose Freud oder Leid auszudrücken vermag. Die Shakespeare-Schauspieler aber stützten sich auf den gesprochenen Text, und deshalb gab es auch hier keine Beschränkung für den Umgang mit Raum und Zeit. Nehmen wir beispielsweise das Stück »Romeo und Julia«: Am Anfang gibt es einen Prolog und eine kurze Einführung, in der mitgeteilt wird, dass wir uns in der Stadt Verona befinden, und die leere Bühne verwandelt sich im Nu in die Straßen Veronas. Als Simson und Gregorio auftreten, tragen sie Degen und teilen damit den Zuschauern mit, dass die Szene im Freien spielt. Denn damaliger Sitte entsprechend musste man beim Betreten eines Gebäudes die Waffen ablegen. Nach dem bewaffneten Zusammenstoß der verfeindeten Familienclans Montague und Capulet gehen Romeo und Benvolio ab, worauf ein Spaßmacher und andere Figuren, aus dem anderen Eingang kommend, die Bühne betreten. Sie

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eröffnen die nächste Szene. Das Bühnenbild ist unverändert, aber die Szene hat gewechselt. Dem Mangel an Beleuchtung und der damaligen Gewohnheit folgend, fanden die Aufführungen immer am Nachmittag statt. Es ging laut und fröhlich dabei zu. Die Zuschauer saßen nicht wie Theaterbesucher heute ehrfurchtsvoll auf ihren Plätzen, und die Schauspieler schlüpften schon mal aus ihrer Rolle, um sich direkt mit den Zuschauern zu unterhalten. Und auch das kennen wir von Theateraufführungen in China. Doch auch in der Ästhetik finden wir Gemeinsamkeiten. Formell können wir das traditionelle chinesische Theater in Gesang und Deklamation teilen, wobei die Musik verwendet wird, um Gefühle auszudrücken, und mittels Sprechvortrag die Handlung vorangetrieben bzw. der Dialog geführt wird. Das Shakespeare-Theater ist zwar ein Sprechtheater, aber in seiner Verwendung von Vers und Prosa können wir eine ähnliche Einteilung entdecken. Wie die Musik im chinesischen Theater wird im elisabethanischen Theater der Vers verwendet, um in langen Monologen die komplizierte Gefühlswelt einer Figur auszudrücken. Und analog zum Sprechvortrag im chinesischen Theater gibt es bei Shakespeare Prosapassagen, die den Dialogen vorbehalten sind. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Kombination von komischen und tragischen Elementen, die wir sowohl im chinesischen Theater als auch bei Shakespeare finden. Bei beiden tauchen große tragische Helden, aber auch komische Charaktere auf. Man denke nur an »Die Klage der Dou E« (Dou E yuan), »Die Geschichte der Laute« (Pipa ji) oder »Der Päonienpavillion« (Mudan ting) im chinesischen Theater oder »Macbeth« und »Ende gut, alles gut« von Shakespeare.

H ERAUSRAGENDE

XIQU -ADAPTIONEN

In den wichtigen der mehr als dreihundert Musiktheaterstile Chinas wurden schon einmal Werke von Shakespeare aufgeführt, egal ob in der Volksrepublik, in Hongkong oder Taiwan. In den meisten Stilen gibt es sogar mehrere Shakespeare-Adaptionen. Im Stil der PekingOper z. B. wurde das bereits erwähnte Stück »Othello« vom Experimentellen Opernensemble in Peking inszeniert, »Der Traum von König Qi« (Qiwangmeng) nach »König Lear« vom Peking-Opernensemble Shanghai und »König in unruhigen Zeiten« (Luanshiwang) nach »Macbeth« vom Peking-Opernensemble in Wuhan. Auffallend häufig

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wurde »Macbeth« für die chinesische Bühne bearbeitet: Da gibt es die eben erwähnte Peking-Oper »König in unruhigen Zeiten«, »The Kingdom of Desire«, die Kun-Oper »Die Geschichte der blutigen Hände«, die Wu-Oper aus der Provinz Zhejiang »Das blutige Schwert« (Xuejian), die Sichuan-Oper »Lady Macbeth« (Maikebai furen), das Solostück »Wer klopft da?« (Shei zai qiao men?) sowie die Shanghai-Oper »Feldherr Ma Long« (Ma Long jiangjun). Erwähnt werden muss außerdem noch »Zhuomei und Ah Luo« (Zhuomei yu Ah Luo) vom Huadengxi-Ensemble in Yuxi in der Provinz Yunnan. Das Stück wurde 1995 von dem Autor Ma Lianghua nach »Romeo und Julia« für eben dieses Ensemble geschrieben. Mit dieser Bearbeitung wurden nicht nur neue Perspektiven für kleinere Lokalopernstile eröffnet, sondern auch eine Reform des lokalen Theaterstils aus Yunnan eingeleitet. Die besonderen Merkmale dieses Theaterstils fanden angemessene Verwendung, und die mittels Tanz und Gesang dargestellte Geschichte wurde zu einem Meilenstein in der Aufführungsgeschichte dieses Shakespeare-Stückes. Sie leitete aber auch gleichzeitig eine neue Phase der Shakespeare-Bearbeitungen in China ein, denn sie zeigte, dass auch kleine Theaterstile die Kraft haben, große Shakespeare-Adaptionen auf die Bühne zu bringen. Oftmals wurden die Stücke speziell für Theaterfestivals produziert, so dass sie danach nur noch selten aufgeführt und auch nicht Bestandteil des festen Repertoires wurden. Von seiner Premiere 1995 bis zum Jahr 1999 tourte das Stück »Zhuomei und Ah Luo« durchs ganze Land und bekam fünf Theaterauszeichnungen. Die Hauptdarstellerin Yang Liqiong erhielt 1998 den Pflaumenblütenpreis (meihuajiang). Die neueste Shakespeare-Adaption für traditionelles chinesisches Musiktheater ist die Shanghaier Peking-Oper »Die Rache des Prinzen« nach »Hamlet« aus dem Jahr 2005. In dieser Low-Budget-Produktion spielen zwölf Darsteller mehr als dreißig Rollen, die Bühnendekoration ist sparsam und besteht aus vier Paravents, die nacheinander umgestoßen werden, und fünf Stühlen, die den Palast, die Zinnen der Stadtmauer, den Friedhof oder den königlichen Garten darstellen. Von den mehr als fünfzig Bearbeitungen und zahlreichen Aufführungen möchte ich drei herausragende und künstlerisch gelungene Inszenierungen näher betrachten. Diese ernteten von Publikum und Kritikern gleichermaßen Lob und besitzen internationales Niveau. »Die Geschichte der blutigen Hände« nach »Macbeth« vom Shanghaier Kunju-Theater (1986) wurde ein großer Erfolg hinsichtlich

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der visuellen Umsetzung der Geschichte und eröffnete neue Wege der Darstellung im traditionellen Musiktheater. 1987 war die Inszenierung auf Gastspielen in Europa zu erleben, 1993 in Singapur – sie gehört zu den wichtigsten neuen Stücken des Shanghaier Kunju-Theaters und fand international große Anerkennung. Im Jahr 2001 schrieb, inszenierte und spielte der taiwanische Pekingopernkünstler Wu Hsing-Kuo das dreiaktige Einpersonenstück »Lear ist da!« (Li’er zaici). Von der Erzählstruktur und der Anlage der Bearbeitung her ist das Stück Wu Hsing-kuos Autobiografie. Er erkundet hier seine eigene künstlerische Laufbahn und besonders die Beziehung zwischen ihm und seinem Meister Zhou Zhengrong. Das Stück feierte überragende Erfolge, u. a. in Frankreich und in den USA. 1999 spielte Tian Mansha in der von Xu Fen verfassten SichuanOper »Lady Macbeth«. Aus dem Blickwinkel der Lady wird dabei mittels Rückblenden und Traumsequenzen ein hochkomplizierter Charakter freigelegt. Auch dieses Stück fand großes internationales Echo.

»D IE G ESCHICHTE DER BLUTIGEN H ÄNDE « – T RADITION UND M ODERNE Das Stück »Die Geschichte der blutigen Hände« entstand unter der künstlerischen Gesamtleitung von Huang Zuolin (1906–1994), dem langjährigen Intendanten des Shanghaier Volkskunsttheaters. Regie führte der bekannte Schauspieler und Regisseur Li Jiayao und in den Hauptrollen spielten Ji Zhenhua und Zhang Jingxian vom Shanghaier Kunju-Ensemble. Es sorgte auf dem ersten Shakespeare-Festival 1986 für erhebliches Aufsehen. Huang Zuolins Ziel war es, eine echte Kun-Oper zu schaffen und die ästhetischen Regeln dieser traditionellen Theaterform streng zu befolgen. Die Zuschauer sollten nicht mehr erkennen, dass es sich um die Adaption eines westlichen Theaterstücks handelt.3 Oder wie der vom Sprechtheater kommende Regisseur Li Jiayao sagte, man spiele ein sinisiertes Shakespeare-Drama mit Mitteln des traditionellen Kun-Theaters; anders als in der Aufführung des »Othello« von 1983, als Regisseur Ma Yong’an mit Mitteln des traditionellen Theaters das

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Mike Pincombe: Elizabethan Humanism: Literature and Learning in the Later Sixteenth Century, New York 2001.

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authentische Shakespeare-Drama auf die Bühne brachte.4 Aber Huang Zuolins Begriff der Sinisierung Shakespeares muss in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Wenn die Geschichte sinisiert ist, heißt das nicht zwangsläufig, dass es sich auch um eine ›authentische‹ KunOper handelt. Und ob es sich in der Tat um traditionelles Theater oder um Shakespeare-Theater handelt, hat mit dem Erfolg des Stückes nichts zu tun, denn Tradition ist keine unveränderliche Konstante, sie ist Teil des lebendigen Gedächtnisses von Künstlern und Zuschauern und somit Teil der natürlichen Entwicklung. Sobald das Spiel beginnt, erscheint im Scheinwerferspot eine hässliche Fratze, die im Dunkeln hin- und hertreibt. Die Bühne ist erfüllt von Trockeneisnebel, man vernimmt Trommelklänge und das Pfeifen des Windes. Als es heller wird, sieht man auf der Bühne eine Hexe mit langen weißen Haaren. Sie trägt eine Maske und eine gelbe Robe. Beachtenswert ist, dass die Gesichtsbemalung sich nicht an die traditionelle Bemalung der Rolle eines kämpfenden Spaßmachers oder Bösewichtes (wuchou) hält. Die Hexe tritt an die Rampe und verkündet: »Ich bin echt und doch nicht echt«. Dabei öffnet sie ihre Robe, aus der sich eine weitere Hexe im sogenannten Zwergengang trollt: »Ich bin gut und doch böse«. »Ich bin echt und doch nicht echt«. Eine dritte Hexe erscheint auf eben diese Weise, ebenfalls im Zwergengang. Die drei Hexen, eine große und zwei kleine, kreisen auf der Bühne; dabei sieht man, dass ihre Gesichter bemalt sind und dass sie auf dem Hinterkopf eine Maske mit einer hässlichen Fratze tragen. Diese Eröffnung entspricht dem Auftritt der Figuren im traditionellen chinesischen Musiktheater, bei dem sich die Charaktere kurz vorstellen, und gleichzeitig ist es eine gelungene visuelle Umsetzung der berühmten Eröffnungsszene aus »Macbeth«. Doppelfiguren und die Einheit von Gut und Böse, das sind die Bilder, mit denen »Blutige« Hände das Hauptthema von »Macbeth« visualisiert: Der Mensch ist schwer zu durchschauen. Gut und Böse zeigen sich oft in Augenblicken der Schwäche. Es gibt keine Eindeutigkeiten, der menschliche Charakter vereint in sich Gut und Böse. Solche Bilder und Metaphern durchziehen das gesamte Stück. »Die Geschichte der blutigen Hände« verwendet geschickt die Ausdrucksmittel des traditionellen Theaters und seine reiche visuelle Ästhetik, um die epische Darstellung Shakespeares zu übersetzen.

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Interview mit Li Jiayao, Shanghai, Juni 2005.

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»Macbeth« ist auch ein Werk voller Bilder und Effekte: Kurz vor dem Mord an König Duncan ›sieht‹ Macbeth den blutigen Dolch in der Luft blinken. Als die Rede auf den Mord kommt, bemerkt er metaphorisch, das Blut des Königs könne den tiefblauen Ozean rot färben. Nach dem Mord am König teilt Lady Macbeth (die Gesichter und Hände der schlafenden Kämmerer mit Blut beschmiert hat, um den Verdacht auf sie zu lenken, Anm. d. Üb.) ihrem Mann mit, dass ihrer beider Hände nun gleichermaßen rot seien. Mehrmals sprechen die Figuren im Stück von der Dunkelheit, die Menschen verschlingt, als wollten sie andeuten, dass es keine Gerechtigkeit gibt. »Die Geschichte der blutigen Hände« greift von den Kostümen über die Bühnenausstattung bis zur Beleuchtung auf die visuelle Vielfalt bei Shakespeare zurück, besonders was die Verwendung der Farben Rot (Blut) und Schwarz (Heimtücke) betrifft, als auch den Gut-Böse-Dualismus bei der Figurencharakterisierung. Am Ende des Stückes treten die drei janusköpfigen Hexen mit zweideutiger Rede noch einmal auf. Sie diskutieren, ob das, was geschah, eindeutig zu beurteilen ist. Vielleicht aber tragen die Menschen auch im Leben Masken, um alle möglichen Rollen zu spielen: Dritte Hexe: Mann, Frau, Held und Clown – eilig wird sich abgeschminkt. Erste Hexe: »Die Geschichte ist wahr und nicht wahr, falsch und nicht falsch. […] Das Stück ist noch nicht aus«. Zweite Hexe: »Der Vorhang senkt sich schließlich … «. Dritte Hexe: »Wir raten euch, verehrte Herrschaften, nicht alles ernst zu nehmen«.5

Als sie fertig sind, springen die zwei kleinen Hexen in die Höhe und der großen Hexe auf den Arm. Ihre Kostüme verschmelzen miteinander, bevor sie im Dunkeln verschwinden. Neben den Masken und den neu hinzugekommenen Ausdrucksmitteln für die Rolle des Spaßmachers oder Bösewichts hat das Stück der altehrwürdigen Kun-Oper neues Leben eingeflößt, weil es die Besonderheiten des Shakespeare-Theaters eingebracht hat. Die Rollenfächer im traditionellen Theater haben ihre Grenzen, aber Shakespeare-

5

Lanyuan jicui: Wushinian Zhongguo kunju yanchu jubenxuan (Ausgewählte Dramen aus 50 Jahren Kunju in China), Bd. 2, Beijing Wenhua chubanshe, S. 258.

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Figuren ändern sich ständig, deshalb wurden für die Interpretation dieser Figuren verschiedene Rollenfächer kombiniert. Es war nicht so, wie im traditionellen Theater üblich, dass die Figurengestaltung durch die Grenzen des Rollenfachs bestimmt wird. Macbeth wird von der Rolle des Mannes in mittlerem Alter (mo) verkörpert. Man sagt, diese Rolle sei geeignet, positive und geradlinige Figuren darzustellen. Der Darsteller des Macbeth, Ji Zhenhua, fügt der Rolle die Komplexität und Vielschichtigkeit der Figur hinzu, so dass Macbeth am Ende nicht nur der heimtückische und wilde Feldherr ist. Zugleich lässt er verschiedene andere Rollenfächer in die Gestaltung des Macbeth einfließen, beispielsweise in der Bankettszene: Hier benutzt Ji Zhenhua Elemente der Rolle des bemalten Gesichtes (hualian) und der komischen Rolle (chou), um die Furcht von Macbeth angesichts des Geistes von Banquo und sein Unwohlsein vor den versammelten Würdenträgern darzustellen. »Die Geschichte der blutigen Hände« hat geschickt Elemente des modernen Theaters, wie Spezialeffekte oder Beleuchtung, eingesetzt und so die traditionelle Kunst der Kun-Oper erheblich verändert. Der Erfolg des Stücks hängt weniger mit der Frage zusammen, ob das Stück authentische Kun-Oper ist oder ob die Intentionen Shakespeares originalgetreu wiedergegeben wurden, als mit der neuen ästhetischen Dimension, die sowohl die traditionelle Kun-Oper als auch den »Macbeth« von Shakespeare bereichert hat. »Lear ist da!« – Adaption und Autobiografie »Lear ist da!« (Li’er zaici) war das dritte auf einer ShakespeareAdaption beruhende Theaterstück des taiwanesischen Peking-Opernkünstlers Wu Hsing-kuo. Aber dieses Stück aus dem Jahr 2001 unterscheidet sich in der Erzählstruktur grundlegend von dem 1986 vom Contemporary Legend Theatre aufgeführten »Kingdom of Desire«, den Inszenierungen »Die Rache des Prinzen« aus dem Jahr 1990 und »Der Sturm« (Baofengyu) aus dem Jahr 2004 sowie früheren Adaptionen. »Lear ist da!« lässt sich auch nicht mit der »Geschichte der blutigen Hände« oder »Der Traum von König Qi« vergleichen, in denen Shakespeare ein chinesisches Setting verpasst wird. Man muss die Figuren des Stücks schon gut kennen, um das Spiel mit ihnen noch nachvollziehen zu können.

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In »Lear ist da!« erkundet Wu Hsing-kuo die Beziehungen zwischen dem Schauspieler und seiner Figur Lear, bringt also seine eigenen Erfahrungen in die gespielte Bühnenhandlung ein. Er stellt in seiner Inszenierung selbst neun verschiedene Figuren dar plus der Rolle des Schauspielers Wu Hsing-kuo. Dass der Schauspieler selbst als eine Bühnenrolle präsent ist, kommt in der Peking-Oper höchst selten vor und ist ein einmaliger Versuch. Das ganze Stück kreist um die Frage: »Wer bin ich?«, und seziert dann sowohl die realen Lebenserfahrungen des Schauspielers als auch der Rollen, die er spielt und ihre Relation zueinander. Das Spiel erkundet sozusagen die Identitätskrisen von Lear und Wu Hsing-kuo. Einer der vielen Berührungspunkte ist das äußerst komplizierte Verhältnis Wu Hsing-kuos zu seinem Meister, ähnlich dem Lears zu seinen Töchtern. Der erste Akt »Theater« beginnt damit, wie der halbverrückte Lear auf freiem Feld im Gewitter steht, sich verzweifelt über die fehlende Kindesliebe seiner Töchter beklagt und darüber, dass die Autorität des Vaters und des Kaisers nichts mehr zählen. Bevor der erste Akt endet, nimmt Wu Hsing-kuo den Bart ab, zieht das Kostüm aus, verwandelt sich vor den Augen der Zuschauer von Lear in den Schauspieler (zurück) und fragt hintersinnig in der dritten Person auf den Bart zeigend: »Wer ist er?« Durch den Wechsel des Kostüms und die »Zerstörung« der Maske wurden in diesem ersten Akt alle Theaterkonventionen, an die wir gewöhnt sind, zunichte gemacht. Lear und seine Identität (oder Wu Hsing-kuo und seine Bühnenidentität) standen nunmehr nebeneinander auf der Bühne und zeigten einen Schauspieler auf der Suche nach ihrer gemeinsamen Identität. Im zweiten Akt »Spiel« verkörpert Wu Hsing-kuo mit Hilfe eines Bambusstocks verschiedene Figuren, wobei er sich zwischen den einzelnen Rollen frei hin- und herbewegt. Er spielt den Narren, den Getreuen Kent, noch einmal Lear, seine älteste Tochter Goneril (Li E), die zweite Regan (Li Gan), die dritte Cordelia (Li Ya), den blinden Gloster, seinen Bastard Edmund und den sich wahnsinnig stellenden Edgar. So stellt er abwechselnd die schwierige Beziehung von Lear zu seinen Töchtern und die ähnlich komplizierte Geschichte von Gloster dar. Im dritten Akt »Mensch« löst sich der schöne Schein des Spiels langsam, indem Lear, aus dem Dunkeln hervortretend, seine Geschichte zu Ende erzählt und abgeht. Auch die anderen Figuren lösen sich von Wu Hsing-kuo (ab) und verlassen die Bühne. Er verharrt allein,

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als Schauspieler, mit einem fast religiösen Schlussmonolog nachdenklich auf der Bühne. Der Vorhang fällt. Man könnte sagen, das ganze Stück ist ein Dialog zwischen dem Schauspieler Wu Hsing-kuo und der Bühnenfigur Lear, gleichzeitig ist es aber auch eine Zwiesprache mit sich selbst. Wu Hsing-kuos Vater starb kurz nach dessen Geburt, deshalb sah er seinen Lehrer immer als Vater an. Doch als er sich zu einer eigenständigen Künstlerpersönlichkeit mit einem eigenen Stil entwickelte, waren die Konflikte mit dem eher konservativen Lehrer unvermeidbar. Seine Imagination von und sein Widerstand gegen die Figur des Vaters und Lehrers ist eines der Leitmotive in »Lear ist da!« In Wu Hsingkuos Bühnenlaufbahn, dem heftigen Konflikt mit Zhou Zhengrong sowie der innigen Vaterbeziehung liegen die Beweggründe für die Adaption von Lear. Das Stück zeigt die beiden Schwierigkeiten Wu Hsing-kuos auf der Suche nach künstlerischer Selbstständigkeit: Im Stück untersucht er anhand unterschiedlicher Modelle die von Anziehung und Widerstand gleichermaßen geprägte Beziehung zwischen ihm und seinem Meister. Dass man den rasanten Rollenwechsel auf der Bühne kaum mit den Augen zu erfassen mag, ist ein Zeichen für den Widerstand Wu Hsing-kuos gegen den Lehrer/Vater und dessen Auffassung von der ›reinen‹ Tradition der Peking-Oper. Wu Hsingkuo versteht sein Spiel nicht mehr als Darstellung von genauen Rollenvorgaben. Er ist nicht mehr der Schatten seines Meisters. »Lear ist da!« ist damit nicht nur das Porträt der Laufbahn Wu Hsingkuos, sondern ein Manifest der Individuation. »Lady Macbeth« – Schauspieler und Rolle Das Spiel von Tian Mansha, einer der besten Darstellerinnen der Sichuan-Oper, in »Lady Macbeth« aus dem Jahr 1999 und in der für eine Person geschriebenen Sichuan-Oper »Wer klopft da?« aus dem Jahr 2002 gehört zu den neuesten und innovativsten Leistungen auf dem Gebiet der Shakespeare-Interpretation im traditionellen Musiktheater. Ähnlich der »Geschichte der blutigen Hände« und »Lear ist da!« nutzt »Lady Macbeth« die Visualität und die dem traditionellen Theater entsprechende Komposition, um die dem Shakespeare-Stück innewohnende Kraft und psychologische Vielschichtigkeit der Rolle wiederzugeben. Die Inszenierung des Jugendensembles der Schule für Sichuan-Oper (Sichuansheng chuanju xuexiao qingnian chunjutuan) von

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»Lady Macbeth« ist ein ganz besonderes Einpersonenstück. Neben Tian Mansha in der Hauptrolle erscheinen ab und zu ›lebendige Requisiten‹, von Schauspielern dargestellt, auf der Bühne, die Lady Macbeths Traumszenen vergegenständlichen. Anders als »Lear« liegt »Lady Macbeth« keine autobiografische Lesart zugrunde und es wird auch nicht die dem traditionellen Musiktheater eigene Verwandlungstechnik verwendet, bei der ein Darsteller mehrere Rollen verkörpert. Vielmehr sind die einzelnen Rollentypen in der Darstellung nicht mehr klar voneinander zu trennen. In der Verkörperung der Rolle von Lady Macbeth kommt daher das vielschichtige Verhältnis der Schauspielerin zu ihr sowie den anderen Rollen im Stück zum Vorschein. Eine andere Besonderheit und Dynamisierung dieser Beziehung tritt durch die Verwendung von Erinnerungen und Traumsequenzen ein, innerhalb derer nun die eigentliche Handlung von »Macbeth« stattfindet. Erwähnt werden sollte, dass in der Aufführungsgeschichte von Macbeth immer viel Wert auf die Darstellung seiner inneren Welt und den Kampf zwischen Gut und Böse gelegt wurde. Für gewöhnlich wurde gezeigt, wie sein unbezähmbares Inneres ihn verschlang. Die Zuschauer sind gewohnt, aus der Perspektive von Macbeth und der anderen Rollen die moralisch-philosophischen Fragen, die hinter dem Plan der Usurpation des Thrones und der Rache liegen, zu erörtern. Nur Lady Macbeth wurde wenig Beachtung geschenkt, weil sie zwar Anstifterin des Verbrechens ist, aber ihre Gedanken sich allein in Macbeths Händen verwirklichen. Erst jüngere Untersuchungen beginnen sich mit Lady Macbeth zu beschäftigen und sehen in ihr die tapfere unerschrockene Frau, indem sie das Stück aus feministischer Perspektive lesen. »Die Lady Macbeth« Tian Manshas ist kein feministisches Stück, unterstreicht aber die weibliche Tonlage, indem es die eigentliche Nebenrolle in den Vordergrund stellt und die Zuschauer zwingt, in ihre Erinnerungen zu tauchen, ihr Inneres zu erkunden und das ganze verworrene Netzwerk menschlicher Beziehungen aus ihrem Blickwinkel zu betrachten. Das Stück stellt Lady Macbeth als eigenständiges Wesen vor und hinterfragt, wie sie mit ihren inneren Konflikten fertig wird; wie die Erinnerung an das Verbrechen aus ihrer Perspektive aussieht; woher ihre Unruhe kommt. »Lady Macbeth« ist die erste auf eine weibliche Hauptrolle zugeschnittene ShakespeareAdaption im traditionellen chinesischen Musiktheater. Das Stück ist bei in- und ausländischen Zuschauern wegen seines wunderbaren Ge-

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sanges, seiner brillanten Monologe und der Atmosphäre der Traumszenen beliebt und erfolgreich. Von Chengdu und Peking führten Gastspiele zum 12. Kunstfestival Macao (März 2001), zu den Bremer Shakespeare-Tagen (März 2001), die unter dem Motto »Shakespeare aus Asien« standen. In dieser Adaption entsprechen sich Rollenfach und Rolle nicht mehr eins zu eins, und die Beziehung von Shakespeare zum traditionellen chinesischen Theater ist kein Kampf mehr zwischen Ost und West. Das Verhältnis hat das einer Wechselbeziehung von Tradition und Moderne angenommen.

S CHLUSS Vor mehr als einhundert Jahren gelangte Shakespeare nach China. Die Lesarten seiner Stücke haben sich dabei grundlegend gewandelt, aber das traditionelle chinesische Musiktheater hat durch die Rezeption seines Werkes enorme Veränderungen durchlaufen. Die chinesischen Zuschauer haben die Stücke Shakespeares, ob es sich nun um die Rache des Prinzen Hamlet oder die arroganten Töchter König Lears oder das kurze Königtum des Macbeth handelt, immer mehr angenommen und in ihr Theaterverständnis integriert. Denn Shakespeare hat Konsequenzen für das traditionelle Musiktheater gezeitigt. Das Experiment Shakespeare ermöglichte auch das Experiment neuer Darstellungsformen innerhalb der Tradition. Dabei gehen die Schauspieler selbst mit großem Engagement voran. Viele der gelungenen Adaptionen wurden gerade von ihnen in Szene gesetzt, z.B. »Othello« von Ma Yong’an, »Lear ist da!« von Wu Hsing-kuo oder »Lady Macbeth« von Tian Mansha. Von der Aufführung »Ein Pfund Fleisch« der Yisu-Gesellschaft Shaanxi aus dem Jahr 1925 bis zu »Lady Macbeth« legte das Theater einen weiten Weg zurück, so dass man sogar von einer heimlichen Shakespeare-Tradition im modernen chinesischen Musiktheater sprechen kann. Heute im 21. Jahrhundert können wir sagen, dass Shakespeare ebenso zum traditionellen chinesischen Musiktheater gehört wie die Tradition des xiqu zu Shakespeare.

8. Shakespeare asiatisch auf Europas Bühnen1 Welch’ ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! in Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! [...] Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! HAMLET 2.2

Das menschliche Subjekt, so wie es eine jede Kultur in der Annäherung an Shakespeare definiert, weicht häufig von »Hamlet« als ideales Meisterwerk ab. Adaptionen rund um die Welt zeigen die Auseinandersetzung moderner Künstler mit dem Menschsein und ihr Bestreben lokale kulturelle Werte auf die globale Bühne zu bringen. Den Faden aus dem vorigen Kapitel weiterspinnend, untersucht dieses Kapitel die sich verändernden kulturellen Identitäten von Shakespeare-Produktionen aus Asien und ihren Aufführungen in Europa. Am 10. Dezember 1981 wurde in der Cartoucherie von Vincennes eine englische Hofszene von französischen Schauspielern in eklektizistischen Kostümen dargeboten, die wie Kabuki-Darsteller eine Papierwand durchstießen. Die Szene fand auf einer mit Teppich ausgelegten Bühne statt, von der vier hanamichi, sogenannte Blumenwege, wie im Kabuki-Theater üblich, in die vier Ecken zu Stoffkabinen führten. Einige Darsteller trugen Commedia dell-Arte- oder No-Masken,

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Dieses Kapitel beruht auf meinem englischen Aufsatz in: The Shakespearean International Yearbook 8 (2008), S. 51–70.

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andere – unter ihnen auch der König – prächtige Kimonos und Halskrausen. Diese Aufführung war der Beginn einer Reihe von ShakespeareInszenierungen, in denen sich europäische und asiatische Traditionen vermischten. Es handelte sich um Ariane Mnouchkines kontroverse, ›orientalisierte‹ Adaption von »Richard II.«, die u.a. 1983 auf dem Theaterfestival München und 1984 auf dem Olympic Arts Festival in Hollywood zu sehen war.2 Von Trommeln begleitet wurde das ›falsche‹ Kabuki-Spiel von Georges Bigot (Richard) angeführt. Das Stück war das erste in Mnouchkines Zyklus »Les Shakespeares« (»Richard II.«, 1981; »Was ihr wollt«, 1982; »Henry IV.«, 1984), in dem die Regisseurin mit Shakespeare-Stücken und asiatischen Theatertraditionen experimentiert hatte. Ihre visuell aufwendigen Produktionen mit dem auffallenden Asien-Touch haben gleichermaßen Lob und Kritik hervorgerufen. Dennis Kennedy, Dozent für Europäische Studien an der Queens University Belfast, fand beispielsweise Ariane Mnouchkines Produktionen »sehr ansprechend«, aber ihren »geschmäcklerischen östlichen Shakespeare« und seine »kulturelle Verlagerung« auch problematisch. Er sieht ihre Inszenierungen als Beispiele für den »Shakespeareschen Orientalismus« und die »Einführung östlicher Theatertraditionen in westliche Shakespeare-Aufführungen«. Dominique GoyBlanquet, Professorin für Elisabethanisches Theater an der Université de Picardie, hingegen verteidigte Mnouchkines Annäherungen an Shakespeare gegen Kennedys Kritik.3 Unabhängig von dieser Kontroverse folgten immer neue asiatisch inspirierte Produktionen in Europa. Sie kamen von europäischen oder asiatischen Regisseuren, von asiatischen Migranten in Europa, wie

2

Siehe Gautam Dasgupta: »Richard II and Twelfth Night directed by Ariane Mnouchkine«, in: PAJ: Performing Arts Journal 6.3 (1982), S. 81–86. Für Kritiken mit unterschiedlicher Sicht auf Mnouchkines Interkulturalität siehe: Florence Delay in: Nouvelle Revue Francaise 351 (1982), S. 117–119; Valida Dragovitch in: Cahiers élisabéthans 22 (1982), S. 99–102; Arnd Rühle in: Münchner Merkur (20. Mai 1983).

3

Dennis Kennedy: »Afterword: Shakespearean Orientalism«, in: Foreign Shakespeare: Contemporary Performance; Cambridge 1993, S. 294 und 296; Dominique Goy-Blanquet: Shakespearean History at the Avignon Festival, in: Ton Hoenselaars (Hg.): Shakespeare's History Plays. Mit einem Vorwort von Dennis Kennedy, Cambridge 2004, S. 228–43.

S HAKESPEARE ASIATISCH AUF E UROPAS B ÜHNEN | 129

Noriyuki Sawa4 aus Prag oder David Tse aus London, oder sie entstanden in Zusammenarbeit von Künstlern aus verschiedenen Ländern. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Interesse an Asien in den siebziger und frühen achtziger Jahren neu entdeckt wurde, wie die Publikationen von Julia Kristevas Des Chinoises (1974), Maria-Antoinetta Macciocchis De la Chine (1972), Alain Grosrichards Structure du sérail: la fiction du despotisme asiatique dans l’occident classique (1979) oder Edward W. Saids Orientalism (1978) zeigten.5 Ein anderer wichtiger Punkt war das große Interesse der Mitarbeiter der Pariser Literaturzeitschrift Tel quel für das kommunistische China. Die Zeitschrift spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des französischen Avantgarde-Orientalismus sowie des Poststrukturalismus. Ihr ideologisches Interesse für den Maoismus und die chinesische Kulturrevolution führte Julia Kristeva, Roland Barthes, Philippe Sollers u.a. Mitarbeiter dieser Zeitschrift 1974 nach China. 1984, einige Jahre nach der Veröffentlichung von Saids Orientalism, fand an der Universität von Essex eine Konferenz statt, auf der Said, Homi K. Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak und andere Kritiker des Postkolonialismus ihre Arbeiten zum Thema »Europe and its Others« vorstellten.6

4

Noriyuki Sawa, japanischer Puppenspieler und Dozent an der Akademie für Darstellende Künste Prag, arbeitet seit 1991 in Europa; seine Inszenierungen wurden in Paris, Berlin, Budapest und Athen aufgeführt. Er schrieb und spielte u.a. Solo-Pantomimen mit Masken und Puppen, von Shakespeare adaptierte er »Macbeth«, »König Lear«, »Romeo und Julia«. 1999 erhielt er die Franz Kafka-Medaille und 2001 gewann er den Grand-Prix des Internationalen Puppentheater-Festivals in Pecs (Ungarn) für seine »Romeo und Julia-Adaption« »A Plague o’ Both Your Houses!«.

5

Julia Kristeva: Des Chinoises, dt. v. Annette Lallemand, Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, München 1976, Alain Grosrichard: Structure du sérail: La fiction du despotisme asiatique dans l’Occident classique, engl. v. Liz Heron, The sultan’s court: European fantasies of the East, New York 1998; Maria-Antinetta Macciocchi: De la Chine, Paris 1971; Edward W. Said: Orientalism, dt. v. Hans Günter Holl, Frankfurt a.M. 2009. Macciocchi, eine italienische Journalistin, organisierte die China Reise der Mitarbeiter von Tel-quel.

6

Europe and its Others: Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, Juli 1984, 2 Bd., hg. v. Francis Barker, Colchester 1985. Darin u.a.: Edward W. Said: Orientalism Reconsidered, Bd. 1, S.

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Hinter den Praktiken des »erborgten Schmucks« und der Verfremdung klassischer Werke steht die lange und bewegte Geschichte der Beziehung zwischen Asien und Europa. Die asiatisch inspirierten Shakespeare-Aufführungen sind Teil des wieder erwachten Interesses an Asien und an der langen Tradition von Shakespeare-Aufführungen in verschiedenen europäischen Sprachen. Das vorliegende Kapitel untersucht die Produktion und Rezeption dieser von Ostasien inspirierten Shakespeare-Inszenierungen. Sie entfachen Diskussionen um Kulturtourismus, um asiatische oder europäische Identitäten und die Identität von Shakespeares Text auf’s Neue. Die verschiedenen nationalen Shakespeare-Traditionen rund um den Erdball werfen zwar ganz ähnliche Fragen auf, aber hinzu kam hier der Asientouch der Aufführungen. Dadurch erscheinen beide, Shakespeare und die audiovisuelle Sprache Asiens zugleich vertraut und fremd, was wiederum unsere Vorstellung von Original und Derivat in Frage stellt. Wenn, so John Russell Brown, Shakespeare-Forscher an der University of Michigan, das asiatische Theater nicht nur Shakespeare in neuem Licht erscheinen lässt, sondern auch das Theater, für welches er schrieb, wie beeinflussen dann neue Aufführungsorte (Europa) und ein nicht-asiatischer Werk-Kanon (Shakespeare) den Austausch zwischen Asien und Europa?7 Zweifellos erfordert die Beschäftigung mit asiatisch-inspirierten Shakespeare-Produktionen, unsere kulturellen Identitäten ständig neu zu überprüfen. Weder Shakespeare noch die hybriden asiatischen Aufführungspraktiken können für sich den Status des Borgers oder des Verleihers beanspruchen, um auf den Titel einer neuen Zeitschrift anzuspielen: Borrowers and Lenders: The Journal of Shakespeare and Appropriation.

14ff.; Homi Bhabha: Signs taken for Wonders: Questions of Ambivalence and Authority under a Tree outside Delhi, May 1817, Bd. 1, S. 89ff.; Peter Hulme: Polytropic Man: Tropes of Sexuality and Mobility in Early Colonial Discourse, Bd. 2, S. 17ff.; Gayatri Chakravorty Spivak: The Rani of Sirmur, Bd. 1, S. 128ff. 7

John Russell Brown: New Sites for Shakespeare: Theatre, the Audience, and Asia; London, New York 1999.

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ASIATISCHE AUSDRUCKSFORMEN EUROPÄISCHER S HAKESPEARE

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Vor allem Inszenierungen von Shakespeares Tragödien nahmen Anleihen bei asiatischen Theatertraditionen auf, wie bei der chinesischen Oper, dem Jatra, Kutiyattam, Kathakali, No, oder Kabuki. Zunehmend wird aber auch mit modernen Formen asiatischen Theaters, sowie Shakespeares Komödien und Historiendramen experimentiert. Einige Beispiele zeigen die Vielfalt dieser Experimente: Eine der frühesten bemerkenswerten asiatischen Inszenierungen, die durch Europa tourte, war der Kabuki-»Macbeth« in der Regie von Yukio Ninagawa, der auf dem Edinburgh-Festival 1985 gezeigt wurde. In der Eröffnungsszene tanzten in Kimonos gekleidete Frauendarsteller (onnagata) hinter transparenten Vorhängen. Rosa-farbene, weiße und rote Kirschblüten fielen vom Schnürboden herab – ein unerwarteter Hintergrund für eine blutige Tragödie. In den Kirschblüten überlagerten sich verschiedene Bedeutungsebenen: so konnten sie als Bild für das Japanische an sich, aber auch als ironischer Verweis auf gewaltsamen Tod und Wahnsinn, gebracht vom Mörder Macbeth’ gelesen werden.8 Und ein aufgeklärteres Publikum sah in ihnen vielleicht ein Symbol für die trügerische, flüchtige Schönheit im japanischen Kontext. Als die Aufführung 1987 nach London kam, wurde sie als gelungene visuelle Vereinigung von Kabuki-Theater und Shakespeare gefeiert, »als erster Kabuki-Macbeth in London seit 1913«.9 Im selben Jahr kam eine Adaption des gleichen Stückes für die chinesische Kun-Oper aus Shanghai nach Europa. Sie trug den Titel »Die Geschichte der blutigen Hände« und war von Huang Zuolin, dem chinesischen Theater-Guru, der in London studiert hatte, in Szene gesetzt. Und noch eine chinesische Opern-Adaption von »Macbeth« hatte um diese Zeit Premiere: Die Peking-Oper »The Kingdom of Desire«, geschrieben, inszeniert und gespielt von Wu Hsing-kuo vom Con-

8

Andrea Nouryeh: »Shakespeare and the Japanese Stage«, in: Dennis Kennedy (Hg.): Foreign Shakespeare, Cambridge 1993, S. 263.

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Photo caption, Independent (22. September 1987).

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temporary Legend Theatre in Taiwan. Auch sie wurde von zahlreichen Festivals und Theaterhäusern wiederholt eingeladen.10 Nach der Premiere 1989 in Kerala (Indien), kam der Kathakali »King Lear« (Regie: David Mc Ruvie und Annette Leday) nach Europa. 1999 wurde eine Wiederaufnahme des Stückes auf dem jährlich stattfindenden Globe to Globe-Festival in London gezeigt. Die Adaption vereinfachte die Geschichte, um den Anforderungen des Kathakali Tanz-Theaters zu genügen. Die Inszenierung wollte allerdings mehr, als einen in bunte Kathakali-Kostüme gekleideten Lear als exotischen Augenschmaus für das westliche Publikum vorstellen. Angesprochen werden sollten sowohl die südindischen Malayalis als auch das europäische Publikum.11 Seit den neunziger Jahren arbeiten europäische und asiatische Künstler immer enger zusammen. Einige asiatische Produktionen wurden sogar von europäischen Festivals in Auftrag gegeben, z.B. die chinesische Sprechtheater- (huaju) Inszenierung von »Richard III.« in der Regie von Lin Zhaohua, die 2001 während der Asien-Pazifik-Wochen in Berlin aufgeführt wurde. Andere Produktionen sind wiederum von europäischen Regisseuren inspiriert. Im Jahr 2000 lud Ariane Mnouchkine den taiwanischen Schauspieler Wu Hsing-kuo zu einem Workshop des Theatre du Soleil nach Paris ein. Einige der hier entwickelten Szenen wurden Grundlage seines Solo-Stücks »Lear ist da«. Dieses Stück wurde u.a. 2006 im Berliner Haus der Kulturen der Welt aufgeführt. Eine der Kuratorinnen des Festivals »Lebendige Erinnerung« war Tian Mansha, eine Darstellerin der Sichuan-Oper, die mit ihrem Solo-Stück »Lady Macbeth« einige Jahre zuvor in Bremen und anderen Städten Europas aufgetreten ist. Aber auch asiatisch-europäische Gemeinschaftsprojekte machten Furore. Emma Brown vom Workshop Theatre der Universität Leeds erarbeitete 1994 zusammen mit dem chinesischen Regisseur David Jiang, dem Peking-Opern-Trainer Li Ruru, dem Schlagzeuger Tony Doyle und einem gemischt britisch-

10 1990 Royal National Theatre London, 1994 Festival de Chateauvallon, 1996 Aachen und Heerlen, 1998 Festival d’Avignon, Millenium Festival in Santiago de Compostela, 2001 Utrecht und Rotterdam. 11 Siehe Philipp Zarrilli: »For Whom Is the King a King? Issues of Intercultural Production, Perception, and Reception in a Kathakali King Lear«, in: Janelle G. Reinelt, Joseph Roach (Hgg.): Critical Theory and Performance, Ann Arbor 1992, S. 22.

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chinesischen Team von Designern und Darstellern eine »Macbeth«Aufführung. Sie war Teil des Zweiten chinesischen Shakespeare-Festivals im September 1994 und wurde in der Black Box der Shanghaier Theater-Akademie gezeigt. Ein interessanter Aspekt dieser Inszenierung war der Einsatz des Schlagzeugs, um innere Gefühle zu verdeutlichen, ein anderer war die Verwendung verschiedener Techniken der Peking-Oper sowie des Cross-Dressing. So wurde Macbeth von einer Darstellerin und Lady Macbeth von einem Darsteller gespielt, die ihre Rollen dann nach der Ermordung Duncans tauschten.12 Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher stilistischer und interpretativer Versuche der Shakspeare-Aneignung. Die europäische Rezeption stellte bei den asiatisch inspirierten Shakespeare-Produktionen immer ihre Visualität und Sinnlichkeit in den Mittelpunkt. Nehmen wir Oh Tae-suks Inszenierung von »Romeo und Julia« (Mokhwa Repertory Company) als Beispiel: Die Inszenierung spielt im Korea der Chosong-Zeit und enthält Elemente des klassischen koreanischen Theaters. Kritiker der Londoner Aufführung am Barbican Centre 2006 und der Bremer Aufführung beim Shakespeare-Festival 2001 betonten die sinnliche Kraft und Schönheit des asiatischen Theaters. Das Barbican Centre versicherte seinen Zuschauern, die Produktion sei ein sinnliches Feuerwerk, in dem nichts von der Sprache des Barden verloren gehe. Nur am Rand waren daher die Neuerungen in Oh Tae-Suks Inszenierung zu bemerken. Eine männliche Julia zeigte den Zuschauern ihre Muskeln als sie auf Romeo wartet. In der Balkon-Szene brilliert sie im Schwertkampf, bevor sie sie Romeo auf den Rücken wirft und triumphierend verlangt, er solle seine Liebe gestehen. Die verbreitete Erwartung von asiatischer Sinnlichkeit und Exotismus stellen Shakespearesche Sprache und theatrale Stilisierung einander gegenüber. Das gilt nicht nur für das Theater. Wenn eine Adaption zu nah am Shakespearschen Original ist, enttäuscht sie. Um Feng Xiaogangs Film »The Banquet« (Yeyan) entbrannten heftige Diskussionen. Der Film ist von »Hamlet« inspiriert. Als er 2006 auf den Filmfestivals in Cannes und Venedig gezeigt wurde, sahen europäische Kritiker darin zu viel Shakespeare und zu wenig China, obwohl die

12 Li Ruru: Shashibiya: Staging Shakespeare in China, Hongkong 2003, S. 81 und 208.

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Werbung im Vorfeld »Shakespeare plus Kungfu« versprochen hatte.13 Die chinesischen Kritiker hingegen fanden den Film viel zu westlich, und warfen dem Regisseur vor, er habe ihn nur für ein nicht-chinesisches Publikum gedreht.14 Damit ist »The Banquet« kein Einzelfall. Die Rezeption der asiatischen Shakespeare-Inszenierungen in Europa wird oft davon bestimmt, dass die Produktionen sowohl einem Publikum in Asien als auch in Europa gefallen wollen. Was europäische Zuschauer für sehr asiatisch halten, ist für ein asiatisches Publikum oft das Gegenteil. Akira Kurosawa beispielsweise wurde von den Japanern für seine gefeierten Filme (»Ran«, »Das Schloss im Spinnwebwald«, »Die Bösen schlafen gut«) als vollkommen verwestlicht betrachtet. Man hat deshalb seinen Namen oft in katakana gedruckt, einer Schrift, mit der ausländische Namen und Fremdwörter transkribiert werden. Es wäre interessant zu untersuchen, woher diese unterschiedliche Rezeption kommt. Zu den üblichen Orten für Shakespeare-Aufführungen, wie London, Stratford-upon-Avon oder großen Theater-und Filmfestivals kamen neue, unerwartete hinzu, z.B. das »Hamlet-Schloss«, Schloss Kronborg in Dänemark – ein authentischer, aber falscher ›historischer‹ Ort für »Hamlet«. In diesem Schloss, das wegen seiner Verbindung zum fiktiven Schauplatz des Shakespeare-Stückes berühmt ist, wird jedes Jahr das Hamlet-Sommer-Festival abgehalten. 2002 erhielt der aus Singapur stammenden Regisseur Ong Keng Sen den Auftrag für ein Stück und schuf daraufhin ein von »Hamlet« inspiriertes Theaterund Tanz-Event, bei dem jedoch der Titelheld fehlte. Die Inszenierung hieß passenderweise »Search: Hamlet«. In dieser Inszenierung gingen Darsteller und Publikum gleichermaßen auf die Suche nach neuen kulturellen Identitäten im Zeitalter der Globalisierung. Die internationale Besetzung und Ong experimentierten mit verschiedenen Theaterstilen Asiens und Europas. Carlotta Ikeda, eine japanisch-französische Tänzerin spielte den Geist, Pichet Kluchun, ein thailändischer Tänzer gab die Gertrude und Ann Crosset, eine dänisch-amerikanische Schauspie-

13 Mo Honge: »Venice Critics want a more Chinese Banquet«, in: Xinhua news (5. September 2006). 14 Kozo schreibt, »The Banquet is a member of that suddenly popular Asian Cinema genre: the indulgent, overproduced costume epic aimed at a completely non-Chinese audience many thousands of miles away«. In: www. love hkfilm.com/panasia/banquet.htm, gelesen am 10. Juni 2007.

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lerin war Polonius.15 2005 wurde auf dem gleichen Festival die Hamlet-Adaption »Die Rache des Prinzen« des Shanghaier Peking-OpernEnsembles aufgeführt. 2006 schließlich gab es im Hof von Schloss Kronborg den »Ur-Hamlet« von Eugenio Barba. Ein Stück, das auf Grundlage der »Vita Amlethi« des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus (ca. 1140–ca. 1220) entstanden war. Was den multikulturellen Rahmen anbelangt, war die Produktion noch ambitionierter als die von Ong Keng Sen. Es gab japanische No-Schauspieler, Gambuh-Tänzer aus Bali, Darsteller und Musiker aus Indien, Brasilien, Europa, sowie einen 40-köpfigen Chor aus 25 verschiedenen Ländern. Hamlet war der Candomblé-Tänzer Augusto Omolù, der die vertraute Figur des Prinzen gleichzeitig verfremdete und reproduzierte.

D REI F ORMEN

DES ASIATISCHEN

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Während der letzten 400 Jahre wurden die englischen ShakespeareStücke zu einer gesamteuropäischen Tradition. Die deutsche und die französische Shakespeare-Tradition sind hier besonders hervorzuheben, da sie zu den best-dokumentierten Zweigen dieser globalen Shakespeare-Industrie gehören. Shakespeares Stücke sind international, sie spielen in Schottland, England oder am Mittelmeer. Außerdem wurden sie bereits kurz nach ihren Londoner Aufführungen an anderen Orten in Europa gespielt. Ton Hoenselaars, Gründungsmitglied der Shakespeare-Gesellschaft, und A. Luis Pujante, Übersetzer und Shakespeare-Spezialist, betonen, dass es keinen Kontinent gebe, der sichtbarere Spuren in Shakespeares Werken hinterlassen habe, als Europa. Erstaunlich sei auch, wie sehr man die Ideologie europäischer Nationalstaaten mit den Bildern Shakespeares verbunden habe.16 Aber die Idee von Europa veränderte sich durch den Globalisierungsprozess im Zeitalter des Spätkapitalismus. Shakespeares Europa definierte sich zu gleichen Teilen durch die europäischen Traditionen,

15 Alexander C.Y. Huang: »Site-Specific Hamlets and Reconfigured Localities: Jiang’an, Singapore, Elsinore«, in: The Shakespearean International Yearbook 7 (2007), S. 22–48. 16 Siehe Ton Hoenselaars, A. Luis Pujante: »Shakespeare and Europe: An Introduction«, in: Four Hundred Years of Shakespeare in Europe, Newark 2003, S. 19.

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wie sie in seinen Stücken gezeigt werden, und die Beziehungen Europas zum Rest der Welt. Anglo-europäische Shakespeare-Inszenierungen wurden mehr als zwei Jahrhunderte lang in verschiedene Teile Asiens exportiert und dort imitiert und parodiert. Die asiatischen Shakespeare-Aufführungen jedoch tauchten nicht vor den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa auf. Ihr Erscheinen veränderte die europäische Theaterlandschaft sowie die Vorstellungen vom Europa-Bild, wie es Shakespeare gezeichnet hat. Obwohl die Versuche, das europäische Theater durch asiatische Anleihen zu reformieren, nicht neu sind – hier mag Brecht als bekanntestes Beispiel herhalten –, sind Aufführungen asiatischer Shakespeare-Produktionen doch ein eher neues Phänomen. Ihr spätes Auftauchen ist Kriegen, sowie Umständen der Globalisierung geschuldet. Hinzu kommt noch, dass postmoderne und nichtenglischsprachige Experimente mit Shakespeare-Stücken von der Royal Shakespeare Company und dem Stratford-Festival Kanada behindert wurden. Denn ihre gängige Praxis war es, dem auf Analysen basierenden Text und Spiel Vorrang zu geben.17 Nach seiner Arbeit als Shakespeare-Regisseur befragt, sagte Peter Hall 1988 in einem Interview, er halte nur die exakte Übertragung der Sprache in die Bühnenhandlung für glaubwürdig.18 Frei von solch selbstauferlegter sprachlicher Begrenzung stehen die asiatischen Produktionen vor ganz neuen Problemen. Sie genießen die Spannung zwischen dem Vertrauten und Fremden und betonen die Interkulturalität und Grenzüberschreitung in ihrer Arbeit. Der vermehrte Austausch von Menschen und Waren förderte diese Entwicklung und gab der Vermischung der Kulturen und Aneignung des jeweils anderen noch einmal neue Impulse. Für Kulturtouristen wie einheimische Zuschauer ist es immer einfacher geworden ›fremde‹ Shakespeare-Aufführungen in ihrer natürlichen Umgebung vorzufinden.19 Ob ›Made in Europe‹ oder aus Asien importiert, zwingen diese Aufführungen die anglo-europäischen Zuschauer dazu,

17 Siehe Dennis Kennedy: »Introduction: Shakespeare without his Language«, in: ders. (Hg.), Foreign Shakespeare: Contemporary Performance, Cambridge 1993. 18 Interview mit Ralph Berry: On directing Shakespeare, London 1989, S. 209. 19 Siehe Dennis Kennedy: »Shakespeare and the Global Spectator«, in: Shakespeare-Jahrbuch 131 (1995), S. 50–64.

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fremde und ausländische Formen des vertrauten und lokalen Shakespeare-Kanons zu akzeptieren. Das Phänomen der asiatischen Shakespeare-Aufführungen – man könnte auch afrikanische hinzunehmen – führte somit zu einer Neuziehung der Grenzen zwischen lokaler und globaler Kunstproduktion und zu einer Veränderung der Beziehungen zwischen Asien und Europa. Asien-inspirierte Shakespeare-Produktionen erreichten Europa über drei miteinander verbundene Kanäle. 1. Asiatische Theaterformen, wie das Kabuki-Theater oder die chine-

sische Oper, fanden zunehmend Eingang in Film-und Theaterproduktionen europäischer Regisseure. Zu nennen wären hier Ariane Mnouchkines »Henry IV.« von 1982 oder Kenneth Brannaghs Leinwandadaption von »Wie es euch gefällt« aus dem Jahr 2006. Um Vertrautes zu verfremden, setzte Ariane Mnouchkine in ihrer Inszenierung fremde Darstellungsformen ein. Damit schuf sie das, was dem europäischen Publikum eigentlich bekannt und vertraut ist, neu. Die fremden Darstellungsformen wurden einem europäischen Publikum zugänglich gemacht, dabei aber manchmal auch unabsichtlich ›domestiziert‹. 2. Immer öfter kamen übertitelte Gastspiele asiatischer Produktionen nach Europa, wie beispielsweise der Kathakali »King Lear« oder »Macbeth«, »Perikles« und »Titus Andronicus« von Yukio Ninagawa. Jede Veränderung im Labyrinth interkultureller Verschmelzung wurde genau beobachtet und floss in die Produktionen der asiatischen und angloeuropäischen Theater ein. Für die bisherigen, v.a. britischen Interpretationen Shakespeares stellten sie eine neue Herausforderung dar. Das zeigten die stilisierte Neu-Interpretation der Gewalt in Ninagawas Inszenierung von »Titus Andronicus« (2006) oder auch Lü Boshens extensiver Einsatz von Musik in seiner taiwanisch-sprachigen Macbeth-Adaption »The Witches’ Sonata – Poetic Macbeth«, die nicht immer mit der dargestellten Gewalt im Stück harmonisierte. 3. Eine ebenfalls neue Theaterpraxis brachten europäisch-asiatische Koproduktionen ein, wie die zwei-oder mehrsprachigen Arbeiten von Ong Keng Sen und David Tse. Genutzt wurden hier länderübergreifende Netzwerke für den künstlerischen Austausch und die finanzielle Unterstützung. Alle drei Formen des asiatisch-inspirierten Shakespeares profitieren von der ungleichmäßigen Verteilung

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von Wissen. Ihre Aufführung und Rezeption sind Zeichen der Suche nach Alternativen zum Realismus und zur gängigen europäischen Aufführungspraxis. Die Distanz zwischen den Theater-Sprachen Asiens und Europas, sowohl der Körper- als auch der gesprochenen Sprache, schafft einen Abstand. Dieser beeinflusst die Bedeutungen und die Verbreitung asiatischer Shakespeare-Aufführungen. In einem Artikel, der folgerichtig den Titel »Mind the Gap: Using Shakespeare« trägt, setzt sich Peter Holland, Dozent an der Western Australien Academy of Performing Arts in Perth, mit den Folgen dieses Abstands für Shakespeareaufführung und -rezeption auseinander, der durch die Kenntnis der Theaterpraxis in einer Region und die gleichzeitige Ignoranz der Theaterpraxis in anderen Regionen entsteht.20 Der Abstand ist keine Leerstelle, sondern der Ort produktiver Auseinandersetzung mit Shakespeare und den darstellenden Künsten der Gegenwart. In der Annahme, dass Shakespeare und die europäische Aufführungspraxis im Gegensatz zur asiatischen einem europäischen Publikum bekannt sind, gehen die drei o.g. Formen ganz unterschiedlich mit dieser Differenz um. A) Europäische Regisseure benutzen die Wissenslücke, um Shakespeare aufzufrischen. Sie verwenden, zusätzlich zur europäischen Sprache, performative und dekorative Elemente aus dem asiatischen Theater, um Shakespeare durch diese Formen zu verfremden. B) Produktionen aus Asien erinnern mit ihren Übertiteln permanent an diese Lücke, laden jedoch den europäischen Zuschauer gleichzeitig ein, in das Fremde einzutauchen. C) Europäisch-asiatische Koproduktionen, die im besten Sinne länderübergreifend arbeiten, sind auch finanziell am besten ausgestattet. Sie versuchen die Lücke durch ihre Aufführung zu überbrücken. Ihre Darsteller von meist verschiedener ethnischer Herkunft eignen sich unterschiedliche Aufführungstechniken an und mischen diese, so dass daraus neue Darstellungsformen entstehen.

20 Peter Holland: »Mind the Gap: Using Shakespeare«, in: ShakespeareJahrbuch 131 (1995), S. 34.

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Ungeachtet ihrer Unterschiede stützen sich alle drei Formen auf die Rolle Asiens als das ultimativ andere. Shakespeare scheint die Konstante zu sein, während Elemente aus asiatischen Theatertraditionen, wie Masken, Bewegungen, Kostüme oder Musik verwendet werden, um Fremdheit zu erzeugen. Da es heute immer schwerer wird, in unserem globalen Dorf diese Fremdheit herzustellen, wird das Fremde immer öfter ›weit weg von allem‹ gesucht, wie der Boom in der Tourismus-Industrie beweist. Das Ergebnis ist ein neues Stereotyp. Der Kritiker Charles Spencer fasst das mit der Bemerkung de rigueur – es musste so kommen – zusammen: Es sei ausländisch und fremd, also müsse es gut sein.21 Die andere Seite der Medaille ist die Bewertung dieser Produktionen durch europäische Kritiker. Sie beurteilen die Inszenierung ausgehend von der Textanalyse und wie genau die Shakespearesche Spielvorlage umgesetzt wird. Die Größe Shakespeares innerhalb der Weltliteratur hat es für Kritiker wie Publikum schwer, wenn nicht gar unmöglich gemacht, Shakespeare-Adaptionen als solche zu sehen. Für das asiatische Theater bietet Shakespeare gute Vorlagen für neue dramatische Zutaten, mit Hilfe derer das Repertoire des Theaters in Asien erweitert werden kann, aber die heilende Wirkung von Shakespeare auf das asiatische Theater und umgekehrt wurde oft übertrieben. Über eine chinesische Opern-Produktion »Das Wintermärchen« aus dem Jahr 1986 schrieb Philip Brockbank, das konventionelle chinesische Theater benötige offenbar die Lebensnähe, wie wir sie in ShakespeareStücken finden. Auf der anderen Seite gewännen die Stücke durch die Energie und Exotik einer sowohl höfischen als auch Volkstheatertradition an Klarheit. Jang Tso Fang ergänzte, dass Shakespeare im Westen krank sei und traditionelle chinesische Medizin brauche.22 Viele europäische Regisseure folgten dieser Sichtweise bereitwillig. Ariane Mnouchkine zum Beispiel vereinte Shakespeare und asiatisches Theater, um die europäische Avant-Garde zu erneuern. Repräsentativ für diese Tendenz, den Wert einer Produktion anhand ihrer Nähe zu Shakespeare (der Psyche der Figuren, universellen Motiven u.a.) und

21 Charles Spencer über The Kingdom of Desire (Macbeth) von Wu Hsingkuo, Contemporary Legend Theatre am Littelton Theatre in London: »A Macbeth Made in Taiwan«, in: Daily Telegraph (16. November 1990). 22 Siehe: J. Philip Brockbank: »Shakespeare Renaissance in China«, in: Shakespeare Quarterly 39.2 (Summer 1988), S. 195.

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zum üblicherweise mystifizierten Asien zu bestimmen, ist die Sichtweise des Autors und Shakespeare-Forschers Dennis Bartholomeusz. In seinem Essay »Shakespeare Imagines the Orient: The Orient Imagines Shakespeare« untersucht Bartholomeusz verschiedene indische, chinesische und japanische Shakespeare-Produktionen. Er stellt fest, wie diese Inszenierungen vergessene Elemente in den Stücken Shakespeares entdecken und freilegen und dabei in mythische Dimensionen Shakespearscher Kunst vordringen.23 Es mag zu viel verlangt sein, nach einer gerechteren Analyse kulturellen Austauschs zu fragen, da die Lücke gegenseitigen Wissens unüberwindlich zu sein scheint.24 Es geht dabei weniger darum, wie gut das asiatische Theater auf Europa übertragen werden kann oder umgekehrt wie gut Shakespeare für asiatische Inszenierungen ist. Wichtiger ist doch, wie Shakespeare für etwas benutzt wird, was am Ende möglicherweise nicht mehr als Shakespeare rezipiert wird. Peter Holland schreibt dazu, es sei keine hinreichende Basis, den Wert einer Produktion daran zu messen, in welchem Maße Shakespeare ge- oder missbraucht werde.25 Interkulturelle Aufführungen stützen sich auf das, was wir vom anderen wissen könnten und was zugleich ganz anders ist. Globale Shakespeare-Aufführungen und ein interkulturelles Theater mit AsienTouch nutzen diesen Kontrast zwischen dem westlichen Kanon und dem ›nicht erkennbaren‹ anderen. Für die meisten europäischen Zuschauer stellt das asiatische Theater dieses ›andere‹ dar: es ist nicht erlernbar und nicht zu entschlüsseln, weil die Namen meist von hinten

23 Dennis Bartholomeusz: »Shakespeare Imagines the Orient: The Orient Imagines Shakespeare«, in: Roger Pringle, Tetsuo Kishi, Stanley Wells (Hgg.): Shakespeare and Cultural Traditions. The Selected Proceedings of the International Shakespeare Association World Congress, Tokyo 1991, Newark 1994, S. 201. 24 Parmita Kapadia: Postcolonial Shakespeare: The Ethics of Reception. Shakespeare Association of America annual meeting, San Diego, April 2007. Andreas Höfele stimmt mit Kapadia vollkommen überein, fragt in seiner Antwort auf den Beitrag aber, wie von einem westlichen Theaterpublikum erwartet werden kann, ein so nobles Ziel zu erreichen. »Produktionen, wie der Kathakali King Lear verlangen eine interkulturelle Kompetenz, die viele Zuschauer einfach nicht haben«. 25 Siehe Peter Holland, a.a.O., S. 42.

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nach vorn gelesen werden, die kulturellen Werte fremd bleiben (frühlingshafte Kirschblüten werden paradoxerweise mit Tod und Wahnsinn assoziiert) und die Darsteller müssen oftmals ein hartes Training von Kindesbeinen an durchlaufen. Ergebnis ist, dass die asiatischen Shakespeare-Produktionen stärker lokalisiert scheinen und damit als allegorische Erweiterungen von Shakespeares Text funktionieren. Die mehrsprachigen und koproduzierten Shakespeare-Aufführungen weisen manchmal einen Ausweg aus diesem Labyrinth. Die länderübergreifende Zusammenarbeit und physische Präsenz der Schauspieler mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund machen diesen asiatischen Shakespeare in Europa mit seinen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten noch komplexer: Zum einen durch die hybriden Identitäten der Darsteller (einige von ihnen entstammen ethnischen Minderheiten in Europa) und zum anderen auch durch die Verwendung asiatischer und europäischer Sprachen auf der Bühne. Inszenierungen, wie der Kathakali »King Lear«, Ong Keng-Sens multikulturelle Produktionen »Search: Hamlet« und der mehrsprachige panasiatische »Lear«, sowie die Arbeiten Ninagawas wurden vielfach besprochen und sind relativ gut dokumentiert. Deshalb möchte ich anhand einer der neueren britisch-chinesischen Koproduktionen, dem chinesich-englischsprachigen »King Lear« der Frage nach der Dynamik des kulturellen Austausches nachgehen.

E IN ZWEISPRACHIGER »K ÖNIG L EAR « IN S TRATFORD - UPON -AVON Es wird mir eben so leicht, Käthchen, ein Königreich zu erobern, als noch einmal so viel französisch zu sprechen. KÖNIG HEINRICH V., 5.2.

Was König Heinrich V. hier Prinzessin Katharina von Frankreich in der berühmten Szene der Brautwerbung sagt, spricht uns auch heute an, ob wir Shakespeare-Experten oder Kulturtouristen sind. Mehrsprachiges oder zweisprachiges Theater war bis vor kurzem eher eine Seltenheit. Heute aber ist es ebenso einfach um die Welt zu touren, wie Darsteller mit Fremdsprachenkenntnissen und der Kenntnis fremder

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Theatertechniken zu engagieren. Doch überwindet oder vergrößert das Sehen einer mehrsprachigen Shakespeare-Inszenierung die kulturellen Grenzen? Sind solche Begegnungen mit dem anderen (dem anderen Asien und dem anderen Shakespeare) Ausdruck von Kulturimperialismus oder legitimieren sie lokale Lesarten? Im Gegensatz zu den traditionell nationalen Shakespeare-Inszenierungen, in denen fremdsprachige Ausdrücke höchstens sporadisch verwendet werden, benutzen diese Aufführungen ganz bewusst zwei oder mehr Sprachen und bringen damit ganz neue ästhetische und politische Bedeutungen hervor. Der extensive Gebrauch verschiedener Sprachen unterscheidet sich erheblich von der Benutzung fremdsprachiger Einsprengsel bei Shakespeare selbst oder auch bei Thomas Middleton in »No Wit, No Help Like a Woman’s«, bei Thomas Kyd in »The Spanish Tragedy« und anderen Dramatikern der Renaissance. Fremdsprachige Passagen in englischen Renaissance-Dramen wurden in erster Linie des komischen Effektes wegen benutzt.26 Fremdsprachen in heutigen Inszenierungen funktionieren dagegen anders. Mit Unterschieden und Sprachen zu experimentieren, dient der Hinterfragung von philosophischen Annäherungen an das jeweils andere, sowie an den Shakespeare-Text. Seit 1980 gab es einige mehrsprachige Produktionen, die in Europa und den USA aufgeführt wurden. 1983 spielte man in New York einen chinesisch-englischen »Sommernachtstraum« vom Pan Asian Repertory Theatre in der Regie von Tisa Chang. Hier waren unterschiedliche Sprachen Zeichen des emotionalen Ausdrucks und der Standesunterschiede der Figuren. Es gab Figuren, die Englisch sprachen und nur in Stresssituationen ins Chinesische fielen. Chinesisch hingegen war die Sprache des Hofes und auch die des dienstbaren Waldgeistes Puck. 1995 inszenierte Karin Beier ebenfalls einen »Sommernachtstraum« in Düsseldorf, in dem Schauspieler aus neun europäischen Ländern auftraten, die jeweils in ihrer Muttersprache spielten. Dennis

26 Diese Tendenz wurde von Renaissance-Schriftstellern mehrfach kritisiert. Sir Philip Sidney kritisiert in seiner Defence of Poesie (1595) die abfällige und komische Beschreibung ausländischer Akzente. »For what is it to make folks gape at a wretched beggar or a beggarly clown, or, against law of hospitality, to jest at strangers because they speak not English so well as we do«, in: Katherine Duncan-Jones, Jan van Dorsten (Hgg.): Miscellanous Prose of Philip Sidney, Oxford 1973.

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Kennedy bemerkte dazu, dass diese innovative Theaterproduktion ein Babel der Misskommunikation von Europäern sei, die vergebens versuchten, eins zu sein. Shakespeare war dabei die lingua franca, der gemeinsame Kanon eines postindustriellen Europas in Zeiten nach dem kalten Krieg.27 Wilhelm Hortmann fühlte sich eher von dem angezogen, was die mehrsprachige Aufführung nicht zeigte: Das Stück als poetischer Kosmos geriet außer Sichtweite, zwar seien die Worte Shakespeares noch vorhanden gewesen, aber nur, um daran zu erinnern, dass sie einst andere Bedeutungen in einer anderen Sprache transportiert hätten.28 Ein Jahr nach Beiers paneuropäischem »Sommernachtstraum« inszenierte Ong Keng Sen 1996 einen panasiatischen »Lear«, in welchem Darsteller aus verschiedenen Ländern Asiens in ihrer Muttersprache und den für ihre jeweiligen Länder repräsentativen Theaterstilen spielten. Aber anders als in Beiers Inszenierung waren Sprachunterschiede hier nicht die einzigen Zeichen der Klassenzugehörigkeit und Identität. Die machthungrige Goneril sprach Chinesisch und spielte im Stil der Peking-Oper. Vornehmes Japanisch und Bewegungen des No-Theaters wurden von dem alten Lear verwendet. Die Konfrontation zwischen Goneril und Lear bekam auf diese Art und Weise durch das Aufeinanderprallen der chinesischen und der japanischen Kultur eine zusätzliche Bedeutung. Und weitere solcher Produktionen sind in Aussicht. Der Regisseur und Professor für Darstellende Künste, Richard Schechner, arbeitet an einem mehrsprachigen »Hamlet« mit führenden Theatergruppen aus drei verschiedenen chinesischsprachigen Städten: von der Theater-Akademie in Shanghai, der Hongkonger Akademie der Darstellenden Künste und der Nationalen Universität der Künste Taipei. Während Said sowie Künstler und Kritiker der achtziger Jahre vor allem die Unterschiede zwischen den Kulturen betonten, wendet sich das interkulturelle Theater heute den Gemeinsamkeiten, der Allgemeingültigkeit von Theatererfahrungen und von menschlichen Emotionen, sowie der Universalität von Shakespeare zu. Eines der neueren Beispiele dafür ist die britisch-chinesische Koproduktion von »König Lear«. Der in London lebende David Tse inszenierte das Stück 2006

27 Siehe Dennis Kennedy: Looking at Shakespeare: A Visual History of Twentieth Century Performance, Cambridge 2001, S. 329, 332. 28 Siehe Wilhelm Hortmann: Shakespeare on the German Stage: The Twentieth Century, Cambridge 1998, S. 474.

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mit seinem Yellow Earth-Theatre auf Chinesisch und Englisch mit zweisprachigen Übertiteln. Im Oktober 2006 erlebte die Produktion Aufführungen in Shanghai und Chongqing, bevor sie nach Großbritannien kam. Obwohl die Kommunikation mit dem Publikum ein wichtiges Ziel jeder Inszenierung bleibt, ist auch hier die Erkennbarkeit Shakespeares auf fremdem Territorium auf Kosten anderer Inhalte in den Vordergrund gestellt. Peta David schrieb in einer Kritik, es sei geradezu unheimlich, dass – selbst wenn man kein Wort Chinesisch verstünde, man doch wüsste, dass es sich um Shakespeare handelt.29 Der »Lear« von David Tse stellt eine neue Art des asiatisch-europäischen Shakespeares dar, etwas, was man als postnationale globale Shakespeare-Industrie bezeichnen könnte.30 Asiatische Regisseure wie Ninagawa sind an Aufführungsorten wie dem Edinburgh-Festival, dem Londoner Globe, dem Royal Shakespeare Theatre oder dem Barbican Centre keine Unbekannten mehr, doch der »König Lear« des Yellow Earth Theatres stellte eine ganz neue Erfahrung verglichen mit den traditionelleren »fremdländischen« Shakespeare-Produktionen dar. Die ständig ausverkaufte Aufführung brachte die Widersprüche und prekären Bedingungen der Globalisierung auf die Bühne. Das aus chinesischen und britischen Darstellern bestehende Ensemble untersuchte die Versprechen und Risiken der Globalisierung im Kontext ihrer Übertragung auf lokale Gegebenheiten. Dabei standen Themen wie Misskommunikation oder Generationskonflikte im Vordergrund. Die Aufführung zeigte die Spannung zwischen den verschiedenen Sprachräumen, verdeutlicht durch zweisprachige Dialoge

29 http/www.thestage.co.uk/reviews/review.php/14916/king-lear, gelesen am 24. Juni 2006. 30 Der zweisprachige »Lear« war bereits Tses zweite Beschäftigung mit diesem Stoff. 2003 inszenierte er »Lear’s Daughters« in Zusammenarbeit mit Elaine Feinstein und der Woman’s Theatre Group. Die Fragen, die »König Lear« aufwirft, sind für Tse von großem Interesse, beschäftigt er sich doch mit schwierigen Vater-Sohn-Beziehungen und im weiteren Sinne den Beziehungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Andere interkulturelle Regisseure wie Ong Keng Sen oder Wu Hsing-kuo fühlen sich von dem Stück gleichermaßen angezogen. Siehe »The Woman’s Theatre Group and Elaine Feinstein, Lear’s Daughters«, in: Daniel Fischlin, Mark Fortier (Hgg.): A Critical Anthology of Plays from the Seventeenth Century to the Present, London und New York 2000, S. 217–233.

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und zweisprachige Übertitel. Beide wetteifern um die Aufmerksamkeit des Publikums und durchdringen einander. Man fragte sich, ob die chinesische Sprache in Tses Inszenierung genauso funktioniert, wie die Blumenwege und das ›falsche‹ Kabuki-Spiel bei Mnouchkine oder ob solche asiatischen Elemente lediglich den Appetit des europäischen Publikums auf Orientalismus stillen sollten. Dieses Kapitel dient weder der Rettung von Tses und Mnouchkines Projekten, noch beabsichtigt er sich in den Authentizitätsdiskurs einzureihen, der interkulturelle Aufführungen entweder verdammt oder verteidigt, je nachdem wie nahe sie dem angenommenen Original kommen. Ich will vielmehr die Aufmerksamkeit auf die Produktion von Bedeutungen in Tses Inszenierung lenken. Von Anfang bis Ende besitzt Zhou Yemangs Lear eine starke Bühnenpräsenz. Anders hingegen andere Schauspieler, deren Spiel manchmal unausgeglichen war, da sie permanent zwischen ihrer Muttersprache und der Fremdsprache wechseln mussten. Mit diesem künstlerischen Effekt rückte Tse die spürbare Anwesenheit kultureller Unterschiede und Verschiebungen in den Vordergrund. Die Darsteller verkörperten gleichsam ihre Unsicherheit, denn keiner von ihnen war zweisprachig in dieser zweisprachigen Produktion. Der »Lear« von David Tse spielt im London und Shanghai des Jahres 2020. Das Stück beginnt mit der modernisierten Fassung der Szene, in der Teilung das Erbe geteilt wird. In seinem Büro in einem Shanghaier Penthouse erleben wir eine Neuinterpretation der Missverständnisse bei Lears berühmtem Liebestest. Der in Shanghai residierende Chef eines internationalen Konzerns bittet um ein Liebesbekenntnis seiner drei Töchter. Lear, gespielt von Zhou Yemang, einem chinesischen Film-Star, spricht fließend Chinesisch, so wie auch Regan (Xie Li) und Goneril (Zhang Lu). Die in England erzogene Cordelia aber, eine Auslandschinesin, spricht nicht mehr die Sprache ihrer Vorfahren. Verborgen hinter einem semitransparenten Bühnenelement, auf dem eine Videoeinspielung aus London zu sehen ist, sagt sie nichts. Es war nicht ganz klar, ob sie absichtlich als Zeichen des Protestes geschwiegen hat, da ihr beiseite gesprochener Text gestrichen war. Laut David Tse verkörpert Lear die erdrückenden konfuzianischen Familienwerte, die die Rolle der einzelnen Familienmitglieder hierarchisch festschreiben. Das ist der Grund, warum er den Respekt seiner Kinder einfordert. Der Liebestest wird so zu einer Bestätigung einer der konfuzianischen

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Schlüsseltugenden: der Kindespietät. Für Lear und für Tse gibt es keine bedingungslose Liebe innerhalb der Familie.31 Die kurze aber intensive Konfrontation zwischen Cordelia und Lear mit dem Wort »nichts« auf Englisch (nothing) und Chinesisch (meiyou), brachten die Welten von Lear, Cordelia und von den Zuschauern ins Wanken. Das war ein Moment, an dem der asiatisch inspirierte Shakespeare in Europa auf einmal dramaturgisch verstörend und neu war. »Meiyou« war das einzige chinesische Wort, das Cordelia benutzte, und es bedeutet »nichts«. Lear testet die ontologische Bedeutung von »nichts« und drängt Cordelia ihm etwas zu geben: Cordelia: Nothing, my lord. Lear: Meiyou? [in Mandarin] Cordelia: Meiyou. Lear: Nothing will come of nothing. Speak again. (Lear 1.1)

So wie die ästhetische Funktion von »nichts« und »meiyou« in ihrer Verdopplung in unterschiedlichen Sprachen liegt, entsteht der Sinn dieser Produktion erst in der Lücke sprachlichen und kulturellen Wissens des jeweiligen Publikums. Bei der Aufführung in Stratford konnte die Mehrheit des Publikums kein Chinesisch und das Wort meiyou schuf so eine Leerstelle, die das Nichts verkörperte. Darin lag sowohl der Schlüssel zum Konflikt in dieser Szene, als auch zu der späteren buddhistischen Interpretation der Erlösung Lears. Die Abwesenheit von Bedeutung wurde zur Bedeutung der Abwesenheit. Die Leerstelle wurde durch die englischen und chinesischen Übertitel sowie die Spannung zwischen Lear und Cordelia auf der Bühne hervorgehoben. Bei den Aufführungen in China, wo ein Großteil des Publikums den englischen Dialogen ohne die Übertitel kaum zu folgen vermochte, wurde das Wort meiyou zum Bedeutungsträger der Szene. Die Szene der Aufteilung des Reiches verkörperte somit die unsichere Koalition von unterschiedlichen Kulturen und über die Welt verstreuten Künstlern. Eine andere Szene, die sich die Anwesenheit zweier Kulturen zunutze machte, war die des Duells zwischen Edgar und Edmund. Unterlegt mit Rhythmen der Peking-Oper vollführten die Schauspieler in

31 David Tse in einem Interview mit Alexander C.Y. Huang, Stratford-uponAvon (16. November 2006).

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futuristischen Retro-Kostümen einen hochstilisierten Schwertkampf. Die Szene erinnerte an die stilisierten Kampfszenen zum Rhythmus von Videospielen in Nancy Mecklers »Romeo und Julia«-Inszenierung der Royal Shakespeare Company in derselben Spielzeit. Das scheint eine gängige Tendenz zu sein, solche Duelle stilistisch von der übrigen Bühnenhandlung abweichend, darzustellen. Der »Lear« von David Tse stellt eine innovative Interpretation des Stoffes dar, die mit der spätkapitalistischen Globalisierung eng verbunden ist. Doch auf dem Weg liegen einige technische Schwierigkeiten. In einer Produktion, die einen ironischen Standpunkt im Hinblick auf die Globalisierung einnimmt, verwundert es wenig, wenn mit Shakespeare wie auch der asiatischen Ästhetik recht spielerisch und frei umgegangen wird. Erwähnt werden sollte noch, dass die Schauspieler die meiste Zeit in ihrer Muttersprache redeten, was das Thema Misskommunikation im Zeitalter globaler Migration betonte und zugleich eine genaue Textwiedergabe garantierte. Die Idee ist durchaus interessant, aber schwer auf der Bühne umzusetzen, da viele der darstellerischen Unstimmigkeiten aus dem ineinander verschachtelten zweisprachigen Text erwuchsen. Den Dialogen der Schauspieler zu folgen, die mitten im Vers oder Satz zwischen den Sprachen hin-und hersprangen, war nicht ganz einfach. So war auch das Publikum gezwungen, zwischen den Übertiteln und dem Bühnengeschehen zu wechseln. Ob von der Regie beabsichtigt oder nicht, erinnerten die gebrochenen zweisprachigen Dialoge den möglicherweise beide Sprachen beherrschenden Zuschauer ständig daran, dass eine Übersetzung immer ein Prozess kultureller Fragmentarisierung ist. Zu Zweisprachigkeit und hybriden Darstellungsformen kamen andere Elemente hinzu, die das Bild der Übersetzung in den Vordergrund schoben. Das Kostüm von Lear, ein samtener Königsumhang, darunter ein weißes Hemd, vereinte klassische chinesische und moderne westliche Designelemente. Dazu trug er einen Spazierstock als Symbol seiner Autorität wie auch seiner Zerbrechlichkeit, z.B. wenn er wütend damit auf Regan zeigte oder sich in einem Moment der Nachdenklichkeit darauf stützte. Der Narr wurde von einem Chor in weißen Umhängen verkörpert, der mit seinen rhythmischen Gesängen Lears Gewissen darstellte. Goneril und Regan erinnerten in ihren Business-Kostümen an Figuren der femme fatale in Weltmetropolen. Edmund trug einen Rock aus Leder, wohingegen Edgars Kostüm deutliche Anleihen bei der traditionellen chinesischen Kleidung hoher Beamter nahm.

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Die Inszenierung nutzte die Vorteile der kleinen Bühne des Royal Shakespeare Theaters, einer behelfsmäßigen Studiobühne, die in den Zuschauersaal hineingebaut wurde. In der Mitte Bühne standen drei vom Boden bis zur Decke reichende gegeneinander verschobene, rechtwinklige Platten aus reflektierendem Material. Sie ließen sowohl an moderne Wolkenkratzer als auch an alte Rüstungen denken. Die Bühnenhandlung fand vor diesen Platten statt, die durch die jeweilige Beleuchtung vom königlichen Schloss, in semi-transparente Videowände oder in die Wildnis der Sturm-Szene verwandelt wurden. David Tse und seine Regiegeneration, aber auch die Regisseure vor ihm, wie Ariane Mnouchkine, befinden sich in einer schwierigen Position, da sowohl Experten als auch das Publikum zunehmend sensibel gegenüber dem Ge- und Missbrauch lokaler und fremder Kulturen sind. Der »Lear« von David Tse fasste dieses Dilemma von Aufführungen des bekanntesten internationalen Dramatikers in fremden Theaterstilen und Sprachen in seiner angestammten Heimat zusammen. Das Nebeneinander zweisprachiger Übertitel und zweisprachiger Bühnenpräsentation lässt selbst die original auf Englisch rezitierten Textpassagen fremd erscheinen. Die Rezeption dieser Produktion in China ist wieder eine andere Geschichte.32

32 Claire Conceison: »Review of The Crucible, 4,48 Psychosis, King Lear, The Scholar and the Executioner, and Crows and Sparrows«, in: Theatre Journal 59.3 (October 2007), S. 491–493.

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S CHLUSSBETRACHTUNG Today, when we hear the word global, the word local is rarely far behind. But it is not always clear what the local means, except it is widely considered an endangered space [...] Locality – material, social, and ideological – has always had to be produced, maintained, and nurtured deliberately. ARJUN APPADURAI33

Wie sieht die Zukunft der asiatischen Shakespeare-Produktionen in Europa aus? Welche Folgen hat diese wachsende Industrie für Shakespeare-Aufführungen und für die Kritik? Die sich ändernden Umstände globaler Verständigung sind schwer vorhersagbar, aber wir wissen, dass diese Inszenierungen in ihren verschiedenen Ausformungen kein zufälliges Produkt der Geschichte sind. Die Zusammenstöße und das Zusammenwachsen von Asien und Europa, zwei Körpern mit ihren jeweiligen lokalen ästhetischen Ausformungen, wurden von Shakespeares weltenumspannenden Texten begleitet. Michael Billington prägte einst den Begriff »Euro-Shakespeare«, um das Fehlen ethnischer Vielfalt auf britischen Bühnen zu kritisieren.34 Die späte Entwicklung eines asiatisch-britischen Theaters, wie es das Beispiel von Davis Tses »Lear« zeigt, deutet auf Veränderungen hin und darauf, dass der Euro-Shakespeare nicht länger monoton und eurozentrisch ist. Trotzdem wird die Frage der kulturellen Identität zukünftige Shakespeare-Aufführungen auch weiterhin beschäftigen. Die heutigen asiatisch beeinflussten Euro-Shakespeare-Produktionen werfen gleich eine ganze Reihe von Fragen nach den kulturellen Unterschieden auf. Ein interkultureller Shakespeare, wo und was immer das ist, muss der eigenen Fixierung auf das Exotische und seinem Festhalten an der Zweiteilung in ›fremd und eigen‹ entgegentreten, um daraus Stoff für Neues

33 Arjun Appadurai: »Globalization and the Research Imagination«, in: International Social Science Journal 51 (1999), S. 231. 34 Michael Billington: »From the Stage of the Globe«, in: The Guardian Weekly (5. Mai 1991), S. 22.

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zu ziehen. Authentizität ist dabei sicherlich weiterhin ein Thema. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass Verunsicherungen und Wissenslücken kontra-produktiv seien. Wie schon erwähnt, entwickelten sich asiatisch-inspirierte Shakespeare-Produktionen auf den Bühnen Europas von etwas Unbekanntem hin zu etwas, was zumindest von den großen Festivalbühnen nicht mehr wegzudenken ist. Aber dieses Etwas muss immer wieder erneut verfremdet werden. Ein prominentes Beispiel dafür stellt Ninagawas japonisme dar, der Auslöser heftiger Debatten unter Akademikern aus Japan und dem Westen war.35 Klar ist, dass das europäische Publikum den asiatischen Shakespeare-Produktionen nicht fremd gegenübersteht. Man spielt Shakespeare, weil seine Figuren und die Handlungsmotive vertraut sind. Auf der anderen Seite erhält er durch neue Darstellungsformen etwas Unvertrautes und Neues. Auch das asiatische Theater wurde durch diese Aufführungen eines nicht-asiatischen Dramatikers an nicht-asiatischen Orten erneuert. Ob man diese Produktionen am Ort ihrer Entstehung oder in Europa sieht, mit oder ohne die kulturelle und sprachliche Kompetenz diese voll zu verstehen, das Publikum ist sich dieser Differenzen durchaus bewusst. Asiatische Shakespeare-Produktionen werden weiterhin neue kulturelle Identitäten sowie den globalen Humanismus inspirieren und die Zuschauer in aller Welt beunruhigen. Die folgenden beiden Kapitel untersuchen zwei Inszenierungen von Shakespeares Tragödien aus China bzw. Taiwan näher. Anhand von »König Lear« und »Romeo und Julia« will ich zeigen, wie historische Bewusstheit und die persönliche Identität der Darsteller zur Vermenschlichung und Bodenständigkeit der Figuren beitragen.

35 Tetsuo Kishi: »›Bless Thee! Thou Art Translated!‹: Shakespeare in Japan«, in: Images of Shakespeare: Proceedings of the Third Congress of the International Shakespeare Association, 1986, ed. Werner Habicht, D. J. Palmer und Roger Pringle, London 1988, S. 245–250; Ronnie Mulryne, »From Text to Foreign Stage: Yukio Ninagawa‫ތ‬s Cultural Translation of Macbeth«, in: Patricia Kennen und Mariangela Tempera (Hgg.): Shakespeare from Text to Stage, Bologna 1992, S. 131–143; Yukio Ninagawa: »Interview« (4 July 1995), in: Ryuta Minami, Ian Carruthers, John Gillies (Hgg.): Performing Shakespeare in Japan, Cambridge 2001, S. 208–219; Yeeyon Im: »The Pitfalls of Intercultural Discourse: The Case of Yukio Ninagawa«, in: Shakespeare Bulletin 22. 4 (Winter 2004), S. 7–30.

9. »Wer bin ich?«: König Lear und die Vaterfigur1

Wie in Die zeitgenössische Pekingoper zwischen Ost und West beschrieben, war ihre Entwicklung im 20. Jahrhundert aufs engste mit der chinesischen Geschichte, der nationalen Identität Chinas und dem hybriden Genre des ost-westlichen interkulturellen Theaters verknüpft.2 Als Darstellungsform verbindet das Theater intuitiv menschliche Erfahrungen und Wertvorstellungen miteinander, die die Bühnenfiguren in unterschiedlicher Art und Weise verkörpern. Das Kapitel widmet sich einem außergewöhnlichen Darsteller der Pekingoper und seiner Interpretation von Shakespeares »König Lear« in einer SoloPerformance. Auf der Bühne steht ein niedergeschlagener König Lear. Er hat gerade vor den Augen des Publikums seinen jingju- (Peking-Opern-) Kopfputz und Bart abgenommen und seine Rüstung abgelegt. Nach seinem kraftvollen Auftritt als verrückter Lear im Sturm ist Wu Hsingkuo jetzt privat gekleidet.3 Es ist ein melancholischer Augenblick, in dem er zu sich selbst und dem augenlosen Kopfputz spricht. Und als er seine eigenen Augen berührt, beschwört er die Blendung Glosters und den Lacanschen Blick auf sich selbst in diesem Spiel um Schein und

1

Dieses Kapitel beruht teilweise auf dem letzten Kapitel meines Buches Chinese Shakespeares, New York 2009.

2

Alexander C. Y. Huang: »Die zeitgenössische Pekingoper zwischen Ost und West«, in: Kim Karlsson, Martina Wernsdörfer (Hgg.): On Stage: Die Kunst der Pekingoper, Basel 2011, S. 197–207.

3

Er trägt nur noch das Unterkleid seines Kostüms, was eigentlich nur backstage zu sehen ist.

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Sein herauf.4 »Wer bin ich?«, fragt er. »Kennt mich hier jemand? – Nein, das ist nicht Lear! – Geht Lear so? Spricht so? Wo sind seine Augen?«5 An dieser Stelle verwandeln sich die Augen des Schauspielers in die von Lear. Die beiden Augenpaare stehen für den Bruch, den viele Darsteller auf der Bühne vollziehen. Ein Prozess, bei dem die Identität des Schauspielers verlischt, damit er die Identität der Bühnenfigur annehmen kann. Das populäre Verständnis der Schauspielkunst im traditionellen chinesischen Theater wird jedoch in der gerade beschriebenen Szene in Frage gestellt. Andere Interpretationen seiner selbst, eines Hundes und anderer Figuren aus »König Lear« folgen noch – um genau zu sein – zehn. Wu Hsing-kuo ist wirklich einzigartig in diesem Einpersonenstück.6 Die Aufführung mit dem Titel »Lear ist da!« (Li’er zaici) ist eine überarbeitete Fassung früherer Auftritte und wurde anlässlich des Lincoln Theatre-Festivals am 12. Juli 2007 im Rose Theatre in New York präsentiert.7 In dieser Aufführung trifft Intellekt auf Körperlichkeit.

4

Wu Hsing-kuos meta-theatraler Kommentar seiner und die Augen Lears sowie die blinden Flecken ihres Sehens betreffend fällt hier mit dem Konzept des Blickes von Jacques Lacan zusammen. Lacan nimmt den anamorphotisch verzerrten Totenschädel im Gemälde »Die Gesandten« (1533) von Hans Holbein als Beispiel für den Objekt-Blick. Gesteuert von seinen Wünschen ist der Zuschauer Teil der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit verschiedener Aspekte der Realität. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar v. Jacques Lacan, Buch XI (1964), Berlin 1987.

5

Shakespeare: »König Lear«, I.4, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Darmstadt

6

Die Kritik des Wall Street Journals äußert sich ausführlich zu Einfalls-

2005, S. 606–607. reichtum und Virtuosität dieser Solo-Performance. Matthew Gurewitsch: »A Cast of One for King Lear«, in: Wall Street Journal (July 10 2007), Eastern Edition, D5. 7

Ich werde im Folgenden diese Version des Lincoln Centers zitieren und durch einige Details aus den Auftritten in Paris 2000 und Taipei 2004 ergänzen. »Li‫ތ‬er zai ci« (Lear ist da!) wurde von Wu Hsing-kuo geschrieben, inszeniert und gespielt und vom Contemporary Legends Theatre Taiwan produziert. Die Aufführung tourte durch die USA, Europa und Asien. Die Aufführung am Lincoln Center wurde unterstützt von der Alice Tully

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Sie schließt mit einer meditativen Szene. Wu spielt in buddhistischer Mönchsrobe wieder einmal eine mehrdeutige Rolle, die ihn selbst, Lears Geist, ein transzendentes Wesen, sowie die Verkörperung der Peking-Opern-Tradition in ihrer Krise darstellt. Und noch einmal evoziert er die Vielfalt der Beziehungen zwischen den verschiedenen Identitäten eines Darstellers auf der Bühne und jenseits von ihr. Wu Hsing-kuos Gestik ruft beim Betrachter die Erinnerung an eine frühere Szene hervor, die bei Dover spielte. Wu ist hier der blinde Gloster, der nach Dover, zum Ort seiner Erlösung, ›blickte‹. Ein Zungenschlag nur, und sein Singsang des Wortes Duofo, der chinesischen Transliteration von Dover, wird zu Amituofo (Amitabha Buddha). Die Schlussszene betont noch einmal die zentrale Bedeutung der Identität des Schauspielers. In ihr heißt es: »Wer bin ich? Ich bin ich. Und ich suche mich. Ich denke an mich, sehe mich an, kenne mich ... töte mich. Ich vergesse mich. Ich träume von mir«. Das buddhistisch gefärbte Ende ist ein passender Schluss für ein neues Stück über die Zerrissenheit Wu Hsing-Kuos zwischen seiner Identität als taiwanischer Schauspieler und als Peking-Opern-Darsteller, einer Kunst, die gemeinhin als die Kunstform Chinas angesehen wird. »Lear ist da!« kümmert sich nicht um den herrschenden Authentizitätsdiskurs oder das, was Barbara Hodgdon »Fantasien des Originals« nennt.8 Die zentrale Bühnenfigur ist der Schauspieler und seine persönliche Geschichte. Ihm ist die Interaktion seiner Figuren mit dem Publikum wichtiger, als die Überlegenheit der einen oder anderen Form kultureller Repräsentation zu beweisen. Wu Hsing-kuos Darstellung buddhistischer Motive und seiner selbst als Autor und Schauspieler in dieser Produktion ist kein Einzelfall. Den Einsatz buddhistischer Rezitationen von Shakespeare-Texten oder sehr persönlichen Geschichten finden wir auch bei anderen Re-

Foundation, dem Asian Cultural Council, dem Josie Robertson Fund for Lincoln Center, dem National Endowment for the Arts, aus öffentlichen Mitteln der Stadt und des Staates New York sowie dem Rat für kulturelle Angelegenheiten Taiwans. 8

Barbara Hodgdon: »Stratford’s Empire of Shakespeare; or, Fantasies of Origin, Authorship and Authenticity: The Museum and the Souvenir«, in: The Shakespeare Trade: Performances and Appropriations, Philadelphia 1998, S. 191–240.

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gisseuren, z.B. in den Filmen »Hamlet« von Michael Almereyda,9 »King Lear« von Jean-Luc Godard10 oder auch in dem SprechtheaterStück »Lear and the Thirty-seven-fold Practice of a Boddhisatva« von Stan Lai (Lai Sheng-chuan). 11 Bei aller stilistischen Unterschiedlichkeit ist die Betonung der individuellen Stimmen in diesen Beispielen besonders stark.

9

Die Integration persönlicher Befindlichkeiten findet sich in mehreren modernen Shakespeare-Inszenierungen, z.B. in dem Ein-Personen-Stück »Elsinore« (nach »Hamlet«) von Robert Lepage oder Michael Almereydas Film »Hamlet« (2000). Margaret Jane Kidnie nennt Lepages Inszenierung das Zusammentreffen der Erfahrungen eines Schauspielers mit Hamlet. »Dancing with Art: Robert Lepage’s Elsinore«, in: Sonia Massai (Hg.): World-wide Shakespeares: Local Appropriations in Film and Performance, London 2005, S. 140. In ähnlicher Weise heißt es bei Mark Burnett, dass Film-und Videomachen ein Mittel darstelle, persönliche Skripte zu schreiben, was in Almereydas Film »Hamlet« besonders deutlich werde. Die Kamera schwenke wiederholt über die Augen des Autors Hamlet, wie um zu verdeutlichen, dass er eine Geschichte sichtbar macht, die ansonsten verborgen bliebe. Mark Burnett: Filming Shakespeare in the Global Marketplace, New York 2007, S. 52.

10 »King Lear«, Drehbuch und Regie: Jean-Luc Godard, Cannon Films 1988, Darsteller: Peter Sellars. Peter Donaldson sieht den Film als ein modernisiertes, fragmentarisiertes Werk, was nur zum Teil auf Shakespeares Text beruhe. Er glaubt, dass Godard den Film benutzte, um die Grenzen seiner Kontrolle über sein Werk zu zeigen. »Disseminating Shakespeare: Paternity and Text in Jean-Luc Godard’s ›King Lear‹«, in: Shakespearean Films/ Shakespearean Directors, Boston 1990. Siehe auch: Anthony R. Guneratne: Shakespeare, Film Studies, and the Visual Cultures of Modernity, New York 2008, Kap. 5; Alan Walworth: »Cinema Hysteria Passio: Voice and Gaze in Jean-Luc Godard’s ›King Lear‹«, in: Lisa S. Starks, Courtney Lehmann (Hgg.): The Real Shakespeare: Alternative Cinema and Theory, Madison 2002, S. 59–94. 11 Diese 30minütige Aufführung wurde beim Experimentellen ShakespeareFestival Hongkong im März 2000 uraufgeführt. Das Stück wurde für 4 Vorführungen vom Off-PW (Wai biaofang shiyan tuan), einem Ableger von Lai Sheng-chuans Peformance Workshop Taipei, im Mai 2001 wiederaufgenommen.

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Vorliegendes Kapitel wendet sich der Frage zu, was uns lokal und global kulturelles Ansehen verschafft, und welche persönliche Rolle der Künstler dabei einnimmt.12 Es ist erwähnenswert, dass »König Lear« eines der am häufigsten in Asien gespielten Shakespeare-Stücke ist. »König Lear« nimmt einen besonderen Platz im postmodernen Theater Chinas wie auch des Westens ein. Das Stück ist für die Postmoderne, was »Hamlet« für die Romantik war: »das Symbol eines Zeitalters«.13 An Wu Hsing-kuos Solo-Performance interessiert mich insbesondere seine Rolle als Autor auf der Suche nach sich selbst. Darum will ich mit zwei Fragen zum kulturellen Hintergrund und dem neuen Genre der Solo-Performance beginnen. Erstens: Was heißt es, ein jingju-Darsteller in Taiwan zu sein, in einer Gesellschaft, die sich in wachsendem Maße von allem Chinesischen distanziert hat? Und zweitens: Worum geht es in einer Solo-Performance, wie derjenigen von Wu? In Taiwan wurde das traditionelle chinesische Musiktheater, xiqu, und hier besonders die Peking-Oper aus politischen Gründen von verschiedenen Interessengruppen zur Durchsetzung ihrer Ziele vereinnahmt. Taiwan hat seine eigene kulturelle Identität immer in Abgrenzung zu anderen formuliert – zu Holland, zu Japan oder jetzt zu China. Mitte des 20. Jahrhunderts benutzte die Kuomintang, die Nationalpartei Chinas, die Pekingoper, guoju – nationales Theater genannt, um die chinesische Kultur unter den Einheimischen populär zu machen. Zu jener Zeit war Taiwan gerade von der Kolonialmacht der Japaner befreit worden. Nun sollten die japanisch-sprechenden Taiwaner in eine

12 Ich verwende den Begriff kulturelles Ansehen, um die Spannung zwischen dem persönlichen Anliegen des Künstlers und der universellen Währung Shakespeare hervorzuheben. Pascale Casanova schreibt, dass die literarische Welt mit ihrem symbolischen Mittelpunkt Paris von der Ökonomie kulturellen Ansehens regiert werde. James English wendet sich in seinen Studien zu Literaturpreisen noch einem anderen Aspekt dieses kulturellen Ansehens zu. James F. English: The Economy of Prestige: Prizes, Awards and the Circulation of Cultural Value, Cambridge MA 2005, S. 264; Pascale Casanova: The World Republic of Letters, engl. v. M.B. De Bevoise, Cambridge MA 2004, S. 9. 13 Arthur Holmberg: »The Liberation of Lear«, in: American Theatre (July/ August 1988), S. 12; zit. in: Susan Bennett: Performing Nostalgia: Shifting Shakespeare and the Contemporary Past, London 1996, S. 39.

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›chinesische Nation‹ überführt werden. In diesem Kulturkampf um das Chinesische nahm die Peking-Oper einen besonderen Platz ein. Ihr Name bereits verriet die Assoziation mit Beijing, der kulturellen Hauptstadt eines imaginierten chinesischen Reiches, dass die KMT gerade an die Kommunistische Partei Chinas verloren hatte. Nach Aufhebung des Kriegsrechtes Mitte der achtziger Jahre, wurde die Assoziation von Peking-Oper und China zur ›Erbsünde‹ erklärt. Die PekingOper entwickelte sich von einer staatlich geförderten Kunst zu einem Genre, das die Mehrheit der Taiwaner ablehnte. Selbst ohne diese neue ideologische Wende war die Peking-Oper bereits stark angeschlagen. Ihr Publikum wurde immer älter und bestand hauptsächlich aus Leuten vom Festland, die in den vierziger Jahren der Nationalpartei Chinas, der Kuomintang, nach Taiwan gefolgt waren. Nancy Guy schreibt dazu, dass die Peking-Oper in Taiwan seit den achtziger Jahren eine Kunst im Wirbel der Ideologien sei, die sich in der Schwebe befinde.14 Die Suche nach der Identität Taiwans, sowie die fortgesetzten Spannungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan verschlimmerten die Situation. Die Peking-Oper wurde zum Sündenbock in dieser Identitätskrise gestempelt und ihre öffentliche wie private Unterstützung schwand dahin. Mit Wu Hsing-kuo tauchte ein Rebell auf, der die Peking-Oper vor dem Sterben retten wollte. Er wurde bekannt für seine umstrittenen Produktionen, die westliche Klassiker mit der Peking-Oper verbanden. Was den Darstellungsstil anbelangt, gibt es schon seit den achtziger Jahren keine klare Grenze mehr zwischen dem traditionellen Musiktheater (xiqu) und dem Sprechtheater (huaju). Besonders deutlich wird das in den Arbeiten des Contemporary Legend Theatre, das Wu Hsingkuo 1986 gründete. Das Ensemble, das von ihm und seiner Frau Lin Hsiu-wei geleitet wird, experimentierte mit Ausdrucksformen der Peking-Oper, westlicher und chinesischer Musik, sowie illusionistischen Bühnenbildern. Bekannt wurde das Contemporary Legend Theatre mit Adaptionen von »Hamlet«, »Macbeth« und »Der Sturm« oder auch der »Orestie« und »Medea«, die zu neuen Klassikern des chinesischen Theaters wurden. Wu Hsing-kuo sieht die Aufgabe seines Ensembles im 21. Jahrhundert »nicht nur in der Rettung der Tradition, sondern auch darin, diese in die Moderne zu überführen und ihr somit einen

14 Nancy Guy: Peking Opera and Politics in Taiwan, Urbana 2005, S. 2–5.

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dritten Weg für ihr Weiterbestehen zu ermöglichen«.15 Für die gegenseitige Beeinflussung von Sprechtheater und traditionellem Musiktheater gibt es zahlreiche Beispiele. Das Stück »Die Entdeckung der Peking-Oper« (Jingxi qishilu, Taiwan, 1996) von Lee Kuo-hsiu zeigt und kommentiert die Beziehungen der beiden Kunstformen, der PekingOper und des Sprechtheaters. Genau in diesem Kontext entstand Wu Hsing-kuos Solo-Performance, in der er seine eigene Biographie über die der ShakespeareFiguren legte. Er schuf damit ein neues chinesisches Theatergenre. Auftritte von xiqu-Darstellern, in denen ein Sänger berühmte Arien aus europäischen Opern singt, gab es in China schon seit langem. Aber es gab keine kompletten Stücke, die für einen einzigen Schauspieler geschrieben waren und von diesem gespielt wurden. Die Verknüpfung autobiografischer Elemente mit Shakespeareschen oder anderen westlichen Stücken ist heute kein Einzelfall mehr. Seit dem Jahr 2000 gibt es eine wachsende Zahl solcher Gastspiele, unter ihnen Zhao Zhigangs yueju (Shaoxing-Oper) »Hamlet auf dem Friedhof«, Huang Hsianglians gezaixi (Taiwan-Oper) »Romeo und Julia«, Li Xiaofangs qinqiang (Shaanxi-Oper) »Faust« nach Goethe oder Tian Manshas chuanju (Sichuan-Oper) »Lady Macbeth«. Der Erfolg der Festivals für experimentelle und chinesische Solo-Oper in Hongkong (2001, 2002) und Taiwan (2004) beweist die wachsende Popularität dieses neuen Genres, des Solo-Shakespeare. Im Zentrum dieser Solo-Performances steht immer die Autobiographie des Darstellers. Die autobiographische Lesart von Shakespeare-Stücken, in der das Nationale zugunsten des Randständigen, Individuellen verdrängt wird, erfreut sich bei asiatischen Darstellern und manchmal auch bei westlichen Kollegen zunehmender Popularität.16 So untersuchte Gareth Armstrong in seiner Solo-Performance »Shylock« (Regie: Frank Barrie) den Antisemitismus und die Aufspaltung des Ich, während er verschiedene Figuren des Stückes darstellte. Die Inszenierung erhielt

15 Wu Hsiing-kuo: »Directors Note, Lincoln Center Festival July 10–July 29, 2007«, in: Programm, S. 19. 16 Solo-Performances sind ein Mittel der Schauspielausbildung in den USA, um die Beziehung zwischen dem Schauspieler-Ich und dem Figuren-Ich zu verstehen. Das Theater-Konservatorium des Denver Center for the Performing Arts beispielsweise verlangt von seinen Studenten im 2. Jahr eine Solo-Shakespeare-Performance, wobei eine Figur sehr intensiv studiert wird.

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überwältigende Kritiken und war u.a. in Washington D.C. und San Francisco zu sehen. Obwohl beide Inszenierungen, die von Wu Hsingkuo und von Gareth Armstrong, nicht unbedingt leichte Kost für das Publikum darstellen, sind sie bis heute populär und werden immer noch gespielt. Der Hamlet des japanischen Schauspiel-Stars Mansai Nomura ist ein weiteres Beispiel für die sichtbare Überschneidung der Schauspielerpersönlichkeit mit seiner Rolle. In diese Reihe gehört auch der »Shamlet« von Lee Kuo-hsiu (1992), eine autobiographische Parodie des »Hamlet«. Die Shakespeare-Trilogie »Lear« (1998), »Desdemona« (2000), »Search: Hamlet« (2002) von Ong Keng-Sen weist ebenfalls autobiographische Spuren auf, die Ong einsetzt, um weder der Tendenz zur Okzidentalisierung noch zur Orientalisierung zu verfallen. Wu Hsing-kuo richtet das Augenmerk seiner Shakespeare-Produktion auf die Gefühle zwischen Vater und Kindern, auf seine eigenen miteinander widerstreitenden Identitäten. Ebenso ist ihm wichtig, die Peking-Oper durch neue Formen wiederzubeleben und gleichzeitig ihre ›authentische‹ Tradition zu bewahren. Seit seiner Premiere in Paris 2000 ruft das Stück weltweit Interpretationsversuche dieser sehr persönlichen Lesart der eigenen Lebensgeschichte und verschiedener Figuren des »Lear« hervor. Ariane Mnouchkine, Gründerin und künstlerische Leiterin des Théatre du Soleil lud im Jahr 2000 Wu Hsing-kuo nach Paris ein, wo er einen Workshop leiten sollte. Hier spielte er seine erste Version von »Lear ist da!« Aus diesen szenischen Fragmenten entwickelte Wu von Mnouchkine ermutigt ein abendfüllendes Einpersonenstück. Seine Aufführung im Lincoln Center widmete er Mnouchkine: »Diese Solo-Performance wurde durch die Ermutigung von Ariane Mnouchkine erst möglich. Ohne sie würde es den »König Lear« von Wu Hsing-kuo nicht geben«.17 Persönliche Motive des Autors verwandeln Shakespeare hier in ein Stück über ineinander verwobene Identitäten, die Wu Hsing-kuo selbst und sein Publikum etwas angehen. Dabei arbeitet er das verbindende Element zwischen modernen Schauspielern und frühmodernen Stücken sowie dem Persönlichen und dem Fiktionalen heraus. »Lear ist da!« ist eine drei Akte dauernde experimentelle Pekingopern-Tour de force. Wu spielt darin neun verschiedene Figuren aus »König Lear« in

17 »King Lear«, Programm, Contemporary Legend Theatre, Juli 2007.

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unterschiedlichen Rollenfächern der Peking-Oper und nutzt also ganz verschiedene Schauspieltechniken.18 Die Produktion folgt nicht dem Original-Plot von »König Lear«, aber überträgt die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur auf die eigene Biographie. Der volle Titel des Stückes »Lear ist da!, Wu Hsingkuo trifft Shakespeare« legt nahe, dass es sich um Wu Hsing-kuos Version des Shakespeare-Dramas und seine schwierige Vater-KindBeziehung handelt. Dem zweiten Teil des Titels sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es ist nämlich Wu, der Shakespeare trifft und diese Begegnung befähigt ihn, in die verschiedensten Figuren zu schlüpfen, insbesondere die seiner selbst als Schauspieler und die seines toten Meisters. Der erste Akt, »Theater«, zeigt den einsamen Lear im Sturm. Der zweite Akt, »Spiel«, zeigt den Narren, den Grafen von Kent, Lear, Goneril, Regan, Cordelia, den geblendeten Grafen von Gloster, Edmund und den ›verrückten‹ Edgar. Im dritten Akt, »Mensch«, tritt Wu selbst als Figur auf. Das Stück ist eine Reise von den inneren Welten des einsamen Lear, die sich in verschiedenen Identitäten und Figuren entladen, hin zur Welt des einsamen Wu Hsingkuo. Die Spannung zwischen dem Vater und seinen Töchtern in »König Lear« verwandelt Wu Hsing-kuo in eine Allegorie über seine schwierige Beziehung zu seinem jingju-Lehrer. Damit kann »Lear ist da!« als Ritual der Erlösung Wu Hsing-kuos gelesen werden. Wus Widerstand gegen seinen toten Lehrer nimmt verschiedene Formen an. Er spielt nicht nur Lear, den Vater, dem Unrecht geschieht, sondern auch Regan, die aufsässige Tochter, Edgar, den ungerecht behandelten Sohn und den geblendeten Gloster, einen weiteren Vater mit einer problematischen Beziehung zu seinem Sohn. Im Wechsel zwischen den Figuren

18 In dem Stück verwendete Rollenfächer reichen vom laosheng (alter Mann), wusheng (kampfbetonte Männerrolle) über huadan (temperamentvolle junge Frau), qingyi (singende Frauenrolle), chousheng (komische Männerrolle), guimendan (Dame im Frauengemach) bis xiaosheng (junger Mann), jing (Held mit bemaltem Gesicht) und mo (Geschichtenerzähler). Im ersten Akt spielt Wu den Lear im Rollenfach des laosheng, des alten Mannes. Akt 3 nähert sich stilistisch dem postmodernen Sprechtheater. Die einzige Bühnenfigur ist Wu selbst (der Schauspieler als Figur), der die Bühne ohne Gesichtsbemalung oder die stilisierten Bewegungen der Peking-Oper bespielt.

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des Vaters und der Tochter setzt Wu seinen eigenen Widerstand gegen die dominante Vaterfigur um, während er gleichzeitig die Antworten des Meisters in der Rolle des Vaters verkörpert. Es geriet manchmal in den Hintergrund, dass die Produktion eine Auseinandersetzung Wus mit seiner Lehrzeit und seiner Karriere als Peking-Opern-Darsteller ist. Stilistisch gibt Wu Hsing-kuo durch Cross-Dressing und das Spiel verschiedener Figuren in unterschiedlichen Rollenfächern ein Statement gegen das klassische Training seines Meisters ab. Thematisch bringt »Lear ist da!« die Konfrontation zwischen dem Schauspieler und den Figuren Shakespeares auf die Bühne. Er will den Text Shakespeares nicht dekonstruieren, aber er versucht ihn auch nicht einfach darzustellen. Der Vorrang gehört im Falle dieses »Lear« der Anwesenheit des Autors und Schauspielers, die in einer Person vereint sind. Die Verlagerung von Shakespeare-Stücken in autobiographischen Performances betont die Bedeutung des lokalen, individuellen Lesers eines weltweit zirkulierenden Textes. »Lear ist da!« mag als repräsentativ für kleine ShakespeareProduktionen gelten. Das Stück entstand aus einem persönlichen Bedürfnis heraus. Wu Hsing-kuos Kampf mit verschiedenen dramatischen, persönlichen, kulturellen und nationalen Identitäten war Antrieb, dieses Stück zu machen. Entgegen vielen Produktionen auf den Shakespeare-Festivals in China (1986, 1994), die sich eher um die politischen Aspekte als um ästhetische Fragen der Aneignung Shakespeares kümmerten, hatte Wu Hsing-kuo persönliche Motive, dieses Stück auf die Bühne zu bringen. Anders als in seinen früheren Adaptionen bekam »Lear« hier eine therapeutische Seite, die Wu erlaubte, seine Ängste gegenüber der dominanten Figur des Meisters/Vaters zu kanalisieren. Im Spiel der zehn Figuren konnte Wu viele von ihnen miteinander aussöhnen. Das Stück ist eine Montage wichtiger ShakespeareSzenen aus »König Lear«, die gestatten, eine Vielzahl der Stückfiguren plus den Darsteller selbst auf der Bühne zu versammeln. Der Kampf der verschiedenen Identitäten des Schauspielers kulminierte in der Frage, die Wu und König Lear stellen: »Wer bin ich?« Das ist die zentrale Frage des 3. Aktes, in dem Wu auf der Bühne im Kreis läuft und wiederholt fragt: »Wer bin ich?« Bereits der 1. Akt enthält eine wörtliche Übersetzung folgender Passage aus Akt 1 Szene 4 bei Shakespeare:

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»Kennt mich hier jemand? – Nein, das ist nicht Lear! Geht Lear so? Spricht so? Wo sind seine Augen? Sein Kopf muss schwach sein, oder seine Denkkraft Im Todesschlaf. Ha, bin ich wach? – Es ist nicht so. Wer kann mir sagen, wer ich bin?«

In diesem postmodernen Pastiche unterstreicht eine plötzliche wörtliche Übersetzung die Wichtigkeit dieser Passage für die Adaption. Wus Methode ist es, die verschiedenen Identitäten miteinander sprechen zu lassen und ihre Zeilen im Stück mit denen des Schauspielers auf der Bühne zu vermischen. Der erste Akt von »Lear ist da!«, mit dem verrückten Lear im Sturm, dauert fast dreißig Minuten. Wu verbindet hier die Choreographie von Schritten aus dem modernen Tanz mit dem Rhythmus postmodernen Theaters, um eine Reihe von Emotionen aus Akt 3 Szene 2 des König Lear darzustellen. Wo er in anderen Szenen Monologe und stilisierte Bewegungen kombiniert, stützt Wu sich hier allein auf kodierte Gesten und den Tanz, unterlegt von jingju-Rhythmen, um die Sturmszene und Lears Reue zu ›übersetzen‹. Das Heulen des Windes, der grollende Donner und seine Wut werden durch Schreiten, Tippelschritte, Salti und die Bewegungen seines langen Bartes und der Wasserärmel ausgedrückt. Gegen Ende des ersten Aktes bringt Wu zunehmend seine eigene Geschichte, seinen Werdegang in diese Darstellung ein. Dabei stützt er sich auf vergleichbare Situationen und Emotionen, die er in »König Lear« dargestellt findet. Vor dem Publikum verwandelt sich Wu vom alten Lear in einen taiwanischen jingju-Darsteller. Er legt den Kopfputz und seinen Opern-Bart ab, um die Gesichtsbemalung des Kämpfers freizulegen. Auch sein Kostüm legt er ab, so dass das darunter getragene Unterkleid zum Vorschein kommt. Dieses Unterkleid ist zwar Teil des Kostüms, aber niemals auf der Bühne zu sehen. Es dient als Stütze des schweren Kostüms eines Kämpfers. Indem er sich so entkleidet, dreht er den theatralen Verwandlungsprozess um. Mit dem Kostüm spielend, spricht Wu zum Publikum und zu sich selbst, jedoch nicht als Lear: Da bin ich wieder! (Auf den Bart in seiner Hand blickend) Wer ist das? (Zum Publikum) Kennt ihn hier jemand?

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(Wieder auf den Bart blickend) Das ist nicht Lear. (Steht auf) Wo ist Lear? (Geht) Geht Lear so? Spricht Lear so? (Seine Augen berührend) Wo sind seine Augen?19

Der Text nimmt hier Lears Worte wieder auf, die von Gonerils Grausamkeit ausgelöst wurden, und aus Akt 1 Szene 4 bei Shakespeare entnommen sind. Während er spricht, verschmiert Wu Hsing-kuo seine Gesichtsbemalung und zerstört damit die theatrale Illusion. Das Publikum ist erstaunt über den Kontrast von König und gewöhnlichem Menschen, der hinter dieser Verkleidung steckt. Als sich Wu an das Kostüm von Lear wendet, stellt er den König gleich zweifach dar, als fiktionale Figur und als menschlichen Darsteller, der diese Figur verkörpert. Ihr Nebeneinander zeigt den Darsteller auf der Suche nach Identität. Das ist natürlich ein Begriff aus der politischen Theorie Europas. Als menschliches Wesen ist der König sterblich, aber Macht und Herrschaft verkörpernd, wird er unsterblich. Auch Wu Hsing-kuos Beziehung zu seinem Meister könnte von diesem Gedanken beeinflusst sein. Die Farbe auf seinem Gesicht weiter verwischend, setzt er die verwirrende Verschmelzung der beiden Figuren fort und fragt: Ist er verwirrt? Ist er gefühllos? Ist er bei Bewusstsein? Wer kann mir sagen, wer ich bin! Ich will es herausfinden.20

Als er niederkniet und ehrfürchtig, wie bei einem Opferritual, sein Kostüm zusammenlegt, verlässt er die Figur des Lear und nimmt seine eigene Identität an. Die zusammengefaltete Rüstung an sich nehmend, verkündet er: »Da bin ich wieder! ... Ich bin zu meinem Beruf zurückgekehrt«. Die Rückkehr, die er hier erwähnt, hat eine große symbolische Bedeutung: 2001, zwei Jahre nach Auflösung seines Contemporary Legend Theatre, kehrte Wu mit der experimentellen Produktion

19 Wu Hsing-kuo, »Lear Is Here«. 20 Shakespeare, »King Lear« (1.4.226–30).

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»Lear ist da!« auf die Bühne zurück. Das Stück verkörperte damit seinen Triumph über personelle und finanzielle Schwierigkeiten. Im Prolog fragt Wu nicht ohne Augenzwinkern: »Bin ich der einzige, der noch auf der Bühne ist?« Im Programmheft schreibt er, dass die Produktion in der schwersten Zeit seiner Karriere begonnen habe. Er musste die Theatergruppe auflösen, die er zwölf Jahre zuvor gegründet hatte. Auf der einen Seite wurde sie von vielen Theatern und Geldgebern, aufgrund der negativen Assoziation von Peking-Oper und China abgewiesen. Auf der anderen Seite teilten einige der Mitglieder nicht seine Ideale. Und so sieht Wu sich selbst als Lear, Himmel und Erde verfluchend und wütend auf Zurückweisungen und Betrug reagierend. Schließlich aber ist er in seiner Solo-Performance nicht allein, denn mit ihm sind jene Figuren, die er in den verschiedenen jingjuRollenfächern sheng (männliche Rolle), dan (Frauenrolle), jing (Helden mit bemalten Gesichtern) und chou (Spaßmacher) verkörpert.21 Man könnte fragen: Warum Shakespeare? Warum »König Lear?« Warum wählt Wu ein ausländisches Stück für seine Rückkehr auf die Bühne? Wu wählte »Lear«, weil das Stück einen psychologischen Prozess beschreibt, der auch in seiner eigenen Biographie mitschwingt. Die Frage sei dennoch erlaubt, warum er dann kein chinesisches Stück genommen oder einfach ein neues geschrieben habe? Wu wird dem Vorwurf, er benutze den Namen Shakespeares und dessen Bekanntheit, nicht entgehen können. Ein Problem der Peking-Oper in Taiwan wie auch in der Volksrepublik China ist die Überalterung und der Schwund des Publikums. Wu war der Ansicht, ein chinesisches Stück würde viel weniger Medieninteresse und Publikum anziehen. Als Theaterkünstler war er sich der ökonomischen Bedeutung dieser Rückkehr auf die Bühne deutlich bewusst. Er war auf den Kassenerfolg und andere Formen finanzieller Unterstützung angewiesen und wusste, dass ein innovativer Shakespeare im Gewand der chinesischen Oper auch ein junges Publikum ansprechen würde. Experimentelle Regisseure wie Wu sind oft dem Angriff ausgesetzt, dass sie nur für ein englischsprachiges Publikum spielen. Aber abgesehen von praktischen Überlegungen liefern die autobiographischen Einlassungen eine interessante Antwort darauf, warum Wu gerade »König Lear« adaptiert hat. In einem Abschnitt mit dem Titel

21 Wu Hsiing-kuo: »Directors Note, Lincoln Center Festival July 10–July 29, 2007«, in: Programm, S. 19.

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»Ich habe keinen Vater, nur Meister« erinnert sich Wu an seine Lehrjahre. Der Titel ist in der Tat eine passende Beschreibung seiner jingju-Karriere. Meister Zhou Zhengrong bildete Wu im Rollentyp wusheng (kampfbetonte Männerrolle) aus. Wu hatte seinen Vater im chinesischen Bürgerkrieg verloren. Sein Meister, der ihn erzogen und ausbildet hatte, wurde zum Ersatzvater für ihn. Bevor der Meister seinen Schüler annahm, musste Wu Hsing-kuo vor ihm niederknien und den Kotau verrichten, wie es die traditionelle Zeremonie verlangte. So wie eine Vater-Sohn-Beziehung fordert auch die Beziehung zwischen Meister und Schüler in der Pekingoper Respekt und Unterwürfigkeit. Wu servierte während der Proben Tee und brachte seinem Meister heiße Handtücher. Zu besonderen Anlässen wie dem Geburtstag des Meisters kniete er vor ihm nieder, um seinen Respekt zu zollen. Sogar seinen Namen hatte er geändert, da einer der Lehrer an der Schule seinen eigentlichen Namen, Hsing-chiu (das letzte Zeichen bedeutet Herbst), zu feminin fand. Er wurde fortan Hsing-kuo genannt (das letzte Zeichen hier bedeutet Nation).22 Aus Wu Hsing-kuo wurde schließlich ein anerkannter Darsteller. Er begann, eigene ästhetische Charakteristika herauszubilden, was unweigerlich zu Konflikten mit Meister Zhou führte. Eines Tages, als der Meister ihn während des Trainings schlagen wollte, hielt Wu seinen Stock fest und sagte vorwurfsvoll: »Meister, ich bin bereits 30 Jahre alt und genügend motiviert, um mein Können zu perfektionieren. Ist es wirklich nötig, dass Sie einen Schüler schlagen, wenn Sie ihm Darstellungstechniken beibringen?«23

Daraufhin lehnte Meister Zhou es ab, Wu weiterhin als seinen Schüler anzuerkennen. Meister Zhou starb im Juni 2000, in dem Monat, da Wu Hsing-kuo »Lear ist da!« aufführte. Einige Tage vor dem Tod des Meisters träumte Wu von einem Kampf, in dem er den Meister mit bloßen Händen tötet.24 In dem Glauben, einige von Lears Charakterzügen, wie Wut, Wahnsinn, Arroganz und Launenhaftigkeit zu teilen, befand er, die Solo-Performance sei der passendste Weg für seine Rück-

22 Wu Hsing-kuo: »Wo yan beiju renwu (Ich spiele tragische Figuren)«, in: Shijie ribao (Die Welt) (1.11.2006), J8. 23 »Li’er zai ci (Lear ist da!)«, Programm der Aufführung (Taipei Version). 24 »Li’er zai ci (Lear ist da!)«, Programm der Aufführung in Taiwan.

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kehr auf die Bühne und werde ihm helfen, seine eigene Identität zu finden.25 So gesehen ist es nicht schwierig zu erkennen, warum Wu »König Lear« gewählt hat, wenn die Reaktion auf seinen Meister auch unterschiedliche Formen annimmt. Das Wechselspiel von Vater/Tochter bzw. Meister/Schüler, Cross-Dressing und das Spiel verschiedener Figuren in verschiedenen Rollenfächern sind ein klares Statement gegen die Methoden seines Meisters. Wu ist nicht länger ein Schauspieler, der auf das Rollenfach des wusheng, des Kämpfers begrenzt ist, sondern ein vielseitiger Darsteller, der kulturelle und GeschlechterGrenzen überschreiten will und kann. Diese Vielseitigkeit und die Fusion verschiedener stilistischer Elemente stellen einen künstlerischen Neuanfang dar und sind Zeichen des Widerstandes geworden. Ganz bewusst spielt »Lear ist da!« mit Kulturunterschieden, weniger um politischer Zusammenhänge willen, als zur Überwindung persönlicher Identitätskrisen. Das Stück ist Ausdruck des Paradigmenwechsels in der asiatischen Tradition des Adaptierens westlicher Werke. Ein Wechsel vom Authentizitätsdiskurs hin zu künstlerischer Subjektivität bei der Inszenierung von Werken der Weltliteratur. Besondere Aufmerksamkeit fand daher Wus Umgang mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln, sowie seine Souveränität im Umgang mit Shakespeares Text. Die Kritiken interkultureller Performances stellen jedoch nach wie vor Kategorien, wie die Universalität Shakespeares oder die kulturelle Authentizität in den Vordergrund. Yong Li Lan z.B. schreibt, dass mit dem Nebeneinanderstellen der Figuren des Lear und des Schauspielers beide neu gestaltet würden. Und schnell fügt sie hinzu, dass es in dieser doppelten Inszenierung nicht um Wus kulturelle Identität, sondern um seine kulturelle Autorität gehe.26 Ich glaube, dass die Beziehung zwischen den Shakespeare-Figuren und ihren modernen Verkörperungen durch Schauspieler ausbalanciert ist. Die autobiographischen Momente in Wus Performance zeigen ihre gegenseitige Befruchtung.

25 Wu Hsiing-kuo: »Directors Note, Lincoln Center Festival July 10–July 29, 2007«, in: Programm, S. 19. 26 Yong Li Lan: »Shakespeare and the Fiction of the Intercultural«, in: Barbara Hodgdon, W.B. Worthen (Hgg.): A Compagnon to Shakespeare and Performance, Oxford 2005, S. 547.

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Lassen Sie mich zurückkommen auf die Unterschiede zwischen großen und kleinen Shakespeare-Produktionen. Michael Bristol kritisiert den heute oft unpersönlichen Umgang mit Shakespeare, der einfach eine Handelsware aus ihm mache, die unter einander fremden Leuten kursiere.27 Die kleinen Shakespeare-Produktionen funktionieren auf ganz andere Art und Weise. In der Aufführung »Lear ist da!« sind Shakespeares Figuren, der Schauspieler und die Zuschauer keine Fremden füreinander. Als Wu beispielsweise in seiner Heimatstadt auftrat, wusste die Mehrheit des Publikums über seine Identitätskrise Bescheid und bejubelte ihn, als er verkündete: »Da bin ich wieder. Ich bin zurückgekehrt zu meinem Beruf.«28 Ein informiertes internationales Publikum verstand dieses theatrale Experiment mit Wu HsingKuos Leben und seinen persönlichen Motiven zu verbinden.29 Das Publikum kam, um die Verwandlungen des Schauspielers und nicht nur die Darstellung von Lear zu sehen. Indem Wu Hsing-kuo selbst eine der zehn Figuren darstellte und seine eigene Biographie über die fiktive von Lear legte, enthüllte er die Dreiteilung seiner Figurengestaltung: vom Ich zur Person des Schauspielers auf der Bühne, zur Psyche der Figuren. »Lear ist da!« ist eine Adaption des Stoffes, die den Moment der Begegnung von Darsteller und Publikum im Theater betont. Die Vergangenheit, die von Shakespeares Stücken repräsentiert wird, wird zum allegorischen Referenzrahmen für die das moderne Publikum umgebende Wirklichkeit. Die kleinen Shakespeare-Produktionen konzentrieren sich mehr auf die Bedürfnisse ihrer Schöpfer als auf die große Politik. Diese persönliche Motivation kann natürlich politisch sein, aber sie formt die Inszenierung auf ihre Weise. »Lear ist da!« lässt die Biographien der fiktionalen Figuren und des Schauspielers durch nonverbale Ausdrucksmittel verschmelzen. Nach der Premiere im Jahr 2000 zog das Stück auch weiterhin ein weltweites Publikum an. Man wollte Wu Hsing-kuos persönlichstes und religiösestes Stück sehen und nicht einen ›Shakespeare in chinesi-

27 Michael Bristol: Big-time Shakespeare, London 1996, S. 36. 28 »Li’er zai ci«, Akt 1. 29 Chen Shih- Shih: »Wu Hsing-kuo brings King Lear to Chinese Opera in One man Show«, in: Taiwan News (6. Juli 2001); Chou Mei-hui: »Faguo Yangguang jutuan chuangbanren fang tai« (Die Gründerin des Théatre du Soleil besucht Taiwan), in: Lianhe bao (31.8.2001), S. 14.

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schem Kostüm‹ oder ein dank Shakespeare gut vermarktetes chinesisches Theaterstück. Im Osten wie im Westen haben Schriftsteller, Akademiker und Theaterleute die Inszenierung besucht und waren begeistert. Wu Hsing-kuos »Lear« ist eine der zahlreicher werdenden chinesischen Shakespeare-Produktionen, die von europäischen Theatern oder Festivals initiiert oder in Auftrag gegeben werden. Während Lais »Lear« die Teilung des Reiches in den Mittelpunkt stellt und eine buddhistische Lesart anbietet, konzentriert sich Wus »Lear« auf die Teilung des Künstlers selbst. Wus Interpretation der Spannung zwischen dem Schauspieler und seinen Rollen ist ähnlich dem Kommentar von William Shakespeare Jr. V. in Godards »King Lear«: »Ich habe den Text und den Plot geschrieben. Jetzt liegt alles bei den Figuren oder vielmehr bei den Schauspielern«. Mit Godards Film teilt der »Lear« von Wu Hsing-kuo den Versuch, durch Wiederholung des kreativen Prozesses zum Verständnis seiner selbst zu gelangen. Peter Donaldson schreibt, der Film beginne im Chaos des Schneideraums, Godard nehme sich einer Facette der Figur des Lear an, akzeptiere die Kontrolle und anerkenne die gefährliche und chaotische Zukunft, die seine (und unsere) Versuche von Selbstverständnis und Kreativität erwarten.30 Der Film ist u.a. Ausdruck von Godards Kampf mit der Cannon-Produktion.31 Eine der vielen narrativen Ebenen in Wus »Lear« ist der Kampf des Schauspielers mit der Institution jingju in Taiwan, einer hybriden Kunstform, die sich zwischen wandelndem Widerspruch und aufregend neuem Spektakel bewegt.

30 Peter Donaldson: »Disseminating Shakespeare: Paternity and Text in JeanLuc-Godard’s King Lear«, in: Shakespearean Films / Shakespearerean Directors, Boston 1990, S. 219. 31 Susan Bennett sieht in dem Film ein avantgardistisches Werk gegen die kommerzielle Profitspirale gerichtet. Susan Bennett: Performing Nostalgia: Shifting Shakespeare and the Contemporary Past, London 1996, S. 39. dies.: »Godard and Lear: Trashing the Can(n)on«, in: Theatre Survey 39.1 (1998), S. 11.

10. »Was ist ein Name?«: Romeo und Julia als humanistischer Text1 Dein Nam’ ist nur mein Feind. Du bliebst du selbst, Und wärst du auch kein Montague. Was ist denn Montague? Es ist nicht Hand, nicht Fuß, nicht Arm noch Antlitz, noch ein andrer Teil. Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, Wie es auch hieße, würde lieblich duften. ROMEO UND JULIA II.2

So wie »König Lear« benutzt wurde, die bewegende und sehr menschliche Geschichte der Kämpfe eines Schauspielers zu zeigen, ist »Romeo und Julia« ein Text, der verwendet wurde, um Lokalgeschichte zu vermenschlichen. Die Hingabe Romeos und Julias füreinander erwächst aus der humanistischen Tradition. Sie verachten ihre Namen, die mit der patriarchalen Struktur ihrer Familien aufs engste verbunden sind. Sie lehnen es ab, die Bürde der Familienfehde zu tragen und setzen stattdessen auf ihre eigene Persönlichkeit und ihre Wünsche. In diesem Kapitel untersuche ich, wie chinesische bzw. taiwanische Regisseure diese Geschichte umgesetzt haben, und wie sie dabei ethnische Konflikte in Yunnan oder Taiwan personalisieren und erfahrbar machen.

1

Dieses Kapitel beruht auf meinem kürzeren Aufsatz in Englisch in den Shakespeare Studies, einer Zeitschrift, die in Japan veröffentlicht wird und eine geringe Verbreitung hat.

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Jahrhundertelang wurde Shakespeare »ohne seine Sprache«,2 dafür aber in unterschiedlichen Kontexten und an verschiedensten Schauplätzen aufgeführt: auf der Guckkastenbühne, bei Festivals, als OpenAir-Veranstaltung, im Gangster-Milieu von Bombay, im NachkriegsLondon und selbst ›im Busch‹. Der Bericht der Kulturanthropologin Laura Bohannan über die lokale Interpretation des »Hamlet« durch den Stamm der Tiv ist nur eines der bekannteren Beispiele dafür.3 Welche Bedeutung hat das Lokale für Künstler in einer Zeit, da Texte und ihre Leser in den entferntesten Winkeln der Welt anzutreffen sind, da Theaterproduktionen von multinationalen Organisationen gesponsert werden und durch viele Länder touren? Wovon handelt eine lokale Shakespeare-Produktion, die für das Publikum vor Ort gemacht wurde? Wie gehen Künstler und Publikum mit vertrauten bzw. fremden lokalen Bräuchen um? In welchem Verhältnis stehen sie zu der sogenannten universellen Wahrheit in Shakespeares Stücken? All diese Fragen wurden schon oft beantwortet. Ich möchte an dieser Stelle jedoch auf zwei Shakespeare-Aufführungen mit einer nur begrenzten Reichweite eingehen: Inszenierungen in regionalem Dialekt für den Provinz-Markt im ländlichen China bzw. im urbanen Taiwan.4 Das Wort Provinz wird oft pejorativ für engstirnig oder das Fehlen urbanen Glanzes benutzt, ist hier aber neutral gemeint und ganz bewusst gewählt, um zu verdeutlichen, dass es um die Erschließung eines kommunalen und nicht des internationalen Marktes geht. Diese Bedeutung können die mittlerweile gängigen Begriffe ›lokal‹ und ›global‹ nicht abdecken. Wenn Theateraufführungen die Geschichte der Globalisierung thematisieren und sich hierarchischen Strukturen widersetzen, werden sie schon routinemäßig von post-kolonialen Kritikern gelobt. Den Künstlern geht es oft darum, sich einen eigenen Raum in der Unüberschaubarkeit globaler Kultur zu schaffen. Dazu greifen sie nicht selten auf ihre eigenen Lebenserfahrungen zurück. Um das Ansehen ihrer Arbeit

2

Dennis Kennedy: »Shakespeare without his Language«, in: ders.: Foreign Shakespeare, Cambridge 1994, S. 1–19.

3

Laura Bohannan: »Shakespeare in the Bush«, in: Natural History 75 (August-September 1966), S. 28–33.

4

Sonia Massai (Hg.): World-wide Shakespeares: Local Appropriations in Film and Performance, London 2005; Martin Orkin: Local Shakespeares: Proximations and Power, London 2005.

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zu steigern, versuchen einige dann, ihre lokalen ShakespeareInterpretationen einem globalen Publikum zu verkaufen. Dabei bedienen sie nicht selten verbreitete Vorurteile oder Klischees, wie Kate McLuskie in ihrer Untersuchung globaler Shakespeare-Produktionen feststellte.5 Die nicht-englischsprachigen Shakespeare-Aufführungen werden zwar als Form eines polyglotten Kosmopolitismus gefeiert, führen aber auch die Unterschiede, was das kulturelle Ansehen der Inszenierungen betrifft, vor Augen. Neuschöpfungen Shakespeares sind oft eng mit der Globalisierung und wichtigen Festivals in Metropolen Westeuropas, Großbritanniens oder der USA verbunden. Das erklärt auch, warum nur ausgewählte ›lokale‹ Aufführungen in den Dunstkreis der internationalen Shakespeare-Forschung gerieten und warum diese dann als »auffallend lokal« angesehen wurden.6 Nehmen wir beispielsweise Sulayman alBassams arabisches Stück »The Al-Hamlet Summit«, dessen englischsprachige Premiere in Edinburgh 2002 stattfand. Durch Figuren, wie den Waffenhändler aus dem Westen, der u.a. Fortinbras mit Gewehren ausstattet, wird die politische Tragödie mit einem Aspekt der Realität des Mittleren Ostens verbunden, der auch für ein westliches Publikum leicht zugänglich ist.7 Ein anderes Beispiel ist »uMabatha«, eine ZuluAdaption des »Macbeth« von Welcome Msomi. Das Stück, das mit einer großen Gruppe von Tänzern und Trommlern aufwartet, hatte 1972 in Natal, Südafrika, Premiere. In den Folgejahren gab es mehrere Gastspiele in London. Ohne diese hätte das Stück weniger internationale Aufmerksamkeit erregt. Mazisi Kuenes Vorwort zur Herausgabe des Stückes 19968 lässt sich nicht ohne Ironie lesen: Obwohl »uMabatha« »Shakespeare aus den juwelenbehängten Theatern Europas hinausgetragen hat zu Festen von allen Menschen für alle Menschen«9

5

Kate Mc Luskie: »›Macbeth/Umabatha‹: Global Shakespeare in a PostColonial Market«, in: Shakespeare Survey 52 (1999), S. 155, 158.

6

John Gillies: »Shakespeare Localized: An Australien Looks at Asian Practice«, in: Kwok-kan Tam, Andrew Parkin, Terry Siu-han Yip (Hgg.): Shakespeare Global / Local: The Hong Kong Imaginary in Transcultural Production, Frankfurt a.M. 2002, S. 101.

7

Sulayman Al-Bassam: The Al-Hamlet Summit: A Political Arabesque, Hartfield 2006.

8

Mazisi Kunene: »Vorwort« zu Welcome Msomi: uMabatha, Pretoria 1996.

9

Ebenda.

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kehrte es nun nämlich zurück in die bekannten Zentren der Kulturproduktion Europas, wo seine Schiedsrichter es erwarten. Asiatische Regisseure wie Yukio Ninagawa oder Ong Keng Sen, die Elemente verschiedener traditioneller asiatischer Theaterstile in ihre Inszenierungen einbezogen, sahen sich ähnlichen Polemiken über Authentizität oder Ausverkauf, Neokolonialismus oder Globalisierung gegenüber. Auf dem internationalen Kulturmarkt provozieren solche Neuschöpfungen aus lokalen Traditionen und Shakespeare immer Debatten über Kunst und Kommerzialisierung.10 Offenbar schließen sich Kunst und Kommerz nicht aus, sondern gehören zum unvermeidlichen Vokabular in den Debatten über die soziologischen und darstellerischen Werte solcher international tourender Shakespeare-Inszenierungen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auch wenn sie international Aufmerksamkeit erregen, müssen interkulturelle Shakespeare-Produktionen nicht immer erst in diesem Kontext ihre Lebensfähigkeit beweisen. An Orten, die man als kulturellen Provinz-Markt bezeichnen könnte, die relativ unberührt von den Trends anderer Märkte sind, wird die Aussage asiatischer Shakespeare-Produktionen nicht durch das Vokabular von postkolonialen Kämpfen und Globalisierung vorherbestimmt. Und wenn es sich dabei auch noch um Inszenierungen in kleinen regionalen Opernstilen handelt, stellen diese einen wichtigen, aber wenig bekannten Zweig lokaler Shakespeare-Produktionen dar. Ihr lokales Zielpublikum liegt oft abseits der bekannten städtischen Zentren. Wie in den meisten chinesischen Opernstilen werden auch hier Gesang, Tanz, kodifizierte Gesten und Bewegungen sowie aufwendige Kostüme verwendet, doch gibt es große Unterschiede in Sprache, Musikstil und Verbreitung. Mit dem Ziel, den Prozess und die Auswirkung von Inszenierungen Shakespeares im traditionellen asiatischen Theater zu beleuchten, wendet sich dieses Kapitel zwei Inszenierungen des Stückes »Romeo und Julia« zu: eine im Stile der Huadeng-Oper (huadengxi; auch: Blumenlaternen-Oper), einem regionalen Opernstil aus der Provinz Yunnan, und die andere im Stile des gezaixi, der Taiwan-Oper. Beiden Stilen ist die begrenzte Verbreitung und das Verknüpfen lokaler Aufführungsstile mit der Lokalgeschichte eigen. Ihre Regisseure sind in der jeweiligen lokalen Gemeinschaft namhaft, aber nicht in der internationalen Theaterszene, und ihre Inszenierungen waren nie außerhalb Chi-

10 Kate McLuskie, a.a.O., S. 156, 164; Orkin, a.a.O., S. 46–52.

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nas oder Taiwans zu sehen. Der Fokus auf ein lokal begrenztes Publikum unterscheidet die Inszenierungen von den weithin bekannten Produktionen im Stile der Peking- oder der Kun-Oper.11 Die Erneuerung lokaler Stile entspringt weniger dem diffusen Verständnis nationaler chinesischer Identität als vielmehr einer bewusst engen Verbindung dieser Theaterformen mit der Geschichte ethnischer Minderheiten. Peking-Opern-Produktionen von Shakespeare zeigen ein Bild Chinas, das den ethnographisch interessierten Touristen überall in der Welt anspricht. Eine Inszenierung wie die von »Romeo und Julia« im Stil der Huadeng-Oper hingegen beweist, dass auch Künstler von Minderheiten aktiv ihr kulturelles Erbe gestalten. Nur tun sie es für einen anderen Markt. Der Unterschied zwischen den regionalen oder Volks-TheaterStilen und den weithin bekannten Stilen, wie der Peking-Oper, besteht in der unterschiedlichen Arbeitsweise ihrer Regisseure. Unter Mei Lanfang (1894–1961) und Zeitgenossen wurde die Peking-Oper als die chinesische Nationaloper einem internationalen Publikum, darunter Bertolt Brecht, bekannt.12 Bis heute ist sie der am weitesten verbreitete Stil des traditionellen chinesischen Musiktheaters. Peking-OpernEnsembles findet man überall in der chinesischsprachigen Welt,13 Aufführungen in Regionalstilen hingegen sind an ihre Entstehungsorte gebunden und finden außerhalb ihrer Gemeinden kaum Aufmerksamkeit.14 Im Gegensatz zu dem, was Forschungen über Shakespeare in China behaupten, haben diese Aufführungen zu einer reichhaltigen

11 Die Kun-Oper (kunqu) entstand im Shanghaier Raum und ist einer der ältesten chinesischen Opernstile. Die Kun-Oper wurde von der UNESCO zum »mündlichen und immateriellen Erbe der Menschheit« erklärt. 12 Qi Rushan huiyilu (Qi Rushan: Erinnerungen), Beijing 1998, S. 126–185; Joshua Goldstein: Drama Kings: Players and Publics in the Re-creation of Peking-Opera, 1870–1937, Berkeley 2007, S. 134–171, 264–289. 13 Die Peking- als auch die Kun-Oper sind nicht auf ihre Entstehungsorte beschränkt. Weithin bekannt sind das Shanghaier Peking-Opern-Ensemble oder auch das Contemporary Legend Theatre Taiwan. Kunqu-Ensembles finden wir in Shanghai, Taipei, Beijing, Hangzhou, Yongjia, Suzhou u.a. Orten. 14 Eine Ausnahme ist das Taiwan-Opern-Ensemble aus Xiamen in der Volksrepublik China. Obwohl die Wurzeln der Taiwan-Oper in Taiwan liegen, erlangte sie in Teilen der Provinz Fujian in letzter Zeit Popularität.

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Volkstradition beigetragen, die ein großes Publikum im ländlichen Raum Chinas erreicht.15 Die erste erwähnte Shakespeare-Aufführung in einem Regionalstil war eine Adaption des »Hamlet« für SichuanOper durch die Ya’an chuanju-Truppe 1914. In der zentralchinesischen Provinz Shaanxi wurde 1925 die Qin-Oper »Ein Pfund Fleisch« (Yi bang rou) nach dem »Kaufmann von Venedig« aufgeführt.16 Ebenfalls gab es einige Inszenierungen im Stil der Shanghaier Yue-Oper: »Tage der Liebe und des Hasses« (Qing tian hen) nach »Romeo und Julia« aus dem Jahr 1942, »Die Trauernde« (Xiaonü xin) 1946, »Was ihr wollt«, 1986, »Hamlet«, 1994, und Zhao Zhigangs Solo-Performance »Hamlet auf dem Friedhof« (Hamuleite zai mudi) aus dem Jahr 2002, um nur einige zu nennen. Die beiden »Romeo-und-Julia«Produktionen, von denen hier die Rede sein wird, reihen sich in diese lebendige Tradition der chinesischen Regionalopern ein. »Zhuo Mei und Ah Luo« war die erste Adaption von »Romeo und Julia« im Stil der Huadeng-Oper aus Yunnan.17 Das Stück wurde von Ma Lianghua (geb. 1947) geschrieben und 1996 uraufgeführt. Obwohl das Stück in der Geschichte der weltweiten Shakespeare-Aufführungen relativ unbekannt ist, war seine Inszenierung ein großes Ereignis in Yuxi, einer Stadt von etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern.18 Der Yuxi-Stil gilt als einer innovativsten innerhalb der sogenannten

15 Murray Levith schreibt: »... vor 1949 war es sehr schwierig für die Leute, Shakespeare-Aufführungen zu sehen, weil diese meist in den großen Städten für ein ausgewähltes Publikum stattfanden«. Shakespeare in China, London 2004, S. 23; Li Ruru: Shashibiya: Staging Shakespeare in China, Hong Kong 2003, S. 11–52. 16 Wang Fucheng: »Yi bang rou (Ein Pfund Fleisch)«, in: Qinqiang – Shaanxi chuantong jumu huibian (Die Qin-Oper – Das Repertoire des traditionellen Theaters von Shaanxi), Bd. 23, Xi’an 1959, S. 9023–9108. 17 Die Produktion des Yuxi Huadeng-Opern-Ensembles wurde von He Ruifen und Yan Yuelong inszeniert. 1997 gewann sie den Cao Yu-Preis des 5. chinesischen Theaterfestivals in Guangzhou. 1999 wurde das Stück am Lyceum-Theater in Shanghai aufgeführt und 2000 in Kunming, der Provinzhauptstadt Yunnans. Alle Zitate beziehen sich auf das 1997 veröffentlichte Stück und die Aufführung aus dem Jahr 1999. 18 »Yunnan huadengxi yanyi Sha weng beiju (Die Aufführung der Shakespeare-Tragödie als Huadeng-Oper aus Yunnan)«, in: Renmin ribao (20.11.1998), S. 10.

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neuen Laternen-Oper (xindeng).19 Vor 1950 waren Geschichte und Figurencharakterisierung nicht wichtig. Ein zeremonieller Rahmen rückte Gesang und Tanz im Mittelpunkt dieser Opernform. Der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene neue Laternen-Stil wandte sich aber von diesen rituellen, zeremoniellen Wurzeln ab. Nimmt man »Romeo und Julia« als ein Stück über kollektive (seien es ethnische oder religiöse) Unterschiede, so scheint es kein Zufall zu sein, dass die Huadeng- und die Taiwan-Oper gerade dieses wählten, um damit ethnische Zusammenstöße auf die Bühne zu bringen.20 Anfang der Ming-Dynasie (1368–1398) bildete sich in Yunnan, ganz im Südwesten Chinas, vor dem Hintergrund zweier rivalisierender YiStämme die aus sieben Szenen bestehende Theaterform heraus. Sie vereinte in sich v.a. Tanz und Musik der Yi, einer der 25 offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten Yunnans. In Yuxi stellt sie 20% der Gesamtbevölkerung. Die Handlung des Stückes diente dazu, die eigene Geschichte in stilisierter Form auf die Bühne zu bringen. Shen Jiannan (Ah Luo) und die beiden Regisseure He Ruifen und Yan Yuelong verkündeten, dass es ihr oberstes Ziel sei, durch anrührende Portraits der Yi die Herzen der lokalen Zuschauer zu gewinnen.21 Jegliche Objektivierung, wie sie der Begriff ›Ethnografie‹ im postkolonialen Diskurs nahelegt, oder das Hervorheben der historischen Bedeutung dieser Produktion, lag ihnen fern. Die zwei Hauptziele der Regisseure waren: 1. die vielfältige Lokaltradition darzustellen und 2. die Darstellungsform der HuadengOper durch die Einführung von Shakespeare, sowie die Verwendung von Musik und Tänzen, die nicht aus der Yi-Tradition kamen, zu be-

19 Zhongguo xiqu zhi: Yunnan juan (Das chinesische traditionelle Musiktheater: Yunnan), Beijing 1994, S. 67; Zhongguo xiqu juzhong dacidian (Wörterbuch der Stile des traditionellen chinesischen Musiktheaters), Shanghai 1995, S. 1483–1490. 20 Jill Levenson: »Changing Images of Romeo and Juliet, Renaissance to Modern«, in: Werner Habicht, D.J. Palmer, Roger Pringle (Hgg.): Images of Shakespeare: Proceedings of the Third Congress of the International Shakespeare Association, 1986, Newark 1988, S. 151–162. 21 Shen Jiannan: »Wo yan Ah Luo (Wie ich die Rolle des Ah Luo spielte)«, in: Minzu yishu (Die Kunst der nationalen Minderheiten) Februar 1997, S. 24f.

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reichern.22 Ganz typische Yi-Instrumente fanden ebenfalls Verwendung, um diese Geschichte mit ethnischen Besonderheiten (minzu tese) umzusetzen. Keines dieser Elemente gehörte ursprünglich zur Huadeng-Oper,23 die Zuschauer waren dennoch beeindruckt von der Harmonie von Inhalt und Form,24 dem Zusammenspiel aus Alltagsleben der Yi, typischen Instrumenten der Yi und Handlungselementen wie dem shuaijiao, dem Ringkampf.25 Die Huadeng-Oper stellt sich damit einer doppelten Aufgabe: nämlich die künstlerischen Errungenschaften der ethnischen Minderheit herauszustellen und gleichzeitig die Geschichte ethnischer Konflikte zu dramatisieren.26 Ähnlich anderen Opern-Adaptionen wie Vincenzo Bellinis »I Capuleti e Montecchi« zeigt auch »Zhuo Mei und Ah Luo« eine vielschichtige Beziehung zu Shakespeare. Aufwendige Gesangs- und Tanzszenen wurden erst durch Änderungen des Plots ermöglicht. Romeos kurze Liebe zu Rosalie wurde gestrichen und die Liebe auf den ersten Blick von Romeo und Julia wich Szenen der Brautwerbung und dem rationalen Bemühen der Protagonisten, die Familienfehde beizulegen. Auf den ersten Blick scheint die Inszenierung dennoch eine Eins-zu-eins Umsetzung Shakespeares zu sein: Aus Capulet und

22 He Ruifen, Yan Yuelong: »Huadengju ›Zhuo Mei he Ah Luo‹ daoyan de tansuo yu zhuiqiu (Regieüberlegungen zum Stück Zhuo Mei und Ah Luo im Stil der Huadeng-Oper)«, in: Minzu Yishu (Februar 1997), S. 8f. 23 Ebenda, S. 23. 24 Bao Pu: »Shaju minzuhua de xin chengguo (Neue Perspektiven bei Shakespeare-Adaptionen durch ethnische Minderheiten)«, in: Minzu yishu, Februar 1997, S. 8f. 25 Jin Chong: »Huadeng yishu xingshi gexin de you yi ci tupo – Zhuo Mei yu Ah Luo guanhou (Ein neuer Durchbruch bei der Erneuerung der HuadengOper – Zhuo Mei und Ah Luo)«, in: Minzu yishu, S. 5; Sun Jun: »Ouzhou qipa yun ling kai (Eine europäische Blüte in den Bergen Yunnans)«, in: Minzu yishu, S. 12; zur sozialen Bedeutung des Yi-Ringkampfes siehe: Liu Yu: »Searching for the Heroic Age of the Yi People of Liangshan«, in: Steven Harrell (Hg.): Perspectives on the Yi of Southwest China, Berkeley 2001, S. 112. 26 Margaret Byrne Swain: »Native Place and Ethnic Relations in Lunan Yi Autonomous County, Yunnan«, in: Steven Harrell, a.a.O., S. 170–191; Steven Harrell, Li Yongxiang: »The History of the History of the Yi«, in: Modern China 29.3 (Juli 2003), S. 362ff.

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Montague wurden touren, die Oberhäupter der Yi-Familien, Prinz Escalus ist Aomu tusi, Häuptling Aomu, Bruder Lorenzo wird zum bimo, zum Schamanen. Aber nicht alle religiösen oder kulturellen Symbole werden ersetzt. Die Aufführung ist eine Gelegenheit, das kulturelle Erbe der Yi darzustellen. Es geht ihr weniger um die Darstellung nationaler Identität.27 Im Stücktext finden sich umgangssprachliche Wendungen und Sprichworte der Yi wieder, und Feuer ist ein stilbildendes Element, ebenso wie es auch ein wichtiges Symbol in der Yi-Kultur darstellt. Die Verwendung von Fackeln als Bühnenrequisit geht weit über eine einfache Illustration solcher Zeilen Shakespeares wie den Ausruf Romeos im ersten Akt hinaus: »Oh, sie nur lehrt den Kerzen hell zu glühn!«28 Arien und Tanzsequenzen nehmen das Bild des Feuers auf. Das Stück beginnt am 24. Tag des 6. Mondmonats. Es ist der Morgen des Fackelfestes, eines der wichtigsten Feste der Yi. Der Vorhang hebt sich für eine symbolistische Szene in gedämpftem Licht, im Hintergrund sieht man einen großen blauen Mond. Zhuo Mei (Yang Liqiong) und Ah Luo (Shen Jiannan) betreten mit Fackeln Hand in Hand die Bühne und gehen auf ein Podest. Sie entzünden ein Leuchtfeuer für das Fest. Das Feuer wird von Schauspielern dargestellt. Zwölf Tänzerinnen in roten Yi-Kostümen und transparenten Umhängen erscheinen vor dem Paar, sie tanzen und bewegen ihre Arme, das Feuer symbolisierend. Nach kurzer Zeit werden Zhuo Mei, Ah Luo und die gesamte Bühne von den Flammen verschlungen. Das Paar, das nun ebenfalls tanzt und sich umarmt wird getrennt, als das Podest auseinanderbricht und nach verschiedenen Seiten von der Bühne fährt. Ihre Fackeln verlöschen im kalten blauen Licht, das der Lücke zwischen dem nunmehr geteilten Podest entsteigt. Diese stumme Szene legt eine visuelle Umsetzung des Chortextes aus dem Prolog nahe, wobei hier das Bild des Feuers als Symbol für Leidenschaft und Hass hinzukam. Zhuo Mei und Ah Luo sind ungewöhnlich rational, verglichen mit Romeo und Julia, die im 20. Jahrhundert für die Verkörperung jugendlichen Überschwangs standen. In der Szene des Liebeswerbens singen

27 Auffällig wird das in der Behandlung von Tybalds Tod und Romeos Exil. Hier gibt es keinen Verweis auf den Umgang mit Tötungsdelikten bei den Yi. Qubi Shimei, Ma Erzi: »Homicide and Homicide Cases in Old Liangshan«, in: Steven Harrell, a.a.O., S. 94ff. 28 »Romeo und Julia«, I.5, in: Shakespeare Sämtliche Werke, Darmstadt 2005, Bd. 3, S. 197.

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sie abwechselnd Arien, die von ganz alltäglichen Dingen und abstrakten Bildern des Feuers erzählen. Diese Art des Wechselgesangs ist in den Ritualen des Liebeswerbens bei den Yi Brauch. Zhuo Mei: Die Fehde unserer Familien wird ein Wind, der das Feuer unserer Liebe auslöschen will. Die Flammen des Hasses werden alles unter dem Himmel vernichten. Das Feuer des Hasses entfacht einen Flächenbrand, der die Elstern in den Wäldern verschlingt, die fröhlichen Vögel. Ah Luo:

Fürchte nicht die Brände in den Bergen. Wir können das Feuer löschen.

Zhuo Mei: Wir zwei allein, wir können den Brand nicht bekämpfen.

Sie erörtern ihre Situation und die Folgen ihres Tuns. Sie sprechen über ihre Absicht, die Fehde ihrer Familien durch Liebe beizulegen. Es gibt in der ganzen Inszenierung keine vertraulichen oder Liebesszenen zwischen den beiden, was die Idee des tugendhaften und mutigen Paares noch verstärkt. Ah Luo:

Vielleicht war es der Wille des Himmels, dass wir in zwei verfeindete Familien hineingeboren wurden und uns dann verliebten. Zhuo Mei, warum sollten die Götter das Feuer unserer Liebe entfachen, die nie verlischt und Wärme schenkt?

Zhuo Mei: Die Götter wollen die Feindschaft zwischen den Familien durch unsere Liebe beseitigen. Mit der Wärme des Feuers der Liebe schmilzt das Eis der Feindschaft. Ah Luo:

Wir sollten nicht an die Feindschaft denken. Ich kann kaum erwarten, jedem im Clan den Willen der Götter mitzuteilen.

Die Nachdenklichkeit des Paares ist das genaue Gegenteil des Konzeptes der Liebe zwischen Romeo und Julia als Ausdruck jugendlicher sexueller Leidenschaft, welches im vorigen Jahrhundert die Bühne beherrschte. Einige Akademiker sind der Meinung, dass die Tragödie bei Shakespeare eher der intensiven, plötzlichen Leidenschaft als der Feindschaft zwischen den Familien entspringt.29 Anders als Romeo und Julia sind Ah Luo und Zhuo Mei optimistisch. Sie haben keine Angst vor der Absolutheit ihrer Liebe, und sie bringen die Energie auf,

29 Maurice Charney: Shakespeare on Love and Lust, New York 2000, S. 87.

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nach Wegen aus der Familienfeindschaft zu suchen und mit unerwarteten Ereignissen umzugehen. Das Fackelfest der Yi wurde als Fest des Brautwerbens, aber auch als Ereignis von sanktionierter Gewalt gezeigt. Junge Männer nahmen hier an Ringerwettbewerben teil, deren Gesamtsieger den begehrten Titel des Fackelträgers gewann. Nach diesem Wettkampf geht das Fest mit der sogen. Brautwerbung weiter. Dabei werden die Konflikte und hierarchischen Strukturen zwischen den verschiedenen Yi-Familien deutlich. Ah Luo musste sich Zhuo Meis Bewunderung erst ›verdienen‹, indem er den Ringkampf gewann. Er besiegte Kao Le (die Figur ist an Tybalt angelehnt), den Sieger und Fackelträger des Vorjahres. Tanz, Gesang und Akrobatik bildeten das zerbrechliche Terrain, auf dem sich Ah Luo und Zhuo Mei bewegten. Verschiedene Yi-Bräuche werden im Verlauf des Stückes dokumentiert und dramatisiert. So singen alle zusammen folgendes Volkslied, das nicht ganz ohne Ironie ist: Wir, die Yi, leben hoch oben in den Bergen. Das Feuer ist unser Vater und unsere Mutter. Es weist uns den Weg, wenn wir in die schwarze Nacht hinaus gehen. Kehren wir zurück, heißt es uns willkommen. [...] Loderndes Feuer, das die Wölfe fernhält. Jahr für Jahr brennt das Feuer hell. Bringt Frieden und Glück uns und dem gesamten Stamm.30

Das Feuer bringt Licht und Hoffnung, aber es hat auch die Macht, Gemeinschaften zu zerstören und auszulöschen. In der Schlussszene, auf dem Friedhof, gibt es noch einmal ein die Bühne bedeckendes Feuer, als Bimo, der sympathische Schamane, auftritt. Er sieht Zhuo Mei neben Ah Luo sterben und schreit: »Welche grausamer Akt! Götter im Himmel, geißelt ihr so die verfeindeten Familien? Lasst mich alles niederbrennen!« (Er wirft seine Fackel auf die Bühne.) Nach diesem Aufschrei Bimos schwebt ein großes Stück roten Stoffes, der das Feuer symbolisiert, über die Bühne und bedeckt sie mitsamt den Körpern von Zhuo Mei und Ah Luo. Als die ›Flamme‹ am Boden erstirbt, erscheint eine Gruppe ganz in weiß gekleideter Tänzerinnen auf der Bühne, sie knien nieder, weiße Fächer in den

30 Ma Lianghua, a.a.O., S. 48.

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Händen. Tanzend verwandeln sie die Friedhofsszenerie in eine fantastische Landschaft, aus der Nebel aufsteigt. Das Entsetzen der letzten Szene weicht einer ruhigen, verträumten Stimmung. Zhuo Mei und Ah Luo treten noch einmal auf und tanzen über die Bühne. Bimos Schlussmonolog, das Lied des Chors und das spektakuläre Feuer gehen weit über eine simple Über- und Umsetzung der Worte von Prinz Escalus hinaus: »Seht, welch ein Fluch auf eurem Hasse ruht, dass eure Freuden Liebe töten muss!«31 In diesem Moment stellt sich eine geradezu unheimliche Nähe zu Shakespeares Liebestragödien her. Es gibt nämlich, wie der Shakespeare-Forscher Maurice Charney schreibt, in »Romeo und Julia« ein paar Genre-Besonderheiten: So stelle die Vereinigung der Liebenden im Tod eine positive, aufsteigende Bewegung dar, darum sei das Stück einer bestimmten Form der Tragikomödie zuzuordnen. So traurig der Tod aus Liebe auch sei, ist er doch das einzig mögliche Ende für all jene, die sich wirklich liebten. Sie sind somit einerseits Märtyrer der Liebe, andererseits aber große heroische Figuren.32 Das Erlösungsthema wird durch die rituelle Verankerung der Szene nur noch verstärkt, als wären Zhuo Mei und Ah Luo Teil eines Opferrituals. Das Feuer reinigt die Sünden beider Familien-Clans und vereint das Liebespaar, so wie es die Protagonisten am Anfang des Stückes zusammenbrachte. Der Chor steht am Ende des Stückes hinter der Bühne und singt zum Tanz: Der Himmel sei Zeuge der Vermählung von Bergen und Wassern. Ein liebendes Paar scheut nicht Gefahr und schreitet gemeinsam voran. Mögen die Götter mit euch sein. Niemals in diesem Leben sollt ihr getrennt sein.33

Dieselbe optimistische, aber schicksalsschwere Arie sang auch Bimo, als er Zhuo Mei und Ah Luo heimlich traute. Die Choreografie sowie der Einsatz von Basstrommel und Sythesizer sind eigentlich keine typischen Elemente der Huadeng-Oper und dienen lediglich der Verstärkung des tragischen Endes.

31 »Romeo und Julia«, V.3, Shakespeare Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 261. 32 Maurice Charney, a.a.O., S. 80f 33 Ma Lianghua, a.a.O., S. 57.

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Die zahlreichen Beschreibungen aus dem Leben der Yi trugen zur Darstellung eines Paares bei, das tief in der Yi-Kultur verwurzelt ist.34 Zhuo Mei und Ah Luo wurden als Personifizierung der ethnischen Konflikte der Yi angesehen. Damit arbeitete die Produktion auf der Ebene theatraler Ethnografie, einer Ethnografie in der der EthnografDarsteller nicht nur das Wissen über die Figuren und ihre ethnische Identität zeigt, sondern selbst Teil dieser kulturellen Erfahrung ist.35 Auf diese Art und Weise gelingt es der Huadeng-Oper, die eigene Lokalgeschichte mit Shakespeare zu verknüpfen. Diese Überlegung führt uns zum zweiten Beispiel. Shakespeare erwies sich auch für die Taiwan-Oper als eine Gelegenheit, die eigene ethnische Geschichte auf die Bühne zu stellen. Fast alle festlandchinesischen Kritiker wie auch die Regisseure von Zhuo Mei und Ah Luo selbst vermieden es geschickt, die Spannungen zwischen den ethnischen Minderheiten und der herrschenden Han-chinesischen, kommunistischen Ideologie innerhalb Chinas anzusprechen. Vielleicht waren sie sich dieser Spannung auch nicht so bewusst. Den Machern von »Die Blume am anderen Ufer« (Bi’an hua) hingegen war es wichtig, die Verbindungen von Taiwans Vergangenheit und den drängenden Fraugen seiner Gegenwart aufzuzeigen. »Die Blume am anderen Ufer« ist eine Adaption von Shakespeares »Romeo und Julia« in Taiwanisch.36 Schon das Thema des Stückes weckte Argwohn. Auf die Frage, ob er nicht Angst habe, mit dem Stück ein sensibles Thema bei in Taiwan fest verwurzelten ethnischen Gruppen anzusprechen und so vielleicht auch Zuschauer zu verlieren, antwortete der künstlerische Leiter des Holo Taiwan-Opern-Ensembles, Chen Deli: »Ethnisches Bewusstsein ist zwar ein sensibles Thema im heutigen Taiwan, aber wenn ich meine Schauspieler fragte, zu welcher Gruppe sie denn gehör-

34 Bao Pu, a.a.O., S. 8. 35 Johannes Fabian: Power and Performance: Ethnographic Explorations Through Proverbial Wisdom and Theatre in Shaba, Zaire, Madison 1990, S. 18. Fabian verwendet den Begriff der theatralen Ethnografie für Situationen, in denen der Ethnograf nicht nur den Ton vorgibt, sondern selbst mitspielt. 36 Ein Dialekt, der dem im südlichen Fujian gesprochenen ähnelt, da viele Taiwaner dort Vorfahren haben, die im 17.–19. Jahrhundert einwanderten. (Anm. d. Üb.)

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ten, zu den Quan oder Zhang, konnte keiner darauf antworten. Das mag ein Zeichen für Versöhnung im Lauf der Geschichte sein. [...] Feindschaft und Hass zwischen verschiedenen Gruppen, so wie Shakespeare sie in Romeo und Julia dargestellt hat, sind immer zufällig. Wie oder warum eine Feindschaft begann, kann nicht mehr zurückverfolgt werden«.37

Chen wollte deshalb die Herausbildung ethnischer Identitäten genauer betrachten. Die Verweise auf den Shakespeare-Text waren dabei eher indirekt, im Vordergrund stand die dynamische Beziehung zwischen dem regionalen Theaterstil und der vor Ort herrschenden Situation. Besprechungen des Stückes stellten demzufolge auch seine symbolische Darstellungsweise, Taiwans Minderheiten-Politik und die Zukunft der Taiwan-Oper in im Mittelpunkt.38 Wie die Huadeng-Oper aus Yunnan erreicht auch die Taiwan-Oper ein eher begrenztes Publikum, was kaum über die Taiwanesisch sprechenden Gemeinschaften hinausreicht. Die Wurzeln der Taiwan-Oper liegen im Straßentheater, und deshalb ist sie oft mit Improvisationsmomenten angereichert. Historisch gesehen hat sie unterschiedliche populäre Unterhaltungsformen in sich aufgenommen. Diese Verwurzelung der Taiwan-Oper im Volkstheater gab den Anstoß für die ethnografische Auseinandersetzung in der Inszenierung. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Insel deckt gleich mehrere Schichten des andauernden Konfliktes zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen auf. Obwohl es bereits seit dem 17. Jahrhundert Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen sowie zwischen Ureinwohnern und Kolonialmächten um die Kulturhoheit gab, erlebte dieser Kampf in der Mitte des 20. Jahrhunderts seine größte Herausforderung. Die 50 Jahre andauernde Kolonialherrschaft Japans über Taiwan endete 1945. Als die Kommunistische Partei Chinas das Festland unter ihre Kontrolle gebracht hatte, floh die

37 Programmheft zu »Bi’an hua (Die Blume am anderen Ufer)«, S. 4. 38 Liu Nanfang: »Se cheng binfen! Hua luo he fang? Ping Heluo gezaixi tuan ›Bi’anhua‹ (Wo ist das Blumenland? Die Blume am anderen Ufer vom Holo Taiwan-Opern-Ensemble)«, in: Biaoyan yishu zazhi (Darstellende Kunst) 101 (Mai 2001), S. 63–65; Qiu Yishan: »Cong ›Luomiou yu Zhuliye‹ dao ›Bi’an hua‹ (Von Romeo und Julia zur Blume am anderen Ufer, in: Taiwan renwen (Humanismus in Taiwan) 7 (Dezember 2002), S. 189– 205.

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Regierung der Republik China unter Chiang Kai-shek nach Taiwan. Mit ihr kamen schätzungsweise zwei Millionen Menschen aus verschiedenen chinesischen Provinzen nach Taiwan. Sie wurden Festlandchinesen oder waishengren (wörtl. »Leute aus anderen Provinzen«) genannt. Anders als die taiwanesisch sprechenden Ureinwohner (benshengren – »die Leute aus der hiesigen Provinz«) war den Festlandchinesen eine sinozentristische Weltsicht eigen, die das kulturelle Erbe Taiwans unterdrückte. Die beiden Gruppen grenzten sich sowohl sprachlich (Chinesisch gegen Taiwanesisch) als auch durch unterschiedliche kulturelle Werte voneinander ab. Wenn es um Unterhaltung geht, wird das Festland einfacherweise mit Peking-Oper assoziiert und Taiwan mit indigen taiwanischen Darstellungsformen wie der Taiwan-Oper oder dem Puppentheater.39 Die Geschichte der ethnischen Konflikte in Taiwan und nicht zuletzt dieser zwei miteinander rivalisierenden Gruppen führte offensichtlich zu einer neuen Lesart von »Romeo und Julia«. Das »andere Ufer« im Stück verheißt eine positive Wendung, eine Veränderung hin zum Besseren. Aber man denkt auch sofort an die Südost-Küste des Festlandes und das Ufer Taiwans, wo Konflikte auf Lösungen warten. Als Insel, die 90 Meilen vor der Südostküste Chinas liegt, hatte Taiwan schon immer eine gespannte Beziehung zu seinem mächtigen Nachbarn. Die Einführung der parlamentarischen Demokratie, nachdem 1987 das Kriegsrecht aufgehoben wurde, verschärfte die Gegensätze noch.40 Demzufolge äußern sich die Spannungen zwischen den Chinesen vom Festland und den Taiwanern oft in ihrer Position zur China-Frage. Auf die gibt es gegenwärtig drei Antworten: Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung plädiert für die Eigenständigkeit der Insel, es gibt jene, die eine Vereinigung mit der Volksrepublik China wünschen, und eine dritte Gruppe favorisiert die Aufrechterhaltung des Status-quo. Die Inszenierung des Stückes »Die Blume am anderen Ufer« von Zhang Jian hatte 2001 Premiere und wurde vom Holo-Taiwan-Opern-

39 Alexander Huang: »Modern Taiwanese Theatre«, in: Samuel Leitner (Hg.): Encyclopedia of Asian Theatre, 2 Bde., Westport CT 2007, S. 711ff.; Nancy Guy: »Governing the Arts, Governing the State: Peking Opera and Political Authority in Taiwan«, in: Ethnomusicology 43.3 (Herbst 1999), S. 508–526. 40 Sung-sheng Yvonne Chang: Literary Culture in Taiwan: Martial Law to Market Law, New York 2004, S. 190–211.

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Ensemble aufgeführt. Die Gruppe empfiehlt sich selbst als Ensemble für die ›gehobene‹ Taiwan-Oper, d.h. unter anderem, dass Improvisationseinlagen entfallen. Zhang Jian, der gegenwärtig in Taiwan lebt, wurde in der Volksrepublik China geboren und hat als Tänzer sowie Choreograf in Beijing und Lyon gearbeitet. Das Holo-Taiwan-OpernEnsemble hat schon des öfteren Stücke, die sich mit dem Thema taiwanischer Identität auseinandersetzen aufgeführt, wie z.B. »Taiwan, meine Mutter« (Taiwan wo de muqin) aus dem Jahr 2000.41 Den auffallendsten Hinweis auf den Handlungsort gab der durchgängige Gebrauch des taiwanischen Straßenslangs, gepaart mit Elementen der Sittenkomödie und Wortspielen, die für die Taiwan-Oper typisch sind. Die Textvorlage von »Zhuo Mei und Ah Luo« erscheint im Vergleich dazu zahm und steril. Die sprachliche Strategie ging über eine Eins-zueins-Umsetzung des Textes von »Romeo und Julia« hinaus und zeigt eine ethnografische Herangehensweise, um diesen Aspekt des Lebens auf Taiwan zu dokumentieren. Chiang Pei-ling und Hong Ching-hsue, die Autoren des Stückes, projezieren den Gedanken der immerwährenden Feindschaft auf den historischen Konflikt zwischen den Quan und den Zhang im 19. Jahrhundert in Taiwan. Es handelt sich dabei um Einwanderergruppen aus Quanzhou bzw. Zhangzhou in der Provinz Fujian auf dem Festland. Das Stück war Teil einer Trilogie mit dem Titel »Taiwanesische Geschichten« (Taiwan benshi gushi), mit der das Holo-Taiwan-OpernEnsemble sein Engagement für lokale Kulturen und die Taiwan-Oper zum Ausdruck brachte. Eine frühere Stückfassung trug noch den etwas provokanten Titel: »Die turbulente Geschichte der Quan- und ZhangClans«. Das Stück spielt in Mengjia, einem Stadtbezirk Taipeis, im Jahr 1850 und beginnt mit einem Streit zwischen den Quan und den Zhang. In acht Kapiteln werden Details aus dem Alltagsleben und die tragische Liebesgeschichte zwischen Xiulan, der impulsiven Tochter einer Quan-Familie, und Qiusheng, dem träumerischen Sohn einer Zhang-Familie, der erst vor kurzem aus Frankreich zurückgekehrt ist, miteinander verwoben. War in »Zhuo Mei und Ah Luo« das Feuer übergreifendes Thema, so ist es hier die Lotosblume – bewundert, aber nicht leicht zu bekommen. Der Lotos, so glaubt man, ist der Sitz, auf

41 »Die Blume am anderen Ufer« wurde vom 30.3. bis 1.4.2001 am Nationaltheater Taipei aufgeführt. Es spielten Kuo Chun-mei als Chen Qiusheng/Romeo und Shi Hui-chun als Lin Xiulan/Julia.

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dem Buddha einst meditierte. Im buddhistischen Kontext steht die Lotosblume für Mitgefühl und Erlösung. Sowohl die Balkonszene als auch die letzte Szene in der Krypta der Capulets sind hier in einem Pavillon inmitten eines duftenden Lotos-Teiches inszeniert. Es ist ein abgeschiedener Ort, an dem sich die Liebenden zum ersten und zum letzten Mal treffen. Wenn in der letzten Szene das Boot die Körper des Paares ans andere Ufer bringt, ist die Bühne voll von glimmenden Lotoslampen. Einen anderen Gebrauch erfuhr der Lotos in der Szene »Der abgefangene Bote«. Die in einer Lotoslampe versteckte Nachricht über Xiulans vorgetäuschten Tod erreicht Qiusheng nicht. Meister Huikong hatte die Lampe einem buddhistischen Novizen gegeben, damit er sie Qiusheng überbringe. Der Novize wird von den Quan abgefangen, weil sie ihn für einen Spion hielten. Die Szene ist stumm, abgesehen von hin-und wieder erklingender Musik und dem Rhythmus von Schlaginstrumenten. Die Begegnung des Novizen mit den Gangs der Quan und der Zhang wird in choreografierten KampfkunstBewegungen gezeigt. Sie beginnt und endet auf dunkler Bühne, auf der man lediglich eine erleuchtete Lotuslampe sieht. Von links erscheinen die Quans mit gelben Laternen an langen Stangen, die später auch als Waffen im Kampf dienen. Die Zhangs kommen von rechts mit ebensolchen Laternen in Rot. Bevor die Bühne erhellt wird, sieht das Publikum nur die Lotuslampe in der Mitte schweben und rote und gelbe Laternen, die den Angriffen des jeweils anderen ausweichen. Dass man in dieser Szene keine menschlichen Körper auf der Bühne sieht, steht für die Zufälligkeit und Unpersönlichkeit von Feindschaft. Anders als andere taiwanische »Romeo und Julia«-Inszenierungen dieser Zeit, die sich meist der Zweisprachigkeit bedienten, wurde in »Die Blume am anderen Ufer« nur taiwanesisch gesprochen. Der Regisseur wollte die Spannung zwischen den beiden Clans nicht durch sprachliche Differenzen darstellen. Als Indiz für ethnische Unterschiede diente die Musik. Der Komponist Chou Yi-chien ordnete den Gruppen unterschiedliche Musikstile zu. Jinlong, dessen Figur eine Mischung aus Paris und Tybalt war, singt Arien im Stil des nanguan, der südlichen Melodien. Dieser Stil mit einer weichen, südlichen Klangfarbe kommt aus der Gegend um Quanzhou, woher Jinlong und der Quan-Clan kamen. Die Arien von Qiusheng, der dem Zhang-Klan angehört, sind im Stil des beiguan, der nördlichen Melodien arrangiert. Der Regisseur und auch der Komponist waren der Meinung, dass diese unterschiedlichen Klangfarben die Tragik der Feindschaft zwischen

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den Figuren besonders betonten.42 Anders aber als He Ruifen und Yan Yuelong, die Volksmusikinstrumente in ihre Inszenierung einbauten, verwendet Chou Yi-chien Klavier und Cello zusätzlich zu traditionellen Instrumenten der Taiwan-Oper, wie der Yehu, einem zweiseitigen Streichinstrument mit einem aus der Kokosnuss gefertigten Klangkörper. Die Huadeng-Oper aus Yunnan und die Taiwan-Oper stehen nicht in Opposition zur Peking-Oper, sie setzen nur andere Prioritäten. Ihnen ist die Verbindung zwischen lokalen Ausdrucksformen und lokalen Inhalten wichtig. Solche ethnografischen Inszenierungen entstehen auf Provinz-Märkten, wo sie Alltag und lokales Erbe darstellen und ihr Publikum durch Direktheit und nicht durch Exotismus finden. Die spezifischen lokalen Gegebenheiten bieten neue Möglichkeiten für künstlerische Innovationen und deren kritische Begleitung. Für die Künstler aus Yunnan und Taiwan sind Shakespeare und lokales Erbe nicht mehr zwei voneinander losgelöste Ideen, sondern sie ergänzen sich. Produktion und Rezeption von Shakespeare-Gastspielen im Stil chinesischer Opern stellen den Bruch mit realistischen Darstellungsweisen in den Mittelpunkt und bieten sich als Alternative jenseits der herkömmlichen anglo-europäischen Aufführungspraxis an. Anders hingegen Zhuo Mei und Ah Luo oder »Die Blume am anderen Ufer«: diese ethnografischen Darstellungen liegen eher im Wettstreit mit dominanteren Formen des traditionellen chinesischen Musiktheaters wie der Peking-Oper. Nimmt man aber das globale Publikum aus dieser Gleichung heraus, ergibt sich ein anderes Bild. Pascale Casanova untersuchte miteinander konkurrierende Wertesysteme von Sprachen und ästhetischen Prinzipien. Sie schreibt, dass Paris aufgrund des Rufes als »intellektuelle Welthauptstadt« und »arbiter elegantiae – Schiedsrichter des feinen Geschmacks« zum »Zentrum der literarischen Welt« wurde.43 Solch symbolische Gravitationszentren existieren auch in der Welt der interkulturellen Shakespeare-Performances, aber sie zerfallen zunehmend. Westliche Rezipienten asiatischer Shakespeare-Produktionen stellen regelmäßig deren reiche Visualität, aber einen Mangel an sprachlicher Eleganz fest. Oh Tae-suks »Romeo und Julia«-Inszenie-

42 Minsheng ribao vom 8. März 2001. 43 Pascale Casanova: The world Republic of Letters, Cambridge MA 2004, S. 24ff.

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EIN

N AME ?«: ROMEO

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rung im Stil des traditionellen koreanischen Theaters versicherte ihrem Londoner Publikum 2006 bereits im Programmheft: »Die Körpersprache der Darsteller, ihr Ausdruck von Gefühlen und der Einsatz komischer Elemente schaffen eine sinnliche Verbindung, der nichts von des Barden Sprache fehlt«.44 Besprechungen der Aufführung betonten dann auch die sinnliche Kraft asiatischer Aufführungen und die bildliche Perfektion in jeder Szene. So wird ein positives Stereotyp von asiatischem Theater und Shakespeare geschaffen. Ausgegangen wird dabei von der gegenseitigen positiven Wirkung der Stilisierung im asiatischen Theater und der komplexen Figurenzeichnung bei Shakespeare. Das erklärt zumindest teilweise, warum solche Produktionen manchmal negative Kritiken in ihrer Heimat erhalten, wohingegen sie im Ausland gefeiert werden. Oder wie Charles Spencer in seiner eher negativen Besprechung von Wu Hsing-kuos »Kingdom of Desire« in London 1990 schreibt, es sei ein Muss geworden, diese Aufführungen gut zu finden, nur weil sie fremd und ungewohnt seien.45 Für ein englischsprachiges Publikum scheint der Mehrgewinn asiatischer Shakespeare-Produktionen lediglich in der reichen Ausstattung, den Klängen, der Musik zu liegen, in allem, was sie authentisch asiatisch macht.46 Für ein asiatisches Publikum aber, das mit den Aussagen und der Bedeutung solcher Aufführungen vertrauter ist, stellt sich der Fall anders dar. Denn der Provinz-Markt stellt ganz andere Anforderungen an die Künstler und bringt damit andere Inszenierungen hervor. Shakespeare-Produktionen in lokalen Theaterstilen und Dialekten repräsentieren die lokale Gemeinschaft durch ihre Theaterform und versuchen, durch Abstraktion und lokale Darstellungstechniken gemeinsame Erfahrungen sichtbar zu machen. Die Verbindung ethnografischer Erzählungen und wiederbelebter lokaler Aufführungspraktiken schafft Gemeinschaften, die sich um einen symbolischen Wert gruppieren. Ähnlich westlichen Soap-Operas schafft die Nähe dieser Aufführungen zu den Alltagserfahrungen der

44 Think Korea 2006: Korea - UK Mutual Visit Year, program booklet, London 2006, S. 21. 45 Charles Spencer: »A ›Macbeth‹ Made in Taiwan«, in: Daily Telegraph v. 16.11.1990. 46 John Russell Brown: »Foreign Shakespeare and English-speaking Audiences«, in: Kennedy, a.a.O., S. 32; John Russell Brown: New Sites for Shakespeare: Theatre, the Audience and Asia, London 1999, S. 130.

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Zuschauer eine symbolische Gemeinschaft, die sich auf sie als kollektives kulturelles Gedächtnis stützt.47 Die Neu-Ausrichtung Shakespeares auf Provinz-Märkten bringt vielfältige Formen des Zusammenspiels von Shakespeare und traditionellem asiatischen Theater hervor. Dort, wo die Produktionen nicht auf Gastspielreisen gehen und wo die Zuschauer aus der Gegend kommen, bekommt der Begriff »lokale« Kultur eine ethnografische und humanistische Dimension.

47 Marie Gillespie: »Television, Ethnicity and Cultural Change«, in: Will Brooker, Deborah Jermyn (Hgg.): The Audience Studies Reader, London 2003, S. 315, 321.

Epilog Neue Herausforderungen der geisteswissenschaftlichen Ausbildung

Der Begriff des Humanismus wurde von dem deutschen Philosophen und Bildungspolitiker Friedrich Immanuel Niethammer im 19. Jahrhundert verwendet, um geisteswissenschaftliche Bildungsziele in Schulen und Universitäten zu beschreiben.1 Nach den Erkundungen des Humanismus in Weltliteratur und Welttheater will ich deshalb am Ende dieses Buches auf den Humanismus in der universitären Ausbildung zu sprechen kommen. Martin Heidegger hatte Recht, als er 1939 in Freiburg betonte, dass die Frage »Wer ist der Mensch?«, von größerer Bedeutung sei, als die meisten sich vorstellen könnten. Mit der Infragestellung des Begriffes Mensch und nicht des rationalen Humanismus der griechischen Antike, der Renaissance oder der Aufklärung legte der Philosoph nahe, dass ihre Beantwortung die Aufgabe Europas in diesem und dem folgenden Jahrhundert sein wird.2 Für Heidegger war Humanismus nicht nur das Wesen der menschlichen Kulturen, sondern das Wesen der Wahrheit des Seins.3 Trotz seiner Verbindungen mit dem Naziregime und vieler Kontroversen lieferte Heidegger wichtige Hinweise, um über Humanismus heute nachzudenken. Wie in dem Buch gezeigt,

1

Tony Davies: Humanism, 2. Auflage, London 2008, S. 10.

2

Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 3, hg. v. David Farrell Krell, San Fran-

3

Martin Heidegger: »Brief an den Humanismus«, in: Gesamtausgabe, Bd.

cisco, 1984, S. 102. 9, Frankfurt 1976, S. 345.

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geht der Humanismus alle Nationen unserer Epoche etwas an und eine der wichtigsten Aufgaben ist es, der eurozentrischen Tradition des Humanismus eine globale Perspektive entgegenzustellen. Ein Grund dafür, warum der Humanismus in unserer Zeit so wichtig bleibt, liegt laut Jörn Rüsen in seiner Fähigkeit, das menschliche Leben nachvollziehbar zu machen, indem man nach den subjektiven Gründen für menschliches Handeln anstatt den objektiven Ursachen fragt. Tatsächlich betont der Humanismus die Subjektivität der menschlichen Erfahrung. Ich reagiere mit diesem Buch unter anderem auf Professor Rüsens Aufruf zum Handeln, den er in der Einleitung zu dem von ihm mitherausgegebenen Buch Humanism in Intercultural Perspective formulierte. Es heißt dort, Literatur ist ein wichtiges Medium, »ohne das der Humanismus seine Befähigung zu menschlicher Vorstellung verlieren würde«.4 Im vorliegenden Kapitel widme ich mich dem Humanismus in der literarischen Ausbildung in den USA, einem Thema, das vor kurzem von Geoffrey Galt Harpham, dem Präsidenten des National Humanities Center in North Carolina als das »nächste große Ding« angekündigt wurde.5 Klassiker und historische Ereignisse in Beziehung zur Gegenwart zu setzen, war und ist eine der größten Aufgaben geisteswissenschaftlicher Ausbildung in den USA. Das Kapitel widmet sich anhand zweier Beispiele, nämlich der Shakespeare-Forschung und der Weltliteratur, den Schwierigkeiten eines historistischen bzw. gegenwartsbezogenen Lehransatzes. Werden Klassiker heute noch studiert, weil sie universelle Werte vermitteln und den heutigen Lesern etwas mitzuteilen haben? Oder nur, weil sie uns erlauben, einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen? Worin besteht die Beziehung zwischen »jetzt« und »damals«? David Lowenthal spricht von Vergangenheit als einem fremden Land6 und damit einem Konzept, das die Beziehungen zwischen dem Text und der Historizität des Lesers umfasst. Neuere Diskussionen um die

4

Jörn Rüsen: »Humanism in the Era of Globalization: Ideas on a New Cultural Orientation«, in: Jörn Rüsen, Henner Laass (Hgg.): Humanism in Intercultural Perspective: Experiences and Expectations, Bielefeld 2009, S. 17–18.

5

Geoffrey Galt Harpham: The Humanities and the Dream of America, Chicago 2011, S. 99–122

6

David Lowenthal: The Past Is A Foreign Country, Cambridge 1988.

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Bedeutungsproduktion betonen oft die Politisierung von Kunstwerken, ihre historische Authentizität sowie ihre ideologische Autorität. Diese Debatten beeinflussen natürlich auch die geisteswissenschaftliche Ausbildung, bei der sich die Gegenwart in der Vergangenheit spiegelt und umgekehrt. Walter Benjamin schrieb, das Kunstwerk besitze ein Hier und Jetzt, ein »einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet«.7 Ungeklärt blieb die Frage, wie nachgeborene Kritiker mit der Geschichtlichkeit eines Kunstwerkes umgehen sollten. Um das Problem deutlicher zu machen, beginne ich mit dem gegenwartsbezogenen Ansatz. Er stellt eine Methode dar, gegenwärtige Ereignisse in vormodernen Kunstwerken zu lesen. Dabei wird die Gegenwart des Kunstwerkes zeitlich wie räumlich ausgedehnt und die Historizität des gegenwärtigen Rezipienten vorausgesetzt. Der Shakespeare-Spezialist Alan Sinfield schreibt provokativ, Shakespeare kenne einen Weg, alle künftigen Möglichkeiten bereits in sein Schreiben zu integrieren.8 Die Neigung, die Gegenwart in die Vergangenheit hineinzulesen, ebnete den Weg für die »zeitlosen« universellen Klassiker, wie beispielsweise Shakespeares Werke. Man sagt, diese Werke seien ihrer Zeit voraus und viele vormoderne Werke werden als postmodern in ihrer Gestaltung angesehen. Hugh Grady und Terence Hawkes gehen noch einen Schritt weiter, wenn sie behaupten, wir könnten der Gegenwart nicht entgehen. Wenn überall und immer die Gegenwart die Vergangenheit sprechen macht, dann spricht sie immer und nur zu und über uns.9 Akademiker mit einem historistischen Ansatz nähern sich den Klassikern auf anderem Weg. Stephen Greenblatt lädt uns zu einem Gespräch mit den Toten ein. In den neuen historistischen Ansätzen finden wir Überschneidungen mit dem rein gegenwartsbezogenen Ansatz, denn gegenwärtige Einlassungen des Historikers stellen das eigene Interesse offen heraus und wenden das Lesen somit in eine Bestandsaufnahme heutiger Bedürfnisse und Ängste. Bei Greenblatt heißt es:

7

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-

8

Alan Sinfield: »Macbeth: History, Ideology, and Intellectuals«, in: Critical

duzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977, S. 11. Quarterly 28.1-2 (1986), S. 63–77. 9

Hugh Grady, Terence Hawkes: Presentist Shakespeares, London 2007, S. 5.

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»I began with the desire to speak with the dead […] I wanted to know how Shakespeare managed to achieve such intensity, for I thought that the more I understood this achievement, the more I could hear and understand the speech of the dead. […] The mistake was to imagine that I would hear a single voice, the voice of the other. If I wanted to hear one, I had to hear the many voices of the dead. And if I wanted to hear the voice of the other, I had to hear my own voice«.10

Kein Zweifel, dass viele von uns in ihren Kursen gern der Prämisse folgen würden, die Geschichte zum Leben zu erwecken. Die polyphone Geschichte, von der Greenblatt spricht, ist eine Herausforderung für den Dozenten. Wir arbeiten daran, den Studenten die Vergangenheit vor Augen zu führen, ganz gleich, ob wir es mit literarischen Werken aus der eigenen Kultur oder einer fremden zu tun haben. Aber was bitte sollen die Studenten von diesen Gesprächen mit den Toten lernen? Dringende Fragen unserer Zeit haben die Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen lokalen und fremden Kulturen intensiviert, wobei uns entweder die Aktualität oder aber die historische Bedeutung zum Nachdenken über die eigenen Prämissen anregt. Wenn wir genügend suchen, finden wir bestimmt Beispiele unserer Zeit in historischen und literarischen Texten. Aber welche philosophischen und ethischen Absichten sind damit verbunden? Vor nicht allzu langer Zeit benutzte die US-Regierung »Macbeth« in besorgniserregender Weise: Im September und Oktober 2004 unterstützten das Verteidigungsministerium und die Nationale Kunst-Stiftung ShakespeareGastspiele auf US-Militärbasen in den Vereinigten Staaten. Dabei war der »Macbeth« der Alabama Shakespeare Company mit 1 Million Dollar finanziell am besten ausgestattet und wurde allein in 13 Militärstützpunkten gespielt. Dass die Wahl zu einer Zeit, da sich die USA im Krieg befanden, auf »Macbeth« fiel, lässt natürlich über die beabsichtigte Interpretation der blutigen Tragödie spekulieren.11

10 Zit. in: Marjorie Garber: »Shakespeare as Fetish«, in: Shakespeare Quarterly 41.2 (Summer 1990), S. 243. 11 Siehe dazu Todd Landon Barnes: »George W. Bush‫ތ‬s Three Shakespeares: Macbeth, Macbush, and the Theater of War«, in: Shakespeare Bulletin 26.3 (Fall 2008), S. 1ff.

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Die Unterschiede zwischen der historistischen und der gegenwartsbezogenen Lesart literarischer Texte erinnert uns immer wieder daran, dass die Werke in einer Welt existieren, in der Glaubenssysteme entstehen und zerbrechen oder Wandlungen unterworfen sind. Die literarischen Werke sind nicht nur Produkte solcher Glaubenssysteme zur Zeit ihrer Entstehung, sondern auch Mittler, die lange danach Wirkungen zeitigen. Literarische Werke werden bedeutsam, gerade weil sie voller Bedeutungen sind, die nicht nur von ihren Autoren, sondern auch von anderen kommen, für die sie eine Rolle spielten. Einige Akademiker meinen, der Wert eines Kunstwerkes bemesse sich an der Entfernung und den Unterschieden zu uns.12 Andere hingegen meinen, eine Überbewertung der Unterschiede führe dazu, dass Studenten keine anderen Texte mehr als ihre eigenen lesen und analysieren würden. Es stimmt, dass wir die Vergangenheit immer aus einer Perspektive sehen, die sie nie hatte.13 Im Kontext der Ausbildung stellt sich folgendes Problem: Wenn das Interesse der Studenten lokalen und aktuellen Problemen gilt, warum sollen sie dann überhaupt literarische Werke aus einer anderen Zeit oder gar aus dem Ausland lesen? Wenn wir auf der anderen Seite streng historisch herangehen, mit welchem Recht nähern wir uns einem Thema mit unseren Begriffen (Homosexualität, Heterosexualität, Unterdrückung) anstatt mit ihren?14 Hier ist es hilfreich, einen Blick auf Shakespeare und die Art, wie er und seine Werke in den USA vermittelt werden, zu werfen. Das erste Problem ist, dass die Studenten Shakespeare als etwas nehmen, was jedem englischsprechenden Menschen vertraut ist, mit dem Ergebnis, dass Schlüsselfragen übersehen werden. Ist Shakespeare überhaupt noch von Bedeutung? Wenn ja, für wen und inwiefern? Die enge Verbundenheit von Shakespeare und der englischen, westlichen Literatur hat es für Studenten so gut wie unmöglich gemacht, ihn zu ignorieren oder ihre Schwierigkeiten mit ihm zuzugeben.15 In Taiwan mag es ähnlich sein, wenn taiwanische oder chinesische klassische Literatur auf dem Lehrplan stehen. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz schlägt darum vor, dass Dozenten wie auch Studenten zunächst den Text der eigenen Kultur und den eigenen Annahmen »entfremden«

12 David Scott Kastan: Shakespeare After Theory, London 1999, S. 16f. 13 Greg Dening: Performances, Chicago 1996, S. 58, 72. 14 Bruce Smith: Premodern Sexualities, PMLA 115.3 (May 2000), S. 321. 15 Lisa Jardine: Reading Shakespeare Historically, London 1996, S. 2f.

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sollten, was eine Interaktion zwischen uns selbst und unseren Vorgängern oder anderen Kulturen möglich mache. Ich persönlich würde hierbei einen dramaturgischen Ansatz empfehlen. Shakespeare, aber auch viele andere Texte laden uns ein, mit Augen und Ohren zu lesen und zu schauen, wie Sprache und andere Zeichen auf der Bühne, der Leinwand oder in unserer Vorstellung funktionieren. Die Dramaturgie ist dabei eine nützliche Methode, die geschichts- und die gegenwartsbezogene Lesart zusammenzuführen, da sie Gelegenheit zu einer ganzheitlichen Analyse bietet, die die Geschichte und ihre Darstellung miteinbezieht.16 Dramen besitzen eine ganz besondere raum-zeitliche Präsenz. Zuallererst wäre da die textliche Präsenz des gedruckten Werkes, gefolgt von seiner genrespezifischen Bühnenpräsenz. Jede Aufführung ringt wiederum mit drei verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen: da wäre die der gegenwärtigen Inszenierung, die des Stückes selbst und schließlich der Raum und die Zeit, da das Drama geschrieben wurde. Diese verschiedenen Schichten liefern genügend Stoff zum Unterrichten. Während sich diejenigen, die Shakespeare unterrichten, mit der behaupteten Vertrautheit der Studenten mit dem Dichter auseinanderzusetzen haben, haben es Dozenten für nicht-westliche oder WeltLiteratur mit ganz anderen Widerständen zu tun. Die Vorzüge globaler Unterrichtsmodelle für Weltliteratur werden zwar anerkannt, aber eines der umstrittensten Themen ist die übersetzte Literatur und wie diese in Zeiten der Globalisierung gelesen werden soll – getrennt von westlicher Weltliteratur oder mit ihr zusammen? Einige der Fragen kommen von der Gettoisierung der nicht-westlichen Literaturwissenschaft. Und auch wenn die vergleichende Perspektive für die Studenten hilfreich sein soll, funktioniert dieser Ansatz nicht immer. Rey Chow kritisiert die Annäherung an den Osten in der akademischen Forschung und Lehre heftig: »More often than not, it is assumed that comparison occurs as a matter of course whenever we juxtapose two (or more) national languages and literatures, geographical regions, authors, or themes, and rarely do critics stop and ponder what the gestures of comparing consists in, amounts to, indeed realizes,

16 Ros King: Dramaturgy: Beyond the Presentism/Historizism Dichotomy, Shakespeare in Europe - History and Memory, Internationale Konferenz in Krakau, Nov. 2005, unveröffentlichtes Manuskript.

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and reinforces. These days, the term ›comparative‹ is often used in tandem or interchangeably with words such as ›diverse‹, ›global‹, […] ›transnational‹, and the like, […] yet the nebulousness of the term […] seems to persist in direct proportions to its popular usage«.17

Um die geisteswissenschaftliche Ausbildung wirklich zu internationalisieren, müssen wir als erstes eine umfassendere Sicht darauf entwickeln. Pauline Yu, Präsidentin des American Council of Learned Societies, äußerte ebenfalls Zweifel am herrschenden Eurozentrismus und der fortgesetzten Marginalisierung nicht-westlicher Kulturen in den Lehrplänen amerikanischer Universitäten. Um dem entgegenzutreten, schlägt sie die Analyse und Interpretation von Texten aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen als Kern einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung vor.18 Die Probleme beim Unterrichten von Weltliteratur entspringen aber auch noch einem anderen Aspekt des Streites um die richtige Lesart. Während auf Shakespeare-Kursen die Aufgabe lastet, die historische Wahrheit und seine Relevanz bis in die heutige Zeit zu vermitteln, muss sich die Weltliteratur mit Indifferenz und Vorurteilen gegenüber der nicht-westlichen Welt auseinandersetzen. Das erste Problem, die Indifferenz, manifestiert sich in den Strukturen. Der Theorie-Imperialismus in der anglo-amerikanischen akademischen Landschaft ist weit verbreitet, und er findet seine Fortsetzung in den Arbeiten, die Asien zum Gegenstück des Westens, zum ewig anderen machen. Noch einmal Rey Chow dazu: »One may perhaps counter: life is short, you can’t expect specialists of ancient Greek tragedy, the Italian Renaissance, […] or the English novel to know about happenings in the Pacific region. But that alibi – of not having enough time – is precisely the heart of the matter here because it is, shall we say, a one-

17 »Einleitung« zu: Rey Chow (Hg): Modern Chinese Literary and Cultural Studies in an Age of Theory: Reimagining a Field, Durham 2000, S. 72. 18 Pauline Yu, Peter Bol, Stephen Owen, Willard Peterson (Hgg.): Ways with Words: Writing about Reading Texts from Early China, Berkeley 2000, S. 1.

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way privilege. Such an alibi is simply not acceptable or thinkable for those specializing in non-Western cultures«.19

Diese Tendenz ist mit dem zweiten Problem, der Mystifizierung nichtwestlicher Kulturen, die wir in populären wie akademischen Diskursen finden, verbunden. Selbst Akademiker bestätigen diese Haltung häufig. Auf der einen Seite werden wir beispielsweise mit widersprüchlichen Bildern aus China überschüttet, die unsere erlernten analytischen Fähigkeiten außer Kraft setzen, und auf der anderen Seite werden die alten Vorurteile durch eine eurozentrische Weltsicht genährt und verhindern die Entwicklung produktiver Wege, China zu verstehen.20 Angegriffen werden besonders der Poststrukturalismus und dekonstruktivistische Aneignungen der Ideen über China. Besieht man das Ganze aus einer anderen Perspektive, so findet der Historiker Jonathan Spence aber eine große Neugier des Westens auf alles Chinesische. Dieses Ungleichgewicht ist eng verbunden mit den akademischen Positionen sowohl in China als auch im Westen. Europäische Sinologen (Francois Jullien) und Philosophen (Leibnitz) haben immer wieder den Unterschied zu China betont, um eine Antithese zur europäischen Philosophie zu formulieren.21 Auf der anderen Seite sind chinesische Intellektuelle der Meinung, dass das Chinesische ein identifizierbares, abgegrenztes Terrain ist. Diese Obsession trägt dazu bei, alles aus China irgendwie besser, älter, also langlebiger, wertvoller, eben unvergleichlich zu finden. Diese Tendenz lässt sich als historisch gewachsene, paranoide Reaktion chinesischer Intellektueller auf den Westen erklären.22

19 Rey Chow, The Age of the World Target: Self-Referentiality in War, Theory, and Comparative Work, Durham 2006, S. 13. 20 Xudong Zhang: »The Making of the Post-Tiananmen Intellectual Field: A Critical Overview«, in: ders. (Hg.): Wither China? Intellectual Politics in Contemporary China, Durham 2001, S. 1. 21 Francois Jullien: La valeur allusive des catégories originales de 'interpretation poétique dans la tradition chinoise: contribution à une réflexion sur l'altérité interculturelle, Paris 1985; Francois Jullien, Thierry Merchaisse: Penser d'un Dehors (la Chinese): Entretiens d'Extreme-Occident, Paris 2000. 22 Rey Chow: Modern Chinese Literary and Cultural Studies in an Age of Theory, S. 2f.

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China muss wieder entmystifiziert werden, ohne dabei Entfernung und Unterschiede zu negieren. Dieses Ziel zu erreichen ist meiner Meinung nach nicht nur eine Frage der Bildung, sondern der interkulturellen Bildung. Text- und Kontextanalyse sind Schlüsselkompetenzen geisteswissenschaftlicher Bildung. Die Analyse eines ausländischen Textes wirft Fragen auf, die Studenten dazu bringen können, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel als ihrem antrainierten zu sehen. Genauso erhellend können Fragen sein, die in einem ausländischen Text nicht auftauchen. Auch sie können den Leser dazu bringen, über Ideen, die sie für selbstverständlich halten, weil sie an eine – und zwar ihre – Kultur gebunden sind, erneut nachzudenken.23 Lassen Sie uns am Schluss noch einmal zu den beiden eingangs gestellten Fragen zurückkehren: Werden Klassiker heute noch studiert, weil sie universelle Werte vermitteln und den heutigen Lesern etwas mitzuteilen haben? Oder nur, weil sie uns erlauben, einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen? Wenn wir Fragen nach der Zeit stellen, können wir auch die nach dem Ort nicht vermeiden. Und eine dritte Frage muss darum lauten: Wie sollten die verschiedenen Kulturen und Orte im Zeitalter der Globalisierung in die geisteswissenschaftlichen Kurse einbezogen werden? Ein Paradox ist die Ausschließlichkeit der beiden Ansätze dazu, die doch eigentlich den Globalisierungsprozess unterstützen wollen. In der jüngeren pädagogischen und wissenschaftlichen Forschung finden wir einerseits die Tendenz, länderübergreifende Kontexte zu betonen, andererseits die der Rückbesinnung auf das Nationale. Innerhalb dieser Tendenzen finden wir zwei Arten der ›Metaerzählung‹: 1. die Vorstellung von multiplen und hybriden postnationalen kulturellen Räumen, und 2. das Insistieren auf lokale Differenzen und Wiedereinbringen des Begriffes der Nation in den Diskurs.24 Wirklich internationalisierte geisteswissenschaftliche Kurse sollten weder der einen noch der anderen Tendenz den Vorrang einräumen. Das Studium der Vergangenheit oder fremder Kulturen heißt nicht, eine lange Liste von Örtlichkeiten anzulegen oder die Unterschiede

23 Pauline Yu: »Comperative Literature and its Discontents«, in: De Bary, Irene Bloom (Hg.): Approaches to the Asian Classics, New York 1990, S. 364. 24 June Yip: Envisioning Taiwan: Fiction, Cinema, and the Nation in the Cultural Imaginary, Durham 2004, S. 3.

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durch Fußnoten zu untermauern, vielmehr sollten bestimmte Vorurteile und Stereotype neu überdacht werden. Während im Zeitalter des Spätkapitalismus und der Globalisierung die Entfernungen schrumpfen, dürfen wir die Unterschiede nicht vergessen. Der Übersetzer für chinesische Literatur, Howard Goldblatt, plädiert dafür, uns die Entfernungen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, wenn wir die Weltliteratur in Übersetzungen rezipieren.25 Es geht hier nicht einfach um Erkenntnis aus einer marginalen Perspektive, sondern um die Verantwortung des Übersetzers für das kulturell andere, wie Gayatri Spivak und Emmanuel Levinas es genannt haben.26 Akademiker, die sich mit nicht-westlicher Literatur beschäftigen, sind wie Übersetzer, die trotz Globalisierung auch eine frühere Gegenwart und den Humanismus in ihren Forschungen bewahren müssen.

25 Howard Goldblatt: »Border Crossings: Chinese Writing, in Their World and Ours«, in: Corinne H. Dale (Hg.): Chinese Aesthetics and Literature: A Reader, Albany 2004, S. 211ff. 26 Gayatri Chakrovorty Spivak: »Translating into English«, in: Sandra Bermann, Michael Wood (Hg.): Nation, Language, and the Ethics of Translation, Princeton 2005, S. 108.

Danksagung

Ich möchte mich bei der Mercator-Stiftung für die großzügige Unterstützung der Publikation bedanken. Mein besonderer Dank gilt Peggy Kames, der Lektorin und Korrektorin Angelika Wulff, meinen Kollegen an der George Washington University: Prof. Dr. Patricia Chu, Prof. Dr. Robert McRuer, Prof. Dr. Gayle Wald und Prof. Dr. YoungKey Kim-Renaud; Prof. Dr. Jörn Rüsen sowie den Herausgebern der Buchreihe »Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung«, die dieses Buchprojekt ermöglichten. Voller Dankbarkeit erwähnen möchte das mir gewährte TaiwanForschungsstipendium (Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und der Nationalbibliothek, Taipei).

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UND

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Namens- und Sachregister

Altes frisch verpackt von Lu Xun 22, 29, 30, 37, 39 Anderson, Marston 30 Appiah, Kwame Anthony 43, 45, 46 Arnold, Matthew 61, 92 Auslandsstudenten-Literatur (Liuxuesheng wenxue) 55, 61 Benjamin, Walter 10, 77, 191 Bharucha, Rustom 109 Anm. 15 Brecht, Bertolt 73, 78, 136 Bristol, Michael 166 Brussig, Thomas 64 Cao Yu 88 Casanova, Pascale 155 Fn. 12, 186

Chen Duxiu 48 Chen Zi’ang 31 Chow, Rey 194, 195 Contemporary Legend Theatre Taiwan 114, 115, 122, 156, 162, 173 Fn. 13 »Das Opfer« von Lao She 43, 47, 50, 53, 54, 56 Derrida, Jacques 77, 78 Dickens, Charles 12, 42 Donaldson, Peter 154 Fn. 10, 167 »Dr. Wen« 50, 56 Esslin, Martin 109 Eco, Umberto 93 Exil 103, 105, 177 Fn. 27

210 | W ELTLITERATUR

UND

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Exil-Idee 14 Exilkünstler 103, 104 Exotismus 46, 133, 168 Gao Xingjian 10, 13, 26, 103–109 Gemeinsamkeiten 55, 115, 117, 143 Global (Globalisierung)

9, 10, 12, 15, 42, 45, 46, 47, 55, 60, 61, 71, 108, 111, 112, 127, 134, 135, 136, 137, 139, 140, 144, 147, 149, 155, 170, 171, 172, 186, 190, 194, 197, 198 Gautier, Judith 78 Guo Moruo 88 Hamlet 85, 86, 126, 135, 158 Heidegger, Martin 189 Helden wie wir von Thomas Brussig 64 Huadeng-Oper 15, 172, 173, 174, 175, 176, 180, 181, 182, 186 Huadengxi-Ensemble 118 Hu Shi 36, 37, 47, 48, 97f.

Humor 12, 63, 64, 67, 68, 69 Huineng 105, 108 Humanismus 9, 10, 12, 13, 15, 20, 41, 61, 63, 71, 99, 103, 111, 189, 190, 198 chinesischen Humanismus 13, 111 globaler Humanismus 150 humanistische Erzählkunst 63 humanistische Werte 11, 15, 91, 112 viktorianischer Humanismus 81, 82, 90 konfuzianische Humanismus 71, 91, 103 Jameson, Fredric 21 Fn. 6 Jiang Guanyun 36, 37 Julia 133, 169, 176, 178, 182 Kennedy, Dennis 128, 143 Klassiker 15, 22, 79, 80, 92, 156, 190, 191, 197 Komödie 30, 32, 36, 37, 39, 75, 95, 131

N AMENS-

Politikkomödien 22 Sittenkomödie 184 Tragikomödie 180 König Lear 14, 123, 124, 126, 132, 143, 145, 146, 147, 151, 152, 153, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 167 Kosmopolitismus 12, 41, 42, 43, 45, 46, 50, 54, 55, 57, 60, 171 Kristeva, Julia 129 Kubin, Wolfgang 20 Kun-Oper 116, 118, 119, 120, 121, 122, 131, 173 Kun-Opernstil 114 »Lady Macbeth« 118, 119, 124, 125, 126, 132, 133, 157 Lady Macbeth 125, 133 Lamb, Charles und Mary 13, 72, 73, 74, 77, 79, 8087, 89, 90, 91 Lao She 12, 22, 41, 42, 43, 44, 47, 48, 49, 50, 53, 54, 55, 56, 59–62, 63 Laozi 22, 23, 24, 30

UND

S ACHREGISTER | 211

Legende Yu 22, 25, 26 Leifeng-Pagode 32, 33 Liang Shiqiu 13, 91–95, 96, 97, 98, 99 Lin Shu 13, 72-79, 81–90, 91, 113 Liu Zaifu 21 Lokal (Lokalisierung) 155, 170, 171, 173 Lu Xun 11, 12, 20-39, 47, 51, 55, 58, 63, 67, 95 Macbeth 122, 125, 126, 131, 133 Mao Zedong 11, 20, 65, 66 Menschenbild, konfuzianisches 71 Mnouchkine, Ariane 128, 132, 137, 139, 145, 148, 158 Mo Yan 10, 12, 13, 39, 62, 63-65, 67, 69 Moralkritik 13, 72 Mozi 22 Orientalismus 106, 128, 129, 145 Ouyang Yuqian 36, 56

212 | W ELTLITERATUR

UND

W ELTTHEATER

Peking-Oper 14, 88, 89, 105, 106, 107, 114, 115, 117, 118, 123, 124, 131, 133, 143, 146, 155, 156, 157, 158, 159, 163, 173, 183, 186 Peking-Opernensemble Shanghai 117, 135 Peking-Opernensemble in Wuhan 117 Pound, Ezra 78 Qu Yuan 32 Rezeption, ostasiatisch 14, 89, 94, 126 Romeo 169, 177, 176, 178, 182 Rüsen, Jörn 19, 190, 199 Shakespeare, William 13, 72, 73, 75, 76, 77, 79, 81, 83, 87, 93, 96, 97, 98, 111, 112, 113, 115, 117, 121, 122, 126, 127, 130, 131, 133, 136, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 146, 147, 150, 155 Fn. 2, 158, 159, 162, 163, 166, 167, 171, 172, 173, 176, 178, 181, 186, 187, 188, 191, 192, 193, 194

Shakespeare-Adaptionen 14, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 122, 125, 139, 176 Shakespeares Werke 11, 14, 75, 80, 87, 95, 114, 117, 120, 157, 160 »Macbeth« 74, 117, 118, 120, 121, 122, 129 Fn. 4, 131, 133, 137, 156, 171, 192 Kabuki-»Macbeth« 131 »Hamlet« 14, 74, 77, 81, 84, 111, 113, 115, 118, 127, 133, 134, 143, 154, 155, 156, 158, 170, 174 »König Lear« 14, 89, 114, 117, 125, 129 Fn. 5, 132, 137, 140 Fn. 24, 141, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 154, 155, 158, 159, 160, 163, 165, 167, 169 »Henry IV.« 75, 128, 137 »Kaufmann von Venedig« (The Merchant of Venice) 73, 74, 77, 82, 83, 112, 113, 114, 174 »Othello« 77, 95, 112, 114, 117, 119, 126 »Richard II.« 128

N AMENS-

»Romeo und Julia« 14, 15, 83, 114, 116, 133, 147, 150, 147, 169, 172, 173, 174, 175, 177, 180, 181, 183, 184, 185, 186 Sonette 13, 91-96, 99 »Twelfth Night« 128 »Was ihr wollt« (As You Like It) 128, 174 Segalen, Victor 78 Shun (Kaiser) 25, 26 Sichuan-Oper 113, 118, 119, 124, 132, 157, 174 Taiwan 60, 89, 94, 95, 97, 112, 113, 114, 117, 132, 150, 155, 156, 157, 163, 167, 169, 170, 173, 181, 182, 183, 184, 186, 193 Taiwan-Oper 95, 172, 175, 181, 181, 182, 183, 184, 186 Takarazuka Revue 95 Tales from Shakespeare von Charles and Mary Lamb 72 Tang Xiaobing 29 Tianjin 46

UND

S ACHREGISTER | 213

Tragische, das 31, 32, 37 Tragödien der Einsamkeit 22ff. »Über die Macht der dämonischen Poesie« von Lu Xun 24 Übersetzung 11, 13, 15, 70, 71–74, 7679, 86, 88–90, 92-99, 106, 113, 114, 115, 147, 160, 161, 198 Unterschiede 82, 99, 115, 139, 142, 166, 175, 193, 197, 198 ethnische 175, 185 kulturelle 15, 46, 54, 71, 106, 108, 143, 145, 149, 165, 171, 172 legitime 45 materielle 48 soziale 25, 52, 54, 142 Vohra, Ranbir 41 Waldron, Jeremy 44, 45, 46 Wang Sheng-shan 95 Wang Xiaonong 88

214 | W ELTLITERATUR

UND

W ELTTHEATER

Wei Yi 72, 73, 75, 76, 77, 79 Williams, William Carlos 78 Wordsworth, William 92 Weltbürgertum 43 Wu Hsing-kuo 10, 14, 15, 108, 119, 122, 123f., 126, 131, 132, 144 Fn. 30, 152f., 155, 156, 157, 158-162, 164, 166f., 187 Wu-Oper 118

Yu Erchang 96 Yunnan 15, 118, 169, 172, 174, 175, 182, 186 Zhuangzi 22, 23

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme Juli 2012, 498 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-7

Jürgen Straub Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie Juli 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1699-6

Alexander C.Y. Huang Weltliteratur und Welttheater Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung Juli 2012, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2207-6

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization André de Melo Araújo Weltgeschichte in Göttingen Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1756-1815 Juni 2012, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2029-5

Oliver Kozlarek, Jörn Rüsen, Ernst Wolff (eds.) Shaping a Humane World Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms Mai 2012, 292 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1941-6

Oliver Kozlarek Moderne als Weltbewusstsein Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne 2011, 324 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1696-5

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-0

Ernst Wolff Political Responsibility for a Globalised World After Levinas’ Humanism 2011, 286 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1694-1

Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-1

Jörn Rüsen (Hg.) Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen 2010, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1414-5

Carmen Meinert, Hans-Bernd Zöllner (eds.) Buddhist Approaches to Human Rights Dissonances and Resonances 2010, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1263-9

Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1172-4

Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5

Helmut Johach Von Freud zur Humanistischen Psychologie Therapeutischbiographische Profile

Chun-chieh Huang Humanism in East Asian Confucian Contexts

2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1294-3

2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8

Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique

Carmen Meinert (ed.) Traces of Humanism in China Tradition and Modernity

2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9

2010, 210 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1351-3

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